Protokoll:
11077

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 77

  • date_rangeDatum: 5. Mai 1988

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:12 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/77 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 77. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 5151 A Begrüßung des Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Kuba und einer Delegation 5180 A Tagesordnungspunkt 2: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Mitzscherling, Antretter, Brück, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Lage der Weltwirtschaft (Drucksachen 11/1128, 11/1780) b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Kooperative Strategie zur Stärkung der europäischen Wirtschaft und der Weltwirtschaft (Drucksache 11/2165) Dr. Mitzscherling SPD 5151 C Kittelmann CDU/CSU 5155 B Stratmann GRÜNE 5158 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 5161 D Roth SPD 5164 C Dr. Bangemann, Bundesminister BMWi . 5166 C Kraus CDU/CSU 5170 D Dr. Wieczorek SPD 5172 D Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär BMF . . 5175 C Dr. Hauchler SPD 5177 A Dr. Fell CDU/CSU 5178A Tagesordnungspunkt 3: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN: Nichtigkeitserklärung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und der nach diesem Gesetz ergangenen Entscheidungen (Drucksachen 11/143, 11/1714, 11/1716) Frau Nickels GRÜNE 5180 B Seesing CDU/CSU 5182 A Dr. de With SPD 5183 B Kleinert (Hannover) FDP 5184 A Engelhard, Bundesminister BMJ 5185 A Tagesordnungspunkt 4: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinien 78/660/ EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs (Drucksachen 10/5710, 10/ 1957) Helmrich CDU/CSU 5186 A Stiegler SPD 5186 C Kleinert (Hannover) FDP 5187 B Dr. Briefs GRÜNE 5188 B Engelhard, Bundesminister BMJ 5189 B Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Abgeordneten Straßmeir, Fischer (Hamburg), Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Richter, Gries, Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Seeschifffahrtsregister für deutsche Handelsschiffe im internationalen Verkehr (Inter- II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 nationales Seeschiffahrtsregister) (Drucksache 11/2161) 5190 A Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Mai 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 11/1831) 5190 B Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes (Drucksache 11/2170) 5190 B Tagesordnungspunkt 10: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schily, Dr. Lippelt (Hannover) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Altersversorgung der nichtdeutschen Ortskräfte an den Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes (Drucksache 11/1877) 5190 C b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verheugen, Bahr, Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Altersversorgung der nichtdeutschen Ortskräfte an den Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes (Drucksache 11/ 2119) 5190 C Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum April 1987 bis September 1987, im Anschluß an den Bericht bis März 1987) (Drucksache 11/1712) 5190 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerreformgesetzes 1990 (Drucksache 11/ 2226) 5190D Tagesordnungspunkt 8: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. März 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 11/886, 11/1788) 5191 A Tagesordnungspunkt 9: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 22. November 1980, 13. August 1982, 15. Juli 1983, 20. Oktober 1985 und 19. April 1986 der Anlage 1 und vom 20. Oktober 1980 und 20. Januar 1985 der Anlage 3 des Übereinkommens vom 1. September 1970 über Internationale Beförderungen leicht verderblicher Lebensmittel und über die besonderen Beförderungsmittel, die für diese Beförderungen zu verwenden sind (Gesetz zur Änderung der Anlagen 1 und 3 des ATP-Übereinkommens) (Drucksachen 11/ 1612, 11/2132) 5191 B Tagesordnungspunkt 12: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Haushaltsführung 1987; hier: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02 Titel 697 13 — Erstattung der Erblasten des Steinkohlenbergbaus (Drucksachen 11/ 1204, 11/1699) 5191 C Tagesordnungspunkt 13: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Zwangsliquidation der Direktversicherungsunternehmen (Drucksachen 11/138 Nr. 3.14, 11/1991) 5191 C Tagesordnungspunkt 14: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Änderung des Beschlusses 87/182/CEE des Rates vom 9. März 1987 zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des Neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen für eine Sonderbeihilfe der Gemeinschaft zum Wiederaufbau der durch die von den Erdbeben im September 1986 zerstörten Gebiete in Griechenland aufzunehmen (Drucksachen 11/1895 Nr. 2.2, 11/2005) 5191 D Tagesordnungspunkt 15: Beratung der Ersten Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy, Frau Rönsch (Wiesbaden), Dr. Daniels (Bonn), weiterer Abgeordneter der Fraktion der CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP: Probleme hochverdichteter Neubausiedlungen aus den 60er und 70er Jahren (Drucksachen 11/813, 11/2193) 5191 D Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 III Tagesordnungspunkt 16: Beratung der Sammelübersicht 58 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksache 11/2168) 5192 A Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zur Übernahme eines Teils der Sozialhilfelasten durch den Bund Dr. Struck SPD 5195 D Seiters CDU/CSU 5196 D Wolfgramm (Göttingen) FDP 5198 A Hüser GRÜNE 5199 B Bernrath SPD 5200 A Dr. Grünewald CDU/CSU 5201 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 5202 B Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . 5203 B Wittich SPD 5204 D Dr. Faltlhauser CDU/CSU 5205 D Heyenn SPD 5207 A Austermann CDU/CSU 5207 D Carstens (Emstek) CDU/CSU 5209 A Tagesordnungspunkt 17: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (Drucksache 11/1315, 11/2160, 11/2222) 5210 A b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Siebter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 (Drucksachen 11/877, 11/ 2160) Möllemann, Bundesminister BMBW 5210 B Frau Odendahl SPD 5212 C, 5220 D Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 5214 C Wetzel GRÜNE 5217 C Neuhausen FDP 5218 D Kastning SPD 5219 C Tagesordnungspunkt 22: Beratung der Unterrichtung Zehnter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes (Drucksache 11/1693) Dr. Blens CDU/CSU 5221 C Wartenberg (Berlin) SPD 5223 A Dr. Hirsch FDP 5225 A Frau Schmidt-Bott GRÜNE 5226 B Dr. Emmerlich SPD 5227 C Wüppesahl fraktionslos 5229 A Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär BMI 5230 A Tagesordnungspunkt 18: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes — Bericht 1986 des Bundesministers für Verkehr über die Jahre 1984 und 1985 (Drucksachen 10/ 6810, 11/1794) Hiller (Lübeck) SPD 5232 A Dr. Kunz (Weiden) CDU/CSU 5232 D Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE . . . 5234 D Bredehorn FDP 5235 D Seidenthal SPD 5236 C Dr. Warnke, Bundesminister BMV . . . 5238 A Tagesordnungspunkt 19: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur wirtschaftlichen Bedeutung der Antarktis und des Südpolarmeeres (Drucksachen 11/939, 11/2191) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schily, Frau Garbe und der Fraktion DIE GRÜNEN: Schutz der Antarktis (Drucksache 11/2183) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Schutz der Antarktis (Drucksache 11/2240) Dr. Sprung CDU/CSU 5240 B Grunenberg SPD 5242 B Bredehorn FDP 5244 A Schily GRÜNE 5245 A Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär BMWi 5247 A Stahl (Kempen) SPD 5248 D Kittelmann CDU/CSU 5250 C Tagesordnungspunkt 20: Beratung der Sammelübersicht 57 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksache 11/2117) Häfner GRÜNE 5251 C Haungs CDU/CSU 5252 C Peter (Kassel) SPD 5253 A Frau Dr. Segall FDP 5253 D IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 Zur Geschäftsordnung Häfner GRÜNE 5254 C Dr. Bötsch CDU/CSU 5255 B Peter (Kassel) SPD 5255 C Tagesordnungspunkt 21: Beratung des Berichts des Auswärtigen Ausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN: Errichtung einer internationalen Begegnungsstätte für Frieden und Versöhnung in Gernika, Baskenland und zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Geste des Friedens und der Freundschaft durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der baskischen Stadt Guernica in Spanien (Drucksachen 11/362, 11/483, 11/2251) Duve SPD 5256 A Frau Kelly GRÜNE 5256 D Dr. Pohlmeier CDU/CSU 5258 A Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 5258 C Schäfer, Staatsminister AA 5259 B Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder, Frau SchmidtBott und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verbot der Produktion und Anwendung und des Inverkehrbringens von gentechnologisch erzeugten leistungssteigernden Hormonen und Verbindungen (Drucksache 11/1507) Frau Schmidt-Bott GRÜNE 5260 B Kroll-Schlüter CDU/CSU 5261 B Frau Adler SPD 5262 B Bredehorn FDP 5263 A Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär BML 5264 A Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 11/2219 vom 29. April 1988 — Einsatz Zivildienstleistender in der Altenpflege; Lehrgänge MdlAnfr 9, 10 29.04.88 Drs 11/2219 Frau Unruh GRÜNE Antw PStSekr Pfeifer BMJFFG 5192 C, 5193 A ZusFr Frau Unruh GRÜNE 5192 D, 5193 A Kennzeichnung von importiertem Wildschweinfleisch aus Australien angesichts der minderwertigen Qualität MdlAnfr 11, 12 29.04.88 Drs 11/2219 Hinsken CDU/CSU Antw PStSekr Pfeifer BMJFFG 5193 D ZusFr Hinsken CDU/CSU 5194 B Verschiebung des Starts einer LufthansaMaschine wegen verspäteten Eintreffens des amtierenden Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein am 27. April 1988 MdlAnfr 15 29.04.88 Drs 11/2219 Wüppesahl fraktionslos Antw PStSekr Dr. Schulte BMV 5195 A ZusFr Wüppesahl fraktionslos 5195 A Nächste Sitzung 5265 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 5267* A Anlage 2 Abbau „unwirtschaftlicher" Telefonzellen in ländlichen Räumen, insbesondere in den Landkreisen Biberach, Ravensburg und Bodensee MdlAnfr 1, 2 29.04.88 Drs 11/2219 Bindig SPD SchrAntw PStSekr Rawe BMP 5267* B Anlage 3 Beurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien MdlAnfr 7, 8 29.04.88 Drs 11/2219 Verheugen SPD SchrAntw StMin Schäfer AA 5267* D Anlage 4 Zustand der Autobahnraststätten; Privatisierung der Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen mbH MdlAnfr 13, 14 29.04.88 Drs 11/2219 Dr. Hirsch FDP SchrAntw PStSekr Dr. Schulte BMV 5268* B Anlage 5 Beibehaltung aller Haltepunkte für IntercityZüge in Schleswig-Holstein bis in die 90er Jahre MdlAnfr 16 29.04.88 Drs 11/2219 Jungmann SPD SchrAntw PStSekr Dr. Schulte BMV 5268* C Anlage 6 Besserung der Situation hinsichtlich der Verschwendung öffentlicher Mittel durch Einführung eines Amtsanklägers Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 V MdlAnfr 33 29.04.88 Drs 11/2219 Dr. Weng (Gerlingen) FDP SchrAntw PStSekr Dr. Jahn BMJ 5268* D Anlage 7 Auffassung des designierten Verteidigungsministers Dr. Scholz über die Wiedereinführung der Todesstrafe MdlAnfr 34, 35 29.04.88 Drs 11/2219 Schreiner SPD SchrAntw PStSekr Dr. Jahn BMJ 5269* A Anlage 8 Einführung einer Ausgleichszulage für Witwen von Schwerstkriegsbeschädigten in § 48b des Bundesversorgungsgesetzes MdlAnfr 60 29.04.88 Drs 11/2219 Lowack CDU/CSU SchrAntw PStSekr Höpfinger BMA 5269* C Anlage 9 Engpässe bei der Ausrüstung und Einkleidung Wehrpflichtiger MdlAnfr 64, 65 29.04.88 Drs 11/2219 Frau Weyel SPD SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg 5269* D Anlage 10 Umfrageergebnis des infas-Instituts über ein Verbot von Tiefflügen; Risiko einer möglichen Freisetzung von Plutonium beim Absturz eines Flugzeuges auf einen Atombunker MdlAnfr 66, 67 29.04.88 Drs 11/2219 Dr. Mechtersheimer GRÜNE SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg 5270* C Anlage 11 Teilnahme von Bundeswehrangehörigen am „Zwei-Tage-Marsch" in Bern (Schweiz) in Anwesenheit einer südafrikanischen Militärdelegation MdlAnfr 68, 69 29.04.88 Drs 11/2219 Frau Schmidt (Nürnberg) SPD SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg 5271* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 5151 77. Sitzung Bonn, den 5. Mai 1988 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein * 6. 5. Dr. Ahrens * 6. 5. Frau Beck-Oberdorf 6. 5. Frau Blunck * 6. 5. Böhm (Melsungen) * 6. 5. Büchner (Speyer) * 6. 5. Bühler (Bruchsal) * 6. 5. Dr. Dregger 6. 5. Frau Fischer * 6. 5. Gallus 6. 5. Frau Geiger 6. 5. Dr. Götz 6. 5. Dr. Hauff 6. 5. Dr. Hitschler * 6. 5. Ibrügger 6. 5. Jansen 6. 5. Jung (Düsseldorf) 5. 5. Klein (München) 6. 5. Klejdzinski 6. 5. Lemmrich * 6. 5. Frau Luuk * 6. 5. Meyer 6. 5. Dr. Müller * 6. 5. Nelle 5. 5. Niegel * 6. 5. Frau Pack * 6. 5. Dr. Probst 6. 5. Reddemann * 6. 5. Regenspurger 6. 5. Dr. Riedl (München) 5. 5. Ronneburger 6. 5. Dr. Scheer * 6. 5. Scheu 6. 5. Schmidt (München) * 6. 5. von Schmude * 6. 5. Schreiner 6. 5. Dr. Soell * 5. 5. Steiner * 6. 5. Dr. Unland * 6. 5. Vahlberg 5. 5. Wimmer (Neuss) 6. 5. Zierer * 6. 5. Dr. Zimmermann 6. 5. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rawe auf die Fragen des Abgeordneten Bindig (SPD) (Drucksache 11/2219 Fragen 1 und 2): Ist der Bundesregierung bekannt, daß in ländlichen Regionen die Telefonzellen in starkem Maße eine Aufgabe als Notrufstellen haben, und warum sollen nach den Planungen der Deutschen Bundespost dennoch Telefonzellen in diesen Regionen als „unwirtschaftlich" abgebaut werden, statt sie auch aus diesem Grunde zu erhalten? Anlagen zum Stenographischen Bericht Kann die Bundesregierung angeben, wie viele und welche Telefonzellen als sogenannte unwirtschaftliche Telefonzellen nach den Planungen der Deutschen Bundespost in den Landkreisen Biberach, Ravensburg und Bodenseekreis abgebaut werden sollen? Alle öffentlichen Telefone können auch für Notrufe genutzt werden. Dabei können Notrufe abgesetzt werden entweder über Notrufmelder, die auf Antrag der Träger der Notdienste eingerichtet werden, oder durch gebührenfreien Anruf der Notrufnummer. Nach dem Prinzip der Eigenwirtschaftlichkeit ist die Deutsche Bundespost gehalten, ihre Dienstleistung zu möglichst geringen Kosten zu erbringen. Da die Beschaffung, Einrichtung, Unterhaltung und Entstörung einer öffentlichen Sprechstelle mit hohen Kosten verbunden ist, müssen neben dem allgemeinen Bedarf für diese Einrichtung zwangsläufig auch wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Deshalb wird im Rahmen einer jährlichen Überprüfung durch die Fernmeldeämter die Nutzung öffentlicher Telefone ermittelt. Diese Ermittlungen sind wichtig, da sich die Inanspruchnahme öffentlicher Telefone durch die Bevölkerung in den letzten Jahren verändert hat. Aufgrund der gestiegenen Versorgung mit privaten Hauptanschlüssen ging in Wohngebieten die Nutzung öffentlicher Telefone zurück, während sie an Verkehrsschwerpunkten, wie großen Kreuzungen, Bahnhöfen, Ein- und Ausfallstraßen der Orte stark zunimmt. Diesem veränderten Bedürfnis trägt die Deutsche Bundespost Rechnung. Dabei werden jedoch in jedem Fall die Gemeinden oder Städte beteiligt. In den Landkreisen Biberach und Ravensburg und im Bodenseekreis sind 1 350 öffentliche Telefone eingerichtet. Ca. 10 % dieser Telefone werden aufgrund ihrer Einnahme- und Standortsituation überprüft. Dadurch können sich unter Umständen Verlegungen und in Einzelfällen auch Aufhebungen ergeben, die in eigener Zuständigkeit der Oberpostdirektionen erfolgen. Im angesprochenen Versorgungsbereich sind z. Z. aber keine Aufhebungen öffentlicher Telefone mit Notrufmelder geplant. Anlage 3 Antwort des Staatsministers Schäfer auf die Fragen des Abgeordneten Verheugen (SPD) (Drucksache 11/2219 Fragen 7 und 8) : Womit begründet die Bundesregierung ihre Beurteilung, Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien seien nicht Folge staatlich angeordneter Gewalt, angesichts des neuesten Berichts von amnesty international, der hauptsächlich die Führung der Streitkräfte zahlreicher politischer Morde anklagt? Welche Maßnahmen zieht die Bundesregierung in Betracht, um eine Beendigung der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien zu bewirken? 5268* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 Zu Frage 7: Kolumbien ist keine Militärdiktatur, sondern eine Demokratie. Am rechtsstaatlichen Engagement der demokratisch gewählten Regierung Kolumbiens besteht kein Zweifel. Es handelt sich um ein Problem der tatsächlichen Durchsetzung menschenrechtlicher Normen gegenüber gesellschaftlichen Kräften, die vor der Durchsetzung politischer Ziele oder privater Interessen mit Mitteln der Gewalt nicht zurückschrekken. Strukturelle, organisatorische und materielle Schwächen der staatlichen Institutionen erschwerten bisher die wirksame Verteidigung der Menschenrechte und des inneren Friedens. Die kolumbianische Regierung hat die Darstellung des Berichts von amnesty international, Todesschwadronen handelten im Auftrag der Führungsspitze der Streitkräfte, am 27. April 1988 zurückgewiesen. Der Generalstaatsanwalt wurde gleichwohl mit der Untersuchung der von amnesty international zitierten Einzelfälle beauftragt. Zu Frage 8: Die untrennbar miteinander verwobenen Probleme des inneren Friedens, der Menschenrechte, des Rechtsstaates und der Demokratie in Kolumbien waren ein zentrales Thema der Gespräche, die Bundesminister Genscher am 4. März 1988 mit dem kolumbianischen Außenminister Londono bei dessen Besuch in Bonn geführt hat. Bundesminister Genscher hat die Besorgnis der Bundesregierung in einer Ansprache aus diesem Anlaß auch öffentlich zum Ausdruck gebracht. Die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen der Regierung Barco, den inneren Frieden vor allem auch durch eine Verfassungsreform und durch Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu sichern. Wir haben keine Zweifel, daß die kolumbianische Regierung die tieferen Ursachen der Gewalt erkannt hat und bemüht ist, sich den daraus ergebenden Herausforderungen zu stellen. Die Bundesregierung wird die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Kolumbien und die Aufklärung von Einzelfällen weiterhin sorgfältig beobachten. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Schulte auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Hirsch (FDP) (Drucksache 11/2219 Fragen 13 und 14): Wie beurteilt die Bundesregierung den Zustand der Rast- und Gaststätten an der Autobahn, die sämtlich der zu 100 % im Bundesbesitz befindlichen „Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahn mbH" gehören? Welche Fortschritte zur Privatisierung dieser Gesellschaft sind seit dem Kabinettsbeschluß von 1985 erreicht worden? Zu Frage 13: Eine größere Anzahl der älteren Betriebe von den 168 Raststätten und 109 Erfrischungsdiensten in Tankstellen entspricht in ihrer baulichen Substanz und Ausstattung nicht mehr den heutigen Anforderungen. Zu Frage 14: Der Bundesminister für Verkehr hat am 1. September 1985 bei der Treuarbeit AG eine Untersuchung „über Gestaltungsmöglichkeiten, erforderliche Maßnahmen und Probleme einer Teilprivatisierung der GfN in rechtlicher, betriebswirtschaftlicher und steuerlicher Sicht" in Auftrag gegeben. Durch Verzögerungen auf seiten des Auftragnehmers ist das Gesamtgutachten erst im Februar 1988 abgeliefert worden. Unmittelbar im Anschluß hieran wurde mit der Auswertung des Gesamtgutachtens durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Bundesverkehrsministeriums und des Bundesfinanzministeriums begonnen. Die Auswertung des Gutachtens ist Ende April abgeschlossen worden. Es ist beabsichtigt, in Kürze eine gemeinsame Kabinettvorlage beider Ressorts vorzulegen, in der die Ergebnisse des Gutachtens dargelegt und Vorschläge für das weitere Vorgehen in Richtung Teilprivatisierung der GfN unterbreitet werden. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Schulte auf die Frage des Abgeordneten Jungmann (SPD) (Drucksache 11/2219 Frage 16): Beabsichtigt die Bundesregierung, alle bisherigen Haltepunkte für Intercity-Züge der Deutschen Bundesbahn in Schleswig-Holstein bis in die 90er Jahre hinein zu erhalten, und wenn nein, ab wann müßte mit dem Wegfall z. B. Neumünsters als Haltepunkt für Intercity-Züge gerechnet werden? Die Deutsche Bundesbahn plant, aufgrund der Inbetriebnahme der Neubaustrecken den schnellen und komfortablen Schienenpersonenfernverkehr neu zu ordnen. Für Schleswig-Holstein bedeutet dies in den 90er Jahren die Bedienung durch Eurocity-, Intercity-und Interregiozüge. Da die Deutsche Bundesbahn ihre Planungen noch nicht abgeschlossen hat, sind konkrete Angaben nicht möglich. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretär Dr. Jahn auf die Frage des Abgeordneten Dr. Weng (Gerlingen) (FDP) (Drucksache 11/2219 Frage 33): Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß ein Amtsankläger oder eine ähnliche Einrichtung in Sachen Verschwendung öffentlicher Mittel eine Besserung der Situation erreichen könnte, und plant sie gegebenenfalls dahin gehende Initiativen für die laufende Wahlperiode? Die Bundesregierung hält es für geboten, Verschwendung und Fehlleitungen von Haushaltsmitteln in wirksamer Weise zu unterbinden. Dazu ist aber Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 5269* nach Ansicht der Bundesregierung die Einrichtung einer neuen Institution, wie z. B. die eines „Amtsanklägers", nicht notwendig. Gegen die Schaffung einer solchen Einrichtung sprechen einerseits finanzielle Erwägungen. Sie würden zunächst zu erheblichen einmaligen Ausgaben und in der Folge zu laufendem Personal-, Verwaltungs- und Sachaufwand führen. Ob durch die notwendige Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten bisher zuständiger Behörden auf eine solche Behörde eine Verringerung des Verwaltungsaufwandes mit entsprechenden finanziellen Einsparungen eintreten würde oder ob z. B. Regreßansprüche wirksamer durchgesetzt werden könnten, wird kaum feststellbar sein. Es erscheint auch zweifelhaft, ob gerade die Einrichtung einer zentralen Stelle insgesamt zu einer sparsameren Bewirtschaftung von Ausgaben und damit allgemein zu Einsparungen führen würde. Darüber hinaus stehen bereits jetzt ausreichende dienstrechtliche und organisatorische Möglichkeiten zur Bekämpfung der Verschwendung und Fehlleitung öffentlicher Mittel zur Verfügung. Sie zu nutzen und auszuschöpfen obliegt allen Verantwortlichen. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Jahn auf die Fragen des Abgeordneten Schreiner (SPD) (Drucksache 11/2219 Fragen 34 und 35): Stimmt die Bundesregierung der Auffassung des designierten Verteidigungsministers Rupert Scholz zu, wonach die Wiedereinführung der Todesstrafe im Kriegsfall zulässig sein soll? Wie beurteilt die Bundesregierung die Auffassung von Professor Dr. Rupert Scholz, wonach auch in Friedenszeiten die Wiedereinführung der Todesstrafe dann in Betracht kommen kann, wenn der Schutz gleichrangiger Rechtsgüter dies erfordert, und welche konkreten Sachverhalte könnten dabei in Betracht kommen? Die Fragen beziehen sich offenbar auf die von Herrn Professor Scholz geschriebene Kommentierung zu Artikel 102 des Grundgesetzes in einem bekannten Grundgesetz-Kommentar. Die Bundesregierung äußert sich grundsätzlich nicht zu Rechtsauffassungen, die in wissenschaftlichen Veröffentlichungen vertreten werden. Hierzu besteht um so weniger Anlaß, als die Bundesregierung ihre Auffassung zur Todesstrafe wiederholt dargelegt und erst kürzlich in der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention über die Abschaffung der Todesstrafe noch einmal bekräftigt hat. Unabhängig davon darf ich darauf hinweisen, daß Herr Professor Scholz zu der theoretischen Frage, ob durch ein verfassungsänderndes Gesetz mit 2/3-Mehrheit die Todesstrafe wieder eingeführt werden könnte, differenzierter Stellung nimmt als dies in der Frage zum Ausdruck kommt. Er betont nachdrücklich, daß eine Wiedereinführung zum Schutze gleichrangiger Schutzgüter — also des Rechts auf Leben — nur als ultima ratio in Betracht kommen könne, falls der — „bisher bekanntlich nicht geführte" — Nachweis gelänge, daß der Todesstrafe in bestimmten engen Ausnahmesituationen tatsächlich wirksame Abschreckungs- und Sicherungswirkung zukäme. So schließt Herr Professor Scholz mit der Feststellung, derzeit seien kaum Verhältnisse abschätzbar, unter denen eine Wiedereinführung der Todesstrafe bzw. eine verfassungsgesetzliche Aufhebung des Artikel 102 tatsächlich tolerierbar erscheinen könnte. Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretärs Höpfinger auf die Frage des Abgeordneten Lowack (CDU/CSU) (Drucksache 11/2219 Frage 60): Ist die Bundesregierung bereit, entsprechend dem Beschluß des Bundesrates vom 18. März 1988 die Einführung einer Ausgleichszulage in § 48 b BVG zu initiieren, mit der die Witwen von Schwerstkriegsbeschädigten (Pflegezulagestufen III bis VI) eine Kriegsopferversorgung in Höhe von wenigstens 50 v. H. der von den Beschädigten zuletzt bezogenen Beschädigtenversorgung erhalten sollen? Gegen die Einführung einer Ausgleichszulage für Witwen von Pflegezulageempfängern der Stufen 3 bis 6 bestehen sachliche Bedenken, weil dadurch nur Witwen, die in guten wirtschaftlichen Verhältnissen leben, begünstigt würden. Die Diskrepanz zwischen der Beschädigtenversorgung von Pflegezulageempfängern und der Witwenversorgung hat ihre Ursache im wesentlichen darin, daß Pflegezulageempfänger der Stufe 3 und höher ohne Anrechnung ihres Einkommens stets die volle Ausgleichsrente und den Ehegattenzuschlag erhalten, während bei der Witwe das vorhandene Einkommen auf die Versorgungsleistungen angerechnet wird. Das bedeutet, daß die Rente der Witwe umso stärker aufzustocken wäre, je höher das sonstige Einkommen der Witwe ist. Witwen mit niedrigerem Einkommen gingen dabei ganz oder weitgehend leer aus. Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen der Abgeordneten Frau Weyel (SPD) (Drucksache 11/2219 Fragen 64 und 65): Ist der Bundesregierung bekannt, daß Wehrpflichtige zum Teil drei Monate nach Dienstantritt noch keine vollständige Ausrüstung erhalten haben und immer wieder Engpässe auch bei kleinen Gebrauchsgegenständen, z. B. Schuhbändern und ähnlichem, auftreten? Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, auf der Grundlage der Musterungen auch bei Sondergrößen vor der Einberufung Vorkehrungen zu treffen, daß die Wehrpflichtigen nach ihrer Einberufung sofort eingekleidet werden können? Zu Frage 64: Ich begrüße sehr, daß Sie so gründliche Truppenbesuche bei Verbänden unserer Bundeswehr durchfüh- 5270* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 ren, auf solche Engpässe bei der Einkleidung unserer Wehrpflichtigen zu Dienstbeginn gestoßen sind und, daß Sie um für die Zukunft Abhilfe zu schaffen, dieses zum Gegenstand Ihrer Anfrage machen. Die Rekruteneinkleidungen verlangen jährlich immer wieder innerhalb nur sehr weniger Tage bei einer Vielzahl von Bekleidungskammern rund 27 Millionen (!) Einzelartikel/Größen personenbezogen bereit zu haben und auszugeben. Insgesamt dürfen wir aufgrund gutachterlicher Prüfung feststellen, daß es eine Versorgungssicherheit von 95 bis 97,5 % der Artikel sofort gibt. Leider entstehen jedoch immer wieder besonders im oberen Größen- und Weitenbereich der Bekleidung kurzfristige Versorgungsengpässe. Unserem zuständigen Fachreferat jedoch ist kein Fall bekannt, in dem Wehrpflichtige 3 Monate nach Dienstantritt noch unvollständig ausgestattet waren. Sollte es jedoch zu solchen bedauerlichen und nicht hinzunehmenden Einzelfällen gekommen sein, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns nähere Kenntnisse und Zusammenhänge mitteilen könnten oder diese direkt über die Wehrbereichsverwaltung konkret ansprechen können, um hier nachhaltige Abhilfe veranlassen zu können. Bei Schnürsenkeln hat es in der Tat bei 2 Wehrbereichen Versorgungslücken gegeben, weil einerseits die beauftragte Industrie nicht im Zeitplan lieferte und andererseits — dies muß klar eingeräumt werden — die entsprechenden Bestellungen auch von Seiten von der Bundeswehr nicht zeitgerecht erfolgt waren. Hier ist anzumerken, daß wir nicht in allen Kammern über das erforderlich geschulte Fachpersonal verfügen und zuweilen Wehrpflichtige aushilfsweise solche Aufgaben mitübernommen haben. Zu Frage 65: Aus Kostengründen bevorratet die Bundeswehr nur ein den durchschnittlichen Körpermaßen der Soldaten entsprechendes Größensortiment an Bekleidung und Schuhzeug, das von Zeit zu Zeit den jeweils neuesten Erkenntnissen angepaßt wird. In letzter Zeit hat sich gezeigt, daß der Bedarf an Bekleidung in Sondergrößen in erheblichem Umfang zugenommen hat. Der Größenschlüssel wurde daher erweitert; Bekleidung in Sondergrößen jeweils kurzfristig bereitgestellt. Bei Schuhzeug beispielsweise durch Abruf bei einer zentralen Lagerstelle, im übrigen durch Anfertigung bei dafür geeigneten Vertragsfirmen. Besonders große, kleine oder füllige Wehrpflichtige werden bereits bei der Musterung registriert. Einberufungstruppenteil und ständige Standortverwaltung werden rechtzeitig von ihrem Eintreffen unterrichtet, so daß die Bekleidung auch in diesen Fällen kurzfristig bereitgestellt werden kann. Bis zum Eintreffen dieser Bekleidung werden die Soldaten behelfsmäßig ausgestattet. Das Verfahren hat sich bewährt, Schwierigkeiten bei der Bekleidung in Sondergrößen kommen nur noch selten vor. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer (DIE GRÜNEN) (Drucksache 11/2219 Fragen 66 und 67): Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus einem neuen Umfrageergebnis des INFAS-Institutes, wonach 62 v. H. der Bundesbürger für ein Verbot von Tiefflügen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eintreten? Ist aus der Tatsache, daß die Bundesregierung auf die Frage nach einer möglichen Freisetzung von Plutonium beim Absturz eines Flugzeuges auf eines der sechzig vergleichsweise schwach geschützten Atombunker nicht eingeht, zu schließen, daß ein solches Risiko nicht gegeben ist (siehe Antwort in der Fragestunde vom 14. April 1988, Plenarprotokoll 11/71)? Zu Frage 66: Gemäß Artikel 87 a Absatz 1 Grundgesetz hat die Bundesrepublik Deutschland Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen. Diesen Auftrag können die Streitkräfte nur erfüllen, wenn sie entsprechend ausgebildet sind. Die Ausbildungsinhalte orientieren sich an der Leistungsfähigkeit des möglichen Gegners. Bei den Erfassungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten gegnerischer Luftabwehrsysteme kann, ohne das Durchsetzungsvermögen und die Überlebenschance der eigenen Luftstreitkräfte deutlich zu schwächen, auf Tiefflug und damit auch auf Tiefflugausbildung — auch über der Bundesrepublik Deutschland — nicht verzichtet werden. Verfügbarkeit und Einsatzfähigkeit erfordern die Stationierung fliegender Verbände der Luftstreitkräfte auf Flugplätzen in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Verbände müssen zur Erhaltung ihrer Einsatzfähigkeit regelmäßig Überflüge durchführen, um die Besatzungen mit den geographischen, meteorologischen Verhältnissen sowie der Luftraumstruktur vertraut zu machen. Die Besatzungen müssen in der Lage sein, unter den in Mitteleuropa gegebenen schwierigen Bedingungen im Verband mit den anderen Streitkräften des Bündnisses reibungslos zusammenzuwirken. Darüber hinaus ist eine Verlagerung ganzer Teile der Verbandsausbildung in andere Länder auch aus organisatorischen, technischen und nicht zuletzt Kapazitätsgründen nicht möglich. Es steht außer Frage, daß die Anzahl und die Durchführung der Übungsflüge in der Bundesrepublik Deutschland aus der gebotenen Rücksicht auf die Bevölkerung auf die Mindestforderungen beschränkt sind und daß alles getan wird, um die Belastungen so gering wie möglich zu halten. Die Bundesregierung jedoch kann sich bei existenziellen Fragen der Verteidigung, der Verhinderung des Krieges, der Erhaltung des Friedens nicht nach Umfrageergebnissen richten. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Mai 1988 5271* Zu Frage 67: Wenn in einem Depot Atomsprengköpfe mit spaltbarem Plutonium gelagert wären, könnte es bei einem Absturz eines Luftfahrzeuges in dieses Depot im schlimmsten Falle zu einer kleinräumigen, begrenzten Ausstreuung von radioaktivem Plutonium kommen. In keinem Falle würde eine nukleare Kettenreaktion ausgelöst. Auf die hohe Unwahrscheinlichkeit eines solch beschriebenen Absturzes wurde im Verteidigungsausschuß hingewiesen. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretär Würzbach auf die Fragen der Abgeordneten Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD) (Drucksache 11/2219 Fragen 68 und 69): Ist der Bundesregierung bekannt, ob Angehörige der deutschen Bundeswehr (Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften), in Uniform oder in Zivil, am sogenannten Zwei-TageMarsch, der im Mai vom Unteroffiziersverband der Stadt Bern (Schweiz) durchgeführt wird, teilnehmen werden? Wie begründet die Bundesregierung, für den Fall der Teilnahme von Angehörigen der deutschen Bundeswehr, diese Teilnahme bei gleichzeitiger Anwesenheit einer südafrikanischen Militärdelegation? Zu Frage 68: Ja. Zu Frage 69: Nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung nimmt eine südafrikanische Militärdelegation nicht teil.
Gesamtes Protokol
Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107700000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Verluste von Arbeitsplätzen durch die Schließung der Firma Krupp-Rheinhausen (In der 76. Sitzung bereits erledigt.)

2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerreformgesetzes 1990 — Drucksache 11/2226 -
3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Übernahme eines Teils der Sozialhilfelasten durch den Bund
4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Schutz der Antarktis — Drucksache 11/2240 -
5. Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung einer besseren Pflege (Bundespflegegesetz) — Drucksache 11/1790 (neu) —
Es ist außerdem vereinbart worden, Punkt 22 der Tagesordnung nach Punkt 17 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Mitzscherling, Antretter, Brück, Dr. Gautier, Ibrügger, Dr. Jens, Dr. Hauchler, Dr. Holtz, Frau Dr. Martiny, Frau Matthäus-Maier, Müller (Pleisweiler), Poß, Müller (Schweinfurt), Roth, Dr. Wieczorek, Frau Wieczorek-Zeul, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Lage der Weltwirtschaft
— Drucksachen 11/1128, 11/1780 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Kooperative Strategie zur Stärkung der europäischen Wirtschaft und der Weltwirtschaft
— Drucksache 11/2165 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist vereinbart worden, für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes zweieinhalb Stunden vorzusehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Mitzscherling.

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1107700100
Herr Präsident! Meine sehr verehrte Dame! Meine Herren! Ich bedanke mich für den freundlichen Begrüßungsapplaus.
Seit drei Tagen wissen wir es ganz genau: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung beschert uns auch in diesem Jahr Wachstum. Die Herren Bangemann und Stoltenberg sehen sich durch das Gemeinschaftsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute bestätigt. Alles geht aufwärts: die Einkommen, der private Konsum, das Bruttosozialprodukt.
Wären da nicht die Arbeitslosigkeit und zunehmende Zinssteigerungsängste und die galoppierende Staatsverschuldung, dann würden sie sich wohl befriedigt zurücklehnen, denn die Prognose einer Fast-Stagnation für 1989 weisen sie ja ohnehin als ungerechtfertigten Pessimismus zurück.
Wir glauben, daß die Wissenschaftler recht behalten werden: Im nächsten Jahr wird es düsterer. Mit einem Wirtschaftswachstum von nur noch 1 bis 1,5 % wären wir das Schlußlicht unter allen Industrieländern. Sogar eine Stagnation halten die Gutachter für möglich — Folge einer verfehlten Finanzpolitik, wie sie sagen.
Was sagen Sie zu dieser Bewertung der Institute? Deren Urteil ist schonungslos. Ich zitiere:
Für das nächste Jahr zeichnet sich eine Abflachung der Konjunktur ab, die in erster Linie hausgemacht ist.

(Roth [SPD]: So ist es!) Ich zitiere weiter:

Das Kernproblem der deutschen Wirtschaft ist der Mangel an Wachstumsdynamik, auf den letztlich sowohl die anhaltenden hohen außenwirtschaftlichen Überschüsse als auch die hohe Arbeitslosigkeit zurückzuführen sind. Kennzeichnend für den Mangel an Dynamik ist die Schwäche der Investitionstätigkeit.
Wenn wir Ihnen das immer wieder gesagt haben, dann waren wir Miesmacher, dann waren wir Defätisten. Nun erklären es Ihnen die Institute, daß die Unternehmen deshalb nicht investieren, weil Finanzan-



Dr. Mitzscherling
lagen für sie attraktiver und die starken Wechselkursschwankungen und der zunehmende Protektionismus, die Verschuldungskrise sowie die Sprünge der technologischen Entwicklung schwer kalkulierbare Risiken sind.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Das sind ja auch Miesmacher!)

Das abschließende Fazit der Institute lautet entsprechend: „Die Wirtschaftspolitik hat zuwenig dazu beigetragen, diese Risiken zu kompensieren und damit die mittelfristigen Erwartungen der Unternehmer zu verbessern. " Damit, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, haben sich die Forschungsinstitute mit kaum zu überbietender Deutlichkeit unserem Urteil über Ihre Politik angeschlossen.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wer wollte denen denn das Geld wegnehmen?!)

Als wir im November vorigen Jahres unsere Große Anfrage zur Lage der Weltwirtschaft eingebracht haben, war der Kurssturz an den internationalen Aktienmärkten noch voll im Gange. Aber es war schon damals zu erkennen, daß eines in das Bewußtsein von Kapitalanlegern und Spekulanten zurückgekehrt war: Allen Ihren optimistischen Sprüchen zum Trotz kann das ohnehin nur schwache Wirtschaftswachstum nicht darüber hinwegtäuschen, daß die außenwirtschaftliche Lage weiterhin labil ist. Belastend wirken vor allem die anhaltend hohen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte. So die Institute noch heute.
Mit unseren kritischen Fragen haben wir — wie auch schon mit unserer Großen Anfrage von 1985 — versucht, Sie auf die Gefahren der unzureichenden internationalen Kooperation in der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik hinzuweisen, auf die Gefahren für den Welthandel, auf die Gefahren für die Stabilität der internationalen Währungsbeziehungen, auf die Gefahren für die Entwicklung der Länder der Dritten Welt, aber eben auch auf die Gefahren für uns, ein Land, dessen Sozialprodukt zu einem Drittel von den Außenmärkten bestimmt wird.
Wir haben Sie immer wieder gedrängt, die schwelende Verschuldungskrise in den Ländern der Dritten Welt durch größere Beiträge entschärfen zu helfen, und Sie an Ihre Verantwortung erinnert. Wir haben Ihnen vorgehalten, daß vollmundige Bekenntnisse zur Freiheit des Welthandels und für eine neue GATT-Runde so lange unglaubwürdig bleiben, wie Sie bei der überfälligen Reform des EG-Agrarmarktes nicht wirklich vorankommen.
Ihre Antworten können uns auch diesmal nicht zufriedenstellen. Sie haben sich erneut einer nüchternen Bestandsaufnahme verschlossen. Sie wollen Fehlentwicklungen einfach nicht zur Kenntnis nehmen, um ihnen nicht mit einer geänderten Politik begegnen zu müssen.
Mir scheint, daß Sie die Warnung des Börsenkrachs vom Oktober des vergangenen Jahres und des anschließenden Dollarverfalls noch immer nicht voll realisiert haben. Trotz der Louvre-Vereinbarung vom Februar 1987 und trotz der Dezember-Erklärung der großen Sieben steht die Dollarstabilisierung weiterhin auf tönernen Füßen; denn die Ursachen für die
Unsicherheiten bestehen doch fort. Über bessere Kooperation und Koordination wird zwar viel geredet, aber es wird zuwenig getan. Mit anderen Worten: Bei den gegenwärtigen Wirtschaftspolitiken der großen Industrieländer und bei den heutigen Wechselkursen werden die amerikanischen Handelsdefizite noch auf Jahre hinaus enorm hoch bleiben.
Sie sagen: Wir importieren doch inzwischen mehr als je zuvor. Das stimmt zwar in realer Rechnung. Danach ist der Abbau des US-Defizits und der Überschüsse Japans und der Bundesrepublik zwar in Gang gekommen, aber finanziert werden muß doch das nominale Defizit der USA. Und dieses Defizit bleibt hoch.
Erinnern Sie sich bitte an das vergangene Jahr. Sie weisen in Ihrer Antwort indirekt darauf hin: Private Kapitalanleger waren nicht mehr bereit, das amerikanische Leistungsbilanzdefizit zu den gegebenen Wechselkursen und Zinsen zu finanzieren. Die Notenbanken mußten mit rund 140 Milliarden US-Dollar in die Bresche springen. Ohne diese größte Stützungsaktion in der Währungsgeschichte wäre der US-Dollar wesentlich tiefer gefallen.

(Kraus [CDU/CSU]: Na und?)

Woher wollen Sie wissen, ob private Kapitalanleger in der Zukunft dieses hoch bleibende Defizit finanzieren wollen oder ob dazu der Dollar nicht noch tiefer fallen muß, Herr Kraus? Wie lange werden denn die Notenbanken außerhalb der USA bereit und in der Lage sein, den Dollar zu stützen? Daraus ergibt sich doch: Der Druck auf den US-Dollar wird anhalten.
Was ein noch niedrigerer Dollar für unsere exportorientierte Wirtschaft und für unsere Arbeitsplätze bedeutet, das wissen Sie wie wir auch. Deshalb gibt es nur einen Weg: Die Handelsungleichgewichte müssen beschleunigt abgebaut werden. Was hierzu bei den gegebenen Wechselkursen erforderlich ist, darüber kann kein Zweifel bestehen. Nötig ist ein Kurswechsel, ist eine Umkehr der bisherigen Rollen: eine exportorientierte Wachstumsstrategie in den USA und eine binnenwirtschaftlich orientierte Wachstumsstrategie in den Überschußländern, insbesondere in Japan und in der Bundesrepublik. Dieser Kurswechsel ist auch nötig, um Fehlentwicklungen, die entstanden sind, zu korrigieren. Sie haben sich aus der in den 80er Jahren betriebenen Politik ergeben, und zwar auf allen Seiten.
Die wirtschaftspolitischen Strategien der USA wie der Bundesrepublik haben ihr Ziel verfehlt. Die quasikeynesianische Politik Reagans führte in den USA zwar zu einem Wirtschaftsaufschwung, den Sie beklatscht haben, aber diese Reaganomics hatten eben auch gewaltige Defizite des Budgets und letztlich der Leistungsbilanz zur Folge, über die Sie sich heute beklagen. Bei uns ist die Rechnung aber auch nicht aufgegangen. Unsere Unternehmen haben zunächst von der US-Politik durch einen Exportboom profitiert, und Sie wollten über vermehrte Gewinne mehr Investitionen und danach mehr Arbeitsplätze schaffen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Das Ergebnis: Die Arbeitslosigkeit ist weiter gestiegen. Und bei dem schwächlichen Wachstum von 2 % im Jahr 1988 und der Stagnation oder der Fast-Stagnation im nächsten



Dr. Mitzscherling
Jahr wird die Arbeitslosigkeit weiter wachsen. Dies ist auch ein Ergebnis Ihrer Politik.
Wir haben Sie immer wieder vor einer zu restriktiven Geld-, Finanz- und Einkommenspolitik in den letzten Jahren gewarnt. Die deutsche Binnenwirtschaft wurde systematisch gebremst. Investitionen zur Bedienung des heimischen Marktes mußten den Unternehmen damit allenfalls partiell interessant erscheinen. Mit Investitionen in neue Exportkapazitäten haben sie sich wohlweislich zurückgehalten — zunächst weil sie dem Dollarflug nicht getraut haben und jetzt, weil niemand weiß, wohin der Dollar noch gehen wird. Außerdem waren und sind noch immer Finanzanlagen attraktive Alternativen für Sachinvestitionen.
Diese von Ihnen immer wieder skizzierte Patentformel „mehr Gewinne sind gleich mehr Investitionen" ist deshalb nicht aufgegangen.
Die Lage, in der sich heute die deutsche Wirtschaft befindet, ist auch ein Ergebnis Ihrer Politik, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Sie haben mit dieser Politik, die im Ergebnis die Binnennachfrage geschwächt hat, die Unternehmen förmlich in den Export getrieben. Sie haben den Kapitalabfluß ins Ausland gefördert und damit nach Kräften zur Entstehung der Leistungsbilanzungleichgewichte beigetragen. Es wäre völlig verfehlt, Graf Lambsdorff für die Ungleichgewichte ausschließlich die USA an den Pranger zu stellen.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Das macht doch keiner!)

Wir und die anderen Überschußländer sind ebenso verantwortlich. Ich kann deshalb auch nicht in dem ohnehin schwächlichen Wirtschaftswachstum der letzten Jahre einen großen Erfolg Ihrer Wirtschaftspolitik erkennen.
Jetzt, meine Damen und Herren, sind die Schönwetterzeiten vorbei. Nun müssen die Handelsüberschüsse abgebaut werden. Und wir werden jetzt die Nachteile dessen zu spüren bekommen, was uns seit 1983 Vorteile gebracht hat. So wie damals die deutsche Haushaltskonsolidierung durch das Anschwellen des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits überhaupt erst möglich geworden ist, so wird der unvermeidbare Aubbau unseres Leistungsbilanzüberschusses mit Sicherheit die öffentlichen Haushalte tendenziell eher belasten.
Um Wachstum und Beschäftigung in dieser schwieriger werdenden Lage nicht noch mehr zu gefährden, müssen wir binnenwirtschaftlich gegensteuern. Dies liegt in unserem Eigeninteresse, und dies kann die Welt vom größten Exportland als seinen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft auch zu Recht verlangen.
Die Bundesregierung darf sich nicht mit diesem erhofften 2-%-Wachstum begnügen, zumal, wie wir schon festgestellt haben, dieses Wachstum auf Grund eines statistisch bedingten Überhangs und eines zusätzlichen Arbeitstages zu mehr als der Hälfte auf statistische Phänomene zurückzuführen ist. Wenn das Sozialprodukt von Januar bis Dezember 1988 stagnierte, würden wir dennoch ein durchschnittliches Wachstum von mehr als 1 % haben.

(Dr. Penner [SPD]: Das können die gar nicht verhindern!)

— Das können die nicht verhindern. — In dieser Lage verbietet sich eine restriktive Geldpolitik. Da die akute Inflationsgefahr gering ist, sollte der Deutschen Bundesbank eine weiterhin stärkere Orientierung ihrer Politik am Wechselkurs und am Zinsniveau leichterfallen. Schließlich hat die Bundesbank auch die Aufgabe, die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung selbst dann zu unterstützen, wenn diese selbst nicht mehr so recht weiß, was sie eigentlich tun soll.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Na, na, jetzt übertreiben Sie aber!)

— Die Frage bleibt doch: Was wollen Sie mit Ihrer Wirtschaftspolitik eigentlich? Die Bundesregierung erklärt, sie habe das Mögliche, das Nötige getan. Sie verweist auf den enormen Anstieg des Haushaltsdefizits in diesem Jahr, sie verweist auf die Segnungen der Steuersenkungen 1990, sie kündigt die Abschaffung der Gewerbesteuer für die nächste Legislaturperiode an, aber für das nächste Jahr wird sie erst einmal kräftig die Verbrauchsteuern erhöhen — um wenigstens 10 Milliarden DM.

(Roth [SPD]: Das ist eine Logik!)

Ansonsten sprechen Sie von Deregulierung, von Privatisierung, von Entbürokratisierung, von verlängerten Ladenschlußzeiten. Das ist Ihr Beitrag zur Überwindung der Wachstumsschwäche.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So schlecht können wir doch gar nicht sein, Herr Mitzscherling!)

— Sie reden auch vom Subventionsabbau, sicherlich. Notwendig wäre das schon, aber seit 1982 sind die Subventionen um weitere 30 % gestiegen.
Das ist ein konzeptionelles Durcheinander, was wir hier feststellen müssen, das nur zur Verunsicherung der Wirtschaft und der Verbraucher beiträgt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Von einer nötigen Entschlossenheit und der Absicht, den Herausforderungen zu begegnen — —

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Nötige Entschlossenheit ist immer noch besser als entschlossene Nötigung! — Heiterkeit bei der CDU/ CSU)

— Ach, Herr Bötsch, wissen Sie, wir müssen die Binnenwirtschaft stärken, und wir müssen ein weiteres Auswuchern der Massenarbeitslosigkeit verhindern.
Von dieser Entschlossenheit ist aber nichts zu spüren. Sie flüchten sich in Ausreden, und Sie warten wie immer erst einmal ab, was die anderen tun. Vor allem starren Sie auf die USA und die dort wachsenden protektionistischen Bestrebungen. Dies läßt ja das soeben verabschiedete Handelsgesetz tatsächlich erkennen.
Statt daß Sie sich darauf einstellten, daß die amerikanische Politik im Jahr der Wahl eines neuen Präsidenten nahezu bewegungsunfähig ist, hoffen Sie nun



Dr. Mitzscherling
auf ein wirksames Veto des amerikanischen Präsidenten.
Seien Sie sich im klaren darüber, daß spätestens mit der Wahl des neuen Präsidenten eine Periode harter Bereinigung in den USA beginnt, daß sie beginnen muß! Der neue US-Präsident — egal, ob er Republikaner oder Demokrat ist — muß Reagans Hinterlassenschaften aufräumen. Er weiß, daß die USA ihr Budgetdefizit zurückführen und mehr sparen müssen, daß sie weniger importieren und mehr exportieren müssen. Aber er weiß auch, daß dieser Prozeß Zeit und Unterstützung von außen braucht.
Deshalb werden die USA nicht vor einem noch niedrigeren Dollar und/oder mehr Protektionismus zurückschrecken, wenn sich ihr Handelsbilanzdefizit nominal nicht alsbald ändert. Mit einem bißchen Protektionismus — so haben wir das schon gehört — lebt es sich in den Vereinigten Staaten zwar noch ganz gut — was das aber für den Welthandel und für unsere Volkswirtschaft bedeutet, das wissen wir, das wäre katastrophal.
Das werden auch die jüngeren, neuen asiatischen Industrieländer zu spüren bekommen. Sie werden ihre Märkte öffnen, sie werden importieren, sie werden ihre Wechselkurse korrigieren müssen. Und das vielgescholtene Japan hat soeben gezeigt, wie man durch eine forcierte Belebung der Binnennachfrage dem wachsenden Druck von außen geschickt begegnen kann.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wer hat das denn gescholten?)

Wo bleiben Sie? — Wir haben es nicht gescholten. Wir haben darauf hingewiesen: Wie die Japaner es machen, ist psychologisch und nach Überlegungen, die der Druck der Amerikaner erzeugt, eine richtige politische Antwort auf diese Herausforderung. Diese Antwort können wir von Ihnen nicht erkennen, Graf Lambsdorff.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ganz neue Melodie!)

Die Bundesregierung wiegt sich doch in dem irrigen Glauben, daß sie mit ihren Steuersenkungsplänen genug für das deutsche Wirtschaftswachstum getan hat. In den letzten Jahren haben Sie mehrfach auf die Forderung der US-Regierung nach stärkeren deutschen Wachstumsanstrengungen geantwortet, unser Land sei zu klein, um eine Lokomotive sein zu können und sie für die Weltwirtschaft einspannen zu können. Das ist natürlich richtig; das können wir nicht sein. Aber wir sollten uns nicht kleiner machen, als wir sind. Wir produzieren immerhin 30 % des Bruttosozialprodukts der Europäischen Gemeinschaft und haben damit für die EG annähernd die Bedeutung, die die USA für die Weltwirtschaft haben. Das wissen die Vereinigten Staaten. Deshalb erwarten sie von den Deutschen, daß sie ihrer Verantwortung nachkommen.
Der Druck auf eine aktivere deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik wächst aber auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Seit 1980 haben wir mit Ausnahme eines einzigen Jahres stets ein geringeres Wachstum erzielt als die übrigen EG-Staaten und damit die Entwicklung der Gemeinschaft insgesamt gehemmt. Gleichzeitig sind unsere Handelsüberschüsse gegenüber den meisten EG-Partnern enorm gestiegen. Trotz des großen US-Defizites haben viele von ihnen auch Leistungsbilanzdefizite oder eine allenfalls ausgeglichene Bilanz. Die OECD sagt, daß sich die Situation der anderen EG-Partner in diesem Jahr weiter verschlechtern wird. Das bedeutet, daß die Spannungen im Europäischen Währungssystem zunehmen werden und der Druck auf eine weitere Aufwertung der DM wächst.
Wir könnten dem entgegenwirken, so wie wir einem weiteren Dollarverfall durch mehr binnenwirtschaftliche Expansion entgegenwirken könnten. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie lehnen sie ab. Unsere EG-Partner könnten sich dann ebenfalls eine expansivere Politik erlauben und brauchten nicht zu befürchten, wie es Frankreich 1981/82 erleben mußte, daß sich die Außenhandelspositionen rapide verschlechtert und sie zum vorzeitigen Abbruch der Expansionspolitik gezwungen sind.
Wir müssen in Europa mit einer expansiveren Politik vorangehen, und die anderen, die Spielräume haben, müssen mitziehen. Wenn in Europa alle gleichzeitig handeln, dann wachsen diese Spielräume und verstärken sich die Wirkungen einer expansiven Politik.
Solch eine kooperative Strategie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ist der einzige realistische Weg zu einem rascheren Wachstum in Europa und zur Überwindung der Arbeitslosigkeit von über 16 Millionen Bürgern in den Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft. Verweigert sich die Bundesregierung einer solchen Strategie, dann ziehen wir Europa womöglich in eine Rezession hinein. Steigende Arbeitslosigkeit und Turbulenzen im Europäischen Währungssystem wären die Folge. Der zügige Ausbau des europäischen Binnenmarktes würde behindert. Beides aber, Binnenmarkt wie die Währungsunion in Europa, sowie die Schaffung einer europäischen Zentralbank und einer Europawährung brauchen wir, wenn wir uns von den Sachzwängen, die von der US-Wirtschaftspolitik ausgehen, wenigstens halbwegs befreien wollen.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Sie sind wenigstens vorsichtig! Das ist gut!)

Natürlich bedeutet mehr Integration in Europa, daß wir nationalstaatliche Autonomie auf europäische Institutionen übertragen und auf Souveränitäten verzichten müssen. Ist das ein zu großer Verzicht? Ist nicht unsere Autonomie zu einem großen Teil Illusion? Macht es denn Sinn, und ist es auf Dauer eine realistische Perspektive, mit Zähnen und Klauen die geldpolitische Vormachtstellung der Bundesrepublik in Europa zu verteidigen und auf Autonomie zu pochen, aber gleichzeitig die Durchkreuzung unserer geldpolitischen Entscheidungen durch das Auf und Ab des US-Dollars klaglos hinzunehmen? Ich halte das weder für logisch noch auf die Dauer für tragbar.

(Beifall bei der SPD)

Wir können nicht erwarten, daß sich unsere europäischen Partner auf Jahre hinaus dem geldpolitischen Diktat der deutschen Bundesbank beugen werden. Es muß zu einer Europäisierung der geldpolitischen



Dr. Mitzscherling
Entscheidungen in Europa kommen. Nur dann wird Europa mehr Einfluß auf die währungs- und handelspolitischen Strategien in der Welt nehmen können. Es wäre weniger verwundbar durch den US-Dollar, dessen plötzliche und erratische Schwankungen weiterhin wie ein Damoklesschwert über uns hängen.
Doch leider hat Herr Stoltenberg soeben in seinem Memorandum zur europäischen Währungspolitik abermals starre Position bezogen. Er will am währungspolitischen Status quo in Europa so lange wie möglich festhalten. Mit dieser Haltung verschleppt er nicht nur das Entstehen der Währungsunion, er erschwert auch die Errichtung der europäischen Wirtschaftsunion.
Bundesaußenminister Genscher hat diese Gefahren erkannt. Wir begrüßen es deshalb, daß er die Vorstellungen der deutschen Sozialdemokraten, die wir in diesem Hause seit vielen Jahren und immer wieder vorgetragen haben, aufgegriffen hat. Viele in seinem Memorandum für die Schaffung eines europäischen Währungsraums und einer europäischen Zentralbank enthaltenen Vorschläge können wir akzeptieren. Wir sind zu einer Zusammenarbeit bereit. Wir stimmen darin überein, daß die weltweiten handels- und währungspolitischen Spannungen das Atlantische Bündnis belasten und daß wir uns bemühen müssen, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Deshalb müssen auch wir unseren Beitrag leisten — wir in Europa und auch wir in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107700200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann.

Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1107700300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Weltwirtschaft stellt sich heute wieder besser dar als noch vor wenigen Monaten. Wir verzeichnen ein stabiles weltwirtschaftliches Wachstum. Das Vertrauen in die Weltwirtschaft wächst, und es geht, kurz gesagt, wieder bergauf.

(Lachen bei der SPD — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Auf welchem Planeten leben Sie!)

Das Lächeln und das Lachen der Opposition zeigen, daß sie weder von den Ergebnissen der diesjährigen Frühjahrstagung des IWF und der Weltbank noch von den dort dargestellten Daten Kenntnis genommen hat.

(Dr. Jens [SPD]: Und vom Handelsgesetz der Vereinigten Staaten!)

Der IWF und die Weltbank erwarten 1988 in den westlichen Industrieländern ein Wachstum von etwa 2,8 %, während das Wachstum des Gesamtvolumens des Welthandels auf etwa 5,4 % geschätzt wird. — Wo bleibt Ihr Lachen, meine Damen und Herren?
Nicht nur der IWF und die Weltbank geben eine solche positive Lagebeurteilung, sondern auch die OECD — da dies erst in den letzten Tagen öffentlich
breit in den Medien diskutiert worden ist, sollten Sie zumindest dies nachgelesen haben — tut dies.

(Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Die OECD spricht von einem zügig voranschreitenden Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Die OECD hält heute die von ihr noch vor kurzem erwartete Wachstumsminderung um 0,5 % für unwahrscheinlich. Sie prognostiziert ein Wachstum von 3 anstatt von bisher 2,25 %.
Als letztes Beispiel internationaler Experten: Auch die GATT-Experten zogen die Schlußfolgerung, daß die Krise auf den Aktienmärkten in der Weltwirtschaft weit besser verkraftet worden sei, als man zunächst befürchtet hätte. Nur die Damen und Herren der SPD sehen das ganz anders.
Herr Mitzscherling, wenn man Ihre Erklärung vom November, als Sie die Große Anfrage einbrachten, gelesen hat — man müßte sie heute hier, wenn es nicht Zeitverschwendung wäre, noch einmal vorlesen —, dann weiß man, daß Sie die Dramatisierung brauchen. Sie benötigen sie in einer positiven Entwicklung der Weltwirtschaft und der deutschen Volkswirtschaft, um nachzuweisen, daß Sie als Opposition angeblich immer noch unentbehrlich sind. Nein, meine Damen und Herren, wenn die Sozialdemokraten nicht in der Lage sind, positive Trends positiv umzusetzen, sondern in Dramatisierung verfallen, machen sie sich als Opposition für uns nicht nützlich, sondern tun das Gegenteil.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Weltwirtschaft steht heute besser da als vorhergesagt. Diese positive Entwicklung zeigt aber auch, daß man bei der Erstellung und insbesondere bei der Bewertung von Prognosedaten vorsichtig sein muß.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Aha!)

Diese Vorsicht gilt auch für die unverständlichen Teile der Vorhersagen der Wirtschaftsinstitute,

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das sind ganz böse Leute!)

die vor allen Dingen für 1989 bei ihrem mutigen und erstmaligen Schritt, für ein Jahr vorauszusagen, entgegen allen Trends ein abfallendes Wirtschaftswachstum vorhersagen.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das paßt nur nicht in Ihr Konzept! Das ist das Problem!)

Zumindest bei Ihren Bemerkungen, Herr Mitzscherling, und den einseitigen Zitaten, die Sie gebracht haben, werden hoffentlich einige Herren der Wirtschaftsinstitute nachdenklich geworden sein, wie man Mißbrauch mit vielleicht gutgemeinten Vorhersagen treiben kann.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Haben Sie sie überhaupt gelesen!)

Zu den damit einhergehenden Forderungen möchte ich für die CDU/CSU hier nochmals eindeutig feststellen:
Erstens. Die dritte Stufe der Steuerreform wird nicht auf den 1. Januar 1989 vorgezogen. Den hier erhobenen Vorschlag, die dritte Stufe zum jetzigen



Kittelmann
Zeitpunkt einzuführen, halte ich persönlich für unseriös.
Zweitens. Wir sind sicher, daß die im Frühjahrsgutachten vorgelegten Prognosen für 1989 zu pessimistisch und durch wirtschaftliche Daten nicht zu belegen sind. Politik und inbesondere die deutsche Wirtschaft brauchen abgewogene Vorschläge. Die bereits feststehenden Entwicklungen müssen berücksichtigt und nicht in Frage gestellt werden. Die Weltwirtschaft ist nicht in die vorhergesagte Krise verfallen; sie hat eine Schwächeperiode erlebt, ist aber bisher auf dem Wege, sie gut zu überstehen. Deshalb können wir heute auch feststellen, daß sich der Welthandel weiter dynamisch entwickeln wird.
Die wichtigste Spielregel, bei der Beurteilung von Prognosedaten vorsichtig zu Werke zu gehen, hat leider auch die SPD, wie soeben Ihre Rede bewiesen hat, völlig außer acht gelassen. Sie leben von Schwarzmalerei; ich bedaure dies. Sie springen sofort auf jeden Zug von Skepsis und Pessimismus auf und verstärken ihn auch noch.
Das Vorteilhafteste an Ihrer Großen Anfrage ist die Tatsache, daß wir heute in Ruhe gemeinsam die Gelegenheit haben, die Aufwärtstrends in der Weltwirtschaft zu analysieren.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Die „Aufwärtstrends"! Es ist ja nicht zu fassen!)

Wenn die SPD in ihrer Anfrage die wirtschaftspolitische Koordination und Kooperation vermißt, so zeigt die laufende Entwicklung, daß sie das erfolgreiche Bemühen der Bundesregierung um internationale Abstimmung nicht wahrhaben wollte oder — was wahrscheinlicher ist — auch gar nicht konnte. Lassen Sie mich nur einige Beispiele für die praktizierte internationale Kooperations- und Koordinationspolitik der Bundesregierung aufführen. Mit dem Louvre-Abkommen haben die westlichen Industriestaaten eine langanhaltende Stabilisierung der Weltwechselkurse ermöglicht.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Mit 140 Milliarden!)

Im Rahmen der laufenden GATT-Runde sitzt die Bundesregierung mit allen Handelspartnern an einem Tisch, um gemeinsam mit diesen den Welthandel weiter zu liberalisieren. Das kürzlich auf Initiative der Bundesregierung in Konstanz durchgeführte Handelsministertreffen ist ein weiteres Zeichen für praktizierte Koordinationspolitik auf internationaler Ebene.
Sie wissen, daß im Zuge der dramatischen Entwicklung auf den Aktienmärkten im wesentlichen auch die Mitglieder der „G 7", der führenden westlichen Industriestaaten, sich auf einen gemeinsamen Weg verständigt und geholfen haben, einen weiteren Einbruch abzufedern.
Nein, Herr Mitzscherling, nicht das ist nötig, was Sie sagen: ein Kurswechsel, sondern Kontinuität und Stabilität unserer Politik, die in einer ja nicht einfachen
weltwirtschaftlichen Situation immer erfolgreicher greift.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Mitzscherling [SPD]: Noch eine Million Arbeitslose drauf!)

Manchmal ist es unvermeidbar, daß auch internationale Zusammenkünfte den Charakter von Stammtischgeplänkel haben.

(Zuruf von der SPD: Manche Reden auch!)

Aber ich bin der Meinung, daß gute Absichten, die häufig vergessen werden, dadurch, daß man gemeinsam Druck aufeinander ausübt, auch international Wirkungen haben.
Im Rahmen der engagierten Koordinationspolitik hat die Bundesregierung — auch das können Sie ja kritisch sehen; aber Sie müssen es doch wenigstens erwähnen — z. B. ein 21-Milliarden-Programm beschlossen, um die Binnenkonjunktur zu beleben. Inzwischen wird das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik wieder von der Binnennachfrage getragen.
Herr Mitzscherling, ich kann mich an viele Debatten erinnern, wo Sie dies hier gefordert haben. Sie haben nie geglaubt, daß die Bundesregierung in der Lage ist, dies umzusetzen. Jetzt, wo wir den Erfolg haben und die Binnenkonjunktur die Außenwirtschaft voll entlastet, tun Sie so, als ob dies alles gar nicht da wäre. Das heißt, Sie belügen sich im Moment in der wirtschaftlichen und politischen Diskussion selber.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Der ärgert sich, daß er Anfang November nicht gekauft hat! Das ist alles!)

Die USA bemühen sich ihrerseits um die Reduzierung ihrer Budgetzinsen.
Trotz all dieser positiven Ansätze zur internationalen Kooperation darf jedoch nicht darüber hinweggesehen werden, daß es besonders im Verhältnis zwischen EG und USA noch ein erhebliches Spannungspotential gibt. Die letzte Woche hat es mit dem vom Senat verabschiedeten Handelsgesetz bewiesen.
Unser Ziel darf es nicht sein, angesichts derartiger Entwicklungen zu resignieren. Unser Ziel muß es vielmehr sein, durch eine aktive Überzeugung in Verbindung mit praktiziertem Freihandelsgeist protektionistische Gebärden erst gar nicht entstehen zu lassen. Obwohl das jüngste Handelsgesetz der USA nicht in dem Ausmaß protektionistisch ist, wie wir zunächst befürchtet hatten, ist eine darauf aufbauende Handelspolitik für eine liberale Weltwirtschaft nicht akzeptabel.
Wir haben festzustellen, daß die USA ihre Hausaufgaben nicht erfüllen und von eigenen Schwächen durch eine falsche Politik ablenken. Die Debatten im Kongreß zum neuen Handelsgesetz der USA haben deutlich gezeigt, daß dort immer weniger eine Sensibilität für die Weltwirtschaft vorhanden ist.
Die CDU/CSU sieht sich bei dem jetzt verabschiedeten Handelsgesetz in einem Dilemma: einerseits den angekündigten Widerstand der EG zu begrüßen, andererseits aber vor einer handelspolitischen Eskalation warnen zu müssen.



Kittelmann
Es kommt jetzt darauf an, daß dieses Handelsgesetz durch das angekündigte Veto des Präsidenten nicht in Kraft tritt.
Aber nicht nur die US-Handelsgesetzgebung macht uns Sorge, sondern auch das immer stärker werdende Bemühen der USA, bilaterale Handelsabkommen zu treffen. Ich denke nicht nur an das Abkommen mit Kanada, das wahrscheinlich positive Auswirkungen hat, sondern auch an viele Bereiche Südostasiens. Es kann so sein, daß befürchtet werden muß, daß die USA sich bemühen, durch zahlreiche bilaterale Handelsabkommen GATT-Regelungen zu ersetzen oder zu unterlaufen.
Wir jedenfalls sind der Meinung, daß überzogene zweiseitige Abkommen ein multilaterales Handelssystem belasten.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Warum machen die das denn?)

Ein wesentliches Ziel der internationalen Kooperation bleibt es für uns, die weltweite Liberalisierung voranzutreiben, um so unsere gemeinsame Solidarität auch mit den hochverschuldeten Entwicklungsländern zu praktizieren. Wir wissen, daß das Schuldenproblem nicht auf die lange Bank geschoben werden darf. Wir sehen täglich Not und Elend in der Dritten Welt, und das belastet uns. Wir suchen ständig nach Mitteln und Wegen, um unsere Solidarität mit den hoch verschuldeten Entwicklungsländern unter Beweis zu stellen.

(Lachen bei den GRÜNEN)

Es kann allerdings nicht oft genug betont werden, daß wir hier für jedes Land einzeln maßgeschneiderte Ansätze brauchen, um die nationalen Verschuldungsprobleme zurückzuführen und damit die internationale Verschuldung zu bekämpfen. Die hochverschuldeten Entwicklungsländer müssen in die Lage versetzt werden, eine sozial verträgliche Wirtschaftspolitik zu betreiben, um so den Grundstein für eine langfristige Lösung ihrer jeweiligen Verschuldungssituation zu legen. Entgegen auch der Behauptung der Sozialdemokraten werden wir unserer weltwirtschaftlichen Verantwortung gerecht und setzen alles daran, die Absatzchancen und die Märkte dieser Länder zu verbessern. Auch für die Länder der Dritten Welt gilt: Es gibt keine Alternative zu marktwirtschaftlichen Konzepten. Marktöffnung und Entbürokratisierung sind Prämissen, unter denen die internationale Koordination stehen muß.
In diesem Zusammenhang kommt dem EG-Binnenmarkt eine Vorreiterrolle zu, meine Damen und Herren. Nun ist es wirklich interessant und mehr als irrig, was Herr Mitzscherling in diesem Zusammenhang eben zum europäischen Binnenmarkt und zur Rolle der Bundesrepublik Deutschland darin ausgeführt hat.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Da bin ich aber gespannt, was jetzt kommt!)

Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer EG-Präsidentschaft nachhaltig ihr Engagement für den weiteren zügigen Ausbau des Binnenmarktes unter Beweis gestellt. Wir müssen jetzt alles daransetzen, damit
möglichst schnell ein funktionsfähiger gemeinsamer Binnenmarkt realisiert werden kann,

(Zustimmung von der CDU/CSU)

denn nur dort können wir unsere Wachstumskräfte freisetzen, und nur dort können wir die Weltwirtschaft nachhaltig und kontinuierlich ankurbeln und stabilisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auch an dieser Stelle ein offenes Wort an uns alle, ebenso an die deutsche Wirtschaft und an alle, die damit zu tun haben: Bitte, hören Sie auf mit der pessimistischen Schwarzmalerei, daß wir das Datum 1992 nicht gemeinsam erfolgreich angehen könnten!

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das ist zu schaffen!)

Es ist ja beinahe nicht mehr auszuhalten. Jeden Tag kommen — auch die heutigen Zeitungen sind wieder voll davon — Einzelaussagen, das Jahr 1992 sei ein zu früher Zeitpunkt. Man legt sich selbst Hemmschuhe an, statt sich mit einem Befreiungsschlag und einer Politik nach vorn auf die Aufgaben vorzubereiten. Unsere Devise muß lauten, durch einen starken Binnenmarkt die Weltwirtschaft zu stärken, und in dem Dreieck EG-Japan-USA ist der Binnenmarkt, wie wir wissen, langfristig auch unsere einzige Chance.

(Beifall des Abg. Hinsken [CDU/CSU])

Unsere Vorstellungen in dieser Frage sind bekannt. Nur so ist es auch möglich, daß wir — dies ist die Politik von heute — die Aufgaben, die in den pazifischen Raum hineinreichen, erkennen und uns nicht selbst hemmen. Es steht doch nirgends geschrieben, daß der pazifische Raum von Japan und den USA beherrscht werden müsse.

(Stratmann [GRÜNE]: Wollen Sie ihn beherrschen, oder wie ist das gedacht?)

Vor kurzem hat eine Außenministerkonferenz der ASEAN- und der EG-Staaten stattgefunden. Auf dieser Konferenz haben die ASEAN-Staaten immer wieder betont, daß sie Europa brauchten und daß sie gleichsam den roten Teppich für deutsche Investitionen auslegen würden.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Sie hoffen auf uns!)

Ich denke, daß dieses unabschätzbare Wachstumspotential im asiatischen Raum auch von der deutschen Wirtschaft endlich stärker als bisher erkannt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Japaner nutzen die Investitionschance, und deshalb sollten wir, wenn wir die Chance nicht erkannt haben, hinterher nicht jammern. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft ist groß genug, um im Konkurrenzkampf mit den USA und Japan auf lange Sicht bestehen zu können.
Meine Damen und Herren, dies soll nicht bedeuten, daß wir als Bundesrepublik eine aggressive Exportpolitik betreiben müssen. Nein, wir fördern im Gegenteil die Exportgüter aus dem asiatisch-pazifischen Raum und helfen diesen, auf unseren Märkten Fuß zu fassen. Nur müssen wir dies dann auch umgekehrt als Herausforderung verstehen.



Kittelmann
Die Grundsätze der CDU/CSU für eine liberale Freihandelspolitik haben sich bewährt. Wir begrüßen, daß die Bundesregierung diese Prinzipien offensiv vertritt, und ermuntern sie, dies auch in Zukunft zu tun.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das überrascht uns!)

Die CDU/CSU unterstützt die Bundesregierung voll in ihrem Kampf gegen den Protektionismus in allen seinen Schattierungen.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das wäre ja noch schöner, wenn sie es nicht täte!)

Deshalb fordern wir weiterhin aktives Engagement im Rahmen der GATT-Tagesgeschäfte, aktives Engagement im Verlauf der jetzt stattfindenden GATT-Runde in Uruguay und ein weiteres und noch stärkeres aktives Engangement in der internationalen Kooperation. Die Politik der CDU/CSU — und ich bin sicher, daß das für die gesamte Koalition gilt — steht unter der Prämisse, außenwirtschaftspolitisch jeden Versuch zu bekämpfen, dirigistische Methoden und Verfahren institutionell auf weltwirtschaftlicher Ebene zu verankern, denn diese Politik ist eine tägliche Herausforderung. Nur dann, wenn wir in der Außenwirtschaft, in der Weltwirtschaft, bei unseren Freunden in aller Welt aus eigener Kraft den Beweis von Solidarität erbringen — auch in schwierigen Zeiten, Herr Mitzscherling, wie ich durchaus zugebe —, dann werden wir als Industriestaat „Bundesrepublik Deutschland" gemeinsam durchsetzen, was wir für unsere Volkswirtschaft brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107700400
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107700500
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Wir brauchen eine „kooperative Strategie zur Stärkung der europäischen Wirtschaft und der Weltwirtschaft" ; das fordert die SPD in der Überschrift ihres Antrages, der hier heute zur Beratung ansteht. Ich habe mich gefragt, als ich den Antrag gelesen habe: Wer oder was ist die europäische Wirtschaft? Wer oder was soll da gestärkt werden und in wessen Interesse? Sollen die Arbeitslosen in ihrer Situation gestärkt werden oder die Kapitaleigentümer? Sollen die Gewerkschaften und ihre Mitbestimmungsrechte gestärkt werden oder die Konzerne? Soll das Wachstum gestärkt werden oder die Umweltbedingungen? Soll die europäische Wirtschaft gegen die US-Wirtschaft gestärkt werden oder die Wirtschaft der Dritten und Vierten Welt gegen den Rest der Welt?

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das schließt sich alles nicht gegenseitig aus!)

— Das werden wir gleich im Verlauf meines Beitrags noch sehen; zumindest hoffe ich das.

(Hinsken [CDU/CSU]: Ich bin gespannt, was Sie alles wissen!)

Eigentümlich, Herr Mitzscherling, erscheint mir sowohl bei der Lektüre Ihres Antrages als auch der Großen Anfrage und auch nach dem Hören Ihres Beitrages, daß in Ihrem Antrag und in Ihrer Rede nicht von Ökologie gesprochen wird. Sie schreiben einen vierbis fünfseitigen Antrag, ohne auch nur mit einem einzigen Wort — ich glaube, ich irre mich nicht — von Ökologie zu reden. Dabei ist es mittlerweile unter allen Fraktionen unbestritten — das zeigen ja auch unsere Auseinandersetzungen im Wirtschaftsausschuß — , daß Ökologie inzwischen ein ökonomisches Schwerpunktthema geworden ist. Es ist nicht mehr eine andere Sparte — sozusagen hier Ökologie und dort Ökonomie — , sondern man kann nicht mehr von Ökonomie reden, wenn man nicht auch von Ökologie redet. Wenn wir so debattieren, haben wir sicher einen Konsens.
Nur, wenn das jeder weiß und das ganz klar ist, dann frage ich mich, warum Sie in der Formulierung Ihres Antrages hinter diese Einsicht zurückfallen. Oder liegt es daran, daß die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik das mittlerweise weiß, aber nicht ihre Genossen auf europäischer Ebene? Denn es ist ja ein Gemeinschaftsantrag aller EG-Sozialisten.
Dieses Verschweigen von Ökologie ist um so bedeutungsvoller, als wir ja nach ganz konservativen Rechnungen, nämlich von Lutz Wicke, Zerstörungskosten des Wachstums von über 100 Milliarden DM pro Jahr zu verzeichnen haben. Das Wissenschaftszentrum Berlin hat vor kurzem eine Studie vorgelegt und kommt auf Zerstörungskosten des Wachstums in der Bundesrepublik von 160 Milliarden DM pro Jahr.
Es fehlen die Zahlen für die Zerstörungskosten des Wachstums auf OECD-Ebene oder auf Weltebene. Deswegen kann ich das sozusagen nur Pi mal Daumen hochrechnen. Wenn wir allein in der Bundesrepublik Zerstörungskosten des Wachstums von über 100 Milliarden DM pro Jahr zu verzeichnen haben, dürften wir mehr als das Zehnfache auf Weltebene haben, d. h. Zerstörungskosten des Wachstums von weit über einer Billion DM pro Jahr. Das heißt mit anderen Worten: Wir haben auf Weltebene eine Zerstörung des Wachstums ungefähr in der Größenordnung des jährlichen Bruttosozialprodukts in der Bundesrepublik.
Wie man in einem Antrag zur Weltwirtschaft und zu den Ungleichgewichten in der Weltwirtschaft, nämlich dem Ungleichgewicht von Wachstum und Zerstörung, davon nicht reden kann, ist mir völlig schleierhaft. Das ist ein Riesendefizit in Ihrem Antrag.
Eine zweite Eigentümlichkeit, Herr Mitzscherling — das gilt für Ihren Antrag genauso wie für Ihre Rede — : Sie fordern eine koordinierte Strategie für Wachstum und Beschäftigung. Wir haben sicherlich einen Konsens, wenn wir isoliert darüber diskutieren, daß Beschäftigung in der Bundesrepublik und in den Industriestaaten hauptsächlich durch Arbeitszeitverkürzung sichergestellt werden muß. Mich verwundert aber, daß Sie in Ihrem ganzen Antrag, wenn ich nicht etwas übersehen habe, mit keinem Wort von der Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzungen in den Industriestaaten, also auf OECD-Ebene, reden.
Das dritte Defizit: Sie fordern zwar — auch eben in Ihrer Rede — , daß die BRD — —

(Kittelmann [CDU/CSU]: Was ist denn das nun wieder für ein Land?)




Stratmann
— Nach dem Abkürzungsverzeichnis von Konrad Adenauer ist damit die Bundesrepublik Deutschland gemeint.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie geben ihm doch sonst auch nicht immer recht!)

— Herr Kittelmann, wenn ich ihm auch nicht immer recht gebe, so kann ich ihm doch einmal recht geben. Ich vermute, daß Sie auch ein sehr differenziertes Verhältnis zu Ihrem „Großvater" haben.

(Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Nein, differenziert kann das nicht sein!)

Sie fordern also den Abbau von BRD-Überschüssen und die Herstellung von Handelsgleichgewichten. Da fällt mir eine Formulierung in Ihrem Antrag auf, die ich einmal vorlesen möchte. Sie steht unten auf Seite 4. Sie erwarten von den konservativen Regierungen in der Europäischen Gemeinschaft „mehr ... als Preisstabilität" , nämlich — ich zitiere — :
Sie erwarten von ihnen auch einen Beitrag zu wirtschaftlichem Wachstum, zur Verbesserung der Beschäftigung und zur Stärkung des europäischen Handels.
Das muß man genau lesen. Das ist das magische Viereck; es sind die vier wirtschaftspolitischen Ziele aus dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Nur ist ein wirtschaftspolitisches Ziel hier völlig anders wiedergegeben. Es heißt im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz — mittelfristig gemeint — : außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Sie sprechen hier nicht von außenwirtschaftlichem Gleichgewicht, sondern von einer Stärkung des europäischen Handels wobei Sie sich implizit nicht dagegen wehren, daß es enorme Handelsüberschüsse der Bundesrepublik auf EG-Ebene und auf Weltebene gibt, genauer gesagt, wie Sie wissen, nicht nur Handelsüberschüsse, sondern auch Leistungsbilanzüberschüsse — —

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Handel und Wandel, das ist Frieden! Handel dient dem Frieden! Wo Handel und Wandel sind, da ist Frieden! — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Gestern habt ihr den Jäger 90 beschlossen! — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das dient auch der Erhaltung des Friedens!)

Es gibt eine neue Handelsoffensive, geplant einerseits von der Hochtemperaturreaktorbaugesellschaft — also ABB früher BBC — , andererseits — in Konkurrenz dazu — von Siemens/KWU, die einen kleinen Hochtemperaturreaktor in die Welt verkaufen wollen.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Denkste!)

Dabei erhöht jedes exportierte Atomkraftwerk die Wahrscheinlichkeit eines GAU.

(Beckmann [FDP]: Jedes exportierte Auto auch!)

Das gilt schon unter Friedensgesichtspunkten, wie jeder weiß. Aber kein Atomreaktor eignet sich auch so zur Proliferation von atomwaffenfähigem Material wie der Hochtemperaturreaktor, weil nämlich die Brennelementkugeln im laufenden Betrieb, von der IAEO nicht kontrollierbar, abgezogen werden können und in einen militärischen Kreislauf einbezogen werden können.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wir verkaufen auch noch vieles andere!)

Allein das ist ein Beispiel dafür, daß diese undifferenzierte Formel „Handel dient dem Frieden" völlig falsch ist. Der Handel mit solchen Produkten — vom Waffenexport einmal ganz zu schweigen — dient nicht dem Frieden, sondern gefährdet den Frieden.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Die Russen wären nicht in Afghanistan, wenn die sich hätten wehren können!)

Ein vierter Bereich, Herr Mitzscherling, der mir sowohl in Ihrer Rede als auch in Ihrem Antrag fehlt, ist der folgende. Sie fordern die Stärkung der multilateralen Institutionen zur Regulierung der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte. So weit haben wir noch Konsens. Das gleiche fordern Sie auf EG-Ebene. Mit keinem Wort reden Sie davon, daß eine Stärkung der multilateralen Institutionen mit einer Demokratisierung derselben einhergehen muß. Wenn Sie diese nicht gleichzeitig fordern, werden Sie es auf EG-Ebene — EG-Kommission, EG-Ministerrat — und auf Weltwirtschaftsebene — IWF, Weltbank — mit einer nicht mehr kontrollierbaren Bürokratisierung zu tun haben. Das heißt, wenn Sie das eine, nämlich die Stärkung, fordern, ohne gleichzeitig das andere, nämlich die Demokratisierung dieser Institutionen, zu fordern und vor allem auch in der Lage zu sein, es durchzusetzen, erreichen Sie nur die Stärkung der wirtschaftlichen Mächte, die heute schon die starken sind, und das ist das internationale Kapital.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Ich habe zwar nicht darüber gesprochen, aber Sie haben nicht unrecht!)

— Ja, Herr Mitzscherling, das Eigentümliche ist: Wir kennen uns ja seit Jahren aus dem Wirtschaftsausschuß, und wenn wir einzeln über die vier Aspekte, die ich gerade angesprochen habe, diskutieren, haben wir sofort einen Konsens. Es ist verwunderlich, daß Sie diesen Konsens, den wir haben, in Ihrem Antrag nicht formulieren. Das kann doch kein Zufall sein. Ich mache Ihnen das nicht persönlich zum Vorwurf, aber es ist doch ein riesiges politisches Defizit.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Die SPD ist schon ganz besorgt!)

Angesichts der genannten Defizite versuchen wir GRÜNEN — das möchte ich ganz bescheiden sagen — in diesem Jahr, mit einem Arbeitsschwerpunkt, den die Fraktion sich gegeben hat, ein grünes Gesamtkonzept dafür zu entwickeln, wie eine weltwirtschaftliche Ordnung aussehen könnte. Ich sage das ganz bescheiden. Wir sind heute noch nicht so weit
— und können auch nach wenigen Jahren unserer Parteiexistenz nicht so weit sein —, daß wir ein in sich geschlossenes weltwirtschaftliches Konzept vorlegen könnten. Das bescheiden zuzugestehen ist gegenüber Ihrem arroganten Grinsen, Herr Kraus, überhaupt kein Nachteil; denn daß die Konzepte, die Sie uns anbieten — —

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Eine sonore Stimme erzeugt noch nicht die Seriosität! — Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist mehr Ihre Unsicherheit, wenn Sie selbstbewußte Gesichter sehen!)




Stratmann
Das ist durchaus gut anstehende Bescheidenheit, weil sowohl die Konzepte, die die Bundesregierung andient, als auch die Konzepte, die die Opposition andient, weder in der Vergangenheit in der Lage waren noch in der Gegenwart in der Lage sind, die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beseitigen. Im Gegenteil, die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte sind das Ergebnis von falscher Politik bzw. Konzeptionslosigkeit Ihrer Politik.

(Zurufe von der SPD: Sie machen das! — Klugscheißer! )

Die wesentlichen Elemente unseres Konzeptes einer weltwirtschaftlichen Neuordnung sind:

(Hinsken [CDU/CSU]: Aha! Jetzt kommt es!)

Erstens. Eine Weltwirtschaft muß gleichzeitig eine ökologische Weltwirtschaft sein. Das heißt, auf allen Koordinationstreffen auf weltwirtschaftlicher Ebene und auf EG-Ebene muß das Thema „ökologisches Gleichgewicht der Weltwirtschaft" eines der Schwerpunktthemen sein.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Sehr richtig!)

Das gilt für die Uruguay-Runde GATT, das gilt im Herbst für die anstehende IWF- und Weltbanktagung in West-Berlin, das gilt für den EG-Ministerratsgipfel in Hannover, der uns bevorsteht, und das Siebenertreffen in Toronto.

(Roth [SPD]: Jede Institution bis zur Entscheidungsunfähigkeit belasten! Das ist klar!)

— Wenn Sie das nicht so machen, wie wir es vorschlagen, werden Sie weiter die Umwelt mit den Schäden belasten, über die Sie hier gar nicht reden, über die Sie nur im Ausschuß, nicht aber in Ihrem Antrag reden.

(Roth [SPD]: Wunderbar!)

Zweiter Punkt. Wenn man in den Industriestaaten, den Schwellenländern und den Entwicklungsländern Beschäftigung sichern will, muß ebenfalls auf jedem dieser Koordinierungstreffen auf weltwirtschaftlicher Ebene das Thema „Arbeitszeitverkürzung" und nicht undifferenziertes Wachstum auf der Tagesordnung stehen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Statt Lohnerhöhung!)

Drittens. Wenn mehr Koordination und Kooperation angestrebt wird — was wir GRÜNEN ebenfalls fordern —, muß gleichzeitig über die Demokratisierung der internationalen Institutionen geredet werden.
Viertens. Wer es ernst damit meint, eine soziale Weltwirtschaftsordnung herstellen und entwickeln zu wollen, muß damit beginnen — was heute schon möglich ist — , dem größten sozialen Ungleichgewicht, der Verschuldung der Dritte-Welt-Länder, zu begegnen, der muß sofort in die Entschuldung der Dritte-WeltLänder und der Schwellenländer einsteigen.
Was heißt das konkret? Ich möchte mit einem ersten Komplex beginnen: eine neue Weltwirtschaftsordnung in bezug auf das Weltwährungssystem und den Welthandel. Es besteht mittlerweile Konsens über die Fraktionen, auch über die Nationen hinweg, daß die hochgradige Verschuldung der Dritten Welt sowie der USA nicht nur im Desinteresse der Schuldnerländer liegt, sondern die weltwirtschaftliche Stabilität selbst gefährdet und damit auch auf die Gläubigerländer zurückwirkt und dort Krisen und Instabilität verursacht. Deswegen ist es notwendig, sofort mit der Entschuldung der Dritten Welt zu beginnen. Wir schlagen — ich freue mich, daß wir dabei mit der SPD auch Gemeinsamkeiten haben — eine internationale Schuldenkonferenz vor, die in der Weise demokratisch gestaltet werden muß, daß dort jedes Land die gleiche Stimme hat, d. h., daß nicht die volkswirtschaftlich starken Länder mit mehr Stimmen hineingehen, sondern daß gilt: one man, one vote, also jedes Land eine Stimme hat.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Dann können wir doch gleich die UNO-Versammlung nehmen!)

Zweitens ist mittlerweile unbestritten, daß finanztechnisch und von der Summe her die Entschuldung überhaupt kein Problem ist. Die Großgläubigerbanken haben mittlerweile einen großen Teil ihrer Schuldtitel erstens durch eine entsprechende Zinspolitik gegenüber ihren Sparanlegern und zweitens durch Steuerbegünstigungen bei Wertberichtigungen längst abgeschrieben. Deswegen ist es auch von der Wertmenge her möglich, in relativ kurzer Zeit — ich beschränke mich gerade auf die Wertmenge — , eine Entschuldung der gesamten Dritten Welt und der Schwellenländer vorzunehmen.
Ein dritter Punkt. Für die weltwirtschaftliche Stabilität ist die Verschuldung der USA mittlerweile gewichtiger als die Verschuldung der Dritten Welt. Deswegen muß sich, wer Stabilität herstellen will, Gedanken darüber machen, wie die krisenerzeugende Verschuldung der USA beseitigt werden kann.
Ich möchte dazu einen Vorschlag von Wilhelm Hankel zitieren, den ich schon in der letzten Weltwirtschaftsdebatte mit seinem Vorschlag zitiert habe, eine Weltzentralbank einzurichten, wobei natürlich klar ist, daß die Weltzentralbank sozusagen ein utopisches Ufer ist und nicht auf der politischen und weltwirtschaftlichen Tagesordnung steht. Ein wichtiger und aktuell realisierbarer Schritt in diese Richtung könnte folgendes sein. Ich zitiere aus einem Aufsatz von Wilhelm Hankel aus den „Gewerkschaftlichen Monatsheften" vom Januar 1988. Dabei ist interessant, daß Wilhelm Hankel auch wirtschaftspolitischer Berater der SPD bei der Erarbeitung des Irseer Entwurfs war:
Die führenden Industrieländer-Zentralbanken tauschen, wie im SZR-Abkommen vorgesehen, Dollar-Reserven in SZR-Guthaben um, die — anders als ihre Dollar-Bestände — de facto kurssicher und -stabil sind und der in Dollar wie SZR liquide IWF gewährt dem Lande USA (das ja selber keine Fremdwährungsreserven hält) einen großzügig bemessenen Beistandskreditrahmen



Stratmann
— wie jedem anderen verschuldeten Industrieoder Entwicklungsland auch.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das wird jeder verstehen, der es hört!)

— Verstehen Sie es nicht, Herr Kittelmann?

(Kittelmann [CDU/CSU]: Den letzten Absatz noch einmal!)

— Statt daß die bundesdeutsche Notenbank für ca. 75 Milliarden DM Dollar aufkauft, um den Wechselkurs des US-Dollars zu stabilisieren, damit indirekt das Leistungsbilanzdefizit der USA zu finanzieren, damit indirekt das Haushaltsdefizit und damit indirekt die Aufrüstungs- und Militärpolitik der USA zu finanzieren, sollten, so fordert Wilhelm Hankel — dem stimme ich in der Logik zu —, diese 75 Milliarden DM Devisenbestände der Bundesbank in Sonderziehungsrechte beim IWF eingetauscht werden. Damit wird einerseits ein Beitrag zur Stabilisierung des Wechselkurses des US-Dollars geleistet; andererseits ist es der US-Währung dann nicht mehr möglich, ihre Leitwährungsfunktion wahrzunehmen und über Abwertung einerseits und Inflation andererseits ihre Haushaltsdefizite, Leistungsbilanzdefizite und Wechselkursinstabilitäten auf andere Industriestaaten abzuwälzen. Das halte ich für einen sehr plausiblen und auch nachvollziehbaren Vorschlag.
Hankel sagt weiter:
Der US-Dollar wäre mit dem IWF als Rückhalt über Nacht wieder eine stabile, von keinerlei Kurssturz bedrohte Währung. Die übrige Welt(wirtschaft) aber hätte trotz der Dollar-Stabilisierung die SZR als Weltgeld und Reservewährung akzeptiert: ein Weltgeld, das weder durch die unseriöse Schuldenpolitik seines Besitzerlandes noch durch die Spekulationsattacken anonymer, chaotischer und von Zeit zu Zeit auch neurotischer Off-shore-Finanzmärkte mehr bedroht ist. Der Dollar wäre ein Landesgeld wie jedes andere auch, gedeckt und konvertierbar in SZR, einem Geld, das die USA nicht mehr selber drucken oder von fremden Off-shore-Banken nachdrukken lassen können. Die Weltwirtschaft) hätte wieder — oder endlich — eine stabile Geldordnung und -verfassung.
Ich behaupte nicht, daß das der Stein der Weisen ist. Ich sage ebenfalls nicht, das sei jetzt das Konzept der GRÜNEN, dem wir uns nahtlos im Gefolge von Wilhelm Hankel anschließen. Ich sage nur: Ein Vorschlag in diese Richtung könnte ein Beitrag zur Entschuldung der USA und damit zur Herausnahme dieses Instabilitätsrisikos aus der Weltwirtschaft sein.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Was ist Ihr Vorschlag?)

— Das habe ich gesagt, Herr Kittelmann.
Leider ist meine Zeit um. Leider bin ich nicht mehr dazu gekommen, mich mit den Vorschlägen der SPD und der Bundesregierung zum EG-Binnenmarkt 1992 auseinanderzusetzen. Lassen Sie mich einen letzten Satz dazu sagen. Die Verwirklichung und forcierte Herbeiführung des EG-Binnenmarktes 1992, den die SPD und die Bundesregierung herbeiführen wollen, führen unter den gegebenen Kräfteverhältnissen notwendigerweise zu einem Abbau demokratischer Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften. Mir ist völlig schleierhaft — Herr Mitzscherling und Herr Roth; Sie werden gleich noch sprechen — , wie Sie auf der einen Seite in Ihrem Antrag die Überwindung von Hindernissen in Richtung Binnenmarkt 1992 fordern können und auf der anderen Seite am Montag auf dem Hearing Ihrer Bundestagsfraktion „EG-Binnenmarkt — EG-Sozialraum" beklagen, daß im Zuge von EG-Harmonisierung bundesdeutsche Mitbestimmungsstandards abgebaut werden. Da müssen Sie sich entscheiden. Entweder wollen Sie einen EG-Binnenmarkt bis 1992, also in kurzer Zeit, oder Sie wollen vorher, bevor Sie dem Kapital sozusagen größere Freizügigkeit gewähren, Demokratisierungsrechte auch für die Gewerkschaften ausbauen.

(Roth [SPD]: Das ist die neue nationale Kraft!)

Das ist die Forderung, die wir GRÜNEN stellen. Wir lehnen unter den gegebenen Bedingungen und mit den in der Einheitlichen Europäischen Akte anvisierten Zielen den EG-Binnenmarkt 1992 ab. Wir lehnen nicht die wirtschaftliche Verflechtung, die wir heute längst auf EG-Ebene haben, ab, aber wir fordern eine ganz andere Schrittfolge in Richtung auf Regulierung von Wirtschaftsbeziehungen in der EG.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107700600
Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Schluß.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107700700
Letzter Satz.
Es muß erstens gesichert werden, daß demokratische Standards — in der Mitbestimmung der Gewerkschaften und der Belegschaften mindestens gehalten, darüber hinaus ausgeweitet werden können. Zweitens. Bevor man durch — —

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107700800
Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Schluß. Sie haben Ihre Redezeit, die vorgesehen ist, um zwei Minuten überschritten. Ich bitte um Nachsicht.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107700900
Ich komme zum Schluß.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107701000
Bitte kommen Sie jetzt zum Schluß.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107701100
Ich komme Ihrer Aufforderung nach und danke Ihnen fürs Zuhören.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107701200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1107701300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die letzte Mitteilung von Herrn Stratmann war, glaube ich, wichtig: Europa 1992 nur unter den genannten Bedingungen. Herr Stratmann, wenn Sie einerseits sagen, Europa wird sich nicht von deutscher Stabilitätspolitik beeinflussen lassen, glauben Sie dann andererseits, Europa wird bereit sein, alle Regulierungen, auch im Bereiche der Mitbestimmung, die wir haben, auf ganz Europa zu übernehmen? Wer solche Vorbedingungen stellt, will — das haben Sie auch ehrlich gesagt — Europa nicht.



Dr. Graf Lambsdorff
Ich verstehe im übrigen — Herr Stratmann und auch Herr Mitzscherling haben das ja zum Ausdruck gebracht; nicht mit denselben Schlußfolgerungen —, daß immer wieder Stimmen laut werden, die sagen, wir wollen uns vom Dollar und vom Einfluß der amerikanischen Währung abkoppeln, davon größeren Abstand gewinnen. Ich halte das alles für Traumtänzerei. Der Dollar ist und bleibt die größte Reservewährung der Welt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Er bleibt die größte Transaktionswährung. Man kann Wünsche haben, aber man darf die Wünsche nicht mit der Realität verwechseln.
Wenn man wie Herr Stratmann meint, man solle bei der Deutschen Bundesbank die in Dollar gehaltenen Währungsreserven — warum werden die denn in Dollar gehalten?; weil sie jeden Tag verkäuflich sein müssen und es nur so sind — in Sonderziehungsrechte umtauschen, die eben diese schnelle Verfügbarkeit nicht besitzen, dann kann ich nur sagen: Wir wären auf dem falschen Wege. Das wird sicherlich nicht geschehen.

(Stratmann [GRÜNE]: Das Argument ist verfehlt!)

Im Juni findet der Weltwirtschaftsgipfel in Toronto statt. Wenn Sie mir ein Stück Papier geben, zwei Stunden Zeit, die Kommuniques der Weltwirtschaftsgipfel von Venedig und Tokio, entwerfe ich Ihnen den Entwurf des wirtschaftspolitischen Teils des Kommuniques für Toronto.

(Roth [SPD]: Dann ist Herr Tietmeyer ja arbeitslos!)

Ich bin nicht der einzige; das könnten andere auch. Warum, meine Damen und Herren? Weil nur alles das zu wiederholen ist, was man sich gegenseitig feierlich zugesagt, was man aber nur sehr bruchstückweise eingehalten hat.
Warum ist das so? Muß man an dem ehrlichen Willen der Staats- und Regierungschefs der sieben westlichen Industrieländer zweifeln oder gibt es Gründe, die tiefer liegen?
Die weltwirtschaftliche Verflechtung ist nach dem Zweiten Weltkrieg ungeheuer schnell gewachsen, und die Teilnehmer haben in großem Maße davon profitiert. Aber wachsende weltwirtschaftliche Verflechtung hat es schon früher gegeben. Das ist ja nicht etwa neu. Neu ist das Zusammentreffen von Verflechtungen zwischen den Volkswirtschaften einerseits und einer neuen Beziehung von Staat und Gesellschaft innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften andererseits, kurz formuliert: dem demokratischen und pluralistischen Wohlfahrtsstaat.
Unsere Regierungen — ich meine die Regierungen der westlichen Industrieländer — haben von diesen weltweiten Verflechtungen der Volkswirtschaften profitiert. Diese Verflechtungen haben es ihnen erleichtert, Wachstum, Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit anzustreben. Aber gleichzeitig haben sie ihnen die Aufgabe gestellt, mit den Folgen der strukturellen Anpassungsprozesse, die solchen Verflechtungen ebenfalls innewohnen, fertig zu werden.
Es nimmt nicht wunder, daß diese Belastungen im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stehen und daß die Vorzüge dahinter zurücktreten. Das alles war übrigens leichter zu bewältigen, als das Management der Weltwirtschaft unbestritten bei den Vereinigten Staaten lag. Diese Hegemonie — oft gescholten, aber immer benutzt — gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht mehr im früheren Ausmaß. Es heißt jetzt nicht mehr Führung, sondern es heißt Kooperation. Die einstmalige Führungsrolle der USA muß von den Vereinigten Staaten selbst, der EG und Japan gemeinsam gehandhabt werden, wenn wir die Weltwirtschaft auf Kurs halten wollen.
Ich kann hier nicht die einzelnen und zahlreichen Probleme auflisten, um deren Lösung es geht, es geht mir mehr um die Methoden zu dieser Lösung.
Aber ich will die Gelegenheit benutzen, Herr Mitzscherling, einige Worte zu Ihren Bemerkungen über das Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute zu sagen. Eine Zeitung hat heute geschrieben, es sei so gehalten, daß sich jeder raussuchen könne, was ihm gerade passe. Nun, das war schon häufig so, und das haben wir auch diesmal gehört.
Verehrter Herr Kollege Mitzscherling, folgen Sie der Empfehlung, die Steuerreform vorzuziehen? Folgen Sie der Empfehlung, den Dollarkurs nicht durch Interventionen zu stützen, sondern ihn fallen zu lassen?

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!)

— Ich sage ja: Das sagen die Forschungsinstitute. Folgen Sie der Empfehlung, oder nehmen Sie nur die Teile, die Ihnen ins Konzept passen?
Sie haben gesagt, man solle die Geldpolitik nicht den Schwankungen des US-Dollars überlassen. Müßte das nicht konsequenterweise heißen: keine Interventionen? Dann müßten Sie dieser Anregung folgen. Folgen Sie dem Hinweis der Institute auf die Notwendigkeit flexiblerer und differenzierterer Tarifverträge? Sind Sie mit den Instituten der Meinung, daß in der Bundesrepublik Deutschland im Interesse gerade unserer Außenhandelsbeziehungen, insbesondere zur Abwehr von Protektionismus in den Vereinigten Staaten, die Post liberalisiert werden muß, oder nehmen Sie die Stellung der Deutschen Postgewerkschaft ein?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, eines jedenfalls werden die Institute mit Beruhigung feststellen — und das freut mich auch, Herr Mitzscherling — : Aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion wird nach dieser Würdigung nicht wieder ein Streichungsantrag bezüglich der Institute im Haushaltsausschuß auftauchen. Und das ist ja schon gut. Das haben wir früher immer gehabt.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Kritik an den Instituten liegt nicht im Bereich der Vorausschätzung für 1989. Das ist schwer zu sagen. Die Bundesregierung sieht das optimistisch. Ich habe gesagt: Die FDP und ich selber nehmen solche Hinweise schon ernst; denn wenn ich mir die ameri-



Dr. Graf Lambsdorff
kanische Wirtschaftsentwicklung, die dort steigenden Inflationsraten, Zinstendenzen und die Notwendigkeit ansehe, von der Sie gesprochen haben, einiges in Ordnung zu bringen, dann kann es 1989 schwieriger werden. Aber ob das nun 1,25 % werden und was wir dagegenhalten können, wird abzuwarten bleiben.
Meine Kritik heißt: Es fehlt eigentlich an jeder Politikempfehlung in diesem Gutachten. Dazu steht so gut wie nichts drin. Da, finde ich, sollten sich die Forschungsinstitute ein bißchen mehr Mühe geben und uns das Gutachten nicht nur mit einer Zustandsbeschreibung und einigen Prophezeihungen geben, sondern auch Politikempfehlungen einbauen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hat er recht!)

Herr Mitzscherling, die Binnenkaufkraft sei geschwächt, sagen Sie.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Tendenziell!)

— Die Binnenkaufkraft trägt die Konjunktur bei uns. Sie ist auch tendenziell nicht geschwächt. Wir haben im vorigen Jahr 53 Milliarden DM Zuwachs an privater Kaufkraft gehabt; wir werden das in diesem Jahr auch haben. Dazu trägt natürlich auch die Steuerreform bei, die wir planen. Und Sie sagen: Unsere expansiven, zur Expansion drängenden Vorschläge liegen auf dem Tisch.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107701400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1107701500
Sofort. Einen Augenblick bitte, Herr Roth.
Es sind immer wieder Vorschläge, Herr Kollege Mitzscherling, die die Defizitsituation, die Haushaltssituation, na sagen wir mal: sehr leicht nehmen. — Enschuldigung, Herr Kollege Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1107701600
Da wir beide Anhänger des Leistungswettbewerbs sind, Graf Lambsdorff, wage ich die Frage: Wäre es nicht sinnvoll, die Gemeinschaftsgutachten zu beenden und dafür konkurrierende Gutachten der fünf Institute einzuholen, die mehr Empfehlungen geben und mehr Interesse wecken würden als das jetzige gemeinsame Gutachten mit einer über den Daumen gepeilten Aussageperspektive der Institute?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1107701700
Nein, Herr Kollege Roth, ich halte das nicht für notwendig; denn, erstens, kann sich jedes Institut ohnehin getrennt vom Gemeinschaftsgutachten äußern, zweitens haben wir die Dissenting Votes, also die abweichenden Meinungen. Auch diesmal hat sich das DIW ja zu einigen Fragen anders geäußert. Das reicht nach meiner Überzeugung. Lassen wir es ruhig bei diesem in meinen Augen bewährten Verfahren.

(Roth [SPD]: Schon wieder kein Wettbewerb! Schon wieder keine Deregulierung!)

Das bewährte Verfahren ändert aber nichts daran, daß man in dem einen oder anderen Punkte Kritik anmelden kann.
Meine Damen und Herren, ich habe von der Frage gesprochen, welche Methoden zur Lösung der weltwirtschaftlichen Probleme denn zur Verfügung stünden. Ich habe den Eindruck, daß unsere Regierungen, alle der beteiligten Länder, die Lasten der Anpassung ganz wesentlich bei den Notenbanken und den Devisenmärkten abzuladen trachten, also bei Institutionen, die so weit wie möglich von nationalen politischen Pressionen entfernt sind. Aber bedeutet das nicht, daß sich die Regierungen aus ihrer politischen Verantwortung zurückziehen? Wenn das so ist, wird es auf die Dauer nicht erfolgreich sein; es ist schon jetzt sehr begrenzt erfolgreich. Sie wissen, ich halte das Louvre-Abkommen nur für einen begrenzten Erfolg. Die Grenzen internationaler Kooperation sind durch das politische Umfeld in den beteiligten Staaten eng geworden. Man beruft sich gern auf die nationale Souveränität, um sich aus gegebenen Zusagen ganz oder teilweise zurückzuziehen. Aber diese Souveränität ist eine Fiktion in einer Welt wirtschaftlicher Verflechtungen. Oft genug haben die Regierungen ihren Entscheidungsspielraum längst verloren. Die wahren Souveräne sind die internationalen Finanzmärkte oder die Sojabohnenfarmer in den Vereinigten Staaten, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Den beteiligten Regierungen stellt sich eine doppelte Aufgabe: Sie müssen internationale Regeln entwickeln und verteidigen, die strukturellen Wandel ermöglichen, aber bruchartige Entwicklungen verhindern, und sie müssen zu Hause Wege zur strukturellen Anpassung finden und durchsetzen. Ihre weltwirtschaftlichen Bemühungen sollten in zweierlei Richtung gehen. Im einen Fall geht es um internationale Vereinbarungen, die auf konkrete Ergebnisse, z. B. Wechselkurse oder Handelsströme, abzielen; im anderen Fall geht es um die Ausarbeitung von Verhaltensregeln, die nicht situationsgebunden sind, keine Ergebnisse vorgeben, sondern einen allgemeinen Handlungsrahmen für Regierungen oder Unternehmen festlegen — klassisches Beispiel: das GATT —.
Der Hauptakzent liegt derzeit auf kurzfristigem Krisenmanagement: die aktuelle weltwirtschaftliche Situation, erratische Wechselkursschwankungen, fortdauernde handelspolitische Schieflage der USA, zahlreiche protektionistische Vorstöße und jetzt trade bill im amerikanischen Kongreß. Das alles hat den unmittelbaren Handlungsdruck, der auf den Regierungen lastet, deutlich erhöht. Schnelle publikumswirksame Absprachen sollen Vertrauen vermitteln, unsichere Märkte stabilisieren und Anpassungskrisen überwinden helfen.
Allerdings, meine Damen und Herren, zeigt eine kritische Bilanz, daß viele dieser Preis-, Mengen- oder Wechselkursabsprachen sehr wenig dauerhaft waren. Einige wurden von den Ereignissen förmlich überrollt, weil sie nicht der Realität entsprachen, weil das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt wurde. Es wurde zu oft versucht, die Ergebnisse von Markt- und Wettbewerbsprozessen vorab zu fixieren. Preise und Mengen standen im Vordergrund.
Als Ergebnis dieser Operation ist auch heute festzustellen, daß der US-Dollar weiterhin tendenziell unter Druck steht und daß wir vermutlich auch um eine Wechselkursanpassung im EWS nicht herumkommen. Beides wird von der deutschen Wirtschaft zu verkraften sein; keine Aufregung, kein Alarmsignal.



Dr. Graf Lambsdorff
Es ging bei den Versuchen, die unternommen worden sind, zu wenig um die fundamentalen Verhaltensänderungen, die in den Komuniques der Weltwirtschaftsgipfel immer angesprochen werden, die z. B. im geld- und fiskalpolitischen Bereich erforderlich waren, um realwirtschaftliche Anpassungsprozesse glaubwürdig einzuleiten, zu erleichtern und zu flankieren.
Dazu kommen einige handelspolitische Vereinbarungen aus jüngerer Zeit, die eindeutig auf Kosten und zu Lasten von Drittländern zustande kamen, z. B. das amerikanisch-japanische Halbleiterabkommen. Solche Abkommen sind auf längere Sicht schon deshalb gefährdet, weil die jeweiligen Dritten, in diesem Fall die EG, kaum bereit sein werden, sich in ihr Schicksal zu fügen.
Hier ist auch ein deutlicher kritischer Hinweis an die Adresse unserer Freunde in den Vereinigten Staaten angebracht.

(Dr. Jens [SPD]: Sehr richtig!)

Die verabschiedete Handelsgesetzgebung ist eine protektionistische Gesetzgebung. Wenn der Präsident sein Veto einlegen wird — so sieht es jedenfalls zur Zeit aus — , wird sich das nicht in erster Linie gegen die protektionistischen, die handelsbeschränkenden Bestandteile dieses Gesetzes richten. Das kann sehr wohl auf den einen einzigen internen Bereich beschränkt bleiben. Dann werden wir abzuwarten haben, ob der Kongreß ein zweites Gesetz zustandebringt oder ob wir einen amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf erleben, in dem die Handelspolitik eine erhebliche Rolle spielt — mit Folgerungen für jede amerikanische Administration, die nachkommt.
Nur eines sei klar, aus meiner Sicht ist deutlich die Unterscheidung zu machen: Einen schwächeren Dollarkurs werden wir in der Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft verkraften können. Handelspolitischer Protektionismus ist für unser Land deutlich schwerer zu ertragen als Wechselkursänderungen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der freie Welthandel, die Erfolgsbasis unserer Volkswirtschaften, braucht ein multilaterales Regelsystem; ich unterstreiche: ein multilaterales System. Dieses System muß offen sein für Wettbewerb, offen für Innovationen und offen für alle Marktteilnehmer zu gleichen Bedingungen.
Das entspricht den grundlegenden Zielen des GATT und trotz manchen Zweifels, den man gelegentlich hat, doch wohl auch den grundlegenden Zielen der Europäischen Gemeinschaft. Wir sollten unsere Anstrengungen deshalb auf die Genfer Verhandlungsbühne konzentrieren. Wir sollten uns dort nicht mit kleineren Rollen begnügen. Was der Bundeswirtschaftsminister in Konstanz arrangiert hat, gibt ein deutliches Zeichen für die Entschlossenheit der Bundesregierung, diesen Weg zu gehen. Dabei können wir sie nur unterstützen und begrüßen, daß sie hier die Zeichen der Zeit erkannt hat.
Volles Engagement, Weitblick, Mut und die Fähigkeit zum Kompromiß sind erfolgreich. Mit dem Kopf durch die Wand, Herr Stratmann, löst man alleine keine weltwirtschaftlichen Probleme.

(Stratmann [GRÜNE]: Die Wand wird allmählich weich!)

Zu diesen Erfordernissen und zu diesem Weg gibt es in unseren Augen keine erfolgversprechende Alternative, und es bleibt auch nicht viel Zeit.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107701800
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1107701900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren. Über eines gibt es keinen Streit: Die Bundesrepublik Deutschland ist die bedeutendste Wirtschaftskraft Europas. Wir haben im Rahmen des Europäischen Währungssystems die dominierende Stellung erreicht, oder klarer ausgedrückt: Das EWS ist immer mehr zu einer D-Mark-Zone geworden. Die deutsche Wirtschaft und die Deutsche Mark haben weltweit Substanz und Gewicht.
Das ist allerdings kein Grund zur Selbstzufriedenheit oder gar zur Freude. Das ist vor allem ein Grund, Verantwortung und Verpflichtung für die Weltwirtschaft zu übernehmen. Hier beginnt exakt das Problem. Die Bundesregierung nimmt nämlich ihre Verantwortung für die Weltwirtschaft im Rahmen ihres Gewichtes überhaupt nicht wahr. Das ist nicht allein die Kritik der Opposition. Das ist der Kritikpunkt aller unserer Partner, der USA genauso wie der Japaner und vieler Europäer zudem. Wir sind heute im Anblick vieler ein Störenfried der Weltwirtschaft, und zwar auf Grund unseres notorisch hohen Handels- und Leistungsbilanzüberschusses, d. h. wir exportieren durch diesen Überschuß Arbeitslosigkeit in Europa, wir verhalten uns unsolidarisch in Europa. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen.
Wenn ich hier von Wahrnehmen der Verantwortung für die Weltwirtschaft spreche, dann geht es nicht um die Wiederbelebung der alten Lokomotivtheorie — Herr Mitzscherling hat es schon gesagt — , sondern es geht darum, die europäischen Hausaufgaben während der deutschen Präsidentschaft in der EG zu machen. Mehr als 16 Millionen Menschen sind nun in der EG arbeitslos. Das sind weit, weit mehr Arbeitslose als in der Ölpreiskrise 1980 bis 1982. Dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Europäischen Gemeinschaft geht im wesentlichen auf den starken Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland zurück. 1980, vor der Ölpreiskrise, betrug die Arbeitslosenzahl bei uns 900 000 Menschen, und jetzt sind es 2,3 Millionen Menschen.
Auch aktuell ist die Lage weiter bedrohlich. Gestern hat die Bundesanstalt für Arbeit ihren April-Bericht gegeben. 46 000 Menschen mehr sind arbeitslos als vor einem Jahr. Und der Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Günther, sagte, das sei ein ermutigendes Zeichen, meine Damen und Herren. Das heißt, was wir haben, ist eine Verfestigung der Arbeitslosigkeit bei uns und in Europa insgesamt.

(Hinsken [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, wie viele Arbeitsplätze in den letzten fünf Jahren geschaffen worden sind!)




Roth
Wir haben heute bisher von keinem Redner der Regierungskoalition gehört, wie die Arbeitslosigkeit bei uns und in Europa bekämpft werden soll.
Zur Zeit beginnt in der Bundesrepublik Deutschland eine Diskussion über den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland. Man beklagt nicht nur in unseren Kreisen nachlassende Wachstumsdynamik. Die Investitionsschwäche und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sind Mängel und Fehler des bisherigen wirtschafts- und finanzpolitischen Konzepts der Bundesregierung. Sie müssen sich doch selbst fragen: Sie regieren jetzt fast sechs Jahre. Sie haben vor sechs Jahren große Versprechungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit gemacht. Ich will jetzt die Analyse der Wirtschaftsverbände nicht übernehmen, sondern ich will nur klarmachen, daß auch die Wirtschaftsverbände mit ihren Klagen über die Verschlechterung des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland, daß also auch die Ihnen nahestehenden Kreise der Wirtschaft nun Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, bescheinigen, daß Ihre Angebotspolitik gescheitert ist. Es gab keine Wachstumsdynamik, die Sie uns versprochen haben, und die Gleichung „mehr Gewinne = mehr Investitionen = mehr Arbeitsplätze" ging nicht auf. Sie haben zwar in den letzten Jahren drastisch umverteilt, die Lohnquote fiel von 73,8 % auf 68,7 %, die Gewinne stiegen seit 1982 um 50 % und die Löhne hatten nur eine Zuwachsrate insgesamt von 3 %,

(Zuruf von der CDU/CSU: Bei stabilen Preisen!)

trotzdem blieben die Investitionen verhalten. Das Gemeinschaftsgutachten überschreibt den entsprechenden Artikel mit dem Satz „Ausrüstungsinvestitionen nach wir vor ohne Schwung".
Graf Lambsdorff, wir waren uns in der alten Koalition immer einig, daß die Schlüsselfrage bei der Belebung der Wirtschaft und bei der Lösung des Arbeitsmarktproblems die Investitionstätigkeit ist. Sie erhielten gestern von allen fünf Instituten bestätigt — einheitlich, ohne Minderheitsvotum — , daß die Entwicklung der Ausrüstungsinvestitionen, das Schlüsselproblem der Wirtschaft, unbefriedigend geblieben ist.
Die EG-Kommission hat zu dem Problem schon vor vier Jahren eine kooperative Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa vorgeschlagen. Sie haben die Vorschläge von Präsident Delors, der sich da in der Kommission durchgesetzt hat, negiert und übersehen. Es gab keinen deutschen Wachstums- und Beschäftigungsbeitrag für Europa.
Herr Stratmann, greifen Sie sich doch nicht an abstrakten Begriffen fest: Wachstum. Es ist der Konsens unseres Wachtums- und Stabilitätsgesetzes, daß über expansive Prozesse eben auch Arbeitsplätze entstehen können. Daß diese expansiven Prozesse vorwiegend in unserem Rahmen auch ökologischen Sinn und ökologische Zwecke verfolgen können, ist eine Tatsache, die sich inzwischen jeder, der ein bißchen klarsichtig über die Wirtschaft denkt, erarbeitet hat.

(Stratmann [GRÜNE]: Selektiv!)

Aber, meine Damen und Herren, es ist ohne Zweifel so, daß unsere Freunde in Frankreich diese ökologische Orientierung einer Wachtumspolitik noch nicht ganz eingesehen haben. Aber in der Phase von 16 Millionen Arbeitslosen kann ich doch meinen Kollegen im französischen Parlament nicht sagen, ihr seid blöd und dusselig; mit euch mache ich kein gemeinsames Papier. Vielmehr mache ich das Konsenspapier, das jetzt möglich ist, und das haben wir im Deutschen Bundestag mit der Drucksache 11/2165 eingeführt. Ich halte das für einen guten gemeinsamen Ansatz. Alle sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien — im Europaparlament und in den nationalen Parlamenten — werden dieses Papier jetzt einbringen. Und es gibt keine politische Kraft in Europa, die eine derartige Koordination für mehr Wachstum und Beschäftigung zustande bringt. Das sehen wir als einen großen Erfolg an.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107702000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1107702100
Ja, bitte sehr.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107702200
Herr Roth, da wir darin Konsens haben, daß man bei der Wirtschaftspolitik auch die Zielorientierung Ökologie zugrunde legen muß, frage ich Sie: Welche Studie ist Ihnen für die Bundesrepublik oder international bekannt, die gegenrechnet in bestimmten Bereichen selektives Wachstum, in anderen Bereichen selektive Schrumpfung — ich nenne Rüstungsproduktion, wo wir uns doch einig sind; bei der Atomindustrie sind wir uns einig, bei bestimmten Bereichen der Chemieindustrie sind wir uns einig, bei bestimmten Bereichen der Pharmaindustrie sind wir uns einig, bei der Agrarchemie sind wir uns einig — und die dann per saldo noch zu einem insgesamten Wachstum des Bruttosozialprodukts kommt? Welche Studie sagt Ihnen das?

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1107702300
Sehen Sie, die französischen Freunde haben ein europäisches Schienensystem vorgeschlagen, das miteinander kompatibel ist und damit zusammenführt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, kompatibel ist es nicht!)

Bei ein bißchen Bewegung bei uns können wir das mit ihnen zusammen schaffen. Meine Meinung ist, daß eine derartige Investitionsmaßnahme, ein europäisches Schienensystem, eine ökologische Antwort allererster Güte auf die derzeitigen Verkehrsprobleme in Europa ist. Deshalb praktisch anpacken, Herr Stratmann, und nicht abstrakt philosophieren.
Dieses französische Angebot steht, und ich hoffe, daß der Verkehrsminister der Bundesrepublik Deutschland in hartnäckigen Verhandlungen die Kompromisse zustande kriegen wird, die das zusammenführt. Und für derartige Investitionen, meine Damen und Herren, gibt es ausreichend Kapital in Europa, und das wären Maßnahmen zur Koordination für mehr Wachstum und Beschäftigung bei Verbesserung der ökologischen Lage. Ich gebe zu, daß wir es im Rahmen der Sozialdemokratischen Parteien in Europa



Roth
sehr schwer haben, diesen Gedanken der ökologischen Erneuerung umzusetzen. Aber Bewegung ist da, und Vorschläge liegen auf dem Tisch.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit in Europa hätte im übrigen verhängnisvolle Folgen für die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes. Graf Lambsdorff und die anderen Redner der Koalition, die auch noch kommen: Glauben Sie nicht, wenn sich die Massenarbeitslosigkeit weiter verfestigt und sogar noch zunimmt, wie es auch auf Grund des Gemeinschaftsgutachtens für das nächste Jahr den Anschein hat, daß das eine erstrangige Gefährdung der Durchsetzung des europäischen Binnenmarktes ist?
Es gibt viele Beweise in der Geschichte, daß Phasen der wachsenden Arbeitslosigkeit auch Phasen des Aufkeimens protektionistischen Denkens sind. Ich bin nicht sicher, ob wir nicht bei weiterer Massenarbeitslosigkeit in Europa im Hinblick auf diesen Binnenmarkt den großen Katzenjammer bekommen.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107702400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1107702500
Herr Kollege Roth, wäre es nicht hilfreicher und — wie ich glaube — auch richtiger, den zukünftigen europäischen Binnenmarkt als eine Chance für Wachstum und für die Arbeitslosen zu betrachten, als ihn als Gefahr hinzustellen?

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1107702600
Meine Meinung ist, daß der Binnenmarkt richtig ist und eine große Chance. Meine Meinung ist aber auch, daß sich dieser Binnenmarkt nur realisieren läßt, wenn sich Europa auf seine eigenen expansiven Kräfte besinnt. Ohne die Führungsrolle der Bundesrepublik Deutschland als die dominante Wirtschaftskraft innerhalb der EG wird eine expansive Politik nicht möglich sein. Das ist die schlichte Wahrheit. Wir sind nicht die Lokomotive der Weltwirtschaft, aber wir sind die einzige Kraft in Europa, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Initiativfunktion für mehr Wachstum und Beschäftigung übernehmen kann. Je mehr Verantwortung wir da in positiver Richtung übernehmen, um so leichter wird es sein, protektionistische Gefahren und Tendenzen in Europa zu überwinden. Insofern sind wir über den zweiten Schritt gleicher Meinung, aber der erste Schritt muß eine Aktion, eine Koordination für mehr Beschäftigung und Arbeit sein.
Da wendet sich mein Blick in Richtung Hannover. Nachdem wir auf dem letzten Wirtschaftsgipfel — ich will das nachträglich nicht kritisieren — über Finanzen und Agrarreform geredet haben, meine ich, daß das Thema des nächsten Gipfels in Europa, in Hannover das Thema Beschäftigungspakt in Europa sein muß. Wir müssen koordinierte Anstrengungen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit unternehmen.

(Stratmann [GRÜNE]: Was halten Sie denn von Arbeitszeitverkürzung?)

Für mich wäre wichtig, wenn der Bundeswirtschaftsminister in der heutigen Debatte nicht versuchte, ein paar Daten aus den Gemeinschaftsgutachten, ein paar Daten von der Deutschen Bundesbank und ein paar
Daten von der OECD zusammenzutragen und zu behaupten, bei uns laufe alles prima, sondern wenn er sähe, daß wir eine weitere Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit haben und daß wir eine gewaltige Chance für Europa auf dem nächsten Gipfel in Europa hätten, wenn die Bundesregierung endlich die Führungsrolle für mehr Arbeit in Europa übernähme.
Vielen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107702700
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft.

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107702800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist nicht nützlich, wenn wir uns immer wieder gegenseitig vorhalten, wer vor drei Monaten was gesagt hat, es wäre nützlich, wenn eingesehen würde, insbesondere bei denjenigen, die sich getäuscht haben, daß man mit Prognosen etwas vorsichtiger sein sollte. Prognosen sind nämlich schwierig. Auch wirtschaftswissenschaftliche Institute bei all dem Sachverstand und der Erfahrung, die sie zweifellos haben, können nicht alle Entwicklungen vorhersehen. Das ist völlig ausgeschlossen. Deshalb wäre es eigentlich normal, wenn sich alle Beteiligten bei solchen Prognosen stärker zurückhielten, als das tatsächlich der Fall ist

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

und wenn vor allen Dingen diejenigen, die sich auf die Prognosen berufen, nicht immer so täten, als träte das alles im nächsten Jahr so ein, wie es prognostiziert worden ist. Das kann niemand sagen.

(Hinsken [CDU/CSU]: Da sind Sie schon einmal in die falsche Richtung gerast!)

Das möchte ich eigentlich an den Anfang dessen stellen, was ich hier sagen möchte. Wenn man sich auf die Fakten konzentriert, dann ist allerdings das Bild wesentlich anders, als es noch vor wenigen Monaten von den meisten vorhergesagt worden ist.
Wir haben zu Beginn dieses Jahres im Wirtschaftsbericht versucht, die dort schon vorhandenen oder erkennbaren Fakten zu einem Bild zusammenzufügen. Wir waren der Meinung, daß wir in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum zwischen 1,5 und 2 % erreichen können. Das ist damals heftigst kritisiert worden, auch von Ihnen, Herr Mitzscherling, und von Ihrer Fraktion. Ihr Fraktionsvorsitzender hat das als halsbrecherischen Optimismus bezeichnet.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Miesmacher!)

Inzwischen muß man nun wirklich sagen — das sage ich jetzt nicht vorwurfsvoll, sondern ich verbinde damit die Hoffnung, daß Sie aus dieser Entwicklung auch einmal die Lehre ziehen — , daß das, was Sie befürchtet haben, nicht eingetreten ist. Wenn ich nun in einer Situation die Wahl habe, entweder zu versuchen, mit Realismus, aber mit vorsichtigem Optimismus etwas einzuschätzen, oder schwarzzumalen, und wenn ich dann daran interessiert bin, daß die Entwicklung besser ist — das unterstelle ich bei Ihnen —, dann ist es doch vernünftiger, mit vorsichtigem Rea-



Bundesminister Dr. Bangemann
lismus die Dinge zu betrachten als schwarzzumalen. Das ist eigentlich der Kern aller dieser Debatten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das gilt auch für die Entwicklung der Weltwirtschaft. Es wäre natürlich falsch, zu übersehen, daß wir nach wie vor globale Ungleichgewichte haben. Die Bundesregierung verharmlost das auch nicht. Aber wir glauben nicht, daß es richtig wäre, deswegen nun in einen Aktionismus zu verfallen, der dann eine langfristige gute Entwicklung der Weltwirtschaft unmöglich machen würde. Die Führungsqualität einer Regierung oder jeder Institution zeigt sich nicht daran, daß man überhastet reagiert, sondern daß man eine Konzeption langfristig anlegt und dann auch beharrlich verfolgt.
Besonders nach dem Oktober 1987 hat es ja nicht an Vorschlägen zu Aktionismus gemangelt. Wenn wir das alles gemacht hätten, was damals auch von der Opposition vorgeschlagen worden ist, hätten wir das nicht erreichen können, was wir tatsächlich erreicht haben, daß sich nämlich die Erschütterungen des Oktobers 1987 im wesentlichen auf die Börsen und die Geldmärkte beschränkt und nicht auf die Realwirtschaft übergegriffen haben.
Es war vor allen Dingen wichtig, daß wir das, was wir international versprochen hatten, auch national umgesetzt haben. Ich darf daran erinnern: Wir haben zinsverbilligte Mittel zur Verstetigung der Investitionen der Gemeinden bereitgestellt. Als wir das damals vorgeschlagen haben — das muß ich auch mit Blick auf meine eigene Fraktion sagen — , haben der Kollege Stoltenberg und ich dafür fast kein Verständnis erhalten. Wir sind durch die Bank in den Zeitungen und in der eigenen Fraktion angegriffen worden. Alle haben gesagt, das sei doch eigentlich ein völlig unzureichendes Mittel, und andere haben auch gesagt, wir machten ja nun doch Konjunkturprogramme. In Wahrheit war es eine ausgewogene Maßnahme der Feinsteuerung innerhalb eines langfristigen Konzeptes, die sich sehr wohl bewährt hat.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Der Gerechte muß viel leiden!)

— Das ist wahr. Inzwischen habe ich mich dran gewöhnt, und ich ziehe sogar meine Befriedigung daraus.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Reinster Masochismus!)

— Das ist richtig, Graf Lambsdorff.
Wir haben auch unsere Bereitschaft zur Hinnahme höherer Defizite der öffentlichen Haushalte im Jahre 1988 nicht nur verbal erklärt, sondern wir haben das auch umgesetzt, was wir international versprochen haben. Dafür wird man dann andererseits kritisiert, daß die Defizite ansteigen. Das, Herr Mitzscherling, muß ich Ihnen nun auch sagen — das hat Ihnen Graf Lambsdorff ja schon vorgehalten, wenn Sie sich auf das Gemeinschaftsgutachten berufen haben — : Sie können, wenn Sie eine eigene Position haben, diese Positionen natürlich nur dann glaubwürdig vertreten, wenn sie in sich schlüssig und logisch bleiben, wenn sie kohärent sind. Sie können nicht auf der einen Seite sagen, die Bundesregierung müsse mehr Dynamik entwickeln, und auf der anderen Seite dann steigende Defizite kritisieren. Das ist nicht möglich. Wir haben ausdrücklich erklärt: Wegen der konjunkturpolitischen Situation und wegen unserer weltwirtschaftlichen Verpflichtung, die wir anerkennen, wollen wir ein höheres Defizit 1988 hinnehmen.

(Dr. Jens [SPD]: 1989 soll das geringer werden!)

Das allerdings führt bei Ihnen dann auch zur Kritik.
Wir haben weitere Anstrengungen bei der Deregulierung und Privatisierung unternommen,

(Dr. Jens [SPD]: Sehr einseitig!)

und die Bundesbank hat die Diskontsenkung vorgenommen, um auf diese Anforderung angemessen zu reagieren. Die Steuersenkungen, die in der Tat ja auch einen konjunkturpolitischen Hintergrund haben, gehören in diesem Zusammenhang. Ich denke, daß die internationale Zusammenarbeit gerade angesichts des Fiaskos im Oktober 1987 ihre Bewährungsprobe bestanden hat. Übrigens sieht man das auch an den Märkten: Die Aktien- und Devisenmärkte haben sich wieder stabilisiert; sie haben wieder Zutrauen in die Entwicklung der Weltwirtschaft gefaßt.
Eines kann man nun wirklich, Herr Roth, sagen, hoffentlich ohne daß wir uns darüber streiten müssen: Einen kumulativen Abschwung in der Weltwirtschaft, der ja vorhergesagt worden ist, hat es nicht gegeben.

(Roth [SPD]: Warten wir einmal ab!)

Im Gegenteil: Die Aufwärtsentwicklung setzt sich in diesem Jahr jedenfalls fort. Soweit man das sehen kann, möchte ich mich auf dieses Jahr beschränken. Man kann für das nächste Jahr vielleicht Mutmaßungen anstellen, aber Prognosen sind heute wohl noch nicht möglich.
Für dieses Jahr haben alle internationalen Organisationen — OECD, der Internationale Währungsfonds, GATT — die Perspektiven positiver eingeschätzt. Wir werden in diesem Jahr bei allen Industrieländern im Schnitt ein Wachstum von 3 % erreichen. Das ist doch wohl nicht schlecht. Dabei ist auch mit einer erheblichen Expansion des Welthandels zu rechnen.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Lieber mäßig, aber regelmäßig!)

Die OECD geht inzwischen von einem Wachstum des Welthandels von 63/4 % in diesem Jahr aus und nimmt für nächstes Jahr 6 % Wachstum an.
Ich denke, daß angesichts dieser Zahlen und dieser Prognosen die Institute gut daran getan hätten, sich in ihren Äußerungen auf dieses Jahr zu konzentrieren und nicht schon für das nächste Jahr Vorhersagen zu wagen, die möglicherweise nicht zutreffen, das vor allen Dingen deswegen, Herr Mitzscherling — Sie gehörten, glaube ich, selber einmal dem DIW an, wenn ich das nicht falsch in Erinnerung habe —, weil gerade dieses Institut noch vor zwei Monaten für dieses Jahr 1 % prognostiziert hatte und sich jetzt auf 2 %



Bundesminister Dr. Bangemann
korrigiert hat. Das sind immerhin 100 % neben der ursprünglichen Schätzung.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Na ja!)

Sie sagen, Sie hätten einmal einen Antrag auf Streichung der Mittel eingebracht. Ich weiß nicht, ob sich das auch gegen das DIW richtete. Ich könnte mir vorstellen, meine Damen und Herren — ich gebe den Haushältern eine Anregung — , daß die Mittel ausgegeben werden je nach Treffergenauigkeit bei den Prognosen.

(Heiterkeit — Roth [SPD]: Dann ist das DIW Sieger!)

Wer vollkommen danebenliegt, der bekommt nichts mehr.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107702900
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mitzscherling?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107703000
Da Herr Mitzscherling davon persönlich betroffen ist, gerne, Herr Präsident.

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1107703100
Ich bin nicht davon betroffen, aber darf Sie fragen, Herr Minister — wenn ich an die Treffgenauigkeit Ihrer Prognose hinsichtlich der deutschen Investitionstätigkeit in den Jahreswirtschaftsberichten denke — : Befürchten Sie nicht, daß der Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft, wenn wir die Kriterien der Mittelzumessung, die Sie soeben genannt haben, zugrunde legen, sehr schwer durchzuhalten sein wird?

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Dann wäre er schon bei Null!)


Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107703200
Herr Mitzscherling, wenn das so wäre, könnte ich das nur begrüßen. Dann würden wir Subventionen kürzen, aber auch dagegen haben Sie ja etwas.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107703300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107703400
Gern.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1107703500
Könnten wir uns bei Ihrem Vorschlag vielleicht darauf verständigen, daß wir nicht die absolute Treffergenauigkeit, sondern die durchschnittliche Treffergenauigkeit zum Maßstab nehmen? Dann kommen wir alle ein bißchen besser dabei weg.

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107703600
Ich sehe, Herr Präsident, mein Vorschlag erregt auch Haushälter. Ich bin gerne bereit, auch noch eine Zwischenfrage von Herrn Weng zuzulassen.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107703700
Das Wort zu einer Zwischenfrage hat der Herr Abgeordnete Weng.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1107703800
Herr Minister, nur die wohl etwas einfache Frage: Können wir davon ausgehen, daß die Bundesregierung in ihrem Haushaltsentwurf das entsprechend Ihrer Anregung vorsehen wird?

(Heiterkeit)


Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107703900
Herr Weng, ich habe eine Anregung ausdrücklich an die Haushälter gerichtet. Ich vertraue darauf, daß sie diese aufnehmen werden.
Herr Mitzscherling, Sie sagen, die Binnennachfrage sei geschwächt worden. Das kann ich nun überhaupt nicht mehr verstehen; denn wir hatten im letzten Jahr ein Wachstum der Binnennachfrage um etwa 3 %, übrigens in diesem Jahr in derselben Größenordnung. Diese Nachfrage ist ja der eigentliche Konjunkturmotor dieses Jahres, wenn auch — Gott sei Dank — die Exporte nicht ganz so schlecht sind, wie wir das ursprünglich einmal annehmen mußten.
Meine Damen und Herren, der Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte ist jedenfalls erheblich vorangekommen, auch in der Bundesrepublik. Die Exporte von Waren und Dienstleistungen waren 1987 real kaum höher als vor zwei Jahren; denn die reale Entwicklung wird durch die nominellen Ungleichgewichte in der Währungsparität überdeckt. Die Importe haben — ebenfalls real — gleichzeitig um 8,5 % zugenommen. Das heißt, der Anteil des realen Außenbeitrags am Bruttosozialprodukt ist von 5,2 1985 auf 3 % im letzten Jahr gefallen. Auch der Leistungsbilanzüberschuß war um 4,5 Milliarden DM niedriger als im Vorjahr. Das heißt, wir leisten unseren Beitrag.
Natürlich ist diese Anpassung graduell. Sie können nicht von heute auf morgen einen Leistungsbilanzüberschuß oder Handelsbilanzüberschuß, der in der Tat Rekordmarken erreicht hat, so schnell abbauen.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107704000
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107704100
Gern.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107704200
Bitte.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107704300
Wenn wir uns einig sind, daß man bei den derzeitigen Ungleichgewichten außenwirtschaftliches Gleichgewicht nur mittelfristig herstellen kann, frage ich Sie: In welchem Zeitraum wollen Sie denn bei dem Angleichungstempo, auf das Sie gerade hinweisen, außenwirtschaftliches Gleichgewicht herstellen?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107704400
Herr Stratmann, das kann niemand für einen Zeitraum prognostizieren oder sich vornehmen. Das hängt von vielen Elementen ab, beispielsweise davon, wie stark dieser Beitrag von uns angesichts der Nachfrage überhaupt geleistet werden kann, die in anderen Ländern nach unseren Gütern, etwa Investitionsgütern, besteht. Ich kann Ihnen sagen — wir werden uns ja auch darüber unterhalten — : Im Bereich des Handels mit Mitgliedern des RGW könnten wir erheblich mehr Waren absetzen, wenn diese Länder die dafür nötigen Devisen hätten. Das heißt, diese Nachfrage



Bundesminister Dr. Bangemann
existiert und ist für diese Länder übrigens vernünftig; denn die könnten ihre Wirtschaft modernisieren. Wenn ich Ihren Ansatz der Ökologie in der Weltwirtschaft nehme, wäre es beispielsweise dringend erforderlich, daß wir energiesparende Investitionsgüter an die Länder des RGW liefern; denn deren Produktion wird nicht nur von den Kosten, sondern auch von den Umweltkosten dadurch belastet, daß der Produktionsapparat völlig veraltet und nicht auf dem modernsten Niveau ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und bei der CDU/CSU)

Aber nun möchte ich einmal wissen, was Sie dazu sagen würden, wenn das zu einem höheren Zahlungsbilanzüberschuß bei uns führen würde. Verstehen Sie? Das ist das, was ich auch Herrn Mitzscherling gesagt habe. Wenn Sie ein Prinzip aufstellen und wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen, müssen Sie die Konsequenzen bei der Durchsetzung dieses Prinzips anerkennen und akzeptieren. Aber gerade das tun sie nicht. Sie stellen ein Prinzip auf, und dann glauben Sie, die Welt muß sich nach diesem Prinzip verändern.

(Abg. Stratmann [GRÜNE] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)

— Ich möchte gern fortfahren, Herr Präsident.
Noch ein Wort zu Europa. Die Bundesregierung hat die Vollendung des Binnenmarkts zum Schwerpunkt seiner Präsidentschaft gemacht. Wenn ich mir ansehe, wie viele Richtlinien und Verordnungen aus dem Weißbuch der Kommission zur Verwirklichung des Binnenmarkt wir jetzt schon verabschiedet haben und in welchem Ausmaß wir andere Richtlinien vorangebracht haben, kann ich mit Fug und Recht sagen: Das, was, glaube ich, Herr Roth gesagt hat, wir nähmen unsere internationale Verantwortung nicht wahr, ist einfach falsch. Vor allem nach dem Brüsseler Gipfel, den ja die deutsche Präsidentschaft und vor allem der Bundeskanzler ganz maßgeblich mit ihren Vorschlägen und ihrer Verhandlungstaktik bestimmt haben, anerkennt jedermann in Europa, die Gemeinschaft wäre heute ohne dieses Engagement der Bundesregierung und insbesondere des Bundeskanzlers nicht dort, wo sie Gott sei Dank ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Natürlich ist der Binnenmarkt eine Herausforderung, aber auch eine ganz wesentliche Chance — Wachstumsimpulse werden davon ausgehen —, wenn wir mehr Mobilität und Flexibilität aufweisen. Das ist der Kern der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wir sind nach der Schweiz das Land mit den höchsten Löhnen in der Welt. Wir haben das teuerste Sozialversicherungssystem. Wir sind weit vor allen unseren Konkurrenten auf dem Weltmarkt Meister in der Arbeitszeitverkürzung, die hier als Möglichkeit angepriesen wird. Wie wollen wir damit überhaupt noch konkurrenzfähig bleiben? Ich will keine Löhne kürzen. Beim Sozialversicherungssystem müssen die Mißbräuche beseitigt werden, und das tun wir; aber es muß im Kern erhalten bleiben, damit eine Absicherung gegen Lebensrisiken vorhanden ist. Über die Frage, ob die Arbeitszeit so verkürzt werden muß,
kann man sich schon eher streiten, wenn man sieht, was manche Menschen mit ihrer Freizeit anfangen.

(Stratmann [GRÜNE]: Was meinen Sie denn damit?)

— Um keine falschen Eindrücke aufkommen zu lassen: Ich habe damit nicht Sie gemeint, Herr Stratmann. — Man könnte sich z. B. weiterbilden. Mehr Freizeit heißt auch, daß man mehr für seine Qualifikation tun kann. Denn wenn zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung oder keinen Hauptschulabschluß haben,

(Sellin [GRÜNE]: Wer hat das zu verantworten?)

dann liegt darin das wesentliche Problem der Arbeitslosigkeit. Aber das wollen Sie nicht sehen, weil das unbequem ist. An Menschen Forderungen zu stellen, die sie erfüllen können, gehört zu einem besseren wirtschaftlichen und menschlichen Klima in unserem Land.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Abg. Sellin [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107704500
Herr Abgeordneter, der Herr Bundesminister hat gesagt, daß er keine Zwischenfrage mehr zuläßt. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.

(Sellin [GRÜNE]: Das heißt, Berufsausbildung ist unangenehm!)


Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107704600
Wir wollen — das sage ich zu einem Mißverständnis, das hier bewußt erregt worden ist — auch eine stärkere währungspolitische Zusammenarbeit in Europa. Die Bundesregierung hat völlig klar ihre Position dazu nicht nur bezogen, sondern auch in der europäischen Gemeinschaft — mit viel Beifall übrigens — vertreten. Wir wollen, daß eine einheitliche Währung und die Gründung einer europäischen Zentralbank den Schlußstein dieser währungspolitischen Zusammenarbeit bilden, denn die Vorteile dieser verstärkten Währungszusammenarbeit liegen auf der Hand: Ein einheitlicher europäischer Währungsraum würde z. B. die Abhängigkeit vom Dollar abbauen und die währungspolitische Handlungsfähigkeit Europas stärken, und wir würden auch im internationalen Währungssystem insgesamt ein Element von Stabilität bilden.
Wichtig ist es deshalb, die Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung und die Gründung einer europäischen Zentralbank zu schaffen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr richtig!)

Dazu gehört, daß alle Beteiligten in ihren wirtschafts- und währungspolitischen Grundauffassungen ein hohes Maß an Konvergenz erreichen und daß die währungspolitische Integration in Europa vor allem von einer autonomen europäischen Zentralbank ausgeht, die dem Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet sein muß.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist Ihnen nun wieder unangenehm, aber wir können natürlich nicht die europäische Zentralbank und



Bundesminister Dr. Bangemann
die europäische Währungszusammenarbeit als eine Quelle von Inflation schaffen; das wäre sicherlich ein Rückschritt.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Sehr wahr!)

Meine Damen und Herren, wenn wir betrachten, was wir international in den vergangenen Monaten dazu beigetragen haben, daß diese Zusammenarbeit vorankommt, dann möchte ich noch einmal insbesondere das Beispiel erwähnen, das Graf Lambsdorff hier schon unterstrichen hat. Daß es zu der UruguayRunde gekommen ist, hat sicherlich seinen Grund darin, daß sich alle Beteiligten darüber im klaren waren, daß allein schon diese Runde angesichts des wachsenden Protektionismus ein Zeichen der Ermutigung ist; es hat aber auch damit zu tun, daß sich die Bundesregierung nachhaltig und intensiv für diese Runde eingesetzt hat. Wir haben allein zweimal hier bei uns Handelsministerkonferenzen organisiert, einmal in Ludwigsburg und vor kurzem in Konstanz, bei denen ganz klar wurde, daß — wenn ich es einmal so ausdrücken darf — unsere bestimmende, führende, antreibende Rolle einen ganz wesentlichen Impetus für die Verhandlungen gegeben hat. Wir haben auch zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern vermittelt. Wir haben auch Einfluß bei unseren amerikanischen Freunden, weil wir das europäische Land sind, das noch am stärksten seine Möglichkeiten zur Öffnung seines eigenen Marktes nutzt.
An dieser Stelle muß ich Ihnen, Herr Mitzscherling, aber auch etwas sagen.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das bestreiten wir doch gar nicht!)

— Nun, wenn Sie das nicht bestreiten, dann freut mich das sehr. Ich bitte, diesen Zwischenruf im Protokoll festzuhalten, Herr Präsident, wenn ich mir diese Anregung erlauben darf.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107704700
Das ist gesichert, Herr Bundesminister, da er laut genug war.

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID1107704800
Ich komme darauf nämlich gern zurück.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das war auch keine Kritik an den Stenographen!)

Nur darf ich Ihnen vielleicht noch eines sagen, Herr Mitzscherling: Wenn Sie diese internationale Zusammenarbeit wollen, um den Protektionismus zu bekämpfen, dann dürfen Sie bei uns nichts, aber auch gar nichts zulassen, was den Schatten eines Beweises dafür liefern könnte, daß wir selbst protektionistisch sind. Dazu gehört etwa die Postreform.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Und was ist mit dem Airbus?)

Wer diese Postreform nicht will, der schafft ein handelspolitisches Element des Streites mit den USA. Das muß man ganz deutlich sagen.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Was ist denn mit der Agrarpolitik, Herr Minister?)

— Mit der Agarpolitik ist es dasselbe. Deswegen haben wir uns ja in Brüssel — auch die Bundesregierung — intensiv darum bemüht, von einer Agarpolitik
wegzukommen, die nur Überschüsse produziert, die niemandem nutzen. Wir haben Instrumente entwikkelt und Wege dafür auch durchgesetzt: Flächenstillegungen, die vorzeitige Pensionierung von Landwirten, wenn sie einen Betrieb ganz oder teilweise aufgeben wollen, und ähnliches mehr. Auch das hat dazu geführt, daß in Konstanz anerkannt worden ist, daß erstmalig in der Europäischen Gemeinschaft der Versuch gemacht wird, von dieser verfehlten Agarpolitik wegzukommen und eine bessere Politik zu machen. Das ist ein Ergebnis der Bundesregierung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden auch bei dem Mid-term-Treffen in Kanada dafür sorgen, daß insbesondere Ergebnisse festgehalten werden können, die den Entwicklungsländern nützen. Die Entwicklungsländer haben Zutrauen entwikkelt. Die Bundesregierung hat ganz wesentlich dazu beigetragen, Herr Mitzscherling, daß die letzte UNCTAD-Konferenz in Genf nicht gescheitert ist. Wir haben uns bis in jede kleinste Arbeitsgruppe hinein dafür eingesetzt, daß Interessen der Entwicklungsländer nicht in einem Disput von Industrieländern, die natürlich ganz andere Probleme haben, einfach untergehen.
Lassen Sie mich deshalb ein Resümee ziehen: Der wirtschaftliche Aufschwung ist in diesem Jahr weltweit nicht zu Ende gegangen, sondern festigt sich. Wir sind in dieser internationalen Koordinierung ein verläßlicher Partner, und ich denke, daß diese Zusammenarbeit ihren Härtetest auch bestanden hat.
Wir werden, wie auch bisher, die engere Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft nachhaltig unterstützen und fördern. Die Liberalisierung des Welthandels ist zur Sicherung der weltwirtschaftlichen Prosperität, aber auch im Hinblick auf die Chancen der Dritten Welt wichtig.
Für die Bundesregierung gibt es deswegen keine Notwendigkeit für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel, auch nicht international. Das, was wir bei uns machen, findet international im Kern nämlich sehr viel Anklang.
Es ist ja auch seltsam, daß es Länder gibt, die in ihrer nationalen Wirtschaftspolitik völlig gescheitert sind und die hohe Defizite im Budget und in der Handelsbilanz haben, und daß ausgerechnet diese Länder uns empfehlen wollen, unsere erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu ändern. Das ist wirklich erstaunlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Weil wir solchen Ratschlägen aus vielfachen Gründen nicht folgen wollen, Herr Mitzscherling, werden Sie erleben müssen, daß wir unsere erfolgreiche Politik fortsetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Mitzscherling [SPD]: Warten wir es ab!)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107704900
Das Wort hat der Abgeordnete Kraus.

Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1107705000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Frühjahrsgutachten zeigt, daß die Bundesrepublik nach wie vor ein her-



Kraus
vorragender Industriestandort ist. Es zeigt aber auch, daß diese Spitzenposition dann gefährdet ist, wenn sich insbesondere durch die Entwicklung der Arbeitskosten und durch eine zu geringe Investitionsbereitschaft unsere Verhältnisse verschlechtern.
Für die hohe Qualität der Bundesrepublik als Industriestandort sprechen die hohe Exportquote, der große Außenhandelsüberschuß, die Qualität deutscher Produkte und unser außergewöhnliches Ausbildungs- und Leistungsniveau.

(Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Mit einer Steigerung des realen Bruttosozialprodukts um 1,5 bis 2 % wird die Bundesrepublik auch in den nächsten Jahren wirtschaftliches Wachstum erzielen, was angesichts des Ausgangsstandards unserer hochentwickelten Wirtschaft und der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine große Leistung darstellt.
Sie, Herr Mitzscherling, sind der Auffassung, dieses Wirtschaftswachstum sei wohl etwas schwächlich. Ich glaube, daß diese Beurteilung relativiert werden muß. Wir haben heute ein wirtschaftliches Wachstum auf einem sehr hohen Niveau des Bruttosozialprodukts. Wenn ich einmal ein solches Niveau bei stagnierender Bevölkerung erreicht habe, ist das sicher eine große Leistung. Das kann man nachher an den absoluten Zahlen darüber, wie das Sozialprodukt gewachsen ist, sehen.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Es reicht nur nicht, um die Arbeitslosigkeit abzubauen!)

— Auf die Frage der Arbeitslosigkeit komme ich noch sehr gerne zu sprechen.
Dieses Wachstum wurde erreicht trotz der Abwertung des Dollar, trotz der Börsenturbulenzen, trotz der außenwirtschaftlichen Risiken und trotz der gewaltigen Belastungen durch den notwendigen Strukturwandel. Es ist gelungen, den Aufschwung auch im sechsten Jahr seit dem Regierungswechsel fortzusetzen,

(Hinsken [CDU/CSU]: Eine gute Auflistung!)

einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern und die Basis für eine weitere Aufwärtsentwicklung in den kommenden Jahren zu schaffen. Dies sind Erfolge, mit denen wir uns sicher sehen lassen können.
Sehr bedeutend ist, welches Vertrauen die Wirtschaft in die Rahmenbedingungen gewinnen kann und wie durch die Politik und die Tarifvertragsparteien die Weichen für die Verwendung des Bruttosozialprodukts gestellt werden. Hier weist das Frühjahrsgutachten zu Recht auf einen Schwachpunkt unserer wirtschaftspolitischen Entwicklung hin, und zwar den hohen Anstieg unserer Arbeitskosten.
Unsere im internationalen Vergleich bereits heute hohen tariflichen Stundenlöhne werden in den nächsten Jahren auf Grund von Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen in der Privatwirtschaft um durchschnittlich 3,75 % und im öffentlichen Dienst um durchschnittlich 3 % steigen. Das Gutachten zieht daraus den Schluß:
Damit ist der Anstieg der Stundenlöhne größer, als er sein dürfte, sollen auf mittlere Sicht nicht die Beschäftigungschancen verschlechtert werden. Dazu gehört weiter, daß sich die Tarifparteien untereinander und die Unternehmensleitungen mit den Belegschaftsvertretern auf ein höheres Maß an Flexibilität verständigen.
So weit das Gutachten. Nach dieser Meinung darf es insbesondere nicht zu einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit kommen.
Arbeitszeitverkürzung ist für viele ja sowieso das Patentrezept. Ich glaube, daß diese Meinung, Arbeitszeitverkürzung sei als Hauptinstrument der Arbeitsmarktpolitik zu sehen und sei eine Möglichkeit, zur Vollbeschäftigung zu kommen, an zwei Grundirrtümern leidet.
Erstens unterstellt diese These, daß wir gesättigte Märkte hätten, d. h. daß alle vernünftigen, sinnvollen Bedürfnisse befriedigt wären. Genau das ist aber nicht der Fall; es gilt weder für den privaten Bereich noch für den öffentlichen Bereich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bedürfnisse wären vorhanden; sie können nur nicht bezahlt werden; d. h. die Arbeit, die angeboten wird, ist letztlich zu teuer. Wir unterhalten uns ja hier im Bundestag auch nicht über die Frage, wie wir etwa Geld, das wir zuviel hätten, auf sinnvolle Weise ausgeben könnten, sondern haben ständig damit zu tun, die Anforderungen, die im Einzelfall noch so berechtigt sein können, sozusagen in Grenzen zu halten, weil die Finanzmasse und damit unsere Möglichkeiten, Arbeit nachzufragen, eben beschränkt sind.
Die zweite Unterstellung, die dieser Theorie zugrunde liegt, ist, daß das Leistungsprofil der Arbeitslosen, die für Arbeitsplätze, welche durch Arbeitszeitverkürzung freiwerden, in Frage kommen, in etwa dem derjenigen Leute entspricht, die zur Zeit auf diesen Arbeitsplätzen sind. Auch das erweist sich immer wieder als falsch, und dabei spreche ich nicht nur von der beruflichen Befähigung, sondern natürlich auch von der örtlichen Verfügbarkeit.
Diese beiden Grundirrtümer liegen der Auffassung von der Möglichkeit, durch Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze zu schaffen, zugrunde.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107705100
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?

Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1107705200
Gerne. Bitte, Herr Stratmann.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107705300
: Ich stimme Ihnen darin zu, daß in beiden Punkten, die Sie gegen die Strategie der Arbeitszeitverkürzung einwenden, ein wahres Element steckt. Das kann ich jetzt nicht ausführen. Es gibt in Teilen ungesättigte Märkte — —

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Sie sollen fragen!)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1107705400
Ja, stellen Sie bitte eine Frage.

Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1107705500
Ich brauche meine Zeit!




Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107705600
Lassen Sie mich das noch sagen: Es gibt erstens in Teilen ungesättigte Märkte, und, was den zweiten Punkt betrifft, es ist richtig, daß eine generelle Einführung der Arbeitszeitverkürzung in den einzelnen Bereichen zu den Friktionen führt, die Sie ansprechen. Wenn Sie aber umgekehrt auf die Wachstumsstrategie setzen,

(Zurufe von der CDU/CSU: Fragen!)

frage ich Sie: Stimmen Sie mit den anerkannten Berechnungen überein, wonach Sie über einen langen Zeitraum hinweg ein jährliches Wirtschaftswachstum von ungefähr 6 % brauchten, um über Wachstum und Investitionen — ungeachtet der ökologischen Konsequenzen eines solchen Wachstums — Vollbeschäftigung zu schaffen?

Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1107705700
Ich stimme mit Ihrer Meinung ausdrücklich nicht überein. Es ist jetzt aber einfach nicht die Zeit, das im einzelnen darzulegen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß die Theorie, das prozentuale wirtschaftliche Wachstum sei gleich der Möglichkeit der prozentualen Steigerung der Arbeitsplätze, eben nicht stimmt. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen dafür, das eben anders zu sehen.
Lassen Sie mich aber bitte noch einige wichtige Dinge zu der Frage der Arbeitszeitverkürzung sagen. Sehen Sie, ich möchte nicht leugnen, daß es einzelne Bereiche gibt, in denen die Arbeitszeitverkürzung tatsächlich auch zu zusätzlichen Arbeitsplätzen, mindestens aber nicht zu einer Verteuerung der Produkte führen würde. Das ist in den Werken und Betrieben der Fall, in denen eine besonders hohe Kapitalkostenbelastung — jedenfalls in Relation zu den Arbeitskosten — festzustellen ist. Dort ist es natürlich möglich, daß ich eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich vornehme, nämlich wenn ich dafür — für diese Arbeitszeitverkürzung — die Möglichkeit eintausche, die Maschinen länger laufen zu lassen. Dann verschieben sich natürlich die Kosten, und der Vorteil, den ich durch die längere Laufzeit der Maschinen habe, kompensiert — sogar bei weitem — die Kosten der Arbeitszeitverkürzung.
In den letzten Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, daß ein großes Verlagshaus genau diesen Weg gegangen ist. Das ist im Einzelfall auch durchaus sinnvoll, weil die Maschinen bei uns heute ja weniger auf Grund von Verschleiß ausgeschieden werden als — und zwar sehr viel häufiger — auf Grund technischer Überalterung.
Aber unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten kann das nicht entscheidend sein. Es handelt sich nämlich in diesen Bereichen um die geringere Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze. Die Masse der Arbeitsplätze, die wir derzeit haben, und die Möglichkeiten, neue zu schaffen, sind dem Dienstleistungsbereich — im weitesten Sinne des Wortes — zugeordnet, also dem lohnintensiven Bereich, und genau dort wirkt Arbeitszeitverkürzung im Sinne der Arbeitsplatzbeschaffung kontraproduktiv, weil sie entweder das Produkt verteuert, d. h. die Nachfrage einschränkt, oder aber für die Arbeiter letztlich nicht annehmbar ist, da sie zu Lasten ihrer realen Einkommen gehen muß.

(Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Für mich ist — langfristig gesehen — das Haupthindernis für die Schaffung neuer Arbeitsplätze bei uns die Lohnkostenentwicklung. Hier meine ich nicht die Nettolöhne, die bei uns ja sehr stark durch Abgaben gedrückt sind, sondern ich meine die Lohngesamtkosten. Es gibt eine Statistik, die ich in den letzten Tagen in der Hand gehabt habe, aus der eindeutig hervorgeht, daß die Gesamtlohnkosten in der Bundesrepublik nach der Schweiz die höchsten in den vergleichbaren Industrieländern sind. Wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen, daß die Netto-Direktlöhne bei uns keineswegs an der Spitze liegen, sondern daß wir hier durchaus einige Länder vor uns haben.
Das bedeutet konkret, daß wir heute etwa 15 DM pro Stunde allein an Lohnnebenkosten haben, und das ist viel mehr als in jedem anderen vergleichbaren Industriestaat.

(Stratmann [GRÜNE]: Sie müssen die Lohnstückkosten vergleichen!)

Das heißt also — diesen Schluß muß man daraus ziehen, Herr Stratmann — , daß man bei uns sowohl im Interesse der Arbeitnehmer als auch der gesamten Wirtschaft alles unternehmen muß, um diese Lohnnebenkosten, diese hohe Belastung unserer Personalkosten, abzubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Hinsken [CDU/CSU]: Das ist der richtige Ansatz!)

Sie wollen genau das Gegenteil tun.
Die Arbeitszeitverkürzung nach dem Programm der SPD wird nämlich zwangsläufig völlig illusionär. 30 Stunden Arbeitszeit im Jahr 2000! Ich möchte darüber gar nicht ernsthaft reden. Wenn man das durchführen würde, wäre das mit Sicherheit das beste Programm zum Abbau unserer Arbeitsplätze, zum Abbau unseres Wohlstands schlechthin.

(V o r sitz : Vizepräsident Stücklen)

Ich denke also, daß es jetzt und in der Zukunft wichtig ist, uns sehr viel mehr mit diesem Problem der Arbeitskostenbelastung unserer Wirtschaft zu beschäftigen. Die Hauptstoßrichtung in dieser Frage muß auf dem Abbau der Personalzusatzkosten im Interesse sowohl derer, die Arbeitseinkommen beziehen, als auch derer, die heute noch arbeitslos sind, liegen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107705800
Das Wort hat der Abgeordnete Wieczorek.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107705900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff, Sie haben bedauert, daß das Gutachten keine Politikempfehlung gibt. Ich habe den Eindruck, daß das auch ziemlich vergeblich wäre, wenn man dem Bundeswirtschaftsminister hier zuhört. Ich will es auch kurz belegen.



Dr. Wieczorek
Der Bundeswirtschaftsminister tut ja so, als sei alles in Ordnung. Tatsächlich aber haben wir eine wieder steigende Arbeitslosigkeit, und wir haben insgesamt seit 1982 steigende Arbeitslosigkeit. Wie Ihnen die Bundesbank gern nachweist, wenn Sie nachfragen, sind wir die ganze Zeit jedes Jahr um rund 2 % unter dem Wachstumspotential der deutschen Volkswirtschaft geblieben, ganz im Gegensatz etwa zu dem, was Japan macht.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107706000
Eine Zwischenfrage, bitte, Herr Abgeordneter Hinsken.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1107706100
Wenn Sie gestatten, Herr Präsident. Herr Kollege Wieczorek, wären wenigstens Sie bereit, anzuerkennen, wie viele neue Arbeitsplätze gerade in den letzten Jahren hier in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich geschaffen worden sind, nachdem Ihr Vorredner, Ihr Kollege Herr Roth, dies wohlweislich vergessen hat oder nicht sagen wollte?

(Kittelmann [CDU/CSU]: Aber ehrlich sein!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107706200
Herr Kollege Kittelmann, ich bin doch immer ehrlich. Wollen Sie daran zweifeln?
Ich will Ihnen die Antwort geben. Es sind in dieser Zeit weniger Arbeitsplätze entstanden als in der Zeit der Konjunkturmaßnahmen der sozial-liberalen Regierung. Das können Sie nachlesen. Sie haben es damit nicht geschafft, die Arbeitslosigkeit herunterzudrücken, obwohl Sie Wachstumsraten hatten, sondern sie ist gestiegen.
Das dritte ist: Wenn Sie sich die Statistik dieser Arbeitsplätze ansehen, werden Sie feststellen, daß leider viele Teilzeitarbeitsplätze in der Gesamtzahl enthalten sind. Vielleicht können wir uns darüber unterhalten; machen wir ein statistisches Seminar!

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107706300
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107706400
Bitte, wenn es nicht angerechnet wird.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107706500
Bitte sehr.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1107706600
Sind Sie denn dann bereit, zur Kenntnis zu nehmen — diese Debatte wird auch übertragen — , daß hier festgestellt wird, daß allein in den letzten fünf Jahren 700 000 Arbeitsplätze neu geschaffen worden sind und im gleichen Zeitraum vor der Übernahme der Regierung durch Helmut Kohl fast doppelt soviel an Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik abgebaut worden ist?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107706700
Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß es der sozialliberalen Koalition durch Wirtschaftspolitik gelungen ist, von einem Höchststand der Arbeitslosigkeit 1974/1975 mit 1,5 Millionen auf unter 800 000 herunterzukommen? Vielleicht können Sie das als Beispiel nehmen.

(Sehr gut! bei der SPD — Hinsken [CDU/ CSU]: Das ist nicht richtig!)

— Dann lesen Sie doch die Bundesbankstatistik. Dann brauchen Sie mich doch nicht zu fragen.

(Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben falsch gelesen!)

— Bitte, dann lesen Sie sie richtig. Ich mache gern ein Statistikseminar mit Ihnen.
Ich möchte aber jetzt gern zu der eigentlichen Argumentation zurückkommen, und die ist exakt die, daß diese Bundesregierung es jetzt schon seit Jahren nicht schafft, das Potential der deutschen Wirtschaft durch Wirtschaftspolitik zu mobilisieren. Das ist der Fakt. Statt dessen bekommen wir dann Argumentationen wie die zur Deregulierung. In Wirklichkeit geht es darum — wohlverstanden — , auch für unsere Produktivität nicht zu unterschätzende Regelungen — etwa im Arbeitsrecht — abzuschaffen.
Außerdem haben wir eben die Lohnarie gehört. Vor drei Jahren war es bei einem anderen Wechselkurs völlig anders. Darüber haben Sie sich nicht aufgeregt. Sie sollten einmal überlegen, ob zwischen dem Absinken der Lohnquote — der Kollege Mitzscherling hat schon darauf hingewiesen — , der Schwäche der Investitionen in der Bundesrepublik und der Schwäche unseres Wachstums nicht möglicherweise ein Zusammenhang besteht.
Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie ein bißchen bei Keynes nachlesen würden, würden Sie den Zusammenhang sehr gut erkennen. Sie brauchen nicht seiner Politik zu folgen. Seine Analyse ist aber immer noch sehr lesenswert. Dann wüßten Sie auch, warum unsere Wirtschaft nicht investiert: weil die Verteilungsstrukturen der Nachfrage inzwischen so sind, daß das vorhandene Bedarfspotential gar nicht mehr ausgenutzt werden kann.
Das ist auch der Grund, warum wir im Moment immer noch diese hohen Exportüberschüsse haben. Sie sind nämlich nicht ein Zeichen der Stärke der deutschen Wirtschaft. Fakt ist vielmehr: Die Binnennachfrage ist so schwach, daß als einziges übrig bleibt, zu exportieren. Aber für diese vagen Exportmärkte wird man nicht investieren. Reden Sie doch einmal mit denen, die Investitionsentscheidungen zu treffen haben.
Ich darf auf das Beispiel Japan zurückkommen. Ich habe es vorhin schon erwähnt. Die Japaner haben es besser erkannt. Sie haben erkannt, welche Schwierigkeiten insbesondere aus der US-amerikanischen Verschuldungssituation auf uns zukommen. Sie müssen sehen, daß das, was im Moment in Amerika abläuft, ein künstliches Aufblasen der Konjunktur bis zur Wahl ist. Danach wird es brenzlig. Sehen Sie sich doch die realen Zahlen der inneren Verschuldung an. Wie soll das denn weitergehen? Die Schulden der Privaten betragen inzwischen 80 % ihres Jahreseinkommens. So hoch ist die Schuldenquote. Bei Unternehmen ist sie um über ein Drittel auf über 40 % der Bilanzsumme gestiegen. Das sind doch die eigentlichen Probleme. Es ist nicht mehr das Haushaltsdefizit des Zentralstaates; denn das wird durch Überschüsse der Einzelstaaten und Kommunen längst ausgeglichen. Sie haben



Dr. Wieczorek
eine Illusion, wenn Sie meinen, alleine daran läge es.

(Abg. Dr. Friedmann [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107706800
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107706900
Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen. Ich habe nur noch ein paar Minuten.
Deswegen bekommen wir ja auch wieder verstärkt den Druck von den Amerikanern, endlich unser Potential auszunutzen. Deswegen bekommen wir mehr Protektionismus. Ich bin gar nicht sicher, ob es nicht doch gut wäre, wenn das jetzige Handelsgesetz in den USA durchginge; denn das nächste Gesetz, das im nächsten Kongreß kommen wird, wird wahrscheinlich viel schlimmer sein. Darüber müssen Sie sich im klaren sein.

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Wollen Sie japanische Verhältnisse hierher übertragen?)

— Ich will gerne japanische Verhältnisse in dem Sinne, daß wir eine Wirtschaftspolitik haben, bei der man sich endlich mit den beteiligten Gruppen zusammensetzt und versucht, Vollbeschäftigungspolitik auch durch Binnennachfrage wieder zu erwirken. Wenn Sie bereit sind mitzumachen, dann sage ich: Gerne!

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Mit den japanischen Arbeitsbedingungen?)

— Ich bin auch bereit, über japanische Arbeitsbedingungen mit dauerhafter Beschäftigung auf Lebenszeit zu reden.

(Hinsken [CDU/CSU]: Mit mehr als 2 000 Stunden Jahresarbeitszeit?)

Ich bin auch gerne bereit, darüber zu reden, was tatsächlich an Mitbestimmung in japanischen Unternehmen läuft.

(Zurufe von der CDU/CSU und den GRÜNEN)

— Erkundigen Sie sich doch bitte einmal!

(Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Mit der gleichen Arbeitsstundenzahl im Jahr?)

— Gucken Sie doch einmal, wie die Arbeitsstunden tatsächlich sind. Es ist doch einfach albern, was Sie da machen. Nehmen Sie doch einmal die Planungsfähigkeit der japanischen Wirtschaft und das „targeting'', das sie haben. Und dann fangen Sie doch einmal an, Wirtschaftspolitik zu machen. Sehen Sie doch nicht immer nur auf die Löhne. Die Löhne sind bei uns inzwischen so niedrig, daß die Nachfrage zusammengebrochen ist.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107707000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambsdorff?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107707100
Bitte.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1107707200
Herr Kollege Wieczorek, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen — vielleicht
werden wir im Rahmen einer neuen Tätigkeit ja demnächst gemeinsam Gelegenheit dazu haben — , daß in Japan die Zeiten der lebenslänglichen Arbeitsplatzsicherung längst vorbei sind, daß innerhalb eines Jahres 36 000 Beschäftigte der japanischen Eisenbahnen entlassen worden sind und daß die Anpassungsprozesse in der Stahlindustrie mit massiven Entlassungen vorgenommen worden sind? Nehmen Sie es bitte nur zur Kenntnis und gehen Sie davon aus, daß das Bild Japans, das Sie noch haben, heute nicht mehr stimmt.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107707300
Graf Lambsdorff, mir ist auch dieses klar, weil sich die Japaner auf Grund der Entwicklung, die sie innerhalb ihrer Wirtschaft haben, flexibler zeigen müssen. Das ist richtig.
Nur: Im Unterschied zu dieser Bundesregierung versuchen sie dort, wo Industrien am Absterben sind, sehr gezielt, neue Arbeitsplätze hinzukriegen und dort industriepolitisch tätig zu werden. Das vermisse ich bei dieser Bundesregierung. Möglicherweise nicht bei Ihnen, wenn Sie mal wieder dran sein sollten.
Ich möchte jetzt gerne auf die Situation zurückkommen, die ich geschildert habe. Sie haben auch noch die Illusion, daß mit dem Wechselkurs alles in Ordnung sei. Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis, daß wir, wenn man die handelsgewichteten Wechselkurse nimmt, gegenüber den 14 Hauptindustrieländern, mit denen wir zu tun haben, immer noch eine Unterbewertung der D-Mark von fast 6 % haben. Das wird noch auf uns zukommen. Das ist doch völlig klar.
Beim Dollar haben wir eine Überbewertung. Aber da kommt es darauf an, welche Basis wir nehmen. Die Amerikaner sind bereit, den Dollar nach unten gehen zu lassen. Lesen Sie, was Yeutter gestern wieder gesagt hat.
Wenn das so ist, meine ich, müssen wir eine Gegenstrategie machen. Diese Gegenstrategie wird auch von den europäischen Partnern aus auf uns zukommen. Ich darf Ihnen hier eine Überschrift zeigen. Da steht: „Wachstumsrückgang in der BRD — Herausforderung für EWS." Da wird schon gesagt, durch diese Politik, die wir machten, werde das Wachstum in Europa schwächer werden, als es ist, was ja auch richtig ist. Nun kann ich in der zur Verfügung stehenden Zeit kein großes Wachstumsprogramm für Europa entwikkeln. Aber der Kollege Roth hat schon darauf hingewiesen: Wir müssen Konjunkturprogramme vernünftigen Stils machen, wie etwa damals das Zukunftsinvestitionsprogramm, und zwar in jedem der europäischen Länder. Das muß koordiniert werden. Dabei müssen wir nicht über die Inhalte reden. Ich brauche nicht mit den Spaniern darüber zu reden, ob sie Straßen brauchen oder nicht; sie brauchen welche. Wir hingegen brauchen neuerdings vielleicht wieder sozialen Wohnungsbau. Wir müssen das aber in einer zeitlich verknüpften Struktur machen, damit nicht das passiert, was wir schon einmal erlebt haben: Frankreich fährt hoch, die Bundesrepublik fährt runter, und das Ergebnis ist dann natürlich null für alle. Nein, das muß in einem Synchronisationsprozeß laufen. Darauf lege ich großen Wert. Möglichkeiten für Beschäftigung gibt es genug, von der Infrastrukur bis sonstwohin.



Dr. Wieczorek
Wenn man das macht, muß man natürlich wieder an die Währungsfront zurück. Dazu möchte ich noch ein letztes Wort sagen. Wenn ich mir angucke, was im Moment in den Wechselkurssystemen passiert, bin ich sehr dafür, stabilere Wechselkursmechanismen zu schaffen. Ich hätte mir gewünscht, der Bundeswirtschaftsminister hätte dazu etwas gesagt.
Wenn es denn richtig ist — wovon sogar schon Herr Pöhl spricht — , daß sich ein tripolares Währungskurssystem entwickelt — Yen, Dollar, D-Mark/ECU —, dann müßten wir langsam darangehen, das vernünftig zu organisieren; sonst machen es andere, und zwar nicht zu unseren Bedingungen. Dazu hätte ich eine Antwort erwartet. Statt dessen höre ich vom Bundeswirtschaftsminister — übrigens in auffälligem Unterschied zu dem, was der Bundesaußenminister sagt; es ist ja ganz interessant, wie das in der FDP so läuft —, daß die europäische Zentralbank und die europäische Währung am Ende als Krönung des Harmonisierprozesses in der EG zu erreichen seien.
Nun habe ich es nicht sosehr mit den Royalisten, und ich möchte auch keinen Zentralbankpräsidenten die Krone Europas tragen lassen. Aber was sicherlich notwendig ist, ist der Ausbau des Europäischen Währungssystemes jetzt, und zwar in Verknüpfung mit dem realwirtschaftlichen Prozeß. Wenn wir das nicht hinkriegen, kriegen wir auch niemals diesen europäischen Binnenmarkt hin. Wir kriegen erst recht nicht die europäische Währung hin.
Dazu möchte ich noch eine weitere Bemerkung machen. Ich möchte einmal den sehen, der mir erklären kann, wie ich am Schluß eines solchen Prozesses eine europäische Zentralbank haben soll. Ich brauche sie nämlich vorher — wann, darüber kann man reden —, weil sie jede Menge Prozesse einleiten und begleiten muß, die dann zu dem eigentlichen Ziel führen — das sehe ich allerdings auch so — : der einheitlichen Währung. Insofern ist zu sagen: Beides am Ende ist schlicht und einfach eine Verhinderungsstrategie und kein Fortschritt in der Entwicklung zu einer besseren europäischen Zusammenarbeit.
Ich möchte noch ein letztes Wort zum GATT sagen. Damit keine Mißverständnisse auftreten: So, wie es jetzt beim GATT läuft, gibt es eigentlich keinen Grund, darüber große Auseinandersetzungen zu führen. Ich möchte allerdings ein bißchen vor dem Optimismus warnen. Wenn wir in der Agrarpolitik so weitermachen — denn das ist der Hauptpunkt für den sogenannten early harvest der Amerikaner —, dann werden wir sehr viel mehr als das beibringen müssen, was bisher geschehen ist. Das nimmt uns keiner ab.
Das zweite ist die Frage, was Selbstbeschränkungsabkommen und ähnliches angeht.
Eine kritische Bemerkung muß ich allerdings machen. Ich hätte eigentlich erwartet, daß das Bundeswirtschaftsministerium in der Antwort auf unsere Große Anfrage — über die debattieren wir ja heute — zu diesen Punkten ein bißchen ausführlicher und präziser geantwortet hätte. Die Antwort dazu — das muß ich sagen — ist eine Zumutung. Dabei wissen Sie
genau, daß es hinsichtlich des Punktes GATT eigentlich keine politischen Differenzen gibt.
Danke.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107707400
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Häfele.

Dr. Hansjörg Häfele (CDU):
Rede ID: ID1107707500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand kann die Gefahren verharmlosen, die durch die Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft drohen. Bloß, Pessimismus hilft nichtweiter. Die pessimistischen Vorhersagen in der Großen Anfrage der SPD-Fraktion vom 10. November letzten Jahres haben sich als Fehlprognosen herausgestellt.

(Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das waren Fragen!)

— Im Vorspann, Herr Wieczorek, mit klaren Annahmen. Lesen Sie nur die ersten Sätze, das Horrorszenario, das Sie dort niedergelegt haben.
Das Wachstum in den westlichen Industrieländern fällt höher aus als ursprünglich erwartet. Der Welthandelsumfang wächst, sogar kräftig. Wir haben in den Industrieländern ein Maß an Geldwertstabilität erreicht wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Gleichzeitig ist die außenwirtschaftliche Anpassung im Gange, und an den internationalen Devisenmärkten herrscht seit Beginn des Jahres wenigstens eine bemerkenswerte Stabilität.
Es ist richtig — das ist auch Ihr Petitum — , daß eine weitere gedeihliche Entwicklung der Weltwirtschaft enge wirtschaftspolitische Zusammenarbeit erfordert. Diese vollzieht sich auf zahlreichen Ebenen. Die Bereitschaft hierzu ist gerade im letzten Monat wieder bestätigt worden bei der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington, und zwar von allen Beteiligten.
Besondere Bedeutung hat dabei die Zusammenarbeit in der Siebener-Gruppe, der Gruppe der größten westlichen Industrienationen. Die Finanzminister und Notenbankpräsidenten dieser Gruppe der Sieben haben sich verpflichtet, ihre Wirtschaftspolitik untereinander abzustimmen, und sie haben dabei das Ziel im Auge, den fortschreitenden Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte auf der Grundlage stabiler Wechselkursbeziehungen sicherzustellen.
Das Ergebnis ist erfreulich. Die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Volkswirtschaft hat sich verbessert. Dies führt zunehmend zu einem Rückgang der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte. Gleichzeitig hat die Zusammenarbeit der großen Industrieländer in der Wirtschafts- und Währungspolitik zu einer Stabilisierung der Wechselkursentwicklung geführt. Auf dieser Grundlage sehen die großen internationalen Organisationen IWF, Weltbank, aber auch OECD, ein anhaltendes weltwirtschaftliches Wachstum auch im Jahre 1988 und darüber hinaus voraus.
Wir wissen jetzt, daß die vorübergehenden Unruhen an den Finanzmärkten im letzten Herbst keine Vorboten einer Rezession waren. Die Sorge war vorhanden, aber inzwischen sehen wir das anders. Und es zeigt sich, daß es richtig war, damals nicht in Panik



Parl. Staatssekretär Dr. Häfele
zu verfallen — was uns viele geraten haben — , mit Aktionismus, mit vorschnellen Aktionen rasch irgend etwas zu tun, und sei es das Falsche. Alle Beteiligten haben aus der Erfahrung gelernt, wie empfindlich die Finanzmärkte auf unbedachte Reden reagieren können. Vielleicht könnte auch die Opposition gelegentlich daran denken, daß ein unbegründetes Krisengerede niemandem hilft. Auch ihr selbst nicht.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU — Dr. Mitzscherling [SPD]: Es gibt auch andere Reden!)

Die Außenhandels- und Wachstumszahlen zeigen, daß die Wirtschaftspolitik der großen Industrieländer den richtigen Kurs ansteuert.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107707600
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wieczorek?

Dr. Hansjörg Häfele (CDU):
Rede ID: ID1107707700
Wir sollten nur darauf Rücksicht nehmen, daß noch ein paar Kollegen kurz reden wollen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107707800
Herr Staatssekretär Häfele, würden Sie den Satz über das Krisengerede bitte auch denen sagen, die heute durch die Lande ziehen und äußern, der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland sei so nicht mehr zu halten!

(Beifall bei der SPD)


Dr. Hansjörg Häfele (CDU):
Rede ID: ID1107707900
Alle Einseitigkeiten, alle Übertreibungen auf diesem Feld sind genauso falsch. Das ist ein sehr schwieriges, differenziertes Feld. Krisengerede hat noch nie weitergeholfen. Es geht vielmehr um ein Lösen der Probleme, Bestehen der Herausforderungen, die man allerdings sehen muß, und auch Überwinden der Schwächen, die man hat. Insgesamt haben durch dieses Zusammenwirken die Industrieländer den richtigen Kurs angesteuert. Es kommt jetzt darauf an, daß wir in den nächsten Jahren alles folgerichtig weiterführen und den internationalen Anpassungsvorgang weiter unterstützen.
Dabei ist sowohl die Bundesregierung in ihrer Finanzpolitik wie auch die Notenbank in der Geldpolitik bis an den Rand der Möglichkeiten gegangen. Mit unserer Steuerreform leisten wir ebenfalls einen bedeutsamen Beitrag zur Stärkung der binnenländischen Wachstumskräfte, was auch von unseren Partnern anerkannt wird.
Demgegenüber entfernen sich die neuesten steuerpolitischen Vorschläge der SPD von den Erfordernissen eines modernen Industrielandes. Insbesondere die von der SPD vorgeschlagene Verschärfung der Unternehmensbesteuerung, der Unternehmensbelastung, steht im Gegensatz zu allem, was nahezu sämtliche modernen Industriestaaten heute anstreben.
In den Mittelpunkt rückt bei uns in der Bundesrepublik Deutschland jetzt vor allem die Aufgabe, wachstumshemmende Verkrustungen aufzubrechen. Während jedoch die Initiativen, die die Bundesregierung in diesem Bereich eingeleitet hat, wie z. B. die Einführung von Zeitarbeitsverträgen oder die vorgesehene Bundespostreform oder die geplante Einführung eines Dienstleistungsabends, von unseren Partnern weltweit begrüßt werden, ist die Opposition leider damit beschäftigt, alle Hebel in Gang zu setzen, um überkommene, wachstumshemmende Verkarstungen zu erhalten.

(Reuschenbach [SPD]: Wie der Einzelhandelsverband!)

Wir haben eine erstaunliche Flexibilität der Wechselkurse im Europäischen Währungssystem. Dieses verschafft den Unternehmen in den europäischen Ländern ein hohes Maß an Verläßlichkeit und Voraussehbarkeit. Der nächste wichtige Schritt wird der Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb Europas sein. Ein einheitlicher europäischer Währungsraum mit einer unabhängigen, der Geldwertstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank ist für uns ein längerfristiges Ziel, auf das wir durch eine stetig fortschreitende Annäherung der Wirtschafts- und Währungspolitik in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft auf der Grundlage stabiler Preise hinarbeiten müssen.
Die Fortschritte, die bei der Stabilisierung der weltwirtschaftlichen Rahmendaten erzielt wurden, sind zugleich eine Voraussetzung, um bei der Überwindung der drängenden Schuldenprobleme vieler Länder in der Dritten Welt voranzukommen. Dabei geht es nicht darum, utopischen Lösungsansätzen nachzueifern, sondern konkret zu helfen. Ziel muß es dabei sein, Anpassungsmaßnahmen zu unterstützen, die auf die Lage des jeweiligen Landes zugeschnitten sind und die Ursachen der Wirtschaftsprobleme der betroffenen Länder beseitigen.
Insbesondere für die ärmsten Länder ist — vor allem auch durch die tatkräftige Mitarbeit der Bundesregierung — einiges in Gang gesetzt worden. Ich erinnere an unsere Anregungen und unser Mitwirken beim Internationalen Währungsfonds und bei der Weltbank. Im internationalen Vergleich können sich unsere Entwicklungshilfeleistungen sehr wohl sehen lassen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, daß die Bundesregierung vielen der ärmsten Entwicklungsländer unsere Forderungen aus der Entwicklungshilfe erlassen hat.

(Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Selbstverständlich kann angesichts der langjährigen weltweiten Fehlentwicklungen niemand die Gefahren und die ungelösten Probleme verharmlosen. Sie sollten aber auch nicht aufgebauscht werden.
Die nationale und die internationale Wirtschaftspolitik stehen auch weiter vor großen Aufgaben und Herausforderungen. Sechs Jahre ununterbrochener wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklung bei hoher Preisstabilität zeigen aber, daß die Wirtschaftspolitik den richtigen Kurs ansteuert. Es gilt, diesen Kurs beständig fortzusetzen und nicht einem Interventionismus nachzuhängen, der sich immer wieder als der falsche Weg — und zwar letztlich für alle — erwiesen hat.
Der beste Beitrag jedes Landes, vor allem der führenden Industriestaaten, für eine gesunde Entwicklung der Weltwirtschaft besteht darin, das eigene



Parl. Staatssekretär Dr. Häfele
Haus in Ordnung zu halten oder — soweit dies nicht schon der Fall ist — in Ordnung zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107708000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hauchler.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (SPD):
Rede ID: ID1107708100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Weltwirtschaftliche Probleme haben immer auch eine Nord-Süd-Dimension. Es ist bezeichnend, daß die Vertreter der Regierungskoalition darauf kaum eingegangen sind.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Dann haben Sie gerade nicht zugehört!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107708200
Wir müssen erst einmal unser eigenes Haus in Ordnung bringen!
Das ist doch gerade das Problem im Nord-Süd-Verhältnis, daß wir unser eigenes Haus nicht in Ordnung haben — siehe Arbeitslosigkeit, siehe Rekorddefizite im Außenhandel der USA — und daß wir in der Weltwirtschaft unsere Verantwortung als reiche Industrieländer nicht genügend wahrnehmen. Ich denke, wir treten hier allzu oft pharisäerhaft auf, sagen den anderen, was sie tun sollen, und selber sind wir nicht in der Lage, die eigenen Probleme zu lösen.
Meine Damen und Herren, die Ergebnisse der weltwirtschaftlichen Entwicklung und der Nord-Süd-Beziehungen sind eindeutig negativ. In den letzten fünf Jahren ist das Pro-Kopf-Einkommen gesunken, die Investitionsquote in den Entwicklungsländern ist zurückgegangen, die Ausgaben für die Sozial- und Infrastruktur mußten gewaltig zurückgedreht werden, und zwar zu Lasten von Hunderten von Millionen Menschen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Woran liegt das?)

— Das liegt auch an den Industrieländern. Ein stetiger Appell an die eigenen Anstrengungen der Entwicklungsländer ist richtig, aber er genügt nicht. Wir müssen, wenn wir glaubwürdig sein wollen, als Nationen, die einen größeren Handlungsspielraum haben, die einen höheren Wohlstand haben, mit gutem Beispiel vorangehen. Das vermisse ich. Hinweise darauf von Ihrer Seite habe ich heute nicht gehört. Statt dessen verfällt man immer wieder auf die klassische Anpassungskur gegenüber den Entwicklungsländern, die auf zwei Säulen beruht: erstens mehr Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt, zweitens mehr Wachstum durch neue Kredite. Die alten Probleme hat man aber nicht gelöst.
Das kann aus mehreren Gründen nicht erfolgreich sein. Verstärkte Integration der Entwicklungsländer, die eine Säule der Strategie: Die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung setzen voraus, daß Absatz und Preise stimmen müssen und daß ein offener Zugang zu den Märkten gegeben sein muß. Diese drei Bedingungen für einen wachsenden Handel zwischen Nord und Süd sind nicht erfüllt.
Bei den Rohstoffen können die Entwicklungsländer nicht auf wachsenden Absatz in den Industriestaaten
rechnen. Stichworte: Bevölkerungsstagnation, Einsparungsprozesse, Substitutionsprozesse. Der Ausweg in die verarbeitenden Produkte ist weitgehend versperrt. Warum? Mäßiges Wirtschaftswachstum und struktureller technologischer Fortschritt im Norden und eine steigende Kapitalintensität bei der Produktion. Damit geht einher, daß die Rolle der Lohnstückkosten relativ zurückgeht. Das bedeutet, daß die Standortvorteile von Niedriglohnländern in der nächsten Zeit abschmelzen werden.
In dieser Situation treten wir im Gewande des Propheten auf und fordern immer wieder eine Exportoffensive der Dritten Welt. Ich weiß nicht, wie Sie das ernstlich fordern können, wenn die Industrieländer selbst protektionistisch reagieren; siehe US-Handelsgesetz, siehe die eigenen protektionistischen Maßnahmen im Agrarbereich. Man sollte sich da eher mal das Büßergewand anziehen, als sich ständig zum Lehrmeister der Entwicklungsländer aufzuwerfen.
Die zweite Säule der von den Industrieländern verordneten Anpassungsprogramme: mehr Wachstum durch neue Kredite. Schuldenmachen ist an sich nichts Böses. Das ist klar. Aber auch beim Schuldenmachen müssen ganz bestimmte Bedingungen gegeben sein. Die trivialste Bedingung ist: Geschuldetes Geld muß verzinst und zurückgezahlt werden können. Wohlgemerkt: Man muß es nicht nur zurückzahlen, man muß es auch zurückzahlen können, wenn Kreditaufnahme erfolgreich sein soll. Genau diese Möglichkeit ist in den letzten Jahren nicht mehr gegeben. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern für Investitionen nicht gut sind. Das muß man einräumen. Es liegt aber auch daran, daß tendenziell die Renditen auf Realinvestitionen zurückfallen gegenüber der Entwicklung des Zinsniveaus. Wo die Renditen für Realinvestitionen sinken und die Zinsen für fremdes Geld steigen, lohnt sich ab einem bestimmten Punkt eine Investition nicht. Dazu kommen Unsicherheiten bei der Investitionsplanung, vor allem deshalb, weil in erster Linie die Industrieländer kein Konzept haben, um erratische Wechselkursbewegungen und das Ansteigen der Zinsen zu bremsen. So sind die Zusammenhänge.
Man kann nun nicht immer auf Eigenanstrengungen verweisen, ohne selbst überzukommen mit dem, was überhaupt die Vorbedingung für Eigenanstrengung ist. Wenn ich Exportoffensive will, wenn ich mehr Investitionen will, dann muß ich die weltwirtschaftliche Verantwortung für freie Märkte, für stabile und realistische Zins- und Wechselkursbewegungen übernehmen.
Die Bundesregierung betätigt sich eifrig an diesem russischen Roulett, das sich im Weltwirtschaftsbereich zwischen Nord und Süd abspielt. Sie nimmt ihre Verantwortung auf den Gebieten, die ich bezeichnet habe, nicht wahr.
Die SPD verfolgt eine andere Strategie: Erstens. Wir glauben, solange die Weltmarktverhältnisse nicht anders sind, müssen sich die Entwicklungsländer stärker auf die Binnenmärkte konzentrieren. Zweitens. Die Schuldenproblematik muß konsequenter angegangen werden. Dies geht nicht durch das bisherige Krisenmanagement. Es ist vielmehr notwendig, interna-



Dr. Hauchler
tionale Vergleichslösungen zu finden — allgemeine Richtlinien, die dann von Fall zu Fall konkret auf die einzelnen Länder angewandt werden. Ich finde, auch im internationalen Finanzverkehr muß die Goldene Bilanzregel gelten, die da heißt: Die Zeithorizonte für Kreditaufnahme und Kreditverwendung müssen übereinstimmen. Dieses Verhältnis war gestört.
Zum Schluß hebe ich noch einmal hervor: In den Nord-Süd-Beziehungen klafft eine Lücke der Glaubwürdigkeit, die wir schließen müssen. Appelle an die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer überzeugen nur, wenn die Industrieländer endlich selbst beweisen, daß sie handlungsfähig sind und ihrer weltwirtschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Die neue Sozialenzyklika des Papstes hat von — hören Sie zu! — entarteten Mechanismen gesprochen, die den Reichtum der einen und die Armut der anderen verfestigen, und von Instrumenten, die zur Entwicklung der Völker bestimmt waren, jetzt aber zur Bremse geworden sind. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107708300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fell.

Dr. Karl H. Fell (CDU):
Rede ID: ID1107708400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion in vier Punkten noch einmal feststellen und zusammenfassen, worum es uns vor allen Dingen geht, wo wir die Weichenstellung betreiben, die natürlich, wenn wir die Weltwirtschaftslage diskutieren, auch und gerade das Finanzinstrument mit im Auge haben muß. Sie, Herr Mitzscherling, haben heute morgen in Ihrer Rede die USA aufgefordert, Exportexpansion zu betreiben, und haben uns nachdrücklich daran erinnert, daß wir eine binnenwirtschaftlich orientierte Wachstumsförderung betreiben müßten. Wenn Sie Ihre eigene Aufforderung an uns ernst nähmen, dann müßten Sie Ihre Position zu der von uns beabsichtigten dritten Stufe der Steuerreform nachhaltig überdenken; denn nichts anderes als genau diese binnenwirtschaftlich orientierte Wachstumsförderung nehmen wir nachhaltig vor mit dem Blick in die Zukunft.
Wir haben schon in diesem Jahr eine gestiegene Binnennachfrage auf Grund der zweiten Stufe der Steuerreform. Die 14 Milliarden DM, die ab 1. Januar 1988 nachfragewirksam zur Verfügung stehen, zeigen erste Erfolge. Sie sollten das dann auch mit uns fortsetzen in die Zukunft hinein.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107708500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Karl H. Fell (CDU):
Rede ID: ID1107708600
Ja, bitte.

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1107708700
Herr Kollege, sind Sie mit mir der Meinung, daß die Position der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion selbstverständlich auch auf eine Stimulierung der Binnennachfrage gerichtet ist, daß sie aber der Auffassung ist, daß ihr vorgelegtes Steuerkonzept diese Belebung in reicherem Umfang erreichen wird als die von Ihnen vorgelegten Vorschläge?

Dr. Karl H. Fell (CDU):
Rede ID: ID1107708800
Wenn ich Ihren Vorschlag nehme und sehe, daß Sie bei der unveränderten Progressionsbesteuerung bleiben wollen — wie im geltenden Tarif — und damit nicht den entscheidenden Beitrag für die Entlastung in der mittelständischen Wirtschaft, die nun einmal den größten Einfluß auf die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land hat, leisten, vermag ich nicht zu sehen, daß Ihr Modell der Forderung nach der binnenwirtschaftlich orientierten Wachstumsförderung wirklich Rechnung trägt. Da klafft ein Widerspruch.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Leider sehr richtig!)

Das zweite Argument, das heute morgen verwendet worden ist und das auch eben noch einmal, Herr Kollege Wieczorek, von Ihnen angesprochen wurde — die Frage nach den Investitionen, die Frage eventuell sogar nach Kapitalexporten — , ist, daß wir daraus negative Wirkungen auf den Binnenmarkt haben. Ich darf doch feststellen: Der entscheidende Punkt für Investitionen im Inland, die entscheidende Frage auch, ob Kapital eventuell nach draußen geht, ist die Frage nach der Investitionsrendite,

(Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Das ist der entscheidende Punkt!)

ist die Frage, was kann ich für das Geld, das ich investiere, das ich einsetze, wiedererlangen. Was kommt zurück? Und wenn ich keine Chance habe, dafür eine vernünftige Rendite zu erhalten, dann wird das Kapital auswandern. Auch deswegen muß die Steuerreform fortgesetzt werden, auch deswegen unsere klare Erklärung — und das wiederhole ich hier für die CDU/ CSU-Fraktion — , daß die steuerliche Entlastung im Unternehmensbereich dringend der Fortentwicklung bedarf, damit hier die Investitionsrenditen stimmen und wir darüber die notwendige Entlastung bekommen, die uns auch in die Zukunft hinein hilft.

(Abgeordneter Dr. Wieczorek [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Natürlich.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107708900
Eine weitere Zwischenfrage, bitte.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107709000
Herr Kollege, sind Sie wirklich der Ansicht, daß die Investitionsrenditen allein von den Steuern abhängen, oder würden Sie nicht meine Meinung teilen, daß es entscheidend auf die Nachfragestrukturen in der Volkswirtschaft ankommt, ob man investiert oder nicht?

Dr. Karl H. Fell (CDU):
Rede ID: ID1107709100
Wenn Sie mich so verstanden hätten, daß es allein auf die Steuern ankäme, dann hätte ich mich falsch ausgedrückt. Natürlich hängt es nicht allein von den Steuern ab, aber die steuerlichen Rahmenbedingungen müssen stimmen, weil ich sonst eine Investitionsrendite gar nicht erst erzielen kann.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)




Dr. Fell
Ein Drittes, was für die CDU/CSU-Fraktion am Ende dieser Debatte festgehalten werden muß, ist die Frage: Wie begegnen wir der Verschuldung in der Dritten Welt? Wie können wir ihr helfen? Das Patentrezept eines allgemeinen, generellen Schuldenerlasses hilft uns nicht. Herr Hauchler, Nord-Süd-Konflikt — —

(Reuschenbach [SPD]: Hat der auch gar nicht vorgeschlagen!)

— Nein, Augenblick, ich habe ihn jetzt gar nicht auf diesen Punkt angesprochen, sondern ich möchte den Satz fortsetzen. Hören Sie erst einmal zu, ehe Sie schreien. Herr Hauchler, in der Debatte war von dem Nord-Süd-Konflikt die Rede, und die Frage der Verschuldung gehört zu dem ganzen großen Komplex Nord-Süd-Konflikt! Genereller Schuldenerlaß geht schon deshalb nicht, weil wir damit die Staaten uferlos in eine Kreditunwürdigkeit trieben, denn es käme immer der Verdacht auf,

(Zuruf von der CDU/CSU: Von den meisten nicht gesucht!)

sie wären nie mehr in irgendeiner Form mit uns kooperationsfähig. Deshalb kann nur der Weg gegangen werden, den Ihnen die Bundesregierung in der Antwort auf Ihre Große Anfrage gezeigt hat.
Es kommt nämlich erstens darauf an, die Ursachen zu verändern, in jedem einzelnen Land an den Ursachen zu arbeiten. Das heißt, daß wir in den Staaten der Dritten Welt für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik sorgen müssen, die den jeweiligen Problemen des Landes gerecht werden. Ich will versuchen, das an einem Beispiel deutlich zu machen. In einem Gespräch mit Verantwortlichen aus Uruguay vor zwei Wochen habe ich gehört, daß dort 80 % der gesamten Staatseinnahmen aus indirekten Steuern stammen. Da ist völlig klar, daß dort offensichtlich ein Wirtschafts- und Finanzsystem praktiziert wird, das mit unseren Vorstellungen nicht in Einklang zu bringen ist, das auch nicht helfen kann, Verschuldung nachhaltig zu überwinden, sondern das bedeutet, daß allenfalls einzelne Private ihre Vorteile davon haben.
Was die Bundesregierung als zweites in der Antwort zur Lösung gesagt hat, ist: Wir helfen natürlich im konkreten Einzelfall bis hin zum Schuldenerlaß. Aber bitte im Einzelfall, im Zusammenhang mit den Rückwirkungen auf die jeweils nationale Politik!
Der dritte Schritt — den halte ich für den wesentlichen; das sage ich, weil Sie auch auf die Frage der Rückzahlungsmöglichkeiten abgehoben haben, Herr Hauchler — ist, daß wir den Staaten, soweit das in der Zukunft notwendig ist, nicht mit weiteren Krediten, sondern mit Zuschüssen helfen. Dann spielt die Frage der Kreditwürdigkeit keine Rolle. Nur: Auch das geht nur im Einzelfall, geht nicht mit einer generellen Entscheidung.

(Dr. Hauchler [SPD]: Und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen!)

Ich bin sicher, daß sich die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, auch die Möglichkeiten für einen weitergehenden Schuldenerlaß in dem Augenblick verbessert werden, in dem sich die Bestimmungen in den USA über die Möglichkeit der Rückstellung, der Wertberichtigung, der Vorsorge für notleidend gewordene Kredite verändern. Dort muß nämlich eine Bank nach den jetzt noch geltenden Bestimmungen — fragen Sie gegebenenfalls Herrn Kollegen Wieczorek, er wird Ihnen das sofort sagen können — nach zwei Zinsterminen, bei denen nicht zurückgezahlt wird, den gesamten Kredit abschreiben. Daß das eine völlig unmögliche Voraussetzung für Schuldenerlasse ist, liegt auf der Hand.
Ein letzter, ein vierter Punkt! Der scheint mir nachhaltig unterstrichen zu werden müssen gerade mit Blick auf Ihre Überlegungen zur EWS und der Notenbank, Herr Kollege Wieczorek, die Sie vorgetragen haben. Wir haben im EWS-System für Europa ein zuverlässiges Instrument in der Hand, um den erratischen Kursverschiebungen, die wir im übrigen beobachten müssen, zu begegnen, um sie abzufangen, um sie zu verhindern. Aber das kann nicht heißen, daß wir jetzt eine europäische Währungsunion, eine europäische Notenbank einfach als Voraussetzung, als Prämisse für die Weiterentwicklung fordern. Sie haben eben dankenswerterweise gesagt: Über den Zeitpunkt kann man reden. Das ist schon erheblich mehr und einsichtiger als die Forderung, die da lautet: Machen wir das doch einmal, machen wir einmal eine europäische Währungsunion mit einer Notenbank, und dann kommt alles andere hinterher. Nein, da ist mir die Position der Bundesregierung, wie sie der Herr Wirtschaftsminister eben hier verdeutlicht hat, erheblich lieber. Sie kann nur der Schlußpunkt einer vernünftigen Kooperation, einer vernünftigen Politik sein.
Voraussetzung wäre, daß sich alle Staaten an der Liberalisierung des Kapitalverkehrs beteiligen — zur Zeit haben wir das noch nicht einmal innerhalb der EG erreicht — und daß alle Staaten innerhalb der EG am EWS-System teilnehmen; da sind wir auch erst bei der Hälfte. Auch diese notwendige Voraussetzung brauchen wir. Als letztes brauchen wir eine Sicherung des Stabilitätsziels, wie wir es durch unsere Politik, auch durch die Unabhängigkeit unserer Notenbank in der Bundesrepublik gesichert haben. Wenn wir dies nicht auch bezogen auf Europa gewährleisten, laufen wir Gefahr, daß wir durch Inflation in Europa die Lage der Weltwirtschaft eher verschärfen, ihr aber nicht begegnen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107709200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2165.
Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Somit ist der Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN



Vizepräsident Stücklen
Nichtigkeitserklärung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und der nach diesem Gesetz ergangenen Entscheidungen
— Drucksachen 11/143, 11/1714 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Klein (Dieburg) Seesing
dazu
Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/1716 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Diller von Schmude
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Bevor ich nun das Wort erteile, habe ich die Ehre, eine Delegation der Nationalversammlung der Republik Kuba unter Führung ihres Präsidenten, Herrn Dr. Severo Aguirre del Cristo, bei uns im Deutschen Bundestag herzlich zu begrüßen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ich wünsche dem Präsidenten und seiner Delegation einen angenehmen und informationsreichen Auf enthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107709300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Aussprache geht es darum, die Konsequenzen aus einer über dreijährigen intensiven Debatte zu ziehen, die hier auf Initiative der GRÜNEN — wir hatten den Antrag im Mai 1985 eingebracht — in Gang gesetzt worden ist. Es geht hier eigentlich nicht um einen Rechtsgelehrtenstreit, um dürre Paragraphen, sondern es geht hier um Menschenschicksale , um nicht wiedergutzumachendes Leid und Unrecht, das im Namen von angeblichem Recht und Gesetz Menschen zugefügt worden ist. Es geht hier um 400 000 im Dritten Reich zwangssterilisierte Männer und Frauen, von denen heute noch über 80 000 in der Bundesrepublik leben.
Zweitens geht es darum, wie wir selber, unsere Gesellschaft mit diesen Menschen, mit ihrem Leid in den über 40 Jahren nach der Befreiung umgesprungen ist. Der Umgang und der Bruch mit dem Faschismus waren nicht angemessen. Das muß heute benannt und aufgearbeitet werden. Die Debatte und die Entscheidung, die heute getroffen wird, werden eine Nagelprobe dafür sein, ob wir uns wirklich von dem, was die nationalsozialistische Schreckensherrschaft erst ermöglicht hat, befreien wollen und ob wir den Bruch mit den Gedankenmustern und Rechtstraditionen vollzogen haben und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen werden.
Für mich hat diese Nagelprobe drei Bestandteile: ob erstens dabei eine Anerkennung der Opfer, zweitens eine Nichtigkeitserklärung des sogenannten Rechts,
auf dessen Grundlage diese Menschen zu Opfern gemacht worden sind, und drittens ein Rechtsanspruch auf Entschädigung für diese Menschen dabei herauskommen.
Der Umgang mit diesen Menschen in den letzten 40 Jahren war beschämend und makaber. Die Opfer der Zwangssterilisation sahen sich amtlicherseits mit dem Problem konfrontiert, ob und inwieweit sie als Opfer des NS-Terrors überhaupt anerkannt wurden und werden und was sie dann an Entschädigung zu erwarten hatten. Wenn man sich die Fakten bezüglich dieses nationalsozialistischen Unrechts noch einmal vor Augen hält, die allgemein bekannt sind, dann frage ich mich, wie so etwas überhaupt möglich sein konnte.
Es ist allgemein bekannt, daß das Erbgesundheitsgesetz eine tragende Säule der NS-Gerichtsbarkeit gewesen ist. Der Übergang und die Grenze zwischen Zwangssterilisation und Vernichtung von Menschenleben in Konzentrationslagern waren immer fließend. Das heißt, die Sterilisation dieser Personengruppen und die Vernichtung sogenannten unwerten Lebens sind untrennbar miteinander verbunden gewesen. Grundlage dieser Erbgesundheitsgesetze war ein rassistisches Programm, das zwischen lebenswertem und unwertem Leben unterschied. Dieses ganze sogenannte rechtmäßige Gesetz war durch Androhung und Anwendung von Zwang gekennzeichnet.
Die Kommentare der damaligen Rechtsgelehrten haben übrigens eine eindeutige Sprache gesprochen. So hat z. B. der faschistische Staatsrechtslehrer Otto Koellreutter 1934 gesagt:
daß der Nationalsozialismus die Naturgemeinsamkeiten des Volkes, wie sie in Blut und Boden gegeben sind, und damit die Bedeutung der Rasse entscheidend herausstellt im Gegensatz zu der Auffassung der Formaldemokratie, für die alles, was Menschenantlitz trägt, zum Volke gehören könnte.
Diese Interpretation steht ja eindeutig im Widerspruch zu unserem Grundgesetz, nach dem die Würde aller Menschen unantastbar ist. Man könnte diese Serie von Begründungszusammenhängen fortsetzen. Ich will mir das ersparen; sie sind bekannt.
Darüber hinaus war die Folgewirkung der Erbgesundheitsgesetze die, daß die von Zwangssterilisation betroffenen Menschen vor die Alternative gestellt wurden, sich sterilisieren zu lassen oder im Konzentrationslager zu landen. Sie wurden außerhalb jeden Rechts gestellt. Das zeigte sich auch hinsichtlich anderer Gesetze: u. a. des Ehegesetzes, der Einbürgerung, des Reichserbhofgesetzes, der Zahlung von Kinderbeihilfen und des Zugangs zu Hochschulen.
Wenn man sich die Tatsachen vor Augen hält — ich habe das nur sehr kurz gemacht — , dann ist es völlig unhaltbar und unbegreiflich, wie eine solche Auslegung dieser Unrechtsgesetze dahin gehend, diese seien rechtmäßig zustande gekommen und durchgeführte Gesetze gewesen, sich bis 1986 halten konnte. Das ist mehr als 40 Jahre lang amtlich vertretene Position der Regierungen und der zuständigen Ministerien gewesen. Diese Auffassung ist auch nie hier im



Frau Nickels
Parlament von der Mehrheit des Parlaments in Abrede gestellt worden.
Ich denke, ein Grund dafür, daß die Erbgesundheitsgesetze nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht anerkannt wurden und daß der Bruch mit dem Unrecht nicht passiert ist, ist die Frage der Finanzen. Wenn man sich überlegt, daß das Finanzministerium die Frage der Entschädigung und die Anerkennung der Zwangssterilisierten bearbeitet und betreut hat und nicht das Innenministerium oder das Justizministerium, dann wirft das schon ein bezeichnendes Licht darauf, was hier höherrangig war. Dem Geld ist ein höherer Rang beigemessen worden als der Menschlichkeit, der Anerkennung von Unrecht und dem eindeutigen Bruch mit nationalsozialistischen Unrechtsgesetzen.
Man braucht nur einmal eine einzige Passage zu zitieren. Es gibt massenhaft Gutachten von Gutachtern der Regierung. Da sieht man ganz klar — sie geben das auch zu —, was auch Herr Erhardt 1973 in einem Gutachten erklärt hat:
Hier geht es doch schlicht und einfach um Geld, um eine finanzielle Entschädigung für tatsächlich oder vermeintlich erlittenes Unrecht, für eine tatsächlich oder vermeintlich immaterielle Schädigung durch nazistische Verfolgungsmaßnahmen.
Ich finde, daß Frau Nowack, die im letzten Jahr bei der Anhörung des Innenausschusses zur Wiedergutmachung hier war, das zutreffend gekennzeichnet hat. Frau Nowack hat gesagt, daß diesen Menschen in der Behandlung großes Unrecht widerfahren ist, daß es tief verletzende Vorgänge gegeben hat, daß die Menschen nach dem Bruch mit dem Faschismus erneut verletzt worden sind und daß man ihnen nicht die Hand gereicht hat, um mit dieser Demütigung und mit diesem Leid fertig zu werden.
Diese Anhörung — ich denke, Herr Seesing, Sie werden mir da beipflichten — war ein außerordentliches Ereignis. Ich sage ganz ehrlich, ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die Mehrheit im Bundestag fähig sein könnte, nach vierzig Jahren einer unmöglichen und unmenschlichen Rechtsauslegung dieses Unrecht zu benennen und diesen Irrweg, der da beschritten worden ist, aufzukündigen. Das war für mich eine Sache, die mir sehr gefallen hat, bei der ich mich sehr gefreut habe, daß so etwas überhaupt möglich war. Das war für mich auch ein Akt der inneren Befreiung von den Denkmustern, die mit zum Faschismus geführt haben.
Ich fand allerdings bezeichnend, daß hier die ehemaligen Gutachter, also z. B. Herr Erhardt, nach wie vor an ihrer Rechtsauffassung festgehalten haben — sie waren ja von seiten der Regierung benannt worden — und erklärt haben, das seien legal und rechtmäßig zustandegekommene Gesetze. Die Durchführung sei rechtmäßig. Es bestünde kein Entschädigungsanspruch. Ich fand es bezeichnend, daß erst im Angesicht der Opfer, die als Experten und Expertinnen zum erstenmal da saßen, diese sogenannten Gutachter im Grunde genommen wirklich zu dem verblaßten, was sie eigentlich waren: Advokaten von ewig gestriger Rechtsauffassung, die Unrecht ermöglicht und verewigt hat. Das war für mich ein sehr wichtiger Punkt.
Nach dieser Anhörung, in der man mit dieser Auffassung gebrochen hatte, in der man ein befreiendes Wort gesprochen und das Leiden der Opfer anerkannt hatte, habe ich damit gerechnet, daß im Rechtsausschuß ein dementsprechend befreiendes Handeln folgen würde. Die Rechtsausschußsitzung, die wir dann im September 1987 gehabt haben, ging ja auch in diese Richtung. Sie, Herr Seesing, haben von den Irrwegen gesprochen, die hier in 40 Jahren gegangen worden sind. Sie haben zugegeben, daß die Regierung und auch die Koalitionsfraktionen diese Problematik immer vor allem unter dem Gesichtspunkt der Finanzen gesehen haben. Das fand ich sehr mutig und bemerkenswert.
Der Abgeordnete Helmrich hat auch zugegeben, daß die Nichtigkeitserklärung und die Entschädigungsfrage untrennbar miteinander zusammenhängen. Er hat damals gesagt, das sei einer der Gründe, warum sich die Juristen damals mit der Nichtigkeitserklärung so schwergetan haben. Daran erinnere ich. Denn obwohl man hier mit dem, was auch in 40 Jahren Nachkriegsgeschichte legal genannt werden durfte, endlich den Worten nach gebrochen hat, ist doch der Grund gelegt worden, daß durch die Hintertür die Mißachtung und die Demütigung der Opfer im Grund genommen fortgeschrieben wird.
Im Januar haben wir von der Regierungskoalition einen Entschließungsantrag vorgelegt bekommen, worin gesagt wird: Wir geben zu, daß die Erbgesundheitsgesetze Bestandteil nationalsozialistischen Unrechts sind; wir erkennen das an; wir ächten dieses Unrecht; wir drücken den Opfern Mitgefühl und Anteilnahme aus. Aber das ist schon alles.
Darüber bin ich sehr erschrocken. Ich mache mir sehr große Sorgen. Ich schäme mich im Angesicht der Opfer. Denn diese Ächtung beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als Trostworte. Dieser Trost wird bitter und schal, wenn ihm kein Handeln folgt.
Man hat mit diesen Unrechtsgesetzen nicht gebrochen. Man hat nicht die Nichtigkeit ausgesprochen, die allein diese Gesetze und die daraus resultierenden Urteile rückwirkend hätte aufheben können. In logischer Konsequenz dieses Vorschlags verweigert man diesen Opfern nach wie vor einen Rechtsanspruch auf Entschädigung und verweist sie auf Almosen.
Das ist auch für die weitere gesellschaftliche Entwicklung ganz bedenklich. Diese Entscheidung wird Konsequenzen haben, wenn wir uns bei Fragen der Gentechnik und eines neuen Vormundschaftsrechts erneut mit der Sterilisation auseinanderzusetzen haben. Ich finde das außerordentlich bedauerlich.
Ich bitte deshalb, der von den Koalitionsfraktionen getragenen Beschlußempfehlung nicht zuzustimmen.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP])


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107709400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.




Heinrich Seesing (CDU):
Rede ID: ID1107709500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wage, zu bezweifeln, Frau Nickels, daß alle Leute von der Unrechtssituation gehört und gelesen haben. So überzeugend war die Grundhaltung, als wir die Beratung begonnen haben, ja noch nicht. Das haben Sie soeben dargetan. Denn bis in unsere Tage ist immer wieder bestritten worden, daß das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 ein nationalsozialistisches Gesetz sei. Sie haben die Gutachter angeführt. Begründet wurde das damit, daß die Nationalsozialisten auf Vorarbeiten aus der Zeit vor 1933, auf ähnliche gesetzliche Regelungen in anderen Ländern und auf die in der Wissenschaft damals international diskutierte Lehre der Eugenik zurückgreifen konnten. Ich gehe aus Zeitgründen nicht auf den Inhalt des Gesetzes ein, obwohl das wichtige Rückschlüsse für unsere Diskussion, die wir weiterführen müssen, zuließe.
In der Begründung dieses Gesetzes im Reichsanzeiger 1933, Nr. 172, und in den Reden und Schriften führender Nationalsozialisten wird aber die Zielrichtung schon sehr deutlich. Es heißt dort:
Während die gesunde deutsche Familie, besonders der gebildeten Schichten, nur etwa zwei Kinder im Durchschnitt hat, weisen Schwachsinnige und andere erblich Minderwertige durchschnittlich Geburtenziffern von drei bis vier Kindern pro Ehe auf. Bei einem solchen Verhältnis ändert sich aber die Zusammensetzung eines Volkes von Generation zu Generation, so daß in etwa drei Geschlechterfolgen die wertvolle Schicht von der minderwertigen völlig überwuchert ist. Das bedeutet aber das Aussterben der hochwertigen Familien, so daß demnach höchste Werte auf dem Spiele stehen; es geht um die Zukunft unseres Volkes!
Und weiter:
Da die Sterilisierung das einzig sichere Mittel ist, um die weitere Vererbung von Geisteskrankheiten und schweren Erbleiden zu verhüten, muß sie demnach als eine Tat der Nächstenliebe und Vorsorge für die kommende Generation angesehen werden.
Reichsinnenminister Wilhelm Frick erklärte in einer Rede kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses am 28. Juni 1933:
Zur Erhöhung der Zahl erbgesunder Nachkommen haben wir zunächst die Pflicht, ... die Fortpflanzung der ... erblich belasteten Personen zu verhindern.
Damit wurde nur das deutlich, was Hitler in „Mein Kampf" schon als Forderung erhoben hatte.
Zur Durchsetzung seiner Rassenideologie brauchte der Nationalsozialismus eine entsprechende Regelung. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" ist diese Regelung. Für den Nationalsozialismus wurde aus der Rassenideologie Rassenpolitik. Sie erstreckte sich auf Hunterttausende deutscher Bürger. Die Führer der NSDAP sprachen von der Notwendigkeit, auf Dauer 20 % der deutschen Bevölkerung zu sterilisieren.
Nach der Verkündung des Gesetzes begann sofort die Umsetzung des Vorhabens. Der amtliche Gesetzeskommentar ging von 1 500 000 Menschen aus, die zu sterilisieren seien. Als kurzfristiges Ziel sollten 400 000 Deutsche sterilisiert werden. Aus „Gleichheitsgrundsätzen", wie es hieß, sollten es je zur Hälfte Männer und Frauen sein.
1933 war es für die damaligen interessierten Beobachter in aller Welt nicht vorstellbar, daß die NS- „Rassenhygieniker" ihr Ziel erreichen könnten, einen wesentlichen Teil der Bevölkerung von Fortpflanzung und Vermehrung auszuschließen. Das geschah zum Teil unter unvorstellbaren Zwangsmaßnahmen. Ich habe selbst mit Betroffenen gesprochen, denen die Alternative „Sterilisation oder Konzentrationslager" angeboten wurde.
Es ist oft die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gestellt worden. Nach meiner Ansicht muß man mehr den Geist des Gesetzes hinterfragen. Dazu gibt es genügend Hinweise. Der Nationalsozialismus war nach eigenem Bekunden auf einer rassistischen Weltanschauung aufgebaut. Er hat deswegen vom Augenblick der Machtübernahme an eine durchgängige nationalstaatliche Rassenpolitik betrieben. Ich sprach schon von den Sterilisationsgesetzen in anderen Staaten. Dort galten die Gesetze immer nur für einen kleineren Bevölkerungsteil. Es gab kein totales Erfassungssystem unter rassistischen und erbgesundheitlichen Gesichtspunkten. Nur im Deutschen Reich galt das Sterilisationsgesetz für die ganze Bevölkerung. Es wurde typisch deutsch gehandhabt: Gesetze, Verordnungen, Gerichte, Gesundheitsämter, Anstalten, Polizei — ein komplettes Erfassungssystem. Ich darf wiederholen, was ich gerade sagte, daß nämlich nach Ansicht der NSDAP 20 % der Deutschen auf Dauer von einer Fortpflanzung auszuschließen seien. Das sollte den Aufbau einer neuen nordischen Rasse gewährleisten.
Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 ist von den Nationalsozialisten von Anfang an als Mittel zur Durchsetzung ihrer Rassenpolitik angesehen worden. Es ist eindeutig mit dem Ziel erlassen worden, die Fortpflanzung „lebensunwerten Lebens" zu verhindern. Das Gesetz ist in seiner Ausgestaltung und Anwendung nationalsozialistisches Unrecht. Wenn auch die NSDAP auf die in der Wissenschaft international diskutierte Lehre der Eugenik, auf Vorarbeiten in Deutschland und in anderen Ländern und selbst auf gesetzliche Regelungen anderer Staaten zurückgreifen konnte, so sind doch die im Verhältnis zu anderen Staaten außerordentlich intensive Planung und die sehr hohe Zahl von Zwangssterilisierten eindeutig Äußerungen nationalsozialistischer Rassenpolitik. Das Gesetz war Unrecht. Das hat der Rechtsausschuß so auch in seinem Beschlußvorschlag festgestellt. Die Begründung ist aus der Drucksache zu erlesen.
Nach Abschluß der Beratungen möchte ich aber doch auch Dank sagen, Dank zunächst an Frau Nikkels für das Vortragen dieses Anliegens, Dank aber auch an Herrn Klein von der SPD-Fraktion, der — wie ich höre und wie wir gesehen haben — von einer langen Krankheit wieder genesen ist, und Dank auch an



Seesing
Herrn Kleinert. Wir hatten uns bemüht, diesen gemeinsamen Beschlußvorschlag zu erstellen.
Herrn Professor Dörner vom Westfälischen Landeskrankenhaus Gütersloh verdanken wir mit, daß wir heute zu einer solchen Beschlußfassung kommen. Er hat sich über viele Jahre hinweg für die Belange der Zwangssterilisierten eingesetzt. Er hat mir zu dem Beschlußvorschlag des Rechtsausschusses geschrieben:
Ich persönlich bin der Meinung, daß der jetzt vorliegende Beschluß wesentlich mehr ist als das, was man hätte erwarten können, gerade wenn man die Ansichten in dieser Frage der zurückliegenden Jahrzehnte der Nachkriegszeit als Hintergrund nimmt. Es muß schon etwas an der ethischen Reflexionsbereitschaft des Deutschen Bundestages im Hinblick auf die Vergangenheit sich geändert haben, damit dies jetzt möglich ist.
In ähnlicher Weise haben sich auch Mitglieder der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland geäußert, die sich in dieser Frage ebenfalls besonders engagiert haben. Ich möchte diesen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen des Bundestages weitergeben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107709600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1107709700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wissen, daß auf Grund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 in der Tat etwa 350 000 Menschen — möglicherweise mehr — zwangssterilisiert wurden. Wir müssen davon ausgehen, daß noch etwa 80 000 von ihnen leben, also unter uns sind.
Wir wissen, daß keine noch so großzügige Entschädigung das Unheil ausgleichen kann, das ein zynischer Staat in Verfolgung seiner Rasseziele über diese Menschen und deren Angehörige gebracht hat. Aber die Opfer — hier sind wir uns wohl alle einig — haben ein Recht darauf, daß der Deutsche Bundestag ohne Wenn und Aber diese Zwangssterilisierungen als das bezeichnet, was sie sind: nationalsozialistisches Unrecht, das in aller Form geächtet werden muß.
Den Opfern, den Zwangssterilisierten, und deren Angehörigen muß der Deutsche Bundestag nicht nur seine Achtung und sein Mitgefühl bezeugen. Er muß auch das Seine dazu tun, daß über die bisher bestehende, allzu niedrige Begrenzung der Einmalentschädigung von 5 000 DM hinaus für die noch lebenden Opfer rasch und unbürokratisch auch laufende Leistungen und damit deutlich mehr ermöglicht werden.

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Sehr wahr!)

Das hat der Bundestag in der Ihnen vorliegenden Entschließung — ich sage es ganz vorsichtig — zu tun versucht.
Ich bedaure, Frau Nickels, daß sich die GRÜNEN im Rechtsausschuß nicht dazu durchringen konnten
— offenbar gilt das auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages — , dieser Beschlußempfehlung letztlich zuzustimmen, da Sie doch im Grunde dasselbe wollen wie alle anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Eine einheitliche Mahnung und ein einheitlicher Appell an den Bundesminister der Finanzen wäre mit Sicherheit besser und wahrscheinlich auch nachdrücklicher gewesen.
Natürlich ist die Feststellung der Nichtigkeit nicht gleichzusetzen mit dem Gebrauch des Unwerturteils Ächtung. Aber wenn wir nun einmal davon auszugehen haben, daß dem Bund die Kompetenz zum Ausspruch der Nichtigkeit fehlt und — das ist jedenfalls unsere Auffassung — es in erster Linie darauf ankommt, daß die Unmenschlichkeit der Zwangssterilisierung gegeißelt wird, dann sollten wir uns unter dem Eindruck dieses ungeheuren Unrechts nicht in kleinliche juristische oder sonstige Streitigkeiten verlieren.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr richtig!)

Natürlich erscheinen uns die Zahlungen — ich habe es schon erwähnt — eines einmaligen Betrages von 5 000 DM und der bloße Appell an die Bundesregierung, auch laufende und damit höhere Leistungen unbürokratischer Art zu erbringen, als zuwenig.
Unverkennbar ist jedoch auch — das sollten Sie anerkennen — , daß damit gegenüber dem Jetztzustand eine deutliche Besserung erreicht werden wird und muß.
Wir Sozialdemokraten stimmen deshalb der Beschlußempfehlung zu, wenn wir uns auch eine — ich sage das ganz deutlich — großzügigere Regelung gewünscht hätten. Wir waren es ja, die überhaupt erst mal eine Entschädigung gebracht haben.
Wir werden uns aber auch nicht scheuen, in zwei Jahren nachzufragen, was unser heutiger Antrag bewirkt hat. — Herr Seesing, an Ihrem Nicken sehe ich, daß Sie einverstanden sind.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Dann fragen wir gemeinsam!)

Lassen Sie mich einschieben: Schon die Römer kannten — es ist leider niemand vom Finanzministerium hier — die Knausrigkeit und — ich sage — metallene Kälte des Fiskus, indem sie sagten: Fiscus non erubescit — der Fiskus wird nicht rot.
Ich wünschte, daß die Repräsentanten des Fiskus auf Grund der heutigen Debatte erröteten, und nicht nur das, sondern daß sie den Entschädigungsfonds rasch aufstockten, damit endlich und alsbald ein Mehr an Leistungen erbracht werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Zwangssterilisierung ist mit einiger Wahrscheinlichkeit eine der härtesten Eingriffe beim Menschen. Unmenschlich ist sie dann, wenn, was hier der Fall war, die sogenannte Rassenhygiene — ich gebrauche das weitere Wort — durch Zwangszüchtung als Ziel dahintersteht. Als zynisch müssen — in der Seele gebrandmarkt — all diejenigen diese Zwangsmaßnahme empfinden, die sie „freiwillig" zur Vermeidung des elenden Todes im Konzentrationslager hinnehmen mußten.



Dr. de With
Diese abgrundtiefe Verirrung aus der menschlichen Solidarität kann mit unseren Mitteln niemals ausgeglichen werden. Sie muß deshalb in Erinnerung und über die Zeitläufe hinaus wachgehalten werden, um jeden Anlauf ähnlicher Art — unter welchem Deckmantel und wo auch immer — im Keime ersticken zu helfen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107709800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert (Hannover).

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107709900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Vorredner haben zum Ausdruck gebracht — insbesondere Frau Nickels hat das ja durchaus eindrucksvoll dargelegt — daß wir in dieser Frage zwar sehr spät, aber immerhin doch einsichtig geworden sind. Es fällt mir heute sehr schwer, zu erkennen, warum das so spät gekommen ist, aber fest steht, daß wir uns hier — übrigens zum wiederholten Male — gemeinsam, quer durch die Fraktionen des Hauses, auf sehr vernünftige Weise darauf verständigt haben, etwas im Rahmen unseres Rechtssystems gerade noch Mögliches zu tun, um das Unmögliche, das früher geschehen ist, von uns aus wenigstens einigermaßen zu behandeln und unsere Ansicht dazu abschließend darzustellen.
Es fällt tatsächlich schwer, zu erkennen, warum Sie — gerade bei den durchaus freundlichen Worten, die Frau Nickels als Vertreterin der ursprünglichen Antragsteller in dieser Sache hier gefunden hat — meinen, unserem gemeinsamen Beschlußvorschlag nicht zustimmen zu können. Denn ich gebe doch zu bedenken, daß wir gerade angesichts der Ungeheuerlichkeiten, von denen wir nach wie vor aufs höchste betroffen sind, zur Vermeidung auch nur annäherungsweise ähnlicher Dinge in Zukunft an unserem Rechtssystem, an gewissen immanenten Regeln, festhalten müssen. Gerade das gehört wesentlich dazu, daß wir auch für die Zukunft ähnliches verhindern. Wir dürfen nie wieder die Bedingungen entstehen lassen, unter denen dergleichen entstanden ist.

(Beifall bei der FDP)

Dazu gehört auch, daß wir in unserem System sauber bleiben. Das ist der Grund, warum wir mit großen Schwierigkeiten und Kopfschmerzen schließlich im Einvernehmen zwischen den Fraktionen diesen Beschluß so vorgelegt haben, wie er hier heute zur Entscheidung steht.
Um unsere Ansicht wenigstens noch einmal zusammenfassend zu äußern, möchte ich hier keineswegs das Wort gebrauchen, wir wollten einen Schlußstrich ziehen — das wäre der Lage völlig unangemessen —; aber wir wollten unsere Ansicht dazu einmal gemeinsam äußern. Das müssen wir allerdings im Rahmen unseres Rechtssystems tun. Deshalb haben wir die Form gewählt, die wir übrigens schon einmal in vergleichbarer Situation — im Zusammenhang mit den Urteilen des Volksgerichtshofs — in diesem Hause gewählt haben.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107710000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107710100
Bitte sehr.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107710200
Frau Abgeordnete Nickels, bitte.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107710300
Herr Kleinert, Sie sprechen davon, daß wir damit im Rahmen unseres Rechtssystems bleiben müssen. Ich frage Sie jetzt: Stimmen Sie mir darin zu, daß diese Erbgesundheitsgesetze als vorkonstitutionelles Recht, das nicht mit der Verfassung, mit unserem Grundgesetz vereinbar ist, eigentlich im Rahmen unseres Rechtssystems überhaupt nicht hätten fortbestehen dürfen, daß Bestandteile aber trotzdem über Jahre hinweg — warum, ist mir unerfindlich, und das ist die Frage, die Sie mir eigentlich beantworten müßten, denn ich kann sie nicht beantworten — weiter Gültigkeit gehabt haben, worauf die angemessene Reaktion jedenfalls unserer Meinung nach nur eine Nichtigkeitserklärung als ersichtlicher juristischer Bruch mit der Vergangenheit sein kann, eben als Reaktion auf die Handhabung, die 40 Jahre lang passiert ist?

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107710400
Ich habe gerade versucht, darzustellen, Frau Nickels, daß es eben zu unserem System gehört, nicht nur mit den Fehlern, sondern auch mit den Verbrechen, die im Rahmen dieses Systems begangen worden sind, systemgerecht fertigzuwerden. Da wir nun einmal Gesetze und rechtskräftige Urteile haben, würden wir für die Zukunft nur ungute Grundlagen legen, wenn wir einfach meinten, wir könnten nur durch einen Akt dieses Hauses das, was einmal noch so verbrecherisch und noch so falsch gemacht worden ist, was aber rechtliche Formen hatte, einfach wegwischen. Die Folge davon wäre nämlich, daß man bei irgendeiner späteren Gelegenheit glaubt, irgend etwas anderes auch so wegwischen zu können. Wir müssen uns innerhalb des Systems unserer Verantwortung stellen, unsere Schlüsse ziehen und unsere Meinung darstellen. Das tun wir mit dem Beschlußvorschlag, der heute hier vorgelegt wird,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

weil wir gerade im Hinblick auf die Verbrechen der Vergangenheit in diesem System bleiben müssen.
Deshalb bin ich — wie die Vorredner das auch schon dargestellt haben — sehr dankbar, daß wir hier einmal mehr — wenn auch sehr spät — zu diesem Beschlußvorschlag gekommen sind. Ich hoffe, daß wir in der Praxis weit über den Betrag der Einmalentschädigung hinaus, den man in diesem Zusammenhang ja gar nicht ansprechen mag, die immer wieder bei jedem Ereignis so leicht versprochene „unbürokratische Hilfe" bieten können. Das fällt ja so richtig locker aus dem Automaten. Sobald irgendwo ein Vulkan ausbricht oder die Erde bebt, wird unbürokratische Hilfe versprochen. Das ist ein absolut tägliches Geschäft der verantwortlichen Politiker, und deshalb ist das leider etwas „kleine Münze" geworden.
Dennoch: Wir sind zufrieden, daß wir jetzt im Innenausschuß dieses Hauses ausdrücklich einen Unterausschuß haben, der sich den Fragen widmet und der sicherlich dafür sorgen will — sonst wäre er auch



Kleinert (Hannover)

gänzlich überflüssig —, daß nicht nur diese Einmalentschädigung, sondern die laufende Betreuung der Opfer besser als in der Vergangenheit sichergestellt wird und daß keinesfalls, wie ich es hier in den letzten Tagen gehört habe, in diesem Zusammenhang von Anrechnungen und dergleichen die Rede sein kann,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

sondern daß hier nun wirklich wenigstens in dem bescheidenen Rahmen, den uns die fiskalischen Einstellungen lassen, die Herr de With mit seinem Zitat dargestellt hat, wirklich etwas geschieht.
Ich sage noch zwei Dinge: Wir stellen uns rechtlich und wir stellen uns politisch der Verantwortung, die sich für uns aus der Vergangenheit ergibt. Aber wir wollen es dabei nicht belassen, sondern wir möchten auch, daß praktisch für die Opfer wenigstens ein Weniges geschieht, und wir begrüßen die Maßnahmen, die dazu eingeleitet worden sind.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107710500
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Justiz.

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1107710600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der ersten Beratung des Antrags der Fraktion der GRÜNEN am 5. Juni 1986 habe ich von dieser Stelle aus erklärt:
Es ist hoch an der Zeit, daß der Deutsche Bundestag durch einen förmlichen Beschluß in öffentlicher Sitzung einstimmig und unmißverständlich feststellt, daß die Zwangssterilisation Unrecht war und den Opfern und ihren Familien Achtung und Mitgefühl gebühren.
Das habe ich mit Blick auf die Bemühungen früherer Kollegen von uns gesagt, die einen Weg suchten, den durch nationalsozialistisches Unrecht besonders Betroffenen nicht nur materielle Entschädigung, sondern in erster Linie und vor allem moralische Wiedergutmachung zukommen zu lassen.
Mit der jetzt vom Rechtsausschuß vorgelegten Entschließung ist für mich ein derartiger Weg gefunden. Was materiell zu regeln war — bei aller Unzulänglichkeit; das wissen wir — , ist durch den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 13. Dezember 1987 geregelt worden. Die moralische Verneigung vor den Opfern macht der Deutsche Bundestag heute. Ich hoffe, er macht sie einstimmig.
Damit sollte aber auch die sinnlose Diskussion darüber abgeschlossen sein, ob und eventuell bis wann das unselige Erbgesundheitsgesetz nicht doch in Teilen den Untergang des Dritten Reiches überlebt haben könnte. Erst recht hoffe ich auf ein Ende der unergiebigen Diskussion darüber, ob bereits dieses Gesetz selbst oder nicht erst seine Handhabung typisch nationalsozialistisches Unrecht darstellten.
Mit solchen Diskussionen erregen wir immer aufs Neue die Gefühle der Betroffenen. Wir dürfen die Opfer nationalsozialistischer Untaten nicht ein zweites Mal verwunden.
Das kann und darf aber nicht bedeuten, daß wir die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit abschließen könnten. In mancher Beziehung stehen wir hier ja erst am Anfang einer vertiefteren Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte.

(Beifall bei der FDP)

Wenn in jüngster Zeit öfters das böse Wort von der zweiten Entnazifizierung benutzt wird, dann sollten wir bedenken: Erst in der durch zeitliche Distanz unbefangeneren Perspektive tritt häufig das ganze Ausmaß von Beteiligung und Schuld zutage. Das zeigt die kürzlich von mir vorgestellte Untersuchung von Lothar Gruchmann zur Justiz in den Jahren 1933 bis 1940 in der Ära Gärtner — eine Pflichtlektüre für jeden, der heute mit dem Recht umgeht.
Der Blick auf die Vergangenheit läßt das Wesentliche der Gegenwart klarer hervortreten. Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes will die Verfügbarkeit menschlichen Lebens und menschlicher Existenz ausschließen, und zwar jedes menschlichen Lebens. Der Mensch soll über sich selbst bestimmen können. Er soll sich aber davor hüten, insoweit über andere bestimmen zu wollen. Wir dürfen uns niemals wieder einem Denken hingeben, das einst in der perversen Sprachschöpfung vom „lebensunwerten Leben" gipfelte.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das sollte jenseits aller wohlgemeinten, voll und ganz notwendigen, berechtigten und zwangsläufig natürlich immer unzureichenden materiellen Regelungen das eigentliche Ergebnis dieser Debatte heute sein.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107710700
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/1714. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a der Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Zwei Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Damit ist die Beschlußempfehlung unter Buchstabe a angenommen, der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN also abgelehnt.
Der Ausschuß empfiehlt weiter unter Buchstabe b die Annahme der Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen, zwei Gegenstimmen. Damit ist die Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs
— Drucksachen 10/5710, 11/1957 —



Vizepräsident Stücklen
Berichterstatter:
Abgeordnete Helmrich Stiegler
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Helmrich.

Herbert Helmrich (CDU):
Rede ID: ID1107710800
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht um eine Änderungsrichtlinie zu den gesellschaftsrechtlichen Richtlinien aus Brüssel, eine Änderung der 4. und der 7. Richtlinie.
Wir haben die 4. und die 7. gesellschaftsrechtliche Richtlinie korrekt und europatreu umgesetzt. Wir werden deshalb auch nicht verklagt. Die Kommission bedauert lediglich, daß wir die GmbH & Co KG — wozu wir nicht verpflichtet waren — nicht einbezogen haben. Die GmbH & Co KG haben wir herausgelassen, weil wir schon die Belastungen, die sich aus der 4. Richtlinie für die mittelständische Wirtschaft, für mittlere und kleine Betriebe, für mittlere und kleine GmbHs ergeben, für zu hoch hielten.
Die Entwicklung gibt uns, so meine ich, recht. Nachdem die ersten Erfahrungen in England, Dänemark, Holland und Belgien vorliegen, haben jetzt auch diese Länder in Brüssel den Anspruch angemeldet, daß die 4. und die 7. Richtlinie — insbesondere die 4. — geändert werden, um Erleichterungen für kleine und mittlere Gesellschaften zu erreichen.
Die Verhandlungen mit der Kommission, insbesondere im Kontaktausschuß, haben dazu geführt, daß die Kommission bereits im Frühjahr 1987 Erleichterungen erwogen hat. Sie hat von sich aus folgende Erleichterungen ins Gespräch gebracht.
Die Mitgliedsländer können eventuell — so erwägt es die Kommission — erstens vorschreiben, daß die betroffene Gesellschaft ihren Jahresabschluß offenlegt mit der Möglichkeit, diesen Abschluß, statt ihn zum Register einzureichen, am Sitz der GmbH für jedermann zur Einsichtnahme bereitzuhalten.
Sie können zweitens vorschreiben, daß der Jahresabschluß der betroffenen Gesellschaft dem Jahresabschluß der Kapitalgesellschaft, d. h. also der GmbH beigefügt wird, oder drittens die GmbH & Co KG von der Verpflichtung der Aufstellung eines Jahresabschlusses befreien, wenn Sie in einen konsolidierten Abschluß einbezogen wird.
Diese ersten Vorschläge reichen nach deutschen Vorstellungen nicht aus. Die Kommission hat jetzt von sich aus erklärt, sie werde — eventuell noch unter deutscher Präsidentschaft, aber wohl mit Sicherheit in diesem Jahr — eine Richtlinie vorlegen, in der sie Erleichterungen vorschlägt.
Für uns steht eines fest: Die Zustimmung zu der vorgelegten GmbH-&-Co-KG-Richtlinie kann von Deutschland nicht eher kommen, als bis festgeschrieben ist, welche Erleichterungen es für die anderen
Gesellschaften, für die jetzt schon die 4. Richtlinie umgesetzt worden ist, bringt.

(Beifall des Abg. Kleinert [Hannover] [FDP])

Herr Minister, wir bitten die Bundesregierung — wir erwarten, daß sie sich entsprechend verhält —, der GmbH-&-Co-KG-Ergänzungsrichtlinie nicht eher zuzustimmen, als bis die Erleichterungen für die anderen Gesellschaften im Rahmen der 4. und 7. Richtlinie klargestellt worden sind.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107710900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stiegler.

Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1107711000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist der Fluch der bösen Tat, daß sie einen immer wieder einholt. Als wir im Dezember 1985 das Bilanzrecht beraten haben, habe ich Sie darauf aufmerksam gemacht, daß die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland schlecht aussehen werden, weil sie die Bilanzrichtlinie nicht korrekt umgesetzt haben. Die SPD-Fraktion hat damals mit großem Nachdruck verlangt, daß die GmbH & Co KG voll einbezogen wird. Wir haben Ihnen angeboten, jederzeit mitzuwirken, wenn es darum geht, Erleichterungen für kleine und mittelgroße Unternehmen zu ermöglichen, gleich, welcher Rechtsform. Dazu stehen wir auch heute. Aber wir haben gesagt: Wir wollen nicht hinnehmen, daß eine in den Kleidern einer Personalgesellschaft einhergehende Kapitalgesellschaft die Flucht aus den Anforderungen für den Jahresabschluß, für seine Prüfung und für seine Publizität antreten können soll.
Ich habe Ihnen schon damals vorgelesen, was die Bundesregierung noch in der 9. Wahlperiode gewußt hat. Da hieß es:
Würde die Kapitalgesellschaft & Co nicht in den Entwurf einbezogen werden, so könnten mit Hilfe dieser Rechtsform die Regelungen der 4. Richtlinie leicht umgangen werden. Die GmbH, auf die die 4. Richtlinie zwingend angewendet werden muß, ist mit der Rechtsform der Kapitalgesellschaft & Co wirtschaftlich austauschbar. Der Verzicht auf die Einbeziehung dieser Gesellschaften könnte die Bundesrepublik Deutschland dem Vorwurf aussetzen, die 4. Richtlinie nicht ihrem Zweck entsprechend in deutsches Recht umzusetzen und deutschen Unternehmen ein breites Tor zu öffnen, sich den zwingenden Regelungen der 4. Richtlinie zu entziehen.
Das haben die in Brüssel natürlich gesehen. Und Sie haben damals — das muß man Ihnen immer wieder vorhalten — die Fachbeamten geknebelt und sehenden Auges mit Mehrheit einen anderen Beschluß gefaßt. Das kostet Vertrauen in Brüssel; das kostet Vertrauen auch bei künftigen Beratungen, weil sich die anderen nicht darauf verlassen können, daß Zusagen, die von unserer Seite bei den Verhandlungen gemacht werden, auch wirklich eingehalten werden.

(Dr. de With [SPD]: Das ist europäischer Klassenkampf durch die Bundesregierung!)




Stiegler
Ich finde, wir sollten sehr deutlich machen, daß wir diese Lücke nicht wollen, daß wir die Umgründungen nicht wollen.
Ich finde es allerdings bemerkenswert, daß der Herr Helmrich hier schon das Signal zum Rückzug und zur Rechtstreue gegeben hat. Er sagte: Wir stimmen der Einbeziehung der GmbH & Co KG zu, wenn — so habe jedenfalls ich Sie verstanden — die Erleichterungen für die Kleinen und Mittleren kommen. Das ist immerhin schon eine bemerkenswerte Wendung in der Auseinandersetzung. Das stimmt aber nicht mehr mit den Beschlüssen überein, die Sie noch im Rechtsausschuß gefaßt haben. Diese Beschlußlage sieht ja so aus, daß Sie volle Ablehnung der Ergänzungsrichtlinie wollen und parallel dazu eine Erleichterung für alle fordern. Wenn das gilt, was Sie hier eben gesagt haben, dann lassen Sie uns gemeinsam den Satz 1 der Beschlußvorlage zurückziehen und nur die Kommission auffordern, für kleine und mittelgroße Unternehmen Erleichterungen zu gewähren, die wir im Interesse der kleinen und mittleren Betriebe genauso wollen.
Ich glaube, das wäre eine saubere Lösung. Das wäre die dem Europarecht entsprechende Lösung. Gerade im Hinblick auf diesen ungeheuren Harmonisierungsdruck, der auf uns zukommt, brauchen wir das Vertrauen der anderen Partner, daß wir uns an die Beschlüsse, die wir selber mit eingegangen sind, auch halten.
Die SPD-Fraktion wird jedenfalls dem Satz 1 der Beschlußempfehlung — und da bitte ich, Herr Präsident, daß getrennt abgestimmt wird — nicht zustimmen, trägt aber den Satz 2, die Erleichterungen für die Kleinen und Mittleren, mit.
Ich empfehle, Herr Helmrich, daß wir uns verständigen, daß sozusagen mit der Ergänzungsrichtlinie die Erleichterungen in dieser Kombination kommen sollen. Da würden wir dann sogar einen gemeinsamen Beschluß zustande bringen. Wenn Herr Helmrich eben gesagt hat, was jetzt die gängige Meinung in der Koalition ist, müßte es auch Ihnen möglich sein, auf diesen Vorschlag einzugehen.

(Sehr gut! bei der FDP) Vielen Dank.


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107711100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert (Hannover).

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107711200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kollege Stiegler, darf ich versuchen, die Sache mal vom Kopf auf die Füße zu stellen?
Es geht uns überhaupt nicht darum, ob die GmbH & Co hier einbezogen wird oder nicht, sondern darum, unnütze und der europäischen Einheit und einem gemeinsamen Markt überhaupt nicht dienende Belastungen von der mittelständischen Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten. Das machen wir immer auf dem Wege, der sich nach den üblichen Gegebenheiten des geschäftlichen und politischen Verkehrs, als der nützliche erweist. Weil wir der Meinung sind, daß hier überzogen worden ist, daß wir diese Harmonisierung überhaupt nicht gebraucht hätten — ich habe dazu hier im Hause mehrfach etwas
gesagt — , haben wir die Gelegenheit benutzt — ich gebe das hier ganz frank und frei zu; ich halte das für ganz normal — , zu sagen: Wenn nun einmal die GmbH & Co formal keine GmbH ist, nämlich keine Kapitalgesellschaft, sondern eine Personengesellschaft, qua definitionem und nach unserem geltenden Recht, dann halten wir sie draußen.
Es gibt Menschen in Brüssel, die für solche Dinge zuständig sind. Einen von denen habe ich vor einiger Zeit einmal gefragt, was er annimmt, was die Veranstaltung der Einbeziehung der GmbH & Co in die Bilanzrichtlinie die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland — von den anderen Ländern spreche ich vorsichtshalber nicht, weil wir uns da nicht so auskennen — kosten würde.
Wir reden über 60 000 Gesellschaften, die zusätzlichen Prüfungs- und Veröffentlichungsanforderungen unterliegen würden. Wenn Sie ganz bescheiden an die Sache herangehen — Sie wissen auch, wovon hier geredet wird; glücklicherweise wissen Sie das — und für ein solches Unternehmen 8 000 DM pro Jahr annehmen — ich liege damit bestimmt sehr niedrig für den Durchschnitt — , dann macht das fast eine halbe Milliarde aus, und zwar ohne jeden erkennbaren Sinn. Das ist es ja, was uns an der Geschichte so verbittert.
Wir sind gern bereit, alle europäischen Verpflichtungen zu erfüllen, am liebsten diejenigen, die einen Sinn machen, nicht aber diejenigen, die sich auf das Formale erstrecken und Belastungen über die Wirtschaft bringen, ohne daß dem irgendein erkennbarer Nutzen für die Vereinheitlichung des europäischen Marktes gegenüberstehen würde.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107711300
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stiegler?

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107711400
Das ist der Grund, warum wir uns so verhalten, wie wir uns in dieser Sache immer verhalten haben. Vielleicht kann ich Ihrer bevorstehenden Frage, Herr Stiegler, auf die ich mich natürlich jetzt schon freue, etwas zuvorkommen, indem ich auf die Fairneß und unsere Verläßlichkeit eingehe, die Sie hier angesprochen haben. Fairneß — gerade die Briten sind bei uns traditionell dafür bekannt — bedeutet doch, daß ich nicht denjenigen, der ein Veto hatte, um die ganze Bilanzrichtlinie zu verhindern, was die Bunderepublik Deutschland mit ihrer Stimme gekonnt hätte, der sein Veto nicht eingelegt hat, weil man gesagt hat „Wir lassen die GmbH & Co draußen", völlig unfairerweise vorführe, indem ich sage: Nun haben wir das Gesetz, jetzt machen wir nur noch ein Änderungsgesetz, dann brauchen wir nicht mehr die Einstimmigkeit, dann ist euer Veto nichts mehr wert, dann machen wir es nämlich mit der Zweidrittelmehrheit.
Das finde ich ausgesprochen unfair, ganz unfair. Dieses Verhalten der Kommission ist nicht dazu angetan, uns europafreundlich zu stimmen.
Bitte schön, Herr Stiegler.

Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1107711500
Herr Kleinert, ich will jetzt nicht über Fairneß reden; denn vor Tische hat man es auch



Stiegler
im Ministerium anders geschrieben. Ich möchte Sie nur fragen, ob Ihnen bewußt ist, daß bei 60 000 Unternehmen, die hinzukämen, wenn wir die GmbH & Co einbezögen, mindestens 40 000 Unternehmen oder sogar noch mehr herausfielen, wenn wir gemeinsam Erleichterungen für kleine und mittlere Betriebe beschlössen? Wenn man eine Kostenrechnung aufmacht, muß man fairerweise saldieren. Sind Sie bereit, mir das zuzugestehen?

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107711600
Herr Abgeordneter Kleinert, Sie sind dazu sicher bereit. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß Ihre Redezeit zu Ende ist.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107711700
Herr Präsident, kann die Zeit für die Frage nicht abgezogen werden?

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107711800
Sie können noch kurz sprechen, bitte.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1107711900
Herr Stiegler, ich habe in dem ersten Satz meiner Ausführungen darzustellen versucht, daß es uns um die Sache und nicht um irgendwelche Formalien geht. Ich bin übrigens der Meinung, daß Ihre Rechnung noch pessimistisch ist. Sie kann noch günstiger werden, wenn man die kleinen Unternehmen ausnimmt. Ich habe da eine andere Rechnung im Hinterkopf.

(Zuruf des Abg. Dr. de With [SPD])

— Das betrifft die GmbH & Co nach Rechtsgrundsätzen. Wenn wir nun auf wirtschaftliche Dinge eingehen und die Eingreifkriterien ändern, ergibt sich eine andere Rechnung. Sie wird günstiger sein. Die möchte ich dann auch haben.
Nach hergebrachten Grundsätzen des mitmenschlichen Umgangs und der Verhandlungstechnik kommt es überhaupt nicht in Frage, das Ding herzugeben, das wir Gott sei Dank noch haben, bevor das andere sichergestellt ist. Deshalb werden wir uns technisch ganz normal verhalten, so wie Sie auch Ihre Geschäfte zu betreiben pflegen, und Ihren Antrag erst einmal ablehnen. Wir werden das Faustpfand so lange behalten, bis wir ganz sicher sein können, daß wir auf dem anderen Weg zu einem besseren Ergebnis kommen; denn wir wollen nur das sachliche Ergebnis, auf welchem Wege auch immer. Wir werden uns technisch so verhalten, daß wir möglichst große Chancen haben, dieses Ergebnis auch zu erreichen. Das sind wir der mittelständischen Wirtschaft in diesem Lande schuldig.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107712000
Ich erteile Herrn Abgeordneten Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1107712100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir GRÜNEN lehnen die Beschlußempfehlung der Mehrheit des Rechtsausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaft zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs ab. Wir lehnen sie deshalb ab, weil die sowieso schon unzureichenden Rechnungslegungsvorschriften in der Wirtschaft damit
noch durchlässiger gestaltet werden sollen. Nicht weniger, sondern mehr Offenlegungspflichten sind nach unserer Auffassung notwendig. Sie sind deshalb notwendig, weil der Wildwuchs der einschlägigen Vorschriften in allen möglichen Teilen des Rechtssystems eine ganz einseitige Bevorteilung der Reichen und der Mächtigen darstellt. Ihnen wird es auf diesem Wege ermöglicht, große Teile der in den Betrieben vorhandenen Reichtumswerte im Ausweis, z. B. in den Jahresabschlüssen, verschwinden zu lassen oder nur geradezu karikaturhafte Informationen über Vermögenswerte, Kosten und Erträge und insbesondere, um einen klaren Begriff zu gebrauchen, Profite zu geben. Es gilt leider der Satz: Es gibt Lügen, infame Lügen und Bilanzen.
Die alteingefahrene Verschleierungspraxis der Betriebe wird durch die Beschlußempfehlung der Mehrheit des Rechtsausschusses um keinen Deut abgebaut. Im Gegenteil, sie soll den Bereich der Wirtschaft, in dem vom Rechtssystem her leider gegebene Gestaltungsmöglichkeiten im Interesse der Kapitaleigentümer und der Unternehmer sowieso zu vielfältigen problematischen und negativen Praktiken geführt haben, aus den an bestimmten Punkten durch das neue Bilanz-Richtliniengesetz verschärften Rechnungslegungspflichten heraushalten. Das ist der Kern dieses Vorhabens.
Das Infame daran ist insbesondere auch, daß unter dem Vorwand, kleinen und mittleren Unternehmen sollten großzügigere, d. h. stärkere Verschleierungsmöglichkeiten beinhaltende Möglichkeiten der Gestaltung des Jahresabschlusses gegeben werden, in Wirklichkeit die alte Praxis der Verschleierung von Vermögenswerten und Erträgen der Kleinen, Mittleren und Großen in der Wirtschaft aufrechterhalten wird. Daran haben die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere die Beschäftigten in den Betrieben kein Interesse. In den Gewerkschaften des DGB wird zu Recht seit langem die Forderung nach den gläsernen Taschen für die Unternehmen erhoben, damit nicht mehr länger bei der Auseinandersetzung um Einkommen, um Arbeitsschutzmaßnahmen, um Umwelt- und Humanisierungsinvestitionen der Einwand wiederholt werden kann: Es ist kein Geld im Unternehmen da, oder die Ertragslage gibt es nicht her. An derartigen Verschleierungspraktiken, wie sie sich durch das gesamte Handels- und Gesellschaftsrecht, z. B. durch die vielen einschlägigen Bestimmungen des Aktiengesetzes, hindurchziehen, haben insbesondere auch die kein Interesse, die ökologische Reformen wollen. Ökologische Reformen heißt, mehr Mittel für ökologisch sinnvolle Investitionen zu verwenden, ökologisch schädliche Produkte und Verfahren einzustellen, ökologisch sinnvolle Arbeitsplätze zu schaffen. Aber das kann durch die Verschleierungspraktiken im Zusammenhang mit Jahresabschlüssen und eine Reihe anderer Informationen aus den Betrieben in der öffentlichen Argumentation unterlaufen werden. Das ist doch leider die gängige Erfahrung in den Betrieben. Wir brauchen wirklich wahre Angaben über den Reichtum der Betriebe — ich weiß, daß das den Kollegen von der Sozialdemokratie auch nicht so richtig schmeckt, aber das ist Ihr Problem —,

(Zurufe von der SPD)




Dr. Briefs
um die berechtigten Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger auf eine gesunde Umwelt und auch auf gesunde Arbeitsplätze durchsetzen zu können.

(Frau Traupe [SPD]: Das ist ein anderes Thema, über das Sie reden!)

— Nein, nein, das ist genau das Thema. Lenken Sie nicht ab.
Die Beschlußempfehlung der Mehrheit des Rechtsausschusses geht in die entgegengesetze Richtung. Wie gesagt: Deshalb lehnen wir sie ab.
Wir fordern statt dessen, daß die Vorschriften zur Erstellung und Veröffentlichung des Jahresabschlusses verschärft werden. Das Gesetz untersagt z. B., daß die von den mehr als 200 000 Arbeitskräften im Bereich der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Betriebe in Form von immateriellen Gegenständen des Anlagenvermögens geschaffenen Werte auch nur mit einer müden Mark in den Bilanzen erscheinen. Im Klartext: Das Gesetz zwingt die Unternehmen, an wichtigen Punkten zu lügen.
Den Bürgerinnen und den Bürgern und den abhängig Beschäftigten in den Betrieben, denjenigen also, die die Folgen zu tragen haben, und denjenigen, die die Werte ganz überwiegend wirklich produzieren — das sind ja nicht die Unternehmer —, wird vom Gesetz und durch diese Praxis der Kaufleute ständig ein X für ein U vorgemacht. Das Gesetz zwingt — ich wiederhole es — die Betriebe regelrecht zu lügen. Und das ist ein Skandal! Das muß ein Ende haben.
Das Bilanzrichtlinien-Gesetz hat hier leider nur einige kleine Fortschritte und an einigen Stellen sogar Rückschritte gebracht. Das Gesetz und das Parlament sind nicht für die Reichen und Mächtigen da, sondern sie müssen für die berechtigten Lebensinteressen der Menschen dasein. Dazu gehört auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in einem ganz anderen Sinne, als wir es bisher diskutiert haben, nämlich in dem Sinne, daß man sich nicht von denen, die in den Betrieben das Sagen haben, ständig ein falsches Bild vormachen läßt. Hier bei der Schaffung wirklicher Transparenz der tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse und des Reichtums der Wirtschaft liegt meines Erachtens, liegt unseres Erachtens die Hauptaufgabe der Politik auf diesem Gebiet.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107712200
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Justiz das Wort.

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1107712300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! die Bundesregierung lehnt den Richtlinienvorschlag der EG-Kommission aus mehreren Gründen strikt ab. Erstmals soll das Recht der Personenhandelsgesellschaften in die Harmonisierung einbezogen werden, ohne daß deren Besonderheiten berücksichtigt werden und ohne daß überhaupt ein Harmonisierungsbedürfnis besteht.

(Beifall bei der FDP)

Der Richtlinienvorschlag richtet sich auch in erster
Linie gegen den Mittelstand. Weit über 90 % der
GmbH & Co sind in der Bundesrepublik Deutschland
kleine und mittelgroße Gesellschaften. Die Rechnungslegungs- und Publizitätsanforderungen der Vierten Richtlinie sind diesen Unternehmen nicht zumutbar. Der Kommissionsvorschlag hat allerdings eine allgemeine Mittelstandsdiskussion ausgelöst und zu der wichtigen und richtigen Erkenntnis geführt, daß die Vierte Richtlinie mittelständische Unternehmen in allen Mitgliedstaaten zu stark belastet und deshalb geändert werden muß. Die Bundesregierung hat deshalb gefordert, den Mitgliedstaaten zu gestatten, die kleinen und mittelgroßen Kapitalgesellschaften ganz oder teilweise von den Anforderungen der Vierten Richtlinie freizustellen. Diese Forderung ist sofort von Großbritannien, den Niederlanden, von Irland und von Luxemburg aufgegriffen worden und hat die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer anfänglichen Isolation herausgeführt.
Der Vorschlag der Bundesregierung könnte noch dieses Jahr verwirklicht werden. Leider war es bisher nicht möglich, die Kommission von der Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens zu überzeugen. Immerhin ist aber erreicht worden, daß die Kommission nunmehr verbindlich zugesagt hat, möglichst noch unter deutscher Präsidentschaft einen Richtlinienvorschlag zur Änderung der Vierten Richtlinie zugunsten der kleinen und mittelgroßen Kapitalgesellschaften vorzulegen.
Nach den bisherigen Erfahrungen wird es allerdings mindestens vier Jahre dauern, bis ein solcher Richtlinienvorschlag verabschiedet werden kann. In der Zwischenzeit müßten kleine und mittelgroße Kapitalgesellschaften die Publizitätsvorschriften der Vierten Richtlinie anwenden, obwohl dies allgemein als unzumutbar empfunden wird. Es muß daher schnell gehandelt werden.
Sollte die Kommission in den weiteren Beratungen unter deutscher Präsidentschaft nicht bereit sein, in die GmbH & Co-Richtlinie eine Generalklausel zugunsten der mittelständischen Kapitalgesellschaften zur Änderung der Vierten Richtlinie aufzunehmen, so würde eine neue Situation entstehen, über deren Konsequenzen wir dann auch hier im Hause erneut zu sprechen hätten. Für die weiteren Verhandlungen in Brüssel ist die Rückendeckung sehr nützlich, die die Bundesregierung hier im Deutschen Bundestag und im Rechtsausschuß erfährt. Ich begrüße daher die Beschlußempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses und danke für diese Unterstützung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1107712400
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/1957. Die SPD-Fraktion hat den Wunsch geäußert, absatzweise abzustimmen. Ich betrachte den ersten Satz als Absatz 1 und den zweiten Satz als Absatz 2.

(Zuruf von der SPD: Sehr kulant!)

Wenn das Haus einverstanden ist, können wir so abstimmen. Ich sehe Zustimmung.
Ich lasse also zunächst über Absatz 1 der Beschlußempfehlung abstimmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! —



Vizepräsident Stücklen
Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das erste war die Mehrheit. Dieser Absatz ist damit angenommen.
Ich komme zum zweiten Absatz. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei vier Gegenstimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist der zweite Absatz angenommen.
Da keine Veränderung eingetreten ist, lasse ich nun über die Beschlußempfehlung insgesamt abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! —

(Zuruf von den GRÜNEN: Die fünf Abgeordneten der SPD sind nicht dafür! — Zuruf von der SPD: Wir enthalten uns!)

Keine Gegenstimmen. — Enthaltungen? — Bei fünf Enthaltungen der Fraktion der SPD ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten, zu denen eine Aussprache nicht vorgesehen ist, und zwar zuerst zu den Tagesordnungspunkten 5 bis 7 sowie 10, 11 und Zusatztagesordnungspunkt 2:
5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Straßmeir, Fischer (Hamburg), Börnsen (Bönstrup), Bohlsen, Haungs, Uldall, Dr. Wittmann, Dr. Jobst, Carstensen (Nordstrand), Eylmann, Neumann (Bremen), Hinrichs, Hinsken, Jung (Limburg), Maaß, von Schmude, Kraus und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Richter, Gries, Kohn, Funke, Zywietz, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Seeschiffahrtsregisters für deutsche Handelsschiffe im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister)
— Drucksache 11/2161 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend)

Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Mai 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 11/1831 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
7. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG)

— Drucksache 11/2170 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr (federführend)

Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
10. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schily, Dr. Lippelt (Hannover) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Altersversorgung der nichtdeutschen Ortskräfte an den Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes
Drucksache 11/1877 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verheugen, Bahr, Duve, Dr. Ehmke (Bonn), Gansel, Dr. Glotz, Koschnik, Renger, Dr. Scheer, Dr. Soell, Stobbe, Dr. Timm, Voigt (Frankfurt), Wieczorek-Zeul, Wischnewski, Würtz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Altersversorgung der nichtdeutschen Ortskräfte an den Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes
— Drucksache 11/2119 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß
11. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum April 1987 bis September 1987, im Anschluß an den Bericht bis März 1987)

— Drucksache 11/1712 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
ZP2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerreformgesetzes 1990
— Drucksache 11/2226 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO



Vizepräsident Stücklen
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 11 soll zusätzlich zur Mitberatung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft überwiesen werden. Gibt es darüber hinaus Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 und 9 auf:
8. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. März 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 11/886 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Finanzen (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/1788 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Börnsen (Ritterhude)


(Erste Beratung 33. Sitzung)

9. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 22. November 1980, 13. August 1982, 15. Juli 1983, 20. Oktober 1985 und 19. April 1986 der Anlage 1 und vom 20. Oktober 1980 und 20. Januar 1985 der Anlage 3 des Übereinkommens vom 1. September 1970 über Internationale Beförderungen leicht verderblicher Lebensmittel und über die besonderen Beförderungsmittel, die für diese Beförderungen zu verwenden sind (Gesetz zur Änderung der Anlagen 1 und 3 des ATP-Übereinkommens)

— Drucksache 11/1612 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß)

— Drucksache 11/2132 —
Berichterstatterin:
Abgeordnete Frau Brahmst-Rock

(Erste Beratung 58. Sitzung)

Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Gesetzentwurf zu dem Vertrag mit der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Vier Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN! Damit ist dieses Gesetz angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Internationalen Übereinkommen, das sich auf die Lebensmittelbeförderung bezieht.
Ich rufe das Gesetz mit den Art. 1 bis 6 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine. Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 bis 16 auf:
12. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1987;
hier: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02 Titel 697 13 — Erstattung der Erblasten des Steinkohlenbergbaus
— Drucksachen 11/1204, 11/1699 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Glos Dr. Weng (Gerungen) Frau Simonis
Frau Vennegerts
13. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Zwangsliquidation der Direktversicherungsunternehmen
— Drucksachen 11/138 Nr. 3.14, 11/1991 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Fell
14. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Änderung des Beschlusses 87/182/CEE des Rates vom 9. März 1987 zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des Neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen für eine Sonderbeihilfe der Gemeinschaft zum Wiederaufbau der durch die von den Erdbeben im September 1986 zerstörten Gebiete in Griechenland aufzunehmen
— Drucksachen 11/1895 Nr. 2.2, 11/2005 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Esters Borchert
15. Beratung der Ersten Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. -Ing. Kansy, Frau Rönsch (Wiesbaden), Dr. Daniels (Bonn), Dörflinger, Niegel, Dr. Friedrich, Geis, Link (Frankfurt), Magin, Dr. Möller, Oswald, Pesch, Ruf, Dr. Schroeder (Freiburg), Seesing, Weiß (Kaiserslautern), Sauer (Stuttgart) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Nolting,



Vizepräsident Stücklen
Zywietz, Frau Dr. Segall, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDP
Probleme hochverdichteter Neubausiedlungen aus den 60er und 70er Jahren
— Drucksachen 11/813, 11/2193 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Conradi Frau Rönsch (Wiesbaden)

16. Beratung der Sammelübersicht 58 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/2168 — Die Abstimmungen erfolgen getrennt.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe, Tagesordnungspunkt 12, Drucksache 11/1699. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine. Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaft zur Zwangsliquidation der Direktversicherungsunternehmen ab, Tagesordnungspunkt 13, Drucksache 11/1991. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei vier Gegenstimmen ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaft über eine Sonderbeihilfe für Griechenland ab, Tagesordnungspunkt 14, Drucksache 11/2005. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine. Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zu den Problemen hochverdichteter Neubausiedlungen aus den 60er und 70er Jahren, Tagesordnungspunkt 15, Drucksache 11/2193. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine. Einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Sammelübersicht 58 des Petitionsausschusses ab, Tagesordnungspunkt 16, Drucksache 11/2168. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei vier Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Damit sind wir mit den Vorlagen ohne Aussprache fertig und können in die Mittagspause eintreten. Die Fragestunde beginnt um 14 Uhr und wird bereits um 14.30 Uhr beendet sein. Interfraktionell ist daher vereinbart worden, die Beratungen um 14.30 Uhr mit der Aktuellen Stunde fortzusetzen. Damit habe ich Übereinstimmung des Hauses erzielt. Wir treten in die Mittagspause ein.
Die Sitzung ist bis 14 Uhr unterbrochen.

(Unterbrechung von 12.53 bis 14.00 Uhr)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107712500
Ich fahre in der unterbrochenen Sitzung fort.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt Fragestunde
— Drucksache 11/2219 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 der Frau Abgeordneten Unruh auf:
Wie viele Zivildienstleistende verrichten derzeit ihren Dienst in Alten- und Pflegeheimen und wie viele in „Sozialstationen", die mit der ambulanten Betreuung alter Menschen befaßt sind?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Anton Pfeifer (CDU):
Rede ID: ID1107712600
Herr Präsident! Frau Kollegin Unruh, in Alten- und Pflegeheimen waren am Stichtag 15. April 1988 8 502 Zivildienstleistende eingesetzt. Sozialstationen beschäftigten zum gleichen Zeitpunkt 731 Zivildienstleistende, die allerdings nicht alle ausschließlich mit der ambulanten Betreuung von alten Menschen befaßt waren.
Darüber hinaus betreuen Zivildienstleistende in Mobilen Sozialen Hilfsdiensten außerhalb von Sozialstationen alte Menschen. Von den dort eingesetzten 6 787 Zivildienstleistenden kann jedoch ebenfalls nicht die Zahl derer angegeben werden, die sich ausschließlich mit der Betreuung alter Menschen befassen. In diesem Tätigkeitsbereich werden bekanntlich auch Kranke, Behinderte und Rekonvaleszente betreut.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107712700
Zusatzfrage, Frau Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1107712800
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, wie viele Planstellen im Alten- und Pflegebereich, für die besondere Qualifikationen und Ausbildungen erforderlich sind, von den Wohlfahrtsverbänden und anderen Trägern ausschließlich mit Zivildienstleistenden besetzt werden?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Darüber habe ich im Moment keine genaue Zahl. Das ändert sich auch laufend.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1107712900
Bekomme ich dies schriftlich?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Ich will mich bemühen, eine aktuelle Zahl zu eruieren, die Sie dann schriftlich bekommen können.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107713000
Ich rufe die Frage 10 der Abgeordneten Frau Unruh auf.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1107713100
: Nein, nein. Ich habe doch zwei.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107713200
Sie hatten soeben die zweite Frage gestellt. Ich will aber akzeptieren, daß Sie außer „Bekommen ich dies schriftlich?" noch eine



Vizepräsident Westphal
stellen können. Wir haben unsere Regeln, Frau Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1107713300
Gut.
Hält es die Bundesregierung für strafbar, wenn Pflegekosten nach den Sätzen für ausgebildete Kräfte abgerechnet werden, obwohl sie nur von Zivildienstleistenden ausgeführt wurden?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Unruh, das hängt sehr vom Einzelfall ab, auch von der Ausgestaltung. Das, glaube ich, kann ich nicht generell beantworten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107713400
Ich rufe jetzt die Frage 10 der Abgeordneten Frau Unruh auf!
Welche vorbereitenden und/oder begleitenden Lehrgänge und Schulungen sind vom Gesetzgeber vorgesehen, um Zivildienstleistende auf ihre Arbeit in Alten- und Pflegeheimen bzw. „Sozialstationen" vorzubereiten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Nach dem Zivildienstgesetz sind die Zivildienstleistenden zu Beginn ihres Dienstes in die Tätigkeit einzuführen, für die sie vorgesehen sind, soweit dies erforderlich ist. Durch die seit 1. Januar 1984 geltende Neufassung des § 25 a des Zivildienstgesetzes wird dies ausdrücklich hervorgehoben.
Die Bundesregierung strebt an, insbesondere jeden im unmittelbaren Dienst am Menschen eingesetzten Zivildienstleistenden fachlich auf seinen Dienst vorzubereiten. Sie ist um eine entsprechende Steigerung der erforderlichen Einführungskapazitäten bemüht. Die fachliche Einführung wird an Zivildienstschulen und in Lehrgängen der Wohlfahrtsverbände vermittelt. Sie dauert im allgemeinen zwei Wochen.
1987 sind allein in den Zivildienstschulen ca. 4 000 Zivildienstleistende auf ihren Dienst an alten Menschen vorbereitet worden. Neben bestimmten technischen Fertigkeiten und Kenntnissen ist vor allem das Verständnis der jungen Zivildienstleistenden für die Bedürfnisse und Probleme der hilfsbedürftigen Menschen zu wecken.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107713500
Zusatzfrage, Frau Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1107713600
Hält es die Bundesregierung für vertretbar, daß es zwar bei der Bundeswehr eine dreimonatige Grundausbildung an Waffen gibt, aber beim Zivildienst keine dreimonatige Grundausbildung für den Einsatz an hilflosen oder pflegebedürftigen Menschen zwingend vorgeschrieben ist?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Ich halte es durchaus für vertretbar, daß es hier Unterschiede gibt. Aber ich habe Ihnen ja ausdrücklich gesagt, daß wir uns darum bemühen, erstens quantitativ auszuweiten und zweitens qualitativ zu verbessern.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107713700
Weitere Zusatzfrage, Frau Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1107713800
Hält es die Bundesregierung für mit der Menschenwürde junger und alter Menschen vereinbar, wenn z. B. zivildienstleistende junge Männer Intimpflege auch bei pflegebedürftigen
Frauen in Heimen oder Privathaushalten leisten müssen bzw. auch sogenannte therapeutische Maßnahmen von An- und Ausziehen bis auf den nackten Körper mehrmals beobachtend und helfend durchführen müssen?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Unruh, ich denke, wir sind uns darüber einig, daß der Bereich der Altenpflege besonders sensibel ist und daß hier auch ein besonderes Engagement Voraussetzung ist. Mir sind Beanstandungen in den Bereichen, die Sie genannt haben, bisher nicht bekannt geworden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107713900
Ich rufe Frage 11 des Abgeordneten Hinsken auf:
Trifft es zu, wie der Landesverband des Bayerischen Einzelhandels und der Landesjagdverband Bayern behaupten, daß das Fleisch des sogenannten australischen Wildschweines im Ursprungsland auf Grund seiner minderen Qualität nicht zum menschlichen Verzehr zugelassen ist, und welche Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung daher aus lebensmittelrechtlichen Erwägungen zu ziehen, weil die Minderwertigkeit dieses Fleisches in der Bezeichnung „australisches Wildschweinfleisch" nicht zum Ausdruck kommt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn ich die Fragen 11 und 12 wegen des Sachzusammenhangs zusammen beantworten dürfte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107714000
Der Abgeordnete ist einverstanden. Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Hinsken auf :
Ist der Bundesregierung bekannt, daß zumindest, wie behauptet wird, ein namhaftes Großhandelsunternehmen Fleisch vom australischen Wildschwein lediglich unter der Bezeichnung „Wildschwein" am Markt anbietet, und welche Konsequenzen beabsichtigt die Bundesregierung daraus zu ziehen, auch im Hinblick auf die Aufklärung des Letztverbrauchers?
Bitte schön.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, in meiner Antwort vom 11. März 1988 auf die Anfrage des Kollegen Michels habe ich bereits darauf hingewiesen, daß das Bundesgesundheitsamt beauftragt worden war, durch Sachverständige prüfen zu lassen, inwieweit sich Fleisch von australischen Wildschweinen von dem der europäischen Wildschweine und Hausschweine unterscheidet. Die aus Wissenschaftlern und Experten der Lebensmittelüberwachung zusammengesetzte Arbeitsgruppe kam dabei zu dem Ergebnis, daß bei der sensorischen Prüfung auf Geschmack, Geruch und Konsistenz alle drei Fleischarten voneinander unterschieden werden können. Auch differiert die hellere Farbe des rohen Fleisches australischer Wildschweine zu der dunkleren Farbe des europäischen Wildschweinfleisches merklich.
Unter diesen Voraussetzungen kann die Bezeichnung „australisches Wildschweinfleisch" im Sinne einer Gattungsbezeichnung als ausreichende Verkehrsbezeichnung angesehen werden, wenn diese Bezeichnung auf allen Handelsstufen bis hin zu den Speisekarten in Gaststätten und Einrichtungen zur Gemeinschaftsverpflegung ungekürzt enthalten ist. Dies entspricht der Auffassung der Mehrheit der für die Überwachung zuständigen obersten Landesvete-



Parl. Staatssekretär Pfeifer
rinärbehörden und ist von der Bundesregierung der australischen Regierung mitgeteilt worden. Bezeichnungen wie „Wildschwein" und Bezeichnungen, die den Begriff „australisches Wildschwein" abkürzen, sind dagegen nicht als ausreichende lebensmittelrechtliche Kennzeichnung anzusehen.
Importeure, Wirtschaft und Handel haben sich anläßlich einer Besprechung im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit im März 1988 zu intensiver Verbraucheraufklärung bereit erklärt, damit die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wildschweinarten deutlich werden.
Aufgrund der bestehenden fleischhygienerechtlichen Vorschriften wird „australisches Wildschwein" in Fleischlieferbetrieben gewonnen, die vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit anerkannt worden sind. Es wird vor und nach der Schlachtung gemäß den Vorschriften der deutschen Fleischhygiene-Verordnung untersucht, was von der australischen Botschaft nochmals ausdrücklich bestätigt wurde. Zusätzlich wird es bei der Einfuhr in die Bundesrepublik Deutschland der Einfuhruntersuchung unterzogen. Soweit es nicht den deutschen fleischhygiene- oder lebensmittelrechtlichen Vorschriften entspricht, wird es wie sonstiges Fleisch von der Einfuhr zurückgewiesen. Die Zuständigkeit für die Einfuhruntersuchung liegt bei den Landesbehörden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107714100
Zusatzfrage, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1107714200
Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Beantwortung der Frage entnehmen, daß die Wettbewerbsverzerrung, die hier Platz greift, seitens Ihres Ministeriums sehr wohl erkannt wird?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, Sie können aus meiner Antwort insbesondere entnehmen, daß wir hier auf eine sorgfältige Kenntlichmachung der unterschiedlichen Fleischsorten Wert legen, damit der Verbraucher weiß, was er kauft und was er verzehrt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107714300
Eine weitere Zusatzfrage! Bitte schön, Herr Abgeordneter Hinsken.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1107714400
Ich habe Ihnen eben die Frage 12 gestellt, die Frage nämlich, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß ein namhaftes Großhandelsunternehmen dieses Fleisch unter der Bezeichnung „Wildschweinfleisch" in den Handel bringt, obwohl es sich dabei um australisches Wildschweinfleisch handelt.
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Mir ist dies nicht bekannt, weil die Zuständigkeit der Überwachung bei den Landesbehörden liegt. Wenn das aber so wäre, dann wäre das keine ausreichende Kenntlichmachung.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107714500
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hinsken. Bitte schön!

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1107714600
Dann möchte ich die Frage an Sie richten, Herr Staatssekretär, wie die Bundesregierung die Möglichkeit beurteilt, den berechtigten Forderungen der Betroffenen nachzukommen — ich denke hier an die Wildbrethändler und an den Lebensmittelhändlerverband, der sich in dieser Sache ja mehrfach engagiert hat —, indem die lebensmittelrechtliche Kennzeichnung in „australisches Steppenschwein" geändert wird, um den klassischen Unterschied zu spüren und ihn auch namentlich zum Ausdruck zu bringen.

(Zuruf von der SPD: Australisches Steppenschwein?)

Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, ich kann mir vorstellen, daß die von Ihnen eben genannte Bezeichnung auch von den Sachverständigen der Lebensmittelüberwachungsbehörden zumindest jenes Bundeslandes akzeptiert werden könnte, das den Begriff „australisches Wildschwein" als noch nicht ausreichende Kennzeichnung angesehen hat. Ich bin daher gern bereit, Ihren Vorschlag mit einem Schreiben an die Bundesländer zur Diskussion zu stellen. Die Länder entscheiden derartige Fragen — vorbehaltlich der Entscheidung der Gerichte — in eigener Zuständigkeit.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107714700
Sie haben noch eine Zusatzfrage, bitte schön!

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1107714800
Ich möchte diese Möglichkeit natürlich ausnutzen, Herr Präsident! — Herr Staatssekretär, sind Sie denn auch bereit, auf die Länder — wenn irgend möglich — einzuwirken, daß diese Namensänderung erfolgt und damit die Wettbewerbsverzerrung, die momentan vorhanden ist, nicht weiter Platz greift?
Pfeifer, Parl. Staatssekretär: Ich werde veranlassen, daß Ihr Vorschlag sehr sorgfältig geprüft wird.

(Hinsken [CDU/CSU]: Ich bedanke mich!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107714900
Damit sind wir am Ende der Behandlung dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich brauche den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen nicht aufzurufen, weil die beiden vorliegenden Fragen 7 und 8 des Abgeordneten Verheugen schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schulte steht uns zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Fragen 13 und 14 des Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 15 des Herrn Abgeordneten Wüppesahl auf:
Gibt es Richtlinien, Kriterien, Anordnungen oder Gepflogenheiten, wonach Linienmaschinen des staatlichen Unternehmens „Lufthansa" ihren Startzeitpunkt verschieben können, wenn — wie konkret geschehen — der amtierende Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Dr. Henning Schwarz, am 27. April 1988 einige Minuten verspätet am Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel eintrifft, deshalb die Maschine verspätet startet und dadurch mit Verspätung ihren Zielort erreicht?



Vizepräsident Westphal
Bitte, Herr Staatssekretär.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107715000
Herr Kollege, dem Bundesminister für Verkehr sind derartige Richtlinien, Anordnungen oder Gepflogenheiten nicht bekannt.
Im übrigen wird mir der Vorgang anders, als in Ihrer Frage dargestellt, geschildert.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107715100
Zu einer Zusatzfrage, Herr Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107715200
Hat die Bundesregierung irgendwelche Zweifel daran, daß meine Darstellung, die unter anderem auf Auskünften des Personals der Lufthansa — und um gleich irgendwelche Hoffnungen zu zerstreuen, füge ich hinzu: sowohl im Bereich der engeren Abfertigung als auch außerhalb des Hughafens Hamburg-Fuhlsbüttel — basiert, der Wahrheit entsprechen könnte?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mir wird der Vorgang von dem amtierenden Ministerpräsidenten Dr. Schwarz anders dargestellt. Es wird insbesondere dargelegt, daß Herr Schwarz drei Minuten nach dem Aufruf am Schalter gewesen sei, daß er rechtzeitig vor dem Abflug der Maschine im Warteraum gewesen und in einem Bus nicht allein, sondern zusammen mit anderen Fluggästen zum Flugzeug befördert worden sei.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107715300
Noch eine Zusatzfrage, Herr Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107715400
Der letzte Teil der Darstellung stimmt ohne Zweifel, weil ich und auch andere auf ihn warten mußten und deshalb verspätet —

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107715500
Herr Kollege, wir sind in der Fragestunde; da gibt es keine Diskussion.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107715600
Gibt es solche Richtlinien, Gepflogenheiten oder Anordnungen auch für andere Staatsunternehmen? Denn an dem Sachverhalt kann nicht gezweifelt werden.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe vorhin gesagt, daß es keine solchen Richtlinien gebe, die von der Bundesregierung ausgegangen wären.
Im übrigen verweise ich auf das, was ich zu der Auskunft von Herrn Schwarz gesagt habe.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107715700
Frage 16 des Abgeordneten Jungmann soll ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir sind damit nicht nur am Ende der Behandlung dieses Geschäftsbereichs — wobei ich dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen danke — , sondern auch am Ende der Behandlung der beiden noch nicht aufgerufenen Geschäftsbereiche des Bundesministers der Justiz und des Bundesministers der Verteidigung. Die Kollegen sind offensichtlich sehr leicht mit Antworten zufriedenzustellen, denn sie alle wünschen eine schriftliche Antwort auf ihre Fragen.
Dies betrifft aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz Frage 33 des Abgeordneten Dr. Weng (Gerlingen) und die Fragen 34 und 35 des Abgeordneten Schreiner sowie aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung die Fragen 64 und 65 der Abgeordneten Frau Weyel, die Fragen 66 und 67 des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und die Fragen 68 und 69 der Abgeordneten Frau Schmidt (Nürnberg). Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich beende damit die Fragestunde. Wir unterbrechen die Sitzung für eine Viertelstunde, weil die Vereinbarung der Fraktionen dahin geht, die Aktuelle Stunde um 14.30 Uhr zu eröffnen. Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 14.15 bis 14.31 Uhr)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107715800
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Übernahme eines Teils der Sozialhilfelasten durch den Bund
Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Struck.

Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1107715900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung des Bundesrates vom 29. April 1988, mit den Stimmen von vier SPD- und drei CDU-geführten Bundesländern einen Gesetzentwurf einzubringen, ist in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Ereignis von fast historischer Bedeutung.

(Dr. -Ing. Kansy [CDU/CSU]: Na, na!)

Allein an dem Umstand, daß die Fronten quer durch die Parteien gehen, wird deutlich, wie wichtig den Ländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Berlin, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Saarland die Umverteilung der Soziallasten in der Bundesrepublik ist. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hat im Bundesrat dazu mit Recht gesagt: Wir wollen keine Subventionen, wir wollen keine Almosen, wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen Chancengleichheit in dieser Republik. Wir wollen, daß die Bundespolitik das Verfassungsgebot erfüllt, für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilen der Republik zu sorgen. Der Ministerpräsident Albrecht hat recht.
Das Verfassungsgebot, für gleichwertige Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zu sorgen, richtet sich auch an uns, den Deutschen Bundestag. Wir sind jetzt gefordert, diese Initiative der nord- und westdeutschen Länder sehr ernst zu nehmen. Die Vorschläge des Bundesrates sind so wichtig, daß sie nicht in parteipolitischen Spielereien und taktischen Überlegungen verkommen dürfen. Es geht eben nicht, wie der Kollege Dregger vorgestern in der CDU/CSU-



Dr. Struck
Fraktion ausgeführt hat, um die Einheit der Union und den Bestand der Koalition, sondern es geht um Bestand und Zukunft unseres föderalistischen Bundesstaates.

(Beifall bei der SPD)

Die großen Regionen Norddeutschland, Westdeutschland, Süddeutschland dürfen nicht weiter auseinanderdriften, wie Herr Albrecht im Bundesrat sagte, und das Wort des Kollegen Strauß vom politischen Raubrittertum im Zusammenhang mit dem Ministerpräsidenten Albrecht ist völlig fehl am Platze. Wir als Bundestagsabgeordnete müssen diese Gefahr ebenso ernst nehmen wie die nord- und westdeutschen Bundesländer, denn die Fakten sind völlig eindeutig. Diejenigen Bundesländer, die wegen ihrer Strukturschwäche geringere Einnahmen haben, müssen davon dann noch einen ganz unverhältnismäßig großen Anteil für unproduktive Zwecke verwenden.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Vor allem gilt dies für Sozialhilfeausgaben und für Zinsaufwendungen. Nach Berechnungen der Finanzministerien zahlen die nord- und westdeutschen Länder jährlich über 4 Milliarden DM mehr Sozialhilfe als die süddeutschen Länder.

(Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört!)

Aber auch die unterdurchschnittliche Finanzausstattung dieser Länder führte dazu, daß diese, und zwar unabhängig davon, ob sie sozialdemokratisch oder christlich-demokratisch regiert werden, viel mehr Schulden machen müssen als die bessergestellten süddeutschen Länder. So hat Ministerpräsident Albrecht darauf verwiesen, daß Nord- und Westdeutschland jährlich 6,4 Milliarden DM mehr von ihren ohnehin geringeren Einnahmen an Zinszahlungen aufbringen müssen. Diese Mittel gehen für investive Zwecke verloren, und der Teufelskreis schließt sich: Schwaches Wirtschaftswachstum, teilweise überholte Wirtschaftsstrukturen führen zu überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit und Einwohnerverlusten, geringerer Finanzausstattung bei höheren Zinslasten, höheren Sozialausgaben, geringeren öffentlichen Investitionen, und damit sind wir wieder bei der höheren Arbeitslosigkeit.
Dieser Kreis muß durchbrochen werden, und die Bundesratsinitiative ist dafür ein ganz geeigneter Vorschlag.

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

Die SPD-Fraktion hat einen besseren Vorschlag dafür eingebracht, nämlich die Verlängerung der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung und damit Entlastung um rund 3 Milliarden DM im Bereich der Sozialhilfe. Aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause werden wir dem Vorschlag des Bundesrates zustimmen. 193 Stimmen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion stehen für diesen Vorschlag bereit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind zuwenig!)

Wir sind sehr gespannt darauf, was die 114 CDU-Abgeordneten aus den Ländern, die dieses Gesetz mit
eingebracht haben, tun werden. Was tun die 58 Nordrhein-Westfalen, die 26 Niedersachsen, die neun Schleswig-Holsteiner, die vier Saarländer, die zwei Bremer, die vier Hamburger und die elf Berliner CDU-Kolleginnen und Kollegen?

(Dr. -Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir stimmen für Albrecht und Helmut Kohl!)

Was tun sie, um ihren Ländern zu helfen, um das durchzusetzen, was ihre Landesregierungen für richtig gehalten haben? Diese Frage stellen wir.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107716000
Die Entscheidung über diese Bundesratsinitiative, Herr Kollege Stoltenberg, darf nach unserer Auffassung nicht hinter den verschlossenen Türen des CDU-Präsidiums getroffen werden. Sie muß vielmehr im Deutschen Bundestag getroffen werden.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte Sie auch bitten, Herr Kollege Stoltenberg, in Ihrem Redebeitrag die Frage zu beantworten, ob die Bundesregierung von dem Recht aus Art. 76 Abs. 3 des Grundgesetzes Gebrauch zu machen gedenkt, nämlich die Dreimonatsfrist einzuhalten, oder ob Sie nicht so wie wir der Meinung sind, daß wir das sehr schnell im Deutschen Bundestag beraten müssen. Die SPD-Fraktion wird, wenn sie das Gefühl hat, daß hier auf Zeit gespielt wird, diesen Gesetzentwurf als eigenen einbringen, um Sie zur Rede zu stellen.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107716100
Das Wort hat der Abgeordnete Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1107716200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche namens der CDU/CSU-Fraktion. Ich bin stellvertretender Landesvorsitzender der CDU in Niedersachsen. Ich komme aus einem Wahlkreis mit einer traditionell hohen Arbeitslosigkeit, mit einem Krankenkassenbeitrag von 16 %, mit hohen Sozialhilfelasten. Ich weiß, wovon ich rede, wenn wir über Gemeinwohl und Solidarität diskutieren, über regionale Ausgewogenheit und über eine unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung zwischen einzelnen Ländern und Regionen.
Es ist überhaupt keine Frage, daß wir diese Probleme sehr ernsthaft und sehr solidarisch angehen müssen mit Blick auf eine unterschiedliche Arbeitsmarktlage, eine unterschiedliche Finanzlage und mit Blick auf eine unterschiedliche strukturelle Entwicklung, deren Ursachen aber nicht erst seit heute existieren, sondern teilweise viele, viele Jahre zurückliegen. Die Bundesregierung hat daher im Bundesrat völlig zu Recht erklärt, der von Niedersachsen initiierte Gesetzentwurf spreche ein Grundproblem an, das die Bundesregierung ernst nehme. Es war in der Debatte viel von der Bereitschaft die Rede, an einer konstruktiven Lösung mitzuwirken, so wie ja auch in den letzten Jahren — ich erkenne das ausdrücklich an — durch diese Bundesregierung und die Länder manche



Seiters
wichtige und gute Entscheidung im Interesse strukturschwacher Regionen getroffen wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Traupe [SPD]: Wo denn, Herr Kollege?)

Der Bundesrat hat am letzten Freitag intensiv, detailliert, ernsthaft und gewissenhaft diskutiert. Er hat einen Gesetzentwurf angenommen, der jetzt der Bundesregierung zugestellt wird. Nach der Verfassung hat sie innerhalb von drei Monaten Stellung zu nehmen und diesen Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag zuzuleiten. Auch wir wünschen, daß dieses Verfahren beschleunigt wird. Aber — und das will ich jetzt auch einmal sagen — die SPD in diesem Parlament

(Zurufe von der SPD: Jetzt kommt das Aber!)

— ich habe von drei Monaten gesprochen; ich bedaure das Vorgehen der SPD insoweit — hat sich nicht einmal drei Tage Zeit genommen, um eine Aktuelle Stunde zu beantragen und die Bundesregierung zu befragen, wie sie sich denn zum Vorgehen des Landes verhält.

(Dr. Vogel [SPD]: Ist das nicht unser gutes Recht?)

Ich sage, auch als niedersächsischer Abgeordneter: Ich finde diese Vorgehensweise unredlich, unseriös und nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Pharisäer! Aussitzen!)

Sie können nicht im Ernst glauben, daß dieses Vorgehen dem Anliegen, das im Bundesrat erörtert worden ist, auch nur ansatzweise gerecht wird. Sie können im Ernst nicht annehmen, daß diese Problematik, die von verschiedenen Ländern geltend gemacht wird, in angemessener Weise in einer Aktuellen Stunde, in dieser Eile behandelt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Ich sage das auch mit Blick auf die bereits in der letzten Woche gemachte Ankündigung des Kollegen Struck, als er erklärt hat, die SPD werde — dafür werde er eintreten — in dieser Woche einen wortgleichen Gesetzentwurf einbringen. Das haben Sie jetzt etwas zurückgenommen. Sie haben das aber schon in der letzten Woche angekündigt.

(Zuruf von der SPD: Zur Sache!)

Ich finde, daß hier ein schlichtweg gesehen vordergründiges taktisches Manöver abläuft, das bei diesem schwierigen und wichtigen Thema mehr über den Zustand Ihrer Fraktion aussagt, als Sie das offensichtlich überhaupt erkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: So was Lächerliches!)

— Ja, aber Herr Kollege Vogel,

(Dr. Vogel [SPD]: Zur Sache!)

Sie geben sich in dieser Aktuellen Stunde jetzt staatsmännisch. Aber ich darf Sie doch mal selber zitieren.
Sie haben doch Ihre Seelenlage und Motivlage völlig
offengelegt, als Sie von einem beinahe tödlichen Schlag gegen diese Koalition gesprochen haben,

(Dr. Vogel [SPD]: „Tödlich" ? Dummes Zeug!)

als Sie gesagt haben — in völliger Verkennung der Tatsachen — , die Diskussion erinnere an die Schlußphase der sozialliberalen Koalition.

(Dr. Vogel [SPD]: Das gab es selbst in der Schlußphase bei uns nicht!)

Alles ganz „sachliche" Argumente, die Sie da ins Feld geführt haben. Und gestern haben Sie in beinahe drohender Weise darauf hingewiesen, die SPD werde sorgfältig beobachten, wie die CDU-Bundestagsabgeordneten aus diesen Ländern stimmen würden.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist unser gutes Recht!)

Seien Sie ganz beruhigt, meine Damen und Herren: Es gibt eine Gesamtverantwortung dieser Bundesregierung und dieser Koalition für die politischen Entscheidungen dieser Legislaturperiode. Und daher wird es wechselnde Mehrheiten in diesem Deutschen Bundestag nicht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im übrigen ist auch in der Sache selbst Ihr Verhalten alles andere als beeindruckend. Sie plädieren für einen Gesetzentwurf, der dem Bund zusätzliche Lasten von 5 Milliarden DM überträgt. Sie wollen die Früchte einer Umverteilung genießen, aber wenn es um die Finanzierung geht, halten Sie sich schlichtweg vornehm zurück.

(Kühbacher [SPD]: Wir verzichten z. B. auf den Jäger 90)

Ich bekräftige für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, bezogen auf Strukturprobleme, Arbeitsplätze und eine unterschiedliche Finanzlage der Länder, ist ein sehr schwieriges Problem, das wir ebenso lösen müssen wie das Auseinanderdriften von Regionen innerhalb einzelner Bundesländer.
Ich begrüße die Einsetzung einer Kommission beim Präsidium der CDU,

(Dr. Struck [SPD]: Das muß im Bundestag geklärt werden!)

der unter anderem alle CDU-Ministerpräsidenten angehören, und die angekündigten Gespräche in der Führung von CDU, CSU und FDP.

(Heyenn [SPD]: Das wird so wie beim Vorruhestand!)

Ich habe nichts dagegen, wenn die SPD sich an der Suche nach einer geeigneten Lösung einschließlich ihrer Finanzierung beteiligt.

(Dr. Struck [SPD]: Verzicht auf die Steuerreform!)

Aber ich sage gleichzeitig, daß die Lösung für dieses Problem unionsintern und koalitionsintern gefunden werden muß. Und angesichts der Tatsache, daß die CDU- und CSU-geführten Länder in der Vergangenheit immer wieder bewiesen haben, ...




Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107716300
Herr Abgeordneter — —

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1107716400
Mein letzter Satz, Herr Präsident.
... daß sie zur Solidarität und zu Kompromissen auch in schwierigen Fragen fähig sind, bin ich davon überzeugt, daß das auch bei dieser Problematik gelingt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Wofür ist er denn nun? Ja oder Nein? Und dann über die SPD-Fraktion reden! So was Jämmerliches!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107716500
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID1107716600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist sicher Ihr geschäftsordnungsmäßiges Recht, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, den Bundesratsentwurf in eine Ein-Stundendebatte zu pressen. Das bestreitet überhaupt niemand. Aber ob es verantwortlich ist und ob es klug ist, das ist eine andere Frage.

(Dr. Vogel [SPD]: Die Regierung fragen, ist unverantwortlich?)

Die Frage ist nämlich: Wo bleibt denn bei einer Aktuellen Stunde mit Fünf-Minuten-Beiträgen die Möglichkeit, sich mit dieser komplexen Materie sorgfältig auseinanderzusetzen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Dann machen wir es morgen auf die Tagesordnung!)

auch so sorgfältig, wie es der Bundesrat nämlich in seiner Beratungsdebatte getan hat? Er hat es sehr sorgfältig getan. Wenn Sie das Protokoll alle inzwischen schon nachgelesen haben, dann haben Sie eine ganze Menge Zeit investieren müssen; denn der Bundesrat hat darüber sehr viel länger debattiert, als eine Aktuelle Stunde bei uns im Bundestag Zeit läßt.

(Frau Traupe [SPD]: Man kann Kluges auch in fünf Minuten sagen!)

Mit dem durchsichtigen Wunsch, zu versuchen, Differenzen aufzuspüren, meine Kollegen von der SPD, haben Sie der Sache keinen Gefallen getan.

(Dr. Vogel [SPD]: Die sind doch da!) Das möchte ich hier festhalten.


(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Heißt das, daß sonst die niedersächsische FDP mitgestimmt hätte?)

— In dieser Debatte finden keine Abstimmungen statt. Das sollten Sie wissen.
Übrigens, wenn Sie, wie Sie angekündigt haben, zustimmen werden, dann hätte ich eigentlich erwartet, daß Sie gleich gesagt hätten, daß Sie auch die Finanzierung hier mit beschließen werden, nämlich die Verbrauchsteuererhöhung. Das gehört dazu.

(Frau Traupe [SPD]: Wir wollen keine Steuerreform! — Dr. Vogel [SPD]: Wer macht denn die Steuerreform?)

Eines ist vom anderen nicht zu trennen. Das werden wir dann schon sehen. Da werden wir Sie dann fragen. Dann wird Ihre Stunde kommen, zu erklären, wie Sie es mit der Sache halten wollen.
Ich finde, die Beiträge von Albrecht, Späth, Rau und Gerhardt waren in der Sache gut, so kontrovers sie auch gewesen sind. Das zeigt, daß das Thema sehr schwierig ist.
Ein bekannter und erfahrener Finanzwissenschaftler hat mir dazu jetzt gesagt, je länger er sich mit diesem Thema beschäftige, desto komplexere Vernetzungen zeigten sich, und er würde im Augenblick keinen Rat aus dem Stand heraus geben können. Sie können das scheinbar sofort tun.
Es ist zu unterstreichen, daß im Grundgesetz das Staatsziel der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse verankert ist. Ich habe deutlich den Eindruck, daß diese Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, die nicht gleiche Lebensverhältnisse bedeutet, nicht gewahrt ist. Mit liegt eine Statistik vor, wonach Hamburg auf 1 000 Einwohner 85 Sozialhilfeempfänger hat, Bremen 82, Niedersachsen 52. Im Süden sind es erheblich weniger.
Die Kosten für die Sozialhilfe steigen überproportional. Sie steigen nicht in dem Umfang wie das Bruttosozialprodukt, auch nicht wie die Mehrwertsteuer, sie steigen überproportional mit zweistelligen Wachstumsraten. Die Steigerung ist deutlich, und sie vermindert die Lebensqualität und verhindert die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Norden,

(Zuruf von der SPD: Aha!)

auch wenn es richtig ist, daß die Pflegekosten an erster Stelle stehen und die Folgekosten der Arbeitslosigkeit insgesamt nur 13 % ausmachen.
Wir müssen noch einen Blick auf die Probleme des Antrags werfen. Ich bedaure wirklich sehr, daß Sie uns hier zwingen, die Problematik in dieser Kürze abzuhandeln. Ich will nur zwei Hinweise geben. Der Bund hat nur auf die Kosten für die Grundausstattung der Sozialhilfe Einfluß. Alle zusätzlichen Leistungen der Länder werden von ihnen selbst verantwortet und von ihnen auch selbst beschlossen. Die unterschiedlichen Leistungen sollen bleiben. In der Begründung des Antrags heißt es nämlich:
Unterschiedliche Ausgabenlastregelungen in den einzelnen Ländern zwischen den Trägern bleiben unberührt. Ihre Gestaltung ist Sache der Landesgesetzgeber.
Das wird sicher auch im Bund eine Rolle spielen müssen, wenn wir uns über diese Sache unterhalten.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Alles Verträge zu Lasten Dritter!)

4 % Mehrwertsteuerrückgabe an den Bund bedeuten nicht nur eine Verminderung der Steuereinnahmen der Länder, sondern auch der Schlüsselzuweisungen an die Gemeinden, die von diesen Ländersteuereinahmen abhängig sind.
Die Nord-West-Region ist bei den Bundesaufträgen benachteiligt. Bei der Bundeswehr, der Bundespost,



Wolfgramm (Göttingen)

der Bundesbahn, der Forschung — überall sind deutlich Benachteiligungen festzustellen.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Auch das ist in diese Beratung einzubringen.

(Zuruf von der SPD: Jäger 90!)

Eine umfassende Gemeindefinanzreform wäre das Sinnvollste. Herr Apel als damaliger Bundesfinanzminister hat das übrigens mehrfach gefordert, aber keinen Vorschlag vorgelegt. Herr Rau hat es in der Diskussion auch wieder gefordert, aber auch er hat noch keinen Vorschlag. Die Sache scheint schwierig zu sein.
Wir dürfen nicht zusehen, daß Kommunen wegen der steigenden Sozialhilfeausgaben handlungs- und — darauf ist besonders zu achten — investitionsunfähig werden.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Wir müssen bei dem Weg zur Lösung Ursachen untersuchen und Folgen bedenken. Das ist durch Ihre Debattenzeitverkürzung leider nicht möglich.
Die anstehenden Probleme der Verbesserung der Finanzausstattung der Nord-West-Regionen können nur gemeinsam mit dem Bund gelöst werden. Wir dürfen diese Frage nicht beiseite oder auf die lange Bank schieben. Die FDP wird zur Lösung ihren konstruktiven Beitrag leisten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107716700
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen zunächst einmal sagen, daß ich mich eben in der Reihenfolge der Redner geirrt habe. Vielleicht liegt es daran, daß ich von den unterschiedlichen Fraktionen auch unterschiedliche Auffassungen erwartet habe. Dazu ist es nicht gekommen.
Als nächster Redner hat der Kollege Hüser das Wort. Wir kehren danach zur alten Reihenfolge zurück.

Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1107716800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Initiative von Ministerpräsident Albrecht ist wohl neben dem Steuerreformgesetz eines der am heißesten diskutierten Themen der letzten Woche im Bereich der Finanzpolitik. Wir müssen feststellen, daß die Einsicht, daß der Finanzspielraum der Länder und Gemeinden in den letzten Jahren noch erheblich eingeengt worden ist, wohl zu dem Umstand geführt hat, daß sich diese Notgemeinschaft zusammengeschmiedet hat. Wir begrüßen dies zunächst einmal grundsätzlich.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir begrüßen dies deshalb, weil anscheinend auch einige CDU-Politiker vor Ort gemerkt haben, daß sich die Finanzsituation in der Bundesrepublik zuungunsten von Gemeinden und Ländern entwickelt, trotz aller gegenläufigen Äußerungen aus dem Bundesfinanzministerium.
Für die finanzielle Erdrosselung der Länder und Gemeinden spielen die stetig steigenden Sozialhilfeausgaben die größte Rolle. Noch 1970 reichten 3,2 des Steueraufkommens aus, um diese Ausgaben zu
tätigen. 15 Jahre später mußte schon mehr als das Doppelte ausgegeben werden, nämlich 7,2 %.
Nach Berichten des Deutschen Städtetages und nach Aussagen des letzten Monatsberichts der Bundesbank vom April weist gerade der Bereich Hilfe zum Lebensunterhalt auf Grund von Arbeitslosigkeit die größte Steigerung auf. In den Brennpunkten der Arbeitslosigkeit haben sich diese Aufwendungen seit 1981 verzehnfacht. Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfelasten bewirkt eben gerade einen drastischen Anstieg des Strukturunterschiedes beim Nord-Süd-Gefälle in der Bundesrepublik. Es liegt auf der Hand — das ist auch in der Begründung der Initiative von Ministerpräsident Albrecht dargelegt —, daß die nord- und westdeutschen Länder keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung haben, um die Ursachen der steigenden Sozialhilfeempfängerzahl zu beseitigen, nämlich die Massen- und Langzeiterwerbslosigkeit. Hier brauchen wir dringend neue Mittel, um Investitionen zu schaffen, und die sind in diesen Ländern nicht vorhanden.
Die Bundesregierung hat dieses Problem bis jetzt nicht zur Kenntnis genommen und zeigt anscheinend auch keinerlei Anstalten, in dieser Richtung aktiv zu werden. Der Streit innerhalb der Koalition macht ja auch sehr deutlich, wo die Prioritäten bei der Verteilung der knappen Haushaltsmittel liegen. Eine Finanzierung der Sozialhilfeausgaben durch den Bund ist nur möglich, wenn auf die Steuerreform verzichtet wird. Deswegen steht die Beratung der Steuerreform in direktem Zusammenhang mit diesem Tagesordnungspunkt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir fordern Herrn Albrecht auf, sich mit seinen Kollegen, die den Plan unterstützen, dafür einzusetzen, daß auf die Steuerreform verzichtet wird; andernfalls können wir garantieren, daß von den Vorschlägen so gut wie nichts übrigbleiben wird.
In welche Richtung die Lösungsvorschläge gehen sollen, zeigt eindeutig die Erklärung der CDU-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, nämlich die Entwicklung der Sozialhilfekosten einzugrenzen, eine Analyse der durch Arbeitslosigkeit bedingten Sozialhilfe durchzuführen und die Arbeitslosenstatistik zu ändern. Für diese Vorschläge können sich die Kommunen überhaupt nichts kaufen. Dahinter steht, die Leistungen für Sozialhilfebezieher einzuschränken, durch Untersuchung von längst feststehenden Ergebnissen das Problem auf die lange Bank zu schieben und durch Manipulation der Arbeitslosenstatistik kosmetische Schönfärberei zu betreiben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das ist nur zynisch. Wenn Ihnen nichts weiter einfällt, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, dann sollten Sie ganz still sein.

(Kühbacher [SPD]: Haben Sie von Herrn Blüm etwas anderes erwartet?)

— Nein, erwartet nicht, aber gerade wenn man z. B. auf die Diskussion um Rheinhausen sieht, hätte man doch zumindest annehmen können, daß aus diesem Bereich andere Vorschläge kommen, wenn hier schon eine Koalition stattfindet.



Hüser
Für die GRÜNEN ist deswegen die hälftige Übernahme der Kosten ein erster Schritt. Wir werden dem Antrag zustimmen, falls er eingebracht werden sollte. Er ist eine Entlastung für die Gemeinden, die allerdings nach unseren Vorstellungen nicht weit genug geht.
Einen Punkt will ich noch ansprechen. Es ist bezeichnend, daß in der ganzen Diskussion über die Bedürfnisse der Betroffenen überhaupt nicht gesprochen wird, nämlich über die Lage der Sozialhilfeempfänger. Es müßte eigentlich viel mehr darüber diskutiert werden, die Sozialhilfebezüge auszuweiten, anstatt hier nur über die reine Finanzschieberei zu reden und die Betroffenen wieder außen vor zu lassen.
Deswegen lehnen wir in diesem Zusammenhang eine Erhöhung der Verbrauchsteuern zur Finanzierung entschieden ab, weil sonst wieder nur die unteren Einkommen und Sozialhilfebezieher verstärkt betroffen wären. Das kann im Sinne dieser Regelung nicht richtig sein.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107716900
Das Wort hat der Abgeordnete Bernrath.

Hans Gottfried Bernrath (SPD):
Rede ID: ID1107717000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann Ihren Kleinmut nicht verstehen, Herr Seiters. Ich bin mit den Städten und Kommunen überzeugt, daß wir hier für den Antrag der Länder eine Mehrheit bekommen werden. Wir beobachten nämlich mit viel Genugtuung jeden Abend, daß sich nicht nur die Ländervertreter und nicht nur die Oppositionsabgeordneten, sondern ganz besonders die Abgeordneten der Koalition in den Versammlungen der kommunalen Gremien für diesen Antrag aussprechen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Es kann doch nur Ausdruck ihrer Überzeugung sein, daß sie mit den erfahrenen kommunalen Politikern zusammen nun endlich einmal nicht nur begrenzte Länderinteressen, sondern auch kommunale Interessen in eine Richtung zwingen wollen, die nun einmal ein Ende der Talfahrt der kommunalen Finanzen bedeuten würde.

(Dr. Grünewald [CDU/CSU]: Der Städte und Gemeindebund sieht das doch anders!)

— Der Städte- und Gemeindebund hat sich gleichermaßen mit den Stimmen der CDU noch vor einer Woche in Bad Salzuflen unter seinem der CDU angehörenden Präsidenten zu diesem Antrag bekannt

(Zuruf von der SPD)

und ausdrücklich erklärt, daß er diesen Antrag — den der Verband nicht für ausreichend hält — mit der hälftigen Übernahme begrüßt und voll unterstützt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Daran werden Sie nicht zweifeln können, und CDU-Abgeordnete werden Ihnen das auch bestätigen. Darunter waren nicht nur kommunale Mandatsträger, sondern eben auch Bundestagsabgeordnete.
Aber wir können auch darüber reden, Herr Wolfgramm. Die Fakten sind seit langem bekannt. Die statistischen Daten liegen beweiskräftig auf dem Tisch. Sie selbst haben sie als ernst zu nehmen bezeichnet und haben gesagt, daß gehandelt werden muß.

(Wolfgramm [Göttingen]: Aber wie man es dann macht!)

Es liegt ja ein Konzept auf dem Tisch. Nur, darüber wollen wir sprechen. Sie wissen wie wir, daß wir in diesem Jahr ein Finanzierungsdefizit von annähernd 5 Milliarden DM bei den Kommunen haben werden, und die Talfahrt hält weiter an. Die freundliche rheinische Frohnatur von Herrn Waffenschmidt, der noch vor zwei, drei Wochen hier die gute Finanzausstattung der Kommunen gelobt hat,

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Die relativ gute!)

in allen Ehren:

(Zuruf von der CDU/CSU)

Er vermittelt uns hier ein Bild, das mit der Wirklichkeit der Kommunen nicht das geringste zu tun hat. Er hat da offensichtlich eine eigene Wirklichkeit. Am gleichen Tag, als er hier sprach, hat die Bundesbank noch erklärt, daß sie mit großer Besorgnis erkennt, wohin die Reise bei den Kommunen geht, nämlich hin zu einer Fortsetzung des Stopps der Investitionen bei den Kommunen, weil dafür kein Geld mehr zur Verfügung steht — mit weiteren Entlassungen oder mit einem Nichtwiederbesetzen von Arbeitsposten in den Kommunen. Dies führt weiter dazu, daß wir wichtige Investionen im Umweltbereich nicht mehr finanzieren können; nehmen Sie nur den Abwasserbereich mit den drohenden Verseuchungen, die wir dort kennen.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Richtig!)

Es ist nicht möglich zu handeln, und die Gebührenschraube wird weiter angedreht. Auf diese Weise wird sich also das soziale Gefälle in den Kommunen noch ungünstiger entwickeln. Insgesamt bestehen überhaupt keine Chancen, ohne diesem Antrag zuzustimmen, diese Talfahrt zu beenden und vor allen Dingen die wichtige Finanzkraft der Kommunen in bezug auf die Investitionen wieder zu stärken.
Ich darf Sie aber auch darauf hinweisen, insbesondere die Kollegen von der Union, daß diese finanziellen Engpässe bei den Kommunen jetzt auch dazu führen, daß wir beispielsweise im sozialen Bereich die subsidiären Träger von Leistungsangeboten erheblich beschränken müssen, weil wir die Finanzenge über unsere Zuschüsse an die subsidiären Träger weitergeben müssen; damit werden soziale Einrichtungen geschlossen, Selbsthilfegruppen bekommen kein Geld mehr, Vereine, kulturelles Engagement in den Kommunen drohen zu erlahmen.
Es wird nicht nur das Ausgleichsgebot nach der Verfassung verletzt, es wird auch das Gebot der Selbstverwaltung der Kommunen verletzt. Selbstverwaltung ist von einer angemessenen Finanzausstattung abhängig. Ich möchte Sie ausdrücklich bitten, das in diese Betrachtungen einzubeziehen, und ich möchte alle anderen auch bitten, darüber nachzudenken, ob man das nicht einmal verfassungsgerichtlich nachprüfen lassen sollte, ob wir nicht allein schon über die Finanzausstattung das Selbstverwaltungsge-



Bernrath
bot ausgehöhlt haben und damit diese wichtige Grundlage allen politischen Handelns in der Bundesrepublik erheblich einschränken.
Die Art der Beleuchtung einer Sache ändert auch nichts an ihrem Wesensinhalt. Der Wesensinhalt ist: Es ist kein Geld da. Wir erklären ausdrücklich, und zwar auch mit den Kollegen aus den Parlamenten, daß wir den Vorstoß der Länder begrüßen. Wir werden uns auch an seiner Finanzierung beteiligen. Mittelbar werden wir ja auch zur Kasse gebeten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107717100
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Hans Gottfried Bernrath (SPD):
Rede ID: ID1107717200
Aber wir werden dann auch die Chance haben, aus den Kosten entlassen zu werden, die wir nicht zu vertreten haben, und über diesen mittelbaren Weg werden wir dann gezwungen sein, verantwortungsbewußt die übrigen Ausnahmen selbst zu gestalten und auch selbst zu verantworten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107717300
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Hans Gottfried Bernrath (SPD):
Rede ID: ID1107717400
Und da können Sie sich auf die Kommunen verlassen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107717500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1107717600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen sind zunächst einmal die Länder zuständig, Herr Kollege Bernrath. Und was da in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren,

(Widerspruch bei der SPD)

beginnend etwa 1981, geschehen ist, ist hanebüchen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Hören Sie doch mit der alten Leier auf! Das glaubt Ihnen doch niemand! — Gegenruf von der CDU/CSU: Die Wahrheit tut weh!)

Deswegen wollen wir jetzt einmal zu bundespolitischen Problemen zurückkommen.
Am 4. Dezember vergangenen Jahres haben wir hier in diesem Hause nach äußerst strittigen und umfangreichen Diskussionen den bundesstaatlichen Finanzausgleich neu geregelt. In Ansehung der kurzen Zeitspanne — das will ich ehrlich zugeben — empfinden wir heute nicht unbedingt Freude ob dieser Initiative von Niedersachsen. Die Freude haben erkennbar nur Sie. Nur folgt der Schadenfreude in aller Regel die große Enttäuschung, und die will ich Ihnen bereits jetzt zufügen:

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der sogenannte Albrecht-Plan gefährdet weder die
Steuerreform, noch beschädigt er das Ansehen des
Bundeskanzlers, und schon gar nicht bedeutet er eine Gefahr für die Existenz unserer Koalition.

(Dr. Vogel [SPD]: Dann nehmt ihn doch an! Dann stimmt doch zu!)

Denn dieser Plan hat zweifellos richtige diagnostische Ansätze. Allein die vorgeschlagene Therapie bedarf erneuter Überlegungen.

(Dr. Vogel [SPD]: Ah ja!)

Zutreffend ist, daß sich das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen den finanzstarken und den finanzschwachen Ländern insbesondere durch die Sozialhilfe erheblich vergrößert hat

(Bernrath [SPD]: Also doch! Dafür ist der Bund zuständig!)

und so die Funktionsfähigkeit des Föderalismus gefährdet.

(Zuruf von der SPD: Also lassen Sie uns gemeinsam helfen!)

Aber das Problem ist doch nicht neu. Nur, wir konnten es im Länderfinanzausgleich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht lösen. Denn dieses Finanzausgleichssystem ist grundsätzlich als ein Einnahmekraftausgleich und bewußt und gewollt und aus gutem Grund eben nicht zum Abgleich unterschiedlicher Ausgabenbelastungen im Sozialbereich konzipiert.

(Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig! Aber das verstehen die ja nicht!)

Der Albrecht-Vorschlag, der leider dieses System ebenso in Frage stellt wie die geltende Umsatzsteuerverteilung, zielt praktisch auf einen zusätzlichen Finanzausgleich auf der Ausgabeseite und begegnet schon aus diesem Grunde erheblichen Bedenken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hinzu kommt, daß der Bund den Ländern und Gemeinden nur Geldleistungen und ganz ausdrücklich keine Sachleistungen ersetzen darf. Die Heimkosten als Haupttriebsatz der Sozialhilfelasten aber sind beispielsweise reine Sachleistungen wie im übrigen viele andere Fürsorgehilfen auch.

(Zuruf von der SPD: Der Bund soll doch nur die Hälfte übernehmen!)

Wichtiger noch: Durch die vorgesehene hälftige Kostenübernahme würde eine traditionelle Selbstverwaltungsaufgabe ganz zwingend zu einer Auftragsangelegenheit

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

mit zentralen Weisungsrechten des Bundes; eine Vorstellung — das muß ich Ihnen ganz offen sagen —, die für einen alten Kommunalmann, der in der gedanklichen und geistigen Tradition eines Freiherrn vom Stein steht, nur schwerlich anzunehmen ist.

(Zurufe von der SPD: Was sagt denn der Blüm zu dem, was Sie hier sagen? — Sprechen Sie für Nordrhein-Westfalen?)

Dies um so weniger, als die große Gefahr besteht,

(Zuruf von der SPD: Das ist ja unglaublich!)




Dr. Grünewald
in Nordrhein-Westfalen sogar die Wahrscheinlichkeit, daß die Entlastungswirkungen

(Zuruf von der CDU/CSU: Spricht für die Sache!)

nicht oder nur zu einem geringen Teil bei den sozialhilfekostenpflichtigen Kommunen auch wirklich ankommen werden.
Schließlich stößt der Gedanke einer neu zu schaffenden Mischfinanzierung, die Sie doch auch nicht wollen, auf gewichtige finanzpolitische Bedenken. Dieses Finanzierungssystem wirkt kostentreibend,

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Sehr richtig!)

weil, wie die Erfahrung lehrt, aus anderer Leute Leder schon immer gut Riemen schneiden war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Albrecht-Initiative aber sollte uns doch gerade Anlaß sein, darüber nachzudenken, wie wir unser soziales System mit weniger Geld auch für die Zukunft sichern können. Das aber wird nur mit einer ortsgebundenen Finanzverantwortung erreichbar sein. Denn gerade der am Einzelfall orientierte Vollzug der Sozialgesetze mit einer Vielzahl von Ermessensentscheidungen gewährt einen großen Einfluß auf die Höhe der Sozialkosten. Daraus erklären sich u. a. auch die großen Unterschiede bei den Sozialhilfelasten pro Einwohner. Ich weiß natürlich, daß das primär ein Stadt-Land-Problem ist, aber es läßt sich doch gar nicht leugnen, daß es auch etwas mit Politik zu tun hat, daß es heute solche Disparitäten gibt.

(Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig! — Zuruf von der SPD: Aber klar!)

Kein Finanzausgleich aber, welcher Art auch immer, darf Sparsamkeit bestrafen und Aufwand belohnen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Verschwenderisches Niedersachsen!)

— Ich weiß, daß Ihnen das nicht gefällt! — Wir müssen das vorgeschlagene Modell also gemeinsam noch einmal gründlich überdenken.

(Dr. Vogel [SPD]: Albrecht, der Verschwender!)

Das gilt auch für seinen Finanzierungsteil. Das ist das typische Geschäft zu Lasten Dritter, keineswegs sittenwidrig, aber zur Rechtswirksamkeit von der Zustimmung des Bundes abhängig. Bei aller Lösungsbereitschaft bis hin zu einer umfassenden Gemeindefinanzreform, wie es eben schon gesagt wurde, bedarf auch dieser Mangel vorerst noch der Heilung.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107717700
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107717800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit nur ein paar Bemerkungen: Herr Seiters, Sie haben sich hier als stellvertretender Landesvorsitzender Niedersachsens und
gleichzeitig als jemand, hingestellt, der aus einer Region kommt, in der auch große Arbeitslosigkeit ist. Herr Seiters, wo sind denn die regional wirksamen Programme der niedersächsischen Landesregierung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Leer und in Cloppenburg?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

So etwas fordern wir, solange wir im Landtag sind. Das ist doch von Ihnen nie gekommen. Sie machen eine Strukturpolitik, bei der Sie die Millionen in den Dollart kippen, statt Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das vorweg.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wer aus Niedersachsen kommt, der weiß, daß die niedersächsische Landesregierung natürlich nicht von den Sorgen um die Sozialhilfeempfänger umgetrieben ist, sondern daß diese Albrecht-Initiative die finanzpolitische Bankrotterklärung der Regierung Albrecht ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Einem anderen Niedersachsen ist es ja gelungen, sich am Zopfe aus dem Sumpf zu ziehen.

(Frau Traupe [SPD]: Münchhausen, der kommt aus meinem Wahlkreis!)

Ich fürchte, hier bleibt der Sumpf größer.

(Dr. Vogel [SPD]: Wo hat denn der Herr Seiters einen Zopf? Der verzopfte Seiters, der Mann mit dem Zopf! — Heiterkeit bei der SPD)

Der Regierung Albrecht ist vorzuwerfen, daß sie die jetzt entdeckte Asymmetrie nicht in frühere finanzpolitische Verhandlungen eingebracht hat, beispielsweise in den Länderfinanzausgleich, bei dem wir in der Tat gefordert haben, dies in die Berechnungsgrundlagen einzubringen.
Der Regierung Albrecht ist auch vorzuwerfen, daß sie sich nicht ähnlich deutlich in die Diskussion um die Steuersenkungsgesetze 1988/90 und die Ausfälle, die den Ländern dadurch entstehen, eingebracht hat. Jetzt, wo das Kind im Brunnen liegt und die niedersächsische Mittelfristplanung eklatant über den Haufen geworfen ist,

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

das Ziel der langfristigen Konsolidierung der niedersächsischen Landesfinanzen über die Jahrtausendgrenze hinweg auf Nimmerwiedersehen verschoben ist, jetzt plötzlich kommt der Griff zu diesem Strohhalm.
Da sich aber in dieser Republik nichts ändert, es sei denn, den Regierenden steht das Wasser bis zum Halse, begrüßen wir natürlich aufs äußerste die sich hier bietende Chance für eine in unseren Augen sinnvolle und notwendige Reform. Die GRÜNEN von Niedersachsen bis Bayern unterstützen sie natürlich und stellen mit Verblüffung fest, daß die GRÜNEN und die SPD hier im Bundestag Herrn Albrecht aus fachpolitischen, aus Sachgründen unterstützen und die nieder-



Dr. Lippelt (Hannover)

sächsischen CDU-Abgeordneten ihn aus Gründen des Machterhalts im Regen stehen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Dr. -Ing. Kansy [CDU/CSU]: Absoluter Quatsch, was Sie da erzählen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107717900
Herr Abgeordneter, Ihre Zeit geht zu Ende.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107718000
Ein letzter Satz, Herr Präsident. — Und weil die CDU eine Partei ist, in der Macht immer vor Programmgrundsätze und sachliche Richtigkeit geht, hat Albrecht — aus derselben Kiste, aus demselben Stalle kommend — seinen schwarzen Schafen die Generalabsolution schon vorweg gegeben.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107718100
Herr Abgeordneter — —

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107718200
Das ist das Spiel der Machtpolitik gegenüber einer sachlich richtigen Politik. Da müßten Sie ihn nämlich unterstützen.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107718300
Herr Abgeordneter, die Länge der letzten Sätze ist — bei allen Fraktionen — immer übertrieben.

(Heiterkeit — Kolb [CDU/CSU]: Die kennen den Punkt nicht mehr!)

Jetzt kommt der Bundesminister der Finanzen. Er hat ums Wort gebeten.

(Kühbacher [SPD]: Jetzt kommt der Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein! — Weiterer Zuruf von der SPD: Ist er das denn noch?)


Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1107718400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Struck hat mich gefragt, ob die Bundesregierung die Dreimonatsfrist nach Art. 76 des Grundgesetzes in Anspruch nehmen wird. Am Freitag ist die Abstimmung im Bundesrat gewesen. Wir haben den Gesetzesantrag vorher sorgfältig geprüft, eine erste Positionsbestimmung im Bundesrat vorgenommen. Nur, daß wir in vier Tagen nicht die Stellungnahme der Bundesregierung erarbeitet und beschlossen haben,

(Dr. Vogel [SPD]: Der Gesetzesantrag ist verabschiedet worden, mit den Stimmen Schleswig-Holsteins, nicht eine erste Positionsbestimmung vorgenommen worden!)

das ist, Herr Kollege Vogel, jedermann einsichtig. — Ich komme auf den Punkt gleich zu sprechen.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist auch gut!)

Freuen Sie sich nicht zu früh. — Wir werden also nach einer sorgfältigen weiteren Prüfung die Stellungnahme der Bundesregierung dem Deutschen Bundestag zuleiten.

(Zuruf von der SPD: Wann?)

Ich vermute, daß wir nicht drei Monate brauchen.
Meine Damen und Herren, hier wird in Zwischenrufen und Bemerkungen darauf hingewiesen, daß es
innerhalb der Unionsparteien eine unterschiedliche Einschätzung bestimmter Elemente dieses Vorschlages gibt. Aber wenn ich Sie daran erinnere, wie die Diskussion vor sechs Monaten bei der Verabschiedung des Länderfinanzausgleichs innerhalb Ihrer Fraktion war, dann sollten Sie Ihre Freude darüber zügeln.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Damals, vor einem halben Jahr, haben Sie, Herr Kollege Vogel,

(Dr. Vogel [SPD]: Ja, was denn?)

einen Antrag zur Änderung der Vorlage über den Länderfinanzausgleich eingebracht,

(Dr. Vogel [SPD]: Dem haben Sie alle zugestimmt!)

der zu einer massiven Schlechterstellung Niedersachsens und Schleswig-Holsteins zugunsten der Hansestädte geführt hätte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: So ist es! Krokodilstränen!)

Ich erinnere mich mit vielen Kollegen daran, daß die niedersächsischen Kollegen, — auch Sie, Herr Struck — , die jetzt die Einheit der Fraktion beschwören, damals hier im Plenum gesagt haben: Dem können wir nicht folgen. Die Sozialdemokratie hat damals bei der Verabschiedung des Länderfinanzausgleichs eine Schlechterstellung Schleswig-Holsteins und Niedersachsens beantragt, und heute werfen Sie sich als die Vorkämpfer bei der Lösung der Strukturprobleme dieser Länder auf. Das ist wenig glaubwürdig, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun zur Gesetzesinitiative. Ich will hier erneut unterstreichen: Sie spricht Sachverhalte an, die wir weiter diskutieren sollten und wo wir uns um Lösungen bemühen werden. Das Thema der beträchtlichen regionalen Unterschiede und der Konsequenzen für die Haushaltskraft der einzelnen Länder ist nicht neu. Aber es ist zu Recht — das ist das Verdienst eines solchen Vorschlages — zur Diskussion gestellt.
Ich will auch daran erinnern — was die Bundesregierung, was den Bundestag betrifft —, daß wir uns damals entschlossen haben, im Hinblick auf die regionalen Disparitäten ohne jede Begründung in den objektiven Kriterien der Steuerverteilung 700 Millionen DM an zusätzlichen Bundesergänzungszuweisungen zur Verfügung zu stellen, um gerade die hier angesprochenen finanzschwachen Länder ein Stück besserzustellen, als das nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts nötig war. Das ist der Unterschied zwischen Reden und Handeln, meine Damen und Herren.
Nun muß ich genauso deutlich sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist in seinen finanziellen Konsequenzen vollkommen unausgewogen. Herr Kollege Grünewald hat darauf hingewiesen. Er würde 10 Milliarden DM Mehrbelastung für den Bund bringen, demgegenüber einen Ausgleich durch Mehrwertsteueranteile von rund 5 Milliarden DM. Schon aus die-



Bundesminister Dr. Stoltenberg
sem Grunde wird er für die Bundesregierung nicht akzeptabel sein.
Ich teile auch die von mehreren Rednern geäußerten erheblichen Zweifel, ob überhaupt in der in unserer Verfassung angelegten Aufgabenverteilung Sozialhilfe eine Aufgabe des Bundes in der Finanzierung sein kann und sein soll.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Sie ist doch durch Ihre Wirtschaftsund Finanzpolitik auf Bundesebene mitverschuldet!)

Ich will Sie auf einen zweiten Widerspruch hinweisen: Sie, meine Damen und Herren, unterstützen hier ohne Einschränkung einen Gesetzesantrag, der den Bund um 5 Milliarden DM schlechterstellt, und bei der nächsten Debatte werden Sie sich hier als die heftigen Ankläger gegen die zu hohe Neuverschuldung des Bundes gerieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Unruh [GRÜNE]: Für was verschuldet?)

Das alles ist vollkommen unglaubwürdig und zeigt, daß es nicht — wie es eingangs hieß — um eine große überparteiliche Solidargemeinschaft geht, sondern doch mehr um eine Doppelstrategie zur Bekämpfung der Bundesregierung.

(Lachen bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Warum ist denn Schleswig-Holstein dafür?)

Meine Damen und Herren, ich will hier einen weiteren Punkt anführen. Wir müssen — da haben wir wieder Berührungspunkte mit den Landesregierungen der Union, die diesen Antrag unterstützen — in der Tat die regionalpolitischen Ausgleichsfunktionen des Bundes sichern.
Weil wir hier so viele Klagen gehört haben, will ich noch einen anderen Punkt hervorheben. Seit 1983 haben sich die Ausgaben des Bundes für Regionalförderung auf regionalen Ausgleich bei den großen Gemeinschaftsaufgaben um rund 50 % erhöht.

(Tietjen [SPD]: Das sind doch olle Kamellen!)

— Das sind doch keine ollen Kamellen! Das sind hoch bedeutsame Tatbestände, die in eine Diskussion dieser Frage hineingehören. Das ist doch keine Selbstverständlichkeit; denn Sie haben in Ihren letzten Regierungsjahren genau diese Mittel gekürzt, meine Damen und Herren. Deswegen kann man das hier doch einmal erneut unterstreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Reden Sie einmal nicht von Schulden! — Kühbacher [SPD]: Was sagen schon Prozentzahlen aus?)

— Jetzt reden Sie von Schulden und vertreten einen Antrag, der unsere Verschuldung automatisch um über 5 Milliarden DM erhöhen würde. Das ist schon eine konfuse Logik, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Oh-Rufe bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Albrecht, der Schuldenmacher! — Wer hat denn 40 Milliarden DM am Buckel!)

Das sind die Gemeinschaftsaufgaben — regionale Wirtschaftsförderung, Agrarstruktur, Stadt- und Dorferneuerung, Hochschulbau — , die überdurchschnittlich, wie die Verteilungswirkung zeigt, den finanzschwächeren Ländern zugute kommen.
Schließlich gehört ja auch die Tatsache zur Bewertung,

(Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD])

— es ist ja schon vollkommen klar, was Sie vorhaben, Herr Vogel; Ihnen geht es ja gar nicht um die Sache, Ihnen geht es um die Polemik; wir können das alles im Protokoll nachlesen —

(Beifall bei der CDU/CSU)

daß wir seit 1983 in Würdigung der schwierigen Probleme den Ländern und Gemeinden über 4 Milliarden DM Steueranteile übertragen haben. Der Anteil des Bundes am Gesamtsteueraufkommen ist seit 1981 von 48,7 % auf 45,4 % zurückgegangen. Das ist eine Finanzgrößenordnung von jetzt jährlich 15 Milliarden DM. Wir haben seit 1981 einen höheren Anteil am Geamtsteueraufkommen den Ländern und Gemeinden überlassen. Das sind wichtige Ausgangsbedingungen und Kriterien für die weitere Prüfung.

(Bernrath [SPD]: Das müssen Sie uns erläutern: Schleswig-Holstein!)

Sie müssen von ausschlaggebender Bedeutung sein. Aber wir sind unter den genannten Voraussetzungen bereit, die hier jetzt aufgeworfene und begonnene neue Diskussion über mehr regionale Ausgewogenheit konstruktiv zu führen und nach anderen Lösungen zu suchen, die eine Verbesserung in der regionalen Ausgewogenheit bringen können.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bernrath [SPD]: Kein Wort zu Schleswig-Holstein!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107718500
Das Wort hat der Abgeordnete Wittich.

Berthold Wittich (SPD):
Rede ID: ID1107718600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion mutet eigentlich gespenstisch an. Wir haben heute weit über 400 000 Arbeitslose mehr als im Jahr 1982 — und Herr Bundesfinanzminister Stoltenberg versucht, uns auf die Anklagebank zu rücken. Sie tragen die Verantwortung für 2,4 Millionen Arbeitslose in dieser Situation.

(Beifall bei der SPD)

Und diese Verantwortung müssen Sie übernehmen.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Sprechen Sie doch mal von den Beschäftigten! — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Haben Sie schon einmal gehört, daß 700 000 Beschäftigte mehr da sind?)

Die Bundesratsinitiative der norddeutschen Länder ist in der Tat ein alarmierendes Zeichen. Sie signalisiert zum einen die Not der Menschen, die wegen des Verlusts ihrer Anspruchsberechtigung aus Arbeitslosengeld und Arbeitslosenunterstützung ausgegrenzt



Wittich
werden. Sie ist zum anderen ein deutliches Zeichen für den finanziellen Ruin der Städte und Gemeinden, die nicht mehr in der Lage sind, aus eigener Kraft die rapide steigenden Sozialausgaben zu tragen. Und sie entlarvt schonungslos — das sage ich auch an die Adresse des Herrn Finanzministers — die Unfähigkeit dieser Regierung, dem Problem der Massenarbeitslosigkeit wirksam zu begegnen.

(Beifall bei der SPD)

Nicht zuletzt ist dieser Nordplan ein Indiz für die mangelnde Kompetenz der Koalition, den weiter steigenden Ausgaben der Sozialhilfeträger für die stationäre Unterbringung Pflegebedürftiger entgegenzuwirken.

(Beifall des Abg. Jaunich [SPD])

Da diese ungelöste Frage in der morgigen Plenardebatte eine Rolle spielen wird, verzichte ich darauf, das Problem vertiefend zu behandeln.
In vielen Ländern, Städten und Gemeinden ist der finanzielle Kollaps schon da.

(Tietjen [SPD]: Niedersachsen und Schleswig-Holstein!)

Und die sogenannte Steuerreform wird diesen Prozeß beschleunigen und die Kommunen in die Pleite treiben.

(Zurufe von der SPD: Leider wahr!)

Wenn die Weichen nicht auf Reform gestellt werden, droht eine Entwicklung, die wichtige beschäftigungspolitische Initiativen vor Ort zunichte macht.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Die EWG wird sich zurückhalten!)

An die Stelle kommunalpolitischer Entscheidungen tritt der Rotstift. Der Arbeitsmarkt erhält keine Impulse, weil gerade den Kleinbetrieben existenzsichernde Aufträge entzogen werden. Auf der Strecke bleiben die Interessen der Menschen und deren Lebensqualität.

(Glos [CDU/CSU]: Gut, daß Sie das sagen!)

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist die Idee, den Bund zur Hälfte an den Ausgaben für Sozialhilfe zu beteiligen, mehr als verständlich. Bemerkenswert ist, daß die Initiative ausgerechnet von Ernst Albrecht ausgegangen ist. Aber noch auffälliger ist: Der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen hat kein Vertrauen mehr in das Konzept des Wartens auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft.

(Beifall bei der SPD)

Indem Herr Albrecht die vom Grundgesetz gebotene Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse einfordert — das sage ich auch an die Adresse der Regierung — , bescheinigt er dieser Regierung die Unfähigkeit, ihre verfassungsmäßigen Aufgaben zu erfüllen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

Wenn diese Initiative Gesetz werden sollte, stellt dieses Vorhaben sicher keine dauerhafte Lösung dar. Langfristig — das kann man nicht nachdrücklich genug sagen — werden wir unsere sozialen Sicherungssysteme nur dann intakt und funktionsfähig erhalten,
wenn es uns gelingt, das Problem der Massen- und Dauerarbeitslosigkeit zu überwinden.

(Beifall bei der SPD)

In diesem unbewältigten Problem liegt die Hauptursache der explodierenden Sozialhilfeausgaben.
Lassen Sie mich in meine Überlegungen die Menschen einbeziehen, die von der Geißel der Arbeitslosigkeit und der Neuen Armut existentiell betroffen sind. Ich glaube, das ist heute in dieser Debatte vernachlässigt worden, wir dürfen nicht zulassen, daß Millionen Bürger und Bürgerinnen zum Nichtstun verurteilt und mit ihren Familienangehörigen an den Rand dieser Gesellschaft gedrängt werden.

(Glos [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Herrn Lafontaine!)

Hinter diesen Zahlen stehen Menschen und ihre Schicksale, der Verlust des Selbstwertgefühls, unzählige vergebliche Bewerbungen, Frauen, die eine Reservearmee auf dem Arbeitsmarkt darstellen, und der entwürdigende Gang zum Sozialamt. Die Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag haben immer wieder auf die Notwendigkeit der wirksamen Bekämpfung von Arbeitslosigkeit hingewiesen und entsprechende Vorschläge eingebracht.

(Austermann [CDU/CSU]: Was war denn 1981, 1982?)

In diesem Punkt unterscheiden wir uns von Ihnen. Beispielhaft will ich auf das Projekt „Arbeit, Umwelt und Investitionen" hinweisen, dessen Inhalt sogar von den Sozialausschüssen entdeckt worden ist. Wenigstens in diesem Punkte — —

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107718700
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluß kommen.

Berthold Wittich (SPD):
Rede ID: ID1107718800
Die Bundesratsinitiative macht deutlich, daß die Mehrheit der Länder der Bonner Koalition die Kompetenz zur Lösung der drängendsten gesellschaftlichen Probleme bestreitet. Ich hebe es hervor: Die verkrampften Bemühungen der Union, den aufgebrochenen Konflikt mit ihrer sattsam bekannten Aussitztechnik —

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107718900
Herr Abgeordneter!

Berthold Wittich (SPD):
Rede ID: ID1107719000
— unions- und koalitionsintern unter den Teppich zu kehren, werden den eingetretenen Kompetenzverlust nicht wettmachen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107719100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Faltlhauser.

(Dr. Vogel [SPD]: O je, jetzt kommt der Raufritter! — Zuruf von der SPD: Der sagt auch wieder nichts zur Sache!)


Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1107719200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als CSU-Abgeordneter will ich zunächst auf ein nicht unwesentliches Merkmal altbayerischer Mentalität hinweisen. Wenn jemand in Bayern in einem Wirtshaus eine handfeste Rauferei beginnt, dann wird dieser Rauflustige nicht nur von den Beobachtern, sondern auch von dem Angegriffe-



Dr. Faltlhauser
nen durchaus nicht als böser Mensch oder als Außenseiter angesehen; im Gegenteil, der Bayer — speziell der Altbayer — sagt bei sich: Respekt, der traut sich was!

(Heiterkeit bei der SPD)

Ministerpräsident Albrecht hat sich weiß Gott etwas getraut, und manch einer — auch im Südbayerischen — mag heimlich gedacht haben: Respekt!
Nur, ich muß auch auf einen zweiten Aspekt bayerischer Mentalität hinweisen: Die heimliche Bewunderung für den mutigen Angreifer hält einen Bayern nicht davon ab, nach Kräften gegenzuhalten, sich zu verteidigen, alles zu versuchen, was Maßkrug und Schwitzkasten hergeben.

(Heiterkeit)

Vor diesem Hintergrund möchte ich fünf nüchterne Feststellungen treffen.

(Dr. Vogel [SPD]: Nüchtern und Maßkrug!)

Erstens. Wir sollten aufhören, auch in diesem Zusammenhang von einem Nord-Süd-Gefälle zu reden. Der Sozialhilfeaufwand in Hessen ist pro Einwohner ungefähr so hoch wie der in Niedersachsen. Auch macht sich der Norden durch die ständige Wiederholung der Behauptung eines Nord-Süd-Gefälles hinsichtlich seiner Wirtschaftsleistung nur schlechter, als er tatsächlich ist. Das Bruttoinlandsprodukt der Erwerbstätigen betrug im letzten Jahr in NordrheinWestfalen 80 000 DM, in Bayern 73 000 DM. Die nördlichen Länder haben früher auf die Gemeinschaftsanalyse der norddeutschen Landesbanken mit Stolz verwiesen; ich denke, sie sollten es auch heute tun.
Zweitens. Die Hauptlast der Sozialhilfe tragen die Gemeinden und die Gemeindeverbände. Der von Niedersachsen vorgelegte Lösungsvorschlag eines auch in unseren Augen unbestreitbaren Problems läßt das Geld aber nicht bei den Gemeinden ankommen, sondern bei den Ländern. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser Vorschlag aus meiner Sicht eher als ein massiver Nachschlag zum Länderfinanzausgleich, denn als die Vorstufe einer irgendwie gearteten Gemeindefinanzreform.
Ich meine, daß die Lösung des Problems zum einen in einem engen Sachzusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich und zum anderen in einem vorausblickenden Zusammenhang mit einer künftigen Neustrukturierung der Gemeindefinanzen zu sehen ist. Eine von diesen beiden Komplexen isolierte Lösung kann nicht sachgerecht sein.
Drittens. Die strukturbedingten Probleme der im Bundesrat initiativ gewordenen Länder können nicht zu Lasten einiger weniger Länder gelöst werden. Albrecht sagt: Alle Länder haben gleich viel davon. So ist es nicht. Für eine exakte Rechnung muß die Entlastung der Kommunen bei der Sozialhilfe der Belastung der Länder durch die Verminderung des Umsatzsteueranteils gegenübergestellt werden. Der Saldo beläuft sich für Baden-Württemberg auf minus 242 Millionen DM, für Bayern auf minus 341 Millionen DM, für Hessen auf minus 42 Millionen DM und für Rheinland-Pfalz auf minus 48 Millionen DM.
Nordrhein-Westfalen würde dabei allein 206 Millionen DM gewinnen.

(Dr. Vogel [SPD]: Großartig!)

Man muß hinzurechnen, daß die von Niedersachsen vorgeschlagenen Verbrauchsteuererhöhungen zwar die Landeshaushalte unbeeinflußt lassen würden, aber in erheblichem Maße zu einer Umverteilung auf der Ebene der Steuerzahler führen würde.
Ich will daran erinnern, daß Baden-Württemberg im Länderfinanzausgleich 1987 204 DM pro Einwohner abgegeben hat und daß durch die Umschichtung auf Grund des Niedersachsen-Vorschlags das gleiche Land Baden-Württemberg noch einmal 51 DM pro Kopf, also immerhin 25 % des Anteils beim Länderfinanzausgleich, zusätzlich würde abgeben müssen.
Viertens. Eine Lösung des Sozialhilfeproblems kann nicht allein durch eine Umschichtung der finanziellen Ergebnisse bewerkstelligt werden; die Lösung kann nur in einem Paket gesehen werden, in dem auch die Ursachen für die Sozialhilfelasten angegangen werden.

(Jaunich [SPD]: Sehr gut! Wann kommt das Paket?)

Nach den erst gestern veröffentlichten Angaben des Statistischen Bundesamtes machen allein die Hilfen zur Pflege ein Drittel der Gesamtausgaben für Sozialhilfe aus, die für Arbeitslosigkeit nur 13 %, wenn ich darauf hinweisen darf. Wir müssen bei der Pflege ansetzen; das ist unser aktuellstes und drängendstes Thema. Wir sind dran.

(Zurufe von der SPD: Wo denn?)

Schließlich fünftens: Nicht zuletzt sollten wir ebenfalls die Belastbarkeit des Bundes im Auge behalten. Man kann auch die Zahl der großen Reformen, die man angeht, überziehen.

(Dr. Vogel [SPD]: Jäger 90, die jüngste Reform!)

Ich meine aber vor allem die finanzielle Kapazität des Bundes. Wir können nicht Rentenfinanzierung, Steuerreform, Raumfahrt, Bundeswehr etc. gleichzeitig im gewünschten Umfang lösen. Entweder wollen wir solide wirtschaften, oder wir wollen zu Lasten der Solidität des Bundeshaushaltes umverteilen.
Lassen Sie mich am Schluß mein eingangs gewähltes Bild noch einmal aufgreifen und mit einem dritten Hinweis auf bayerische Mentalität abrunden. Auch die schönste Wirtshausschlägerei hat einmal ein Ende. Dann sitzen bei uns die Kontrahenten wieder friedlich beieinander und prosten sich zu. Ich hoffe sehr, daß auch die antragstellenden Länder baldmöglichst von dieser friedenstiftenden Kraft bayerischer Mentalität inspiriert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Aber nicht mit einem leeren Glas, Herr Kollege!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107719300
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.




Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1107719400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Faltlhauser, ich befürchte, wenn Sie so weiterreden, dann wird in der Tat von dieser lobenswerten Initiative hinterher nichts anderes übrigbleiben als ein paar leere Biergläser. Das ist wohl nicht der Sinn dieser ernsthaften Sache.
Herr Albrecht hat davon gesprochen, daß das Problem, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik wiederherzustellen, eine Frage des Gemeinwohls sei. Da stimmen wir mit ihm überein.
Der Kollege Stoltenberg hat es für richtig befunden, hier Begriffe wie „Unglaubwürdigkeit" und ähnliches an unsere Adresse in die Diskussion hineinzubringen.

(Zuruf von der SPD: Der Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein!)

Herr Kollege Stoltenberg, das ist angesichts der Ernsthaftigkeit dieses Problems nicht angemessen und verrät nicht gerade neues Denken, wie Sie es bei uns zu Hause plakatieren.

(Beifall bei der SPD — Andres [SPD]: Wo soll das neue Denken auch herkommen?)

Ich will Ihnen eine Bundesligatabelle, eine Art Hitliste vortragen, nämlich der Städte mit der größten Pro-Kopf-Belastung an Sozialhilfe in der Bundesrepublik. Da sind die vier großen Städte Schleswig-Holsteins unter den ersten zehn Städten in der Bundesrepublik zu finden. Platz 1: die schleswig-holsteinische Stadt Flensburg, Platz 3: Lübeck, Platz 5: Kiel und Platz 10: Neumünster.

(Hört! Hört! bei der SPD und den GRÜNEN)

Herr Kollege Stoltenberg, ist es in dieser Situation wirklich angemessen, die schleswig-holsteinische Landesregierung zu Albrechts Vorschlägen ja sagen zu lassen, und Sie stellen sich dann hierhin, und Frau Roitzsch stellt sich hierhin, und sagen: Dem können wir nicht zustimmen!

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie machen Albrecht zum Wahlkampfthema! Mißbrauchen Sie doch nicht die Initiative hier zum Wahlkampf!)

Ich glaube, das Problem ist so ernst, daß man hier parteitaktische Überlegungen beiseite lassen sollte.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sehen Sie, Herr Kollege Stoltenberg, ich habe in meinem Wahlkreis die kleine Stadt Wahlstedt mit 10 000 Einwohnern. Dort ist fast jeder zehnte Bürger — genau 8,4 % — Leistungsempfänger nach dem Bundessozialhilfegesetz. Wie die Finanzen dieser Stadt dann aussehen, können Sie sich vielleicht noch vorstellen. Nehmen wir die Stadt Kiel: Da hat sich in den letzten fünf Jahren der Haushaltsansatz für Sozialhilfe von 88 auf 172 Millionen DM nahezu verdoppelt. 6 % der Bürger erhalten Sozialhilfe. Weil der Kollege Faltlhauser gesprochen hat, nehme ich zum Vergleich einmal eine bayerische Stadt ähnlicher Größe, Augsburg. Dort haben wir einen Sozialhilfeempfängeranteil von 2,7 %. Da kann man doch wohl nicht sagen, hier bestehe kein Handlungsbedarf.
Meine Damen und Herren, der Zusammenhang zwischen Massenarbeitslosigkeit und weiter steigender Sozialhilfebedürftigkeit wird überdeutlich. Die Regierung hat das bisher immer geleugnet; nun wird es ihr aus dem Bundesrat selbst vorgeworfen. Ich kann es nur begrüßen, wenn ein amtierender schleswigholsteinischer Landesminister sagt, daß die Sozialhilfe nicht für Regelfälle ausgestaltet ist, sondern heute zahlreiche Bundesaufgaben wahrnehme, von denen sich der Bund entlastet habe.

(V o r s i t z: Vizepräsident Frau Renger)

Nur, was ich nicht begreife, ist das Schauspiel, das Sie, Herr Stoltenberg, und auch Sie, liebe Frau Roitzsch, in Schleswig-Holstein den Bürgern vorführen. Ich meine, die Bürger in Schleswig-Holstein brauchen Klarheit. Ich glaube, Sie sollten die Parteitaktik beseite lassen und sich eindeutig für einen Ansatz zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in unserer Republik aussprechen.

(Dr. -Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie wollen aussteigen, und wir wollen arbeiten! — Kleinert [Hannover] [FDP]: Wi hört dat un wi glöv dat nich!)

— Wenn Sie das nicht glauben, lieber Herr Kleinert, kann ich Ihnen gerne die hier vorgetragenen Statistiken zur Verfügung stellen. Herr Stoltenberg als noch amtierender CDU-Landesvorsitzender scheint diese Zahlen nicht zu kennen. — Herr Kollege Stoltenberg, ich begreife bei der Ernsthaftigkeit dieses Problems Ihr Lachen nicht.

(Dr. Vogel [SPD]: Das Lachen wird ihm noch vergehen!)

Sie haben hier ausgeführt, diese Problematik sei im Bundesrat ernsthaft beraten worden. Dann frage ich Sie: Wo war Ihr persönlicher Beitrag im Bundesrat zu dieser ernsthaften Beratung?

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Sie haben sich mittendrin entschuldigt

(Zuruf von der SPD: Verdrückt!)

und sind auf den leeren Marktplatz nach Wilster gegangen, um dort zu den Pflastersteinen zu sprechen;

(Heiterkeit bei der SPD und den GRÜNEN)

niemand wollte Sie hören. Herr Stoltenberg, etwas mehr Ernst wäre Ihnen wirklich angemessen!

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107719500
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.

Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1107719600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt schon ein paar Merkwürdigkeiten in dieser Debatte, insbesondere im letzten Beitrag des Kollegen Heyenn. Da ist ein CDU-Ministerpräsident dabei, eine Lokomotive in Gang zu setzen, und die SPD bemüht sich, auf den letzten Wagen aufzuspringen,

(Lachen bei der SPD)




Austermann
und Herr Vogel sucht die Lokführermütze.

(Dr. Vogel [SPD]: Ihr werft euch vor den Zug! — Weiterer Zuruf von der SPD: Wir legen Kohle nach!)

Da kommt Herr Heyenn hierher und versucht, das Land Schleswig-Holstein mit einer „Hitliste der Sozialhilfeausgaben " schlechtzumachen. Ich will Ihnen etwas sagen: Es gibt auch eine andere Hitliste, die der Verschuldung der Gemeinden und der Städte in der Bundesrepublik, und wenn Sie die nehmen, stellen Sie fest, daß die erste schleswig-holsteinische Stadt auf Platz 18 kommt — dank der hervorragenden Politik, die auch von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Stoltenberg in Schleswig-Holstein gemacht worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Von wem noch?)

Ich will etwas zu der Initiative des Ministerpräsidenten Albrecht sagen, die ja auch von der schleswigholsteinischen Landesregierung und dem künftigen Ministerpräsidenten Heiko Hoffmann unterstützt worden ist,

(Lachen bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Was für ein Wunschdenken!)

und zwar deshalb, weil es trotz erheblicher eigener Anstrengungen der norddeutschen Länder — die übrigens ganz unterschiedlich erfolgreich sind, wie man an Details feststellt, wenn man sich die Arbeitsmarktstatistik von gestern anschaut und sieht, wo die Spitzenreiter liegen und wo die anderen, wobei das Land Schleswig-Holstein von denen, die im Bundesrat für die Initiative gesprochen haben, am besten dasteht — unbestreitbar Mittel geben muß, den Strukturwandel kurzfristig so zu steuern, daß die norddeutschen Länder mit dem Süden alsbald gleichziehen können.

(Zurufe von der SPD: Dann sagen Sie einmal, wie! — Wie denn wohl?)

Dazu gehören viele Schritte, die getan werden müssen, ohne daß der Föderalismus durcheinander gebracht wird. Dazu gehört vor allem, daß nicht in manch einem Land eine Politik betrieben wird, die Betriebe über die Landesgrenzen in andere Länder hinausdrängt. Ich bedaure, daß der Herr Gansel hier nicht gesprochen hat. Man kann das nämlich am Beispiel Hamburgs, Bremens aber auch Nordrhein-Westfalens ganz deutlich machen.
Nehmen wir doch einmal die Wirtschaftszahlen von Schleswig-Holstein, die Sie ja auch angesprochen haben. Es gibt kein sozialdemokratisch regiertes Land, das besser dasteht als Schleswig-Holstein. Sowohl bei der Verschuldung als auch beim wirtschaftlichen Wachstum wie bei anderen Dingen gibt es das nicht! Ich glaube, das gehört auch dazu. Wenn ich meinen eigenen Wahlkreis nehme — damit kann man ja gern anfangen — , stelle ich fest, daß es heute dort weniger Arbeitslose gibt als 1982 an der Westküste SchleswigHolsteins. Ich sage das, weil die Kollegen vorhin so begeistert „Schleswig-Holstein, Schleswig-Holstein" gerufen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage, es darf auch nicht übersehen werden, welche Anstrengungen wir als norddeutsche Unionsabgeordnete in den letzten Jahren unternommen haben, das Gefälle auszugleichen. Besondere Hilfe für die Werften, Gemeinschaftsaufgabe „Küstenschutz", Regionalförderung für die vier norddeutschen Küstenländer sind angesprochen worden, Ersatzarbeitsplätze für Werften — die Ruhrgebiets-Initiative ist von Ihnen überhaupt nicht erwähnt worden; das sind immerhin 500 Millionen DM vom Bund aus — und die Förderung kommunaler Investitionen der Kreditanstalt für Wiederaufbau.
Ich glaube deshalb, daß es entscheidender ist, daß wir uns um die Ursachen der Unterschiede kümmern, als zu versuchen, eine Fehlentwicklung auszugleichen.

(Lachen bei der SPD)

Dazu gehört nach meiner Meinung — ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt — , daß man überlegt, woran es eigentlich liegt, daß in Teilbereichen der Bundesrepublik unterschiedliche Strukturen vorhanden sind.
Ich sage dazu folgendes: Denken Sie einmal zurück — mindestens zehn Jahre —, in welcher Weise zum Beispiel Forschungspolitik betrieben worden ist. Wenn Sie etwa davon ausgehen, hier heute ein neues Institut einzurichten, bedeutet das ja nicht morgen an gleicher Stelle neue Arbeitsplätze, sondern erst in fünf bis zehn Jahren. Die Versäumnisse Ihrer Regierung in der Vergangenheit wirken sich heute in der Forschungslandschaft noch eindeutig aus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube deshalb, daß das ein wichtiger Weg zu dem von Herrn Albrecht und von der CDU/CSU verfolgten Ziel ist, und ich sage, daß wir da ein gemeinsames Ziel in der Koalition haben.
Ein wichtiger Weg müßte sein, wissenschaftliche Einrichtungen in den Norden zu verlagern und damit beispielhafte neue Projekte; denn dort, wo ein Forschungsinstitut ist, werden natürlich auch die Projektmittel ausgegeben werden.
Wenn gestern in den Ausschüssen über den „Jäger 90" gesprochen worden ist, muß man natürlich auch überlegen, ob es unbedingt so sein muß, daß das erforderliche Geld ausschließlich im Süden der Republik ausgegeben wird. Es gibt aber auch ein paar andere Bereiche, wo wir durch Projekte, Institute, Einrichtungen — nehmen wir Mikroelektronik, Magnetbahn, Verkehrsinfrastruktur, Elbquerung und vieles andere mehr — noch stärker den Norden unterstützen wollen. Dies zu überwachen könnte Aufgabe des für Länderfragen zuständigen Staatssekretärs im Kanzleramt sein, was den Ausgleich zugunsten des Nordens betrifft.
Daß wir heute so intensiv über das Thema diskutieren, verdanken wir Ministerpräsident Albrecht. Wie es sich für einen seriösen Unionspolitiker gehört, hat er gleich einen Finanzvorschlag gemacht, den Sie nicht unterstützt haben. Wir warten auf Ihre Vorschläge. Diese Fehlanzeige gilt aber weitgehend ja wohl in allen anderen Bereichen bei den Sozialdemokraten.



Austermann
Wir wollen ohne Veränderung der Finanzstruktur zwischen Bund und Ländern unter Berücksichtigung der Prinzipien der Marktwirtschaft und unter Anerkennung der eigenstaatlichen Verantwortung der einzelnen Bundesländer eine Lösung, und wir werden sie hier vorlegen und mit der Mehrheit verabschieden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107719700
Das Wort hat der Abgeordnete Carstens (Emstek).

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1107719800
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Für die niedersächsische und die schleswig-holsteinische Landesregierung und sicherlich auch für die SPD-Landesregierungen ist die von Ernst Albrecht gestartete Sozialhilfe-Initiative ein wichtiges und ernstes Anliegen.

(Sehr gut! bei der SPD)

Ich betone: ein wichtiges und ernstes Anliegen.

(Dr. Vogel [SPD]: Aber! — Heiterkeit bei der SPD)

Hierzu paßt überhaupt nicht das heutige Verhalten der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben sich zwar bemüht, Ihre Äußerungen hier moderat vorzutragen — das möchte ich Ihnen bestätigen —, aber hinter all dem steckt parteipolitische Finesse. Denn Sie sind davon ausgegangen und haben geglaubt, Sie würden uns heute auseinanderdividieren können. Das ist der Grund für diese Aktuelle Stunde gewesen. Es ist bedauerlich, daß solch wichtige und ernsthafte Anliegen vieler Bundesländer mit wahltaktischen Manövern Ihrerseits verbunden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser erster parlamentarischer Geschäftsführer Rudolf Seiters hat doch schon eingangs darauf aufmerksam gemacht, daß der Bundesrat seinen Beschluß erst vor einigen Tagen gefaßt hat, daß nun die Bundesregierung am Zuge ist, die uns eine Stellungnahme zuleiten muß, und damit dann auch die Initiative des Bundesrates. Erst dann sind wir im Deutschen Bundestag am Zuge, und nicht vorher.

(Dr. Struck [SPD]: Aber wir können doch vorher schon mal nachdenken!)

Dieser Antrag, die Aktuelle Stunde jetzt, am Donnerstag dieser Woche, zu haben, wäre nur berechtigt gewesen, wenn Ihrerseits heute Beiträge zur Lösung dieses Anliegens eingebracht worden wären.

(Dr. Vogel [SPD]: Zustimmung!) Haben Sie davon etwas gehört?


(Zurufe von der SPD: Zustimmung!)

Haben Sie Lösungsbeiträge eingebracht? Haben Sie gesagt, wie die Finanzierung aussehen soll? Meine Damen und Herren von der SPD, ich bleibe dabei: Reines parteipolitisches wahltaktisches Verhalten steckt dahinter und sonst überhaupt nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Kühbacher [SPD]: Kollege Carstens, Sie wissen, daß das nicht wahr ist!)

Ich möchte hier zum Ausdruck bringen, daß ich und alle niedersächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten die Initiative Niedersachsens vom Grundsatz her für absolut berechtigt halten.

(Dr. Vogel [SPD]: Wir doch auch! — Seiters [CDU/CSU]: Das haben wir doch gesagt!)

Es gibt, wie wir alle wissen — das ist hier von vielen Rednern bestätigt worden — , zwischen und innerhalb der Bundesländer zum Teil sehr große strukturelle Differenzen. Strukturelle Schwächen führen zu überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig unterdurchschnittlicher Steuerkraft. Mit unterdurchschnittlicher Finanzausstattung müssen nicht nur eine staatliche Aufgabenerfüllung auf gleichem oder ähnlich hohem Niveau wie in den bessergestellten Regionen gewährleistet, sondern auch beträchtlich höhere Sozialhilfelasten getragen werden.

(Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

Für öffentliche Investitionen, für eine wirksame Strukturpolitik, die hier besonders wichtig wäre, ist dadurch der finanzielle Handlungsspielraum niedriger als anderswo.

(Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

Die herkömmlichen Instrumente des Finanzausgleichs und der Gemeinschaftsfinanzierung haben sich nicht als ausreichend erwiesen,

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

um diese regionalen Differenzen abzubauen und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilen unseres Landes zu sichern.

(Dr. Struck [SPD]: Stimmen wir Albrecht zu!)

Diese Initiative Niedersachsens hat deshalb das Ziel, dieses Instrumentarium zu verbessern. Ob diese Initiative oder etwas anderes abschließend als Lösungsansatz herangezogen wird, muß einem noch zu findenden Kompromiß überlassen bleiben. Ich bin davon überzeugt, daß es diesen Kompromiß geben wird.
Genauso bin ich davon überzeugt, daß Sie uns mit Ihrem Antrag, hier eine Aktuelle Stunde abzuhalten, nicht auseinanderdividieren können, daß es nicht zu einem Junktim zwischen dieser Sozialhilfeinitiative und der Steuerreform kommt.

(Zustimmung des Abg. Glos [CDU/CSU])

Sie können davon ausgehen — davon bin ich ebenfalls überzeugt — , daß die Steuerreform so, wie vorgesehen, vom Inhalt und vom Termin her, in Kraft treten und den Bundestag passieren wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Struck [SPD]: Frag mal den Albrecht!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107719900
Meine Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

(Unruhe)

— Meine Damen und Herren, würden Sie sich bitte hinausbegeben oder mir mindestens die Möglichkeit geben, zum Plenum zu reden? — Sollten Sie Ihre Privatgespräche beendet haben, fahre ich fort.



Vizepräsident Frau Renger
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (11. BAföGÄndG)

— Drucksache 11/1315 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (19. Ausschuß)

— Drucksache 11/2160 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil Frau Odendahl
Neuhausen
Wetzel
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/2222 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Scheu Diller
Frau Seiler-Albring Frau Rust

(Erste Beratung 46. Sitzung)

b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (19. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Siebter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
— Drucksachen 11/877, 11/2160 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil Frau Odendahl
Neuhausen
Wetzel
Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes liegen ein Entschließungsantrag und ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/2224, 11/2225 und 11/2239 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Bundesminister Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1107720000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Regierungsentwurf des 11. BAföG-Änderungsgesetzes ist vom Deutschen Bundestag zügig und gründlich beraten worden. Der Entwurf hat dabei in allen wesentlichen Punkten die Zustimmung des federführenden Ausschusses einschließlich der Mitglieder der SPD-Fraktion gefunden.

(Kuhlwein [SPD]: Ohne Begeisterung!)

Einige kleinere Änderungen wurden vorgenommen; überwiegend auch diese mit Zustimmung der Oppositionsfraktionen.
Damit ist sichergestellt, daß das Gesetz so rechtzeitig in Kraft treten kann, daß Schüler und Studenten bereits zum nächsten Schuljahr bzw. Semester in den Genuß der Leistungsverbesserungen kommen, die notwendig sind, um den realen Wert der Ausbildungsförderung zu erhöhen, zumindest aber zu erhalten. Ich möchte dafür dem Hohen Haus meinem Dank aussprechen, inbesondere den Mitgliedern des federführenden Ausschusses und der mitberatenden Ausschüsse.
Mit dem Gesetz stellt die Bundesregierung erneut die Kontinuität unter Beweis, mit der sie seit 1983 mit zuvor nicht gegebener Regelmäßigkeit Bedarfssätze, Freibeträge und Sozialpauschalen erhöht und damit die Veränderungen der Lebenshaltungskosten zumindest ausgeglichen hat.
Der Gesetzentwurf sieht folgende Verbesserungen vor, die vor dem Hintergrund der andauernden Preisstabilität zu bewerten sind.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107720100
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?

Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1107720200
Nein.
Erstens. Die Bedarfssätze werden um durchschnittlich 2 %, der Höchstbetrag für den auswärtigen Studenten von 823 DM auf 845 DM erhöht.
Zweitens. Die Elternfreibeträge werden zweimal, zum Herbst 1988 und 1989, um durchschnittlich je 3 % angehoben. Die Pauschalen für die soziale Sicherung werden ebenfalls erhöht.
Drittens. Die Begünstigungen des Familienlastenausgleichs 1986 bleiben den Familien mit geförderten Kindern voll erhalten.
Bei einer Familie mit zwei Kindern, davon ein auswärts untergebrachter Student, führt das etwa dazu, daß der Student ab Herbst 1988 Förderleistungen bis zu einem Elterneinkommen von rund 62 400 DM brutto erhält. Wenn die Eltern also mehr als 62 000 DM verdienen, fällt er aus der Förderung nach dem BAföG heraus; bis dahin bleibt er in der Förderung. Die Grenze lag bisher bei einer Bruttogrenze von rund 56 000 DM.
Das 11. Änderungsgesetz trägt insgesamt dazu bei, das Vertrauen von Eltern und Auszubildenden in die Stabilität des Leistungsniveaus der Ausbildungsförderung zu erhalten. Ich sehe darin eine beachtenswerte Leistung der Bundesregierung.
Vor diesem Hintergrund will ich mich gegen ein Argument wenden, das in der politischen Diskussion um das BAföG immer wieder vorgebracht wird. Es betrifft die vermeintlichen Folgen der im Herbst 1983



Bundesminister Möllemann
vorgenommenen Umstellung der Ausbildungsförderung für Studenten auf Volldarlehen. Diese Maßnahme — so sagt man — habe die Studierneigung allgemein negativ beeinflußt,

(Frau Odendahl [SPD]: Ja!)

einen Rückgang der Gefördertenquote bewirkt

(Frau Odendahl [SPD]: Ja!)

sowie die Studienbereitschaft von Frauen und Studenten aus finanziell und sozial schlechter gestellten Schichten beeinträchtigt.

(Frau Odendahl [SPD]: Auch richtig! — Wetzel [GRÜNE]: Das haben Sie völlig richtig festgestellt!)

Lassen Sie mich hierzu in aller Deutlichkeit erklären, daß diese Behauptungen bei sorgfältiger Analyse der derzeit — bis 1986, teilweise auch bis 1987 — zur Verfügung stehenden Daten keine Bestätigung finden.

(Wetzel [GRÜNE]: Welche Quellen benutzen Sie denn?)

Entsprechende Hochschul-Informations-System-Befragungen bei über 10 000 Studenten haben ergeben, daß der Umstellung der Ausbildungsförderung auf Volldarlehen als Motiv für einen Studienverzicht relativ geringe Bedeutung zukommt.

(Frau Odendahl [SPD]: Sie fragen nicht die, die BAföG bekommen!)

Im Vordergrund bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium stehen vielmehr Arbeitsmarktchancen sowie Einschätzungen und Erfahrungen, die der einzelne Hochschulberechtigte im Elternhaus und in seiner näheren Umgebung gewinnt.
Die Zahl der Studienanfänger ist nach einem Rückgang in den Jahren 1984 und 1985 seit 1986 wieder gestiegen. Mit rund 230 000 im Jahr 1987 lag sie um 9 % höher als im Vorjahr. Wir haben heute mit 1,41 Millionen Studenten die höchste Studierendenzahl, die wir je in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hatten.
Ein wesentlicher Grund für den zwischenzeitlichen Rückgang der Zahl der Studienanfänger in den Jahren 1984 und 1985 ist in dem gleichzeitigen hohen Anstieg der Zahl der Hochschulberechtigten in der dualen Ausbildung zu sehen. Dieser Anstieg hat sich in den Jahren 1986 und 1987 nicht fortgesetzt. Im Gegenteil, es sind viele Zugangsberechtigte, die zunächst eine Lehre gemacht haben, jetzt in ein Studium gegangen.
Die Gefördertenquote ist 1986 mit knapp 31 % der dem Grunde nach BAföG-berechtigten Studenten gegenüber dem Vorjahr zwar leicht rückläufig, doch fiel dieser Rückgang mit 1,3 Prozentpunkten gegenüber den Vorjahren wesentlich geringer aus. Ein Rückgang der Gefördertenquoten ist nicht nur ab März 1983 sondern bereits seit 1981 zu verzeichnen, seit der damaligen Veränderung. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Rückgang der Gefördertenquote und Umstellung der Studentenförderung auf Volldarlehen läßt sich demnach nicht herstellen.
Im übrigen möchte ich auch hier für die Öffentlichkeit noch einmal sagen: Die Darlehen sind zurückzuzahlen, erstens beginnend zwei Jahre nach dem Examen, zweitens, innerhalb von 20 Jahren, drittens ohne Zinsen, viertens nur dann, wenn der Absolvent in Arbeit ist — wenn er also nach dem Studium arbeitslos wird, zahlt er nicht — und, schließlich fünftens, wenn er mindestens 2 400 DM brutto monatlich verdient. Solche Zins- und Darlehenskonditionen kriegt kein Mensch auf irgendeinem Markt; das muß man mit berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Studierenden und ebenso der Anteil der Geförderten weiblichen Studenten an allen geförderten Studenten sind in den letzten Jahren im wesentlichen unverändert geblieben, nämlich 40 %.
Unzutreffend ist schließlich — Frau Odendahl, das ist für sie ganz wichtig — auch die Aussage, in den letzten Jahren seien zunehmend finanziell und sozial schwächere Schichten aus der Ausbildungsförderung herausgefallen.

(Frau Odendahl [SPD]: Dies ist noch immer so!)

Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der entsprechenden HIS-Umfrage und der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes. Vielmehr ist der Anteil geförderter Studenten aus Arbeiterfamilien an der Zahl aller geförderten Studenten an wissenschaftlichen Hochschulen von 29 % im Jahre 1982 auf 32 % im Jahre 1985 und an Fachhochschulen von 39 % im Jahre 1982 auf 42 % im Jahre 1985 gestiegen. Demgegenüber sind die Anteilssätze geförderter Studenten, deren Väter Angestellte, Beamte oder Selbständige sind, gesunken bzw. unverändert geblieben, weil bei denen entsprechende Einkommenssteigerungen zu verzeichnen sind. Diese Ergebnisse gelten auch unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft aller Studenten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107720300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kastning?

Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1107720400
Nein.

(Zuruf des Abg. Kastning [SPD])

Der zwischen 1982 und 1985 eingetretene Rückgang der Gefördertenquoten erstreckt sich auf die Studenten aus allen sozialen Schichten. Dabei fällt jedoch der Rückgang bei Studenten, deren Väter Arbeiter sind, mit rund 20 % wesentlich geringer aus, als dies bei Studenten der Fall ist, deren Väter Angestellte, Selbständige oder Beamte sind.

(Zuruf des Abg. Kastning [SPD])

— Nur einen Satz dazu: Sie wissen, daß ich normalerweise auf Fragen immer eingehe. Herr Kollege Neuhausen hat ganze fünf Minuten Redezeit. Sie wissen, jede Minute, die ich zusätzlich beanspruche, wird ihm abgezogen. Das fände ich nicht kollegial.

(Kastning [SPD]: Dann sollten Sie etwas Vernünftiges reden!)




Bundesminister Möllemann
Ich habe dies so ausführlich vorgetragen, weil ich hoffe, daß damit die unsinnige Behauptung aufgegeben wird, hier habe die Darlehensumstellung eine entsprechende Auswirkung.

(Frau Odendahl [SPD]: Hat sie doch!)

Ich möchte eine grundsätzliche Bemerkung machen. Dieser Entwurf eines Änderungsgesetzes ist eine Anpassungsnovelle. Hier werden keine wirklich strukturellen Veränderungen angestrebt. Das hängt mit der Koalitionsvereinbarung zusammen, in den beiden ersten Jahren der Legislaturperiode keine zusätzlichen ausgabenwirksamen Gesetze zu verabschieden.

(Kastning [SPD]: Die haben Sie unterschrieben!)

Ich habe den Beirat für Ausbildungsförderungsfragen, der beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft auf gesetzlicher Grundlage tätig ist, gebeten, eine Überprüfung des Systems und der Struktur der individuellen Ausbildungsförderung vorzunehmen, und er wird im Herbst dieses Jahres Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Ich werde die Ergebnisse dieser Vorschläge Ihnen hier im Parlament wie auch den Kollegen im Kabinett präsentieren, und wir werden dann darüber diskutieren können.

(Frau Odendahl [SPD]: Vor allem dem Finanzminister!)

— Natürlich, auch dem Finanzminister.
Ich halte Verbesserungen im System der Ausbildungsförderung für notwendig — wir werden darüber zu diskutieren haben — , im Rahmen der gegebenen finanziellen Möglichkeiten.
Die zweite Frage, mit der wir uns zu beschäftigen haben werden, ist die des sogenannten Mittelstandslochs, der Situation von Kindern von Eltern, die mittlere Einkommen haben. Hier ist folgendes zu sagen: Derzeit liegt die Grenzlinie, bis zu der die BAföG-Förderung reicht, etwa bei Familien mit einem Kind bei einem Elterneinkommen von rund 53 000 DM brutto, bei Familien mit 4 Kindern bei rund 94 000 DM.
Es wird auf jeden Fall weiterhin Einkommensgrenzen bei einem Sozialgesetz geben. Es wird ja niemand sagen: Auch wenn die Eltern ein Jahreseinkommen von 150 000 DM haben, soll er BAföG bekommen.

(Wetzel [GRÜNE]: Das sagt schon jemand! Wir sagen das elternunabhängig!)

Es mag sein, daß es hier Veränderungen marginaler Art gibt. Es ist auch wichtig zu wissen, daß diese Familien im Rahmen der vorhin diskutierten Steuerreform auch deswegen zusätzlich entlastet werden. Die von mir genannte Familie mit dem einen Kind in der Ausbildung und 50 000 DM Einkommen wird künftig 2 000 DM weniger Steuern zahlen. Die Familie mit vier Kindern, von der ich sprach, wird künftig jährlich 6 000 DM weniger Steuern zahlen. Das kann natürlich die Situation der Familien auch im Blick auf die Ausbildung verbessern. Wir werden das mit berücksichtigen müssen.
Sie wissen doch: Ich habe dazu Modelle zur Diskussion gestellt. Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft wird sich in Kürze auch damit beschäftigen. Ich
freue mich auf eine Beratung des Themas Mittelstandsloch, auf die Beratung des Themas BAföG auf der Grundlage der Beratungen und Empfehlungen des Beirats. Wir werden beides gemeinsam nach der Sommerpause beginnen können.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107720500
Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.

Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1107720600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leider hat sich die Regierungskoalition den Rat der Sachverständigen bei der Anhörung zur elften BAföG-Novelle nicht zunutze gemacht, die eine strukturelle Verbesserung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes für dringend notwendig hielten, was wiederum ohne erhebliche Aufstockung der finanziellen Mittel nicht machbar sein wird. Seit der Umstellung der Studentenförderung auf Volldarlehen und Ihrem Kahlschlag bei der Schülerförderung entspricht das Bundesausbildungsförderungsgesetz immer weniger den quantitativen und qualitativen Erfordernissen einer Ausbildungsförderung, die sich einmal das Ziel gesetzt hatte, jedem jungen Menschen gleiche Bildungschancen einzuräumen.
Herr Möllemann, wir kennen ja die Zahlenspielchen. Es ist egal, wie Sie das drehen und wenden. Wir haben jetzt natürlich insgesamt viel mehr Studenten. Ob Sie dann die Gefördertenquote aus dem Kreise der Berechtigten oder der Studenten insgesamt berechnen, macht schon einen Unterschied.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Kuhlwein [SPD]: Statistische Taschenspielertricks!)

Wir sind heute mehr denn je von dem Grundprinzip des 1971 eingeführten Systems der Bundesausbildungsförderung entfernt, allen Jugendlichen durch eine finanzielle Grundsicherung die Chance zu geben, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Ausbildung aufzunehmen. Nirgendwo wird Ihr bildungspolitischer Kahlschlag deutlicher als bei der finanziellen Demontage der Ausbildungsförderung. Innerhalb von fünf Jahren Ihrer Regierungszeit wurden die BAföG-Leistungen um fast die Hälfte zusammengestrichen. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann finanziert sich die Ausbildungsförderung in fünf Jahren ausschließlich durch die Rückzahlung der BAföG-Darlehen. Das ist natürlich auch eine Politik.

(Kuhlwein [SPD]: Dann hat er das Perpetuum mobile erfunden!)

Der Abbau der Bildungsförderung wird besonders bei der Zahl der Geförderten und ihrer sozialen Lage deutlich. Die Zahl der geförderten Schüler und Studenten ist seit dem Antritt der Regierungskoalition drastisch zurückgegangen. Wurden im Jahre 1981 noch 45,3 % der Studierenden gefördert, so sind es heute — Herr Möllemann, so müssen Sie rechnen — noch kümmerliche 18 %. Immer mehr Studentinnen und Studenten müssen seit 1982 ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch eigene Erwerbsarbeit oder durch Zuschüsse von Eltern und Verwandten sichern, die ihrerseits, wenn sie nicht zu den Bezie-



Frau Odendahl
hern höherer Einkommen gehören, gar nicht mehr wissen, wie sie bei mehreren Kindern diesen Verpflichtungen nachkommen sollen.
Besonders betroffen sind weiterhin die Frauen. Ihre Studierquote geht von Jahr zu Jahr zurück. Während sie während der 70er Jahre immer mehr ermutigt wurden, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen, und der Trend zur gleichberechtigten Teilhabe von jungen Frauen an den bestmöglichen Zugangsvoraussetzungen für qualifizierte Berufe zunahm, hat Ihre Wenderegierung dieses mit dem wirksamsten Mittel gestoppt. Mit dem Zudrehen des Geldhahns einerseits und der Belastung, studierenden jungen Menschen einen riesigen Schuldenberg aufzuladen, andererseits wurde diese erfreuliche Entwicklung zunichte gemacht.
Was wir Ende der 70er Jahre überwunden hatten, verkehrt sich heute wiederum ins Gegenteil. Geldbeutel und Status der Familie entscheiden über die Bildungschancen der Kinder. Ebenso dramatisch sinkt die Studierneigung junger Frauen. Wie die Abiturientenbefragung 1987 ergab, hatten 68 % der jungen Männer, aber nur 53 % der jungen Frauen feste Studierabsichten.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Sie haben doch dieselben Zahlen, Herr Möllemann. Ich weiß nicht, was Sie immer aus Ihren Zahlen herauslesen. Sie drängen stärker noch als junge Männer in Berufsausbildungen, um wenigstens einen Zipfel am Zugang zur Erwerbsarbeit über einen Ausbildungsplatz zu erhalten.
Die soziale Lage der Studentinnen und Studenten hat sich seit Anfang der 80er Jahre weiter verschlechtert. Die Schere zwischen den tatsächlichen Lebenshaltungskosten und den zugrundeliegenden Bedarfssätzen wird immer größer. Seit 1980 sind die Lebenshaltungskosten um 20 % gestiegen, während die BAföG-Bedarfssätze im gleichen Zeitraum lediglich um 14 °A° erhöht wurden. Hinzu kamen ständig steigende Mieten und Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung. Besonders hart hat der Kaufkraftschwund die getroffen, die den Höchstsatz der Förderung in Anspruch nehmen mußten, oder die aus kinderreichen Familien kommen.
Seit dem 1. April 1988 müssen Studierende 64 DM für ihre Krankenversicherung aufbringen. Die Regierungskoalition will ihnen in der 11. Minimalnovelle aber nur 45 DM ersetzen. Besonders problematisch ist die zunehmende Verschärfung der Wohnungsnot in den Studentenstädten. Ein Zimmer in einem Wohnheim kostet in der Regel bis zu 300 DM bei einer Wartezeit von über einem Semester und auf dem freien Markt bedeutend mehr, so daß sich einige teure Appartements leisten können, während die anderen in Jugendherbergen oder auf dem Campingplatz ihre Zeit auf der Warteliste abtun.
Angesichts der Diskussion um zu lange Studienzeiten, die Sie, Herr Möllemann, gerade in diesen Tagen wieder angeheizt haben, und im Zusammenhang mit der Förderungshöchstdauer ist dieser Zustand untragbar. Ihre vorgeschlagene Erhöhung für die Unterkunft halten wir für nicht ausreichend. Unser Änderungsantrag versucht, der heutigen Situation wenigstens gerecht zu werden.
Lassen Sie uns zusammenzählen: Stellt man die vom Deutschen Studentenwerk erhobenen Durchschnittsausgaben der deutschen Studenten in Höhe von 863 DM im Jahre 1985 der durchschnittlichen Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in Höhe von 550 DM im selben Jahr gegenüber, dann wird deutlich, wie groß die finanzielle Unterdekkung der BAföG-Geförderten im Vergleich zum Durchschnitt ist und wie groß die sozialen Unterschiede innerhalb der Studentenschaft geworden sind. Von einer Grundsicherung auf Ausbildungsförderung kann keine Rede sein.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich appelliere mit großer Eindringlichkeit an Sie: Lassen Sie nicht zu, daß die einmal gemeinsam beschlossene Ausbildungsförderung noch weiter heruntergewirtschaftet wird.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die SPD-Fraktion legt heute ihre Änderungsanträge vor. Wir wollen damit erreichen, daß aus Ihrer Minimalnovelle, bei der übrigens der Haushaltsausschuß auch noch in einem Punkt einen Vorbehalt eingebracht hat, wenigstens eine erforderliche Reparatur der drängendsten Mißstände erfolgt, bis nach dem Vorliegen des Berichts der BAföG-Kommission die dringend erforderlichen strukturellen Verbesserungen des BAföG erfolgen. Unsere Änderungsanträge haben ein Gesamtvolumen von rund 420 Millionen DM für 1988 und 1989. Einen entsprechenden finanziellen Vorschlag liefern wir Ihnen gerne mit. Er ergibt sich allein aus dem bisherigen BAföG-Topf.
Seit 1982 sind die Ausgaben des Bundes für BAföG von 2,357 Milliarden DM auf heute nur noch 1,445 Milliarden DM gesunken, also um 38 %. Die nicht verwendeten Mittel fließen nicht der Verbesserung der Ausbildungsförderung zu. Die 1987 auf 251,6 Millionen DM gestiegenen Einnahmen aus Zins- und Tilgungszahlungen gehen ebenfalls dem BAföG-Topf verloren. Sie kassiert der Finanzminister zur freien Verfügung, dem ich gern vorher, als er eingangs der Debatte hier eine kleine Gruppenbesprechung hatte, diese Zahl noch mit auf den Weg gegeben hätte.
Ferner läßt sich durch die von uns geforderte Aufhebung des Darlehensteilerlasses eine Einsparung von rd. 90 Millionen DM pro Jahr erzielen. Es ist ja zu begrüßen, wenn der Bildungsminister nach vielen Jahren bildungspolitischen Kahlschlages nun gegen den Finanzminister den starken Max spielt, eine Aufstockung seines Etats um 10 % fordert und dabei sogar Projekte wie den „Jäger 90" als Finanzmasse anbietet.

(Kuhlwein [SPD]: Hört! Hört!)

Unsere Unterstützung haben Sie, Herr Minister Möllemann. BAföG statt „Jäger 90". Das ist doch einmal etwas, über das wir hier diskutieren können.

(Beifall bei der SPD)

Traurig ist aber nur, daß Sie bei diesen angesichts der
Finanzlage des Bundes tollkühnen Forderungen beim



Frau Odendahl
BAföG weiter zurückfahren wollen. Diese 11. BAföG-Novelle ist für uns die Meßlatte, wie ernst der Bildungsminister seine eigenen Finanzforderungen nimmt; denn die BAföG-Ausgaben sind es, die seit der Wende wie kein anderer Ausgabenposten gedrosselt wurden.

(Zuruf von der SPD: Gleich als erstes!)

Trotz aller bei der Anhörung vorgetragenen Sorgen bleiben Sie wieder beim alten Rezept: Anhebung auf der niedrigsten Ebene, alle sonstigen Verbesserungen unter der Richtschnur Ihrer Bildungspolitik, die da heißt „kostenneutral".
Dabei darf ich Ihnen einen Spruch der ansonsten als sparsam bekannten Schwaben mit auf dem Weg geben; die sagen nämlich immer „Was nix kostet, ist auch nix".
Wir stellen unsere Änderungsanträge, die wir für notwendig erachten, um das BAföG überhaupt am Leben zu erhalten, zur Abstimmung. Ihrer sogenannten Notreparatur werden wir zustimmen, auch wenn sie nicht einmal den Minimalanforderungen entspricht. Die Familien mit mittlerem Einkommen und mehreren Kindern lassen Sie trotz ständiger Beteuerungen wieder außen vor. Jahrelang haben Sie sie damit getröstet, daß Sie ja im Rahmen des Familienlastenausgleichs dafür entschädigt wurden. Was es damit auf sich hat, wird mein Kollege Ernst Kastning noch ausführen.
Bei dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN sind wir der Meinung, daß er die Möglichkeiten der 11. BAföG-Novelle mit der dringend notwendigen Strukturreform des BAföG vermischt. Diese Punkte haben wir in unserem Entschließungsantrag angesprochen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Schülerförderung wiederherzustellen, bei der Studentenförderung zum Teildarlehen zurückzukehren, die Förderungshöchstdauer den Studien- und Examensbedingungen an den Hochschulen anzupassen und den Fachrichtungswechsel, der auf Grund der Arbeitsmarktlage erforderlich wird, förderungsrechtlich nicht länger zu erschweren, die Regelung der Verzinsung insbesondere im Hinblick auf die Volldarlehen zu überprüfen und die Auswirkungen der geplanten sogenannten Steuerreform auf das BAföG ebenfalls in die Prüfung einzubeziehen.
Für diesen Entschließungsantrag fordern wir die Überweisung an den federführenden Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und an die zuständigen Ausschüsse zur Mitberatung.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mit Ihrer kostenneutralen Minimalnovelle haben Sie wieder einmal die Möglichkeit verspielt, der Ausbildungsförderung wieder den Stellenwert zu verschaffen, den sie einmal hatte und auf den unsere Jugendlichen im Sinne einer Chancengleichheit dringend angewiesen sind. Sie haben das BAföG zum Selbstbedienungsladen für den Finanzminister gemacht. Der Kraftakt des Bildungsministers bei den Forderungen für den Bildungsetat erweist sich schon heute — es tut mir leid, Herr Minister — als heiße Luft.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107720700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil.

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1107720800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man zu Handwerkern geht, findet man oft so eine kleine Tafel. Auf der steht: „Dank denen, die heimliches Streben durch pünktliches Zahlen stützen und heben." Ich glaube, in diesem einen Punkt sind wir uns sicherlich einig: daß die Novelle pünktlich kommt — das ist nicht immer so gewesen — und daß die Studenten zum Herbst 1988 die Bedarfssätze um 2 % erhöht erhalten und die Freibeträge um durchschnittlich 3 %. Ich glaube also, dem können wir doch wenigstens alle zunächst einmal zustimmen.
Wie stets bei den bisherigen Novellierungen wurden auch einige kleine Korrekturen angebracht; so Freibetragsänderungen im Zusammenhang mit den seit dem 1. Januar 1986 geltenden Verbesserungen des Familienlastenausgleichs, Vereinfachungen des Auswahlverfahrens beim leistungsabhängigen Darlehnserlaß sowie eine Modifizierung des studienzeitabhängigen Darlehnsteilerlasses durch den zweiten Stichtag. Ich sehe übrigens mit Interesse, daß Sie wiederum den Antrag einbringen, eigentlich die ganzen Teilerlasse zu streichen. Vielleicht kommen wir einmal auf dieses Thema zurück.

(Zuruf von der SPD: Mit Sicherheit!)

Eine Verordnungsermächtigung, die vom Haushaltsausschuß noch einmal überprüft werden wird — Sie haben davon gesprochen, Frau Odendahl —, wird erst 1989 zur Anwendung kommen. Sie ermöglicht es der Bundesregierung, Schüler mit auswärtiger Unterbringung beim Vorliegen schwerer sozialer Gründe ebenfalls zu fördern. Dies ist keine Abkehr von dem Prinzip, daß die auswärtige Unterbringung von bildungspolitischen Gründen abhängen soll. Hier soll nur bei den wenigen und schweren Fällen totaler familiärer Zerrüttung geholfen werden, die es bedauerlicherweise nun einmal gibt. Um es drastisch zu sagen: Eine Tochter eines Trinkers kann nicht gezwungen werden, zu ihm zurückzukehren, nur damit sie ihr BAföG bekommt. Ich glaube, daß man diese Freiheit haben muß. Ein Gesetz kann nicht jeden Einzelfall abdecken, aber eine Verordnung sollte das tun können.
Leistungsgesetze müssen sich aber auch Entwicklungen anpassen, die weit über den Einzelfall hinausgehen. Ein solcher Fall ist eingetreten mit der bestehenden europäischen Rechtslage. Auch Kinder von Staatsangehörigen aus EG-Mitgliedstaaten müssen in die Ausbildungsförderung für ein Auslandsstudium einbezogen werden. Der Vorgang zeigt, wie stark die europäische Wirklichkeit schon heute in den Alltag der nationalen Gesetzgebung hineinreicht.
Im Zusammenhang mit der auch diesmal durchgeführten Anhörung ist erneut die Frage gestellt worden, ob für bestimmte Studiengänge die Förderungshöchstdauer ausreichend sei. Im Zuge der Ausschußberatungen wurde von unserer Fraktion ein Modell befürwortet, das mehr Flexibilität ermöglichen sollte. Wir waren uns sehr wohl der Fahrt zwischen Scylla und Charybdis bewußt. Die in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen europäischen Ländern viel zu lange Studiendauer sollte nicht auch noch durch Ent-



Graf von Waldburg-Zeil
gegenkommen in der Förderungsfrage zusätzlich verlängert werden. Auf der anderen Seite besteht aber die Gefahr, daß der Student just in den arbeitsintensivsten Semestern aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen die Förderungshöchstdauer überschreitet und so in eine üble Lage kommt. Wir wollten das Problem durch Flexibilisierung und kostenneutral lösen helfen, aber der Koalitionspartner war der Ansicht, daß man die Ergebnisse des BAföG-Beirates abwarten sollte, der sich mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigt. Wir werden erneut über das Thema beraten, wenn der BAföG-Beirat sein Modell vorlegt.
Vor sieben Jahren, am 14. Mai 1981, habe ich übrigens zum ersten Mal in diesem Hohen Hause zu einer BAföG-Novelle gesprochen. Es war die 7. BAföG-Novelle. Mit der Unbefangenheit des Neulings habe ich damals ausgesprochen, was von der 11. bis zu 111. Novelle das Kernproblem sein wird:

(Zuruf von der SPD: So lange wollen Sie daran bleiben?)

So lange es noch eine Studentin oder einen Studenten gibt, die oder der vom Vater und nicht von Vater Staat ihren oder seinen Wechsel zum Lebensunterhalt erhält, bleibt die Diskussion unbefriedigt — ganz abgesehen von der Frage, ob man das dann verfügbare Geld zur Lebensunterhaltung ausreichend findet.
Meine Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, insofern ist es durchaus konsequent, daß Sie bisher immer gefordert haben, Ausbildungsförderung grundsätzlich unabhängig vom Elterneinkommen zu gewähren. Allerdings sehe ich, daß Sie jetzt in Ihrem Antrag von „Freibeträgen" sprechen, Sie sich also mittlerweile auch bequemt haben zur Realität des Systems; Sie nähern sich also auch der Notwendigkeit an, daß Politik Abwägung zwischen Wünschenswertem und Finanzierbarem bedeutet. Wenn man nämlich die völlig elternunabhängige Förderung von Studenten nicht anrechnete, wäre das ein Betrag von 15 Milliarden DM, also gänzlich unfinanzierbar.
Im Zuge der Beratungen der 11. BAföG-Novelle hat nun die SPD eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht, die jetzt als Entschließungsantrag vorliegen,

(Zuruf von der SPD: Sehr gute!)

gegen die ich gar nichts sagen möchte.

(Zuruf von der SPD: Das fällt auch schwer!)

Es ist nur so: Sie kosten insgesamt 1 Milliarde DM, und wir stoßen wieder auf dasselbe Problem.

(Frau Odendahl [SPD]: Ein Jäger! — Weiterer Zuruf von der SPD: Noch ein Jäger!)

Übrigens möchte ich kurz eine Rückfrage stellen dürfen, bzw. Sie werden es sicher nachher in der nächsten Rede beantworten: Sie schreiben in Ihrem Antrag, daß Sie die Differenz zwischen den Lebenshaltungskosten und den BaföG-Erhöhungen, die zwischen „ 1987 und 1982" entstanden seien, ausgleichen wollen. — Das muß wohl „1977 und 1982" heißen. Denn diese Differenz ist in der sozialliberalen Zeit entstanden, nicht in unserer Zeit. In unserer Zeit sind die Anpassungen nicht nur pünktlich, sondern auch entsprechend erfolgt.
Ich meine aber, daß wir mit dem Thema der Finanzierbarkeit auch an den Punkt stoßen, der uns in Zukunft weiter beschäftigen wird: welcher aus der Vielfalt wünschenswerter Forderungen der Vorrang eingeräumt werden muß und welches Modell geeignet ist, bestmögliche Lösungsansätze für Probleme bei geringstmöglicher Belastung des Haushalts zu bieten.
Damit bin ich bei der Drucksache 11/610, die ebenfalls Gegenstand der heutigen Debatte ist, dem „Bericht der Bundesregierung zur Ausbildungsfinanzierung in Familien mit mittlerem Einkommen" und den Konsequenzen, die sich aus diesem Bericht ergeben könnten.
Im Zuge vieler Anhörungen ist immer deutlicher geworden, daß das Problem nicht beim voll Geförderten, also bei dem Studenten liegt, der aus der einkommensschwächsten Familie kommt, sondern beim nur gering oder gerade nicht mehr geförderten Studenten. — Herr Minister, das ist natürlich das Problem. Sie haben sehr hohe Zahlen genannt: 63 000, 93 000. Die werden natürlich nicht mehr voll, sondern nur noch mit einem ganz kleinen Betrag gefördert.
Der Grund: Was der eine an zinslosem Darlehen mit Staatsausfallbürgschaft, großzügigsten Nachlaßbedingungen und sozialen Rückzahlungsmodalitäten für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung hat, muß beim anderen aus versteuertem Einkommen der Eltern bereitgestellt werden. Der Bundestag hat bereits am 15. Mai folgendes festgestellt und beschlossen — ich zitiere — :
Die Ausbildungskosten können heute oftmals von Familien mit mittlerem Einkommen, deren Kinder Förderungsleistungen nur in geringer Höhe oder überhaupt nicht erhalten, insbesondere dann, wenn sich mehrere Kinder gleichzeitig in der Ausbildung befinden, nicht oder unter nahezu unzumutbarer Absenkung ihres Lebensstandards aufgebracht werden. Zusätzlich betroffen sind die Familien dieser Einkommensschicht dadurch, daß sie in der Regel jede staatliche soziale Transferleistung knapp verfehlen.
Da nach Ansicht des Deutschen Bundestages diese Familien nun in einem weiteren Schritt gezielt entlastet werden sollten, wurde die Bundesregierung aufgefordert, eine detaillierte Analyse zu erstellen, Modelle zu ihrer Entlastung zu entwickeln und den hierfür erforderlichen Mittelaufwand zu berechnen.
Der am 13. Juli 1987 von der Bundesregierung vorgelegte Bericht hat die Befürchtung des Deutschen Bundestages bestätigt — ich zitiere wieder — :
Während in den unteren Einkommensbereichen bei einer Vollförderung durch das BAföG in etwa die gesamte Ausbildungsaufwendung abgedeckt werden kann, kann bei den mittleren Einkommensschichten, abgestuft nach der Zahl der Kinder, nur ein Bruchteil der Ausbildungsaufwendungen aufgefangen werden.
Eine besonders wichtige Feststellung des Berichts ist diese: Der überwiegende Teil der 17 % aller Familien, die in dieser schwierigen Situation stehen, bezieht Einkommen eben knapp über der Grenze der Förderung.



Graf von Waldburg-Zeil
Nun bietet sich zur Lösung zunächst ein ganz einfaches Modell an: die Anhebung der Freibeträge bei der Anrechnung des Elterneinkommens in der Ausbildungsförderung. Die Kosten hierfür liegen allerdings in einer Größenordnung zwischen 700 Millionen DM und 1,5 Milliarden DM, je nachdem wie weit man in der Einbeziehung mittlerer Einkommensbereiche gehen will. Auf jeden Fall stößt dieser Weg an finanzpolitische Tabus.

(Zuruf von der SPD: Wer stellt die Tabus denn auf?)

Ein weiterer Weg würde, ähnlich wie bei den Bausparverträgen, über eine Ansparförderung oder kollektives Bildungssparen führen; das ist das Modell von Professor Zink. Die Hauptschwierigkeit liegt hier in der Vorlaufzeit. Das Problem existiert hier und heute. Zwar wäre es schön, es in 20 Jahren gelöst zu wissen, aber das dauert zu lange.
So bewegt sich die Überlegung von der raschen Lösbarkeit bis zur Finanzierbarkeit hin zu Darlehensmodellen.
Das Modell Ausbildungsdarlehen nach Professor Oberhauser will den Familien die Möglichkeit einräumen, die staatlichen Entlastungsbeträge während der Ausbildungszeit wahlweise entweder — wie bisher — zur Erhöhung des verfügbaren Einkommens oder statt dessen für eine kreditäre Vorfinanzierung der Ausbildungskosten zu verwenden.
Das andere Modell ist im Grunde eine Variante des Oberhauserschen. Das Bildungskreditmodell sieht die Rückzahlungsverpflichtungen des Auszubildenden nicht als Regelfall vor, sondern trägt Bedenken aus dem Unterhaltsrecht Rechnung, indem Eltern und Auszubildende die Rückzahlungsmodalitäten frei vereinbaren.
Eine erste Tendenz zum Kreditmodell ergibt sich aus der Vorgeschichte. Ursprünglich war die studentische Ausbildungsförderung ein reines Zuschußmodell. Schon in der sozial-liberalen Regierungszeit wurde auf ein Mischsystem von Darlehensmodell und Zuschußanteil umgestellt.
In der neuen Koalition folgte dann die Umstellung auf das Volldarlehen, wobei u. a. maßgeblich die Überlegung Pate stand, daß es in einer demokratischen Gesellschaft nicht hinnehmbar ist, daß etwa ein Geselle, der über das Arbeitsförderungsgesetz einen Meisterkurs finanziert erhält, diese Vorfinanzierung aus dem späteren höheren Einkommen zurückzahlen muß, während einem Studenten, dem von seinen arbeitenden Altersgenossen bzw. deren Steuern die Möglichkeit vorfinanziert wird, später ein höheres Einkommen zu erzielen, dies angeblich nicht zugemutet werden konnte.
Trotz der Pflichtübungen studentischer Vertreter aller Richtungen bleibt festzustellen, daß das Darlehensmodell eine ganz hohe Akzeptanz besitzt. Die Befürchtungen, Kinder aus einkommensschwachen Familien hätten eine Scheu vor dem Darlehen — der Minister hat gerade darüber gesprochen — und ihr Anteil an den Studierenden werde deshalb sinken, bestätigen sich insofern nicht, als die Veränderung des Verhaltens von Abiturienten, die Studienberechtigung auch auszuüben, überwiegend mit den Chancen im Beschäftigungssystem zusammenhängen.
Zu der Motivation gibt es, glaube ich, sehr eindeutige Zahlen aus HIS-Untersuchungen. Im übrigen möchte ich auch noch einmal darauf verweisen, daß die Zahl der Studierenden nach dem Rückgang in den Jahren 1984 und 1985 erneut ganz gewaltig angestiegen ist.
Um nun die Quadratur des Zirkels zu erreichen, die Chancengleichheit für Studienwillige aus Familien mit mittlerem Einkommen herzustellen, ohne in die Region der Unfinanzierbarkeit zu geraten, empfiehlt es sich, das Darlehensmodell, das für Studenten aus einkommensschwachen Familien gilt, weiter zu entwickeln in ein Darlehensmodell, das den speziellen Bedürfnissen junger Menschen aus Familien mit mittlerem Einkommen angepaßt ist, die durch die Ausbildung mehrerer Kinder in erhebliche Schwierigkeiten kommen.
Da in diesen Einkommenslagen ein bestimmter Teil des Einkommens durchaus zur Verfügung steht, aber eben nicht der volle Betrag, könnte das Modell so aussehen, daß der Staat ein Angebot für günstig zu verzinsende Bildungskredite durch ein zentrales Kreditinstitut macht. Das Modell stellt keine Sozialleistung dar. Es garantiert nur Chancengerechtigkeit, indem der Vorgriff auf künftiges höheres Einkommen nicht nur für den Studenten möglich wird, der nach willkürlichen Definitionen aus einer einkommensschwachen Familie stammt, sondern auch für den, dessen Eltern aus versteuertem Einkommen die Aufwendungen bezahlen müssen bei gleichzeitigem Wegfall vieler direkter Transferleistungen, die in niedrigeren Einkommensverhältnissen bestehen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107720900
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1107721000
Wird es angerechnet?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107721100
Nein.

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1107721200
Bitte.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID1107721300
Herr Kollege, bei Ihren Ausführungen werde ich ein bißchen an meine eigene Ausbildung erinnert, die nicht ganz einfach war. Können Sie sich eigentlich in die Seele eines jungen Menschen hineindenken, der zufälligerweise keine Eltern hat, die über die entsprechenden Mittel verfügen?

Graf Alois von Waldburg-Zeil (CDU):
Rede ID: ID1107721400
Ja, Herr Kollege, ich kann mich sehr gut in ihn hineindenken,

(Dr. Penner [SPD]: Ich hoffe das!)

weil ich in meiner Abgeordnetensprechstunde immer wieder junge Menschen habe, die fragen: Wie komme ich dazu, noch ins Darlehensmodell hineinzukommen, das heute existiert?, weil das Einkommen ihrer Eltern aus irgendeinem Grunde gerade knapp über der Grenze liegt. Mit diesen Problemen befassen wir uns ja gerade.

(Dr. Penner [SPD]: Ja, ja!)




Graf von Waldburg-Zeil
Man könnte nun fragen, welchen Vorteil ein solches Modell überhaupt bietet, wenn es den Bund und die Länder eher wenig kostet. Frau Kollegin hat gesagt: „Was nix koscht, is nix." Es fallen Verwaltungskosten, Zinssubventionen und eventuelle Ausfallbürgschaften an. Der Wert des Modells liegt in der Funktion eines Rettungsankers. Schon bisherige Rückfragen in betroffenen Kreisen zeigen sehr deutlich, daß das Modell dann als wichtiges und richtiges Angebot angesehen wird, wenn anders der Studienwunsch eines studienbefähigten oder studienberechtigten Kindes nicht erfüllbar ist.
Die Beratung über die Beseitigung des „Mittelstandslochs" , unter welcher Bezeichnung das Problem derzeit abgekürzt behandelt zu werden pflegt, wird sich wohl auf vier Bereiche konzentrieren müssen:
Erstens: Die Finanzierbarkeit. Nach einer realistischen Schätzung werden von den in Frage kommenden Studenten bzw. deren Eltern höchstens 150 000 das Angebot wahrnehmen. Wenn man von einer Inanspruchnahme eines durchschnittlichen Betrags von 250 DM je Monat ausgeht — wohlgemerkt, es handelt sich ja um Streckung und Vorfinanzierung des nicht mehr zur Verfügung stehenden Betrags —, würden die Kosten im ersten Jahr mit 3,6 Millionen DM beginnen und auf einen Höchstbetrag von 32,7 Millionen DM — für Bund und Länder zusammen — im achten Jahr steigen.
Zweitens: Die Akzeptanz. Wie schon gesagt, würden viele Studenten und deren Eltern die Möglichkeit einer solchen Regelung als Ausweg sehen, sozusagen wenn alle Stricke reißen. Damit diese Funktion des Modells auch gewährleistet ist — so zeigt sich bereits im ersten Durchgang der Beratungen im Ausschuß —, kann man aber den Studenten aus Familien mit mittlerem Einkommen das nicht verweigern, was der geförderte Student aus einkommensschwacher Familie auf sich nimmt: die Eltern in ihrer Unterhaltspflicht zu entlasten und selber eine Bildungsinvestition zu tätigen, die aus künftigen höheren Einnahmen zurückgezahlt werden soll.
Drittens. Die Stimmigkeit und Anpassungsfähigkeit des Modells. Die Ausbildungsförderung ist ein Modell, das sicherstellen soll, daß Bildungsinvestitionen nach Eignung und Neigung, nach Lebensplan, aber auch nach Lebenssituation, nach Ausbildungsmarkt und nach Arbeitsmarkt jeder und jedem zugänglich bleiben sollen, unabhängig von der augenblicklichen finanziellen Situation der jeweils unterhaltspflichtigen Familie.
Frühere bildungsplanerische Vorstellungen gingen von auszuschöpfenden Begabungsströmen, von schichtenorientierten Abschlußprozenten, von qualitativ und quantitativ optimierten Bildungsangeboten aus. Wir müssen uns bequemen, zur Kenntnis zu nehmen, daß an die Stelle der verplanten Bildungseinheiten Menschen getreten sind, die selbstbestimmt ihr Verhalten am Bildungsmarkt einrichten, die Wege und Umwege wählen, die Abfolge bestimmen, vor allem aber andere Aufteilungen zwischen Erst- und Weiterbildung vornehmen. Auch hier stellt sich die Frage der Chancengerechtigkeit. Ein angepaßtes System des Bildungsdarlehens erlaubt es viel besser, auf
künftige neue Fragestellungen zu reagieren, als ein unfinanzierbares und auch die Selbstbestimmung letzten Endes konterkarierendes Zuschußsystem.
Viertens: Der europäische und internationale Kontext. Es darf nicht vergessen werden, daß wir vor der Vollendung des Gemeinsamen Marktes in der EG stehen. Mit einem Förderungssystem, das den Bildungsinvestitionsgedanken in den Mittelpunkt stellt, werden wir die auf uns zukommenden Probleme viel eher lösen können — denken wir etwa an die Länder mit Studiengebühren — als in einem System, in dem alle Europäer das deutsche Förderungssystem wählen, weil es auf die Realitäten keinen Bezug nimmt. Es versteht sich von selbst, daß das Modell noch in vielen Punkten weiter diskutiert werden wird und daß Verbesserungen vorgenommen werden müssen. Aber es darf nicht zu lange diskutiert werden, da es zu viele Menschen gibt, die dringend auf die Lösung ihres Problems warten, das zwar richtig erkannt worden ist, aber jetzt angepackt werden muß.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107721500
Das Wort hat der Abgeordnete Wetzel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107721600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mir steht mit sieben Minuten leider nicht die Fülle von Zeit zur Verfügung, die soeben Graf Waldburg-Zeil in Anspruch nehmen konnte, um eine Menge auch sozialtechnischer — wie ich zugebe: zum Teil hochinteressanter — Details zu entwickeln.
Aber nicht nur aus Zeitgründen kann ich das nicht, sondern ich will es auch nicht. Denn Sie haben am Anfang Ihres Beitrags sehr richtig ausgeführt, der vorgelegte Gesetzentwurf enthalte im wesentlichen nur kleine Korrekturen der bisherigen Entwicklung.
Deswegen gehe ich in meinem Beitrag darauf ein, was die politische Bedeutung des Gesetzentwurfs ist.
Nach dem, was Sie, Graf Waldburg-Zeil, vorgetragen haben, und nach den manche selbstbelobigenden Erklärungen des Ministers richtigstellenden Ausführungen der Kollegin Odendahl, die sich zum Teil völlig zu Recht auf der Ebene statistischer Interpretationen bewegten, komme ich dabei zunächst zu dem Ergebnis, daß vor diesem Hintergrund auch das 11. Änderungsgesetz zum BAföG allenfalls ein Stützpfeiler für die bildungspolitische Ruine ist, zu der diese Bundesregierung das Ausbildungsförderungssystem systematisch hat herunterkommen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

In diesem Änderungsgesetz ist — das ist der entscheidende Punkt — rein gar nichts mehr von dem sozial- und bildungspolitischen Leitgedanken zu erkennen, der in den Anfängen dieser Republik für alle Parteien — CDU, CSU, FDP und SPD; wir waren damals noch nicht vertreten, sondern waren mehr eine Reaktion auf diese verfehlte Politik — unter dem starken Einfluß beispielsweise des Nestors der katholischen Soziallehre, von Nell-Breuning, gemeinsamer Bestandteil des BAföG bzw. des Ausbildungsförderungsgedankens war, nämlich freier Zugang zu allen



Wetzel
Bildungseinrichtungen bei entsprechender Begabung und Leistung, und dies nach Maßgabe individueller Interessen und unabhängig von der Einkommenslage der Eltern.
Diesen Leitgedanken der Chancengleichheit im Bildungswesen hat die gegenwärtige Bildungspolitik völlig aufgegeben. Genaugenommen kann man bei BAföG und in anderen Bereichen von Bildungspolitik von einer solchen Politik im Sinne von Bildung überhaupt nicht mehr sprechen; denn Bildungspolitik ist zu einer Unterabteilung von Wirtschaftspolitik gemacht worden. Was diese Bundesregierung fälschlich Bildungspolitik nennt, orientiert sich fast ausschließlich an zwei Leitgrößen: erstens die Anpassung der Menschen an die Erfordernisse des technischen Fortschritts, der wie ein politisch nicht beeinflußbarer Selbstläufer angesehen wird, dem wir quasi schicksalhaft unterworfen sind, und zweitens die Anpassung der Ausbildungskapazitäten von Bildungseinrichtungen an die jeweilige Nachfrage auf den entsprechenden Arbeitsmärkten. Faktisch bedeutet das: Wirkliches Subjekt solcher Bildungspolitik ist nicht der demokratisch legitimierte Staat, sondern es sind die jeweils durchsetzungsfähigsten Wirtschaftsinteressen.
Demgegenüber sagen wir: Ausbildungsförderung, die sich als wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft versteht, kann und darf sich nicht auf derartige Zielsetzungen beschränken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ihr hat es darum zu gehen, möglichst vielen Menschen — und unabhängig von materiellen Bildungsprivilegien — die Teilhabe an von ihnen selbst frei gewählten Bildungsprozessen zu ermöglichen. Das ist nicht nur eine sozialpolitische Forderung, sondern eine genuin demokratische Forderung. Die Zukunft unserer immer komplexer werdenden Gesellschaft wird entscheidend davon abhängen, daß Bildungspolitik einer möglichst großen Zahl von Menschen die Chance bereitstellt, diese Komplexität zu verstehen, um sie demokratisch beherrschbar zu machen. Darauf kommt es in der Bildungspolitik an

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

und nicht auf die rigiden Fehlorientierungen ausschließlich an Arbeitsmarktgrößen.
Deswegen sagen wir, daß die Bildungspolitik dieser Bundesregierung, insbesondere ihre Förderungspolitik, darauf hinauslaufen wird, daß sich die herrschenden ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten immer mehr aus sich selbst heraus rekrutieren werden. Wir erleben einen Rückfall in geradezu feudalistisch zu nennende Verhältnisse; denn mehr denn je bestimmt das Einkommen der Eltern die Bildungschancen der Kinder. Hierzu sagen wir GRÜNEN ein klares und eindeutiges Nein. Gesellschaftliche Verantwortung gebietet es, dieser Bildungspolitik ein Ende zu setzen.
Die Auswirkungen der herrschenden Bildungspolitik sind erkennbar katastrophal. Wenn Sie mir als GRÜNEM nicht glauben, dann erinnere ich Sie an die Anhörungen, die wir vor zwei Monaten im Ausschuß durchgeführt haben. Es muß Sie doch stutzig gemacht
haben, daß alle 22 eingeladenen Verbandsvertreter und alle eingeladenen Sachverständigen in diesem Sinne argumentiert und klar identifiziert haben, wo das gegenwärtige Ausbildungsförderungssystem die ursprünglichen Zielsetzungen eindeutig nicht nur nicht erfüllt, sondern geradezu unterläuft.
Ich will dazu nur vier Punkte nennen; Wichtiges ist dazu bereits gesagt worden. Die Einkommensvoraussetzungen, unter denen BAföG gewährt wird — also die sogenannten absoluten und relativen Freibeträge der Eltern — , sind so bemessen, daß wir inzwischen bei der Quote der Geförderten mit 18 % einen absoluten Tiefstand erreicht haben. — Frau Präsidentin, darf ich die Zwischenfrage stellen, wieviel Zeit mir zur Verfügung steht? Habe ich insgesamt sieben Minuten oder nur fünf Minuten Redezeit?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107721700
Sie haben noch eine Minute.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107721800
Dann muß ich mich sehr knapp fassen.
Wir haben Ihnen eine Beschlußempfehlung vorgelegt. Ich will sie nicht in Einzelheiten ausführen. Ich will zum Abschluß nur noch auf einen Punkt kurz zu sprechen kommen. Dieses Argument, derartige Reformen zum BAföG verursachten zu große Kosten, ist für mich überhaupt nicht glaubwürdig. Von 2,3 Milliarden DM, die der Bund im Jahre 1982 für BAföG ausgegeben hat, sind wir inzwischen bei 1,4 Milliarden DM gelandet. Das heißt, BAföG ist zu einem wesentlichen Einspargebiet Ihrer verfehlten Steuerpolitik und sonstigen Politik geworden.
Gestern im Verteidigungsausschuß waren Sie lokker bereit — ich habe nichts von entsprechenden Interventionen des Ministers im Kabinett gehört —, 22 Milliarden DM für dieses Unsinnsprojekt Jäger 90 auszugeben.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Skandal!)

Ich meine, das Problem unseres Landes unter dieser Regierung ist nicht so sehr eine mangelnde Verteidigungsbereitschaft gegen einen Feind von außen; unser Problem ist der Mangel an Bereitschaft zu innerer Zukunftsvorsorge.
Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab und bitten Sie um Zustimmung zu unserer Beschlußempfehlung.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107721900
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (FDP):
Rede ID: ID1107722000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Wetzel, die Zeit läuft natürlich schnell weg, wenn man die ganze Philosophie in sieben Minuten unterbringen will. Ich sage das noch nicht einmal ironisch; ich meine das ganz ernst.
Graf Waldburg-Zeil, es reizt natürlich außerordentlich, auch auf Ihre weiten Horizonte einzugehen. Aber das ist mir hier leider ebensowenig möglich, wie Frau Odendahls Horrorvisionen Lichtvisionen entgegenzustellen. Es ist ja beides nicht realistisch; denn alles hat



Neuhausen
seine Tücken und hat seine guten und seine schlechten Seiten.
Wie man allerdings bei 1,41 Millionen Studenten, der höchsten Zahl an Studenten, die es je gab, eine solch düstere Perspektive in ihrer Stringenz entwikkeln kann, ist mir schleierhaft.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich habe zuwenig Zeit für Zwischenfragen.

Meine Damen und Herren, ich muß also wieder zu dem zurückkommen, was heute hier wirklich zur Debatte steht. Das ist die 11. Novelle. Das gerät ja etwas aus dem Blickwinkel. Sie hat ihre Bedeutung nicht zuletzt dadurch, daß sie die Regelmäßigkeit und die Kontinuität unserer Bemühungen um schrittweise Verbesserungen aufs neue unter Beweis stellt.
Die Zahlen sind hier so oft genannt worden, daß ich das nicht wiederholen will. Aber ich glaube, die Erhöhungen der Bedarfssätze, der Freibeträge und die übrigen Dinge sind durchaus Schritte, die sich bei den Betroffenen als Verbesserungen auswirken werden.
Meine Damen und Herren, es war natürlich zu erwarten, daß die Diskussion zu diesen konkreten Verbesserungen des BAföG in der 11. Novelle, über die allein wir heute entscheiden, auf grundsätzliche Fragen, Strukturfragen, Probleme von BAföG allgemein, übergreifen würde. Das kann ja gar nicht anders sein. Das war in den Ausschußberatungen so; das war in der Anhörung so, und das war auch heute so.
Aber wir, meine Damen und Herren, haben von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, daß wir zwischen dem, was in dieser 11. Novelle möglich und zweckmäßig ist, und dem, was in grundsätzliche und Strukturüberlegungen gehört, zu unterscheiden haben.
Graf Waldburg-Zeil hat liebenswürdigerweise darauf hingewiesen, daß wir diesen Standpunkt nicht nur gegenüber der Opposition, sondern auch innerhalb unserer freundschaftlichen Zusammenarbeit in der Koalition vertreten haben, nämlich nicht jetzt etwas zu beschließen, was Gegenstand der Evaluierung und der sich daraus ergebenden Diskussionen sein müßte und sollte.
Meine Damen und Herren, es gibt die Strukturprobleme, und es gibt die Strukturfragen. Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich das hier nicht ständig zu wiederholen brauche. Aber wir warten auf diesen Bericht. In einer Presseerklärung der Kollegen der SPD steht, man wolle diesem Evaluierungsbericht nicht vorgreifen, fordere aber dennoch dies und das. Sie fordern doch genau das, was auch Gegenstand dieser grundsätzlichen Überlegungen sein sollte. Ich verstehe ja, daß Sie das fordern; aber bitte verstehen Sie, daß ich es für unrealistisch halte.
Meine Damen und Herren, das, was man vermißt oder was man als Defizit empfindet, hängt natürlich von dem Erwartungshorizont, auch von dem zeitlichen Erwartungshorizont ab, in den man ein Problem stellt. Da haben Sie es natürlich leicht, das für marginal zu erklären, was uns schon sehr große Schwierigkeiten auch im Zusammenhang mit einzelnen Ländern, mit Finanzpolitikern und so weiter gebracht hat. Dies zu regeln war unsere Aufgabe. Sie können das anders sehen. Ich meine, wir haben Verbesserungen durchgeführt.
Jetzt muß ich mich noch einmal an den Herrn Vorsitzenden Wetzel wegen eines Zwischenrufes während der ersten Lesung wenden: Da sagte er, Pünktlichkeit sei eine Sekundärtugend. Ich will darauf noch einmal ganz kurz eingehen. Ich halte Stetigkeit, Regelmäßigkeit und auch Pünktlichkeit der Anpassung, die in dieser 11. Novelle zum Ausdruck kommt, eben nicht für marginal, auch wenn Sie das damals so sagten, denn sie führen ja im Ergebnis zu — von Ihnen kritisierten, von mir für vernünftig gehaltenen — konkreten Verbesserungen für konkrete Menschen in konkreten Situationen. Das ist immer etwas ganz Primäres. Darauf kommt es mir jedenfalls an.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107722100
Das Wort hat der Abgeordnete Kastning.

Ernst Kastning (SPD):
Rede ID: ID1107722200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mein lieber Freund Fritz Neuhausen, ich hätte gerne noch etwas zu dir gesagt, aber hier steht ja alles unter dem Zeitdiktat.
Die Ausbildungsförderung nach dem BAföG wird zu Recht immer wieder in den größeren Zusammenhang des Familienlastenausgleichs gestellt. Nun, meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang wird aber zugleich auch deutlich, daß die Lasten aus Erziehung und Ausbildung bzw. deren Anerkennung und Förderung sowohl im horizontalen Vergleich der Einkommensgruppen als auch im vertikalen Vergleich der Einkommen höchst unterschiedlich und ungerecht verteilt sind. Dafür möchte ich hier ein paar Beispiele nennen, damit niemand glaubt, er könne das alles mit dieser 11. Novelle verdrängen.
Die von den Regierungsparteien beschlossenen Kinderfreibeträge machen doch wohl reiche Familien zum Hauptnutznießer des von Ihnen, Herr Graf Waldburg-Zeil, propagierten Familienlastenausgleichs über das Steuerrecht.

(Kuhlwein [SPD]: Sehr richtig!)

Familien, die auf Grund ihres geringen Einkommens keine Lohn- oder Einkommensteuer zahlen, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger werden überhaupt nicht einbezogen, und ich denke, der Zuschlag zum Kindergeld ist wohl kein ausreichender Ausgleich dieses Nachteils.

(Beifall bei der SPD)

Zweiter Punkt: Der Kahlschlag beim SchülerBAföG, durch den in sehr vielen Fällen eine qualifizierte Ausbildung der Kinder nicht mehr verwirklicht werden kann, wird, so denke ich, auch nicht annähernd durch den steuerlichen Ausbildungsfreibetrag ausgeglichen, wie viele von Ihnen aus der Koalition jetzt im Zusammenhang mit der Steuerreform immer wieder glauben machen wollen. Er führt in der Praxis zu ähnlichen Verwerfungen wie der Kinderfreibetrag. Ich stimme Herrn Dr. Dams, der in der Anhörung dazu etwas gesagt hat, ausdrücklich darin zu, daß die Dualität des Familienlastenausgleichs — ich zitiere —



Kastning
„heute wahrscheinlich schärfer denn je zuvor ausgeprägt ist". Ich füge hinzu, Herr Mischnick: Diese Ausprägung geht auch künftig viel zu sehr in die Richtung der indirekten Entlastung mit der Bevorzugung derjenigen, die ohnehin ein hohes Einkommen haben.

(Kuhlwein [SPD]: Sehr richtig! — Frau Odendahl [SPD]: So ist das!)

Freibetragsregelungen sind — man beachte: mit den Worten der Bundesregierung gesprochen, die ich zitiere — „von ihrer Zielsetzung her nicht darauf angelegt, Eltern und Kindern in Ausbildung den Ausbildungsunterhalt verfügbar zu machen".
Nun, die Frage ist: Kommt die große familienpolitische Wirkung für die Ausbildung nun etwa mit der Änderung des Steuertarifs? Auch hier, Herr Minister Möllemann, haben Sie ja wieder so getan, als wäre es so. Ich wage das zu bezweifeln. Zum einen trifft die Änderung des Steuertarifs alle Familien, ob mit oder ohne Kinder, gleichermaßen; zum anderen wird der vermeintliche Steuervorteil durch den Finanzierungsteil des Steuerpakets 1990 und durch die geplante Erhöhung der Verbrauchsteuern für Normal- und Geringverdiener weitgehend oder in vielen Fällen auch völlig wieder aufgefressen.
Meine Damen und Herren, für eine wirkungsvolle und zugleich gerechte Lösung gibt es doch wohl keinen anderen Weg, als an die Stelle der steuerlichen Kinderfreibeträge ein gleiches und erhöhtes Kindergeld für alle Kinder zu setzen und für die Schaffung gleicher Ausbildungschancen die Förderung der Schüler nach dem BAföG wiederherzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

Das mindeste, was die Koalition bei einer ehrlichen Familienpolitik tun müßte, wäre aber doch wohl die Einführung eines einkommensabhängigen Ausbildungszuschlages zum Kindergeld, wie er übrigens auch aus den Reihen von Eltern- und Familienverbänden gefordert wird, und zwar von Verbänden, die ihnen von der Union besonders nahestehen. Meine Damen und Herren, es ist hier schon angesprochen worden: Die Lage der Familien mit mittlerem Einkommen beinhaltet eine besondere Problematik. Die Förderung nach BAföG läuft aus, das Kindergeld wird nur noch in verminderter Höhe geleistet, andererseits steigen die Auswirkungen der Steuerfreibeträge auf das verfügbare Einkommen nur geringfügig. Das Mehr an verfügbarem Einkommen der Familien gegenüber Kinderlosen ist in diesen Einkommensbereichen am geringsten. Die letzten drei Sätze waren aus dem von Ihnen schon genannten Familienbericht zitiert, Graf Waldburg.
Meine Damen und Herren, ich denke, dies alles spricht eindeutig für die von uns im Ausschuß beantragte kräftige Erhöhung der Einkommensgrenzen und eine verstärkte direkte Ausbildungsförderung mit Anpassung der Bedarfssätze, die wir hier zur zweiten Lesung auch wieder beantragen.
Es spricht auch für die in unserem Entschließungsantrag enthaltene Aufforderung an die Bundesregierung, die Auswirkungen der geplanten Steuerreform auf das BAföG zu überprüfen und bei negativen Auswirkungen entsprechende Ausgleichsmaßnahmen vorzusehen.
Meine Damen und Herren, auch das vom Minister und hier von Graf Waldburg-Zeil wieder vorgetragene bzw. in jüngster Zeit favorisierte Modell des Bildungskredits oder des Darlehens, wie Sie sagten, ist unter sozialen Gesichtspunkten und angesichts der langfristigen Belastung von Eltern und Studierenden keine Alternative. Frau Odendahl hat — gestern war es — irgendwo in einem Gespräch einmal gesagt: Die Folgen werden sein, daß der Familienverband als Dauerschuldengemeinschaft in Erscheinung treten wird. — Ob wir das wollen, weiß ich nicht. Wir müßten uns darüber noch weiter auseinandersetzen.

(Zuruf von der SPD: Das verbindet!)

Sie, Graf Waldburg, haben vorhin von dem Rettungsanker gesprochen. Ich möchte ein anderes Bild wählen. Der Bildungskredit ist in meinen Augen so etwas wie ein Maueranker, mit dem man ein brüchig gewordenes Gebäude zusammenhält, der aber an der Bausubstanz — sprich: an der Struktur — keinen Deut ändert.
Meine Damen und Herren, ich denke, die strukturellen Mängel des BAföG sind mit der 11. Novelle nicht ernsthaft angegangen, geschweige denn beseitigt worden. Ich denke auch, daß das finanzielle Tabu, das nicht von Natur aus gegeben, sondern von den Regierungsparteien aufgestellt worden ist, gebrochen werden muß; denn unter dem Gesichtspunkt der Kostenneutralität oder gar dem weiteren Abbau des BAföG-Plafonds ist keine vernünftige Reform zu haben. Darüber sollten wir uns im klaren sein.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107722300
Das Wort hat die Berichterstatterin, Frau Abgeordnete Odendahl.

Doris Odendahl (SPD):
Rede ID: ID1107722400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe zur Drucksache 11/2224 eine kleine Korrektur anzubringen, auf die uns dankenswerterweise Graf Waldburg aufmerksam gemacht hat. Es handelt sich wahrscheinlich um einen Übertragungsfehler bei der Begründung zu Punkt 2. und 3.; man sieht es auch an der geänderten Schrift. Da muß es heißen:
Mit der Anhebung der Bedarfssätze um durchschnittlich 4 v. H., die deutlich über dem für 1988 geschätzten Anstieg der Lebenshaltungskosten liegt, soll die in dem Zeitraum
— jetzt kommt die Korrektur —
zwischen 1971 und 1987 unzureichend erfolgte Anpassung der Bedarfssätze an die Lebenshaltungskosten wenigstens teilweise ausgeglichen werden.
Wir möchten das zu Protokoll geben, damit es seine Richtigkeit hat.

(Kuhlwein [SPD]: Sehr gut!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107722500
Danke schön, Frau Kollegin.
Damit sind wir am Ende dieser Aussprache, und wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung.



Vizepräsident Frau Renger
Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschußfassung anzunehmen. Zum Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2224 vor. Wer diesem Änderungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Bei einigen Enthaltungen und Gegenstimmen der SPD-Fraktion ist das angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Gibt es einzelne Enthaltungen? — Wenn ich es richtig sehe, haben sich die beiden Koalitionsfraktionen und die SPD für diesen Gesetzentwurf entschieden, und die Haltung der Fraktion der GRÜNEN war etwas unklar. Sie haben sich dagegen ausgesprochen?

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

— Dann ist das richtig festgehalten.
Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung angenommen.
Wir kommen nunmehr zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2225 und dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2239. Für beide Anträge wird Überweisung gewünscht, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Finanzausschuß und den Haushaltsausschuß. — Damit ist dies beschlossen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 17 b, dem Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Der Bericht liegt vor. Hier ist nur Kenntnisnahme zu bestätigen. — Das ist geschehen. Ich danke Ihnen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung Zehnter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG)

— Drucksache 11/1693 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß (federführend)

Petitionsausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und Technologie
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Blens.

Dr. Heribert Blens (CDU):
Rede ID: ID1107722600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zehnte Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist der letzte Bericht, den der derzeitige Amtsinhaber, Herr Dr. Baumann, vorlegt, bevor er aus dem Amt ausscheidet. Lassen Sie mich deshalb zu Beginn ein paar Sätze nicht über den Tätigkeitsbericht, sondern über denjenigen sagen, der diesen Bericht erstattet hat.
Datenschutz ist der Schutz des Bürgers davor, daß der Staat in sein verfassungsrechtlich geschütztes Persönlichkeitsrecht dadurch eingreift, daß er die Daten seiner Bürger erhebt, verwertet oder weitergibt, ohne daß dies zur Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben zwingend erforderlich ist. Datenschutz heißt deshalb Abwägen zwischen dem Bürgerrecht auf Selbstbestimmung über die eigenen Daten auf der einen Seite und den Erfordernissen staatlicher Aufgabenerfüllung auf der anderen Seite. Maßstab der Abwägung ist der Grundsatz der Erforderlichkeit. Da, wo der Datenschutz steht, steht auch der Datenschutzbeauftragte, nämlich zwischen dem Bürger, der weitgehenden Grundrechtsschutz erwartet, und dem Staat, der in der Lage sein muß, seine verfassungsmäßigen Aufgaben im Interesse der Bürger optimal zu erfüllen. Genau an dieser Stelle stand und steht zur Zeit auch noch der jetzt ausscheidende Amtsinhaber, Herr Dr. Baumann.
Ich meine, er hat alles, was ihn zu dieser Mittlerstellung zwischen Bürger und Staat befähigt: Er hat die Sensibilität gegenüber den Ängsten von Bürgern, die sich einem staatlichen Apparat gegenübersehen, den sie schon wegen seiner Größe nicht übersehen und kaum kontrollieren können. Er hat die Erfahrung des altgedienten Verwaltungsmannes, der aus eigener Anschauung weiß, daß Verwaltungen dazu neigen, mehr Daten zu sammeln und zu verwahren, als für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist, und sie das oft meist schon deshalb tun, weil sie es nach dem alten Beamtengrundsatz schon immer so gemacht haben. Aus derselben Erfahrung des altgedienten Verwaltungsmannes heraus weiß Herr Baumann auch, daß jede Verwaltung Daten nötig hat, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
Es kommt hinzu, daß Sie, Herr Dr. Baumann, weder ein Mann der Regierung noch ein Mann der Opposition noch ein Mann irgendeiner Partei sind. Sie sind ein unabhängiger Mann, und ich meine, das hat wesentlich zum Erfolg Ihrer Arbeit beigetragen.
Der Erfolg Ihrer Arbeit zeigt sich daran, daß es Ihnen gelungen ist, bei der Formulierung von Gesetzentwürfen in den Ministerien, bei den Gesetzesberatungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages — nicht zuletzt im Innenausschuß — und bei der Beratung Ihrer Tätigkeitsberichte wenn auch nicht alle, so aber doch einen sehr großen Teil Ihrer Vorschläge durchzusetzen. Diese Erfolge verdanken Sie der Qualität Ihrer Argumente, der Überzeugungskraft



Dr. Blens
Ihrer Person und nicht zuletzt Ihrer wirklich ganz beachtlichen Hartnäckigkeit, unter der wir — das muß ich sagen — manchmal auch gelitten haben.
Wir alle haben Ihnen für Ihre Arbeit zu danken. Da ich Ihnen auch etwas für die Zukunft wünschen möchte, wünsche ich Ihnen außer dem Üblichen, das man einem ausscheidenden Beamten so wünscht, vor allen Dingen einen Nachfolger, der die Qualitäten und Eigenschaften besitzt, die Sie in den letzten Jahren zu einem guten Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemacht haben. Ich wünsche Ihnen auch in diesem Sinne alles Gute für die Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD — Zuruf von der SPD: Starker Beifall bei den Koalitionsfraktionen!)

— Auf allen Seiten, wenn ich es richtig gesehen habe.
Meine Damen und Herren, daß die Arbeit des Datenschutzbeauftragten auch im vergangenen Jahr erfolgreich war, zeigt schon die Bilanz, die der Datenschutzbeauftragte auf den letzten Seiten des Zehnten Tätigkeitsberichtes aufmacht. Er zählt dort insgesamt 33 Beanstandungen und Verbesserungsvorschläge auf, die er im Neunten Tätigkeitsbericht gemacht hatte, und berichtet darüber, was daraus geworden ist. 20 dieser 33 Punkte sind positiv erledigt worden. Weitere Punkte sind inzwischen in der Berichterstatterrunde zur Beratung des Neunten Tätigkeitsberichtes zufriedenstellend gelöst worden. Nur ganz wenige Fälle konnten bisher noch nicht gelöst werden. Ich meine, wenn das möglich war, dann war es nicht möglich ohne die Mitwirkung der betroffenen Behörden.
Dieses gute Ergebnis ist meines Erachtens der Beweis für die Richtigkeit der Feststellung im zehnten Datenschutzbericht, daß sich das Datenschutzbewußtsein in nicht wenigen Bereichen der Verwaltung — und dazu gehören auch die Ministerien — erfreulich verbessert hat und daß dort Bemühungen unternommen werden, die Datenverarbeitung und den Datenschutz auch vor Verabschiedung entsprechender Gesetze den Grundsätzen des Volkszählungsurteils anzupassen.
Ich will hier nicht auf Einzelheiten des Berichtes eingehen; das ist Sache der Ausschußberatungen. Ich hoffe, daß der zehnte Datenschutzbericht genauso intensiv beraten wird wie der Achte und Neunte Tätigkeitsbericht, dessen Beratungen in der Berichterstatterrunde des Innenausschusses zu einer ganzen Reihe erfreulicher Ergebnisse geführt hat. Ich will hier nur auf zwei Punkte des zehnten Berichts eingehen, nämlich auf die Entwicklung der Rechtsprechung zum Datenschutz und auf die Anmerkungen zum Gesetzgebungsverfahren.
Ich will nichts zu der Frage sagen, ob die Konsequenzen, die eine immer größere Zahl von Gerichten aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts zieht, richtig sind oder nicht. Entscheidend ist, daß eine zunehmende Zahl von Gerichten die Datenverarbeitung öffentlicher Verwaltungen wegen Fehlens der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen für unzulässig erklärt. Ich stimme deshalb ohne jede Einschränkung zu, wenn es in dem Bericht des Datenschutzbeauftragten heißt — ich zitiere — :
Als besonders folgenreiche Auswirkung des Volkszählungsurteils ist es zu werten, daß die Gerichte dazu übergehen, insbesondere Teile polizeilicher Datenverarbeitung für unzulässig zu erklären, weil es an den hierfür erforderlichen Rechtsgrundlagen fehlt, wie sie nach den Grundsätzen des Volkszählungsurteils unerläßlich sind .. .
Ich stimme auch zu, wenn es in dem Bericht heißt, daß sich die Verantwortlichen darüber im klaren sein müssen, daß die Tendenz zu einer solchen Einschätzung der Rechtslage zunimmt und der Zeitpunkt abzusehen ist, zu dem die Gerichte in vielen Bereichen die gegenwärtigen Rechtsgrundlagen nicht mehr als ausreichend anerkennen und daher Datenverarbeitung in großem Umfang für rechtswidrig erklären werden.
Diese absehbare Entwicklung macht es zwingend erforderlich, noch in dieser Wahlperiode diejenigen Gesetze zu verabschieden, die notwendig sind, um den Datenschutz entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gesetzlich abzusichern und gleichzeitig die Datenverarbeitung als Instrument staatlicher Aufgabenerfüllung nach dem Maßstab des Grundsatzes der Erforderlichkeit zu gewährleisten. Jeder, der im Parlament und in der Regierung Verantwortung für die Funktionsfähigkeit öffentlicher Verwaltungen trägt, muß sich darüber im klaren sein, daß er seiner Verantwortung nur dann gerecht wird, wenn er dazu beiträgt, noch in dieser Wahlperiode die für die Datenverarbeitung erforderlichen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.
Die Regierungsparteien haben in ihrer Koalitionsvereinbarung für diese Wahlperiode insgesamt 15 Gesetze aufgeführt, die entweder novelliert oder neu geschaffen werden müssen, um den Grundsätzen des Volkszählungsurteils Rechnung zu tragen.

(Dr. Nöbel [SPD]: Dann mal viel Spaß!)

Dazu sind eine Reihe von Leitlinien vereinbart worden, bei denen es darum geht, das Grundrecht des einzelnen Bürgers auf den Schutz seiner persönlichen Daten mit den Aufgaben der Sicherheitsbehörden in Einklang zu bringen, das Grundrecht der Bürger auf ein Leben in Sicherheit auch durch eine gesetzlich geregelte Datenverarbeitung wirksam schützen zu können. Es wird Aufgabe des vor uns liegenden Gesetzgebungsverfahrens sein, diese Leitlinien in konkrete gesetzliche Bestimmungen umzusetzen. Das wird ohne jeden Zweifel ein großes und schwieriges Stück Gesetzgebungsarbeit sein.
Es wird auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten darüber geben, welche Einschränkungen des Grundrechts auf den Schutz persönlicher Daten im Einzelfall im Interesse der Funktionsfähigkeit staatlicher Aufgabenerfüllung erforderlich sind. Aber ich bin sicher, daß wir bei allseits gutem Willen noch in dieser Wahlperiode alle Streitfälle lösen und alle vorgesehenen und erforderlichen Gesetze novellieren bzw. neu schaffen können, um sowohl den Datenschutz als auch die staatliche Datenverarbeitung auf eine gesicherte gesetzliche Grundlage zu stellen.
Ich hoffe natürlich, meine Damen und Herren, daß uns auch in Zukunft bei unseren Beratungen das sach-



Dr. Blens
verständige Urteil des Bundesdatenschutzbeauftragten zur Verfügung stehen wird. Wenn mein am Anfang geäußerter Wunsch in Erfüllung geht, d. h. der nächste Datenschutzbeauftragte die gleichen Qualitäten hat, wie der jetzige, Herr Dr. Baumann, wie Sie, dann bin ich sicher, daß unsere Beratungen mit seiner Hilfe zu einem guten Ergebnis führen werden. Ich füge jetzt noch hinzu: Wenn das nicht ausreichen sollte, Herr Baumann, werden wir Sie als unabhängigen Sachverständigen holen.
Damit mache ich Schluß und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107722700
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg (Berlin).

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1107722800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren wurden das Bundesdatenschutzgesetz und die Institution des Datenschutzbeauftragten von der sozialliberalen Koalition geschaffen. Dieses hat sich zu einem Glücksfall für unsere Demokratie entwickelt. Das liegt auch daran, daß die beiden Datenschutzbeauftragten, die bisher dieses Amt innehatten, nämlich Herr Bull und Herr Baumann, in überzeugender und verantwortungsvoller Weise ihr Amt ausgefüllt haben.
Demnächst wird Herr Baumann ausscheiden. Es wird sich gerade bei der Neubesetzung dieser Stelle zeigen, ob die Bundesregierung gewillt ist, die Aufgabe des Datenschutzbeauftragten zu bestätigen und zu stärken, oder ob man dieses Amt in seiner Bedeutung zurückschneiden will.
Wir Sozialdemokraten fordern die Bundesregierung dringend auf, eine profilierte, unabhängige Persönlichkeit zum Bundesdatenschutzbeauftragten zu ernennen.
Ich fand es sehr erfreulich, was Sie dazu gesagt haben, Herr Blens, bloß das, was man an Namen aus dem Bundesinnenministerium im Vorlauf gehört hat, war nun nicht gerade dazu angetan, einen vor Freude im Viereck springen zu lassen. Ich glaube, es war wohl genau das Gegenteil.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Deshalb hat er es auch gesagt, was ihn ehrt!)

Man wird sehen, wie weit sich solche Ansichten, wie Sie sie hier geäußert haben, durchsetzen können.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107722900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1107723000
Ja.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1107723100
Herr Kollege Wartenberg, wären Sie so freundlich, einmal nachzulesen, mit welchen freundlichen Begleittönen die damalige SPD die Berufung von Herrn Dr. Baumann begleitet hat, und würden Sie vieleicht hier feststellen, daß Sie sich damals mit dieser negativen Beurteilung getäuscht haben?

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1107723200
Ich glaube, daß man ehrlicherweise darauf hinweisen muß, daß natürlich in dem Augenblick, in dem der Datenschutzbeauftragte der sozialliberalen Koalition abgelöst wurde, bei der Opposition eine große Skepsis herrschte, als von Herrn Zimmermann ein neuer Datenschutzbeauftragter ins Amt eingeführt wurde. Ich muß Ihnen aber sagen: Man kann ja auch einmal positiv überrascht sein. Herr Baumann hat wirklich sehr positiv bestätigt, daß eine unabhängige Persönlichkeit dieses Amt zur Zufriedenheit — übrigens insbesondere der Opposition — ausfüllen kann.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie werden Gelegenheit zur Wiederholung haben!)

Sie hatten damit sehr viel mehr Ärger. So soll es ja auch sein.
Wenn ich an den Herrn denke, der dieses Amt in Bayern ausübt — na ja, gut.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Bleiben Sie unbesorgt!)

Wir werden sehen. Auf jeden Fall: Bei Herrn Innenminister Zimmermann ist es immer notwendig, sorgenvoll zu sein. Da kommt meistens nichts zustande.
Meine Damen und Herren, das zu erwartende erneute Gezerre um die Besetzung der Stelle des Datenschutzbeauftragten hat die Sozialdemokraten veranlaßt, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten,

(Frau Schmidt-Bott [GRÜNE]: „Erarbeiten" ist gut! Das ist bei uns abgeschrieben!)

der in den nächsten Wochen dem Bundestag vorgelegt werden wird. Wir sind der Meinung, daß sich die Institution des Bundesbeauftragten für den Datenschutz bewährt hat.
Mit der von uns beabsichtigten Verfassungsänderung — das ist etwas anderes als das, was Sie von den GRÜNEN wollen — soll die Stellung dieser Institution gestärkt werden. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der bisher im Bereich des Bundesinnenministers als Selbstkontrollorgan der Exekutive angesiedelt war, soll in Zukunft als Kontrollorgan des Parlaments ausgestaltet und diesem zugeordnet werden. Die vorgesehenen Regelungen sind den Vorschriften über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages nachgebildet. Dies werden wir wohl auch im Zusammenhang mit der Gesamtnovelle zum Datenschutzgesetz, die wir demnächst auch einbringen werden, diskutieren.
Ich möchte etwas zur Behandlung der Datenschutzberichte im Deutschen Bundestag insgesamt sagen. So langsam hat sich auch unter den Abgeordneten herumgesprochen, daß das von ziemlich großer Bedeutung ist. Der Innenauschuß jedenfalls gibt sich seit langem sehr viel Mühe und nimmt sich in den Berichterstattergesprächen sehr viel Zeit, um dort die Dinge mit der Verwaltung und dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz zu klären. Wir versuchen gemeinsam, den Monita gerecht zu werden.
Leider muß man sagen, daß sich nach wie vor ein Teil der Ausschüsse des Bundestags für die inhaltlichen Monita, für die sie zuständig sind, kaum interessieren. Wir haben immer noch Ausschüsse, in deren Beschlußempfehlung nichts weiter steht, als daß man



Wartenberg (Berlin)

den Datenschutzbericht zur Kenntnis genommen hat.
Ich fordere alle übrigen Ausschüsse auf, den Datenschutzbericht für ihren Bereich intensiv zu prüfen und die Monita des Datenschutzbeauftragten ernst zu nehmen. Das ist keine Angelegenheit nur des Innenausschusses. Gerade bei der Reform des Gesundheitswesens zeigt sich, daß der Datenschutz in weiten Bereichen für den Bürger ganz extreme Auswirkungen haben kann. Das ist inhaltlich auch eine Frage der zuständigen Fachauschüsse.
Ich sage das nicht allen Fachausschüssen gegenüber mit negativem Touch. Wir haben einige Ausschüsse, die das sehr vernünftig machen. Es gibt aber genug wichtige Ausschüsse, bei denen das immer noch eine viel zu geringe Rolle spielt.
Zu den Berichterstattergesprächen will ich jetzt nichts sagen, weil wir, wenn wir die Beschlußempfehlung für den Achten und Neunten Datenschutzbericht hier im Parlament beraten, dazu wahrscheinlich noch eine Debatte haben werden. Dann sollte man etwas ausführlicher darauf eingehen.
Herr Blens, auch Sie haben auf das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts zurückgegriffen. Ich kann nur sagen, daß nach wie vor nicht überzeugend ist, daß die Bundesregierung nicht in der Lage ist, die Anforderungen dieses Urteils umzusetzen. Sie haben von 15 Gesetzesvorhaben gesprochen, die die Koalition in Arbeit hat. Ich kann nur sagen: denn man tau. Ich glaube, daß in dieser Legislaturperiode höchstens ein oder zwei Gesetzesvorhaben erledigt werden können, denn die Handlungsunfähigkeit der Regierung im innenpolitischen Bereich ist offensichtlich. Dort wird sich die Koalition weiterhin selbst blockieren. Da wird wohl wenig zustande kommen.
Der Effekt ist natürlich, daß die Bürger gerade bei einschneidenden Bereichen der inneren Sicherheit dadurch, daß gemäß Volkszählungsurteil keine gesetzlichen Grundlagen vorhanden sind, letzten Endes nicht ausreichend geschützt sind. Das heißt, für uns ist ein Übergangsbonus nicht mehr gegeben. Wir von der SPD-Fraktion hatten in der letzten Woche eine Anhörung zu einer möglichen Novellierung der Strafprozeßordnung. Alle Experten waren einhellig der Meinung, daß die Regierung in der Pflicht ist, sofort etwas zu tun, und daß der Übergangsbonus abgelaufen ist. Dieses, glaube ich, ist eine Forderung an die Regierung, die aber offensichtlich nicht zu erfüllen sein wird, weil sie handlungsunfähig ist. Wenn ich mir nur die Akteure hier so anschaue, dann wird wohl davon wenig herüberkommen. Die Regierung muß aber wissen, was dann auch an Problemen auf sie zukommt. Aber das Problem der Regierung würde uns nicht so sehr interessieren, wenn nicht eben Bürger davon betroffen wären.
Die Tatsache, daß das nicht umgesetzt worden ist, hat sich ganz besonders auch auf einige neu errichtete Dateien ausgewirkt. Wir haben festgestellt, daß der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem Zehnten Datenschutzbericht insbesondere noch einmal auf die Problematik der APIS-Datei hingewiesen hat. Diese Verbunddatei ist, nachdem sie ohne gesetzliche Grundlage geschaffen wurde, gerade in Verbindung mit der Volkszählung in einer Art und Weise benutzt worden, daß man wohl von einem Skandal sprechen kann. Die Tatsache, daß dort aus einer Datei, die eigentlich für terroristische Schwerstkriminalität geschaffen wurde, plötzlich von Landeskriminalämtern Daten von Personen geliefert worden sind, die den Volkszählungsbogen beschädigt hatten, zeigt sehr deutlich, daß hier eine Verhaltensweise eingerissen ist, die einfach jeglicher Vernunft entbehrt und die auch nicht mit den Ansprüchen des Volkszählungsurteils übereinstimmt.
Aber das ist nicht das einzige Problem dabei. Ein weiteres Problem ist, das nicht geklärt ist, wie eigentlich solche Verbunddateien rechtlich einzuordnen sind. Es gibt keinen Erstbesitzer der Datensätze mehr: alle Landeskriminalämter plus Bundeskriminalamt können gleichberechtigt in diesen Datensätzen „herumfuhrwerken" . Daraus ergibt sich natürlich auch die Frage der Verantwortlichkeit, wer eigentlich dafür zuständig ist, daß bestimmte Datensätze richtig sind. Dies ist wieder eine Problematik der Kontrolle des Bundestagsinnenausschusses oder des Bundestages insgesamt. Zukünftig werden wir wohl gezwungen sein, nicht nur den Datenschutzbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten, sondern auch noch die zehn Berichte der Landesdatenschutzbeauftragten zu lesen, wenn es um Verbunddateien geht, weil natürlich geklärt werden muß, ob bestimmte Bundesländer Fehler gemacht haben. Nur so können die Verbunddateien insgesamt vom Bundestag bewertet werden.
Ich glaube, das ist eine Problematik, die so nicht hingenommen werden kann. Dort muß Klarheit geschaffen werden, die sich auch in der Verantwortlichkeit abzeichnen muß. Diese Form einer quasi Mischverwaltung muß wohl auch noch einmal verfassungsrechtlich überprüft werden. Ich halte das nicht schlichtweg für irgendein organisatorisches Problem. Vielmehr ist das ein Problem, das den einzelnen Bürger tangiert, wenn verschiedene Stellen Daten von Bürgern austauschen können und letzten Endes jede Stelle, die dann dieser Verbunddatei angeschlossen ist, in diesen Datensatz hineinwirken kann.
Meine Damen und Herren, auch ich möchte zum Abschluß noch einige Worte an Herrn Dr. Baumann richten. Ich habe schon auf die Zwischenfrage gesagt, daß gerade die Opposition mit der Arbeit des Bundesdatenschutzbeauftragten sehr zufrieden gewesen ist. Wir glauben, daß die Arbeit von Herrn Dr. Baumann dazu geführt hat, daß die Grundsätze der informationellen Selbstbestimmung sehr viel stärker in unserer Gesellschaft verankert worden sind. Die Beharrlichkeit und die Sachkunde, mit der die anstehenden Fragen bei Gesetzesberatungen, aber eben auch bei den Datenschutzberichten immer wieder in die Debatten im Innenausschuß oder an anderen Stellen von ihm hineingebracht worden sind, haben auch für die Opposition eine ganz starke Hilfe bezüglich der Information bedeutet. Auch eine Opposition ist ja in diesem Bereich auf Information angewiesen.
Wir möchten uns noch einmal sehr herzlich für die Zusammenarbeit bedanken und Ihnen alles Gute für die nächste Zukunft wünschen.
Meine Damen und Herren, ich habe darauf verzichtet, auf weitere Details dieses Datenschutzberichtes



Wartenberg (Berlin)

einzugehen. Das werden wir bei der Beratung in den Ausschüssen tun. Ich hoffe nur, daß es das erste Mal möglich sein wird, daß ein Datenschutzbericht in dem Jahr, in dem der Datenschutzbeauftragte ihn dem Parlament überweist, auch tatsächlich vom Parlament zu Ende beraten wird und daß nicht immer zwei, drei Datenschutzberichte auf einmal beraten werden. Dies dient auf keinen Fall der Sache.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107723300
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1107723400
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Zehnte Datenschutzbericht beschäftigt sich nach der Struktur unserer Gesetze allein mit der Datenverarbeitung im öffentlichen Bereich im Gegensatz zu manchen Länderberichten. In der Tat ist die Datenverarbeitung auch im privaten Bereich denkbar interessant. Herr Kollege Wartenberg, wenn Sie die Länderberichte bis zu diesem Tage nicht gelesen haben sollten, tun Sie es. Es ist wirklich sinnvoll und gibt manchen weiteren Aspekt zu dem, was wir hier im Bundesdatenschutzbericht sehen: Interessante Hinweise zur Datenverarbeitung im Bereich des Deutschen Bundestages, zur inneren Verwaltung, beim Personalwesen, bei ZEVIS — wie dieses Zauberwort heißt — , zur Wissenschaftsklausel, die in der Tat niemanden befriedigen kann, zu den Problemen der Sozialgesetzgebung und schließlich zum Sicherheitsbereich. Mit allen diesen Fragen werden wir uns in Kürze bei der Behandlung des Achten und Neunten Datenschutzberichts hier im Plenum befassen können. Ich will das heute nicht vorwegnehmen.
Da es sich um den letzten Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten Dr. Baumann handelt, möchte ich ebenso wie meine Vorredner zunächst etwas zu seiner Tätigkeit sagen.
Bei Ihrer Benennung, Herr Dr. Baumann, vor acht Jahren, gab es skeptische Fragen, nach welchen Kriterien Sie ausgewählt worden seien und ob Sie als ein aus der Verwaltung kommender Laufbahnbeamter die innere Freiheit gewinnen würden, die notwendig ist, um die Aufgaben des Datenschutzbeauftragten zu erfüllen. Heute sehen wir Sie mit Bedauern scheiden. Sie haben Ihre Aufgabe mit großer innerer Unabhängigkeit, mit Umsicht, Sachkenntnis und Augenmaß und innerem Engagement erfüllt. Wir wissen, daß das nicht immer leicht war. Das gilt übrigens auch für Ihre Mitarbeiter. Wir haben es als unbefriedigend empfunden, daß wir nicht in der Lage gewesen sind, die Behörde des Datenschutzbeauftragten nach Umfang und Qualität so mit Stellen auszustatten, wie es der Aufgabenbelastung und der Bedeutung entspricht.
Herr Dr. Baumann hat auch das Vertrauen unserer Fraktion gewonnen und damit eine wichtige Voraussetzung erfüllt, ohne die ein Datenschutzbeauftragter nicht wirklich erfolgreich arbeiten kann. Er braucht das Vertrauen des Parlaments, übrigens auch der Opposition; er braucht im Bundestag Partner, die den Datenschutz nicht als überflüssigen Luxus betrachten,
sondern als den notwendigen Schutz der Privatsphäre unter den Bedingungen der modernen Technik.
Der Schutz der Privatsphäre ist für eine freie Gesellschaft konstituierend. Durch ihn unterscheidet sich eine freie Gesellschaft von einem total erfaßten Staat. Darum möchte ich feststellen, daß der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Dr. Baumann, sich um das Vertrauen des Bürgers in den Staat und um die Freiheitlichkeit unserer Gesellschaft außerordentliche Verdienste erworben hat. Dafür möchten wir Ihnen herzlich danken.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Dieselbe Zufriedenheit gilt allerdings nicht bezüglich des Zustandes, in dem sich die Gesetzgebung zum Schutz der Privatsphäre befindet. Das Volkszählungsurteil ist über vier Jahre alt, der Übergangsbonus ist abgelaufen, die Erwartung, daß die Rechtsprechung manche Forderungen des Volkszählungsurteils zurücknehmen würde, hat sich erfreulicherweise nicht erfüllt. Das Verfassungsgericht hat noch im letzten Jahr seine Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt und eine sich mehrende Zahl von verwaltungsgerichtlichen Urteilen, insbesondere zur Auskunftspflicht, haben inzwischen Grundsätze des Volkszählungsurteils in geltendes Recht überführt und gehen von dem Grundsatz aus, daß manche Datenverarbeitung, für die es keine ausdrückliche Rechtsgrundlage gibt, dementsprechend rechtswidrig ist und unterlassen werden muß.
Das ist auch richtig, weil die fehlenden rechtlichen Grenzen der Datenverarbeitung nicht nur das Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber einer intensiven und extensiven Datenverarbeitung immer mehr verschärfen, sondern weil dieses Mißtrauen ja tatsächlich nicht immer unbegründet ist, wie die Datenschutzberichte des Bundes und der Länder immer wieder eindrucksvoll belegen. Die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung gefährden nicht nur die Privatsphäre, sondern sie verletzen sie tatsächlich immer wieder und überall da, wo nicht die notwendige Zurückhaltung bewahrt wird. Das geschieht nicht aus purer Böswilligkeit. Da spielen Angst vor Kritik, Perfektionismus, Neugier nach dem Motto, das Sie ja eben schon zitiert haben, „das haben wir immer schon so gemacht; da könnte ja jeder kommen" , einem der ehernen Grundsätze des deutschen Verwaltungsrechts, eine Rolle.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Oder das Gegenteil, was dieselbe Wirkung hat: Das haben wir noch nie gemacht!)

— Ja, genau so. Dieses Beharrungsvermögen spielt natürlich eine große Rolle.
Es ist auch wahr, daß das Fehlen moderner datenschutzrechtlicher Regelungen die innere Sicherheit nicht unbeeinträchtigt läßt, weil die Datenverarbeitungen zum Beispiel des Bundes und der Länder anfangen, in spürbarer Weise auseinanderzulaufen. Das erschwert die notwendige Zusammenarbeit. Im übrigen gilt, daß die Polizei arbeiten können muß. Sie bedarf der modernen Datenverarbeitung, und der Gesetzgeber ist verpflichtet, ihr zu sagen, welche Regeln sie dabei zu beachten hat.



Dr. Hirsch
Der Zehnte Datenschutzbericht führt zutreffend aus, daß wir mit den gesetzlichen Regelungen im Rückstand sind und daß wir uns außerordentlich beeilen müssen, wenn wir in dieser Legislaturperiode zu einer vernünftigen Weiterentwicklung kommen wollen, die einzelne Länder — Nordrhein-Westfalen und Hessen möchte ich nennen — in interessanter Weise vollzogen haben. Wir wollen es nicht wieder erleben, daß unter dem Eindruck irgendeines äußeren Ereignisses eine Gesetzgebung überstürzt vollzogen wird, die vorher in einer vernünftigen Beratung hätte beschlossen werden können. Wir sagen gleichzeitig erneut, daß wir nicht beabsichtigen, hinter der Rechtsprechung zurückzubleiben, die sich inzwischen auf der Grundlage des Volkszählungsurteils herausgebildet hat.
Der Datenschutz ist nach unserem Verständnis kein Versuch, sinnvolle staatliche Tätigkeit zu blockieren, sondern er ist die notwendige Voraussetzung für sinnvolle Anwendung der Datenverarbeitung in der Verwaltung und auch in der privaten Wirtschaft. Der Datenschutz ist kein Mißtrauen gegen den Staat, sondern die notwendige Voraussetzung dafür, das Vertrauen des Bürgers in den Staat zu sichern und damit die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß sich der Staat für seine Verwaltungstätigkeit der modernen Technik bedienen kann.
Wir werden also erneute Anstrengungen unternehmen, gerade in denjenigen Bereichen voranzukommen, die der Datenschutzbericht erwähnt, nämlich Schutz der Privatsphäre auch außerhalb der elektronischen Datenverarbeitung, Begrenzung des Umfangs der Datenverarbeitung unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit, Begrenzung der Amtshilfe im Sinne der informationellen Gewaltenteilung und schließlich größere Durchsichtigkeit für den Betroffenen durch Erweiterung der Auskunftsrechte und durch eine Stärkung der Stellung des Datenschutzbeauftragten.
Mit einem herzlichen Dank an Sie, Herr Dr. Baumann, und an Ihre Mitarbeiter möchte ich schließen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107723500
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt-Bott.

Regula Schmidt-Bott (GRÜNE):
Rede ID: ID1107723600
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie es um den Datenschutz bestellt ist, war erst jüngst der Presse zu entnehmen, als die Kölner Bahnpolizei Aufsehen erregte. Sie hat nicht nur Daten über Personen ohne deren Wissen gespeichert, sondern sie auch noch rechtswidrig einer anderen Behörde, in diesem Fall der Kölner Kriminalpolizei, zugänglich gemacht und — wie üblich — natürlich versucht, das Ganze zu vertuschen.
Als der erste Verdacht aufgetaucht war, hieß es noch vor zwei Wochen, daß es bei der Bahnpolizei keine Rosa Listen gebe. Nun hat der Bundesbeauftragte für den Datenschutz vor Ort geprüft und bestätigt gefunden, was wir schon immer befürchtet und auch kritisiert hatten: Die Rosa Listen existieren. Wer
nun aber glaubt, daß sich die Haltung der Behörden ändert, sieht sich getäuscht. Die einzige Konsequenz wird sein, daß die Bahnpolizei — ich zitiere den „Kölner Stadt-Anzeiger" — „sensiblere Formulierungen wählen wird".
Außerdem ist typisch: Die Behörde, die gesetzeswidrig Einsicht in die Rosa Listen der Bahnpolizei genommen hat, erstattete Anzeige gegen die Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft „Kritische Polizisten und Polizistinnen". Diese waren es, die durch ihre Hartnäckigkeit in diesem Fall ganz erheblich dazu beigetragen haben, daß der Vorgang überhaupt öffentlich bekannt und schließlich der Bundesdatenschutzbeauftragte eingeschaltet wurde.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das war ja man gut!)

Die Klagen über den Mißbrauch personenbezogener Daten wie im Kölner Fall durchziehen alle Berichte des Bundesdatenschutzbeauftragten seit 1978. Vorherrschendes Prinzip der Verwaltungen und Behörden wie auch der Privatwirtschaft ist: in der Regel gegen Bürgerinnen und Bürger. „Wer keine Orwellschen Zustände will, muß dem Personenschutz mehr Bedeutung beimessen, als er jetzt hat" , sagte die baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Leutze bereits auf einer Tagung im November 1983.
Seitdem hat sich vieles zum Schlimmen gewendet: Maschinenlesbare Ausweise, die Schleppnetzfahndung, das Zentrale Verkehrsinformationssystem, die geplante Patientendatei und breite Verwendung der Sozialversicherungsnummer und so weiter und so fort führen uns immer mehr an den gläsernen Menschen heran.
Lassen Sie mich an einem Beispiel verdeutlichen, wie wenig Personenschutz vorgesehen ist: Eine junge Hamburgerin war anläßlich einer Demonstration von der Polizei kontrolliert worden. In ihrer Handtasche hatte sie eine Spraydose mit Tränengas, was Frauen zum Zwecke der Selbstverteidigung von der Kriminalpolizei empfohlen wird. Da sie wußte, daß diese Selbstverteidigungsmittel von der Polizei als Waffe angesehen werden, vermutete sie, möglicherweise in einer Datei der Hamburger Sicherheitsbehörden gespeichert zu sein, und dem war auch so. Mit dem Datum der damaligen Kontrolle war sie im Computer des Landesamtes für Verfassungsschutz registriert worden.
Nach Intervention des Hamburger Datenschutzbeauftragten wurden die Daten dieser jungen Frau gelöscht. Ein halbes Jahr später kontrollierte nun ein Sachbearbeiter des Datenschutzbeauftragten diese Computerdatei des Landesamtes für Verfassungsschutz und fand die Daten der Frau wieder vor. Grund und Hintergrund dieser Geschichte: Das Landesamt hatte die Daten im Wege des Datenaustausches längst vorher an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergeleitet.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Hört! Hört!)

Zwar erfolgte eine Löschung der Daten in der Hamburger Datei, beim turnusmäßigen Datenaustausch wiederum zwischen Bundesamt und Landesamt wurden die auf Bundesebene nicht gelöschten Daten wie-



Frau Schmidt-Bott
der zurück an das Hamburger Landesamt gemeldet und gespeichert.

(Dr. Emmerlich [SPD]: Hört! Hört!)

Was hier durch Zufall entdeckt wurde, behaupte ich, kann als Regelfall unterstellt werden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ein Beweis ist das natürlich nicht!)

Persönlichkeitsschutz ist nicht vorgesehen.
Auch über die mangelnde Kooperationsbereitschaft von Behörden klagen Datenschützer seit Jahren. Der Bundesinnenminister schreitet hier besonders forsch voran, so 1987, als er dem Datenschutzbeauftragten untersagte, das Ergebnis seiner Prüfung beim Bundesamt für Verfassungschutz zu veröffentlichen. Das Motto von Herrn Zimmermann erinnert mich an eine Bemerkung von Friedrich II., König von Preußen, der im Jahre 1784 schrieb:
Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, Maßregeln und Anordnungen der Souveräne und Höfe, ihrer Staatsbediensteten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentlich sogar tadelnde Urteile zu fällen oder davon Nachrichten, die ihr zukommen, bekanntzumachen oder durch deren Druck zu verbreiten. Eine Privatperson ist auch zu deren Beurteilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wir sind tief beeindruckt!)

Heute bemüht der Staat für jedwede Speicherung und Überwachung nicht mehr die Unfähigkeit der Untertanen, heute heißt das: überwiegendes Allgemeininteresse.
Die neuen Technologien bieten nahezu unbegrenzte Möglichkeiten des unkontrollierten Informationsaustausches.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist richtig!)

In immer neuen Bereichen von Verwaltung und Wirtschaft werden unkontrollierbare Vernetzungen geschaffen, die die Sammlung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten erleichtern, es den einzelnen Menschen aber unmöglich machen zu wissen, wer was wann über sie speichert, zu welchen Zwecken, wer Daten an wen weitergibt und wo welche Daten wiederum gespeichert sind. Wer ständig gezwungen wird, Informationen über sich abzugeben, wird verfügbar, hat weniger politische Mitspracherechte und ist Objekt der Herrschenden. Genau diesen Vorgang haben die Bürgerinnen und Bürger gespürt, die sich gegen die Volkszählung zur Wehr gesetzt haben.
Die Datenschutzbeauftragten — das macht auch der Zehnte Bericht deutlich — sind allein nicht fähig, den Schutz erhobener und akkumulierter Daten sicherzustellen. Sie sind aber oft auch nicht sehr sensibel. Wer — wie der scheidende Herr Baumann — im Zusammenhang mit der Verwendung der Sozialversicherungsnummer den Datenschutz nur noch einfordert, soweit er praktikabel ist, der opfert die grundlegenden Persönlichkeitsrechte der technischen Entwicklung.
Herr Baumann, Sie haben manche Unterstützung von uns erfahren. Aber das war bei dem Innenminister ja auch kein Kunststück. Unser Lob zum Ende Ihrer Amtszeit fällt eher mager aus. Wir meinen, das Ausmaß der Datensammlung muß radikal zurückgedrängt, sozial nicht verträgliche Erfassungs- und Informationsübermittlungstechniken müssen verhindert werden. Sie dagegen beschränken sich auf die Prüfung vorhandener Rechtsgrundlagen. Ob das, was legal ist, politisch und sozial schädlich ist, ob es sinnvolle Alternativen gibt, kümmert Sie leider herzlich wenig.
In den großen Lobeskonsens kann ich — wie Sie sehen — also nicht einstimmen. Ich wünsche Ihnen für Ihren Ruhestand alles Gute.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107723700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1107723800
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Tätigkeitsberichte der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder geben unverzichtbare Informationen über den Stand des Datenschutzes in der Bundesrepublik. Wir Sozialdemokraten danken den Datenschutzbeauftragten für ihre unersetzliche Hilfe, die sie Parlamenten und Regierungen und auch der interessierten Öffentlichkeit für die Datenschutzkontrolle ebenso wie für die Datenschutzgesetzgebung zuteil werden lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zweifellos nehmen die Zahl der elektronischen Datenverarbeitungsanlagen und deren Leistungsfähigkeit sowie die Zahl der Dateien bei staatlichen Stellen und insbesondere in der Privatwirtschaft nach wie vor mit großer Geschwindigkeit zu. Ferner gibt es immer mehr Möglichkeiten zum automatischen Datenabruf und zur automatischen Datenerfassung. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Schon jetzt ist der Aufwuchs der Dateien unübersehbar. Selbst im staatlichen Bereich droht die Entwicklung aus der Kontrolle der Regierenden und der Parlamente zu geraten.
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist eine Intensivierung des Datenschutzes erforderlich. Der Gesetzgeber muß datenschutzorientierter und präziser als bisher festlegen, durch wen und unter welchen Voraussetzungen Daten erhoben, gespeichert und weiter gegeben werden dürfen. Wir müssen mehr tun, um zu gewährleisten, daß die Datenschutzgesetze eingehalten werden. Last not least: Wir dürfen nicht zulassen, daß die Erfassung und Verarbeitung persönlicher Daten und der Datenschutz der parlamentarischen Kontrolle entgleitet.
Was dazu im einzelnen auch erforderlich sein mag, zweierlei scheint mir festzustehen:
Erstens. Ob eine elektronische Datei erforderlich ist, ob die Kosten-Nutzen-Analyse positiv zu beurteilen ist und ob die Belange des Datenschutzes ausreichend beachtet sind, darf nicht allein der Behörde überlassen bleiben, die die Datei einrichten und benutzen will.
Zweitens. Weil sich die Institution des Datenschutzbeauftragten so überaus bewährt hat, darf die Stel-



Dr. Emmerlich
lung der Datenschutzbeauftragten nicht geschwächt, im Gegenteil: sie muß gestärkt werden.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Der Bundesdatenschutzbeauftragte berichtet, im Berichtsjahr habe er allein vom Bundeskriminalamt 10 Errichtungsanordnungen für Dateien und 20 Dateimeldungen erhalten. Aus Kapazitätsgründen sei es ihm jedoch nicht möglich gewesen, jede neue Datenverarbeitung auch nur aktenmäßig zu überprüfen. Der Datenschutzbeauftragte berichtet ferner, 1986 habe er eine eingeleitete Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes fortsetzen und sich an der Erarbeitung einer Dienstvorschrift zur Datenverarbeitung beim BND beteiligen wollen. Beide Vorhaben habe er aus Kapazitätsgründen nur ansatzweise verwirklichen können.
Der Datenschutzbeauftragte resümiert: Rechtzeitige Vorkehrungen zum Datenschutz seien dann nicht gewährleistet, wenn der Datenschutzkontrolle die Information fehlten, die für eine zeitnahe Analyse der eingesetzten Verarbeitungssysteme erforderlich seien.
Daraus folgt, daß eine bessere personelle und sachliche Ausstattung des Bundesdatenschutzbeauftragten dringend erforderlich ist. Wir Sozialdemokraten fordern die Bundesregierung auf, das dazu Erforderliche unverzüglich zu veranlassen.
Notwendig ist aus unserer Sicht auch eine Stärkung der rechtlichen Stellung des Bundesdatenschutzbeauftragten und seiner Unabhängigkeit. Das würde erreicht, wenn sein Auftrag und seine Kontrollbefugnisse im Grundgesetz verankert wären und wenn seine Wahl durch den Bundestag erfolgen würde.
Den Tätigkeitsberichten, auch dem vorliegenden, müssen wir entnehmen, daß die Bundesregierung den Bundesdatenschutzbeauftragten, statt ihn zu stärken, bei seiner Kontrolltätigkeit behindert. Die Bundesregierung versucht nach wie vor, die Reichweite seiner Prüfungsbefugnisse zu beschneiden.

(Kühbacher [SPD]: Ja!)

Sie hat ihm das Recht zur Einsicht in Unterlagen, die der Speicherung zugrunde liegen, bestritten. Sie verengt den Dateibegriff, um sich ihrer Auskunftspflicht gegenüber dem Datenschutzbeauftragten zu entziehen. Sie klassifiziert Sachverhalte ohne zureichenden Grund als geheimhaltungsbedürftig, um die Berichterstattung des Bundesdatenschutzbeauftragten zu erschweren.
Die Kontrolle einer Sonderdatei im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen konnte nach Seite 81 des vorliegenden Berichts nur unter Schwierigkeiten und nach mehrmaligen Unterbrechungen zu Ende geführt werden.
Eine Forderung des Bundesdatenschutzbeauftragten vom 11. Oktober 1985 — ich wiederhole: 11. Oktober 1985 —, die Errichtungsanordnung für eine Datei beim Bundeskriminalamt zu konkretisieren, hat der Bundesinnenminister bis heute sage und schreibe nicht einmal beantwortet.

(Dr. Nöbel [SPD]: Unglaublich!)

Wie gering die Bundesregierung den Datenschutz einschätzt, ergibt sich auch daraus, daß sie noch immer nicht die erforderlichen gesetzlichen Regelungen für die Datenerhebung und -verarbeitung des Bundeskriminalamtes, des Bundesgrenzschutzes, der Strafverfolgungsbehörden, des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundesnachrichtendienstes im Bundestag eingebracht hat, obwohl das Bundesverfassungsgericht das bereits 1983 für erforderlich erklärt hat.
Die Sicherheitsbehörden werden infolgedessen hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen ihres Handelns in ein immer größer werdendes Risiko gestellt. Gerade bei den Sicherheitsbehörden mit ihren weitreichenden Befugnissen dürfen aber keine Zweifel an der Zulässigkeit ihrer Maßnahmen aufkommen.
Es gibt keine objektiven Schwierigkeiten, die eine Einbringung der erforderlichen Gesetze verhindert haben. Ursächlich ist vielmehr eine auf unüberwindlichen Meinungsverschiedenheiten beruhende Handlungsunfähigkeit dieser Regierungskoalition.

(Frau Schmidt-Bott [GRÜNE]: Die wollen nicht! Die sind nicht handlungsunfähig!)

— Doch; es gibt welche, die wollen. Heute hat einer von denen geredet.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wollen Sie Baumann verhaften lassen?)

Die „hardliner" der Koalition unter Führung des Bundesinnenministers nutzen diese Situation aus, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu unterlaufen und auf exekutiver Ebene vollendete Tatsachen zur Minimierung des Datenschutzes bei den Sicherheitsbehörden zu schaffen. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann nur der gerecht werden, der nicht weniger, sondern mehr Datenschutz will. Es ist nicht zulässig, für die bisherige exzessive Praxis der Datenerhebung und -verarbeitung die Rechtsgrundlage gleichsam nachzuliefern. Noch weniger kann der Kurs eingeschlagen werden, den der Bundesinnenminister steuert, nämlich Gesetze zu machen, die eine stärkere Erfassung, Verarbeitung und Weitergabe persönlicher Daten ermöglichen.
Dieser Zehnte Tätigkeitsbericht — die Betonung liegt auf „Zehnte" — ist auch Anlaß, sich daran zu erinnern, daß die Datenschutzgesetzgebung unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung eingeleitet worden ist, mit der Folge der Einsetzung der Datenschutzbeauftragten. Der Datenschutz und die Datenschutzbeauftragten gehören heute zu den selbstverständlichen und unverzichtbaren Grundlagen unseres freiheitlichen und rechtsstaatlichen demokratischen Gemeinwesens. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, daß diese Errungenschaft des Datenschutzes zu den vielen bleibenden Leistungen aus der Zeit unserer Regierungsverantwortung gehört.

(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Das haben wir damals doch wohl gemeinsam gemacht! Wir waren schon weiter als Sie!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107723900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.




Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1107724000
Einen schönen guten Tag, Frau Renger. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute den Zehnten Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten, und Herr Emmerlich sagte schon: die Betonung liegt auf dem Wort „Zehnten".
In der Tat — eigentlich sollte man meinen, es sei eine „runde Sache", wenn man so einen Zehnten Bericht behandelt, aber tatsächlich müssen wir doch feststellen, daß in diesem Bericht zum Teil noch die gleichen Beanstandungen erhoben werden, die bereits vor mehreren Jahren in Tätigkeitsberichten gestanden haben. Eigentlich müßte man auch annehmen dürfen, daß in einem solchen Zehnten Tätigkeitsbericht nur noch die letzten Feinheiten der Kritik entfaltet zu werden bräuchten. Statt dessen haben wir in diesem Bericht doch eine Fülle von grundsätzlichen Beanstandungen vor uns, die bis hin zu der Feststellung gehen, daß gesamte Bereiche, die geprüft worden sind, eine verfassungswidrige Praxis pflegen. Und das betrifft immerhin Behördenhandeln.
Wir müssen auch feststellen, daß der wirksamste Datenschutz angesichts des Nicht-Wollens dieser Regierung nach wie vor dadurch erreicht wird, daß die Betroffenen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Ich finde es wirklich frappierend, was wir zur Zeit in den Bundesdruckereien erleben. Dort ist plötzlich möglich geworden, was vorher auf Grund der ganzen Propaganda gegen den neuen Personalausweis nicht möglich war, nämlich ihn zu waschen und ähnliches.
Jetzt wird plötzlich kostenlos ein Stempel in den alten Paß gedrückt, und er ist damit für drei weitere Jahre verlängert. So weit, daß sie solche Dinge berücksichtigen, können die Autoritäten in diesem Staate offensichtlich gar nicht denken, und ich wünsche mir, daß Ereignisse dieser Art noch des öfteren geschehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glaube ich Ihnen gern!)

Insofern sind auch viele Ausführungen, die hier gemacht wurden — wie etwa die von Herrn Hirsch —, nur schöne Worte und nichts als schöne Worte, wenn er nämlich feststellt, daß Grund- und Freiheitsrechte gefährdet seien und daß sogar der Übergangsbonus abgelaufen sei — das Stimmverhalten auch der FPD-Fraktion im Innen- und Rechtsausschuß aber tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung geht. Dort war es nicht einmal möglich zu erreichen, daß der Ausschuß den Zehnten Tätigkeitsbericht — das gilt aber auch für den Achten und den Neunten — auch nur zustimmend zur Kenntnis nimmt. So ein Votum konnte auf Grund des Stimmverhaltens der FDP und der CDU/CSU einfach nicht herbeigeführt werden. Man wollte den Bericht lediglich zur Kenntnis nehmen und damit die zahlreiche Kritik in diesem Bericht weiter vor sich hinschmoren lassen.
Wenn es ernstlich so sein sollte, was Herr Hirsch sagte, daß zum Beispiel der Übergangsbonus abgelaufen ist, dann muß die bisherige Datenverarbeitungspraxis auf ihre Vereinbarkeit mit den genannten Anforderungen überprüft werden. Außerdem müßte sofort eine vollständige Bestandsaufnahme des Regelungsbedarfs in den einzelnen Bereichen erfolgen.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß nach der „Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Ausübung von Grundrechten — zum Beispiel des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung — der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und nicht die Exekutive, wie es derzeit geschieht, und somit für die Einführung und die Regelung neuer technischer Kommunikationsdienste — zum Beispiel BTX und TEMEX bei der Post — schon vorher ausreichende gesetzliche Grundlagen zu schaffen sind.
Im Anschluß daran muß eine Rangliste der notwendigen Gesetzentwürfe und somit eine die Aktivitäten des Gesetzgebers bestimmende Prioritätenskala aufgestellt werden.
Solange dies nicht geschehen ist, kann es keine fundierte Rechtfertigung für den Aufschub einzelner Regelungsentscheidungen geben. Die Konsequenz müßte eine Verarbeitungssperre sein; das habe ich bereits des öfteren — auch hier — gesagt. Ich finde es erschreckend, daß dieses Verhalten der Exekutive weiter gepflegt wird.
Herr Wartenberg von der SPD konnte es sich sehr einfach machen und sagen: Details werden in den Ausschußberatungen weiter erörtert. Was dort tatsächlich möglich ist und was nicht, bestimmt bedauerlicherweise zu einem großen Teil ebenfalls die Exekutive.

(Dr. Nöbel [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr!)

In den Berichterstattergesprächen, von denen ich fünf mit verfolgen konnte, konnten wir des öfteren erleben — Herr Nöbel, Sie waren doch gar nicht dabei — , daß von den Personen aus den Ministerien entschieden wurde, welche Akten den Abgeordneten zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich ein persönliches Bild machen können.
Eine Alternative ist, daß wir uns in den 17. Stock des Langen Eugen begeben dürfen, in der Geheimschutzstelle Einsicht nehmen, uns Notizen machen können, diese Notizen abgeben und dann vielleicht mit den Notizen in den weiteren Beratungen im Ausschuß argumentieren dürfen. Wer kontrolliert hier eigentlich wen, die Exekutive die Legislative, oder sollte das nicht besser umgekehrt sein?
Ich denke, das sind unhaltbare Zustände und gravierende Mißstände, die in diesen Tätigkeitsberichten und auch in dem, den wir heute in dieser kurzen Weise debattieren, festgestellt werden.
Bedauerlicherweise stehen mir hier nur fünf Minuten zur Verfügung. Ich möchte zum Schluß allerdings auch einen Dank an Herrn Baumann richten. Denn innerhalb der Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen — geringe Personaldecke, schlechte rechtliche Stellung, angesiedelt im Innenministerium, gewissermaßen Auge in Auge zu dem Hauptkontrapart in dieser Regierung und natürlich eingebettet in einen politischen Rahmen dieser Bundesregierung, der es weiß Gott schwermacht, überhaupt nur im Ansatz einen vernünftigen Datenschutz zu bewirken —, finde ich, hat er mit seinem Personal hervorragende Arbeit geleistet und immer wieder die notwendigen Nadelstiche in die Mißstände machen können.



Wüppesahl
Danke schön für die Aufmerksamkeit.

(Dr. Nöbel [SPD]: Für das letzte kriegen Sie meinen Beifall! — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Das hat der Baumann nicht verdient!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1107724100
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (CDU):
Rede ID: ID1107724200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zehnte Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz enthält eine Vielzahl von Sachverhalten, zu denen der Bundesbeauftragte Anregungen oder auch Bedenken äußert.
Ich sage hier ganz nachdrücklich: Die Bundesregierung wird zu all diesen Anregungen, Vorschlägen und Bedenken im einzelnen schriftlich Stellung nehmen. Diese Stellungnahme soll ausführlich und klar sein und dem Parlament so frühzeitig zugehen, daß der federführende Innenausschuß zu Beginn seiner Beratung über den Tätigkeitsbericht all dies werten und wägen kann.

(V o r sitz : Vizepräsident Westphal)

Ich will aber doch gerne zum gegenwärtigen Zeitpunkt, auch nachdem ich die Diskussion hier verfolgt habe, einige Anmerkungen genereller Art machen.
Zunächst einmal: Der Bundesbeauftragte hat in diesem Bericht ausdrücklich anerkannt, meine Damen und Herren — ich finde das gut — , daß in entscheidenden Bereichen die Verwaltung dem Datenschutz aufgeschlossen gegenübersteht. Für diese klare, positive Aussage, lieber Herr Dr. Baumann, ein ganz herzliches Wort des Dankes.
Weil hier eben viele Bedenken und Anregungen aufgezählt worden sind, möchte ich gerne aus dem Bericht diesen Satz zitieren. Ich finde, wir sind das auch denen schuldig, die sich in der Verwaltung um den Datenschutz bemühen.
Da schreibt Herr Dr. Baumann:
Ich verkenne nicht und will dies gerne deutlich aussprechen — —

(Zurufe von der SPD)

— Ich fände, es wäre gut, wenn wir auch an diesem Punkt auf das hören könnten, was und Herr Dr. Baumann mitgeteilt hat. Es ist auch eine gebührende Anerkennung dessen, was bei den Mitarbeitern der Verwaltung geschieht. — Er schreibt:
Ich verkenne nicht und will dies gerne deutlich aussprechen, daß sich das Datenschutzbewußtsein in nicht wenigen Bereichen der Verwaltung erfreulich verbessert hat.
Herzlichen Dank, Herr Dr. Baumann, auch für diese klare Feststellung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das paßt nun überhaupt nicht, Frau Schmidt-Bott, zu Ihrem Horrorgemälde. Was Sie hier eben vorgetragen haben, geht auch zum Teil die Prüfungsaufgaben in den einzelnen Bundesländern an. Ich will hier einmal deutlich sagen: Was Sie vor dem Forum des Deutschen Bundestages alles vorgetragen haben, das hält der Realität gar nicht stand. Sie haben ein Eigentor geschossen. Sie haben nämlich zum Beweis Ihrer Darlegungen die Volkszählung angeführt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir dürfen hier, gerade nachdem dies aufgerufen wurde, einmal sagen: Ihr Kampf von den GRÜNEN gegen die Volkszählung ist ja nun weiß Gott und aus guten Gründen gänzlich gescheitert, und das ist gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir können heute sagen: Die Volkszählung hat das Echo gefunden, für das sich die demokratischen Parteien in einem breiten Konsens eingesetzt haben. Ich will von dieser Stelle aus einmal ganz herzlich den Bürgerinnen und Bürgern danken, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, daß die Volkszählung zu einem guten Erfolg gekommen ist. Dies sollten wir heute deutlich aussprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, der Bericht, den wir im Ausschuß zu diskutieren haben und der hier heute generell diskutiert wird, macht deutlich, daß — —

(Zuruf des Abg. Walther [SPD])

— Herr Vorsitzender des Haushaltsausschusses, Sie sind heute so bemerkenswert unruhig! Sie machen so viele Zwischenbemerkungen.

(Walther [SPD]: Ich wollte endlich einmal eine freie Rede hören!)

Ich werde mir daran ein Beispiel nehmen, wenn ich demnächst wieder bei Ihnen im Haushaltsausschuß bin.

(Walther [SPD]: Ich möchte eine freie Rede hören!)

— Ja, ich gehe doch frei und fröhlich darauf ein; nur schwätzen Sie dauernd mit Ihrem Nachbarn und können das gar nicht wahrnehmen. Da entgeht Ihnen etwas Tolles.

(Walther [SPD] : Jetzt hat er schon wieder den Sprechzettel!)

— Ja, natürlich, lieber Herr Kollege Walther, es ist eine wichtige Sache, über die wir verhandeln, und natürlich nimmt man sich Orientierungspunkte mit, um über eine wichtige Materie zu verhandeln. Ich lerne das ja auch bei Ihnen im Haushaltsausschuß;

(Walther [SPD]: Noch zuwenig gelernt!) Sie haben immer dicke Akten vor sich liegen.

Ich finde, das wichtigste Thema, das uns auch bei der Prüfung dieses Berichts aufgetragen ist, ist das Spannungsverhältnis zwischen innerer Sicherheit und Datenschutz. Dieser Aufgabenbereich wird auch in den Ausschußberatungen — Herr Dr. Baumann, das hatten wir bereits bei der Diskussion der letzten Berichte — ein wichtiger Bereich unserer Prüfungen sein. Ich will dies dahingehend zusammenfassen, daß wir im Interesse der Bürger sagen müssen, daß ein Höchstmaß an Datenschutz mit einem Höchstmaß an Effizienz der Gesetzgebung auch zum Schutz der Bürger zu verbinden ist. Ich glaube, der beste Datenschutz ist der Datenschutz, den der Bürger auch ver-



Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
steht und für den er sich auch selbst engagiert einsetzen kann. Der Bürger wird es immer verstehen, wenn wir im Spannungsverhältnis zwischen innerer Sicherheit und Datenschutz das Regelungsmaß finden, das in einem Höchstmaß beiden Gesichtspunkten, die dem Staat aufgetragen sind, Rechnung trägt. Darin liegt die Weisheit der Regelungen, die wir, erstreben.
Nun ist hier ein besonderer Punkt angesprochen worden, nämlich die Gesetzgebung. Ich habe bei der Diskussion über den letzten Datenschutzbericht angekündigt, daß wir den Referentenentwurf für ein Bundesdatenschutzgesetz vorlegen wollen. Es ist so, daß der Referentenentwurf inzwischen in der Ressortabstimmung ist, und ich habe mich gerade im Blick auf die heutige Debatte noch einmal informiert: Die Ressortabstimmung läuft gut, wir können noch in diesem Monat in der Ressortabstimmung für das neue Bundesdatenschutzgesetz zu wichtigen Schlußergebnissen kommen, und unser Wille im Bundesinnenministerium ist, den Entwurf möglichst bald im Bundeskabinett zur Beschlußfassung vorzulegen.
Mit Recht wurde von Sprechern der Koalition schon darauf hingewiesen, daß wir ein Gesetzgebungsprogramm in der Koalitionsabsprache haben. Diese Koalition hat sich dazu bekannt und steht nach wie vor dazu, die Folgerungen aus dem Volkszählungsurteil zu ziehen. Das Gesetzgebungsprogramm liegt nicht nur vor, sondern das Bundesinnenministerium hat ja auch seinerseits erste Vorschläge dazu vorgelegt, wie den einzelnen Gesetzgebungsaufgaben Rechnung getragen werden kann. Also, meine Damen und Herren von der Opposition, geben Sie sich auch in diesem Punkt keinen Illusionen hin. Die Koalition wird ihr Gesetzgebungsprogramm aus den Koalitionsvereinbarungen angehen

(Dr. Nöbel [SPD]: Angehen? Wann denn?)

und wird auch in diesem Bereich die Lösungen vorlegen und verabschieden, die notwendig sind, um die Aufgaben zu erfüllen.

(Bohl [CDU/CSU]: Mit Sicherheit!) Haben Sie da mal gar keine Sorgen!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ein wichtiger Punkt ist heute mehrfach angesprochen worden, nämlich der, daß wir den letzten Datenschutzbericht, den Herr Dr. Baumann uns vorlegt, diskutieren. Ich finde es gut, wie die Sprecher der einzelnen Fraktionen, zumindest der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP, hier die Arbeit von Dr. Baumann gewürdigt haben, und ich möchte für die Bundesregierung Herrn Dr. Baumann ausdrücklich ein ganz herzliches Wort des Dankes für seine Arbeit sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich danke ihm für die engagierte und von viel persönlicher Einsatzbereitschaft getragene Arbeit als Datenschutzbeauftragter. Sie hat oft dazu geführt, daß wir über einzelne Fragen diskutieren mußten. Wir haben das in einem guten demokratischen und fairen Verfahren getan. Herr Dr. Baumann, verbunden mit dem Dank für Ihre Arbeit wünsche ich Ihnen für den neuen
Lebensabschnitt, der jetzt vor Ihnen liegt, nur das Allerbeste.
Meine Damen und Herren, mit Blick auf die Beratungen, die wir im Innenausschuß vor uns haben, darf ich zusammengefaßt folgendes sagen.
Erstens. Die notwendigen Stellungnahmen zu den einzelnen Problemen, Anregungen und Vorschlägen werden erfolgen; denn auch ich teile die Zielvorstellung, daß man möglichst bald über die Dinge sprechen sollte und daß nicht — wie es hier anklang — immer mehrere Berichte zusammenkommen sollten, um dann die Dinge nur kursorisch und vielleicht unter Zeitdruck zu behandeln. Wir werden also zügig arbeiten.
Zweitens. Wir werden alles tun, damit den notwendigen Interessen des Datenschutzes auch aus unserer Sicht Rechnung getragen wird, aber auch den anderen Zielaufgaben und politischen Zielen — ich nannte den Aufgabenbereich der inneren Sicherheit —, die hier besonders geboten sind.
Ich will ein drittes sagen. Wir werden uns — ich bin sicher: mit Erfolg — darum bemühen, daß in dieser Wahlperiode die gesetzlichen Regelungen geschaffen werden, die uns durch das Volkszählungsurteil aufgetragen sind. Mit dem Datenschutzrecht sind wir schon weit gediehen. Ich erinnere auch daran, daß es bereits in der letzten Wahlperiode Diskussionen und eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Vertretern der Koalitionsparteien gab. Ein neuer Referentenentwurf ist auf dem Wege.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie können ganz beruhigt sein: Diese Koalition wird auch in diesem Bereich dafür sorgen, daß das Notwendige geschieht.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107724300
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Ich glaube, es ist ein guter Brauch, in einer solchen Situation Herrn Dr. Baumann von dieser Stelle aus im Namen aller Kollegen danke schön zu sagen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Auch wenn die schwierige Arbeit eines Datenschutzbeauftragten immer eine umstrittene sein wird, wir achten und schätzen Ihre hohe Leistung.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen (17. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes — Bericht 1986 des Bundes-



Vizepräsident Westphal
ministers für Verkehr über die Jahre 1984 und 1985 —— Drucksachen 10/6810, 11/1794 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Hiller (Lübeck) Dr. Kunz (Weiden)
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hiller.

Reinhold Hiller (SPD):
Rede ID: ID1107724400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offensichtlich auch heute noch brandaktuell, daß das Zonenrandgebiet darunter leidet, daß seine traditionellen Verkehrswege vor allem nach Mitteldeutschland durch die deutsch-deutsche Grenze beschnitten werden. Die durch die Teilung Deutschlands notwendig gewordene fast vollständige Neuorientierung des Grenzlandes nach Westen hin machte die Verkehrserschließung und die verkehrliche Anbindung des Zonenrandgebietes an die wirtschaftlichen Zentren der Bundesrepublik zu einer vordringlichen Aufgabe bundesdeutscher Politik.
Auch wenn die von Willy Brandt begonnene Entspannungspolitik wieder Verkehrswege in Richtung Osten aufgeschlossen hat, so haben wir doch alljährlich im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen eine umfangreiche Liste von Wünschen nach Öffnung zusätzlicher Grenzübergänge in die DDR, nach Erweiterung von Besuchsmöglichkeiten, aber auch nach einer weiteren Verbesserung unserer Verkehrswege erarbeitet und der Bundesregierung zur Prüfung übergeben.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei allen bedanken, die uns Berichterstattern bei der Formulierung unseres Berichts behilflich waren.
Wir wissen, daß die Realisierung dieser Wünsche ganz entscheidend davon abhängt, wie die Regierungen der beiden deutschen Staaten ihre gegensätzlichen oder auch nur unterschiedlichen Interessen miteinander verhandeln. Wir wissen aber auch, daß die Bundesregierung einen Teil unserer Wünsche nach dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur im Zonenrandgebiet selbst erfüllen kann. Dazu bietet sich eine Prüfung bei der Beratung der nächsten Berichte an.
Aus vielen Gesprächen mit Verantwortlichen der DDR wissen wir Sozialdemokraten, daß für die DDR eine endgültige einvernehmliche Klärung des Grenzverlaufes an dem umstrittenen Elbeabschnitt ein Schlüssel für die weiteren Regelungen ist, die auch in unserem Bericht im Interesse unserer Bürger und der Bürger in der DDR angestrebt werden. Entsprechende Bemühungen wollen wir auch auf unserer Seite unterstützen. Nach unserer Auffassung wird der vorhandene Spielraum durch die Bundesregierung in dieser Frage nicht ausgenützt.
Als Abgeordneter der Hansestadt Lübeck, der einzigen Großstadt unmittelbar an der Grenze, liegt mir besonders daran, zu betonen, wie wichtig es für die durch die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörten Wirtschaftsräume ist, das Trennende dieser
Grenze immer mehr zu überwinden. Meine Geburtsstadt Lübeck, einst Mittelpunkt einer nationalen grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft, der Hanse, könnte durch die Wiederbelebung und Stärkung alter Handelswege über die Ostsee aus ihrer Zonenrandlage herausfinden und wieder eine zentrale Rolle spielen. Die wirtschaftlichen Beziehungen könnten ebenso wie die kulturellen Beziehungen mit der DDR und den anderen Ostsee-Anrainerstaaten intensiviert werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich besonders hervorheben, daß der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen einmütig meinem Antrag gefolgt ist, dem Ausbau des Ostsee-Fährhafens Lübeck/Travemünde eine herausragende Bedeutung beizumessen und eine dieser Bedeutung angemessene finanzielle Förderung durch den Bund zu fordern.
Als Sozialdemokrat kann ich natürlich nicht darauf verzichten, auch hier wie in Schleswig-Holstein darauf hinzuweisen, daß eine sozialdemokratische Regierung im nördlichsten Bundesland auch eine wichtige zonenrandpolitische Bedeutung haben wird. Björn Engholms Aufbruch im Norden zielt darauf ab, die positiven Ideen der Hanse wiederzubeleben. Die Randlage Schleswig-Holsteins sowohl zum Norden als auch zu Osteuropa soll nicht weiter nur als strukturelle Schwäche beklagt werden, sondern auch als Chance genutzt werden. Wir wollen die Initiative ergreifen, daß die uns mit anderen Ländern verbindende Ostsee eine Brücke des friedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Austausches wird.
Ohne die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus der Verkehrsanbindung des Zonenrandgebietes an die wirtschaftlichen Zentren und Ballungsgebiete der Bundesrepublik und die weitere verkehrliche Erschließung des Zonenrandgebietes schmälern zu wollen, kam es mir in diesem Beitrag vor allem darauf an, deutlich zu machen, daß wir künftig stärker die durch die Teilung Deutschlands bewirkte Marginalisierung des Zonenrandgebietes nicht nur in Richtung Westen, sondern zunehmend auch in Richtung Osten werden überwinden müssen und daß es hierfür bereits konkrete Pläne gibt. Das Zonenrandgebiet ist eben nicht nur Randgebiet, sondern auch Nahtstelle zwischen den west- und den osteuropäischen Verkehrsräumen und Wirtschaftsräumen, und dies ist eine Chance, die wir in der Politik künftig stärker nutzen sollten, anstatt ausschließlich den Blick auf die Verkehrsanbindung nach Westen zu legen. Das muß noch mehr als bisher in unser politisches Bewußtsein und auch in unsere Planungen Eingang finden.
Deshalb hoffen wir, daß in Schleswig-Holstein ein Anfang gemacht werden kann und daß weitere Impulse und vor allen Dingen neue Kraft zur Durchsetzung unserer Ziele auch aus Kiel kommen werden, um die Grenze zu überwinden.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107724500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kunz.

Prof. Dr. Max Kunz (CSU):
Rede ID: ID1107724600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine gute



Dr. Kunz (Weiden)

Verkehrsanbindung ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Raumes. Dies trifft wegen der hermetischen Abschnürung gegen den Osten in besonderem Maße für das Zonenrandgebiet zu. Die niedrige Bevölkerungsdichte und das damit zwangsläufig verbundene geringere politische Gewicht des Zonenrandgebietes hat in der Vergangenheit im Erschließungssektor häufig genug zu einer stiefmütterlichen Behandlung dieses Raumes geführt.

(Walther [SPD]: Richtig!)

Ausbau und Entwicklung blieben dort im Vergleich zu den Ballungsräumen lange Zeit zurück.
Die Verbesserung der Verkehrserschließung ist das wichtigste Instrument zur Förderung des Zonenrandgebietes, zu der sich der Bundeskanzler Helmut Kohl in jeder seiner bisherigen Regierungserklärungen ausdrücklich bekannt hat. Sie ist in erster Linie eine deutschlandpolitische Aufgabe. Diese Begründung muß noch mehr als bisher bei allen Förderungsmaßnahmen deutlich werden. Ja, ich bin sogar der Meinung, daß möglichst alle Fördermaßnahmen für das Zonenrandgebiet ganz klar unter diesem Gesichtspunkt in einem eigenen Gesetz zusammengefaßt werden sollten, um zu vermeiden, daß die EG-Kommission dieses Förderinstrument immer wieder aufs neue aus Wettbewerbsgründen in Frage stellt.
Für die Bundesregierung und den Bundestag ist die Zonenrandförderung eine deutschlandpolitische Aufgabe und, wie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 4. Mai 1983 sagte, der Ausdruck unseres Willens, uns mit den Folgen der deutschen Teilung nicht abzufinden.
Der Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 10/6810 vom 23. Januar 1987 stellt eine eindrucksvolle Bilanz dessen dar, was in den Jahren 1984 und 1985 beim Fortgang der Verkehrserschließung geleistet wurde,

(Walther [SPD]: Der Bundeskanzler hält doch nicht, was er verspricht!)

die inzwischen auch zügig weitergegangen ist. Hervorzuheben sind vor allem die großen Fortschritte beim Ausbau der Autobahnen im Zonenrandgebiet und bei denen, die in das Zonenrandgebiet führen.
So wurden in Schleswig-Holstein die A 1 sechsstreifig mit Hochdruck zwischen Hamburg und Lübeck auf einer Gesamtlänge von 57 km ausgebaut, die A 25 zwischen Hamburg und Geesthacht fertiggestellt. Zwischen Kiel und Rendsburg soll der Ausbau der
A 210, der in Teilstücken bereits fertiggestellt wurde, bis 1989 abgeschlossen werden.
In Niedersachsen stehen die Grunderneuerungen bzw. der sechsstreifige Ausbau der A 7 auf 86 km im Vordergrund. Sie werden bis 1992 abgeschlossen sein. Von der A 250 wurde ein Teilstück zwischen Maschen und Lüneburg fertiggestellt.
Von den Bundesstraßen möchte ich die Fertigstellung des Teilabschnittes Goslar—Bad Harzburg auf der
B 6 erwähnen und die Ortsumgehungen von Hardegsen auf der B 241 und bei Bartolfelde auf der B 243, die noch in diesem Jahr fertiggestellt werden.
In Hessen ist inzwischen die A 66 von Hanau bis Salmünster durchgehend befahrbar, und in Bayern wurden die Bauziele auf der A 93 südlich von Weiden sogar um zwei Jahre und auf der A 70 bei Eltmann sowie auf der A 72 südlich Bamberg um ein Jahr unterschritten.
Insgesamt sollte das Ausbauprogramm für die Autobahnen, vor allem für das ganze Zonenrandgebiet, zügig zum Abschluß gebracht werden, wie das für Schleswig-Holstein bis 1990 schon jetzt geplant ist.
Der Ausbau des Schienenverkehrs weist im Vergleich zu den Autobahnen einen großen Nachholbedarf auf, weil bei ihm das Kosten-Nutzen-Verhältnis ungünstiger ist und die finanzielle Lage der Bundesbahn einen Ausbau der Schienenstrecken nicht erlaubte. Die Bundesbahn hat überhaupt nur eine Chance, konkurrenzfähig zu werden, wenn sie schneller ist als der Straßenverkehr. Dies gilt auch für das Zonenrandgebiet. Das heißt, auf den Schnellstrecken muß die Bundesbahn mit den Autobahnen und auf den übrigen Hauptstrecken mit den Bundes- und Staatsstraßen konkurrieren.
Eine solche Forderung konnte mit den bisherigen technischen Möglichkeiten ausschließlich über die Elektrifizierung einer Strecke und häufig genug nur über eine zusätzliche Verbesserung der Trasse erreicht werden. Da sich das angesichts der Ertragssituation und Verschuldung der Bundesbahn nicht rechnete, fuhr die Bundesbahn im Zonenrandgebiet immer stärker in das Defizit.

(Widerspruch bei den GRÜNEN)

Der Pendolino mit seinen wesentlich höheren Geschwindigkeiten auch auf kurvenreichen und steilen Strecken, d. h. vor allem in den geographisch meist schwierigen Räumen des Zonenrandgebietes, scheint dem Schienenverkehr dort eine ganz neue Chance zu eröffnen. In diesem Zusammenhang danke ich dem Bundesverkehrsminister Dr. Jürgen Warnke für den Auftrag, im nordostbayerischen Raum eine Modellkonzeption mit dem Pendolino zu entwickeln. Ich appelliere an die Bayerische Staatsregierung, mitzuhelfen, daß diese — wahrscheinlich einmalige — Chance für das Zonenrandgebiet möglichst rasch genutzt wird.
Bei der Anbindung dieses Raumes an die Verdichtungsräume muß die Bundesbahn darauf achten, daß im Interregio-Konzept möglichst durchgehende Züge geplant werden. Das häufige Umsteigen, unter Umständen auch noch unter Inkaufnahme eines Bahnsteigwechsels, trägt unserer Forderung nach einer verbesserten Verkehrsanbindung des Zonenrandgebietes nicht Rechnung.
In weiten Teilen des Zonenrandgebietes ist die Bundesbahn eine wichtige Säule des ÖPNV, des öffentlichen Personennahverkehrs. Die Stillegung des Schienenverkehrs und der Rückzug der Bahn aus der Fläche darf nicht die wohlfeile Antwort auf wirtschaftliche Probleme der Bundesbahn sein. Wenn immer und wo immer diese Probleme anstehen, muß unter Zusammenwirken aller Beteiligten, d. h. auch der Bundesbahn, eine Lösung gesucht werden, die den Bedürfnissen der Bevölkerung Rechnung trägt.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Öffis vor Töffis!)




Dr. Kunz (Weiden)

Mit Spannung erwartet deshalb der Ausschuß für 1990 die Erfahrungen aus dem ÖPNV-Modell Wunsiedel, das mit erheblichen Mitteln des Bundes, des Freistaates Bayern und des Landkreises unterstützt wird. Solche Konzepte werden für das Zonenrandgebiet noch mehr an Gewicht gewinnen, wenn der Ölpreis wieder steigt, womit mittelfristig gerechnet werden muß. Die Rahmenvereinbarungen der Bundesbahn mit den Ländern Bayern und Schleswig-Holstein stellen auch für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs eine gute Grundlage dar. Die übrigen Bundesländer sollten bald folgen.
Die Alternativen, die die Deutsche Bundesbahn für die zur Stillegung vorgesehenen Ausbesserungswerke Weiden und Fulda entwickelt hat, verdienen großes Lob. Dem Bundeskanzler Kohl und dem Bundesverkehrsminister Dr. Dollinger, die diese Konzeption politisch durchgesetzt haben, spreche ich einen großen Dank aus. Die gefundenen Lösungen sind herausragende Beispiele dafür, wie die Bundesregierung ihren Willen zur Förderung des Zonenrandgebietes auch in die Tat umsetzt.
Es ist das Anliegen des Ausschusses, daß die neuen Schnellbahntrassen, soweit sie nicht ohnehin durch das Zonenrandgebiet führen, so nahe wie möglich an dieses herangelegt werden. Dieses gilt insbesondere für die Strecke Nürnberg—München. Daneben kommt es darauf an, die Interregio-Strecken mit dem IC-Netz zu verknüpfen und die Knoten so zu planen, daß sie den Bedürfnissen des Zonenrandgebietes entsprechen.
Weiterhin fordert der Ausschuß eine direkte und schnell befahrbare Schienenanbindung des Zonenrandgebietes an die großen Flughäfen. Dies gilt insbesondere für den neuen Flughafen München II und für Hamburg-Fuhlsbüttel.
Der Ausschuß brachte darüber hinaus seine Besorgnis zum Ausdruck, daß die unverzichtbare An- und Einbindung Berlins in das europäische Hochleistungschienennetz zu einer Austrocknung der anderen Transitstrecken nach Berlin führen könnte. Dem muß die Bundesregierung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken.
Besonderen Wert legte der Ausschuß bei seinen Beratungen auf die Tatsache, daß das Zonenrandgebiet und seine Verkehrswege in der Lage sein müssen, bei einer künftigen Überwindung der Teilung Deutschlands wieder die Funktion in der Mitte Deutschlands und Europas zu übernehmen. Dies muß bei der gesamten Verkehrspolitik mehr als bisher beachtet werden.
Eine zusätzliche Verbesserung der Verkehrslage des Zonenrandgebietes erwartet der Ausschuß von der Eröffnung weiterer Grenzübergänge zur DDR und zur ČSSR sowie von einer Erleichterung und Vereinfachung der Grenzübertrittsformalitäten. Bei der von der CSSR angekündigten Einrichtung einer VisaAusgabestelle an der Grenze bei Waidhaus sollte die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen darauf achten, daß Visa nicht nur von der einheimischen Bevölkerung, sondern auch von den Urlaubern dieses Verkehrsfremdengebietes erworben werden können und daß die CSSR vor allem nicht durch überhöhte
Gebühren für die an der Grenze beantragten Visa die Erleichterungen unterläuft.
Schließlich legt der Ausschuß größten Wert darauf, daß die Bundesregierung konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet, wie auch künftig die Finanzhilfen des Bundes gewährt werden können, nicht nur für den Ausbau, sondern auch für die Grunderneuerung landwirtschaftlicher Wirtschaftswege, die an die Grenze führen und sowohl von ausländischen Streitkräften wie auch von den deutschen Sicherungsorganen benutzt werden. Die Kosten dieser Wege können nicht den in der Regel ohnehin finanziell sehr schwachen Gemeinden aufgebürdet werden.
Zum Abschluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, spreche ich im Namen meiner Fraktion den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen den Dank für die fachbezogene Mitarbeit aus.

(Beifall des Abg. Walther [SPD])

Dank gilt auch den Mitarbeitern aus den zuständigen Ministerien. Der Bundesregierung gelten ein besonderer Dank und eine große Anerkennung für die gute Politik, die zur verbesserten Anbindung des Zonenrandgebietes beigetragen hat und noch weiter beitragen wird.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107724700
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels.

Dr. Wolfgang Daniels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107724800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Bericht des Jahres 1986 über den Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes schreibt die Bundesregierung pathetisch:
Die Zonenrandförderung bleibt Ausdruck unseres Willens, uns mit den Folgen der deutschen Teilung nicht abzufinden.
Dieser nichtssagenden und immer hohler werdenden Phrase setzen wir GRÜNEN die Forderung entgegen, daß die verheerenden ökologischen Folgen bisheriger regionaler Wirtschafts- und Verkehrspolitik nicht mehr hinzunehmen sind.

(Frau Garbe [GRÜNE]: So ist es!)

Konzept der Regierungsparteien ist es bis heute, die an den östlichen Rändern der Republik gelegenen Regionen ohne Berücksichtigung ihrer Eigenarten auf das Entwicklungsniveau der industriellen Zentren zu heben. Die Defizite der Provinz werden dann auch konsequenterweise in ihrem Abstand zu den Metropolen gemessen, am Abstand der Autobahnkilometer, des Pro-Kopf-Bruttosozialprodukts, der Industriedichte oder des Einkommensniveaus.
Stark flächenverbrauchende, luft- und gewässerverschmutzende und zudem gefährliche Anlagen werden bevorzugt und mit staatlicher Hilfe in die geographischen und industriellen Randgebiete abgeschoben. Klassische Beispiele dafür sind die geplanten sogenannten Entsorgungseinrichtungen der Nuklearindustrie in Schwandorf und Gorleben, Müllverbrennungsanlagen, militärische Anlagen oder infra-



Dr. Daniels (Regensburg)

strukturelle Großprojekte wie Kanäle, Flughäfen und Autobahnen.
Seit Bestehen der Bundesrepublik bedeutet Verkehrspolitik für die maßgebenden Teile in Politik und Wirtschaft zuallererst Autopolitik — das haben Sie mit Ihren Äußerungen eben noch einmal belegt, Herr Kunz —, zu deren Gunsten insbesondere die Eisenbahn völlig ins Hintertreffen geriet.
Dieses riesige Ungleichgewicht möchte ich Ihnen an zwei Zahlen verdeutlichen. Zwischen 1960 und 1983 wurden bundesweit über 210 Milliarden DM ins Straßennetz investiert, wohingegen sich der Schienenverkehr mit 23 Milliarden DM begnügen mußte. Darüber hinaus flossen die ohnehin unzureichenden Mittel größtenteils in das Fernstreckennetz der Bundesbahn, während das einstmals umfangreiche Zweigstreckennetz in der Fläche total vernachlässigt wurde und nach wie vor im Abbau begriffen ist.

(Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Benutzt ja niemand mehr!)

Das ist eine Entwicklung, die sich nach dem Willen der tonangebenden Politiker und der Führung der Deutschen Bundesbahn noch weiter fortsetzen soll.
Es ist immer derselbe Teufelskreis: Einem unattraktiven Angebot folgt eine niedrige Inanspruchnahme, folgen weitere Streckenstillegungen und dann wieder weniger Inanspruchnahme. So verschwanden im Zonenrandgebiet zwischen 1971 und 1983 über 1 000 , Kilometer Strecke für den Reisezugbetrieb und allein in den beiden Jahren 1984 und 1985 noch einmal 150 Kilometer.
Nahezu emphatisch wird die Bundesregierung in ihrem Bericht, wenn es um die möglichen Auswirkungen des neuen ICE für das Zonenrandgebiet geht. Wer aber realistisch denkt und Bundesbahnpolitik kennt, weiß, daß die Bewohner des Zonenrandes dem ICE bestenfalls gerade noch hinterhersehen können, bevor er wieder im nächsten Tunnel verschwindet.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Uns GRÜNEN geht es darum, Produktions- und Verbrauchsstrukturen so zu gestalten, daß sie sich weitestgehend in natürliche Stoffkreisläufe einfügen. Nur in einer solchen Wirtschaftsform wird es möglich sein, eine Raumnutzung zu gewährleisten, die sorgsam mit ihren Lebensgrundlagen umgeht.
Wir wollen eine kleinräumige Mischung verschiedener Nutzungstypen, eine Raum- und Siedlungsstruktur, die ein Nebeneinander der verschiedenen Lebensräume — Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Versorgung, Bildung usw. — zuläßt. Für Pendler werden damit die Distanzen zwischen Arbeitsplatz und Wohnort vermindert. Der Energiebedarf wird verringert. Für die Straßenbauorgie im Zonenrand wird der sogenannte Sachzwang beseitigt.
Dies bedeutet gleichzeitig eine klare Absage an das bisher praktizierte Konzept der funktionsräumlichen Arbeitsteilung, das dem ländlichen Raum eine exportorientierte Spezialisierung anempfiehlt. Statt dieser Außenorientierung streben wir eine Erhöhung der innerregionalen Produktionsverflechtungen an und damit eine Reduzierung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den industriellen Zentren.
Darüber hinaus sind wir der Meinung, daß über die Angelegenheiten der Bevölkerung hier und insbesondere des Zonenrandes die Betroffenen selbst entscheiden müssen und nicht die fernen Konzernzentralen, Verwaltungen und Parlamente. Wir wollen eine weitgehende Verlagerung des Verkehrs vom Auto auf relativ umweltverträgliche Verkehrsmittel wie Bahn, Bus und Fahrräder. Dabei ist die Demontage des Schienennetzes zu stoppen und statt dessen der Eisenbahnverkehr auch in der Fläche wieder zu intensivieren.
Der hier zu bewertende Bericht der Bundesregierung geht weiter von einem massiven Ausbau der Fernstraßen im Zonenrandgebiet aus. Demgegenüber fordern die GRÜNEN aus ökologischen und sozialen Gründen einen generellen Baustopp. Einzige Ausnahme ist der Bau von Ortsumgehungsstraßen, allerdings an Umweltverträglichkeitsprüfungen unter der Beteiligung der betroffenen Bevölkerung gekoppelt.
Vor der Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes 1992 muß eine weitere Verlagerung des Güterverkehrs auf die Straße zum Beispiel durch eine Schwerverkehrsabgabe verhindert und das umweltfreundliche Transportmittel Bundesbahn wieder attraktiv gemacht werden. Daß sich jetzt neben dem innerdeutschen auch der Verkehrsausschuß auf Initiative der GRÜNEN für einen zügigen Gesamtausbau der Strecke Dortmund—Kassel ausgesprochen hat, ist erfreulich. Die Beschaffung neuer energiesparender Dieselleichttriebzüge, die in Schleswig-Holstein im Stundentakt verkehren und dort schon zu einem höheren Fahrgastaufkommen geführt haben, müssen beschleunigt im restlichen Zonenrandgebiet eingesetzt werden.
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. Der Herr Bundespräsident hat sich vor kurzem in der nördlichen Oberpfalz für eine Öffnung der Grenzen zur Tschechoslowakei ausgesprochen. Ähnliche Äußerungen liegen von seiten der Tschechen vor. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ernster zu verhandeln

(Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Das ist doch dummes Zeug!)

und insbesondere die Diffamierungen zukünftiger tschechischer Grenzgänger als Spione — so ist es tatsächlich gesagt worden — aufzugeben.
Wir können aus Gründen des massiven Ausbaus des Fernstraßennetzes, der in dem Antrag gefordert wird, dieser Vorlage nicht zustimmen, obwohl wir in Einzelpunkten sonst mit der Vorlage des Ausschusses übereinstimmen.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107724900
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1107725000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schmerzliche Grenze, die Deutschland teilt, teilt auch Europa. Sie zerschneidet nicht nur menschliche Bindungen, sondern auch Verkehrswege, Verkehrswege, die traditionell gewachsen waren, Verkehrswege, die traditionell in West-Ost-Rich-



Bredehorn
tung ausgerichtet waren, Verkehrswege, die für die Verbindung von Menschen und für die Warenströme von West nach Ost und von Ost nach West von außerordentlicher Bedeutung waren.
Der Deutsche Bundestag hat mit seinem Beschluß zur Verbesserung der Eisenbahnverbindung nach Berlin einen ersten Schritt zur Überwindung dieser Spaltung getan, der längst überfällig war. Damit kann die Grundlage für einen modernen europäischen Eisenbahnschnellverkehr im internationalen West-OstStreckenverbund Paris—Köln—Hannover—Berlin—Warschau, ja vielleicht bis nach Moskau geschaffen werden. Es wird allerdings noch ein hartes Stück Arbeit sein, dieses Vorhaben auf die Schiene zu setzen.
Trotzdem dürfen wir nicht nachlassen, in diesem Sinne weiterzuwirken. Die Glaubwürdigkeit unserer Deutschland- und Ostpolitik, die auf eine konsequente Fortsetzung des KSZE-Prozesses ausgerichtet ist, würde Schaden leiden, wenn wir Verkehrspolitik nur in westeuropäischen Dimensionen dächten und planten. Wer Grenzen für die Menschen durchlässiger machen will, muß dafür eintreten, die möglichen modernen Verkehrsverbindungen für ganz Europa zu schaffen.

(Beifall bei der FDP)

Der Weg dahin ist aber weit. Bis dahin bleibt es unsere Aufgabe, die Folgen der Teilung, die im Zonenrandgebiet besonders spürbar sind, zu mildern. Hier kommt dem Verkehrssektor, der sich dort nach dem Kriege völlig neu orientieren mußte, eine wichtige Rolle zu. Ich begrüße es deshalb, daß sich der Innerdeutsche Ausschuß und der Unterausschuß Zonenrandförderung mit diesem bedeutsamen Bereich erneut sorgfältig befaßt haben und in der vorgelegten Beschlußempfehlung sowie in dem dazugehörigen Bericht dem bedarfsgerechten Ausbau der Verkehrsinfrastrukur im Zonenrandgebiet Richtung gewiesen haben. Die FDP-Fraktion kann dem voll zustimmen.

(Beifall bei der FDP)

Abschließend möchte ich kurz einige Forderungen besonders herausstellen.
Erstens. Die Anträge aller Fraktionen zum Gesamtausbau der Eisenbahnverbindung Dortmund—Kassel, die zur Zeit in den Ausschüssen beraten werden, verdienen unsere Unterstützung. Dabei geht es nicht nur um die Ausbaustrecke Dortmund—Paderborn, sondern der Abschnitt Paderborn—Kassel, der im Bundesverkehrswegeplan '91 bis '96 neu bewertet wird, muß ohne weitere Verzögerung auf den Weg gebracht werden.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Am 4. Mai 1988, also gestern, gab es einen einstimmigen Beschluß hierzu im Verkehrsausschuß.
Der Ausbau der Gesamtstrecke Dortmund—Kassel hat große wirtschaftliche Bedeutung, nicht nur weil dadurch das Ruhrgebiet im Personen- und Güterverkehr an die Strecke Hannover—Berlin angebunden würde, sondern auch weil dadurch ein wichtiger Beitrag zu einer europäischen West-Ost-Verbindung geleistet wird.

(Sehr gut! bei der SPD)

Zweitens. Das Zonenrandgebiet muß in das künftige Interregio-Netz der Deutschen Bundesbahn bedarfsgerecht eingebunden werden.
Drittens. Die geforderten und notwendigen StraBenausbauvorhaben im Zonenrandgebiet sind in den vordringlichen Bedarf aufzunehmen.
Viertens. Erfreulicherweise hat der innerdeutsche Reiseverkehr weiter zugenommen. Wir fordern daher die Öffnung zusätzlicher bzw. die Erweiterung der bestehenden Grenzübergänge.

(Zuruf von der SPD: Sie sind doch in der Regierung!)

Meine Damen und Herren, Grenze und Stacheldraht beschränken die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur im Zonenrandgebiet auf die Nord-SüdRichtung. Aber im Sinne des KSZE-Abkommens müssen wir uns immer vergegenwärtigen, daß diese Nord-Süd-Ausrichtung auch eine Funktion für den West-Ost-Verkehr hat.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107725100
Das Wort hat der Abgeordnete Seidenthal.

Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1107725200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Deutschlandpolitik der SPD unter Willy Brandt und Helmut Schmidt hat einen wesentlichen Beitrag zur Bewahrung der Nation geleistet, die Folgen der Teilung für die Menschen gelindert und zur Entspannung in Europa beigetragen. Hinzu kommt das Ziel unserer Politik, die Lebensverhältnisse der Menschen in beiden deutschen Staaten zu verbessern, die innerdeutsche Grenze durchlässiger zu machen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, nach mehr als vierzig Jahren der Teilung Deutschlands sind die Folgen dieser Grenzziehung für die Gebiete unmittelbar am Zonenrand noch nicht überwunden. Wie schon mehrmals festgestellt, befindet sich dieser früher zentral gelegene Raum heute an der Peripherie der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft mit all den sich daraus ergebenden regionalpolitischen Problemen. Solange die Folgen dieser Randlage durch gezielte Maßnahmen nicht überwunden werden, ist eine Sonderförderung nötig.
Das Zonenrandförderungsgesetz, das von einer SPD-geführten Bundesregierung eingebracht und vor nahezu 17 Jahren einstimmig verabschiedet worden ist, bildet die Grundlage für die Förderungsmaßnahmen. Für meine Fraktion bekräftige ich an dieser Stelle die Zielsetzung dieses Gesetzes und stelle fest, daß sich das Gesetz grundsätzlich bewährt hat.
Meine Damen und Herren, die verpflichtende Zielvorgabe dieses Gesetzes ist die Maxime unseres Handelns. Der heute zur Beratung und Beschlußfassung vorliegende Bericht „Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Fortgang der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes — Bericht 1986 des Bundesministers für Verkehr über die Jahre 1984 und 1985 — " gibt mir Gelegenheit, für die SPD zu unterstreichen, daß die vorhandene Verkehrsinfrastruktur im Zonenrand nicht nur zu erhalten, sondern



Seidenthal
auch bedarfsgerecht auszubauen bzw. zu ergänzen ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich stelle hier fest, daß hier Übereinstimmung mit meinen Vorrednern vorliegt. Der Bericht gibt die Möglichkeit, hierzu eine Reihe von Forderungen und Anregungen zu unterbreiten.
Mein Fraktionskollege Hiller hat zu einigen grundsätzlichen Punkten für meine Fraktion Stellung genommen. Lassen Sie mich bitte folgende Ergänzungen machen.
Mit Sorge betrachten wir den weiter fortschreitenden Rückzug des schienengebundenen Verkehrs aus der Fläche. Wir stellen fest, daß die Schritt für Schritt vorgenommenen Streckenstillegungen der Deutschen Bundesbahn die strukturelle Entwicklung der Zonenrandländer gefährden, zum weiteren Abbau des Bedienungsstandards im öffentlichen Personennahverkehr führen und im Gegensatz zu dem Ziel stehen, die Gleichmäßigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik herzustellen. Nach meiner Auffassung orientieren sich die Leitlinien der Deutschen Bundesbahn an einer engen betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise und vernachlässigen dabei die auch von der Deutschen Bundesbahn wahrzunehmenden gemeinwirtschaftlichen Belange.

(Beifall bei der SPD)

Trotzdem unterstreichen und unterstützen wir das Modernisierungs- und Rationalisierungskonzept der Deutschen Bundesbahn, das sich aber orientieren muß an einer gesamtwirtschaftlichen Funktionsbestimmung der Deutschen Bundesbahn, an den wirtschaftlichen und strukturellen Entwicklungsperspektiven der Länder — insbesondere der im Zonenrand — sowie an der Sicherung einer bedarfsgerechten Bedienung und fahrplanmäßigen Verknüpfung von Gemeinden, Städten und Regionen an die Fernverkehrsstrecken im Personen- wie im Güterverkehr. Die Durchführung dieses Konzepts darf aber nicht einseitig zu Lasten des Zonenrandgebietes erfolgen.
Mit Befriedigung nehmen wir zur Kenntnis, daß es nach den Rahmenvereinbarungen mit Schleswig-Holstein und Bayern in absehbarer Zeit auch zum Abschluß einer entsprechenden Vereinbarung zwischen der Deutschen Bundesbahn und dem Land Niedersachsen kommt. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Weiterbetrieb des Schienen- Personennahverkehrs auf den Strecken im niedersächsischen Zonenrandgebiet Soltau—Uelzen, Uelzen—Gifhorn—Braunschweig, Helmstedt—Schöningen—WolfenbüttelBraunschweig, Salzgitter Drütte—Salzgitter Legenstedt und Osterode—Herzberg der Deutschen Bundesbahn durch eine verbindliche Erklärung aus struktur-
und deutschlandpolitischen Gründen aufzuerlegen. Dadurch werden sowohl die Attraktivität als auch die Wirtschaftlichkeit des Schienen- Personennahverkehrs gesteigert und die schon näher beschriebenen Strecken in ihrem Bestand für die nächsten Jahre garantiert.
Wir begrüßen, daß die Bundesregierung nunmehr auch auf die Probleme des Berlin-Verkehrs eingeht. Die bisherige Entwicklung des Eisenbahn-Transitverkehrs ist von strukturellen Schwierigkeiten gekennzeichnet. Obwohl eine Reihe von Verbesserungen des Angebotes in den letzten Jahren erzielt wurden, gilt es, die Attraktivität des Eisenbahnverkehrs durch IC-ähnliche Reisegeschwindigkeiten, einen Takt-Fahrplan und klimatisierte Wagen zu steigern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, schon heute ist West-Berlin einer der wichtigsten realen Verbindungsfaktoren zwischen den beiden deutschen Staaten. Tragen wir durch zügige Verhandlungen mit der DDR über den Bau einer Schnellbahnverbindung dazu bei, daß Berlin seine zentrale europäische Verkehrslage nutzt und nicht trotz, sondern wegen seiner politischen Situation Ausgangspunkt für ein Schnellbahnnetz nach Ost und West wird!

(Beifall bei der SPD)

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß der Bundestagsausschuß für innerdeutsche Beziehungen meine Anregung aufgenommen hat, bei der Festlegung der Trasse für die Schnellbahnverbindung Berlin—Hannover auch die Vorschläge des Landes Niedersachsen und die Interessen des Oberzentrums Braunschweig aus deutschland-
und strukturpolitischen Gründen zu bedenken.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, für uns Sozialdemokraten sind die Öffnung zusätzlicher bzw. die Erweiterung bestehender Grenzübergänge zur DDR und die Erleichterung der Grenzformalitäten und die Ausstellung von Visa an den Grenzübergängen zur CSSR eine zentrale Forderung für die Zukunft.

(Beifall bei der SPD)

Wir ermuntern deshalb die Bundesregierung, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen.

(Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Das liegt nicht an der Bundesregierung!)

— Das ist mir klar, Kollege Kunz, aber wir fordern die Bundesregierung trotzdem auf, hier weiter tätig zu sein.

(Zuruf von der SPD: An Zimmermann liegt es!)

Der Wunsch der Bevölkerung im Zonenrandgebiet, an der inzwischen eingetretenen Zunahme des innerdeutschen Reiseverkehrs ohne weite Umwege und Behinderungen teilzuhaben, ist verständlich. Neue Grenzübergänge in die DDR verbessern die Verbindungen zwischen den Menschen beider deutscher Staaten, fördern den Dialog und dienen zur Wiederherstellung zerrissener familiärer und freundschaftlicher Bindungen. Für meinen Wahlkreis heißt das konkret die Öffnung des Grenzüberganges Büstedt—Oebisfelde.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, zu den im Bericht ebenfalls aufgeführten Punkten Bundesfernstraßen, Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden, Bundeswasserstraßen und Vergabe öffentlicher Aufträge an Bewerber aus dem Zonenrandgebiet hat meine Fraktion im Ausschuß Vorschläge unterbreitet, so daß ich darauf nicht weiter eingehe.



Seidenthal
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Die SPD-Bundestagsfraktion mißt der Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes besondere Bedeutung bei. Wir werden künftige Berichte der Bundesregierung unter diesem Gesichtspunkt kritisch würdigen und weiterhin konstruktive Beiträge leisten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, bei unseren gemeinsamen Bemühungen, die Folgen der Teilung im Zonenrand zu mildern, geht es für uns alle darum — um mit einem Zitat des früheren Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Herbert Wehner zu schließen — , „Menschen zu helfen, die ohne eigene Schuld an den Rand des Geschehens gedrängt worden sind".
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107725300
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr.

Dr. Jürgen Warnke (CSU):
Rede ID: ID1107725400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung bedeutet der gesetzliche Auftrag zur bevorzugten Verkehrserschließung des Zonenrandgebietes eine besondere Verpflichtung.

(Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: Das ist eine reine Floskel!)

Verbesserungen der Verkehrserschließung und -anbindung haben bereits dazu beigetragen, Abwanderung zu begrenzen und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft des Zonenrands zu stärken. Aber: Die Gefahr ist nicht gebannt, und wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.
Daß diese Anstrengungen zu dem Bereich gehören, in dem Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg möglich und erfolgreich ist, stelle ich ausdrücklich fest. Und wenn Herr Kollege Seidenthal auf die Entstehungsgeschichte des Zonenrandförderungsgesetzes hingewiesen hat, dann ergänze ich es der Vollständigkeit und Ausgeglichenheit halber damit, daß der erste Entwurf eines Zonenrandförderungsgesetzes, der dem Deutschen Bundestag vorgelegen hat, im Jahre 1970 die Unterschrift „Dr. Barzel und Fraktion" getragen hat. Und ich meine, der Name Barzel wird hier zu Recht im Zusammenhang mit dem Namen Wehner erwähnt, zwei Männer, die sich um die Zonenrandförderung verdient gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Bei der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplans werden zahlreiche Straßenbauprojekte aus dem Zonenrandgebiet in den vordringlichen Bedarf vorgezogen. Das Zonenrandgebiet ist im Verhältnis zu seinem Bevölkerungsanteil überproportional am Ausbau der Bundesverkehrswege beteiligt.
Vor allem sind neue Ziele für den Ausbau des Schienennetzes gesteckt. Für das Zonenrandgebiet ist die Bundesregierung mit dem von vielen Rednern vorgetragenen Gedanken der Bedeutung der Strecke Dortmund—Kassel einig. Mit dem Ausbau des Abschnitts
von Dortmund nach Paderborn wird noch in diesem Jahr begonnen.

(Wolfgramm [Göttingen] [FDP]: Sehr gut!)

Für den Abschnitt zwischen Paderborn und Kassel habe ich die Deutsche Bundesbahn aufgefordert, eine erneute Bewertung vorzunehmen mit dem Ziel, die Wirtschaftlichkeit durch Einbeziehung neuer Tatsachen nachweisen zu können.

(Wolfgramm [Göttingen] [FDP]: So wie ich es gewünscht habe! Herzlichen Dank!)

Wie Sie wissen, soll die neue Strecke von Hannover nach Würzburg im Jahre 1991 in Betrieb genommen werden. Der Ausbau der nach Norden anschließenden Strecke nach Hamburg wird noch in diesem Jahr abgeschlossen sein. Südlich von Würzburg erfolgen der Ausbau bis Nürnberg und die Weiterführung nach München. Dadurch entsteht zwischen Hamburg und München eine neue Achse für den Eisenbahnverkehr,

(Zuruf von den GRÜNEN: Was hat das mit dem Zonenrandgebiet zu tun?)

der auf weiten Teilen eine reine Zonenrandstrecke darstellt.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Der fährt am Zonenrandgebiet vorbei, und zwar möglichst schnell! — Frau Garbe [GRÜNE]: Jetzt schon!)

Göttingen, Kassel, Fulda sind die Orte, wo er nicht am Zonenrand vorbeifährt, sondern wo er im Zonenrand halten wird. Diese Strecke wird den Zonenrand unmittelbar ab 1991 an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Deutschen Bundesbahn anschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD — Frau Garbe [GRÜNE]: Das nützt nichts!)

Ich stelle mit großer Genugtuung fest, daß es hier gelungen ist, diesem Gebiet, das so lange Rückstand im Verkehr hatte, nun den Schritt ins Jahr 2000 und darüber hinaus zu ermöglichen. Als Abgeordneter des bayerischen Zonenrandgebietes möchte ich das niedersächsische und das hessische Zonenrandgebiet zu dieser Aufwertung der Standortqualität beglückwünschen.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Sie können mit Hochgeschwindigkeitsstrecken keine Gebiete erschließen! — Frau Garbe [GRÜNE]: Überhaupt nicht, im Gegenteil!)

Nun ist es allerdings notwendig, daß wir die Fläche an jene Haltepunkte der Hochgeschwindigkeitsstrecke, die der Natur der Sache nach natürlich nur wenige sein können, anbinden.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Das hat bisher nie geklappt!)

Das wird durch ein System geschehen, das die Bundesbahn vorerst „Interregio" genannt hat, mit dem in der Tat Geschwindigkeiten bis auf die heutige Intercity-Geschwindigkeit von 200 km/h gefahren werden können. Zwanzig für das Zonenrandgebiet bedeutende Städte — ich nenne Lübeck, Lüneburg, Celle, Braunschweig, Goslar, Göttingen, Fulda, Bamberg,



Bundesminister Dr. Warnke
Coburg, Hof, Weiden und Passau — werden mit Interregio-Zügen bedient und an die Hochgeschwindigkeitsstrecke angebunden, und damit wird die Räche erschlossen.
Dann kommt — was sicher auch notwendig ist — die Frage des öffentlichen Personennahverkehrs in der Fläche hinzu. Mit dem Modellversuch, den Herr Kollege Kunz gerade zitiert hat, wollen wir über die Bahn und über die Busse auch die Einbeziehung des privaten Mietwagengewerbes, hier durch das Anruftaxi, mit ins Auge fassen und damit zusätzliche Beschleunigungen und zusätzlichen Komfort bei gleichzeitiger Kostenerleichterung für die Träger des öffentlichen Personennahverkehrs herbeiführen.
Meine Damen und Herren, der Regionalluftverkehr hat sich in Teilen des Zonenrandgebiets erfreulich entwickelt. Er hat für die Randregionen höhere Bedeutung als für die zentralen Gebiete. Als jetzt im Zusammenhang mit der Überlastung des Luftraums in Frankfurt und in München der Vorschlag kam, den Regionalluftverkehr von diesen Drehscheiben des deutschen Flugverkehrs abzuhängen, weil ein Metroliner mit 20 Fluggästen genauso viel Zeit in Anspruch nimmt wie ein Jumbo mit 300 Gästen, also dem 15fachen, habe ich dem einen Riegel vorgeschoben. Wir werden auch in Zukunft die liberale Genehmigungspraxis beim Zonenrand-Regionalflugverkehr beibehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Verbesserung des Berlin-Verkehrs stand in der Tat lange Zeit der Straßenbau im Vordergrund. Aber Berlin ist nach Herstellung der innerstädtischen Anbindung zur Nordautobahn nach Hamburg nun vollständig über Autobahnen an das Bundesgebiet angeschlossen, im übrigen einer Anbindung zur Nordautobahn, die den Berliner Urlaubern auch den Zugang zu den Fremdenverkehrsgebieten des schleswig-holsteinischen Zonenrandgebietes erheblich erleichtert.
Nun ist die Zeit gekommen, wo wir der Schienenanbindung Berlins Vorrang geben können. Obwohl es in den letzten Jahren vor allem dank der guten Zusammenarbeit zwischen den Eisenbahnen eine Reihe von Fortschritten gegeben hat, ist hier der Nachholbedarf am größten. Um so wichtiger ist, daß das, was bisher nur ein Denkmodell war, jetzt in ein konkretes Stadium getreten ist.
Beim Besuch von Generalsekretär Honecker im Februar wurden die Sondierungsgespräche vereinbart, die inzwischen aufgenommen und zu einer erfreulichen Reifung gebracht worden sind. Es geht um die Verkürzung der Reisezeiten, um höhere Zugfrequenzen und um einen besseren Reisekomfort nach Berlin. Auf dem Weg dorthin — denn die Hochgeschwindigkeit wird auch bei einem, wie wir hoffen, schleunigen erfolgreichen Abschluß der Gespräche mit der DDR vielleicht noch sieben Jahre auf sich warten lassen — wollen wir die Möglichkeiten des Interregio-Verkehrs mit seinem Komfort und mit seiner Geschwindigkeit auch für den Berlin-Verkehr ausloten. Dies werden Gespräche sein, die ich mit dem DDR-Kollegen Arndt noch vor der Sommerpause führen möchte.
Meine Damen und Herren, wir haben insgesamt eine Akzentverlagerung der Investitionen vom Straßenbau in die Schiene vorgenommen. Jeder, der sich damit beschäftigt, hat es zur Kenntnis genommen. Dies geht weit über das Zonenrandgebiet hinaus, kommt aber auch dem Zonenrandgebiet zugute.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Süden Schleswig-Holsteins, die Region um Braunschweig und Kassel, Oberfranken — all dies lag einst nicht am Rande, sondern auf der Mittelachse Deutschlands.
Die Signale der Öffnung, die wir von der DDR, von der CSSR und anderen Ostblockstaaten erfahren, werden von uns positiv beantwortet mit dem Ziel, auch den Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungen und damit den Anschluß des Zonenrands nach Osten voranzutreiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler hat sich in diesem Jahr mit dem Ministerpräsidenten der CSSR darauf verständigt, Möglichkeiten für eine beschleunigte Verwirklichung der Autobahn von Prag nach Nürnberg zu suchen. Ich habe der CSSR mitgeteilt, daß ich für den deutschen Teil dieser Autobahn solche Möglichkeiten sehe. Eine durchgehende Autobahnverbindung Nürnberg—Prag würde Nordbayern und dem Zonenrandgebiet zweifach nützen, die Anbindung an das übrige Bundesgebiet verbessern, vor allem aber diese Region aus ihrer Randlage herausführen.
Dem dient auch die Bemühung, Grenzübergänge zusätzlich zu öffnen. Ich denke an WaldsassenHundsbach im Bereich der Oberpfalz; ich denke an die Öffnung Rottenbach-Eisfeld zur DDR für den Güterverkehr. Zweimal — im Oktober des vorigen Jahres und im Januar dieses Jahres — hat der Bundeskanzler, habe ich persönlich über die Beschleunigung der Abfertigung bei der Eisenbahn beim grenzüberschreitenden Verkehr von der CSSR verhandelt. Dies steht auf der Liste, deren Erfolgskontrolle für Ende dieses Jahres vorgesehen ist.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, immer wieder hören wir bei diesen Gesprächen von unseren Partnern: Wir sind Mitteleuropa, so wie ihr es seid.

(Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: So ist es! — Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir sind uns bewußt, daß wir, die wir die Gnade des Schicksals haben, im freien Teil dieses Mitteleuropas leben zu können, die Pflicht haben, die Brücken in den anderen Teil hinein zu schlagen. Auch dazu dient die Zonenrandpolitik der Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107725500
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen auf Drucksache 11/1794. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen worden.



Vizepräsident Westphal
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:
19 a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur wirtschaftlichen Bedeutung der Antarktis und des Südpolarmeeres
— Drucksachen 11/939, 11/2191 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sprung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schily, Frau Garbe und der Fraktion DIE GRÜNEN
Schutz der Antarktis
— Drucksache 11/2183 —
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Schutz der Antarktis
— Drucksache 11/2240 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sprung.

Dr. Rudolf Sprung (CDU):
Rede ID: ID1107725600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor drei Tagen hat in Wellington (Neuseeland) die Schlußrunde des 4. Sonderkonsultativtreffens im Rahmen des Antarktis-Vertrags begonnen. Ihr Ziel ist der Abschluß der Verhandlungen über ein Regime, den Entwurf einer Konvention über die mineralischen Vorkommen der Antarktis. Die Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses hat diese Schlußverhandlungen zum Gegenstand.
Die wirtschaftlichen Ressourcen der 14 Millionen qkm großen Antarktis sind bis heute nur in den Ansätzen erforscht. Die Erschließung der dort vermuteten Rohstoffe setzt deshalb noch langjährige, wahrscheinlich noch Jahrzehnte in Anspruch nehmende Prospektierungen voraus. Aber auch wegen des technologischen Aufwands und der hohen Erschließungs- und Gewinnungskosten kommt eine Nutzung der mineralischen Ressourcen frühestens im nächsten Jahrhundert in Betracht. Dafür, daß dennoch schon jetzt über den Zugang zu Rohstoffaktivitäten verhandelt wird, gibt es zwei Gründe.
Erstens. Es ist zweckmäßig, schon jetzt vorsorglich frühzeitig völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen, einen rechtlichen Rahmen über Prospektion, Aufsuchung und Gewinnung mineralischer Ressourcen in der Antarktis zu beschließen, bevor sich die Frage aktuell stellt.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das muß überhaupt nicht sein!)

Zweitens. Es bedarf dringend eines vorbeugenden wirksamen Schutzes der leicht verletzlichen antarktischen Umwelt und der abhängigen und verbundenen Ökosysteme bei Ressourcenaktivitäten.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das verträgt sich nicht!)

— Ich werde gleich noch darauf zurückkommen, welchen Zusammenhang es zwischen diesem Regime und dem Umweltschutz gibt. Ich komme darauf gleich noch zurück.
Der Antarktis-Vertrag enthält bekanntlich keine die mineralischen Vorkommen und den Schutz der Umwelt betreffenden Regelungen. Die Verhandlungen über ein Regime über die Nutzung der mineralischen Ressourcen geben die Möglichkeit, diese Lücke — besser muß man wohl sagen: diese beiden Lükken — zu schließen. Dies muß geschehen, bevor sich einzelne Konsultativstaaten wegen mangelnder Fortschritte bei der Aushandlung des Regimes nicht mehr an das im Jahre 1977 vereinbarte Moratorium gebunden fühlen. Die Folge wäre dann, daß Ressourcenaktivitäten wegen des Fehlens völkerrechtlich verbindlicher oder international allgemein anerkannter rechtlicher Regelungen frei durchgeführt werden könnten, möglicherweise mit gravierenden, ja verheerenden Folgen für die antarktische Umwelt. Aus diesem Grund muß ein schneller Verhandlungsfortschritt mit dem Ziel der Vereinbarung eines Regimes über die Nutzung der mineralischen Ressourcen angestrebt werden.

(Zuruf von den GRÜNEN: Ja, die kontrollierte Zerstörung!)

Ein wesentliches deutsches Verhandlungsziel bei der Konferenz in Wellington muß es sein, einheitliche Vorschriften zum Schutz vor Umweltschäden durch Prospektion, Aufsuchung und Gewinnung mineralischer Rohstoffe zu schaffen. Darüber hinaus müssen Regelungen über eine Haftung bei Umweltschäden getroffen werden.
Die Erforschung der Antarktis und die eventuelle spätere Gewinnung von Rohstoffen stellen eine gewaltige technologische Herausforderung dar. Unter dem Gesichtspunkt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und Industrie ist es deshalb zu begrüßen, daß sich die Bundesregierung nachhaltig darum bemüht, unseren Unternehmen und Forschungseinrichtungen einen gleichberechtigten Zugang zu Ressourcenaktivitäten in der Antarktis offen zu halten.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Ja, ja, schnell am Drücker sein!)

Daneben gilt es, an den Anstrengungen für eine gleichberechtigte Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an den Institutionen und Entscheidungsprozessen des zu schaffenden Regimes festzuhalten. Der bisherige Verlauf der Verhandlungen bereitet allerdings gewisse Sorgen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Ebenso wie bei der UN-Seerechtskonferenz besteht die Gefahr, daß im Rahmen der Regelungen über die Erschließung mineralischer Vorkommen planwirtschaftliche Grundprinzipien verankert werden. Bei der Seerechtskonvention führte dies dazu, daß bedeutende westliche Industrienationen die Unterzeich-



Dr. Sprung
nung verweigert haben. Es wäre nach meiner Meinung auch im Hinblick auf die Aspekte des Umweltschutzes in dieser Region fatal, wenn dem Regime über die Nutzung mineralischer Ressourcen der Antarktis ein ähnliches Schicksal beschieden wäre wie der Seerechtskonvention. Deshalb muß bereits im Verhandlungsstadium sichergestellt werden, daß die Fehler, die während der Verhandlungen über die Seerechtskonvention begangen wurden, sich nicht wiederholen. Es muß sichergestellt werden, daß das Regime nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen gestaltet wird.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen? Das darf doch wohl nicht wahr sein!)

Nur so kann erreicht werden, daß der Vertrag für alle Interessenten

(Frau Garbe [GRÜNE]: Mein Gott, ihr kriegt die Welt wirklich noch kaputt!)

gerechte Lösungen zur Prospektion und Gewinnung der Rohstoffe in der Antarktis schafft und nicht ebenso ad acta gelegt wird, wie es mit der Seerechtskonvention geschehen ist.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Was wollen Sie denn dort abbauen?)

— Nun, wenn nichts abzubauen ist, dann brauchen Sie auch die Gefahr nicht zu fürchten, die Sie sehen.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Wer soll das denn bezahlen? Haben Sie darüber einmal nachgedacht?)

Abzulehnen ist, meine Damen und Herren — dies möchte ich besonders betonen — , die Einführung einer UN-Regelung für die Antarktis. Der AntarktisVertrag von 1959, der für alle interessierten Staaten offen ist, hat sich bewährt. Ich glaube, darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheit.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Nein, das stimmt!)

Er hat — entsprechend erfolgreich — die freie und ungestörte wissenschaftliche Erforschung der Antarktis gesichert, dort politische Spannungen verhindert, eine Militarisierung unterbunden und die Frage der Hoheitsansprüche in der Schwebe gelassen. An diesem bewährten System darf nicht gerüttelt werden.
Ziel der Politik der Bundesregierung muß es deshalb sein, die Verhandlungen über ein Regime zur Nutzung der mineralischen Ressourcen der Antarktis zu einem positiven Abschluß zu bringen. Sollten die Verhandlungen scheitern, bestünde die Gefahr, daß es doch noch zu einer UN-Verwaltung mit sehr zweifelhafter Effizienz käme, und zwar mit all den negativen Folgen, die dies für die Antarktis, aber insbesondere auch für die Umwelt in der Antarktis hätte.
Vor diesem Hintergrund ist die aktive Mitwirkung der Bundesregierung bei den Verhandlungen zu begrüßen. Auch weiterhin muß versucht werden, die anstehenden Probleme zu lösen.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Aber nicht in dieser Form!)

— Wir waren gar nicht auseinander mit den Kollegen aus Ihrer Fraktion, Herr Stahl, als wir uns im Wirtschaftsausschuß über dieses Thema unterhalten haben.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107725700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?

Dr. Rudolf Sprung (CDU):
Rede ID: ID1107725800
Wenn es nicht angerechnet wird, ist es in Ordnung.

Erwin Stahl (SPD):
Rede ID: ID1107725900
Herr Staatssekretär, empfinden Sie es im Vorfeld der Verhandlungen und bei den Verhandlungen als richtig, daß Sie als Vertreter der Bundesregierung — —

Dr. Rudolf Sprung (CDU):
Rede ID: ID1107726000
Ich darf Sie unterbrechen und eine Korrektur vornehmen. Ich vertrete hier nicht die Bundesregierung, sondern ich bin ein Abgeordneter wie Sie. Der Vertreter der Bundesregierung spricht später.

Erwin Stahl (SPD):
Rede ID: ID1107726100
Also gut; dann will ich das revidieren.
Finden Sie es als Abgeordneter der CDU-Fraktion richtig, daß wir nur oder hauptsächlich die rein wirtschaftlichen Interessen der möglichen Rohstoffausbeutung in 150 Jahren in den Vordergrund stellen und damit unsere Verhandlungsposition bei den Gutwilligen unter Umständen in Frage stellen und dadurch der Antarktis insgesamt nicht nützen?

Dr. Rudolf Sprung (CDU):
Rede ID: ID1107726200
Herr Stahl, es geht doch nicht nur um diesen Punkt; es geht auch um die Umwelt. Wir werden die Umweltschutzbestimmungen nur haben können, wenn wir dem Regime über die Ressourcen beitreten und wenn wir zu einer Regelung für die Ressourcenaktivitäten in dieser Region kommen. Wir werden anders nicht zu entsprechenden Umweltschutzbestimmungen kommen. Das ist das Problem, das Sie sehen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie dies nicht sehen, dann, glaube ich, beurteilen Sie auch die Aktivitäten und die Haltung der Bundesregierung falsch.
Vor diesem Hintergrund ist die aktive Mitwirkung — ich wiederhole es — der Bundesregierung bei den Verhandlungen zu begrüßen. Auch weiterhin muß versucht werden, die anstehenden Probleme multilateral und bilateral gemeinsam mit den Verhandlungspartnern zu erörtern und zu lösen. Auch weiterhin muß sich die Bundesregierung um einen kompromißfähigen Interessenausgleich, insbesondere zwischen den Anspruch- und Nicht-Anspruchstaaten, bemühen, damit eine letztendlich für alle Seiten akzeptable Lösung gefunden wird.
Verhandlungen sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn eine klare inhaltliche Verhandlungskonzeption vorliegt. In der Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses ist die Bundesregierung aufgefordert worden, der deutschen Delegation bei den Verhandlungen in Wellington ein derartiges Konzept vorzugeben. Diese Verhandlungslinie sollte folgende Ziele enthalten — ich wiederhole sie noch einmal — :



Dr. Sprung
Erstens. Die Umwelt der Antarktis und der abhängigen und verbundenen Ökosysteme muß effektiv geschützt werden. Ein Katalog von strengen — jetzt hören Sie bitte genau zu —

(Frau Garbe [GRÜNE]: Ich habe das gelesen!)

Umweltprinzipien muß erstellt werden, deren Einhaltung zwingende Voraussetzung für jede Ressourcenaktivität sein soll. Wie das Verfahren im einzelnen aussieht, haben Sie wahrscheinlich ebenfalls nachgelesen. Sie werden dann wissen, daß wirklich Vorkehrungen getroffen worden sind, die Ihre Befürchtungen gegenstandslos erscheinen lassen.
Zweitens. Die Bedingungen für die wirtschaftliche Betätigung im Bereich der Nutzung der mineralischen Ressourcen der Antarktis müssen im Einklang mit den allgemeinen Völkerrechtsgrundsätzen stehen.
Drittens. Das Regime muß nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen gestaltet werden. Planwirtschaftliche Dingismen müssen ausgeschlossen bleiben.
Viertens. Zwischen den Mitwirkungs- und Kontrollrechten und der Verantwortung muß ein ausgewogenes Verhältnis erreicht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß die Verhandlungslinie für die deutsche Delegation diese Ziele enthält und daß sich die Bundesregierung darum bemüht, die beteiligten EG-Mitgliedstaaten und die übrigen westlichen Länder zu einer gemeinsamen Verhandlungsposition zusammenzuführen. Denn, meine Damen und Herren, nur gemeinsam wird es möglich sein, die Verhandlungen positiv zu beeinflussen und unsere eigenen Interessen erfolgreich zur Geltung zu bringen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107726300
Das Wort hat der Abgeordnete Grunenberg.

Horst Grunenberg (SPD):
Rede ID: ID1107726400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Realitäten des immerhin 28 Jahre bestehenden Antarktis-Vertrages und seine Handhabung durch die Signatar- und Konsultativstaaten in dieser Zeit betrachtet, so gleicht die heutige Debatte — so sehe ich es jedenfalls — eher einer babylonischen Sprachverwirrung als einer Sachdebatte. Hier werden Forderungen so bedenkenlos erhoben, als sollte der bewährte Vertrag gesprengt werden.

(Stahl [Kempen] [SPD]: So ist es!)

Es sollte wahrlich kein Problem sein, die Bundesratsdrucksache 78/79 — schreiben Sie sich die Nummer bitte einmal auf — zu studieren. Sie enthält die 14 Artikel des Antarktis-Vertrages und die Tätigkeitsberichte der Vertragsstaaten bis zur 9. Konsultativrunde 1977 in London. Wenn man weiter die Ergebnisse der Konsultativtagungen bis zur 14. Runde im vorigen Jahr nachliest, muß jedermann feststellen, daß die garantierte friedliche Nutzung und die Forschungsfreiheit, die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit, die gegenseitigen Hilfeleistungen, die gegenseitigen jederzeit möglichen Kontrollen und der antarktische Umweltschutz der Kitt sind, der die
37 Vertragsstaaten zusammenhält, und das soll nach Auffassung der SPD so bleiben.
Der Antarktis-Vertrag umfaßt zur Zeit 20 Konsultativstaaten, die über 60 % der Erdbevölkerung repräsentieren. Nimmt man die 17 Staaten ohne Stimmrecht hinzu, so kann man von ca. 75 % der Erdbevölkerung ausgehen, die sich zu den Prinzipien des Vertrages bekennen und sie trotz teilweise unterschiedlicher Interessen befolgen: Staaten, die ihre Gebietsansprüche vorerst eingefroren haben, Staaten, die keine Gebietsansprüche stellen wollen, Staaten der Dritten Welt, die durchaus daran interessiert sind, ihre Außenhandelsdefizite mittels künftiger Einnahmen aus der Gewinnung zusätzlicher Rohstoffe oder Bodenschätze in der Antarktis auszugleichen, und auch Staaten, die als Rohstofflieferanten eine zusätzliche Konkurrenz befürchten. Alle sind aber gewillt, im Konsensverfahren zu verhandeln, um den antarktischen Frieden zu erhalten, und seit 28 Jahren ist dies fast mustergültig gelungen.
Die Bundesrepublik ist 1981 als 14. Staat in die Konsultativrunde aufgenommen worden. Inzwischen sind sechs weitere Staaten gefolgt. Damit ist aus unserer 1/14-Stimme eine 1/2o-Stimme geworden, und alle Forderungen nach Veränderung des antarktischen Regimes können nur im Einklang mit den anderen 19 Konsultativparteien durchgesetzt werden. Es gibt keine Mehrheitsbeschlüsse. Wer das Einstimmigkeitsprinzip allerding torpedieren will, wird eine Revisionskonferenz des Antarktis-Vertrages anstreben müssen. Das heißt allerdings nichts anderes als Unfrieden unter den Vertragspartnern stiften. Ein funktionierendes Vertragswerk würde zerstört, weil ein Interessenausgleich zwischen Anspruchsstaaten und Nichtanspruchsstaaten nicht mehr gewährleistet wäre.
Nun frage ich: Wäre unseren Anliegen gedient, wenn Gebietsansprüche erneut erhoben werden könnten und wenn unter nationalen Hoheitsbefugnissen die antarktischen Bodenschätze ausgebeutet würden? Ich glaube, das würde der antarktischen Umwelt am allerwenigsten bekommen.
Kurz vor der Möglichkeit, eine Revisionskonferenz zu beantragen, verhandeln die 20 Konsultativstaaten gegenwärtig über das mineralische Rohstoffregime, welches eine unkontrollierte Aufsuchung und Gewinnung verhindern soll. Dieses Rahmenabkommen soll bei strengen Umweltschutzauflagen nach jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen hemmungslose Bergbaugelüste zügeln. Eine Nutzung der antarktischen Ressourcen soll also nur im Einklang mit international festgelegten Standards möglich sein, und dagegen kann ja wohl keiner sein.
Nun zu den Anträgen. Ich nehme an, daß sich die GRÜNEN von dem Greenpeace-Papier vom März dieses Jahres haben leiten lassen

(Frau Garbe [GRÜNE]: Unter anderem!)

und daß sie deshalb ein sogenanntes sachverständiges Mitglied von Greenpeace Deutschland in die deutsche Verhandlungsdelegation aufgenommen wissen wollen.

(Schily [GRÜNE]: Richtig!)




Grunenberg
Nun kann ich aber nicht erkennen, daß das Greenpeace-Papier durch Sachverstand ausgezeichnet wäre.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Die sind bloß ein paar Jahr dort unten gewesen!)

— Nein, ich meine jetzt politischen Sachverstand. So ist es unglaublich leichtsinnig, den Antarktis-Vertrag
— wie es da drinsteht — bedenkenlos vor die Vereinten Nationen zu bringen. Der Begriff vom gemeinsamen Erbe der Menschheit dient doch hier nur als Köder. Es glaubt doch keiner, daß auch nur einer der sieben Anspruchsstaaten — ich nenne sie: Argentinien, Chile, Großbritannien, Norwegen, Australien, Frankreich, Neuseeland — seine verbrieften Rechte ohne weiteres aufgeben wird.
Ich empfehle Ihnen, Art. 4 des Antarktis-Vertrages aufmerksam zu lesen. Das ist die Automatik, die dabei kommt, wenn man ein bißchen überzogene Forderungen stellt. Ein auf unabsehbare Zeit bindendes Moratorium — auch das muß man wissen — ist ebenfalls nicht konsensfähig.

(Schily [GRÜNE]: Warum nicht?)

— Wenn wir es wollen, wollen andere 19 das wahrscheinlich nicht, oder sieben sagen: „Da machen wir erst einmal gar nicht mit und steigen aus. "

(Schily [GRÜNE]: Ach, so gering ist Ihre Überzeugungskraft?)

— Haben Sie das schon einmal gesehen? Herr Schily, Sie als Jurist müßten doch ungefähr wissen, welche Automatik in solcher Situation sein könnte, daß, wenn man das eine verlangt, das andere von anderen noch eher verlangt werden könnte.

(Zuruf von den GRÜNEN: Also machen wir alles kaputt!)

Ich frage mich: Sollen wir als Bundesrepublik eine Revisionskonferenz provozieren? Soll die Bundesrepublik als Stifter eines antarktischen Unfriedens gelten? Wollen Sie das? Denken Sie nach, welche Lawinen Sie damit lostreten können.
Ich will auf weitere politische Klopse im Greenpeace-Papier nicht eingehen, aber gestattet sei der Hinweis, daß die Bundesrepublik keine Gebietsansprüche erhebt, also eigentlich der falsche Adressat ist. Gestattet sei auch die Frage: Ist Greenpeace etwa in anderen Verhandlungsdelegationen vertreten, zum Beispiel in den Delegationen von Frankreich, China, Argentinien, Chile, Indien, den USA, der Sowjetunion usw.? Das sind nur sieben von 20.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Versuchen werden sie es! — Schily [GRÜNE]: Wir können doch einmal mit gutem Beispiel vorangehen!)

Kurios ist ebenfalls die mit Koalitionsmehrheit verabschiedete Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses. Darin wird die Bundesregierung gelobt, daß sie unserer Industrie den Zugang zu den Ressourcenaktivitäten in der Antarktis offenhalten will. Diese Türsteherpolitik, Herr Kittelmann, ist auch Leitlinie bei den laufenden Verhandlungen über das Tiefseebergbauregime. Dort steht sie wie ein — nah, wie soll
ich sagen? — Grüß-Gott-August und hält die Tür für andere auf.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Na, sicher. Denn unsere Industrie ist nicht in der Lage, 250 000 Dollar — das sind etwa 400 000 DM — auf den Tisch zu legen, um für sich ein Tiefseebergbaufeld von 75 000 qkm registrieren und reservieren zu lassen. 75 000 qkm! Nur zum Vergleich: Ein Stück Bauland von 750 qm kostet hier in Bonn schon leicht 200 000 DM. Denken Sie einmal darüber nach.
Gewinnung von Bodenschätzen in der Antarktis mit all den Problemen des Aufbaus einer dazu nötigen Infrastruktur — diese unvorstellbaren Milliardeninvestitionen traue ich unseren Unternehmen einfach nicht zu.

(Zuruf von der SPD: Hunderte von Milliarden!)

Sie sehen sich ja nicht einmal in der Lage, in den kostengünstigeren Tiefseebergbau einzusteigen. So jedenfalls sehen wir die marktwirtschaftlichen Gesichtspunkte, auf die in der Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses so großer Wert gelegt wird.

(Zuruf des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

— Genauso ist das, ja. Wenn sie nicht bezahlen können, ist die Marktwirtschaft auch vorbei.
In der Resolution des Umweltausschusses wird gefordert, daß die Regierung vor Abschluß der Vertragsverhandlungen dem Bundestag über die Ergebnisse Bericht erstatten soll. Es wäre wünschenswert. Erfahrungsgemäß aber laufen internationale Verhandlungen im Konsensverfahren fast immer bis zur letzten Minute, und schon vom rein Technischen her würden wir Sozialdemokraten in diesem Fall die Regierung auffordern, dem Bundestag unverzüglich nach Verhandlungsende zu berichten.
Es ist zu hoffen, daß bis zur Ratifizierung einer Konvention — das wird ja eine Konvention werden — über die mineralischen Ressourcen, über Antarktisrohstoffe, durch das Parlament genügend Zeit bleibt, um die Konvention genau zu studieren — ganz genau! Die SPD-Fraktion wird sich mit Sicherheit davon leiten lassen, daß in erster Linie der antarktische Frieden gewährleistet bleiben muß, daß das Antarktis-Vertragsgebiet von 60 Grad südlicher Breite bis zum Pol ein international konfliktfreier Raum bleibt;

(Sehr gut! bei der SPD)

denn wo Unfriede herrscht, kann schließlich kein Umweltschutz gedeihen.
Herr Kollege Kittelmann, persönlich wünschte ich mir, daß im Anschluß von 60 Grad südlicher Breite, dem Antarktisgebiet also, bis zum Nordpol das Seerechtsübereinkommen gilt mit Beteiligung der Bundesrepublik. Dann wären bei uns politisch wieder die Tassen im Schrank; denn Antarktispolitik und Seerechtspolitik sind miteinander sehr eng verwoben.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Bredehorn [FDP])





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107726500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredehorn.

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1107726600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antarktis liegt in weiter Ferne und ist bekanntlich sehr kühl und kalt. Deshalb sollte es möglich sein, bei diesem Thema hier heute auch kühlen Kopf zu bewahren. Ich habe leider den Eindruck, daß das bei dem Antrag der GRÜNEN, der hier heute auch zur Beratung ansteht, nicht der Fall ist.
Deshalb einige Worte zur Klarstellung, worum es eigentlich geht. Vor rund 30 Jahren trat der von zwölf Nationen abgeschlossene Antarktis-Vertrag in Kraft. Einzigartig ist die Ausklammerung aller Gebietsansprüche, die damals die Einrichtung der ersten entmilitarisierten und atomwaffenfreien Zone der Welt ermöglichte, in der Mitgliedstaaten friedlich miteinander forschen. Der Vertrag regelt die Forschungsfreiheit und Nichtmilitarisierung sowie ein Verbot von Kernexplosionen und der Lagerung radioaktiven Abfalls. Der Vertrag ist zeitlich nicht begrenzt, kann aber nach einer Frist von 30 Jahren, die 1991 abläuft, mit einfacher Mehrheit geändert werden. Viele Aspekte, wie z. B. den Schutz der Flora und Fauna, der im Meer lebenden Ressourcen, regelt er nicht hinreichend. Hierfür wurde eine Reihe von ergänzenden Zusatzabkommen geschlossen. Auch die eventuelle Ausbeutung der Rohstoffe in der Antarktis ist im Vertrag nicht geregelt. Deshalb verhandeln die 37 jetzt im Antarktis-Vertrag zusammengeschlossenen Staaten seit Jahren, um verbindliche Regeln zu erarbeiten.
Für die deutsche Seite stehen dabei folgende Ziele im Vordergrund: eine gleichberechtigte Teilnahme an den Institutionen und Entscheidungsprozessen zu sichern, einen gleichberechtigten Zugang zu Ressourcenaktivitäten der Antarktis zu eröffnen, die einzigartige antarktische Umwelt und ihre Ökosysteme nach einheitlichen Vorschriften gegen Schäden zu schützen und den Gefahren vorzubeugen, die sich aus Ressourcenaktivitäten ergeben könnten. Völlig verkehrt ist es, wenn in der Öffentlichkeit und auch im Antrag der GRÜNEN der Eindruck hervorgerufen wird, durch das neue Regime sollten Ressourcenaktivitäten in der Antarktis angeregt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Mit diesem Ressourcenregime soll gerade den Gefahren für die antarktische Umwelt vorgebeugt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Der Antarktis-Vertrag vom 1. Dezember 1959 enthält keine Vorschriften über die mineralischen Ressourcen der Antarktis. Abbauwürdige Rohstofflagerstätten sind bislang in der Antarktis nicht nachgewiesen, auch fehlen heute die technischen Möglichkeiten für einen Rohstoffabbau unter antarktischen Bedingungen. Ob in der Zukunft jemals antarktische Rohstoffe unter wirtschaftlichen Bedingungen gewonnen werden können, erscheint aus heutiger Sicht fraglich.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist richtig!)

Der Bedarf an mineralischen Rohstoffen wird zunehmend auf andere Weise gedeckt, und Ersatzstoffe
bzw. wiederverwertete Stoffe rücken immer stärker an die Stelle mineralischer Grundstoffe.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Und sie sind wesentlich billiger!)

— Das außerdem.
Im Rahmen des Antarktis-Vertrages kommt bereits heute dem Schutz der Ökosysteme eine wesentliche Bedeutung zu. Seit 1961 haben die Konsultativstaaten mehr als 150 Empfehlungen angenommen, um den Zielen des Vertrages, insbesondere im Bereich des Umweltschutzes, der Forschungszusammenarbeit und der Bestimmung über die Demilitarisierung und Denuklearisierung der Antarktis konkret Geltung zu verschaffen. Dieser Prozeß wird ständig weiterentwickelt und vervollständigt, ohne daß es hierfür eines besonderen Strategiepapieres bedurfte.
Diese Empfehlungen sollen sicherstellen, daß menschliche Aktivitäten in der Antarktis im Einklang mit der Erhaltung der Naturschätze stehen. Es gibt einen Verhaltenskodex für Antarktisexpeditionen und Aktivitäten an den wissenschaftlichen Forschungsstationen. Tourismus und nicht-staatliche Expeditionen sind reglementiert. Fische und Krill im Südpolarmeer sind durch ein besonderes Übereinkommen geschützt, dem die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist. Wirksame Maßnahmen zur Erhaltung und Überwachung der Bestände sind nur dann möglich, wenn die fischereitreibenden Vertragsparteien den Schutzmaßnahmen zustimmen. Hier konnten im letzten Herbst erstmals größere Fortschritte erzielt werden.
Die Bundesrepublik hat ihre nationale Mitgliedschaft im Antarktis-Vertrag stets auch für eine Verbreiterung der europäsichen Zusammenarbeit in der Antarktisforschung genutzt. 1988/89 stellt die Bundesrepublik das Polarforschungsschiff Polarstern für die europäische Polarstudie EPOS zur Verfügung. Im Rahmen dieses Forschungsvorhabens werden Wissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern in international zusammengesetzten Teams gemeinsam in der Antarktis forschen. Eine allgemeine Beschränkung der Forschung in der Antarktis wäre weder im Interesse der Bundesrepublik noch im Interesse des Umweltschutzes. Häufig liefern gerade die wissenschaftlichen Programme der Polarforschung die notwendigen Daten und Erkenntnisse für die Unterbindung globaler Umweltbeeinträchtigungen. Ich weise nur auf die Fortschritte im Bereich der Klimaforschung und bei der Untersuchung des Ozonlochs hin.
Wenn man wirklich etwas für die Antarktis tun will, dann ist es notwendig, das jetzt eingeleitete Schutzkonzept für die Antarktis fortzuentwickeln. Es klingt zwar gut, hilft aber in der Sache nicht weiter, wenn jetzt — auch von den GRÜNEN — gefordert wird, statt des Abschlusses des Vertrages ein Moratorium anzustreben. Bei Unterbrechung der laufenden Verhandlungen würde der Abschluß wahrscheinlich weiter erschwert und das bisher erreichte Ergebnis in Frage gestellt.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Das ist zu befürchten!)




Bredehorn
Meine Damen und Herren, ein wirksamer Schutz der Antarktisumwelt ist nicht durch einen Ausstieg aus den laufenden Verhandlungen, sondern nur durch den Abschluß und durch die Mitarbeit bei der Verabschiedung des Regimes für die mineralischen Ressourcen der Antarktis zu erreichen.
Den Antrag DER GRÜNEN mit seinen weit überzogenen Forderungen werden wir deshalb ablehnen und den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen unterstützen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Garbe [GRÜNE]: Wir haben nichts anderes erwartet! — Stahl [Kempen] [SPD]: Das ist aber traurig!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107726700
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1107726800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Frage, um die es in der heutigen Debatte geht, ist: Welchen Rat geben wir der Bundesregierung für ihre Teilnahme an der Antarktis-Konferenz? Die Frage, mit der wir es zu tun haben, ist höchst einfach und zugleich von dramatischer Dimension:

(Sehr richtig! bei den GRÜNEN)

Soll der letzte unberührte, unerschlossene, geheimnisvolle Traumkontinent, ein letztes Land für Geschichten und Legenden, für die Phantasie der Kinder, der industriellen Ausplünderung und Zerstörung ausgeliefert werden? Um diese einfache, aber sehr wichtige Frage geht es in diesen Abendstunden.
Wir GRÜNE haben auf diese Frage eine klare Antwort ohne Vorbehalte und Einschränkungen,

(Stahl [Kempen] [SPD]: Ihr habt ja immer die Patentrezepte!)

ohne Kleingedrucktes und augenzwinkernde Nebenabsprachen. Wir sagen nein zur industriellen Ausbeutung der Antarktis.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen aus der Antarktis einen Naturpark, einen Weltpark machen, wie eben auch viele Umweltschutzorganisationen, allen voran Greenpeace. Wir wollen ebenso wie viele Umweltschutzorganisationen die Antarktis als einzigartige Naturregion so erhalten, wie sie über Jahrmillionen in der Geschichte des Planeten Erde entstanden ist.
Angesichts der alltäglich gewordenen Umweltkatastrophen, angesichts des allgemeinen Erschreckens über den Verlust unwiederbringlicher Naturschätze und Naturschönheiten haben wir heute die Möglichkeit, die Erkenntnis wirksam werden zu lassen, daß der Mensch nicht jedes Stück Natur in Besitz nehmen und industriell verwerten muß.

(Zuruf von den GRÜNEN: Er darf nicht!)

Das allgemeine Wehklagen darüber, was der Mensch mit der Natur angerichtet habe, wie schwer es sei, die angerichteten Schäden wieder zu reparieren, ist schon zur Gewohnheit geworden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107726900
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grunenberg?

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1107727000
Haben Sie Verständnis: Ich möchte im Moment keine Zwischenfrage zulassen. Vielleicht kommen wir nacher noch dazu, wenn mir ein bißchen Zeit bleibt.
Wenn wir uns entschließen, die Antarktis vor unserer technischen Exploration, vor unseren Baggern, Bohrern und sonstigem Gerät zu verschonen, hätte sich im internationalen Maßstab erstmals eine wichtige Umkehr vollzogen. Es wäre wahrhaft eine menschheitliche, eine historische Entscheidung, die die Natur nicht der Zerstörung preisgibt, um sie später vielleicht — wenn überhaupt — notdürftig instand zu setzen, sondern sie so beläßt, wie sie geworden ist.
Alle schönen Worte, die ich heute über allerlei Vorschriften gehört habe, die man dann wieder einführen will — sicherlich auch noch eine Antarktis-Schutzpolizei oder was Sie sich sonst alles ausgedacht haben mögen und ausdenken werden — , bewahrt Sie nicht vor der Erkenntnis, daß der beste Umweltschutz der ist, dort jegliche industrielle Exploration zu unterlassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bei den alten Völkern, bei Griechen, Indianern, bei den Urbewohnern der Südsee und bei Germanen, gab es heilige Stätten, Sanktuarien, die dem menschlichen Lärm und der menschlichen Zudringlichkeit entzogen waren. Wie wäre es, wenn wir die Antarktis als ein solches letztes Sanktuarium ansähen, wenn wir die Antarktis mit ihrer Stille zu einem solchen heiligen Ort erklärten und als solchen hüteten?

(Frau Garbe [GRÜNE]: Wem ist denn noch was heilig?)

Aber nicht nur der kulturelle Fortschritt, der in einer solchen Entscheidung läge, sondern auch das ureigenste Interesse der Menschheit sollte uns daran hindern, der industriellen Verwertung der Antarktis den Weg zu ebnen.
Seit Jahren warnen die Umweltschutzgruppen, unter anderem die Internationale Union für die Erhaltung der Natur und der natürlichen Ressourcen, Greenpeace, bereits erwähnt, oder die Southern Ocean Coalition, davor, die Bedeutung der Antarktis und des Südpolarmeers für das Ökosystem der Welt zu unterschätzen. Die extremen Meeresströmungen und Windbewegungen in der Antarktis beeinflussen die Stabilität der Witterungs- und Klimaverhältnisse auf der gesamten Erde. Verschmutzungen von Eis, Wasser oder Luft im Zusammenhang mit dem Abbau von Bodenschätzen oder anderen industriellen Unternehmungen können zu erheblichen ökologischen und nicht mehr umkehrbaren Auswirkungen führen.
Wir sollten es doch als alarmierend ansehen, wenn heute in der Presse veröffentlicht wird, daß Greenpeace und Wissenschaftler festgestellt haben, daß auch bereits in der Antarktis Umweltverschmutzung vorhanden ist.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Jetzt schon!)

Nehmen Sie das doch einmal ernst! Dann wird vieles Gerede hier ganz anders zu beurteilen sein.
Die Politik der Antarktisvertragsstaaten hat sich in der Vergangenheit darauf konzentriert, die für diese Region geltend gemachten Gebietsansprüche zu neu-



Schily
tralisieren. Gut, man mag das positiv bewerten. Das will ich gar nicht anders sehen.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Wenigstens etwas!)

Dabei muß man überhaupt die Frage stellen: Wem gehört die Antarktis? Die Antarktis gehört der Menschheit in ihrer Gesamtheit.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Richtig, Richtig! — Grunenberg [SPD]: Das soll sie auch bleiben!)

Und so muß man mit dem Thema auch umgehen.
1980 wurde das Abkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis abgeschlossen. Es befaßte sich mit einem Teil der Ausbeutung von Rohstoffen in der Antarktis, erwies sich aber in der Praxis aus ökologischer Sicht — das möchte ich auch gerade zu Ihnen, Herr Kollege, sagen — als völlig unzureichend. Wirtschaftlich interessierte Mitgliedstaaten, z. B. die Sowjetunion oder Japan, setzten ihre exzessive Fischerei im Südpolarmeer mit verheerenden Folgen für den Fisch- und Krillbestand fort. Das hat sicherlich zu einer Einschränkung der Lebensgrundlage für viele Wale geführt.
1982 begannen Verhandlungen über ein Abkommen über den geregelten Abbau mineralischer Bodenschätze im Rahmen des Antarktis-Vertrages. Das Ziel war, die noch bestehende völkerrechtliche Lücke des Vertrages zu schließen. In der Tradition der Kabinettspolitik des vergangenen Jahrhunderts wurden die Verhandlungen von den interessierten Großmächten und sonstigen interessierten Industrienationen, die dem Antarktisvertrag beigetreten waren, hinter den Kulissen geführt. Es ist das Verdienst des Europäischen Parlaments, mit seiner Entschließung vom 19. August 1987 die europäische Öffentlichkeit auf die Verhandlungen über ein Regime für die Bodenschätze in der Antarktis aufmerksam gemacht zu haben.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Sehr richtig!)

In seiner Entschließung, die auch Gegenstand unserer heutigen Beratungen ist, hat das Europäische Parlament Verhandlungen über einen Rechtsrahmen für Bodenschätze in der Antarktis zwar grundsätzlich unterstützt, andererseits fordert es jedoch die an den Verhandlungen beteiligten Mitgliedstaaten auf, die Unterzeichnung oder Ratifizierung einer solchen Regelung nicht weiter voranzutreiben, solange die ökologischen Risiken nicht festgestellt und ausreichende Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden.
Ich darf Sie auf eine wichtige Ziffer in der Drucksache des Europäischen Parlaments aufmerksam machen, die Sie sich noch einmal ganz genau vor Augen führen sollten. Danach ist das Europäische Parlament der Ansicht, daß jede Erkundung oder Förderung von Bodenschätzen — ich betone: jede Erkundung oder Förderung von Bodenschätzen — schädliche Auswirkungen auf die Umwelt der Antarktis, die von einzigartigem Wert ist, hätte. Das ist die Konsequenz Ihrer Intentionen.
Die GRÜNEN haben diesen Vorschlag, obwohl er nur einen vorläufigen Verzicht auf die Ausbeutung der Antarktis in Form eines Moratoriums zum Inhalt hat, aufgegriffen und versucht, einen interfraktionellen Kompromiß herzustellen. Das ist leider gescheitert. Der Wirtschaftsausschuß war ja nicht einmal in der Lage, die Empfehlung des Umweltausschusses zu akzeptieren, in der zu lesen war, daß die Ökologie in diesem Bereich den absoluten Vorrang haben solle.
Die Frage ist auch an Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, zu richten, wie das eigentlich mit den Widersprüchen, der Schizophrenie bei Ihnen ist. Wer hat bei Ihnen eigentlich die Oberhand, die Wirtschaftsfraktion oder die Ökologiefraktion? Das muß man Sie doch einmal fragen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In der Fassung des Wirtschaftsausschusses ist zu lesen — das sollen wir hier verabschieden — :
Im Interesse der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie begrüßt der Deutsche Bundestag nachhaltige Bemühungen der Bundesregierung, der Industrie der Bundesrepublik Deutschland einen gleichberechtigten Zugang
— hört! hört! kann ich da nur sagen —
zu den Ressourcenaktivitäten in der Antarktis offenzuhalten.
Darum geht es Ihnen allen hier: um den gleichberechtigten Zugang zu den Ressourcenaktivitäten. Da werden Sie in der Tat ein donnerndes Hurra des Bundesverbands der Deutschen Industrie entgegennehmen dürfen. Dieses Beifalls können Sie sicher sein, unseres Beifalls nicht, auch nicht des Beifalls der Umweltschutzorganisationen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese haben in der Tat den Sachverstand, um die ökologischen Schäden — die ökonomischen Aspekte einmal beiseite gelassen — zu beurteilen.
Wir haben genug von dieser Art Beutepolitik. Wir wollen nicht später vielleicht im stillen Kämmerlein Komplimente an die Adresse der Bundesregierung richten, daß sie ein fettes Stück Beute von der Antarktis mit nach Hause gebracht hat, sondern wir wollen, daß die schönen Worte, die wir in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl gehört haben, nämlich Umweltschutz erfordere stets das Zusammenwirken benachbarter Staaten und in zunehmendem Maße weltweite Kooperation, und ähnliche Sonntagsreden Realität werden. Wir wollen, daß Sie in der Realität Umweltschutz betreiben, nicht nur in Worten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In der Antarktis haben Sie dazu eine große historische Gelegenheit.

(Repnik [CDU/CSU]: Bleiben Sie lieber in der Heimat!)

Sie werden natürlich wie üblich diese Gelegenheit versäumen. Dazu spreche ich Ihnen mein tiefempfundenes Beileid aus.

(Beifall bei den GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Wenn man zitiert, soll man ganz zitieren!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107727100
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Herr Dr. von Wartenberg.




Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107727200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die voraussichtlich letzte Verhandlungsrunde und eine Entschließung des Europäischen Parlaments sind Anlaß, heute die umwelt- und rohstoffpolitischen Ziele der Bundesregierung in der Antarktis zu verdeutlichen, auch an Hand der uns vorliegenden Anträge der Fraktionen.
Der Bundesregierung ist der Schutz der einzigartigen antarktischen Umwelt ein besonders wichtiges Anliegen. Wir orientieren uns dabei am Gedanken der Vorsorge und der Risikovermeidung. Wir sind uns dabei dessen bewußt, daß die besonders verletzliche antarktische Umwelt eines entsprechend hohen und eines entsprechend umfassenden Schutzes bedarf.
Meine Damen und Herren, wir treten aber gleichzeitig dafür ein, daß, falls es jemals zu Rohstoffaktivitäten in der Antarktis kommt,

(Kittelmann [CDU/CSU]: Kommen sollte!)

ein gleichberechtigter Zugang für deutsche Unternehmen auf marktwirtschaftlicher Basis gewährleistet ist, so wie der Kollege Sprung das gefordert hat.

(Schily [GRÜNE]: Es ist doch interessant, daß Sie heute hier sprechen und nicht Herr Töpfer! Wo ist Herr Töpfer überhaupt? Der fühlt sich dafür nicht zuständig!)

Wir treten weiterhin dafür ein, daß der Bundesrepublik Deutschland eine gleichberechtigte Teilnahme an den Institutionen und Entscheidungsprozessen gewährt wird. Dieses Ziel verfolgen wir auch, um die operative Umsetzung des Umweltschutzes wirksam mitgestalten zu können.
Das antarktische Vertragssystem enthält bisher
— darauf haben meine Vorredner hingewiesen — keine Vorschriften über Prospektion, Aufsuche und Gewinnung von mineralischen Ressourcen. Rohstoffaktivitäten könnten daher frei, d. h. auch ohne Regelung der Umweltschutzbelange durchgeführt werden, wenn sich die Konsultativstaaten dieser Frage nicht angenommen hätten.
Der Deutsche Bundestag hat diese Frage schon in den 70er Jahren erörtert und den Entschluß gefaßt
— in einer Zeit, als die GRÜNEN hier noch nicht waren —, mit der Aushandlung eines Ressourcenregimes zum Schutze der antarktischen Umwelt

(Frau Garbe [GRÜNE]: Man sieht, was daraus geworden ist!)

eben nicht bis zur Entdeckung wirtschaftlich nutzbarer Volumen zu warten, sondern ein solches Regime auszuhandeln, bevor konkret erfolgte Wirtschaftsinteressen die Verhandlungen noch komplizierter machen würden, als sie jetzt ohnehin sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! Das ist vorausschauende Politik!)

Das ist das Verdienst — das darf man in den Bundestagsprotokollen des Jahres 1978 einmal nachlesen — der damaligen Opposition, wo der Kollege von Geldern die Rede für die Fraktion gehalten hat.
Meine Damen und Herren, die Wissenschaftler des Forschungsausschusses für die Antarktis kamen damals zu dem Ergebnis, daß die Umweltrisiken von
Rohstoffaktivitäten zwar hoch sind, aber Rohstoffaktivitäten nicht von vornherein ausgeschlossen werden müssen.
Der Entschluß, kein absolutes Moratorium zu verhängen, sondern eventuell Rohstoffaktivitäten einer wirksamen Beschränkung und Kontrolle zu unterwerfen, ist also nicht ohne den Rat von wissenschaftlicher Seite gefaßt worden.
Die Bundesrepublik Deutschland hat diesen Entschluß nach Erlangung des Konsultativstatus mitgetragen und hat auch 1981 beschlossen, das Sonderkonsultativtreffen zur Ausarbeitung des Regimes einzuberufen.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals betonen, daß das antarktische Ressourcenregime nicht den Zweck hat, zu Rohstoffaktivitäten anzuregen oder diese zu erleichtern. Das wäre auch angesichts des gegenwärtigen Trends auf den Rohstoffmärkten ein wenig sinnvolles Unterfangen. Sein Zweck ist die Vorsorge. Für den bisher nicht absehbaren Fall, daß die Menschheit auf Rohstoffe aus der Antarktis angewiesen sein sollte und wirtschaftlich in Betracht kommende Rohstoffquellen in der Antarktis überhaupt gefunden werden, soll eben schon jetzt dem Umweltschutz die ihm zukommende Priorität zugewiesen werden. Wirtschaftlich gesehen heißt das doch auch, daß die Kosten des für die Antarktis notwendigen Umweltschutzes zu dem ohnehin außergewöhnlich hohen Aufwand für Ressourcenaktivitäten unter antarktischen Bedingungen hinzukommen und von möglichen Investoren von vornherein mit einkalkuliert werden müssen.
Im übrigen ist das ein interessanter Aspekt; denn alternative Rohstoffquellen und Einsparungsanstrengungen gewinnen damit weltweit an Wettbewerbsfähigkeit.
Konkret heißt das in den Verfahren: Nach Artikel 2 des Entwurfs ist es Ziel des Regimes, Prinzipien und Regelungen aufzustellen sowie Institutionen zu schaffen, damit die Umweltauswirkungen von Rohstoffaktivitäten in der Antarktis eingeschätzt und über ihre Hinnehmbarkeit entschieden werden kann. Das heißt auch, daß zunächst eine ausreichende wissenschaftliche Grundlage geschaffen werden muß, die Entscheidungen darüber erlaubt, ob Rohstoffaktivitäten in der Antarktis akzeptabel sind.
Ich meine, insoweit besteht volle Übereinstimmung auch mit den Vorstellungen der Fraktion DIE GRÜNEN, die in ihrem Antrag wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über alle Folgen von Rohstoff explorations- und -abbaumaßnahmen zu einer Voraussetzung für die Zulassung von solchen Maßnahmen machen wollen.
Darüber hinaus wird in Artikel 2 die besondere Verantwortung der Konsultativstaaten für den Schutz der antarktischen Umwelt und der von ihr abhängigen und mit ihr verbundenen Ökosysteme ausdrücklich anerkennt. Dabei ist die Bedeutung der Antarktis für das globale Umweltsystem und die Verantwortung hierfür ebenfalls ausdrücklich genannt. Ich glaube, meine Damen und Herren, es wäre vorschnell, zu argumentieren, diese in einem Vertrag anerkannte Verantwortung werde nicht voll wahrgenommen.



Parl. Staatssekretär Dr. von Wartenberg
In Artikel 4 über die Prinzipien des Vertrages heißt es, daß keine Rohstoffaktivitäten stattfinden dürfen, solange nicht festgestellt werden kann, daß sie keine erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt haben. Außerdem müssen entsprechend sichere Technologien sowie die erforderlichen Überwachungs- und Schutzsysteme zur Verfügung stehen.

(Schily [GRÜNE]: Sie haben wieder neue Grenzwerte erfunden!)

Die Bundesregierung hat dieses Anliegen von Anfang an unterstützt. Der Unterschied zum Beschlußantrag der Fraktion DIE GRÜNEN ist eben nur, daß wir schon jetzt die institutionellen Voraussetzungen schaffen wollen, die bei wachsender Rohstoffknappheit und entsprechendem wirtschaftlichen Druck die Umweltverträglichkeitsprüfung zur Folge hätten sowie eventuelle Explorations- und Abbauoperationen in geordneten Bahnen und umweltverträglichen Grenzen halten können.
Herr Schily, mit einem Moratorium laufen wir doch Gefahr, daß der damit errichtete formelle Damm, unter den Bedingungen, die Rohstoffvorhaben in der Antarktis wirtschaftlich interessant und notwendig erscheinen zu lassen, nicht hält, daß das Moratorium aufgehoben wird und sich dann schon die jetzt bestehenden Interessenkonflikte so verstärken, daß eine internationale, dem Schutz der antarktischen Umwelt gerecht werdende Ordnung für Ressourcenvorhaben nicht mehr gefunden werden kann. Vertragliche Abmachungen müssen sich — so meinen wir jedenfalls — , wenn sie einen Wert haben sollten, in der Realität bewähren. Da habe ich mit einem Moratorium

(Zuruf des Abg. Schily)

— ob es nun nur die wirtschaftliche Nutzung oder auch die Exploration angeht — so meine Zweifel.
Bevor Erforschungs- und Erschließungsarbeiten durchgeführt werden können, muß ein zweistufiges Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung durchlaufen werden. Zunächst muß ein bestimmtes Gebiet für Rohstoffvorhaben eröffnet werden, und hierfür findet eine erste Umweltverträglichkeitsprüfung statt, die feststellen soll, ob eine bestimmte Art von Rohstoffaktivität in einem bestimmten Gebiet mit dem Ziel und mit den Prinzipien des Regimes vereinbar ist.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das weiß man doch, daß das nicht geht!)

Diese Entscheidung wird von der Kommission getroffen, dem obersten Organ des Regimes, in dem alle Konsultativstaaten vertreten sind. Die Grundlage für diese Entscheidung ist das Votum des unabhängigen Beratungsausschusses für Wissenschaft, Technik und Umwelt, das Votum einer Sondertagung der Vertragsparteien.
Erst dann also, wenn die in den Artikeln 2 und 4 des Entwurfs festgelegten Ziele und Prinzipien durch spezifische, für ein bestimmtes Gebiet geltende und von allen Vertragspartnern getragene Regelungen konkretisiert werden sollen — so jedenfalls ist unsere Auffassung — , hat ein Antrag auf Explorationserlaubnis die Chance, daß er gestellt werden kann. Erst dann wird ein Unternehmer wissen, mit welchen konkreten Bedingungen er zu rechnen hat.
Auf Grund eines erst dann eingereichten Antrages findet eine zweite Umweltverträglichkeitsprüfung statt, die die konkreten vom Unternehmer beabsichtigten Maßnahmen zum Gegenstand hat.
Meine Damen und Herren, hier ist nicht an ein Verfahren gedacht, das zu Rohstoffaktivitäten in der Antarktis anreizt oder diese erleichtert. Die dargestellten Ziele, die dargestellten Prinzipien, Institutionen und das Verfahren sollen vielmehr in einem internationalen Vertrag verankert werden, um einen Rahmen zu schaffen, der späteren Generationen trotz bestehender Interessenkonflikte verantwortliches Handeln erleichtert.
Insoweit unterstützen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen. Wir hoffen, daß es gelingen wird, innerhalb des Regimes eine von allen Seiten akzeptierte Balance zwischen den Vorstellungen der Anspruchsstaaten und der Nichtanspruchsstaaten — ein großes politisches Problem! — zu finden. Wir von der Bundesregierung werden ferner darauf achten, daß nicht die dirigistischen Fehler erneut begangen werden, die andere Verträge so wenig operabel machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1107727300
Das Wort hat der Abgeordnete Stahl.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Es ist doch eigentlich alles gesagt! — Heiterkeit bei der CDU/ CSU)

— Diesmal ist es furchtbar schwer, Ihnen zu widersprechen. Aber das zu entscheiden, ist nicht meine Aufgabe hier.

(Schily [GRÜNE] : Bötsch hat ausnahmsweise einmal recht!)


Erwin Stahl (SPD):
Rede ID: ID1107727400
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß die heutige Debatte ein guter Anlaß ist, zu einem fast unberührten Kontinent, dem letzten auf der Welt, Stellung zu beziehen.
Es ist interessant, in Protokollen des Bundestages und des Bundesrates nachzulesen, was an Aktivitäten zur Erforschung und zum Schutz dieses einmaligen Stücks Erde unternommen wurde.
Da steht z. B. 1873: Erste Grönlandexpedition unter Dallmann; 1901 bis 1903: Deutsche Polarexpedition mit „Gauß" unter Drygalski und Bildlingmaier. Ziel: Geophysikalische, biologische und meteorologische Untersuchungen besonders im Weddellmeer. 1975/76, also 100 Jahre später: Mit den Forschungsschiffen „Walter Herwig" und „Weser" eine Expedition.
Herr Schily, Sie sollten sich hier auch einmal ein wenig zur Geschichte anhören.

(Schily [GRÜNE]: Ja!)

Alle Fraktionen des Bundestages waren sich darin einig, daß die Bundesrepublik Deutschland den Antrag stellt, als Konsultativstaat aufgenommen zu werden. Die Errichtung einer Forschungsstation, die den



Stahl (Kempen)

Namen Georg von Neumayer erhielt, wurde nach der langen Tradition dieser Forschung beschlossen. Sie wurde in der Antarktis aufgebaut.
Gleichzeitig wurde der Bau eines Forschungs- und Versorgungsschiffes vorangebracht sowie anschließend die Einrichtung des Alfred-Wegener-Polarforschungsinstituts in Bremerhaven beschlossen. Ziel war es, mehr über diesen noch fast unberührten Kontinent der Antarktis zu erfahren und den Forschern die Möglichkeit zu geben, die Tradition der Forschung auf weitere Gebiete dieses Kontinents auszuweiten. Seit dem Beginn der ersten Expedition zur Erkundung sind 115 Jahre verflossen.
Mein Kollege Grunenberg hat die neuere Zeit, die beiden letzten Jahrzehnte, vor allem das Jahr 1982, bezüglich einer größeren internationalen Zusammenarbeit mit ihren Unwägbarkeiten sehr plastisch, bildreich und sachkundig dargestellt. Das Jahr 1982 ist wichtig, weil inzwischen vom 2. Mai bis zum 5. Juni die 37 Antarktis-Vertragspartnerstaaten über den Abschluß eines sogenannten Rohstoffabkommens in überarbeiteter Entwurfsfassung verhandeln. Diese Konferenz ist besonders für die künftige Richtung der Forschung und Erkundung wichtig sowie für eine mögliche Ausbeutung und den Schutz dieses Kontinents wegen seiner noch einmaligen Unberührtheit und zur Erhaltung von Flora, Fauna, Wasser, Tierwelt und Atmosphäre.
Mein Kollege Herr Grunenberg hat vor allem auch auf die verschiedenen Interessen, die am Verhandlungstisch in Wellington vertreten sind, hingewiesen. Deshalb ist es richtig und notwendig, daß wir, der Deutsche Bundestag, der Verhandlungsdelegation der Bundesrepublik, hier vor allem der Bundesregierung, Wünsche, Forderungen, Anregungen mit auf den Weg geben. Sie sollten als Beschlüsse des Parlaments, der Fraktionen in die Verhandlungen einfließen.
Meine Damen und Herren, die seit 1959 getätigten Verträge für Wissenschaft und Forschung und die Finanzaufwendungen waren vom gesamten Parlament getragen. Es wäre einen Versuch wert gewesen, Herr Schily, auch diesmal Einvernehmlichkeit herzustellen.

(Schily [GRÜNE]: Wir haben den Versuch unternommen!)

Daß dies nicht so ist, bedaure ich sehr. Aber die vorschnellen Erklärungen im Vorfeld dieser Debatte z. B. auch von Ihnen, Herr Schily,

(Schily [GRÜNE]: Wieso?)

wer wohl der bessere Schützer der Antarktis sei — in diesem Ton verfahren Sie als GRÜNE Fraktion doch fast immer — , waren diesem Versuch nicht dienlich.

(Schily [GRÜNE]: Ich bitte Sie! — Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist arrogant!)

Dabei waren wir uns im Umweltausschuß, als dieser wichtige Punkt diskutiert wurde, in zahlreichen Punkten, vor allem dem Ziel, daß diese einmalige Natur zu erhalten und zu schützen sei, einig.
Erstens. Wir waren uns einig, daß die Bundesregierung bei den Verhandlungen über die Fortentwicklung des Vertrages aufgefordert ist, ja, zu verpflichten ist, mit dem Ziel zu verhandeln, daß dieser letzte noch weitgehend unberührte Kontinent vor den Begehrlichkeiten der Menschheit bezüglich Ausbeutung geschützt werden soll.
Zweitens. Wir waren uns darüber einig, daß Forschung kontrolliert erfolgen dürfe, daß es im Interesse der Menschheit liege, mehr als bisher über Flora und Fauna, über den Einfluß der Antarktis auf die Erhaltung der Erdatmosphäre zu erfahren, weil es hier insgesamt zuwenig Erkenntnis gibt.
Drittens. Wir waren uns darüber einig, daß die Forschung über die Tierwelt, die Meeresbiologie wichtig ist und noch viele weitere Bereiche, auch der Rohstoffbereich, einer Klärung bedürfen.
Viertens. Wir waren uns darüber einig, daß wir mehr über die Auswirkungen der Verschmutzung der Luft mit Schadstoffen aus der übrigen Welt und deren Einfluß auf die Veränderung der lebenswichtigen Ozonschichten wissen müssen. Die Langfristigkeit von Belastungen und damit einhergehende Veränderungen und Auswirkungen auf das gesamte Klima- und Ökosystem bedürfen ebenfalls der Erforschung und Beobachtung, damit mit zielgerichteten Maßnahmen die Erde auch hier im Norden der Erdhalbkugel mit internationaler Beteiligung lebenswert bleibt. — Herr Schily, wir sitzen nicht allein im Glaskasten, und am deutschen Wesen allein kann die Welt ja wohl nicht genesen. Deshalb ist es notwendig, hier im Bundestag einmal ernsthafter zu diskutieren, was denn nun hier möglich ist oder nicht. —
Wir, die Sozialdemokraten, legen Ihnen heute einen Antrag vor, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, sich bei den Verhandlungen für den Schutz der Antarktis verstärkt einzusetzen. In zentralen Fragen beziehen wir uns auf die Aussagen des Europäischen Parlaments von 1987 und auch auf hier im Deutschen Bundestag getroffene Entscheidungen und Entschließungen.
Das zur Zeit bestehende freiwillige Moratorium zwischen den Antarktisvertragsstaaten soll in wesentlichen Bereichen der erweiterten Forschung und Erkundung von Rohstoffen bis zur Festlegung eines für alle Länder verbindlichen Rechtsrahmens beibehalten werden. Hierzu, Herr Staatssekretär von Wartenberg, hätten Sie, glaube ich, ein wenig mehr sagen müssen. Denn die Empfehlung des Wirtschaftsausschusses scheint mir nicht so besonders fortschrittlich und gut für die Verhandlungen zu sein, wie Sie das hier dargestellt haben.

(Grunenberg [SPD]: Sehr richtig!)

Auf jede ökonomische Erschließung und Nutzung ist zu verzichten. Ein ökologisches Schutzkonzept für die gesamte Antarktis ist mit allen Staaten zu erstellen.
Ungeachtet dieser grundsätzlichen Zielsetzung fordern wir, der Bundestag, die Bundesregierung auf, folgende Grundsätze zum Schutz der Antarktis durchzusetzen: erstens die Aufstellung von Umweltverträglichkeitsmaßstäben für alle Forschungs- und Erkundungsaktivitäten zum Schutz der Antarktis, die insbesondere auch die Bedeutung der Antarktis für



Stahl (Kempen)

das gesamte Erdklima und die Zirkulation von Atmosphäre und Meeren berücksichtigen; zweitens eine Regelung für die Bodenschätze in der Antarktis, die ihre unkontrollierte Erforschung und Erkundung ausschließt; drittens die Festlegung eines gemeinsamen Rechtsrahmens für Erforschung und Erkundung der Bodenschätze.
Lassen Sie mich mit einigen Sätzen an die Regierungsparteien und an die GRÜNEN abschließen: Es scheint nicht richtig zu sein, Herr von Wartenberg und Herr Sprung, auch wegen der Verhandlungsposition der Bundesregierung auf dieser wichtigen Konferenz, auf die sogenannten besonderen Interessen der Wirtschaft bezüglich des Zugangs zu Ressourcen hinzuweisen.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Dies schafft nicht übersehbare Probleme und Vermutungen von reinen Wirtschaftsinteressen. — Lesen Sie einmal die Protokolle des Deutschen Bundestages über die damalige Diskussion auch der damaligen Bundesregierung, die ja die Verträge abgeschlossen hat, nach. Dann werden Sie feststellen, daß wir, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, diesen Punkt nicht im besonderen betont haben und uns im gesamten Ziel trotzdem einig waren.

(V o r sitz : Vizepräsident Cronenberg)

Ich wiederhole, weil es so wichtig ist: Dies schafft nur unübersehbare Probleme und Vermutungen von reinen Wirtschaftsinteressen. Wir wollen Forschung betreiben und weitere Erkenntnisse sammeln. Wer glaubt denn hier im Hause ernsthaft, daß ein Rohstoffabbau in der Antarktis in den nächsten acht Jahrzehnten überhaupt möglich, geschweige denn wirtschaftlich sein könnte?

(Dr. Sprung [CDU/CSU]: Um so besser!)

Wir haben 115 Jahre Polarforschung hinter uns! Also, meine Damen und Herren, warum die anderen Länder, die am Verhandlungstisch sitzen, heute zusätzlich verärgern, vergrämen und sie eventuell in eine Position bringen, Herr Sprung, die uns dann anschließend nicht guttut?

(Dr. Sprung [CDU/CSU]: Das tun wir doch nicht!)

Ein Satz zu den GRÜNEN, meine Damen und Herren: Herr Schily, Ihr Antrag hat unbestritten einige Punkte, die man mittragen kann. Aber wir sehen es nicht ein, daß Sie gerade einer Organisation sozusagen das Plazet geben, daß allein sie die Antarktis schützen kann.

(Schily [GRÜNE]: Gut, einverstanden, wir können das ausweiten, wenn das der Punkt ist!)

Wir sind der Meinung, daß sich die Regierung
— wenn sie es denn will — auch des Sachverstandes, des großen Sachverstandes in der Bundesrepublik
— auch der Umweltschutzverbände — bedienen sollte.

(Schily [GRÜNE]: Herr Stahl, da können wir uns sehr schnell einigen!)

Das Aufnehmen von Rohstoff-Abbaumaßnahmen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, in den Text des Antrages der CDU ist unseres Erachtens völlig verfehlt — Herr von Wartenberg, ich habe das schon einmal angesprochen —, weil es die Verhandlungen belastet und die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik, ernsthaften Schutz in der Antarktis durchzusetzen, schmälert.
Ich meine, meine Damen und Herren, trotz unterschiedlicher Einschätzung sollten Sie dem Antrag der Sozialdemokraten zustimmen. Er spricht eine verantwortliche, verbindliche, dem Ernst der Sache angemessene Sprache.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107727500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann.

Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1107727600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Prinzip hat der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU recht: Es ist alles gesagt worden. Wenn ich drei Punkte noch einmal betonen möchte, dann deshalb, um eine schiefe Schlachtordnung hier etwas geradezurücken.

(Schily [GRÜNE]: Sie haben Ähnlichkeit mit Jerry Lewis!)

— Was haben Sie gegen Jerry Lewis?
Im Vordergrund der heutigen Diskussion steht die Sorge um den Schutz der Antarktis. Wir alle in diesem Hause treten dafür ein, das ökologische und geologische Gleichgewicht der Antarktis aufrechtzuerhalten. Ich möchte hier mit Hochachtung in diesem besonderen Fall auch das Engagement von Greenpeace loben, eine Organisation, die durch zahlreiche sehr gute Dokumentationen auf das Problem aufmerksam macht. Wenn das, was sie wollen, zu verwirklichen wäre, wäre ich der erste, der mit dafür einträte.

(Duve [SPD]: Sehr gut, Herr Kittelmann!)

Meine Damen und Herren, die CDU/CSU betrachtet die Diskussion um das Moratorium deshalb mit Sorge, weil ein solches Moratorium letztlich nur Nachteile für die Antarktis bringt. Herr Schily, wer das Unmögliche will, verhindert das Mögliche. Ich darf es vielleicht noch schärfer formulieren.

(Repnik [CDU/CSU]: Jawohl!)

Wer den Umkehrschluß aus diesem Satz zieht, der müßte daraus folgern: Da die GRÜNEN wissen, daß das, was sie vertreten, rechtlich nicht durchsetzbar ist und das andere nicht wollen, schaden sie mit ihrer Haltung der Antarktis und nutzen ihr nicht.
Betrachten wir den jetzt vorliegenden Entwurf eines Übereinkommens über die mineralischen Ressourcen der Antarktis, so stellen wir fest, daß an sich schon heute ein faktisches Moratorium vorhanden ist. Wenn die Vorschriften über Haftungsfragen erst ausgearbeitet worden sind und die Ressourcenaktivitäten nachweislich bestimmte Auflagen erfüllen müssen, liegt das geforderte Moratorium de facto bereits vor.
Darüber hinaus würde ein Moratorium, welches eventuell auf zehn Jahre hin angelegt sein soll, nicht nur erhebliche Umweltrisiken für die Antarktis mit



Kittelmann
sich bringen, es würde den Umweltschutz der Antarktis sozusagen aufs Eis legen.
Zum Abschluß darf ich folgendes sagen. Herr Schily, Sie haben aus dem Antrag zitiert, den der Wirtschaftsausschuß beschlossen hat. Wie immer, wenn Sie hier reden, erwecken Sie durch Halbheiten und Weglassen einen falschen Eindruck. Ich darf deshalb den letzten Absatz des Antrages, dem zuzustimmen ich das Haus bitte, hier verlesen — das andere hat ja schon Herr Schily erledigt — :
Der deutschen Verhandlungsdelegation sollte auf dieser Basis eine klare inhaltliche Konzeption vorgegeben werden, die im Rahmen der Verhandlungen und der bilateralen Gespräche umzusetzen ist. Im Vordergrund dieser Konzeption sollte jedoch die Forderung stehen, daß der Regimeentwurf nicht nur den Zugang zu Rohstoffaktivitäten in der Antarktis regelt,

(Schily [GRÜNE]: Nicht nur den Zugang!)

sondern zugleich einen wirksamen Schutz der antarktischen Umwelt vorsieht.

(Schily [GRÜNE]: Aha!)

Der Antarktisvertrag enthält hierüber bisher keine Regelungen. Daher müssen entsprechende Regelungen in das Regime über die mineralischen Ressourcen der Antarktis einfließen. Angesichts der Tatsache, daß die Probleme des Umweltschutzes in den bisherigen Verhandlungen von erheblicher Bedeutung waren und ein Katalog von strengen Umweltprinzipien erstellt wurde, deren Einhaltung zwingende Voraussetzung für jede Ressourcenaktivität sein soll, fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, die laufenden Verhandlungen engagiert voranzutreiben und zum Abschluß zu bringen.
Ich bitte, jetzt so abzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107727700
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. So kommen wir zur Abstimmung, zunächst einmal über den Tagesordnungspunkt 19a, über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/2191.
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich lasse nunmehr über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN abstimmen. Er liegt Ihnen auf Drucksache 11/2183 vor. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei wenigen Enthaltungen ist dieser Antrag abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2240 ab.
Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Antrag abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Sammelübersicht 57 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/2117 —
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß je Fraktion ein Beitrag von fünf Minuten geleistet werden kann. Es beginnt der Abgeordnete Häfner. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107727800
Verehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Demokraten in den Politikerinnen und Politikern!
Stellen Sie sich einmal vor: Sie sitzen in einem Auto, sagen wir einmal: in einem Kleinbus und fahren auf der Autobahn. Es geht alles wunderbar. Die Straße ist breit und Sie fahren schnell.

(Zuruf des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

— Herr Kittelmann, ich habe Ihnen jetzt lange zugehört. Vielleicht können Sie das umgekehrt auch einmal.
Sie fahren dann allmählich auf einen Abgrund zu. Einige im Auto bemerken vielleicht diesen Abgrund. Andere bemerken ihn erst später. Jedenfalls stehen Leute im Kleinbus auf und sagen: Halt, so können wir nicht weiterfahren! Hier muß etwas passieren! Ihr müßt den Kurs ändern!
Der Fahrer hat entweder taube Ohren oder sitzt auf denselben; jedenfalls reagiert er nicht und fährt weiter.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft!)

In dieser Situation befinden wir uns. Genauso jedenfalls empfinden viele Menschen ihre Situation in diesem unserem Land, beispielsweise die Millionen und aber Millionen,

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Die Sie aufgehetzt haben!)

die spätestens seit Tschernobyl wie ich der Meinung sind, daß die Nutzung der Atomenergie absolut unverantwortlich ist und in Verbindung mit den dabei erzeugten Abfällen eine Gefährdung für die gegenwärtige und die zukünftige Menschheit darstellt, für die es keinerlei Rechtfertigung geben kann.
Sie fordern deshalb beispielsweise den Ausstieg aus der Atomenergie. Doch wie sollen sie dieses Ziel durchsetzen? Sie können protestieren, demonstrieren, appellieren. All das sind letztlich Formen des Bittens und Betteins gegenüber denjenigen, die die Entscheidung haben, sie mögen sich die Sache doch noch einmal überlegen.
Es ist ein Faktum, daß in solch wesentlichen Fragen eine Mehrheit der Bevölkerung — in diesem Fall etwa drei Viertel — für den Ausstieg ist, daß aber die Politiker immer tiefer einsteigen.
Ich will mich gar nicht inhaltlich auf dieses Thema einlassen, sondern möchte dies nur als Beispiel für die grundsätzliche Frage nach der Demokratie hier ins Spiel bringen. Denn die Erfahrung, die die Menschen



Häfner
hierbei machen, ist leider immer wieder die, die sich in dem Satz ausdrücken läßt: Die machen ja sowieso, was sie wollen; wir können eh nichts machen.
Die Konsequenz daraus sind Resignation bei vielen, Politikverdrossenheit, Staatsverdrossenheit und ohnmächtige Wut und Militanz bei anderen.
Demokratie heißt, daß nicht mehr einzelne oder Gruppen dekretieren, was geschehen soll, sondern daß das Volk selber in allen wesentlichen Fragen — jedenfalls der Möglichkeit nach — entscheiden kann.

(Zuruf des Abg. Dr. Bötsch [CDU/CSU])

Das Grundgesetz faßt dies in einer geradezu klassischen Formulierung so: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe ... " — erst hier kommen der Bundestag, die Bundesregierung, das Verfassungsgericht usw. ins Spiel — „ausgeübt".
Wahlen haben von Anfang an in dieser Republik stattgefunden. Sie sind durch das Bundeswahlgesetz geregelt.
Abstimmungen, die vom Grundgesetz gleichgewichtig neben Wahlen verlangt werden, hat es bis heute nicht gegeben. Es fehlt ein entsprechendes Gesetz hierfür.
Die Initiative „Aktion Volksentscheid" hat sich dieses Themas angenommen und bis heute viele hunderttausend Unterschriften für diese Forderung gesammelt. Bereits in der letzten Legislaturperiode war der Bundestag mit diesem Anliegen beschäftigt. Die Petitionsgemeinschaft hat sich erneut mit vielen hunderttausend Unterschriften an den Deutschen Bundestag gewandt und um eine Behandlung dieses Themas gebeten. Sie hat u. a. darum gebeten, eine Enquete-Kommission einzusetzen, die sich dieser so zentralen Frage der Ausübung der Staatsgewalt in unmittelbarer Weise durch das Volk widmet.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das machen wir in Appenzell, aber nicht hier!)

Der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages hat sich mit dieser Frage so gut wie gar nicht befaßt. Keine fünf Minuten wurden auf die Erörterung dieses so zentralen Themas verwendet. Ich glaube, das ist ein Zeichen von Arroganz, einer Arroganz der Macht, die uns in dieser zentralen Frage sehr schlecht ansteht; denn als Politiker sind auch wir dem Grundgesetz und dem Volkswillen verpflichtet. Wir werden es nicht zulassen — das sage ich jetzt für die Fraktion DIE GRÜNEN — , daß sich der Bundestag dieser so entscheidenden Frage so einfach, d. h. so feige und so unqualifiziert entledigt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Präsident! Ist das keine Beleidigung?)

Der Beschlußantrag des Petitionsausschusses die Petition zur Kenntnisnahme an die Fraktionen zu geben, ist eine Beerdigung dritter Klasse; Sie wissen das so gut wie ich. Es ist zudem auch noch eine feige Beerdigung, weil man zu dem, das man hinter vorgehaltener Hand eigentlich wollte, keinen Mut hatte, nämlich zur Ablehnung, dazu, die Petition für erledigt zu erklären.
Wir werden dafür sorgen, daß das Anliegen hier weiter beraten wird, und fordern Sie auf, daran teilzuhaben.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107727900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haungs.

Rainer Haungs (CDU):
Rede ID: ID1107728000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Petitionsausschuß hat mit großer Mehrheit entschieden, den Fraktionen Kenntnis davon zu geben, daß eine Initiative „Volksentscheid zum 23. Mai 1989" die Einführung eines Volksentscheides über Gegenstände der Bundesgesetzgebung fordert. In einer Sammelpetition mit ca. 100 000 Zuschriften wird gefordert, daß am 23. Mai 1989, dem 40. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes, eine Volksabstimmung über „Volksentscheid, Volksbegehren und Volksinitivative" stattfinden solle. Die Petenten gehen davon aus, daß — so wörtlich — das Abstimmungsrecht des Volkes künftig aktivierbares demokratisches Lebenselement sein soll. Sie behaupten, daß es sich hier um ein Basisgrundrecht handele, das komplementär zur repräsentativen Demokratie sei und als Notwendigkeit zur Legitimation der Gesetzgebung gesehen werde.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das ist eine Feststellung, keine Behauptung!)

Dies ist nicht die erste Petition in dieser Sache. Wir haben uns im Petitionsausschuß schon früher mit der Problematik des Volksentscheids befaßt.

(Häfner [GRÜNE]: Noch unqualifizierter!)

Wir haben — auch wenn die Petentin das bezweifelt — das Anliegen erkannt und sachgerecht beraten.
Nach unserer Meinung kann diese Petition aus verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gründen im Petitionsausschuß durchaus als erledigt angesehen werden. Deshalb haben wir das letzte Mal so entschieden, und dies wäre auch diesmal eine mögliche sachgerechte Entscheidung gewesen. Aber der Petitionsausschuß kann keine Gesetze in der von der Petitionsgemeinschaft gewünschten Art in den Bundestag einbringen. Er kann diese Wünsche jedoch — und so haben wir mit Mehrheit entschieden; das ist nicht feige, und ich sehe deshalb auch überhaupt keinen Grund für diesen Vorwurf — den im Deutschen Bundestag vertreten Fraktionen zur Kenntnis geben.
Für die CDU/CSU-Fraktion kann ich erklären, daß nach unserem Verfassungsverständnis die von der Initiative geforderte plebiszitäre Ausgestaltung unseres Grundgesetzes mit den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie nicht vereinbar ist. Wir beabsichtigen keinesfalls — Sie können uns dazu auffordern, so oft Sie wollen —, eine Enquete-Kommission einzuberufen oder eine Anhörung der Regierung vorzunehmen. Auch eine Anhörung von Petenten — das wissen Sie so gut wie wir — ist in unseren Verfahrensgrundsätzen nicht vorgesehen. Gerade im vorliegenden Fall — den Petenten mangelt es ja offensichtlich nicht an der Fähigkeit, sich umfangreich schriftlich auszudrükken — ist dies auch völlig überflüssig.



Haungs
„Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes ist ein gutes Werk gelungen", schreiben die Petenten. Zumindest hierin können wir ihnen voll zustimmen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107728100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Peter (Kassel).

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1107728200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen der Petition ist hier zweimal hinreichend dargestellt worden. Ich kann mich deshalb auf die Auseinandersetzung mit dem Votum des Petitionsausschusses beschränken.
Die Petition wendet sich an den Deutschen Bundestag als zuständige Stelle. Es ist also eine derjenigen Petitionen, die eine Bitte zur Gesetzgebung darstellen. Bei uns im Petitionsausschuß ist es inzwischen ein guter Brauch geworden, daß wir solche Petitionen daraufhin überprüfen, ob sie für ein Gesetzgebungsverfahren geeignet sind, und daß sie dann, wenn sie für ein Gesetzgebungsverfahren geeignet sind, den Fraktionen des Deutschen Bundestages überwiesen werden, damit dort, wo die Kompetenz zur Gesetzesinitiative liegt, ein Meinungsbildungsprozeß über das Anliegen der Petenten in Gang gesetzt werden kann. Das, Herr Kollege Häfner, ist keine Beerdigung erster Klasse

(Häfner [GRÜNE]: Dritter Klasse!)

— dritter Klasse genausowenig — , und das ist auch keine flüchtige Beschäftigung mit den Anliegen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Sowohl — als auch!)

Denn Frau Kollegin Nickels, es gibt ja Berichterstatter im Petitionsausschuß, damit man sich ernsthaft mit dem Anliegen auseinandersetzt. Deshalb gab es zu dieser Petition vier Berichterstatter. Sie wissen genausogut wie ich, daß die Berichterstatter miteinander um einen Weg gerungen haben, der eine Meinungsbildung in den dafür zuständigen Gremien des Bundestages ermöglicht. Das ist der Zusammenhalt.
Wer sich seriös und ernsthaft mit dem Anliegen der Petenten auseinandersetzen will, der muß natürlich auch zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege Haungs, daß es in der rechtswissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre durchaus eine Auflockerung der herrschenden Meinung im Hinblick auf die Zulässigkeit, auf die Vereinbarkeit eines Abstimmungsverfahrens mit dem parlamentarisch festgelegten Gesetzgebungsverfahren gibt. Es gibt ernstzunehmende Rechtswissenschaftler und es gibt ernstzunehmende Verfassungskommentare, die die Möglichkeit eines Plebiszits auf Bundesebene nicht ausschließen. Es ist allerdings umstritten, ob dazu eine einfache oder eine verfassungsändernde Mehrheit im Deutschen Bundestag notwendig wäre.
Die Tatsache, daß über 100 000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik eine Massenpetition zur Einführung eines Volksabstimmungsgesetzes eingebracht haben, läßt es uns im Parlament gut anstehen, ein solches Anliegen ernst zu nehmen und tatsächlich eine ernste Willensbildung in Gang zu setzen. Es ist ja auch der Fraktion der GRÜNEN unbenommen, die Schlußfolgerung aus diesem Willensbildungsprozeß
zu ziehen und hier im Bundestag einen Gesetzesantrag einzubringen, der es dann auch ermöglicht, ein Anhörungsverfahren durchzuführen, genau wie die Petenten es vorgeschlagen haben, und der es ermöglicht, die Petenten selber dazu einzuladen, als Sachverständige in diesem Anhörungsverfahren Stellung zu nehmen.
Das zusammengenommen rechtfertigt die Entscheidung des Petitionsausschusses, die diesmal „Überweisung an die Fraktionen" lautet, voll und ganz. Es gibt keinerlei Veranlassung — das sage ich im Vorgriff auf einen noch auf uns zukommenden Antrag Ihrerseits zur Geschäftsordnung auf Rücküberweisung; dann brauchen wir es nachher nicht noch einmal zu sagen und können das Verfahren abkürzen —, die Petition noch einmal an den Petitionsausschuß zurückzuüberweisen, sondern es gibt Veranlassung, auf allen Seiten dieses Hauses mit dem Votum „Überweisung an die Fraktionen" Ernst zu machen und genau das, was die Petenten wünschen, hier einzuleiten, nämlich eine Auseinandersetzung des Deutschen Bundestages mit dem Anliegen „Volksabstimmungsgesetz".
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107728300
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.

Dr. Inge Segall (FDP):
Rede ID: ID1107728400
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die hier zu behandelnde Petition zum Volksentscheid will die Einrichtung einer Enquete-Kommission „Ausgestaltung des Abstimmungsrechts" bewirken.
Dazu ist grundsätzlich festzustellen: Zu den verfassungsrechtlichen Fragen hat bereits im Jahre 1976 die Enquete-Kommission „Verfassungsreform" ausführlich Stellung genommen. Wie diese Kommission, so haben sich die Väter des Grundgesetzes aus guten Gründen für die repräsentative Demokratie ausgesprochen. Der Hauptgrund lag in den schlimmen Weimarer Erfahrungen. Das ist kein leeres Schlagwort, sondern meint u. a. die verheerende Abstimmungsmüdigkeit, zu der Volksentscheide führten. Sie war verheerend, weil der Bürger demokratiemüde wurde und sich so dem Staat entfremdete.

(Peter [Kassel] [SPD]: Das ist zumindest eine orginelle Interpretation! — Häfner [GRÜNE]: Da müssen Sie ein bißchen Geschichte studieren!)

Aus liberalem Verständnis heraus ist es wichtiger,

(Frau Nickels [GRÜNE]: Kennen Sie eigentlich Ihr Wahlprogramm noch?)

die eigenverantwortliche Mitwirkung des einzelnen am politischen Prozeß zu fördern,

(Häfner [GRÜNE]: Es gab in der Weimarer Republik drei Volksentscheide, aber vielleicht 15 Wahlen!)

als die Möglichkeit von Massenentscheidungen, die die Gefahr der Emotionalisierung in sich tragen einzuführen.



Frau Dr. Segall
Die Petenten selbst tragen vor, daß gerade ein Volksentscheid dafür sorgen soll, daß sich staatliches politisches Handeln ausschließlich nach dem richtet, was vom Gemeinwillen empfunden wird. Was wird denn vom Gemeinwillen empfunden? Was wird von politischen Kreisen, die in den Bremer Bürgerschaftswahlen und in Baden-Württemberg in erschreckendem Maße Einfluß gewinnen konnten, in politischen Fragen, z. B. beim Ausländerrecht, empfunden? Es erschreckt mich sehr, daß die Petenten auf das Empfinden des Gemeinwohls großen Wert legen.
Dies zeigt, wie berechtigt noch heute die Gründe sind, die den Parlamentarischen Rat dazu bewegten, sich gegen Volksentscheide auszusprechen.

(Peter [Kassel] [SPD]: Genau das stimmt nicht!)

Ich sage Ihnen: Angesichts der Agitationsanfälligkeit von Empfindungen darf man Volksentscheide nicht zulassen.

(Peter [Kassel] [SPD]: Ist denn das Ermächtigungsgesetz durch einen Volksentscheid angenommen worden?)

Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Politische Entscheidungen werden heute, bedingt durch das immer differenzierter werdende wissenschaftliche und gesellschaftliche Umfeld, zunehmend komplizierter. Diese Kompliziertheit kann man nicht auf einfache Abstimmungsfragen, wie sie für Volksentscheide nötig sind, reduzieren. Der durch solche vereinfachenden Fragestellungen gefundene Volksentscheid muß darum der Sache Gewalt antun, ja kann sogar zu einer unsachlichen Entscheidung führen.
Im Bereich der Umweltpolitik, mit dem ich in erster Linie beschäftigt bin, fällt mir auf, daß Fragen, die die Bevölkerung insbesondere emotional beschäftigen, ausgesprochen komplex und kompliziert sind. Häufig genug müssen Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen unter Hinzuziehung des Sachverstandes der Wissenschaft getroffen werden, die dem Bürger in ihrer Komplexität nicht mehr vermittelt werden können. Diese Schwierigkeit, an der unser demokratisches System zu leiden beginnt, ist meines Erachtens nicht durch Einführung plebiszitärer Elemente zu heilen, sondern allenfalls dadurch, daß den Repräsentanten des Volkes mehr Sachkompetenz vermittelt wird, damit sie die komplizierten Fragen besser beurteilen können. Ich denke da an die Möglichkeiten, die z. B. amerikanische Abgeordnete haben.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Der Bundestag als Volkshochschule? — Duve [SPD]: Eine hohe Schule des Volkes, Herr Kollege!)

Von der bekanntermaßen geringen Beteiligung an Volksentscheiden will ich hier nicht reden, obwohl dadurch wieder nur ein Teil für die Allgemeinheit entscheidet, ohne das ganze Volk zu repräsentieren.
Ein letzter Punkt scheint mir noch erwähnenswert zu sein. Je größer die Zahl von Entscheidungsträgern ist, desto anonymer wird die Entscheidung, und desto schwieriger wird es, Verantwortung für eine Entscheidung zuzuweisen. Wer trägt denn die Verantwortung für eine falsche Entscheidung? Das Volk?

(Duve [SPD]: Die Lasten falscher Entscheidungen tragen die Menschen!)

Mir scheint es sinnvoller, Entscheidungen einer Verantwortungsgemeinschaft, den Parlamentariern, zuzuweisen. Legitimationsprobleme stellen sich nämlich gerade auch dann, wenn Verantwortung nicht zugewiesen werden kann. Wir Parlamentarier tragen hier im Parlament Verantwortung; ob jedoch unsere Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen, immer dieser Verantwortung gerecht werden, wage ich zu bezweifeln. Ich hoffe allerdings, daß die überfraktionelle Initiative „Parlamentsreform" dazu beitragen wird, die Rechte der Verantwortung tragenden Parlamentarier zu stärken und so auch ohne Volksentscheid die Glaubwürdigkeit des Parlaments zu sichern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107728500
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Häfner.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107728600
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Präsident! Wenn ich davon nicht schon vorher überzeugt gewesen wäre, hätte diese Debatte mir deutlich gemacht, daß man so mit diesem Thema nicht umgehen kann. Ich will nur auf zwei Dinge ganz kurz eingehen.
Wenn Herr Haungs sagt, es sei mit den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie nicht vereinbar, einen Volksentscheid vorzunehmen, frage ich Sie: Wie halten Sie es mit dem Grundgesetz? Da steht nämlich gar nichts von repräsentativer Demokratie; da steht „Wahlen und Abstimmungen". Und ich halte Ihnen nicht nur den Wortlaut des Art. 20 vor, sondern auch die Ausführungen aus dem Parlamentarischen Rat

(Becker [Nienberge] [SPD]: Geschäftsordnung! )

— ich komme zu dem Antrag — , wo der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen wörtlich erklärt hat:
In den Organen des Staates wird das Volk handelnd tätig. Man darf aber nicht sagen, nur in den Organen. Dann wäre ja die Volksabstimmung ausgeschlossen.
Daraufhin hat Carlo Schmid auf der anderen Seite gesagt: „Wir wollen kein Monopol für die repräsentative Demokratie. " Und da stellen Sie sich hier auf diesem Forum des Deutschen Bundestags hin und behaupten, das Gegenteil sei wahr!

(Duve [SPD]: Warte mal, das ist aber nicht zur Geschäftsordnung!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107728700
Herr Abgeordneter, Sie hatten eigentlich versprochen, Ihren Antrag zur Geschäftsordnung zu begründen.

(Häfner [GRÜNE]: Richtig, ich stelle einen Geschäftsordnungsantrag!)

und keinen Sachbeitrag zu leisten. Ich möchte Sie bitten, sich an Ihre eigenen Vorgaben zu halten.




Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1107728800
Herr Präsident, ich stelle aus diesem Grund den Antrag, daß die Petition zur nochmaligen Beratung in den Petitionsausschuß zurückverwiesen wird, und verbinde dies mit der Hoffnung, daß es dort zu einer angemessenen Beratung des Anliegens der Petentin und des Inhalts, des sachlichen Inhalts der Petition selbst, kommt, und zwar unter Hinzuziehung von Vertretern der Petitionsgemeinschaft.
Ich sage Ihnen ganz offen: Es ist den Fraktionen selbstverständlich unbenommen — die Petitionsgemeinschaft hat sich auch an die Fraktionen gewandt — , dies intensiv in ihren Kreisen zu beraten und zu entsprechenden Initiativen zu kommen. Ich würde es sogar begrüßen. Das enthebt uns als Bundestag und den Petitionsausschuß als Organ desselben nicht der Verpflichtung, mit diesem zentralen Anliegen in einer sachgerechten und verantwortlichen Weise umzugehen.
Es geht um eine Grundfrage unserer Demokratie. Es geht um ein Anliegen von vielen Tausenden Bürgerinnen und Bürgern, und so leicht sollten wir uns die Sache nicht machen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag auf Zurückverweisung.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107728900
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Bötsch.

(Duve [SPD]: Aber nur, wenn auch er Carlo Schmid zitiert! Das ist das Wichtigste!)


Dr. Wolfgang Bötsch (CSU):
Rede ID: ID1107729000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sachkenntnis haben nur die GRÜNEN. Das ist uns hier natürlich längst geläufig.
Ich beantrage, den Antrag der GRÜNEN zurückzuweisen. Ich glaube, daß sowohl im Petitionsausschuß als auch heute abend in verschiedenen Beiträgen die Aspekte so besprochen wurden, daß wir hier über das Votum des Petitionsausschusses abstimmen können, zumal diese Petition offensichtlich schon zum zweiten Mal eingereicht war.

(Häfner [GRÜNE]: Nein, das ist nicht zutreffend!)

Es kann auch nicht — was Sie, Herr Kollege, sagten — durch die Hintertür eine Öffentlichkeit der Beratung in den Ausschüssen hergestellt werden. Wie verfahren wird, ist in der Verfassung und in der Geschäftsordnung des Bundestages vorgeschrieben.

(Duve [SPD]: Dieses Hohe Haus hat keine Hintertür!)

Es steht Ihnen selbstverständlich frei, mit denjenigen, die diese Petition eingereicht haben — möglicherweise mit einigen Repräsentanten, wenn Sie aber Lust und Zeit haben, natürlich auch mit allen hunderttausend —, Gespräche zu führen.
Das Argument, daß es hier um das Schicksal von vielen oder von Interessenten geht, trifft wohl auf jede Entscheidung zu, die wir hier im Bundestag zu treffen haben. Dann müßten wir natürlich in all diesen Bereichen so verfahren, wie Sie es hier jetzt anregen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107729100
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Peter (Kassel).

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1107729200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich melde mich doch noch einmal zur Geschäftsordnung, nicht, um mir Redezeit zu erschleichen, wie der Kollege Häfner das getan hat, was nur dadurch ausgeglichen wird, daß er Carlo Schmid zitiert hat, sondern einfach, um klarzustellen, wie die Verhandlungslage im Petitionsausschuß ist. Das ist eine Bitte zur Gesetzgebung, wie Frau Nickels als erfahrenes Mitglied des Petitionsausschusses sehr genau weiß, und sie weiß auch, daß die Anhörung von Petenten nach dem Befugnisgesetz auf Beschwerden beschränkt ist, so daß es keinerlei rechtlichen Grund gibt, die Petition in den Petitionsausschuß zurückzuüberweisen.
Es wäre für die Zukunft ganz hilfreich, sich vielleicht einmal mit den Rechtsgrundlagen für die Behandlung von Petitionen auseinanderzusetzen, ehe solche Anträge gestellt werden.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107729300
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor.
Dann lasse ich über den Geschäftsordnungsantrag auf Rückverweisung der Petitionen — Herr Abgeordneter Häfner, wenn ich das richtig sehe, sind das die laufenden Nummern 1, 2, 3 aus der Sammelübersicht — abstimmen. Wer diesem Antrag auf Rücküberweisung dieser Petitionen in den Petitionsausschuß zuzustimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses. Sie liegt Ihnen auf Drucksache 11/2117 vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) gem. § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN
Errichtung einer internationalen Begegnungsstätte für Frieden und Versöhnung in Gernika, Baskenland zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Geste des Friedens und der Freundschaft durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der baskischen Stadt Guernica in Spanien
— Drucksachen 11/362, 11/483, 11/2251 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Pohlmeier
Es ist jeweils ein Beitrag von fünf Minuten vorgesehen. Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich mit Rücksicht auf die persönliche Interessenlage einiger Red-

Vizepräsident Cronenberg
ner in einer etwas ungewöhnlichen Reihenfolge aufrufe.
Ich gebe zunächst dem Abgeordneten Duve das Wort.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1107729400
Recht vielen Dank! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es findet zur Zeit ein wichtiges Abendessen statt, das der Präsident des Hauses für den Präsidenten der Nationalversammlung Kubas gibt, und da ich dort meine Fraktion vertrete, bin ich sehr dankbar, daß ich jetzt hier als erster reden darf.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ich bin leider nicht eingeladen!)

— Herr Bötsch, ich glaube, das müssen Sie dann mal mit Ihrer Fraktion ausmachen. Vielleicht werden Sie dann eingeladen.
Vor fast einem Jahr haben wir Anträge zu Guernica eingebracht. Wir haben uns bemüht, im Ausschuß, Herr Pohlmeier, zu einem interfraktionellen Antrag zu kommen. Wir hatten den Eindruck, daß alle Fraktionen ein Interesse daran haben, 51 Jahre nach diesem ersten Bombenluftangriff auf die Zivilbevölkerung einer Stadt eine solche Geste der Deutschen den Basken gegenüber mitzutragen.
Ich könnte nun, Herr Pohlmeier, die schwierige — um nicht zu sagen: manchmal fast ein bißchen klägliche — Verfahrensweise der letzten Wochen hier erzählen, wo wir fast dabei waren, zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Dann mußten Sie uns sagen: Nein, die Fraktion trägt das nicht mit, was wir gemeinsam beschlossen hatten. Aber es geht nicht um uns und nicht darum, daß wir hier irgendwelche kleinen Vorteile aus einer solchen schwierigen Situation ziehen, sondern wir wollen in der Sache etwas Gemeinsames machen, und das wollen wir auch wirklich, auch wenn es manche Stimmen aus Spanien, aus dém Baskenland und, wie man hört, auch deutsche Stimmen aus Spanien gibt, die uns anraten, wir sollten das nicht machen, auch wenn es manche Abgeordneten der GRÜNEN gibt, die plötzlich Briefe schrieben und meinten, sie müßten den festgestellten Kenntnisstand des gesamten Hauses hier in Frage stellen. Es war ein besonders lobenswertes Beispiel für Fraktionsdisziplin, was der Kollege Mechtersheimer hier gemacht hat.
Nein, wir wollen uns hier nicht streiten, sondern wir haben es hier nochmal auf die Tagesordnung gehoben, um wirklich an die Union zu appellieren, daß wir zu einem gemeinsamen Antrag kommen. Wir wollen bei diesem Antrag Geschichte nicht einfach sozusagen beiseite schieben. Wir wollen diesen Antrag nicht einfach so geschichtslos machen, daß er gesichtslos wird. Wir wollen nicht unsere Erinnerung — es soll ja eine Aktion der mahnenden Erinnerung sein — so entleeren, daß zum Schluß möglicherweise auch die ehemaligen Angehörigen der Legion Condor mit dem Antrag leben können. Nein, das wollen wir nicht. Er muß schon die Wahrheit sagen, ansprechen und aussprechen.
Die wirkliche Wahrheit, meine Damen und Herren, über das, was Deutsche an der Unterdrückung des spanischen Volkes durch die Franco-Diktatur mit getan haben, wird so richtig nie herauskommen; denn in
der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zum Gegenstand steht der nicht nur für Historiker, sondern auch für uns Deutsche eigentlich erschütternde Satz auf folgende Frage. „Wie hoch" — wird gefragt — „ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der von der Legion Condor im spanischen Bürgerkrieg geflogenen Angriffe, wie viele Menschen kamen bei diesen Angriffen ums Leben?"
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland muß 51 Jahre später antworten:
Eine Statistik aller Einsätze der Legion Condor während des spanischen Bürgerkriegs ist nicht möglich. Das Archiv der Legion Condor wurde 1945 bei einem Luftangriff auf Berlin zerstört. Untersuchungen der gefragten Art durch spanische Stellen sind der Bundesregierung nicht bekannt.
Das ist die karge administrative Sprache des Beiseiteschiebens von Erinnerung. In der Sache sicher unbezweifelbar. Ich will nur Bewußtsein wecken für das, was hier eigentlich drinsteckt.
Auch aus diesem Grunde ist es wichtig, daß der Auswärtige Ausschuß und der Bundestag ganz schnell, wie ich hoffe, zu einer gemeinsamen Entschließung kommen. Wir sind dazu bereit.
Danke schön, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107729500
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kelly. Ich hatte ja um Verständnis für eine etwas ungewöhnliche Rednerfolge gebeten, Herr Abgeordneter Pohlmeier.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Wir sind immer einverstanden, wenn der Präsident das macht!)


Petra Karin Kelly (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1107729600
Liebe Freundinnen und Freunde! Seit ich vor einem Jahr am 50jährigen Gedenken der Bombardierung Gernikas im Baskenland persönlich teilnehmen durfte, läßt mich die Frage nicht mehr los, warum bis heute keine Bundesregierung, gleich welcher politischen Couleur, von sich aus bereit gewesen ist, auf die von Deutschen so schmählich mißhandelten Basken zuzugehen und Sühne zu leisten. Die professionellen Verharmloser wenden gegen diesen notwendigen Schritt zumeist ein, die Bombardierung Gernikas sei ja nur auf ausdrücklichen Wunsch Francos erfolgt. Sie sei überdies nicht von der deutschen Luftwaffe, sondern von der Legion Condor durchgeführt worden, die nicht der deutschen Wehrmacht zuzurechnen sei.
Doch was soll dieser Unsinn, mit dem doch lediglich von der unstrittigen deutschen Verantwortung für dieses in Gernika begangene Völkerrechtsverbrechen abgelenkt werden soll? Tatsache ist, Herr Schäfer, daß die Legion Condor, die auf persönlichen Befehl Hitlers aufgestellt worden war, ausschließlich aus Personal der deutschen Wehrmacht bestand, daß ihre Bombenflugzeuge und Bomben von der deutschen Luftwaffe stammten und daß deutsche Fliegersolda-



Frau Kelly
ten die Bombardierung Gernikas nach dem von einer deutschen Einsatzleitung ausgearbeiteten Plan vollzogen haben.
Die Legion Condor unterstand deutschem Befehl, und ihr Stabschef, Freiherr von Richthofen, hat keinen Hehl daraus gemacht, daß er die Zerstörung baskischer Städte zur Brechung des Willens der baskischen Bevölkerung billigte. Nicht General Franco — was immer er gewünscht oder gefordert haben mag —, sondern allein die damalige deutsche Reichsregierung war dafür verantwortlich, daß am 26. April 1937 die Legion Condor mit drei Geschwadern von jeweils 23 Ju-52-Bombern — jeder mit Splitterbomben und mindestens 110 Brandbomben bestückt — sowie zehn He-51-Jagdfliegern, sechs Me-109-Kampfflugzeugen und vier erstmals eingesetzten neuen He-111-Bombern Gernika dem Erdboden gleichmachte.
Drei Stunden lang warf diese fliegende Armada, deren Feuerkraft gewaltiger war, als die aller Luftwaffen im Ersten Weltkrieg zusammengenommen, ihre Bombenlast von über 50 Tonnen auf diese an einem Markttag von Menschen wimmelnde Stadt ab. Der Auftakt zu einer neuen, noch grausameren Art der Luftkriegsführung.
Picassos weltberühmtes Monumentalbild gibt den Schrecken dieser Stunden in erschütternder Weise wieder. Merkwürdig, daß die Bundesregierung dieses Bild für geeignet hält — ich habe es mitgebracht —, den Einband einer Broschüre zu Menschenrechtsfragen zu schmücken, während sie andererseits noch immer nicht in der Lage ist, ein über Städtepartnerschaft und unverbindliche Kranzniederlegungen hinaus gehendes Bekenntnis zum damaligen Geschehen abzulegen. Das ist die Broschüre, 1986 vom Auswärtigen Amt herausgegeben: „Unsere Verantwortung für die Menschenrechte in der Welt" mit dem GernikaBild Picassos.

(Beckmann [FDP]: Das ist doch gut, nicht?)

Dieses Bekenntnis ist in geradezu peinlicher Weise überfällig; denn dieses Bekenntnis gibt es eben noch nicht. Das ist das Problem der Berichterstatter, daß wir es immer noch nicht haben. Seit einem Jahr versuchen wir — Freimut Duve, Frau Hamm-Brücher und Herr Pohlmeier — einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen zustande zu bringen, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die großzügige Unterstützung eines Zentrums für Friedensforschung zu beschließen. Das dürfte schon deshalb leichtfallen, weil das baskische Parlament mit der Unterstützung der baskischen Christdemokraten letztes Jahr beschlossen hat, ein solches Zentrum zu errichten. Herr Staatsminister Schäfer, Sie haben selbst in einem Brief am 6. Januar 1988 die Meinung vertreten, alle baskischen Gesprächspartner gäben einer deutschen Beteiligung an diesem Projekt eindeutig den Vorrang.
Bei den Beratungen hierzu gelang es den Berichterstattern, einen Kompromiß in der Frage des Friedensforschungszentrums zu finden, dem jedoch dann die CDU/CSU-Fraktion überraschend die Zustimmung verweigerte, leider ohne die konkreten Bedenken zu nennen. Angebliche Einwände der Zentralregierung in Madrid rechtfertigen solche Bedenken nicht. Der spanische Botschafter in Bonn bedankte sich im Gegenteil bei mir brieflich vor zwei Tagen für meine Bemühungen um eine parteiübergreifende Einigung in dieser Frage, Herr Schäfer. Nur die Deutsche Botschaft in Madrid rät seit 1980 von Projekten dieser Art ab.
Die Bundesregierung erklärt in ihrer Antwort auf meine Kleine Anfrage, daß eine offizielle deutsche Beteiligung an einem Projekt in Gernika eine spanische Initiative voraussetzen würde. Eine solche Initiative, so sagten Sie, sei bisher aber nicht unternommen worden.
Die Tatsachen belegen das Gegenteil: 1980 hat sich eine Kommission des Stadtrates Gernikas an Bundeskanzler Schmidt mit der Bitte gewandt, eine Geste der Freundschaft und eine Geste der Achtung und der Zusammenarbeit der Völker zu machen. Für diese Geste gab es vier konkrete Vorschläge.
Erst zehn Monate später — zehn Monate später! — antwortete der damalige Botschafter in Madrid, Lothar Lahn, für Herrn Bundeskanzler Schmidt in einer absolut peinlichen Weise. Seine Begründung war, es gäbe für diese Projekte keine Mehrheit. Ich zitiere, Herr Schäfer, Reparationszahlungen für die Handlungen des Deutschen Reiches seien für alle betroffenen Länder endgültig abgeschlossen. Das Thema Vergangenheitsbewältigung sei ebenfalls als abgeschlossen zu betrachten, und die Mehrzahl der jetzt lebenden Deutschen sei 1937 noch nicht geboren gewesen. — So einfach kann man es sich natürlich auch machen. Aber ob man dem Ansehen der Bundesrepublik damit einen Gefallen tut, bezweifle ich allerdings.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich versuche mich ganz kurz zu fassen, möchte aber noch zwei wichtige Gründe anführen: Auch Herr Geißler hat am 5. August 1981 in einem Brief an die Basken geschrieben, daß die CDU der Bundesregierung eine entsprechende Initiative vorgeschlagen habe. Auch sie ist ohne jedes Ergebnis geblieben.
1982 gab es einen Brief des Auswärtigen Amtes an die Junge Union mit genau derselben Argumentation.
Das angeblich so gewünschte Signal aus Madrid, Herr Schäfer, kam in einem Brief von Felipe Gonzalez am 6. September 1984, in dem er ausdrücklich die Zustimmung zu den von der Stadt Gernika angeregten Initiativen erklärte.
Doch entgegen allen bisherigen Bekundungen ist auch das nicht genug gewesen; denn Herr Kohl antwortete am 16. Oktober 1984 ablehnend mit der Feststellung, er sehe keine Möglichkeit, diese zu verwirklichen.
Zu allerletzt: Vor einigen Stunden sprach ich ausführlich telefonisch mit dem baskischen Kulturminister Arruegi der mir versichert hat, daß die baskische Regierung dringend auf eine großzügige Unterstützung der Bundesregierung beim Aufbau des von ihnen beschlossenen Instituts im Baskenland wartet. Alle anerdslautenden Behauptungen, Herr Schäfer, hat er zurückgewiesen, auch die von Alfred Mechtersheimer.
Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107729700
Das Wort hat der Abgeordnete Pohlmeier.

Dr. Heinrich Pohlmeier (CDU):
Rede ID: ID1107729800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure mit Herrn Duve, daß wir dieses Thema im Auswärtigen Ausschuß noch nicht haben abschließen können. Wir haben zweimal darüber beraten. Die Berichterstatter haben sich darüber unterhalten. Aber es hat verschiedene Gründe gegeben.
Zunächst einmal waren Recherchen in Spanien notwendig. Die Deutsche Botschaft ist tätig geworden. Wir mußten natürlich auch prüfen, was hier als realisierbar darzustellen ist. Ich bin nicht der Meinung, daß wir hier einfach nur ein Signal geben oder eine bewegende Debatte führen sollten, sondern wenn wir etwas machen wollen, sollte das auch Hand und Fuß haben, sollte das kein Luftschloß sein.
Herr Duve hat davon gesprochen, wir dürften Geschichte nicht vergessen oder wegwischen. Ich bin mit ihm dieser Meinung. Geschichte ist dazu da, daß wir uns erinnern, daß wir Lehren daraus ziehen und daß wir gedenken.
Wenn Herr Duve aber der Bundesregierung den Vorwurf macht, sie habe eine nichtssagende und sich auf Fakten beschränkende Antwort auf eine entsprechende Frage gegeben, dann muß ich dem widersprechen. Wenn nach Fakten gefragt wird, kann man auch nur mit Fakten antworten. Und Geschichte ist doch auch wohl so zu sehen, daß zunächst Fakten ermittelt werden. Und die Fakten müssen stimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben uns um ein Einvernehmen bemüht. Es ist auch nicht richtig, daß nichts geschehen sei oder nichts vorzuweisen sei. Die Stadt Pforzheim hat eine Städtepartnerschaft mit der Stadt Guernica und der Region des Baskenlandes beschlossen. Wir sind der Meinung, daß im Rahmen dieser Städtepartnerschaft eine Fülle von Aktivitäten entwickelt werden sollte und daß wir damit für die Zukunft praktische Möglichkeiten der Begegnung für die junge Generation schaffen, so daß wirklich in der menschlichen Begegnung Deutscher, Basken, Spanier auch die Erinnerung an Guernica und die fürchterliche Zerstörung, an der Deutsche beteiligt waren, wachgehalten und daraus Leben erweckt werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin zuversichtlich — ich hoffe es jedenfalls — , daß wir in einer der nächsten Sitzungen, wahrscheinlich schon in der nächsten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses hier zu einer einvernehmlichen Lösung kommen werden. Ein Friedensforschungszentrum, wie von den GRÜNEN gewünscht, scheidet nach unserer Auffassung aus.

(Zuruf der Abg. Frau Kelly [GRÜNE])

— Frau Kelly, Sie müssen sich mit ihm auseinandersetzen. Sie haben mir seinen Bericht geschickt. Herr Mechtersheimer hat wohl erkundet, daß die spanische Seite ein Friedensforschungszentrum nicht für realisierbar hält. Ich weiß auch, daß der Pater Arana, der in
dieser Sache fortwährend tätig ist, zunächst auf ein Krankenhaus umgeschaltet hat, jetzt auf ein Forschungszentrum für Natur- und Umweltschutz.
Für alle diese Vorhaben gibt es keine tragfähige Organisation. Jedenfalls vermögen wir Realisierungschancen in dieser Richtung nicht zu erkennen. Ich bitte Sie deshalb herzlich, daß wir uns in der Richtung vereinigen mögen, diese Städtepartnerschaft zwischen Pforzheim und Guernica besonders zu fördern. Wir können Stipendienprogramme, auch Austauschprogramme in diesem Rahmen entwickeln. Ich halte das für eine realistische und auch überzeugende Lösung dieser Frage.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107729900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.

Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP):
Rede ID: ID1107730000
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch wir sind sehr betrübt — ich persönlich ebenfalls — , daß wir im Zusammenhang mit diesem wichtigen und notwendigen Antrag fast ein Jahr lang noch nicht zu einer gemeinsamen Lösung gekommen sind. Ich muß mich selber ein wenig anklagen, daß ich bei einer wichtigen Besprechung über den Antrag nicht dabei sein konnte und mich insoweit erst jetzt wieder neu eingefädelt habe.
Frau Kollegin Kelly, wie immer bewundere ich Ihr großes Engagement, wenn Sie sich für etwas einsetzen, wovon Sie überzeugt sind. Ich bin genauso wie Sie überzeugt, daß wir nicht nur eine sachliche Darstellung dessen geben sollen, was wir in diesem Zusammenhang machen sollen, sondern daß wir in diesem Antrag schon noch einmal ein Stück Geschichte klar und deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Darum dürfen wir uns nicht herummogeln. Ich bin überzeugt, daß es notwendig ist. Wir haben heute morgen in einer anderen Frage der Aufarbeitung unserer Vergangenheit einen wichtigen Beitrag geleistet. So schmerzlich das sein mag: Dieses ist die Voraussetzung dafür, daß man uns bei unseren baskischen Partnern abnimmt, daß wir das wirklich ernst meinen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Von daher gesehen sollen wir den Vorspann ruhig so lassen, wie Sie ihn in Ihrem neuen Entwurf formuliert haben.
Es hat nun wenig Sinn, heute inhaltlich auf all das einzugehen, was Sie gesagt haben, Frau Kollegin Kelly. Es fällt mir persönlich sehr schwer, dieses Friedensforschungsinstitut unseren Freunden und Partnern dort sozusagen aufzuoktroyieren, wenn sie es gar nicht haben wollen oder wenn sie gar nicht so recht wissen, was sie damit anfangen sollen. Das ist bis zur Stunde einfach nicht geklärt. Hier steht Meinung gegen Meinung. Der Botschafter hat einen Bericht gegeben. Wenn Sie denen nicht trauen, dann sollten Sie doch wenigstens Ihrem Fraktionskollegen Mechters-



Frau Dr. Hamm-Brücher
heimer trauen, daß die Zeit für ein solches Institut einfach nicht reif ist.
Das ist, Frau Kollegin Kelly, wenn ich das sagen darf, gar nicht irgendein Beweis, den Sie hier führen wollen, daß wir nichts tun wollten, sondern das ist doch einfach unsere Verantwortung, mit den Steuergeldern vernünftig und planvoll umzugehen. Diese Verantwortung haben wir ja auch.
Ich denke, daß wir hoffentlich noch im Mai die Frage abschließend behandeln können. Ich bin der Meinung, daß man schon noch ein bißchen mehr tun soll, als zu begrüßen, daß die Stadt Pforzheim eine Städtepartnerschaft abschließt. Das ist ja kein Verdienst. Da muß der Bund schon noch mit Stipendien, vielleicht mit der Förderung von Jugendbegegnungen, von Seminaren oder was sonst noch möglich ist, ein beträchtliches Scherflein betragen. Allein mit der Städtepartnerschaft sollten wir es nicht bewenden lassen.
Ich denke, daß wir es den Menschen im Baskenland schulden, daß wir — wenn auch leider mit einem Jahr der Verzögerung — diese Geste der Versöhnung und des Friedens wirklich ernsthaft und gemeinsam als Deutscher Bundestag tun.
Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107730100
Das Wort hat Herr Staatsminister Schäfer.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107730200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß die Diskussionen, die wir zu diesem Thema zweimal im Auswärtigen Ausschuß und heute nun zum zweitenmal im Bundestag führen, Unterstellungen, Frau Kelly, die Sie sie hier wieder gemacht haben, nicht zulassen. Es geht nicht darum, daß wir uns ängstlich darum bemühen, in irgendeiner Weise eine Geste der Versöhnung in Guernica zu verhindern, sondern es geht darum, daß wir wissen möchten, was die spanischen Partner wollen. Das ist nicht so eindeutig, wie Sie das dargestellt haben.
Ich darf Ihnen das letzte Zitat des Bürgermeisters von Guernica nach dem Bericht des Botschafters hier vortragen, der in der Frage dieses Friedensforschungsinstitutes unseren Botschafter am gleichen Tag, als Herr Mechtersheimer mit dem deutschen Botschafter in Guernica bei der Einweihung des Denkmals des spanischen Bildhauers Chillida war, gesagt hat, wir möchten bitte weder Guernica noch das Baskenland in der Frage eines solchen Institutes präjudizieren. Das ist die Meinung. Wenn Sie dann erfahren, daß es eine private Gruppe von Wissenschaftlern gibt, die sich jetzt zusammengesetzt hat, um sozusagen den Nukleus eines solchen Institutes zu bilden, und daß ein wesentlicher Vorschlag sein wird, daß sich dieses Institut zur Aufgabe machen soll, auch Wehrdienstverweigerer zu beraten, wie wir das inzwischen erfahren haben, dann können Sie sich vorstellen, daß es für ausländische Staaten nicht unbedingt richtig ist, mit großer Begeisterung ein solches Institut fördern zu wollen, bevor wir überhaupt wissen, welche Tätigkeiten es ausführt, und damit möglicherweise innerspanische Querelen von außen zu unterstützen.
Liebe Frau Kelly, tun Sie mir bitte einen Gefallen und unterstellen Sie uns nicht, wir wollten hier irgend etwas verhindern. Wir wollen aber auch bitte nicht anderen — ich darf das jetzt einmal so hart sagen — die Bewältigung unserer eigenen Vergangenheit aufzwingen. Das können Sie genausowenig.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107730300
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kelly zu beantworten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1107730400
Ich möchte erst noch ein paar Argumente bringen, und dann sollte Frau Kelly fragen — ich glaube, ich habe noch zwei Minuten — wenn es recht ist.
Dem Ausschußvorsitzenden und den Ausschußbeschlüssen folgend hat die Botschaft sondiert. Es hat sich klar herausgestellt, daß die Städtepartnerschaft dort begrüßt wird und daß es zwischen den Menschen Guernicas und einer Stadt in Baden-Württemberg zu Begegnungen kommt. Die Stadt hat im Februar einstimmig beschlossen, diese Städtepartnerschaft aufzubauen. Der Beschluß von Guernica liegt noch gar nicht vor. Man hat dort also noch nicht beschlossen, diese Städtepartnerschaft zu begründen, aber es ist wahrscheinlich davon auszugehen. Darüber hinaus ist der damalige Vorschlag des Ausschusses, uns an der Errichtung eines Denkmals zu beteiligen, insofern obsolet geworden, als dieses Denkmal längst in Auftrag gegeben war und bezahlt worden ist. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß wir es nicht wollten.
Wir sind auch nicht der Meinung, wir dürften uns unter keinen Umständen, Frau Kelly, an einem solchen Institut, das es ja noch gar nicht gibt, finanziell beteiligen, sondern — Frau Kelly, hören Sie nun bitte genau zu — wir warten lediglich ab, was das Institut überhaupt will. Aber Sie können doch nicht heute hier Beschlüsse über ein Institut herbeiführen, das noch gar nicht feststeht, bei dem noch gar nicht sicher ist, welche Themen es behandelt und ob die spanische Seite will, daß wir dieses Institut finanzieren. Lediglich das baskische Parlament hat es beschlossen. Aber wenn Sie die spanische Lage kennen, wissen Sie, daß das baskische Parlament keineswegs immer mit der Regionalregierung des Baskenlandes wie auch mit der Regierung in Madrid in Einklang steht.
Lassen Sie uns bitte im Auswärtigen Amt erst einmal abwarten, bis wir ganz konkret wissen, was das Institut will und in welcher Weise es finanziert wird. Es ist zutreffend — das brauchen Sie mich nicht mehr zu fragen, und es stimmt was Sie gesagt haben —, daß die dort gesagt haben, wenn es zu Zuschüssen kommt — —

(Frau Nickels [GRÜNE]: Sie sind unerträglich arrogant!!)

— Ich bin nicht unerträglich arrogant, aber Frau Kelly zuckt schon beim ersten Wort, das ich hier gesprochen habe, zusammen und hört mir fast überhaupt nicht zu. Gestatten Sie mir bitte doch erst einmal auf deren Argumente antworten zu dürfen anstatt schon wieder neue Argumente zu hören.
Ich habe Ihnen eben sagen wollen, daß wir das Institut nicht generell abgelehnt haben. Wir haben aber von Anfang an gesagt, solange nicht klar sei, was die



Staatsminister Schäfer
spanische Seite eindeutig wolle und wie das Institut aussehen werde, könnten wir hier keine Zuschüsse beschließen.
Richtig ist, Frau Hamm-Brücher, daß das Auswärtige Amt bereit ist, sowohl in der Frage der Städtepartnerschaft zu helfen als auch möglicherweise etwas in der Stipendienfrage zu tun. Sollte dieses Institut ins Leben gerufen werden, müssen wir sehen, welche Möglichkeiten dazu bestehen. Da der Wunsch der baskischen Seite nach — wenn überhaupt — ausländischen Zuschüssen vorhanden ist, wäre ein deutscher Beitrag willkommen. Wir wissen das. Wir haben das zur Kenntnis genommen. Wir wollen jetzt einmal abwarten. Mehr ist zu diesem Thema nicht zu sagen. Aber Unterstellungen, wir fürchteten ein solches Institut, sind wirklich völlig abwegig.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107730500
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte dieses Tagesordnungspunktes. Es handelt sich ja um eine Debatte nach § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 23 auf :
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder, Frau Schmidt-Bott und der Fraktion DIE GRÜNEN
Verbot der Produktion und Anwendung und des Inverkehrbringens von gentechnologisch erzeugten leistungssteigernden Hormonen und Verbindungen
— Drucksache 11/1507 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend)

Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
Auch hier ist im Ältestenrat eine Beratung von bis zu fünf Minuten pro Fraktion vereinbart worden. — Widerspruch erhebt sich nicht. Damit ist das so beschlossen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott.

Regula Schmidt-Bott (GRÜNE):
Rede ID: ID1107730600
Kern unseres Antrages ist ein sehr einfaches und ebenso einleuchtendes wie dringendes Anliegen, nämlich die Landwirtschaft und die Produktion von Nahrungsmitteln in Zukunft wieder im Interesse der Bauern und Bäuerinnen und der Verbraucherinnen zu gestalten

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und nicht im Interesse der Verbraucher?)

und nicht weiter den hemmungslosen und skrupellosen Vorgaben der chemischen, der pharmazeutischen und der wachsenden gentechnischen Industrie freien Lauf zu lassen.
Am 17. Mai ist internationaler Frauentag.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was?) — Entschuldigung, internationaler Milchtag.


(Heiterkeit)

Noch einmal: Am 17. Mai — der internationale Frauentag ist mir halt doch ein bißchen vertrauter und geläufiger — ist internationaler Milchtag. An diesem Tag werden dem Landwirtschaftsminister Kiechle in Brüssel voraussichtlich mehr als 60 000 Unterschriften überreicht von Menschen, die sich entschieden gegen die Herstellung und Zulassung von gentechnisch produzierten Rinderwachstumshormon — kurz BST genannt — in der Bundesrepublik und EG-weit wenden.
Die Argumente gegen dieses Dopingmittel für Milchkühe sind in unserem Antrag und in zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Monate gut nachzulesen. Deshalb will ich sie nur noch einmal kurz rekapitulieren.
Zur Tiergesundheit: Das Rinderwachstumshormon muß zur Zeit alle sieben bis 14 Tage vom Tierarzt gespritzt werden. Unter Praxisbedingungen geben die Tiere im Durchschnitt ca. 10 % mehr Milch. Doch wird diese Produktionssteigerung auf Kosten der Tiergesundheit erkauft. Stoffwechselkrankheiten, kürzere Lebensdauer und Fruchtbarkeitsstörungen sind schon jetzt bekannte Folgen, die vermutlich in alter Manier dann mit weiterer Chemie und mit weiteren Medikamenten bekämpft werden sollen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Wahnsinn!)

Zu den agrarpolitischen Folgen: Betriebswirtschaftlich vorteilhaft ist das BST-Spritzen nur für hochtechnisierte Großbetriebe, die sich den notwendigen höheren Kraftfuttereinsatz ebenso wie den computergesteuerten Futterautomaten leisten können. Kleinere Betriebe in ohnehin benachteiligten Regionen, die womöglich noch mit Grünfutter aus eigener Produktion wirtschaften, geraten immer mehr ins Hintertreffen.
Schon wird hinter vorgehaltener Hand über die Einführung frei verhandelbarer Milchkontingente geredet, die den BST-Einsatz erst richtig rentabel machen. Was das dann heißt, ist klar: ein noch schnelleres und massiveres Bauernsterben, als wir es jetzt schon kennen.
Zur Milchqualität: Erhöhte Hormonrückstände in der Milch seien nicht nachweisbar, heißt es; und wenn es sie auch gäbe, wären sie sowie harmlos, weil das Hormon als Eiweißverbindung — im Gegensatz zu den Steroidhormonen vergangener Kalbfleischskandale — im menschlichen Verdauungstrakt abgebaut wird. Ob das stimmt, ist aber nicht bewiesen, und glauben tue ich solchen Gesundbetereien inzwischen nicht mehr.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Milchqualität ist aber nicht nur eine Frage von gesundheitsschädigenden Rückständen. Genauso schwerwiegend können Veränderungen von wertvollen Inhaltsstoffen sein. Es gibt bereits jetzt beunruhigende Hinweise darauf, daß die Milch von BST-behandelten Kühen in der Zusammensetzung von Eiweißstoffen, Fettsäuren und anderen wichtigen Substanzen erhebliche, vermutlich gesundheitsschädigende Änderungen aufweist.
Brauchen wir als Verbraucherinnen eine BST-Milch, deren tatsächliche Qualität höchst zweifelhaft



Frau Schmidt-Bott
ist? Brauchen wir in der Bundesrepublik und in der EG angesichts von Butterbergen und Milchquoten noch mehr Milch? Da gibt es nur eine Antwort: nein.
Nur vier multinationale Konzerne — Eli Lilly, Upjohn, Monsanto, Cyanimide — meinen, daß wir bzw. sie diese gentechnischen Wundermittel brauchen, damit sie — und nicht wir — ihre nicht unerheblichen Entwicklungskosten und Investitionen wieder herauskriegen.
Inzwischen liegen Anträge auf Zulassung dieses Hormons auch in der Bundesrepublik vor. Die Bundesregierung hat sich in einer Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom Juni letzten Jahres leider nicht zu einer eindeutigen Aussage durchringen können. Sie habe zwar erhebliche Vorbehalte, heißt es, doch müsse und werde sie darauf achten, daß der deutschen Landwirtschaft im Rahmen des biotechnischen Fortschritts keine unzumutbaren Wettbewerbsnachteile entstehen. Wenn der Wettbewerb Priorität hat, ist die Entscheidung gefallen. Trotzdem fordern wir GRÜNEN nach wie vor alle Abgeordneten auf, sich für ein Verbot von Rinderwachstumshormonen in der Bundesrepublik und EG-weit auszusprechen. Der Entschließungsantrag der CDU/CSU- und FDP-Fraktionen im Landwirtschaftsausschuß, der dort eine Mehrheit gefunden hat, ist da ganz ermutigend.
Wir dürfen uns aber nicht mit dem Verbot dieses einen Hormons in der Milchproduktion begnügen. Wir müssen für die Zukunft alle diese Entwicklungen verhindern. Der Frauentag hat mich etwas Zeit gekostet;

(Zuruf von der CDU/CSU: Der Milchtag!)

Stichwort nur: Die patentierte Supermaus gibt es bereits; Sie alle haben vermutlich alle darüber gelesen. Es gibt aber auch schon ein Superschaf, dem man mit einem gentechnischen Eingriff ein Gen für schnelles Wachsen eingepflanzt hat, sogar mit einem biochemischen Hebel zum Ein- und Ausschalten. Vielleicht gibt es bald Kühe und Schafe, denen man Gene für menschliches Insulin übertragen hat, damit sie als lebende Fabriken Medikamente für uns liefern. Eine solche Zukunft gilt es unbedingt zu verhindern durch ein eindeutiges Nein zur Produktion, zur Anwendung und zum Inverkehrbringen solcher gentechnologisch erzeugter leistungssteigernder Hormone und Verbindungen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107730700
Das Wort hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.

Hermann Kroll-Schlüter (CDU):
Rede ID: ID1107730800
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir könnten es uns ja relativ einfach machen und sagen: Von allem, was zur weiteren Produktion von Produkten beiträgt, von denen wir sowieso zuviel haben, aber in der Auswirkung nicht ganz sicher ist, sollte man die Finger lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau HammBrücher [FDP]: Sehr vernünftig! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Völlig unbestritten!)

Das ist in sich logisch und hat auch vieles für sich. Aber was so ganz einfach klingt, muß doch näher untersucht werden.

(Zuruf von den GRÜNEN: Die Wahrheit ist einfach!)

— Wir sind uns viel näher, als Sie meinen.
Ich meine, die Auseinandersetzung damit müßte etwas gründlicher geführt werden als mit solch einer einfachen Parole;

(Zurufe von den GRÜNEN)

denn es geht auch um die technische Nutzbarmachung biologischer Vorgänge, es geht um Biotechnik. Es wäre falsch, von vornherein nein zu sagen, und es wäre falsch, ungeprüft ja zu sagen. Unser Ziel ist es, die positiven Möglichkeiten neuer Techniken für die Menschen nutzbar zu machen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Für die Konzerne! Seien Sie doch wenigstens ehrlich!)

Hierfür sind zwei Voraussetzungen nötig. Die Rahmenbedingungen neuer Techniken müssen so gestaltet werden, daß dem Menschen und der Menschheit keine Schäden entstehen, deswegen z. B. ein gesetzliches Verbot der Manipulation am menschlichen Erbgut.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das ist zuwenig!)

Wir brauchen auch für jede konkrete Realisation aus einer neuen Technik eine Kosten/Nutzen- und eine Chancen/Risiken-Analyse.
Zu dem, was hier zur Debatte steht, Somatotropin, also gentechnisch erzeugtes Wachstumshormon, möchte ich sagen: Damit verbunden sind die Gefahren zusätzlicher Überschüsse auf dem Fleisch- und Milchmarkt, Verdrängung einheimischen Grundfutters durch importierte Kraft- und Eiweißfuttermittel, weitere Gefährdung bäuerlicher Familienbetriebe, voraussichtlich sehr geringe Akzeptanz durch den Verbraucher, wenn nicht sogar Ablehnung

(Frau Garbe [GRÜNE]: Dafür werden wir sorgen!)

— denn wenn ich die Auswirkung noch nicht genau kenne, auch wenn ich es nicht genau feststellen kann, muß ich sehr vorsichtig sein;

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Sehr gut!)

man muß sehr final an das Thema herangehen; was ich nicht genau abschätzen kann, sollte ich aus guten Gründen und von daher untersagen —,

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Sehr gut!)

negative Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Milch, eine Belastung der Tiere, eine geringere Lebensdauer, eine geringere Fruchtbarkeit, und auf Grund fehlender Langzeitstudien können die gesundheitlichen Auswirkungen noch nicht abschließend bewertet werden. Deswegen: Das Kontra überwiegt. Das Pro ist: Ich kann mehr erzeugen, mehr erreichen, billiger, ich habe eine höhere Rentabilität. In der Abwägung der Güter ist das viel zuwenig, als daß man



Kroll-Schlüter
einer Einführung zustimmen könnte. Deswegen sage ich nein.

(Beifall bei der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP] — Häfner [GRÜNE]: Eine weise Rede!)

Deswegen wäre es richtig, wenn die Bundesregierung weiterhin eine Initiative auf EG-Ebene ergreifen würde. Es ist bereits Ende 1987 im Agrar-Ministerrat zur Sprache gebracht worden mit dem Ergebnis, daß die Kommission der EG beauftragt wurde, kurzfristig einen Bericht über die agrarpolitischen, verbraucherpolitischen und sonstigen Aspekte der Anwendung vorzulegen, um Vorschläge für eine gemeinschaftliche Behandlung der Angelegenheit zu unterbreiten.
1992 soll es einen einheitlichen Binnenmarkt geben. Um so wichtiger ist es, vor dem Hintergrund dieser beiden Aussagen eine EG-einheitliche Regelung anzustreben. Wer Europa stärken will, muß versuchen, zuerst europäische Lösungen zu verwirklichen.
Wir jedenfalls wollen diesen europäischen Weg gehen und bitten Sie alle herzlich, mit uns gemeinsam weiter darauf zu drängen, daß es in dieser wichtigen Frage eine EG-einheitliche Regelung gibt. Dann sind die Argumente, die wir hier vorgetragen haben, um so wirksamer. Ein Alleingang wäre zuwenig. Auf die EG hinzuwirken, unseren Standpunkt europaweit durchzusetzen ist eine lohnende Aufgabe im Hinblick auf ein lohnendes Ziel — für Verbraucher und für Erzeuger.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107730900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Adler.

Brigitte Adler (SPD):
Rede ID: ID1107731000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das bovine Somatotropin sein ein artspezifisches Eiweißhormon. Mit diesem Hinweis auf das Artenspezifische soll Harmlosigkeit vermittelt werden. Vier amerikanische Firmen haben das Wissen und den ökonomischen Schlüssel für das gentechnisch produzierte Somatotropin.
1979 war es gelungen, das Gen für BST in Bakterienzellen zu verpflanzen. Die Bakterienkulturen produzieren nun das Wachstumshormon, das anschließend zurückgewonnen wird.
Der Milchkuh muß nun das künstliche Hormon direkt in den Pansen gespritzt werden, damit es nicht im Verdauungstrakt abgebaut wird. Die tägliche Hormonspritze kann in absehbarer Zeit durch Depotspritzen ersetzt werden. Die Milchleistung der Kühe kann mit BST um bis zu 40 % gesteigert werden. Das bedeutet, daß der Kuhbestand um 230 000 bis 300 000 Kühe reduziert werden müßte, wenn nicht die bestehende Quote erhöht werden sollte.
Gentechnologisch produzierte Wachstumshormone werden nicht nur für die Milchproduktion vorbereitet, sondern auch zur Förderung der Fleischproduktion bei Schweinen und Rindern, bei Geflügel, Schafen und Fischen. Erste Versuche in den USA zeigten, daß
behandelte Tiere schneller wuchsen und sich die Futterverwertung verbesserte. Diese Tiere zeigten nach dem Schlachten mehr Fleisch und 20 bis 70 % weniger Fett.
Auf Grund des erhöhten Futter- und Energiebedarfs beim Einsatz von BST gewinnen Manipulation von Mikroorganismen des Pansens an Bedeutung. Es wird versucht, mit Hilfe von gentechnischen Methoden dem Ziel einer besseren Futterverwertung näherzukommen. Die Erfolgsaussichten sind ungewiß, da die Gentechnologie zur Veränderung des Pansenmikroorganismus erst am Anfang steht und die Natur der Pansen-Fauna — zum Glück — bisher noch nicht verstanden wird.
Eine direkte Veränderung der Gesundheit und Fruchtbarkeit der Tiere war bislang nicht festzustellen, wenn auch befürchtet wird, daß bei einer weiteren Leistungssteigerung die Gesundheit und Lebensdauer sowie die Fruchtbarkeit negativ beeinflußt werden.
Ungeklärt sind bis heute die Wirkungen, die von der chemischen Präparierung des BST, um die Langzeitwirkung zu erzielen, ausgehen. Durch gesundheitliche Labilität der Tiere muß mit einem Anstieg des Arzneimitteleinsatzes gerechnet werden. Denn das Hormon könnte zu einem vorzeitigen Abbau der Kräfte der Milchkühe führen und damit gesundheitliche Schäden hervorrufen.
Der Herr Minister hat uns in einem Brief an den Landwirtschaftsausschuß u. a. geschrieben, daß der natürliche BST-Gehalt bei Versuchstieren nach Anwendung des synthetischen BST nicht — zumindest nicht signifikant — erhöht sei.
So muß festgestellt werden, daß BST zu einer Entwicklung der industriellen Milchviehhaltung beitragen wird. Durch BST-Anwendung wird es zu einer regionalen Verlagerung der Milchproduktion kommen, d. h., in einem großen Umfang werden Grünflächen aus der landwirtschaftlichen Produktion ausscheiden. Indirekte ökologische Auswirkungen werden dann bei den freiwerdenden Grünflächen erwartet, die eine Veränderung der Landschaftsbilder und Lebensräume nach sich ziehen werden. Auch ein vermehrter Anfall von Gülle an den Standorten mit konzentrierter Milchviehhaltung steht zu erwarten.
Die Industrialisierung und Rationalisierung der tierischen Produktion zwingt zu höherem Einsatz an begleitenden Techniken und Energien. Die Industrie wird auf Grund der Forschungsgelder auf die Zulassung von Somatotropin drängen.
Gemeinsam haben wir im Ausschuß gegen die Zulassung in der EG gestimmt, auch wenn bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, eher der Milchsee Alpträume verursacht, als daß das synthetisch hergestellte BST Sie bewog, das Wachstumshormon abzulehnen.
Die Konfliktfelder aber sind schon vorgezeichnet. Die Hormonmilch mußte schon aus den Verkaufsregalen herausgenommen werden. Negative Erfahrungen mit Rückständen führten zu dem berechtigten Verhalten der Verbraucher. Da Langzeitversuche noch nicht abgeschlossen werden konnten, kann über den ge-



Frau Adler
ring signifikant höheren BST-Gehalt in der Milch und über seine Wirkung noch nichts Genaues gesagt werden.
Das bovine Somatotropin ist abzulehnen. Darin sind sich alle Fraktionen einig, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Wir Sozialdemokraten lehnen Hormone — und hier insbesondere gentechnisch hergestellte Hormone — ab, die die Milchkuh zur industrieellen Milchmaschine werden lassen. Offen ist, wie die Tiere damit gesundheitlich fertig werden. Wie die Rückstände und ihre Wirkung beim Menschen aussehen werden, ist ebenfalls noch nicht zu überschauen.
Die Entschließung, die der Landwirtschaftsausschuß im September letzten Jahres einstimmig gefaßt hat, hat für uns auch heute noch Gültigkeit. Lassen Sie uns deshalb in dieser Frage weiterhin gemeinsam handeln.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da schmeckt mir aber mein Leberkäs heute abend nicht mehr!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107731100
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1107731200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag der GRÜNEN geht es um eine Problematik, zu der auf Antrag der Koalitionsfraktionen im September 1987 im Ernährungsausschuß ein Beschluß gefaßt wurde. Damals haben wir uns einmütig gegen eine EG-weite Zulassung des Rinderwachstumshormons BST ausgesprochen. Die FDP trägt nach wie vor diesen Beschluß.
Trotz dieses Beschlusses gibt es eine Reihe ungelöster Fragen, die dringend analysiert werden müssen. Nichts wäre nachteiliger für die Rahmenbedingungen der Landwirtschaft, als wenn die Politiker in dem hochentwickelten Zukunftsbereich Gentechnologie Kurzschlußentscheidungen treffen würden.
Vielfach wird bovines Somatotropin als Managementinstrument für den erfolgreichen Milcherzeuger charakterisiert, als Werkzeug also, das die Rentabilität leistungsfähiger Milchkühe steigert und mit dem man auf weniger Fläche mehr Milch produzieren kann. Die anfänglich ins Gespräch gebrachten 30 % Leistungssteigerung bei Kühen — Frau Adler hat sogar von 40 % gesprochen — sind viel zu hoch gegriffen. Versuche in Mariensee und Kiel ergaben, daß die Mehrleistung ca. 5 bis 15 % ausmacht.
Jegliche erzielte betriebswirtschaftlich wünschenswerte und kostengünstige Leistungssteigerung stößt volkswirtschaftlich auf große Bedenken. Wollen wir mehr Milch, wenn wir gleichzeitig durch die Quote die Produktion limitieren? Nein. Wollen wir freie Produktionskapazitäten, z. B. freiwerdende Futterflächen, wenn wir auch im alternativen Agrarproduktbereich die Sättigungsgrenzen erreicht oder überschritten haben? Nein.
Ein Verbot von BST in der Bundesrepublik verhindert aber nicht den gentechnologischen Fortschritt. Ist bovines Somatotropin einmal marktreif, wird es immer auf bestimmten Kanälen in die Hände von Landwirten gelangen.

(Kreuzeder [GRÜNE]: Ist das wirklich ein Fortschritt?)

Wenn die bereits vorliegenden BST- Zulassungsanträge in Großbritannien, Frankreich und bei der EG in Brüssel positiv entschieden werden, verschaffen sich die dort produzierenden Landwirte eventuell weitere Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren deutschen Kollegen.
Die wissenschaftlichen Aspekte von bovinem Somatotropin sind vielfältig. Ich bezweifle, daß es möglich sein wird, ausreichende Rückstandskontrollen durchzuführen. Kontrolliert werden kann nur über technisch hervorragend ausgerüstete Laboratorien, die Reste oder Spuren von verwendeten Hormonen nachweisen müssen.
Dies wird schwierig sein. BST ist ein artspezifisches Hormon, welches von den Kühen auch auf natürliche Weise produziert wird und beim Menschen völlig unwirksam ist. BST-produzierte Milch ist rückstandsfrei; das bestätigen uns zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Das heißt, das, was hier von den GRÜNEN und von Frau Bott gesagt wird, daß es in der Milch feststellbar ist, trifft nicht zu. Kuhmilch hat ganz natürlich bovines Somatotropin, auch jetzt schon. Das ist ja eben die Schwierigkeit und das,

(Frau Adler [SPD]: Das hat auch niemand bestritten!)

was uns allen große Sorge macht.
Aus wissenschaftlichen Erkenntnissen heraus ist es nicht zu begründen, daß der Verbraucher der mit BST produzierten Milch so sehr reserviert gegenübersteht. Meines Erachtens rührt diese Ablehnung daher, daß dem Verbraucher das ganze Gebiet der Gen- und Biotechnologie unheimlich und verdächtig vorkommt. Es ist wenig transparent. In immer kürzer werdenden Abständen werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Gendechiffrierungen publik. Die Angst vor ethisch nicht mehr verantwortbarer Wissenschaft wächst. Denn warum sollten sich aufgeschreckte deutsche Verbraucher anders verhalten als amerikanische? Dort jedenfalls wurde die mit BST produzierte Milch in den Märkten einfach stehengelassen.

(Zuruf von der SPD: War sie gekennzeichnet?)

Dabei ist der Grund für die Verbraucher-Abschrekkung jetzt völlig unerheblich. Tatsache bleibt die psychologisch verankerte Ablehnung der BST-Milch, und daraus resultiert ein Sinken des Milchabsatzes.
Wir Politiker werden mit unserer Entscheidung auf das Verbraucherverhalten Rücksicht nehmen müssen — allen wissenschaftlichen Beteuerungen der Rückstandsfreiheit zum Trotz. Es darf aber nicht so sein, daß sich Politiker durch Verbraucheremotionen von sachgerechten Entscheidungen abbringen lassen. Wir haben uns jetzt gegen BST ausgesprochen, müssen aber auch bereit sein, unsere Entscheidung zu überprüfen. Denn eines ist sicher: Verbote halten wissenschaftlichen Fortschritt nur vordergründig auf.

(Kreuzeder [GRÜNE]: Rückschritt!)




Bredehorn
Ich habe bereits bei den Ausschußberatungen im September 1987 eine Sachverständigenanhörung gefordert, um verantwortliche und sachgerechte politische Entscheidungen treffen zu können. Ich begrüße es daher, daß jetzt die Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" meinem Wunsch nachkommt und für den 20. Juni 1988 Experten eingeladen hat, um mit ihnen gemeinsam die gesundheitlichen Aspekte von BST zu erörtern.
Die Mikrobiologie, die Biotechnik und auch die Humangenetik sind ein Wagnis. Aber sie bieten uns auch eine große Chance. Wir Politiker haben hier eine sehr große Verantwortung. Aber wir brauchen auch den Mut zur Verantwortung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107731300
Als letzter hat der Parlamentarische Staatssekretär von Geldern das Wort.

Dr. Wolfgang von Geldern (CDU):
Rede ID: ID1107731400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat bereits mehrmals, auch in Antworten auf parlamentarische Anfragen, darauf hingewiesen, daß sie gegen die Anwendung gentechnisch hergestellter Stoffe zur Leistungssteigerung in der Tierproduktion, insbesondere gegen das derzeit im Mittelpunkt der Diskussion stehende Rinderwachstumshormon bovines Somatotropin (BST), erhebliche Vorbehalte hat

(Dr. -Ing. Kansy [CDU/CSU]: Er hat das am flüssigsten ausgesprochen!)

— ich kenne auch den griechischen Ursprung dieses Wortes — und nicht beabsichtigt, den Einsatz solcher Stoffe zu fördern.
Was die Zulassung oder das Verbot von BST betrifft, ist die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie alle anderen EG-Mitgliedstaaten durch die am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Biotechnologie-Richtlinie der Gemeinschaft verpflichtet, vor einer Entscheidung über entsprechende Anträge den Ausschuß für Tierarzneimittel bei der EG-Kommission zu hören. Aber auch aus Wettbewerbsgründen müssen nationale Alleingänge vermieden werden.
Der Tierarzneimittelausschuß bei der EG-Kommission hat Ende 1987 erstmals über die damals vorliegenden Anträge aus Frankreich und Großbritannien beraten. Inzwischen liegt übrigens ein Antrag auch beim Bundesgesundheitsamt vor. Der Ausschuß hat sich zu einer abschließenden Stellungnahme aber noch nicht in der Lage gesehen und hat aus wissenschaftlicher Sicht eine ganze Reihe von Fragen an die antragstellenden Firmen gerichtet.
Da die Bundesregierung aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes und der Verbraucherakzeptanz von Nahrungsmitteln sowie aus agrarpolitischen Überlegungen und aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit großen Wert auf eine einheitliche verbindliche Lösung für die ganze Gemeinschaft legt, hat sie die Angelegenheit Ende 1987 von der rein fachlichen Ausschußebene auf die politische Ebene des Agrarministerrats verlagert.
Das Ergebnis der Beratung im Rat war, daß die Kommission der EG beauftragt wurde, kurzfristig einen Bericht über die agrarpolitischen, verbraucherpolitischen und sonstigen Aspekte der Anwendung von BST vorzulegen, um Vorschläge für eine gemeinschaftliche Behandlung der Angelegenheit zu unterbreiten.
Der Agrarministerrat und die Kommission waren der einheitlichen Auffassung, daß nur gemeinsame Lösungen in der Gemeinschaft vertretbar seien. Ich weise auf das Beispiel der EG-Richtlinie zum Verbot des Einsatzes von Sexualhormonen in der Tiermast hin.
Der Bericht der EG-Kommission zum Komplex BST soll noch im ersten Halbjahr 1988 vorgelegt werden. Er wird die Grundlage für weitere Beratungen und Beschlüsse sein.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107731500
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gautier zu beantworten?

Dr. Wolfgang von Geldern (CDU):
Rede ID: ID1107731600
Ja; gern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107731700
Bitte.

Dr. Fritz Gautier (SPD):
Rede ID: ID1107731800
Herr Staatssekretär, ich habe die Frage, ob der Agrarministerrat auch eine Untersuchung über die agrarpolitischen Konsequenzen der künstlichen Besamung und deren Auswirkungen auf den Milchmarkt im Vergleich zu der Anwendung von BST in Auftrag gegeben hat.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107731900
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte die Antwort in der üblichen Form entgegennehmen?

(Dr. Gautier [SPD]: Entschuldigung!)

Es ist ohnehin unüblich, während der Kurzreden überhaupt Zwischenfragen zu stellen.

Dr. Wolfgang von Geldern (CDU):
Rede ID: ID1107732000
Ich möchte deswegen die Antwort auch ganz kurz halten: Das Thema, über das wir hier sprechen — der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN — , und der Auftrag, den der Agrarministerrat der Kommission erteilt hat, beschränken sich auf die Frage des Einsatzes boviner Somatotropine (BST). Dazu müssen wir erst einmal die Vorschläge des zuständigen Ausschusses der Kommission sowie danach die Entscheidung des Agrarministerrats abwarten. Bei dieser Sachlage sind nationale Alleingänge, wie in dem vorliegenden Antrag gefordert, jedenfalls nicht vertretbar.
Ich füge aber ausdrücklich hinzu, meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, um den Standpunkt der Bundesregierung für das Parlament und die Öffentlichkeit unmißverständlich zu beschreiben, daß über die genannten wichtigen Gesichtspunkte der Agrarpolitik, der Verbraucherpolitik, der Gesundheitspolitik hinaus auch ethische Fragen beantwortet werden müssen. In dem sensiblen Bereich des Umgangs mit Tieren gilt heute mehr denn je der



Parl. Staatssekretär Dr. von Geldern
Satz: Nicht alles, was machbar ist, darf gemacht werden. Wir wollen keine Turbo-Kuh.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1107732100
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Rednerliste.
Der Ältestenrat bittet Sie, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zusätzliche Überweisungsvorschläge werden offensichtlich nicht gemacht. Somit darf ich dies als beschlossen feststellen.
Wir sind nunmehr am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Mai 1988, 9 Uhr ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.