Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich und möchte vor Eintritt in die Tagesordnung
dem Kollegen Hans-Joachim Schabedoth zu seinem
heutigen 65 . Geburtstag herzlich gratulieren .
Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr!
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 21:
Vereinbarte Debatte
zum Arbeitsprogramm der EU-Kommissi-
on 2017
Die Debatte soll nach einer interfraktionellen Verein-
barung 60 Minuten dauern. – Das ist offensichtlich ein-
vernehmlich . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Katarina Barley für die SPD-Frak-
tion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-be Gäste! Das vorliegende Arbeitsprogramm der Euro-päischen Kommission für das Jahr 2017 ist Anlass fürunsere heutige Debatte . Aber die Fragen, die uns beschäf-tigen, gehen weit darüber hinaus . Es geht im Moment umnichts weniger als um die Frage, wohin sich Europa ent-wickeln wird, wohin sich die Europäische Union entwi-ckeln wird . Wir haben ja ein Jahr der Zäsuren hinter uns,ein Jahr mit Brexit-Referendum, ein Jahr mit Wahlkampfund Wahl in den USA; und Donald Trump wird heuteals Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden .All das wird die Architektur der Welt und die Architekturinnerhalb der Europäischen Union verändern .Genauso wie für viele von Ihnen bedeutete für michdie Idee der Europäischen Union, zusammenzuwachsenund einander besser zu verstehen, indem man zusam-menarbeitet und sich austauscht . Es ist schon bestürzend,zu sehen, dass die bisherigen Entwicklungen umkehrbarsind . Wir sind mit zwei Entwicklungen konfrontiert, diemich und, wie ich vermute, die meisten hier im Saal sehrbesorgt machen .Die eine Entwicklung ist, dass sich Menschen von Eu-ropa, von der Idee der Europäischen Union abwenden,weil sie sich nicht mehr erreicht fühlen, sich nicht ver-standen fühlen, weil sie sich nicht als Ziel europäischerPolitik fühlen . Ich nenne als Beispiel eine Begegnung beieiner Wanderung in Bayern . Ein selbstständiger Metzger,der das Geschäft in fünfter Generation fortführt, sagtemir: Es ist schon wieder eine neue Regelung aus Brüsselgekommen . Ich muss schon wieder neue Hygienevor-schriften beachten und müsste bauliche Veränderungenvornehmen, wenn ich meinen Betrieb an die nachfolgen-de Generation übergeben will . Das lohnt sich nicht mehr .Irgendwann werden wir dichtmachen müssen . – Das istnur eine kleine Begebenheit . Es gibt viele davon, beidenen die Menschen das Gefühl haben: Europa wird zusehr von der Logik der Märkte her gedacht, aus der Logikder Wirtschaft gedacht und eben zu wenig aus der Logikvon Menschen .Die zweite sehr besorgniserregende Entwicklung istdie der wachsenden nationalen Egoismen . Das ist keineganz neue Entwicklung . Das hatten wir schon bei MaggieThatcher . Insofern ist es wahrscheinlich auch kein Zu-fall, dass nun Großbritannien das Land ist, welches dieGrundsatzfrage gestellt hat . Die Idee aber, dass man nichtgemeinsam zu etwas beiträgt, sondern sich das größteStück herausbrechen will, haben wir schon lange .Was wir jetzt aber zusätzlich sehen – zusätzlich zuUnterbietungswettbewerben, die wir leider immer nochhaben in Form von Steuerdumping und auch Dumpingbei Sozialstandards –, ist noch etwas Weiteres: Es kommtjetzt ein neuer Nationalismus, ein neuer Egoismus miteiner ganz anderen Qualität und einer ganz anderen Ziel-richtung dazu . Deswegen ist es so wichtig, dass sich die-jenigen, welche die EU nach wie vor als ein Projekt derZukunft, als ein Projekt der Versöhnung, als ein Projektdes gemeinsamen Wohlstandes ansehen, jetzt ernsthaftüberlegen, wie sich diese EU in Zukunft aufstellen soll .
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Ich glaube, dass wir nach diesem Jahr der Zäsuren einenneuen Aufschlag brauchen . Die EU ist ein Projekt, dasvon Menschen gemacht wird . Deswegen haben wir esauch in der Hand, Europa zu verändern . Und das müssenwir tun .Wir müssen die Rechtspopulisten bekämpfen, die eine180-Grad-Wende hin zu einem neuen säbelrasselnden,autoritären Nationalismus wollen . Das hat mit einemfreiheitlichen Europa in einem aufgeklärten Kontinentüberhaupt nichts mehr zu tun . Damit begänne eine Zeitdes Nationalismus, des Protektionismus und der auto-ritären Regime . Das kann wirklich keiner wollen . Manblicke einmal auf Polen und Ungarn und schaue sich an,wem es da zuerst an den Kragen geht: der unabhängigenJustiz, der freien Presse, der kritischen Kultur, den Rech-ten der Frauen . Es sind immer die Gleichen, die darunterzu leiden haben . Das kann wirklich kein Mensch wollen,der an einem freiheitlichen Europa interessiert ist .
Aber wir können und müssen Europa besser machen .Das heißt für uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten vor allen Dingen, Europa sozialer zu machen .Deswegen bin ich froh, dass die Europäische Kommissi-on eine europäische Säule einziehen will . Das darf aberkeine reine Worthülse bleiben . Wir fordern das schonlange; denn das bietet die Chance, wirklich ein Europader Bürger aufzubauen . Das heißt soziale Sicherungs-standards, faire Mindestlöhne, das heißt ein Ende vonSteuerflucht und Steuerdumping. Das heißt auch ein Europa der Jugend; denn wir sehendoch, dass wir vor allen Dingen in Südeuropa eine ganzeGeneration für die europäische Idee verlieren . Die Ideedes Juncker-Plans, Investitionen zu stärken, ist der rich-tige Ansatz . Aber Investitionen alleine werden uns nichthelfen, wenn sie nicht in Beschäftigung münden, vorallen Dingen in Beschäftigung von jungen Menschen;denn sie sind unsere Zukunft im Kampf für ein geeintesEuropa .Europa ist das, was wir daraus machen . Wir haben esin der Hand . Unsere Generation wird sich später daranmessen lassen müssen, was wir aus dieser europäischenIdee gemacht haben . Wir wollen einen neuen Aufbruchin Europa für eine gute und eine gemeinsame Zukunft .Vielen Dank .
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieEuropäische Union ist in einem desolaten Zustand . Lei-der – das muss ich sagen – haben die Bundeskanzlerinund der Bundesfinanzminister daran einen großen Anteil.
Auch Vizekanzler und Minister Gabriel ist insofern mit-schuldig, als er als Vizekanzler zu all dem geschwiegenhat und sich als Wirtschaftsminister nicht eingemischthat .
Deutschland spielt eine führende Rolle in der Europäi-schen Union . Und es gibt zwei Wege, wie man diese Rol-le ausfüllen kann . Der erste Weg ist: Man baut den SüdenEuropas und damit auch die Europäische Union auf . Derzweite Weg ist: Man baut den Süden Europas und damitauch die Europäische Union ab . Leider hat sich die Bun-desregierung für den zweiten Weg entschieden . Das istverhängnisvoll .Sie reden von Wettbewerbsfähigkeit, von wettbe-werbsfähiger Demokratie . Die soziale Frage, die öko-logische Nachhaltigkeit, die Solidarität – all das spieltnicht die geringste Rolle; es interessiert Sie einfach nicht .
Permanent wird vom Süden Europas gefordert: Runtermit den Löhnen, runter mit den Renten, runter mit den So-zialleistungen! Das sind aber Länder, die im Unterschiedzu Deutschland nicht vom Export, sondern von der Bin-nenwirtschaft leben . Wenn Sie permanent die Kaufkraftreduzieren – ich bin noch gar nicht bei der sozialen Fra-ge –, dann bringt das mit sich, dass die Binnenwirtschaftgeschwächt wird . Das heißt, dass die Steuereinnahmenzurückgehen, und das bedeutet, dass die Schulden nie-mals zurückgezahlt werden können .
Was wir gebraucht hätten, wäre ein Marshallplan fürden Süden gewesen . Den haben Sie abgelehnt . AberDeutschland – nicht die DDR, aber die Bundesrepu-blik – bekam nach dem schlimmsten Krieg, nach denschlimmsten Verbrechen nach 1945 einen Marshallplan,der beim Aufbau geholfen hat . Nicht nur das: Acht Jahrenach diesen entsetzlichen Verbrechen tagte eine Schul-denkonferenz in London: 1953 . Auf ihr wurden Deutsch-land fast alle Schulden erlassen . Vergleichen Sie das ein-mal mit der Art und Weise, wie Sie den Süden Europasbehandeln .
Ich behaupte, wir brauchen jetzt, 64 Jahre nach 1953,wieder eine Schuldenkonferenz, nicht nur für Griechen-land, sondern für die gesamte Euro-Zone .
Bestimmte Schulden müssen einfach gestrichen werden .Ich darf Sie an die Bibel erinnern, an das Alte Testament,Dr. Katarina Barley
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an die Verse 8 bis 55 im 3 . Buch Mose, Kapitel 25 – lesenSie das einmal –:
Da steht etwas von einem Schuldenerlass alle sieben Jah-re, aber zumindest nach 50 Jahren im sogenannten Jubel-jahr. – Ich finde, die Christdemokratinnen und Christde-mokraten könnten sich doch wenigstens einmal nach derBibel richten . Das wird höchste Zeit .
Wenn man den Banken sagt: „Alle 64 Jahre gibt es einenSchuldenerlass“, dann gewöhnen sie sich auch daran . Siemüssen es nur wissen . Ich glaube, dass das der richtigeWeg wäre .Die EU ist unsolidarisch . Ich nenne ein Beispiel:Deutschland hat die Solidarität mit Griechenland aufge-kündigt . Das war deshalb so verhängnisvoll, weil sichalle anderen Regierungen gesagt haben: Ach, so werdenwir behandelt, wenn es uns schlechtgeht . – Ich erinne-re daran, dass die italienische Regierung, als sehr vieleFlüchtlinge nach Italien kamen, um EU-Flüchtlingsquo-ten bat . Was sagte die Bundesregierung? Wir haben dasAbkommen von Dublin . Das kommt gar nicht infrage .Das ist eure Angelegenheit .Etwa zehn Monate später kamen sehr viele Flüchtlin-ge nach Deutschland, und plötzlich wollte die Bundesre-gierung EU-Flüchtlingsquoten . Ich habe selten in solchwonnige Gesichter von Staats- und Regierungschefs ge-sehen, die uns allen den mittleren Finger gezeigt haben .Da war mir klar: Die Solidarität in der EU ist kaputt . Unddas geht nicht .
Wissen Sie, was der Höhepunkt war? Als jetzt in Grie-chenland etwas Geld übrig blieb, hat man entschieden,dieses Geld den Ärmsten zur Verfügung zu stellen . FrauMerkel und Herr Schäuble haben ein Affentheater ge-macht und gedroht, dass alle weiteren Hilfen für Grie-chenland gestrichen werden . Sie müssen sich einmalüberlegen, wie das bei den Leuten in Europa ankommt,wenn man eine solch kleine Geste derart beschimpft .Ich muss noch etwas sagen:Die EU ist unsozial . Der Süden hat in den letzten Jah-ren nichts anderes als Sozialabbau kennengelernt, undauch in Deutschland haben wir den größten Niedriglohn-sektor in Europa und millionenfache prekäre Beschäfti-gung .Die EU ist auch ökologisch nicht nachhaltig . Ich sageimmer: unzureichende Ziele und unzureichende Realisie-rung von Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawan-del .Die EU ist intransparent . Die TTIP-Verhandlungenwurden als Geheimverhandlungen geführt . Ich beurteiledie Tatsache, dass Trump heute Präsident der Vereinig-ten Staaten von Amerika wird, natürlich äußerst kritisch .Aber Sie wissen: Negative Entwicklungen haben immerauch ein positives Körnchen . Es könnte ja sein, dass erTTIP fallen lässt, und das wäre dann im Interesse der Eu-ropäerinnen und Europäer .
Die EU ist undemokratisch . Ich werde Ihnen auch sa-gen, warum die EU undemokratisch ist: weil sie einenRegierungsföderalismus begründet hat . Man interessiertsich diesbezüglich weder für das nationale Parlamentnoch für das Europäische Parlament .
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Weil Erdogan die Türkeivon einer Demokratie zu einer Despotie und zu einerDiktatur entwickelt, hat das Europäische Parlament be-schlossen, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen . Wassagt die Kanzlerin? Nein, wir verhandeln weiter . Viel-leicht machen wir kein neues Kapitel . – Es interessiertsie einfach nicht . Das bekommen doch die Europäerin-nen und Europäer mit und vertrauen deshalb der Strukturnicht mehr .Außerdem ist alles wirr . Stichwort „Europarecht“ –Sie haben es erwähnt –: Jeder Bürgermeister stützt sichauf das Europarecht . In der einen Hälfte der Fälle zuRecht, in der anderen Hälfte ist der Zusammenhang freierfunden . So geht es nicht weiter . Die Leute verlierenjede Übersicht .Nun will die EU auch noch militärisch werden . Ichsage Ihnen klipp und klar – auf den Ersatz nationalerStreitkräfte könnten wir uns verständigen; aber das kannman ja vergessen; das alles kommt hinzu –: Wir sindstrikt dagegen, dass die Europäische Union invasionsfä-hig wird .
Aber nachdem ich das alles gesagt habe, muss ich Ih-nen begründen, weshalb ich einen Neustart will und dieEU retten will .
– Es ist ja scheinbar ein Widerspruch: Erst mache ich dieEU fertig, und dann kommt das Gegenteil . Aber ich bineben ein Dialektiker . Das kennen Sie nicht .Erster Grund: die Jugend . Die Jugend ist europäischaufgewachsen . Die meisten Jugendlichen sprechen ganzgut Englisch . Die haben mal hier, mal dort gearbeitet,sie haben mal hier, mal dort studiert etc . Stellen Sie sichdoch mal vor, es gäbe wieder die alten Nationalstaatenmit Grenzbäumen . Dann bestünde irgendwann wiederdie Notwendigkeit, einen Pass zu haben . Gibt es irgend-wo einen Konflikt, dann wird eine Visumspflicht einge-führt . Stellen Sie sich mal vor: Zwei Monate bevor Sienach Paris fliegen wollen, müssen Sie erst einmal ein Vi-Dr. Gregor Gysi
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sum in der französischen Botschaft beantragen! Das istfür uns Alte ja kaum vorstellbar, aber für die Jungen eineblanke Katastrophe . Das ist der erste Grund, weshalb dasnicht geht .
Zweiter Grund . Die weltpolitische Relevanz der Nati-onalstaaten können Sie vergessen . Was glauben Sie, wel-che Rolle Luxemburg im Nahostkonflikt spielt? Nur als EU sind wir ein Faktor .Dritter Grund . Ökonomisch haben wir als National-staaten im Verhältnis zu China und den USA nichts zubestellen . Nur als EU sind wir ein Faktor .Vierter Grund . Die deutsche Nationenbildung kam,weil wir schlechte Revolutionäre sind – ich erinnere an1848 –, ja erst 1871 . Zu spät! Da war die koloniale Auf-teilung der Welt abgeschlossen, was wir heute begrüßenkönnen; denn wir müssen uns nicht ganz so oft entschul-digen wie andere . Wir bekamen nur einen kleinen TeilAfrikas . Die Herrschenden fühlten sich jedoch zu kurzgekommen. Sie hatten nicht den Zugang zu Rohstoffen, konnten die Leute nicht so ausbeuten wie andere . Des-halb gab es immer wieder diesen deutschen Sonderweg,den Versuch der Neuordnung der Welt . Erster Weltkrieg,Zweiter Weltkrieg – gescheitert . Eine Schlussfolgerungbestand darin, Deutschland international zu verankern .Ich will nicht zurück zum alten deutschen Nationalstaat .
Es gibt wieder Rechte, die davon träumen, die Einfluss-sphären zu erweitern . Genau diesen deutschen Sonder-weg möchte ich für immer ausschließen . Auch deshalbwill ich die Verankerung in der Europäischen Union .
Der fünfte und letzte Grund ist ganz einfach: Es gabnoch nie zwischen zwei Mitgliedsländern der Europäi-schen Union einen Krieg, während vorher die ganzeeuropäische Geschichte durch Kriege zwischen diesenStaaten gekennzeichnet war .Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen zum Schluss:Wenn Sie nicht ernsthaft für eine solidarische, sozialgerechte, demokratische, transparente, unbürokratischeund unmilitärische Europäische Union streiten, wirddie Rechtsentwicklung, die wir in den USA, in Polen,in Ungarn, in Finnland, in Dänemark, in Frankreich undin Deutschland erleben, zunehmen . Wenn wir sie hier inDeutschland wirksam bekämpfen, dann können wir sieauch in Europa bekämpfen .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Groden-Kranich das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrGysi, die Linke zitiert immer dann Bibelverse, wenn esopportun ist .
Wenn wir auf kommunaler Ebene christliche Kitas oderSchulen unterstützen, dann ducken Sie sich ganz schnellweg .
Das dominierende Thema meiner ersten vier Jah-re im Deutschen Bundestag und im EU-Ausschuss wardie Krisenbewältigung . Die erste Sondersitzung meinerMandatszeit thematisierte die dramatische Situation inder Ukraine . Es folgten zahllose Unterrichtungen zurLage in Griechenland . Und unser Kontinent sah sich mitder größten Flüchtlingswelle seit dem Ende des ZweitenWeltkriegs konfrontiert . Als wäre das noch nicht genug,beschäftigen wir uns künftig zusätzlich mit den Fragen,welche der Brexit für uns aufwirft . Auch bei Gesprächenin Brüssel dominierten bislang Krisenbewältigung undSchadensbegrenzung . Europa täte es gut, wenn wir unsdeutlich häufiger mit unseren Erfolgen und der Schönheit unseres gemeinsamen europäischen Projekts beschäfti-gen würden .
Leider wird das Arbeitsprogramm der EU-Kommis-sion für das Jahr 2017 diesem Anspruch nicht wirklichgerecht . Überschrieben ist es mit „Für ein Europa, dasschützt, stärkt und verteidigt“, und genau das sind dieBereiche, in denen Europa zu alter Stärke zurückfinden muss .Anfang dieser Woche wählten die Kolleginnen undKollegen im Europäischen Parlament Antonio Tajani zuihrem neuen Präsidenten . Mit ihm haben sich die Ab-geordneten abermals für einen überzeugten und leiden-schaftlichen Europäer entschieden .
In diesen Tagen von aufziehendem US-amerikanischenProtektionismus und nationalstaatlicher Verklärung sinddiese Charaktereigenschaften in unserer europäischenWertegemeinschaft sehr gefragt . Denn dies ist die Euro-päische Union für mich: eine Wertegemeinschaft .
Man kann es nicht häufig genug betonen: Wir sind mehr als ein Binnenmarkt von über 500 Millionen Men-schen . Uns verbinden das christlich-abendländischeErbe, unsere gemeinsame Vergangenheit und eben auchunsere gemeinsame Zukunft .
Selbst wenn Europa nicht mehr wäre als ein Friedenspro-jekt, würde es sich mehr als lohnen, dafür zu kämpfen .Dr. Gregor Gysi
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70 Jahre Frieden sind eine beispielslose Erfolgsgeschich-te .
Die Europäische Union ist aber – und das ist meinefeste Überzeugung – auch unsere einzige Chance, in ei-ner globalisierten Welt bestehen zu können . Daher ist derGrundsatz der Kommission genau richtig: Europa mussklein sein in den kleinen Dingen, aber groß, wenn es umdie wirklichen Herausforderungen unserer Zeit geht .Als nationaler Gesetzgeber muss auch dieses HoheHaus seiner Verantwortung gerecht werden . Wir müssenSubsidiarität nicht nur einfordern, sondern auch leben .Immer wieder müssen wir kritisch fragen: Was könnenwir national regeln? Was muss Europa regeln? Gemein-sam mit unseren europäischen Partnern müssen wir unsfit machen für die Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft . Die Welt um uns herum ändert sich in ra-sender Geschwindigkeit – und wir sind gut beraten, unsdiesen Änderungen frühzeitig zu stellen .Auch im Jahr 2017 werden wir mit der Bewältigungder europäischen Staatsschuldenkrise zu kämpfen haben .Richtigerweise haben wir uns europaweit darauf verstän-digt, den Teufelskreis zwischen Bankenkrise, Banken-rettung und Staatsschuldenkrise zu durchbrechen . Durchdas sogenannte Bail-in müssen zunächst Eigner undGläubiger einer in Notlage geratenen Bank aktiv werden,um diese zu stabilisieren . Erst in einem weiteren Schrittkommt ein dezidiert von der Bankenwelt finanzierter Ab-wicklungsfonds zum Zuge . Diese Aufteilung ist essenzi-ell wichtig, um alle europäischen Steuerzahler vor Risi-ken in ungeahnter Höhe zu schützen . Doch was passiertaktuell? Die EU-Kommission hat im Rahmen einer Aus-nahmegenehmigung der italienischen Regierung erlaubt,das in Schieflage geratene drittgrößte Finanzinstitut des Landes durch staatliche Hilfen zu stützen – und dies an-gesichts einer Staatsschuldenquote von 130 Prozent derjährlichen Wirtschaftsleistung!Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei solchen Ent-scheidungen der EU-Kommission dürfen wir uns nichtwundern, wenn Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen indie europäische Politik verlieren . Die EU-Kommissionmuss ihre Rolle als Hüterin der Verträge wieder deutlichernster nehmen .
Nichts Geringeres steht auf dem Spiel als unsere Glaub-würdigkeit . Wenn sich die europäischen Gesetzgeber aufRegeln verständigen, dann muss es eine Selbstverständ-lichkeit sein, dass diese auch umgesetzt und Verstößesanktioniert werden .Dies gilt auch für Griechenland . Wir dürfen eben nichttolerieren, dass nationale Alleingänge – wie jüngst in derRentenpolitik des Landes – ohne Folgen bleiben und still-schweigend hingenommen werden . Wer Entscheidungentrifft, muss mit den Konsequenzen leben. Der Hinweis auf die eingeschränkte Souveränität eines Staates greifthier übrigens nicht; denn dieser Staat hat sich mit demBeitritt zum Euro und zur EU auch zu deren Regeln be-kannt . Wer Fremdkapital in nicht unbeträchtlicher Höheaufnimmt, sich der Bonität anderer Staaten bedient undregelmäßig an seine eigenen Verpflichtungen erinnert werden muss, tritt diese Solidarität mit Füßen .Kommt die EU-Kommission mit ihrer geteilten Rolleals politische Kommission und als Hüterin der Verträgenicht zurecht, dann müssen wir die Konsequenzen ziehenund Kompetenzen notfalls neu ordnen .Im Bereich der Bankenunion haben wir mit der Eu-ropäischen Zentralbank und der Europäischen Banken-aufsichtsbehörde starke unabhängige Institutionen, auchwenn wir so manches Anleihekaufprogramm so nichtunterstützen würden .Eine der größten Herausforderungen bleibt aber dieBekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit . Hier muss Eu-ropa stärker werden und mit aller Kraft Zukunft gestal-ten . Wir müssen Europas Jugend den Glauben an daseuropäische Projekt zurückgeben; denn wenn die nach-folgenden Generationen nicht mehr an einen geeintenKontinent glauben, dann sind alle unsere heutigen An-strengungen vergebens .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU-Kommis-sion wählte für ihr Arbeitsprogramm den Titel „Für einEuropa, das schützt, stärkt und verteidigt“; ich habe esbereits erwähnt . Gerade im Bereich des Schutzes und derVerteidigung haben wir in den letzten Monaten viel er-reicht . Der neue europäische Grenz- und Küstenschutzhat seine Arbeit bereits aufgenommen . Er hat mehr Kom-petenzen und ist besser für den Schutz der EU-Außen-grenzen ausgestattet als die bisherige Agentur Frontex .Die EU hat damit gezeigt, dass sie handlungsfähig istund bestehende Probleme aktiv angeht, wenn sie dieseerkannt hat – auch wenn es uns oft nicht schnell genuggehen kann .Was mich bei der Lektüre des Arbeitsprogrammssehr erstaunt und auch enttäuscht hat, war, dass derBrexit lediglich mit einem Satz in der Einleitung kurzerwähnt wurde . Auch wenn der Antrag nach Artikel 50des EU-Vertrags noch nicht eingereicht ist, so müssenwir doch diese historische Zäsur zur Kenntnis nehmen;die Rede von Theresa May haben wir ja alle gehört . Nunmüssen wir uns auch vorbereiten . Wir müssen uns vorAugen führen, dass wir das Vereinigte Königreich zwarnicht als Partner verlieren, wir die Zusammenarbeit aberauf eine völlig neue Grundlage stellen müssen . Und mehrnoch: Wir müssen erkennen, welche massiven Auswir-kungen der Brexit auf die Menschen Europas hat . Wirkönnen und werden unsere Werte und Prinzipien nichtopfern . Aber wir sind es nicht zuletzt unseren Kindernschuldig, weiter für ein geeintes und kooperatives Euro-pa zu werben und zu arbeiten .Europäische Kommission, Rat und Europäisches Par-lament haben sich für das Jahr 2017 viel vorgenommen .Ich bin sehr froh darüber, dass EVP und Liberale eineVereinbarung zur Umsetzung einer Reformagenda be-schlossen haben . Lippenbekenntnisse bringen uns nichtweiter . Europas Bürger wollen Taten sehen . Nur wennalle europäischen Gesetzgeber an einem Strang – und indie gleiche Richtung – ziehen, können wir die aktuellenHerausforderungen bewältigen . Lassen Sie uns unserenTeil dazu beitragen, dieses Arbeitsprogramm zu einer Er-folgsgeschichte zu machen .Ursula Groden-Kranich
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Für uns Mitglieder des Ausschusses für die Angele-genheiten der Europäischen Union ist es inzwischenzur Routine geworden, uns alljährlich und immer wie-der mit dem Arbeitsprogramm zu befassen . Ich werbenachdrücklich dafür, dass auch unsere Kolleginnen undKollegen in den anderen Fachausschüssen diese Chanceergreifen . Die jährliche Programmplanung gibt uns dieGelegenheit, mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig zuerkennen und mit den Instrumenten, die uns auf nationa-ler und auf EU-Ebene zur Verfügung stehen, gegensteu-ern zu können .Lassen Sie uns gemeinsam auch im anstehenden Jahrmit Leidenschaft, Freude und Zuversicht weiter am eu-ropäischen Haus im globalen Dorf bauen . Ich bin sicher:Europa wird es uns danken .
Ich erteile das Wort nun der Kollegin AnnalenaBaerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben direkt nach dem Brexit eine Debat-te hier im Deutschen Bundestag geführt, die mich sehrpositiv gestimmt hat . Da wurde sehr selbstkritisch vonallen Rednerinnen und Rednern gesagt, dass wir an unsarbeiten müssen, dass wir aufhören müssen, mit dem Fin-ger auf andere Länder und andere Menschen zu zeigen,dass wir uns vielmehr fragen müssen: Was tun wir ei-gentlich für Europa? .
Da wurde sehr deutlich gesagt: Wir müssen mit dieserKosten-Nutzen-Debatte aufhören, damit, zu sagen: Derist schuld. – Deswegen bin ich echt richtig getroffen von dem, was heute hier passiert ist .Alle nehmen das Wort „Brexit“ in den Mund, aberdann kommt wieder der alte Reflex. Herr Gysi, bei Ihrer Rede habe ich mich ehrlich gefragt, ob Sie Ihre Kartenverwechselt haben . Ihre „Blaming and shaming“-Argu-mente schienen mir eher aus dem Jahr 2015 zu sein; viel-leicht haben Sie sich damals zuletzt wirklich mit Europabeschäftigt . Das ist die eine Sache .
Die andere Sache ist: Auch von Ihnen, Frau Groden-Kranich, kam wieder der Vorwurf: Diese Griechen! HerrKauder dagegen hatte in der Debatte über den Brexit injedem zweiten Satz genau das Richtige gesagt; ich muss-te aufpassen, dass ich nicht ständig klatsche . Er sagtezum Beispiel:Wenn es nicht gelingt, Europa in den Herzen derMenschen zu verankern, dann wird es in Zukunftsehr schwer für Europa, die gute Geschichte zu er-zählen …Frau Barley, Sie haben in Ihrer Rede das Beispiel voneinem Metzger erwähnt, dem Sie bei einer Wanderungin den Bergen begegnet sind und der Ihnen gesagt hat:Europa macht alles kaputt . Ich habe mich da gefragt: Wa-rum antworten Sie dann nicht: „Oh ja, Sie haben recht .Ich als SPD-Generalsekretärin werde alles dafür tun,dass Deutschland das ändert“? Denn Deutschland ist Eu-ropa; Europa ist nicht nur irgendwo in Brüssel .
Leider hat sich offensichtlich auch der Finanzminis-ter nicht die Worte des Fraktionsvorsitzenden Kauder zuHerzen genommen; denn man könnte doch gerade jetzteine wirklich gute Geschichte erzählen . Man könnte er-zählen, wie wichtig es ist, dass Menschen Freunde haben,Freunde, die einem in der Not helfen und einem, wennman aus der schlimmsten Situation herausgekommen ist,sagen: Ich bin stolz auf dich . Das hast du gut gemacht .In dieser Situation – deswegen, Herr Gysi, kann ichIhren Griechenland-Vergleich wirklich nicht verstehen –befinden wir uns gerade.
Griechenland hat die Reformen so umgesetzt, dass esjetzt zu den Schuldenerleichterungsmaßnahmen kommt,die immer versprochen wurden und die wir alle eingefor-dert haben . Ein Schuldenschnitt wäre besser, ja, aber esgibt doch eine positive Entwicklung .Anstatt dass auch Sie das hochhalten und sagen:„Griechenland hat richtig was getan; daran können wiruns ein Beispiel nehmen“,
wird auch vonseiten der Union jetzt wieder gesagt: Oh,die Griechen müssen jetzt aber ihre Aufgaben erfüllen .Warum sagen wir nicht: „Solidarität zahlt sichaus . Solidarität in Europa zahlt sich aus – fürdie Griechen, für Deutschland, für Europa“?Wir könnten damit gleichzeitig der Partei, dieleider aufgrund der Euro-Krise großgewordenist, den Spiegel vorhalten;
denn Europa ist nicht den Bach runtergegangen, weil wirden Griechen geholfen haben . Nein!Diese Geschichte könnte Herr Schäuble erzählen undsagen: Hier ist mein Interview: Solidarität zahlt sich aus .In Zahlen: Für Deutschland zahlt sich die Solidarität mit722 Millionen Euro aus . – Das ist nämlich das Geld, dasSie in den Bundeshaushalt aufgrund der EZB-Ankäufeund der guten Zinspolitik eingestellt haben . Dieses Geldist nach Deutschland zurückgekommen und steht seit2015 und 2016 im Haushalt . Aber das verschweigen Sieeinfach .Warum sorgen Sie nicht für die Schlagzeile in derBild-Zeitung: „Das haben wir Deutschen aus der Grie-Ursula Groden-Kranich
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chenland-Solidarität für uns bekommen“? Stattdessenliest man in der Welt ein Interview von Herrn Schäuble,in dem er wieder sagt: Oh, wir müssen aufpassen; dieVerpflichtungen müssen eingehalten werden, sonst droht auf Dauer die Dekonstruktion des Euro . – Ist das Ihrepositive Geschichte von Europa, die Sie erzählen wollen,sehr verehrte Damen und Herren?
Es gibt viele Bereiche, über die wir positive Geschich-ten erzählen können, auch im Arbeitsprogramm der Eu-ropäischen Kommission . Ich habe jetzt nicht mehr so vielZeit und möchte deswegen nur zwei Stichpunkte nennen .Wir sehen doch in Frankreich an Macron, dass es Powergibt, wenn man positiv in die Zukunft schaut .
Ich teile nicht alles, was er fordert . Aber wenn die USAjetzt von der großen Bühne verschwinden, auch beider Klimapolitik zum Beispiel, warum sagt dann alleinChina: „Wir treten für die ökologische Transformationein“? Das müsste im Arbeitsprogramm der EuropäischenKommission stehen .Als Letztes: Sie reden immer vom Friedensprojekt Eu-ropa . Herr Gysi, wenn Ihnen wirklich das Friedenspro-jekt Europa am Herzen liegt, dann sollten Sie nicht selberein Säbelrasseln inszenieren, sondern sagen: Wir habendie einmalige Chance, in Europa in diesem Jahr das Frie-densprojekt wieder zum Leben zu erwecken, nämlich inZypern .Denn das Wertvollste, was Europa geschaffen hat, ist der Frieden . Daran sollten wir auch für Zypern arbeiten .Wir haben hier eine einmalige Chance .Herzlichen Dank .
Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasWichtigste ist, dass wir heute das Arbeitsprogramm derEU-Kommission hier im Deutschen Bundestag disku-tieren; denn damit zeigen wir: Wir sind ein Teil diesesEuropa . Europa ist nicht irgendetwas Fernes in Brüssel,sondern es gehört zu uns . Wir wollen dies gemeinsam mitder Kommission, mit dem Europäischen Parlament undmit dem Rat als Deutsche zum Erfolg bringen .
Zu meinen Vorrednerinnen und Vorrednern nur zweiBemerkungen . Frau Groden-Kranich, Sie haben den neu-en Präsidenten des Europäischen Parlaments, den frühe-ren Pressesprecher von Silvio Berlusconi, gelobt . DerMaßstab ist Martin Schulz . Wir werden genau schauen,was in den nächsten Jahren passiert, ob das EuropäischeParlament eine Stimme, ein Gesicht und eine Macht auchnach außen hat, um gemeinsame Interessen zu vertreten,damit Europa auch zur Geltung kommt, oder ob der neuePräsident nur ein Zeremonienmeister wird .
Herr Kollege Gysi, Sie haben eine Reihe von Dingenangesprochen, deren Melodie in etwa so klang: Die EUist unsolidarisch, die EU ist dieses oder ist jenes . – Wirkönnen über all das diskutieren . Aber wie Sie es intonierthaben, war falsch . Die EU, das sind wir . Die EU, das sindeben nicht nur die 28 Mitgliedstaaten, das sind auch dieFraktionen im Europäischen Parlament, das sind auch wirhier im Bundestag . Wir werden in diesem Jahr eine ande-re Diskussion führen müssen . Wir dürfen bei nationalenProblemen, die zu lösen wir nicht in der Lage sind – wirkönnten hier sehr, sehr lange über die Türkei reden –,nicht mehr sagen: „Oh, die EU-Kommission ist schuld“oder: „Macht ihr mal dort“, weil wir uns selbst unsererVerantwortung nicht stellen . Die Bürgerinnen und Bür-ger akzeptieren Europa dann nicht . Sie stehen nicht zudiesem gemeinsamen Europa, wenn wir hier so tun: Un-ser Land macht alles richtig, und wenn etwas schiefgeht,ist Brüssel schuld . – Das führt zu Europaverdrossenheit .Es sollte Anspruch jeder Partei, jeder Fraktion, egal obRegierung oder Opposition, in diesem Parlament sein,das eben nicht zu machen . Wir dürfen die Verantwortung,die wir gemeinsam wahrnehmen müssen, nicht irgendwoanders hinschieben .
Es geht heute nur noch zum Teil um die Frage: Ha-ben wir mehr eine christdemokratische oder mehr einelinksorientierte, eine grüne, liberale oder – das wäream besten – sozialdemokratische Politik? Darum gehtes auch . Es geht aber heute in Europa vor allem um dieExistenz . Wir müssen uns, wenn es um die Existenz geht,unserer Verantwortung bewusst werden . Tucholsky hatvor über 80 Jahren geschrieben:Da liegt Europa . Wie sieht es aus?Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus . . . .Die Neuzeit tanzt als Mittelalter .Die Nation ist das achte Sakrament –!Gott segne diesen Kontinent .Wir wissen, was in den 30er-Jahren passiert ist . Wirsind heute in einer Situation, in der Nationalismus nichtmehr nur irgendeine Meinung ist, ein Irrtum, der auf ei-nen Irrweg führt, aber der in einem Irrsinn endet . Viel-mehr geht es um die Existenz dessen, was wir alle unsin unterschiedlichen Parteien und Fraktionen gemeinsamversprochen haben, nämlich dass das wichtigste nationa-le Interesse die europäische Einheit ist . Wir sind heuteAnnalena Baerbock
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in der Gefahr, statt in Vielfalt geeint in Einfalt geteilt zuwerden .Deshalb wird es wichtig sein, was wir dagegenhaltenund wie wir es dagegenhalten . Es gibt keinen Grund, sichfür irgendeine Entscheidung in Europa zu entschuldigen,die demokratisch legitimiert durch das Parlament undden Rat und vorbereitet von der Kommission war undam besten noch verfassungsrechtlich in 28 Mitgliedstaa-ten abgesegnet war . Es gibt viele Gründe für Kritik . Mankann Frau Mogherini kritisieren; dies aber eher weniger .Man kann auch den Kollegen Oettinger kritisieren; ichlobe ihn manchmal . Aber es muss immer deutlich wer-den, dass es um Politik geht, dass es nicht um die Ge-meinschaftsidee, dass es nicht um Institutionen geht .Heute erleben wir einen Versuch von rechts, Europazu zerstören . Es heißt: Wenn jeder an sich selbst denkt,ist an alle gedacht . – Der Internationale der Nationalis-ten, die sich am Wochenende leider hier in Deutschlandzusammenfinden wollen, müssen wir etwas Starkes ent-gegensetzen . Zum Beispiel haben alle Christdemokraten,alle Grünen, alle Linken und Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten sowieso in diesem Parlament gesagt:Wir sind gegen den Brexit . Wir sind gegen Nationalis-mus und Fremdenfeindlichkeit . – Das muss auch in die-ser Woche deutlich in Richtung dieser Konferenz gesagtwerden . Es geht nicht mehr in erster Linie um Parteipo-litik, sondern es geht um unsere gemeinsame Existenz inEuropa; denn sie steht auf dem Spiel . Dieser Anforde-rung müssen wir auch gemeinsam gerecht werden, liebeKolleginnen und Kollegen .
Nationalismus ist nicht einfach nur irgendetwasSchlimmes, das passieren kann . Nationalismus ist derTriebsatz, den wir jeden Tag erleben . Er wird von Frem-denfeindlichkeit gespeist, trägt den Hass in die Herzenund zerstört die christlich, islamisch, jüdisch, kulturellgeprägte Nächstenliebe .Dem müssen wir uns entgegenstellen . Wir müssen esauch in einer anderen Weise machen . Es ist nicht irgend-eine andere Haltung . Das hat Herr Höcke gezeigt . Hiergeht es um ein Verbrechen . Am Ende des Nationalismussteht nicht irgendeine Politik in Europa, sondern Krieg .Diese Dimension müssen wir deutlich machen .Wir werden den Frieden nur erhalten, wenn wir es beiuns tun und wenn wir gemeinsam für das stehen, wasunsere Verfassung uns auch aufgegeben hat . Wir wollenals Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europadem Frieden der Welt dienen . So soll es sein .
Wolfgang Strengmann-Kuhn hat nun das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat steht in diesem Jahr für die Europäische Unionviel auf dem Spiel. Wir befinden uns jetzt seit gut acht Jahren in der stärksten Wirtschafts- und Finanzkrise seitden 20er-/30er-Jahren . Es gibt leider auch starke Paral-lelen .Es gab vor dieser Krise starke Parallelen: einen An-stieg der Schulden – übrigens nicht nur der Staatsschul-den; deswegen befinden wir uns auch nicht in einer Staatsschuldenkrise, es ist eine Finanzkrise – und einenparallelen Anstieg der Vermögensungleichheit und derUngleichheit insgesamt . Ende der 20er-Jahre kam esdann zur Finanzkrise . Ähnlich war es im Jahr 2008, aus-gelöst durch Lehman Brothers .Auch danach bestehen leider politisch Parallelen . Sei-nerzeit gab es einen starken Rechtsruck in Europa . Jetztist leider in vielen Ländern wieder ein starker Rechtsruckzu beobachten, mittlerweile auch in Deutschland – nochnicht so bedrohlich wie in den 30er-Jahren, aber trotzdemzumindest besorgniserregend .Es gab damals in den USA eine Ausnahme von die-ser Entwicklung . Durch den New Deal von Präsident Roosevelt ist es dort gelungen, diesen Rechtsruck zuvermeiden . Einen solchen New Deal, am besten einengrünen New Deal, bräuchten wir jetzt auch in der Euro-päischen Union .
Es gab damals ein massives Investitionsprogrammmit öffentlichen Investitionen. Das brauchen wir jetzt auch in der Europäischen Union . Wir brauchen eine Ab-kehr von der Austeritätspolitik . Wir brauchen Investiti-onen da, wo sie notwendig sind – in den Krisenländern,aber auch bei grenzüberschreitenden Dingen wie zumBeispiel Energie netzen . Es darf nicht nur darum gehen:„Was habe ich eingezahlt, und was bekomme ich wiederzurück?“, sondern wir müssen die Investitionen dahinleiten, wo sie wirklich gebraucht werden .
Bei der Finanzmarktregulierung – das war die zweiteSäule – ist auch noch viel zu tun . Es gab vor acht Jahrendas Versprechen: „Too big to fail“ muss vermieden wer-den . – In Italien müssen jetzt schon wieder Banken ge-rettet werden . Und was ist eigentlich, wenn die DeutscheBank ins Wanken gerät? Auch bei der Finanzmarktregu-lierung ist noch viel zu tun .
Die dritte Säule, die damals eine große Rolle gespielthat, ist mir besonders wichtig, nämlich die Sozialsäuledes New Deals . Damals erfolgten in den USA ein Aufbauvon sozialen Sicherungssystemen und gleichzeitig einePolitik der Umverteilung .Dazu findet sich jetzt im Arbeitsprogramm der Euro-päischen Kommission ein wichtiger Punkt . Man mussihn ein bisschen suchen, weil er unter der ÜberschriftAxel Schäfer
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„Eine vertiefte und fairere Wirtschafts- und Währungs-union“ steht . Dabei handelt es sich um den Aufbau einereuropäischen Säule sozialer Rechte . Das ist vorhin schonangesprochen worden . Ich glaube, es ist ein ganz zentra-ler Punkt, dass wir in der Europäischen Union dafür sor-gen, dass die Menschen soziale Rechte bekommen, zumBeispiel gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichenArbeitsort, Zugang zu Bildung, Zugang zum Gesund-heitssystem, eine angemessene Rente und eine Grundsi-cherung in allen europäischen Ländern .
Diese Punkte sind unbedingt notwendig . Sie müssenjetzt auf die Agenda . Hier muss die Bundesregierung dieEuropäische Kommission unterstützen .
Noch ein Hinweis an die Linke: Die Europäische Uni-on ist nicht das Problem, sondern die Europäische Unionist die Lösung der Probleme, die wir haben .
Gerade bei der sozialen Seite ist es die EuropäischeUnion gewesen, die seit Beginn dieses Jahrhunderts, wasdie Armutsbekämpfung angeht, aber auch in anderensozialen Fragen treibende Kraft war und die Mitglied-staaten vor sich hergetrieben hat . Es sind im Wesentli-chen die Mitgliedstaaten, die gebremst haben, nicht dieEuropäische Union – bei der Sozialpolitik . Bei der Kri-senpolitik stimme ich Ihnen zu . Da gab es eine sozialeSchieflage, die beendet werden muss. Aber wenn es um Armutsbekämpfung und ähnliche Fragen ging, etwa umden Aufbau einer sozialen Säule, dann ist die Europäi-sche Union führend gewesen . Die Länder dürfen nichtmehr bremsen . Auch die Bundesregierung, die in denletzten Jahren viel gebremst hat, muss da endlich mit-gehen und die soziale Säule in der Europäischen Unionweiter mit aufbauen .
Es darf nicht dabei bleiben, nur die sozialen Rechtein den Mitgliedstaaten zu stärken, sondern wir müssenauch dahin kommen, übergreifende soziale Sicherungs-systeme zu schaffen, damit es Umverteilung gibt: nicht von den reichen Ländern zu den armen Ländern, sondernvon den reichen Menschen zu den armen Menschen, vonden Reichen zu den Armen .
Wir brauchen eine Diskussion über eine europäischeBasisarbeitslosenversicherung und über andere Maßnah-men, die dazu beitragen, dass wir auch in der Europäi-schen Union mehr Umverteilung und mehr soziale Si-cherung hinbekommen . Wir brauchen einen Green NewDeal in Europa .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Uwe Feiler hat nun das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Tribünen, insbe-sondere aus Oberhavel, Havelland, Potsdam-Mittelmarkund Potsdam! Ich freue mich, dass Sie an der heutigenEuropadebatte hier teilnehmen .
– Alle anderen natürlich auch .Meine Damen und Herren, eine Kommission, die sichauf die wichtigen Dinge konzentriert, eine Kommission,die sich darauf konzentriert, die Dinge besser zu machen,das sind die zwei Leitprinzipien, unter die die Europäi-sche Kommission ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 2017stellt . Sie benennt dabei Prioritäten ihrer künftigen Arbeitund listet parallel auf, welche Rechtsvorschriften einerEvaluierung und Überprüfung unterzogen werden soll-ten . Die Kommission bekräftigt im Arbeitsprogrammihren Standpunkt, dass die Schwerpunktlegung beim Eu-ropäischen Semester auf drei Feldern liegen muss: Inves-titionen, gesunde Staatsfinanzen und Strukturreformen. Das kann ich nur unterstreichen . Wir brauchen einezukunftsorientierte, weitsichtige Politik .
Strukturreformen bringen mehr Wettbewerbsfähigkeit .Gesunde Staatsfinanzen sind eine unabdingbare Voraus-setzung für Wachstum und Stabilität; sie sorgen dafür,dass unsere Kinder nicht unsere Schulden bezahlen müs-sen . Investitionen bringen dabei den Fortschritt und si-chern den Wohlstand .Die Kommission will ihren Vorschlag zur Überprü-fung des mehrjährigen Finanzrahmens mit dem Europä-ischen Parlament und dem Rat erörtern . Sie strebt einenüberarbeiteten, stärker an den Prioritäten der Union aus-gerichteten Haushalt an, mit dem wir rascher auf unvor-hergesehene Umstände reagieren können, der einfachereRegeln für Finanzhilfeempfänger bereithält und stärkerergebnisorientiert funktioniert . Die Europäische Unionmuss – das ist mir wichtig – besser auf Veränderungenmit einer finanziell unterfütterten Politik reagieren kön-nen .
Wir benötigen eine europäische Politik, die ein Ge-samtkonzept darstellt . Der Haushalt muss eng mit denPrioritäten der europäischen Politik verbunden sein . Wirmüssen diese Prioritäten benennen und dann auch nach-Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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haltig umsetzen . Deswegen ist der Ansatz der Kommissi-on, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dabeidie Umsetzung sowie die Wirkung der beschlossenenMaßnahmen zu überprüfen, sehr wichtig . Dabei mussder Fokus – das sage ich hier im Plenum nicht zum erstenMal – auf Politikfelder gerichtet werden, die die gesamt-europäischen Interessen vertreten .Meine Damen und Herren, eine Diskussion über fal-sche und richtige Prioritäten im EU-Haushalt ist für michunabdingbar . Notwendig ist dabei, dass man die Ergeb-nisse endlich in die Tat umsetzt . Die Lösung des Pro-blems ist nach wie vor, den Schwerpunkt auf Ausgabenmit einem europäischen Mehrwert zu legen . GemeinsameGrenzsicherung, Bekämpfung des globalen Terrorismus,Informationsaustausch, grenzüberschreitende Transport-infrastruktur, Energie- und digitale Netze, europäischeForschung und Entwicklung – da muss das Geld hin . Da-von profitieren dann alle Mitgliedstaaten.
Auch wenn die rechtzeitige Entwicklung der Wert-schätzung für gesunde Ernährung ganz sicher wichtigist, ist es zweifelhaft, ob die millionenschweren Obst-in-die-Schule-Programme aus EU-Geldern finanziert werden müssen oder ob die Mitgliedstaaten hier nichteigenständig tätig werden sollten . Ein weiteres Problemsind beispielsweise verfehlte Infrastrukturprojekte: vomFahrradweg ins Niemandsland bis hin zur sinnlos ver-laufenden Autobahn . Es werden EU-Gelder zum Teil ge-setzeswidrig ausgezahlt und aufgrund des hohen Verwal-tungsaufwandes dann nicht zurückgefordert .Stichwort „Better Spending“, Beachtung des Subsi-diaritätsprinzips sowie laufende Kontrolle der Effizienz und der Wirksamkeit der EU-Mittel bis hin zum Finan-zierungsstopp für ihre Wirkung verfehlende Projekte –das sind die entscheidenden Grundsätze, die bei der eu-ropäischen Ausgabenpolitik beachtet werden müssen .
– Nein, danke . – Das Subsidiaritätsprinzip muss stärkerauf die EU-Ausgaben angewandt werden, um dadurchauch den europäischen Mehrwert der EU-Ausgaben zuerreichen .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein . Lassen Sie mich erst einmal fertig werden . –Auch die Effizienz und die Wirksamkeit der EU-Mittel sollten – am besten laufend – überprüft werden . Ein Fi-nanzierungsstopp für die ihre Wirkung verfehlenden Pro-jekte könnte dann die letzte Konsequenz sein .Die Kommission will einen umfassenden Vorschlagfür die Zeit nach 2020 in Bezug auf die Eigenmittel vor-legen . Sehr positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass dieKommission diesen Vorschlag mit den Ergebnissen derInitiative für einen ergebnisorientierten EU-Haushaltverbinden möchte . Die im Jahr 2015 gestartete EU-Ini-tiative, die dafür sorgen soll, dass die EU-Mittel sinnvollzum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger eingesetzt wer-den und dass alle Projekte, die die Union fördert, einenklar erkennbaren Nutzen haben und ihr Geld wert sind,ist ein nützliches Instrument .Der Eigenmittelvorschlag soll laut dem Arbeitspro-gramm auch mit der Abwägung der künftigen Heraus-forderungen und Bedürfnisse der Union nach 2020 imLichte der Erfahrungen mit der bisherigen Ausgabenpo-litik und ihren Instrumenten verbunden werden . Das istein sehr vernünftiger Vorschlag .Wir sollten die Quellen der Haushaltsfinanzierung reformieren; keine Frage . Hier wird der Bericht der so-genannten Monti-Gruppe eine gute Grundlage für dieanstehenden Verhandlungen bieten . Ich würde aber nocheinen Schritt weitergehen und sagen: Die Diskussionüber Einnahmen muss nicht nur im Lichte der Erfah-rungen mit der bisherigen Ausgabenpolitik verbunden,sondern auch zwingend grundsätzlich zusammen mit derDiskussion über Ausgaben geführt werden .
Was wir brauchen, ist zum Beispiel eine haushaltspo-litische Gesamtstrategie für den Umgang mit Krisen, da-mit wir nicht immer neue Ad-hoc-Instrumente benötigen .Ein Ausdruck der Gesamtstrategie wäre ebenfalls,wenn die EU-Mittel so weit wie möglich mit der Um-setzung der länderspezifischen Empfehlungen verbunden wären. Die länderspezifischen Empfehlungen sollten meiner Ansicht nach ausschlaggebend für die Auswahlder aus den Kohäsionsmitteln finanzierten Projekte sein.
Projekte, die für den konkreten Mitgliedstaat Sinnmachen, die ihn voranbringen, die seine Strukturrefor-men umsetzen, verdienen die europäische Unterstützungund stellen einen sogenannten Marshallplan, wie er vonHerrn Gysi gefordert wurde, dar . Es gibt ihn eigentlichschon .
Die Kommission will den Binnenmarkt vertiefen undgerechter gestalten . Dazu sollen die Binnenmarktstrate-gie, die Weltraumstrategie für Europa sowie der Aktions-plan für eine Kapitalmarktstrategie umgesetzt werden .Auch auf die Vorschläge für eine faire Unternehmens-besteuerung und für die Bekämpfung des Steuerbetrugesgeht die Kommission ein, was ich für essenziell halte . DieKommission betont, dass ein solider steuerrechtlicherRahmen für grenzüberschreitend tätige Unternehmeneinfach und effizient sein muss, aber auch gewährleisten soll, dass diese Unternehmen einen fairen, tatsächlichenSteuerbeitrag dort zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirt-schaften .
Uwe Feiler
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Erlauben Sie mir zum Schluss ein kurzes Plädoyer .Das Motto des diesjährigen Programmes der Europäi-schen Kommission lautet: „Für ein Europa, das schützt,stärkt und verteidigt“ . Auch wenn das Motto sicherlichim Hinblick auf die neuen Herausforderungen gewähltwurde, die auf die Massenmigration und auf die Gefähr-dung durch den internationalen Terrorismus zurückzu-führen sind, möchte ich eines anmerken: Sich derart gro-ßen Herausforderungen im Alleingang stellen zu wollen,wozu die Populisten europaweit aufrufen, ist irrsinnig .
Der Europäischen Union, dem Zusammenschluss von28, leider wohl bald nur noch 27 Staaten, dem gemein-samen Dialog, der Zusammenarbeit in politischer und inwirtschaftlicher Hinsicht haben wir es zu verdanken, dasswir das große Glück haben, seit Jahrzehnten in Friedenzu leben sowie unseren Wohlstand sichern und ausbauenzu können . Diese Aussage mag zwar banal klingen, kannjedoch meiner Ansicht nach aktuell nicht oft genug wie-derholt werden .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Europa macht sich im Momentder Krise unter dem Eindruck des wachsenden Nationa-lismus in den Mitgliedstaaten und des weltweiten Popu-lismus kleiner, als es tatsächlich ist, wie ich finde. Wir nutzen die Potenziale, die in diesem demokratischen Ge-meinwesen Europa stecken, nicht hinreichend aus . WirProeuropäer machen nicht hinreichend deutlich, wofürwir stehen: für Menschenrechte, für Rechtsstaat und fürDemokratie .Wir müssen keine Angst vor den Populisten dieserWelt haben . Wir sollten uns mal die wirtschaftlichen Er-gebnisse in Russland oder in der Türkei anschauen . Die-se Volkswirtschaften sind hochgradig gefährdet . Über dieEuro-Zone haben wir gerade in dieser und in der letztenWoche gehört, dass wir die wirtschaftliche Stabilisierungerreicht haben, im Übrigen mit der europäischen Hilfefür Griechenland .
Herr Gysi, Sie als Meister der Halbwahrheiten könnennatürlich nicht zu richtigen Schlussfolgerungen kom-men, wenn Sie eine falsche ökonomische Analyse vor-nehmen . Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten wirGriechenland überhaupt nicht geholfen .
Wir haben Griechenland aber massiv geholfen . Wirwerden Griechenland auch weiter helfen, weil wir daseuropäische Projekt zusammenhalten wollen . Sie alsLinkspartei haben keine vernünftigen Antworten auf dieeuropäische Situation .
Sie verstricken sich ebenso in Widersprüche wie dieRechtspopulisten mit ihrem unverantwortlichen Redenund Handeln, meine Damen und Herren . Sie sind in die-ser Hinsicht nicht wesentlich besser .
Schauen Sie sich einmal einige Reden Ihrer Fraktions-kollegin Wagenknecht an, und analysieren Sie diese .Also, was tun? Es sind doch nicht die EuropäischeKommission und die Europäische Union, die das Handelngegen Steuerdumping in Europa verhindern . Es sind dieMitgliedstaaten – die Niederlande an erster Stelle, Belgi-en, Luxemburg, Malta, Irland –, die ein wirksameres underfolgreicheres Handeln der Europäischen Union gegenSteuerdumping verhindern . Es sind Orban, Kaczynskiund Co ., die verhindern, dass wir in der Flüchtlingsfrageerfolgreicher zusammenarbeiten . Das ist die Wahrheit,meine Damen und Herren .
Wir müssen hier in diesem Parlament schon aussprechen,was ist, und dürfen nicht unsere ideologischen Versatz-stücke vortragen .
Die Bürgerinnen und Bürger verlangen ein Ende desSteuerdumpings der multinationalen Konzerne . Dasverlangen sie von uns . Wenn wir nicht liefern, tauchensolche Figuren wie Trump auf, der heute amerikanischerPräsident wird .
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten dann von ihm, dasser handelt: von einem Mann – das muss man über denzukünftigen amerikanischen Präsidenten sagen –, der einbekennender Spezialist im Umgehen der Steuerpflicht ist und der mit seiner Praxis in den letzten Jahrzehnten be-wiesen hat, dass er nichts vom Gemeinwesen versteht,sondern nur etwas von der Ausbeutung von Menschen,um es einmal deutlich zu sagen . Das ist die Realität, mitder wir uns jetzt natürlich auseinandersetzen müssen . Essind die weißen Arbeiter, die ihn gewählt haben und eineVeränderung ihrer Lebenssituation erwarten .
Uwe Feiler
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– Ich will mit dem Beispiel deutlich machen: Wenn dieweißen Arbeiter in Deutschland oder in anderen euro-päischen Ländern von den Populisten dieser Welt, obRechts- oder Linkspopulisten, realitätstaugliche Antwor-ten zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erwarten,dann werden sie nach aller geschichtlichen Erfahrung an-geschmiert . Davor müssen wir die Menschen bewahren .
Es führt doch auch nicht weiter, dass Frau TheresaMay in ihrer Verlegenheit, eine vernünftige Antwort aufdie Brexit-Entscheidung ihres Landes zu finden, damit droht, vor unseren Toren ein weiteres Steuerparadies ent-stehen zu lassen . Wir haben bereits Jersey, Guernsey undandere vor der Haustür . Damit würden die Handlungs-und Finanzierungsmöglichkeiten, die wir benötigen, ver-ringert, um Investitionen und damit auch Arbeitsplätzefür diejenigen zu schaffen, die sich abgehängt fühlen.Im Übrigen muss natürlich auch Deutschland seinenBeitrag zur notwendigen Stabilisierung der Euro-Zoneund Europas leisten und noch mehr investieren . Wir ha-ben mit dem Investitionsprogramm einen ersten Schrittgemacht . Die Laufzeit dieses Programms wird bis 2020verlängert .Abschließend sage ich: Je unsicherer und gefährlicherdie Welt wird, desto mehr muss die Europäische Unionihr Gewicht auf der internationalen Bühne zur Geltungbringen . Angesichts unserer Wirtschaftskraft und unsererdemokratischen Substanz haben wir allen Grund, liebeKolleginnen und Kollegen, auch gegenüber denjenigenselbstbewusst aufzutreten, die öffentlich vor Kraft kaum laufen können und hinter deren Fassade es sehr hohl ist .Vielen Dank .
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Iris Eberl für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Das Arbeitsprogramm derEU-Kommission trägt den Titel „Für ein Europa, dasschützt, stärkt und verteidigt“ . Die Sicherheit der Bür-ger ist die Existenzberechtigung eines jeden Staates . DieBedrohung durch den islamistischen Terrorismus machtdie Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen zu einemKernanliegen in unserem Staat – in allen Unionsstaaten .Gut, dass sich die Kommission mit diesem Kernproblembefassen wird .Im Arbeitsprogramm ist zu lesen: Europa ist an einemkritischen Punkt angelangt . – Richtig! Das Brexit-Votummuss für uns ein Weckruf sein . Die Europäische Unionist keine Zwangsvereinigung; Ausscheiden ist im Vertragvorgesehen . Wenn unsere Antwort an Großbritannieneiner Abstrafung gleichkommt, beweisen wir, dass derRespekt vor dem Wählerwillen in der Union verloren ge-gangen ist . Das wäre Wasser auf die Mühlen der Miesma-cher der Union . Das darf nicht sein . Wir brauchen einenfairen Deal mit Großbritannien .Die Kommission beschreibt auch Probleme und Be-drohungen der Bürger und erklärt: Wir haben zugehört,und wir haben verstanden . – Sie verspricht, eine Kom-mission zu werden, die sich darauf konzentriert, die Din-ge besser zu machen . Das klingt gut, beweist Selbstkritikund Einsicht . Aber warum, meine Damen und Herren, hatdie Kommission bisher nicht ihr Bestes gegeben, obwohlsie weiß, dass sie für eine halbe Milliarde Menschen dieVerantwortung trägt?Als Premierminister von Luxemburg beschriebJuncker 1999 die Strategie zur Integration wie folgt:Wir beschließen etwas, stellen das dann in denRaum und warten . . . ab, was passiert . Wenn es dannkein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weildie meisten gar nicht begreifen, was da beschlossenwurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt,bis es kein Zurück mehr gibt .Mit dieser undurchsichtigen Methode soll nun Schlusssein . Deshalb will die Kommission – so steht es im Pa-pier – in Zukunft ihr Tun den Bürgern besser erklären .Aber das Problem der europakritischen Bürger ist we-niger die Undurchsichtigkeit des Verfahrens, sondern essind die Inhalte .2017 sind Wahlen in den Niederlanden, in Frankreichund in Deutschland . Größte Vorsicht ist geboten, wenndie Union nicht in ihrem Bestand gefährdet werden soll .Trotzdem konzentriert sich das Arbeitsprogramm derKommission weiterhin auf jene zehn politischen Priori-täten, die Juncker bereits zu Beginn seiner Amtszeit alsKommissionspräsident formuliert hatte . Das bedeutet„weiter so“, befürchte ich .Die Europäische Union existiert aber nicht zum Selbst-zweck . Sie hat eine dienende Funktion gegenüber denMitgliedstaaten . Allen Ländern gleichermaßen gerechtzu werden, ist eine sehr schwierige Aufgabe; denn wasdem einen Staat nützt, kann für den anderen sehr nach-teilig sein . Für Deutschland benenne ich an dieser Stelledas konjunkturelle Ankurbeln Junckers und die Nullzins-politik der EZB als Negativbeispiele . Vielleicht nutzensie anderen Ländern – vielleicht –; Deutschland scha-det beides . Das Ankurbeln überhitzt unsere Konjunktur .Außerdem ist es von gestern. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft verzerren den Wettbewerb; sie sind daher fürMarktwirtschaften schädlich .
Zu viel echte Marktwirtschaft kann man der EU nicht un-bedingt vorwerfen, Frau Dr . Barley .Die Nullzinspolitik hat sich, salopp formuliert, alsSlim-Fast-Programm für die Altersvorsorge unserer Be-völkerung entpuppt und das Vertrauen der Menschenin die Union tief erschüttert . Dieses Vertrauen muss siezurückgewinnen . Aber stattdessen kam letzte Woche dienächste fragwürdige Einmischung in nationales Recht .Joachim Poß
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Hohes Qualitätsniveau, Patientenschutz, Verbraucher-schutz
identifiziert die Kommission als mögliche Wachstums-bremsen . Die Verhältnismäßigkeit von Berufsregeln sollüberprüft werden. Überflüssige nationale Qualifikationen zur Berufsausübung sollen verhindert werden, um Wirt-schaftswachstum ohne Barrieren anzukurbeln . Damitwird die Ökonomie zum einzigen Maßstab für nationalesBerufsrecht und dem Pfusch wohl Tür und Tor geöffnet. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine schlankeund flexible Europäische Union, die sich auf ihre Kern-aufgaben konzentriert, keinen Superstaat, der sich in alleBelange der Mitgliedstaaten einmischt . Subsidiarität undSolidarität müssten eiserne Grundprinzipien werden . So-lidarität darf keine Einbahnstraße sein . Wer sie einfor-dert, muss auch gemeinsame Lasten tragen; siehe Vertei-lung der Flüchtlinge .
Solidarität ist auch keine Hängematte . Bei unsoliderHaushaltspolitik in manchen Unionsstaaten muss ver-langt werden, dass dort die Eigenverantwortung greift .Jeder Staat muss seine nationale Einlagensicherungschaffen. Eine Vergemeinschaftung von Schulden und Risiken lehnt die CSU kategorisch ab . Verantwortungund Haftung dürfen weder bei der Staatsverschuldungnoch im Bankensystem auseinanderfallen . Wir brau-chen ein geordnetes Verfahren zur Restrukturierung derStaatsschulden und eine Regelung zum Ausscheiden ausdem Euro – zur Not, leider . Solidarität verlangt ebenfallsdie Einhaltung geschlossener Verträge, egal ob es umdie Verschuldung, die Regeln des Schengen-Vertragesoder des Dublin-Abkommens geht . Solidarität bedeutetRechtstreue ohne Ausnahme von ohnehin flexiblen Re-geln .Aber was sind nun die markanten Kernaufgaben derUnion? Die Migrationskrise, der islamistische Terroris-mus in Europa, Kriege in Syrien und der Ukraine sowiedie Situation in vielen anderen Krisengebieten verlangengemeinsame Anstrengungen . Die Gewährleistung unse-rer Sicherheit ist eine Kernaufgabe der Union . Hier brau-chen wir die Europäische Union, und hier liegt auch ihrMehrwert für die Bevölkerung . Warum wurde Eurodacnur sporadisch angewandt? Warum wird SIS nicht konse-quent umgesetzt? Beide Systeme sind gut . Beide würdenfunktionieren, aber nur, wenn alle Länder mitmachen .Nun will die Kommission wieder handeln . Sie willETIAS einführen, sie will ECRIS ausweiten, und dieKommission will rasch Verbesserungen und Erfolge er-reichen . Sehr gut! – Weitere Kernaufgaben sind die faireLastenverteilung zwischen den Staaten, der gemeinsameGrenzschutz, die Union als starker europäischer Pfeilerder NATO und vieles mehr, wie Kollege Feiler bereitsausgeführt hat .Ich will mit dem vielbeschworenen Kernthema „Be-kämpfung der Fluchtursachen“ schließen . Wenn sichnichts ändert, werden sich bald 18 Millionen Afrikanerauf den Weg nach Europa machen .
Und viel zu viele werden den Weg wieder nicht überle-ben . Deshalb brauchen wir eine europäisch-afrikanischePartnerschaft . Die Kommission will bis zum EU-Afri-ka-Gipfel Ende 2017 ein Konzept mit Prioritäten für dieBeziehungen der Union zu Afrika erarbeiten . Die In-dustrie sieht Afrika als kommenden Kontinent . MinisterMüller hat seinen Marshallplan für Afrika vorgestellt .Helfen wir den afrikanischen Ländern, echte Handels-partner für Europa zu werden .Europa steht ungebrochen für den Traum eines Lebensin Frieden, Freiheit und Wohlstand . Setzen wir diesenTraum nicht aufs Spiel . Stehen wir zu unserer Europäi-schen Union der Bürger .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Ich schließe die Aussprache .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung und Erweiterung der Beteiligungbewaffneter deutscher Streitkräfte an derMultidimensionalen Integrierten Stabilisie-rungsmission der Vereinten Nationen in Mali
auf Grundlage der Resolutio-
nen 2100 , 2164 (2014), 2227 (2015) und2295 des Sicherheitsrates der VereintenNationen vom 25. April 2013, 25. Juni 2014,29. Juni 2015 und 29. Juni 2016Drucksache 18/10819Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GOFür die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt sollennach einer interfraktionellen Vereinbarung 38 MinutenRedezeit zur Verfügung stehen. – Das ist offenkundig unstreitig . Also können wir so verfahren .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Mit BestürzungIris Eberl
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haben wir am Mittwoch von dem Anschlag auf den Mi-litärstützpunkt der malischen Gefechtsverbände erfah-ren . Wir trauern mit den Hinterbliebenen der mindestens70 Toten, und wir wünschen den über 100 Verwundetenbaldige Genesung .Meine Damen und Herren, dieser niederträchtige An-schlag richtete sich gezielt gegen eines der Herzstückedes Friedensvertrages, der in Mali umgesetzt werdensoll . Diejenigen, die vor kurzem mit auf der Einsatzreiseauch in Mali gewesen sind, wissen, dass es sehr schwie-rig war, die Zusammensetzung gemischter Patrouillenauf den Weg zu bringen, denen sowohl Kräfte der mali-schen Regierung als auch Kräfte der Rebellen angehören,die bereit waren, die Waffen niederzulegen. Es ist sehr schwierig gewesen, beide Seiten davon zu überzeugen .Sie haben das jetzt geschafft und sind bald gemeinsam auf Patrouillen unterwegs . Insofern zeigt dieser Anschlagauf das Lager einer dieser gemischten Patrouillen, dasses nach wie vor Terroristen gibt, die gezielt den Frie-densvertrag torpedieren und damit Mali in die Instabilitätbringen wollen . Umso wichtiger ist es, dass die Weltge-meinschaft an der Seite Malis steht und dort konsequenthilft .
Wir bitten Sie heute um Unterstützung für einen deranspruchsvollsten Einsätze, den die Bundeswehr hat .Es ist einer der gefährlichsten VN-Einsätze, wenn nichtder gefährlichste überhaupt . Es ist der zentrale Einsatzauf unserem Nachbarkontinent Afrika . Denn Mali ist einSchlüsselland in der Sahelzone, ein Schlüsselland, dasStabilität herstellen kann oder Fragilität hervorbringt .Dort verläuft die Route für Migration, aber auch dieRoute für Schleuser und Schlepper, die Menschen vomSüden in den Norden bringen, sowie für Drogen- undWaffenschmuggel und andere Formen der organisierten Kriminalität .Die Menschen dort brauchen Schutz – sie brauchenSchutz vor Terror, sie brauchen Schutz vor Krimina-lität –, aber sie brauchen natürlich auch Alternativen .Sie brauchen sicheren Zugang zu Wasser, sie brauchenStraßen, Jobs, sie brauchen Perspektiven . Das Durch-schnittsalter in Mali beträgt 16 Jahre, und diese jungenMenschen möchten wissen, wo ihre Zukunft liegt .Es ist deshalb richtig, dass sich Deutschland dort sehrvielschichtig engagiert . Mir ist es im Zusammenhang mitdem MINUSMA-Mandat wichtig, deutlich zu machen,dass unser Engagement in Mali eigentlich ein Paradebei-spiel für den vernetzten Ansatz ist . Ganz konkret: DasAuswärtige Amt kümmert sich mit Rat und Tat um denFriedensprozess, um die Beratung der malischen Regie-rung, ist um Aussöhnung bemüht . Wir engagieren unsin Mali entwicklungspolitisch . Ich bin dem BMZ sehrdankbar, dass es dort vielfältig engagiert ist – beim Auf-bau von Verwaltungsstrukturen, bei landwirtschaftlichenProjekten, beim Errichten der Wasserversorgung . DieProjekte sind eng koordiniert . Wir haben dankenswerter-weise seit Dezember einen zivilen Berater in Gao .Wir engagieren uns in Mali vielfältig, nicht nur imHinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung und denVersöhnungsprozess, sondern auch im Hinblick auf Sta-bilität . Das Innenministerium hilft bei der Ausbildungder Polizei . Wie Sie wissen, engagiert sich die Bundes-wehr im Rahmen der europäischen Trainingsmission beider Ausbildung der lokalen Truppen . Zwei Drittel dermalischen Gefechtsverbände haben wir ausgebildet .Mali profitiert auch von Mitteln aus dem Ertüchti-gungsfonds – im letzten Jahr waren es 7,5 MillionenEuro, in diesem Jahr sind 15 Millionen Euro geplant . Umnur einige Themen zu nennen: Es geht hierbei um dieErtüchtigung des Flugplatzes in Gao, die so wichtig ist –wir haben es bei der letzten Einsatzreise dort gesehen –,und um Investitionen in den Garnisonsstandort Kati . Esgeht aber eben auch um 16 Ambulanzfahrzeuge für diemalischen Gefechtsverbände, die wir ausgebildet haben,damit auch dort mit dem Aufbau einer Rettungskette be-gonnen werden kann .Wir beteiligen uns auch an der Mission der VereintenNationen, MINUSMA, um die es heute geht . Man siehtbei dieser Friedensmission, bei der über 15 000 Solda-tinnen und Soldaten im Einsatz sind – es ist eine großeMission –: Sie steht und fällt mit der Frage, wie dieseSoldatinnen und Soldaten ausgestattet und ausgerüstetsind und mit technischen Fähigkeiten unterstützt wer-den . Die Vereinten Nationen können nur so gut sein, wiedie Mitgliedstaaten sie ausrüsten . Deshalb ist es wichtig,dass wir mit unseren Kapazitäten dort in Mali sind .Das gilt besonders für die Aufklärung . Wir haben, wieSie wissen, mit der Luna angefangen; wir sind jetzt mitder Heron da . Die Heron bedeutet einen Riesenschrittvorwärts, wenn es darum geht, die Aufklärung in diesemgewaltig großen nördlichen Gebiet – die benötigte Reich-weite liegt zwischen 200 und 900 Kilometern – sicherzu-stellen . Ich möchte an dieser Stelle sagen: Seit die Heronda ist – seit November –, hat sie über 520 Flugstundenabsolviert, und es gab keine einzige Störung . Es läuft al-les, wie es sollte . Ich glaube, gerade weil es so gut läuft,wird darüber nicht berichtet . Es wird meistens nur dannüber etwas berichtet, wenn die Dinge schiefgehen . Ichmöchte an dieser Stelle schlicht und einfach denjenigen,die diese Heron in Gang gesetzt haben und betreiben, da-für danken, dass das alles dort so unkompliziert läuft .
Das war der Teil des Mandates, den wir kennen undfür den wir um Verlängerung bitten . Der zweite Teil desMandates betrifft den Schutz.Sie alle wissen, dass die Niederländer in den letztendrei Jahren die Rettungskette gestellt haben . Sie hattenfür zwei Jahre geplant, fanden aber niemanden, der sieablöst, sodass sie inzwischen schon drei Jahre dort sind .Die Vereinten Nationen suchen nun eine Nation, die inder Lage ist, diese Hochwertfähigkeiten zur Verfügungzu stellen, nämlich MedEvacs und Kampfhubschrauber,die schützen können . Wir haben auf Bitten der VereintenNationen gesagt, dass wir diese Aufgabe gerne überneh-men wollen, weil sie für das Mandat unverzichtbar ist –aber auch nur vorübergehend . Das heißt, wir werden dortvier MedEvac-NH90-Hubschrauber stationieren und vierTiger nach Mali entsenden . Die Tiger können wegenBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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der guten Sensoren zur Aufklärung, aber eben auch zumSchutz der eigenen Kräfte und der MINUSMA sowie zurNothilfe eingesetzt werden .Wir wollen unseren Beitrag leisten; denn die Er-fahrung zeigt: Wir können uns nicht beschweren, dassVN-Missionen nicht funktionieren, wenn wir nicht be-reit sind, auch unseren Beitrag zu leisten . Deshalb er-folgt auch eine Erhöhung der Obergrenze von 650 auf1 000 Soldatinnen und Soldaten . Das ist aufgrund desEinsatzes der acht Hubschrauber notwendig .Wir haben dem VN-Generalsekretär aber angezeigt,dass wir darum bitten, dass er bereits jetzt für Nachfol-gekräfte sorgt, da wir in eineinhalb Jahren abgelöst wer-den wollen . Wir halten es für richtig, dass wir bei diesenHochwertfähigkeiten, die nur wenige Nationen aufbietenkönnen, zu einem geregelten Rotationssystem kommen,sodass es für die einzelnen Nationen leichter ist, für einenüberschaubaren Zeitraum dort hinzugehen, da sie wissen,dass eine andere Nation, die ebenfalls in der Lage ist, daszu leisten, sie danach ablöst .Es gibt einen weiteren Punkt, der mir bei diesem Man-dat wichtig ist und den ich noch kurz erwähnen möchte .Es geht um die Vergütung des Personals . Unser Personalarbeitet in diesem schwierigen und fordernden Einsatzunermüdlich . Das bedarf meines Erachtens einer beson-deren Würdigung . Deshalb ist es mir ein besonderes An-liegen, dass wir in der Lage sind, die Vergütung dement-sprechend anzupassen . Wir bereiten das im Augenblickvor .Sie wissen, dass wir das mit dem Innenministeriumund dem Außenministerium abstimmen müssen . Ich binaber sehr guter Dinge, dass wir für Mali künftig die Stu-fe 6 und nicht wie bisher die Stufe 5 des AVZ erreichenund die Vergütung entsprechend erhöhen können . Ichglaube, das ist angemessen für die Soldatinnen und Sol-daten in Mali .
In diesem Sinne bitte ich um die Verlängerung desMandates .Danke schön .
Christine Buchholz erhält nun das Wort für die Frak-
tion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung will die Beteiligung der Bundeswehr an derUN-Mission MINUSMA in Mali von 650 auf 1 000 Sol-daten erhöhen . Damit wird der Einsatz in Mali der größtedeutsche Militäreinsatz .
Aber nicht nur das: Erstmalig werden auf der Grundla-ge dieses Mandats deutsche Kampfhubschrauber in denNorden Malis verlegt .
Mit diesem Mandat verstrickt die Bundesregierung dieBundeswehr potenziell in einen Krieg mit den Aufständi-schen im gefährlichen Norden Malis . Das erinnert michverdammt an die frühe Phase des Afghanistan-Kriegs .Die Regierung will die Bundeswehr in der Sahelzone zueiner militärischen Größe machen, die wie Frankreich inder Lage ist, in dieser rohstoffreichen Region Krieg zu führen . Die Linke wird diesem Mandat selbstverständ-lich nicht zustimmen .
Auf dem Papier soll MINUSMA den Frieden sichern .Erst vorgestern wurden in Gao bei einem Angriff von Aufständischen über 70 Soldaten der neuen gemeinsa-men Einheiten der malischen Armee getötet .
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Von wem denn?)Das ist schrecklich, und unser Mitgefühl gilt den Ange-hörigen . Es ist aber auch wichtig, zu sehen: Das Camp, indem sich die Bundeswehr aufhält, ist keine 2 Kilometerdavon entfernt . Unmittelbar vor dem Bundeswehrcampsprengte sich am 29 . November ein Selbstmordattentä-ter in die Luft . Glücklicherweise wurde niemand ernst-haft verletzt . Den Frieden, den MINUSMA sichern soll,gibt es nicht . Weil das so ist, droht die Mission selbst zurKonfliktpartei zu werden. Das muss hier ehrlich gesagt werden .
Vier Rettungs- und vier Kampfhubschrauber der Bun-deswehr sollen nach Mali verlegt werden, nach Gao .Frau von der Leyen spricht vor allem von den Rettungs-hubschraubern. Das kommt in der Öffentlichkeit natür-lich besser an . Aber ich sage: Wieder einmal wollen Sieder Bevölkerung Sand in die Augen streuen . Das machenwir nicht mit .
Mit der Fähigkeit, Rettungsaktionen durchzuführen,vergrößert sich der Aktionsradius der Bundeswehr unddamit auch das Risiko, selbst Zielscheibe von Angriffen zu werden . Genau das bestätigte mir ein Soldat im per-sönlichen Gespräch, als ich im Dezember letzten Jahresfür meine Fraktion die Ministerin nach Mali begleite-te . Im Mandatstext selbst ist neuerdings vom „aktivenSchutz des Mandats durch das Bekämpfen asymmetri-scher Angriffe“ die Rede. Das heißt, dass die Kampfhub-schrauber zur Bekämpfung militärischer Ziele eingesetztwerden können . Aus Afghanistan wissen wir, wie dieBundeswehr Stück für Stück in eine offensive Kampf-operation hineingeführt wurde . Frau von der Leyen, mitder jetzigen Aufstockung sorgen Sie möglicherweise füreine Eskalation des Konflikts. Auf jeden Fall setzen Sie Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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die Bundeswehrsoldaten einem erhöhten Risiko aus . Bei-des halten wir für verantwortungslos .
Es gibt eine weitere Ähnlichkeit zu Afghanistan .MINUSMA hat in Mali die Unterstützung der Regierung,aber nicht der Bevölkerung . Ich habe in Mali die Rededes Gouverneurs von Gao gehört . Der Eindruck entstand,die gesamte Bevölkerung Gaos stehe hinter MINUSMA .Was er nicht erwähnte, war: In Gao gab es vor einem hal-ben Jahr wütende Demonstrationen, weil sich viele jungeMenschen bei der Umsetzung des Friedensabkommensbenachteiligt sehen . Die malische Armee hat Demons-tranten auf offener Straße erschossen. Das ist leider kein Einzelfall .Die deutschen Soldaten bewegen sich in Gao als Frem-de, abgeschottet von der Bevölkerung . Je unsicherer dieLage wird, desto mehr wird sich das deutsche Kontingenteinigeln . Das Magazin des Reservistenverbandes Loyalberichtete jüngst, wie eine deutsche Patrouille in Gaonicht nur mit der extremen Hitze, sondern auch mit un-terkühlten Reaktionen der Bevölkerung zu kämpfen hat .Sogar ein Stein flog auf das geschützte und bewaffnete Transportfahrzeug der Bundeswehr . Auf die Frage nachdem Sinn des Einsatzes zitierte das Blatt den Patrouil-lenführer: „Aber meinen Verwandten daheim kann ichnicht erklären, warum ich in Mali bin und was wir hiererreichen wollen .“Die Lage in Mali ist so unsicher, dass die Bundeswehrnun auch Kampfhubschrauber vor Ort stationieren soll .Doch gleichzeitig erklärt die EU mit deutscher Unterstüt-zung Mali als sicher genug, um dem Land ein Rückfüh-rungsabkommen für Flüchtlinge aufzuzwingen . Wenn esum die Rechtfertigung des Militäreinsatzes geht, dannführen Sie das Leid der Malier an . Doch wenn Malier inEuropa Asyl beantragen, dann schieben Sie diese wiederin die Unsicherheit ab . Das ist heuchlerisch und zynisch .
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rainer Arnold
das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jede Krise in der Welt ist eine eigene Herausforderung .Aber auf Mali zu schauen, lohnt sich schon aus grund-sätzlichen Erwägungen . In Mali zeigt sich ein Stück weitexemplarisch, wie die Verantwortung unseres Landes inder Welt in Zukunft eher aussehen könnte .Das Erste, was wir aufgrund der Situation in Malifeststellen können, ist: Die Welt darf nicht einfach zu-schauen – das hat sie auch nicht gemacht –, wie ein Land,das von seiner Lage her für uns sicherheitspolitisch ex-trem wichtig ist, zerfällt und Staatlichkeit zerbröselt .Man sieht aber auch, dass es meistens zu spät ist, bis dieStaatengemeinschaft reagiert . Hätte Frankreich nicht aufeinen Einsatz gedrungen, hätten Aufständische nicht nurdie Mitte und den Norden des Landes unter Kontrollegehabt, sondern wären auch auf die wichtige HauptstadtBamako zumarschiert, dann gäbe es einen weiteren zer-fallenden Staat, ein weiteres Somalia .Es gilt Lehren aus Mali zu ziehen . Die These von FrauBuchholz, der Einsatz in Mali werde dem in Afghanis-tan zunehmend ähnlicher, ist einfach falsch und an denHaaren herbeigezogen .
Die Vorgehensweise in Mali beruht auf den Lehren, diewir aus Afghanistan gezogen haben . In Bezug auf Afgha-nistan hat man geglaubt, man könne mit 130 000 Solda-ten in ein fremdes Land gehen, um dort Staatsaufbau –auch militärisch unterstützt – zu betreiben . Es hat in derTat nicht funktioniert, von außen kommend Staatlichkeitmit Militär herzustellen .In Mali läuft es anders . Dort will man die örtliche Si-cherheitsstruktur so stärken, dass das Land eben selbstmit seinen Problemen umgehen kann . Deshalb wird es inZukunft in die Richtung gehen, mehr Ausbildungs- undAusstattungsmissionen in die Welt hinauszuschicken .Das sind Lehren, die gezogen wurden . Deshalb solltenSie nicht derartige Vergleiche ziehen .Eine weitere Lehre ist: Die örtliche Politik muss stär-ker in die Pflicht genommen werden. Wir dürfen in Be-zug auf die Akteure in Mali und in anderen Ländern nichtzulassen, dass sich diese in gleichem Maße, wie es inter-nationales Engagement gibt, auf ebendieses Engagementverlassen . Das heißt, wir müssen dort schon deutliche Si-gnale senden und überprüfbare Schritte einfordern, damitdie betroffenen Länder in der Lage sind, ihre Geschicke in die eigene Hand zu nehmen. Was Mali anbetrifft, müs-sen wir dafür sorgen, dass die Reformen, die in diesemLand notwendig sind – insbesondere im Bereich der De-zentralisierung –, von der eigenen Regierung angegan-gen werden . Wir müssen in diesem Bereich schieben unddrängen . Auch dies ist eine Lehre .
Niemand glaubt – das gilt auch für Mali –, dass manmit Militär allein die Probleme beheben und die Struk-turen verändern kann . Es geht immer um den vernetztenAnsatz . Deutschland engagiert sich in Mali in ganz be-sonderer Weise beim zivilen Aufbau und auch im BereichBeratung der Regierung . Das geschieht, damit endlichbesser regiert werden kann .Und nicht zuletzt: Weil Militär allein die Problemenicht überwinden kann, brauchen solche Gesellschaf-ten – auch das zeigt Mali – eben auch Versöhnungspro-zesse . Es war richtig und gut, dass die Nachbarstaatenihrer Verantwortung in Mali ein Stück weit gerecht ge-worden sind und mitgeholfen haben, dass der Friedens-vertrag in Algerien ausverhandelt werden konnte . Auchdies zeigt, in welche Richtung es in Bezug auf solcheStaaten zukünftig gehen muss .Christine Buchholz
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Die Soldaten und die acht Hubschrauber, die wirjetzt dorthin schicken, sind ja in erster Linie dort, ummitzuhelfen, dass der ausgehandelte Friedensvertragimplementiert wird . Sie haben nicht den Auftrag, dortmit militärischer Gewalt Sicherheit herzustellen . Dafürsind es übrigens auch viel zu wenige . Man kann nichtmit 12 000 UN-Soldaten und Polizisten ein Gebiet unterKontrolle bringen, das dreimal so groß ist wie die Bun-desrepublik . Es geht also darum – das ist ganz klar –,dort, wo es notwendig ist, Menschen zu schützen undnicht wegzuschauen . In erster Linie geht es darum, da-für zu sorgen, dass der schwierige Weg hin zum Friedenmöglich ist und der Friedensvertrag eingehalten wird .Mali zeigt exemplarisch auch die schwierigen und tra-gischen Seiten der zukünftigen Einsätze . Denn wir mer-ken, dass es sich nicht nur um einen Akteur als Gegnerhandelt . Vielmehr gibt es in solchen Staaten meist eineVerbindung zwischen fundamental-islamistischen Ter-roristen, schnöden kriminellen Banden und Verfechternethnischer Interessen . Dabei handelt es sich um temporä-re Verbindungen . Das macht die Aufgabe dort so schwie-rig .Wir sind – die Frau Ministerin hat es angesprochen –gerade auch in dieser Stunde in Gedanken bei all denSoldaten und Zivilbeschäftigten der Vereinten Nationen,die dort vor zwei Tagen bei diesem fürchterlichen undgrausamen Anschlag ums Leben gekommen sind . Dasstecken wir nicht einfach so weg . Wenn ausgerechnet dieMenschen, die man zum ersten Mal – weil sie in der Ver-gangenheit Feinde waren – in einer Kaserne zusammen-geführt hat, damit sie gemeinsam den Frieden in Malierreichen, Opfer von Anschlägen werden, geht uns dasschon sehr nahe . Und das Camp der Deutschen ist nichtweit vom Anschlagsort – 1,3 Kilometer – entfernt .Frau Ministerin, ich sage es deutlich: Es ist extremwichtig – das ist Ihre allerwichtigste Aufgabe –, dafür zusorgen, dass der Einsatz der Soldaten aufgrund der damitverbundenen Risiken und Gefahren entsprechend gewür-digt wird . Das muss beim AVZ, also beim Auslandsver-wendungszuschlag, sichtbar werden . Es darf nicht Mona-te dauern, bis an dieser Stelle eine Verbesserung erreichtwird, sondern es müsste eigentlich schon gestern gesche-hen sein .
Mali zeigt natürlich auch die Schwächen unserer ei-genen Streitkräfte . Die Finanzierung der Bundeswehr istmit diesem zusätzlichen Engagement in vielen Bereichennoch mehr „auf Kante genäht“ . Es fehlen nun einmalAufklärer, die Luftbilder der Drohnen auswerten können .Wir haben einen Mangel im medizinischen Bereich undauf vielen anderen Gebieten . Deshalb ist es richtig, dassdort ein Helikoptereinsatz auf Zeit zugesagt wurde .Wir Sozialdemokraten wünschen uns schon lange,dass wir und die westlichen Industriestaaten insgesamtmehr Verantwortung bei den 17 UN-Friedensmissionenübernehmen . Verantwortungsübernahme dort kann abernicht bedeuten: Man geht dort erst einmal hinein undbleibt dann zehn Jahre dort . Dies kann die Bundeswehrnicht wirklich leisten, weil wir insbesondere in Osteuro-pa eine ganze Reihe ähnlich wichtiger Verpflichtungen haben .Insofern ist dieser Weg von vornherein gut . Wir statu-ieren ein Exempel und sagen: Wir führen diesen Einsatzfür ein Jahr durch, und dann müssen andere leistungs-fähige Staaten ihn ergänzen . Das sollten wir in anderenBereichen ähnlich handhaben .
Herr Kollege .
Dann könnten wir den Vereinten Nationen noch mehr
helfen, als wir es im Augenblick tun .
Dieser Einsatz ist also richtig und notwendig . Die
Linken haben keine Antwort auf die Frage, was dort zu
geschehen hat .
Herr Kollege .
Ich bin fertig, Herr Präsident . – Die Linken würden
dieses Land den Terroristen und den Kriminellen einfach
überlassen und wegschauen . Dies ist doch keine verant-
wortungsvolle Politik . Wir handeln anders .
Vielen Dank .
Frithjof Schmidt hat nun das Wort für die FraktionBündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Fraktion hat den Einsatz der Verein-ten Nationen und der Europäischen Union von Anfangan unterstützt . Frau Buchholz, die entscheidende Frageist, ob man der Meinung ist, dass es richtig ist, dass dieUNO dort ist, oder ob man sagt, sie sollte sich dort lieberheraushalten . Wir sind der Meinung, es war richtig undnotwendig .Man muss noch einmal kurz daran erinnern: 2012stand Mali kurz vor dem Zusammenbruch . Die islamis-tischen Kämpfer rückten direkt auf die Hauptstadt Ba-mako vor . Es drohte eine humanitäre Katastrophe . Nurdurch das schnelle Eingreifen Frankreichs konnte dieseschlimme Entwicklung gestoppt werden . Ich sage, eswar richtig, das zu unterstützen, und es war richtig, dassdie UNO dann mit MINUSMA die Verantwortung imLand übernommen hat, dass die UNO auch gesagt hat:Wir sind für die Bewältigung dieser Krise zuständig . DieFrage, die Sie politisch beantworten müssen, ist, ob Siedas falsch finden. Falls ja, entspricht das Ihrer bisheri-Rainer Arnold
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gen Logik . Aber wenn Sie sagen: „Es ist richtig, dass dieUNO die Verantwortung für die Bewältigung dieser Kri-se übernimmt“, dann müssen Sie auch sagen, welchenBeitrag wir leisten und wie wir unterstützen wollen .
Ich finde, diese Frage müssen Sie politisch beantworten. Vor allem ist es der UNO zu verdanken, dass es einenpolitischen Friedensprozess gibt und dass 2015 ein Frie-densabkommen zwischen der malischen Regierung undden verschiedenen Tuareg-Gruppen zustande gekommenist . Der verheerende Selbstmordanschlag in Gao mit zigToten zeigt deutlich, wie sehr der Friedensprozess geradeins Stocken geraten ist . Da gibt es nichts schönzureden .Das Ganze unterstreicht dramatisch, was die Verein-ten Nationen seit mindestens zwei Jahren immer wiedersagen: Der Einsatz in Mali gehört zu den gefährlichstender UNO überhaupt. Immer wieder flammen Kämpfe zwischen der Zentralregierung und den Rebellengruppenauf, und immer wieder geraten dabei Blauhelme zwi-schen die Fronten . Uns liegen die Zahlen vor – sie sinderschreckend –: 106 UN-Soldaten haben in den letztendrei Jahren bei diesem Einsatz ihr Leben verloren, undin diesem Gebiet sind über 170 000 Menschen auf derFlucht .Die UN-Basis am Flughafen Gao ist zentral für dieStabilisierung der Sicherheitslage im Norden von Mali,und sie ist auch wichtig für die Versorgung und denSchutz vieler Menschen in der Region . Deswegen sagenwir: Es ist richtig, dass die Bundeswehr den Einsatz inGao seit einem Jahr mit über 500 Soldatinnen und Solda-ten im Bereich der Aufklärung und der Absicherung desFlughafens und der UN-Konvois unterstützt hat .Ich empfehle meiner Fraktion, die Erweiterung die-ses Einsatzes im neuen Mandat zu unterstützen . Es gehtum die Evakuierung von verletzten Blauhelmen durchvier medizinisch entsprechend ausgerüstete Hubschrau-ber . Man muss sagen: Wenn man der Meinung ist, derUN-Einsatz sei richtig, dann ist die Aufrechterhaltungder Rettungskette für die Blauhelme im Einsatz humani-tär absolut notwendig und richtig . Da kann es kein Vertungeben .
Auch die Absicherung von UN-Konvois aus der Luftmit vier Kampfhubschraubern ist sinnvoll und notwen-dig . Wenn dort Luftfracht auf die Konvois umgeladenwird, dann müssen sie abgesichert werden . Das wurdegerade auch in einem Bericht an den UN-Sicherheitsratwieder festgestellt . Den Vereinten Nationen fehlt es ansolchen Hubschraubern . Ohne sie könnte man den Ein-satz im Norden Malis nicht weiterführen . Das wäre fatal .Denn politisch ist klar: Wenn der Blauhelmeinsatz imNorden scheitert, dann steht auch der malische Friedens-prozess auf der Kippe . Die Folgen für die gesamte Sahel-region und Westafrika wären nicht absehbar . Deswegenunterstützen auch wir den Einsatz .Allerdings erwarten wir von der Bundesregierung,dass sie Klartext spricht, was die möglichen Materialpro-bleme angeht, vor allen Dingen im Bereich der für die-sen Einsatz vorgesehenen Hubschrauber . Man hört, derEinsatz der Hubschrauber sei auf Mitte 2018 begrenzt,weil die Durchhaltefähigkeit des Einsatzes höchstens bisdahin zu gewährleisten sei . Herr Arnold, Sie haben dasja gerade als Tugend dargestellt und gesagt: Wir habeneinen Plan . – Frau von der Leyen hat gesagt: Das ist einpolitisches Konzept . – Man hört, dass es erhebliche Pro-bleme gibt . Es kommen auch Fragen nach der Einsatz-fähigkeit der Kampfhubschrauber auf . Ich sage: UnsereSoldatinnen und Soldaten, aber auch wir Abgeordnetenerwarten von der Bundesregierung ganz klare Aussagenüber mögliche Risiken . Die Sicherheit der Hubschrauberdarf nicht infrage stehen. Ich hoffe, dass Sie das eindeu-tig klären können .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der militärischeEinsatz der Vereinten Nationen kann humanitäre Hilfeabsichern und Hilfestellung für die politische Lösung derKonflikte in Mali leisten. Der stockende Friedensprozess gehört ins Zentrum der internationalen Bemühungen .Ich glaube, es muss mehr getan werden . Wir sehen, dassdieser Prozess gerade in einer ganz kritischen Phase ist .Wenn dieser Einsatz nicht gelingt, dann werden wir mitSicherheit ganz große Probleme bekommen . Deswegenerwarten wir von der Bundesregierung und der Europäi-schen Union ein intensives politisches Engagement . Dasmuss angemessen adressiert werden . Ich glaube, da gibtes noch Luft nach oben . Dafür haben Sie jedenfalls unse-re Unterstützung .Danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist Jürgen Hardt,
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt den An-trag der Bundesregierung auf Verlängerung und Erweite-rung des MINUSMA-Mandats . Ich freue mich, dass die-se Debatte zeigt, dass die verantwortungsvollen Kräftedieses Hauses mit großer Geschlossenheit hinter diesemEinsatz stehen .
Deutschland hat Mali nicht umsonst ins Zentrum sei-ner Bemühungen um Frieden im westlichen Afrika ge-rückt . Wir haben durch zahlreiche Besuche von Minis-tern, aber auch der Bundeskanzlerin unterstrichen, wiesehr uns daran liegt, dass in diesen Ländern eine positivedemokratische und stabilisierende Entwicklung voran-Dr. Frithjof Schmidt
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geht und dass insbesondere in Mali der Friedensprozesszu einem guten Ergebnis führt . Denn der innere Friedeneines Landes ist natürlich Voraussetzung, dass man sichgegen äußere Feinde bzw . Gegner wirksam schützenkann .Wer die geografische Lage Malis betrachtet, sieht auf den ersten Blick, dass Mali für den gesamten westafri-kanischen Raum ein enorm wichtiges Land ist . Wir ha-ben die Weiten der Sahara mit nahezu unkontrollierbarenTransportwegen für Waffen- und Menschenschmuggel. Wir haben im westlichen Afrika eine ganze Reihe vonStaaten, die positive Erfolge zeitigen mit Blick auf dieDemokratisierung . Islamistische Kräfte könnten aber na-türlich jede Instabilität und jedes Wanken sofort nutzen,um diese Staaten zu destabilisieren . Wie fragil manchmaldie demokratische Entwicklung ist, sehen wir in Gambia .Wir haben in Gambia die Situation, dass ein Präsidentsein Amt nicht verlassen will . Es gibt einen demokratischgewählten neuen Präsidenten – von beiden Präsident-schaftskandidaten ist die Wahl ja als richtig anerkanntworden –, während der alte Präsident nicht weichen will .Ich kann hier nur appellieren, dass Präsident Yahya Jam-meh das Amt an den neuen legitimen Präsidenten Barrowübergibt . Das zeigt, wie wichtig es ist, dass die Regionstabil bleibt und dass wir verhindern, dass der Islamis-mus in dieser Region Fuß fasst .Der Einsatz in Mali ist ein gefährlicher Einsatz . Wirhaben bei jeder Bundestagsdebatte hier vorgetragen, dasswir unsere Soldatinnen und Soldaten wirklich gut schüt-zen müssen und dass wir uns auch nichts vormachen dür-fen . Wir haben gesehen, dass die Zahl der Anschläge inden letzten Jahren weiter zugenommen hat . Das Problemhat sich vor allem Richtung Süden entwickelt, weil genaudort die Wege sind, auf denen der Terrorismus in andereRegionen Westafrikas vorzudringen versucht . Deswegenist es eine gute Entscheidung der Bundesregierung, dasswir dort voraussichtlich ab März Hubschrauberunterstüt-zung haben .Ich sage ganz konkret an die Adresse der Linken, diedas kritisiert hat: Sie wären doch die Ersten, die hierTheater machen würden – vermutlich in diesem Punkt zuRecht –, wenn wir darauf verzichten würden, unsere Sol-daten durch die MedEvac-Hubschrauber zu unterstützenund durch die Kampfhubschrauber wiederum diese mög-lichen Lufteinsätze zu begleiten . Deswegen ist es einegute Maßnahme der Vorsorge für uns und für alle ande-ren UN-Kräfte in der Region, dass wir die Hubschrauberdorthin verlegen .
Wir hatten diese Einsatzkombination bereits zumEnde des ISAF-Einsatzes in Afghanistan . Dort gab esFragezeichen, ob es klappen könnte . Es gab viele Ge-rüchte über den neuen Transporthubschrauber und denneuen Kampfhubschrauber . Diese Hubschrauber habenim Afghanistan-Einsatz gezeigt, dass sie auch in dieserKombination die Aufgabe wahrnehmen können . Deswe-gen ist es gut, dass wir das jetzt auch in Mali machen .Ich finde es eine richtige Entscheidung der Bundesre-gierung, dass die Soldatinnen und Soldaten im Einsatzauch entsprechend besser bezahlt werden . Ich glaube,dass wir den Angehörigen und den Soldaten selbst sagenmüssen, dass sie unsere gesamte Unterstützung habenund wir alles, was wir tun können, auch leisten, damitalle aus diesem Einsatz wieder wohlbehalten nach Hausekommen können . Es wird der gegenwärtig größte undvielleicht auch gefährlichste Bundeswehreinsatz sein .Ich wünsche allen Soldaten Glück, dass sie wieder heilnach Hause kommen . Die CDU/CSU-Bundestagsfrakti-on wird dieses Mandat unterstützen .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Jürgen Coße .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es geht heute um die Fortsetzung und die Erweiterungeiner Blauhelmmission in Mali . Die Stabilisierungsmis-sion ist zurzeit die gefährlichste UN-Mission, die es gibt .Allein im vergangenen Jahr töteten bewaffnete Gruppen 29 Blauhelmsoldaten und verwundeten über 90 . EinSelbstmordattentäter riss vorgestern über 70 malischeSoldaten in den Tod und verletzte über 100 . Ja, auchdeutsche Soldaten sind bereits in Mali angegriffen wor-den . Wir sind uns der Tragweite unserer Entscheidungbewusst und wir treffen diese Entscheidung nicht leicht-fertig. Ich finde das Wort „Heuchelei“ in dieser Hinsicht unangemessen .
Was ist denn die Alternative? Was passiert, wenn dieBlauhelme nicht Zivilisten schützen? Haben wir dasnicht in Ruanda beobachten können? Diejenigen, dieentschieden gegen diesen Einsatz sind, frage ich: Wiewürden Sie sich fühlen, wenn Sie selbst im Norden Ma-lis leben müssten? Würden Sie gern unter dem Joch vonIslamisten und kriminellen Banden leben? Die Menschenin Mali wollen dies auf jeden Fall nicht .
90 Prozent sehen Sicherheit als oberste Priorität für ihrLand . Wir dürfen dieses Land jetzt nicht im Stich lassen .
Das tut die internationale Gemeinschaft auch nicht .Insgesamt sind 13 456 Soldaten, Polizisten und Zivi-listen in dieser Mission im Einsatz . Afrikanische Staa-ten, Bangladesch, Indien und Pakistan stellen bei dieserFriedensmission – wie so oft – die meisten Truppen .Es stimmt aber auch, dass Deutschland deutlich mehrPersonal nach Mali geschickt hat als bei jeder anderenUN-Friedensmission . Der deutsche Beitrag wird mit ei-Jürgen Hardt
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ner Höchstgrenze von 1 000 Soldaten beträchtlich sein .Unsere Männer und Frauen in Uniform leisten dort jetztschon gute Arbeit, und das werden sie auch in Zukunfttun . Das sollten wir hier deutlich sagen, unterstützen undihnen dafür unseren Dank aussprechen .
Aber warum engagiert sich die Bundesrepublik inMali? Ich sehe zwei Gründe, weshalb die Stabilisierungwichtig für uns und für Europa ist .Erstens . Die Terrorismusbekämpfung . Die Vergangen-heit hat immer wieder gezeigt, dass es sehr gefährlich ist,wenn Terrororganisationen unbehelligt ein Territoriumkontrollieren; denn dann fällt es ihnen wesentlich leich-ter, Kämpfer auszubilden und Anschläge zu verüben . Dashaben wir zuletzt bei den Anschlägen von Paris im Jahr2015 gesehen . Die Attentäter konnten deshalb so profes-sionell vorgehen, weil viele von ihnen in Syrien und imJemen ausgebildet worden waren . Die Lehre ist also klar:Wir dürfen dort, wo wir es können, keine Terrorcampszulassen .Zweitens . Mali ist ein Schlüsselland der Migration .Durch Mali und das Nachbarland Niger laufen die wich-tigsten Flüchtlingsrouten zur libyschen Mittelmeerküs-te . Wenn es uns gelingen würde, Mali zu stabilisieren,würden weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken .Denn es gilt nach wie vor: Ohne Frieden gibt es keineSicherheit . Sicherheit ist die Voraussetzung für eine gutewirtschaftliche Entwicklung . Ohne wirtschaftliche Ent-wicklung haben die Menschen vor Ort keine Perspektive .Perspektivlosigkeit ist der Hauptgrund für Flucht . Undohne MINUSMA gäbe es zurzeit überhaupt keine Per-spektive für Mali .
Meine Fraktion, die SPD, unterstützt den Antrag derBundesregierung, auch in der nächsten Woche .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Linke hat noch nie einem Einsatz zugestimmt . Werheute der Kollegin Buchholz zugehört hat, hat gemerkt,wie sie sich, wie jedes Mal in diesen Debatten, abmüht,irgendwelche Argumente zu finden, die gegen eine Zu-stimmung zu einem solchen Mandat sprechen könnten .
Das ist durchaus legitim, aber ich finde, Sie könnten sich zumindest eine Minute oder eine halbe Minute – und dashat Frau Buchholz nicht getan – die Mühe machen, Alter-nativen aufzuzeigen, wie wir dem islamischen Terror indiesem Land, wie wir dem Bürgerkrieg und dem Staats-zerfall begegnen können, um dem Land auf die Beine zuhelfen .
Sie haben nicht eine Sekunde darauf verwendet .
Das zeigt, dass Sie rein dogmatisch unterwegs sind . Siesind nicht regierungsfähig, Sie sind nicht verantwor-tungsbewusst .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in denletzten Tagen viel über die Äußerungen des künftigenUS-Präsidenten gesprochen . Gerade was die NATO an-geht, scheint vieles noch recht unausgegoren und wider-sprüchlich . Aber in einem Punkt hat er natürlich recht:Die USA schultern bisher überproportional die Lastenim Bereich der gemeinsamen Verteidigung . Es ist daher,meine ich, das gute Recht, von Europa und Deutschlandmehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu fordern .Das ist auch in unserem ureigenen Interesse . Eine stär-kere Orientierung an dem 2-Prozent-Ziel bei den Vertei-digungsausgaben kann helfen, das europäische Gewichtinnerhalb der NATO und die strategische Autonomie Eu-ropas zu stärken .Wir Europäer sollten mit großem Engagement dasZiel verfolgen, gemeinsam verteidigungsfähig zu sein .So verstehe ich und so versteht die CSU den Gedankeneiner europäischen Armee . Wir müssen unsere Strukturenreformieren, und wir müssen die bilateralen und die mul-tilateralen Kooperationen ausbauen . Ziel ist eine stärkereKoordination und Zusammenarbeit unserer Streitkräftemit denen anderer europäischer Partner . Hier passiert ak-tuell mehr als früher, aber noch nicht genug .Mehr Eigenverantwortung bedeutet aber auch denAuftrag an uns Europäer, dort selbstständig aktiv zu wer-den und zu sein, wo unsere Interessen besonders betrof-fen sind und wo wir unsere Stärken sinnvoll einsetzenkönnen, und das ist vor allem Afrika . Dort kann Europamit einem vernetzten Ansatz aus militärischen und zivi-len Komponenten helfen, Krisen zu bewältigen, derenFolgen die Europäer unmittelbar betreffen. Die Einsätze in Afrika waren bislang, was Perso-nalstärke und Anzahl angeht, eher überschaubar fürDeutschland . Erst jetzt, wenn wir die Personalstärkebei der UN-Mission in Mali auf Tausend erhöhen – hin-zu kommen noch 300 Mann für die Ausbildungsmissi-on EUTM Mali –, wird die Herausforderung für unsereBundeswehr deutlich, die mit solch einer globalen Ver-antwortungsübernahme einhergeht .Die Gewährleistung der Rettungskette ist eine Schlüs-selkomponente bei solchen Einsätzen . Wenn wir die engeVerflechtung mit anderen europäischen Nationen im Ver-teidigungsbereich vorantreiben wollen, müssen wir auchJürgen Coße
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bereit sein, Partnern im Einsatz zu helfen, sie abzulösen,wenn beschränkte Durchhaltefähigkeiten das erfordern .Es ist daher gut, dass wir den Staffelstab von den Hol-ländern übernehmen . Es ist aber auch unbedingt erfor-derlich, dass andere später bereit sind, wiederum von unsden Stab zu übernehmen .Der Einsatz in Mali zeigt einmal mehr, dass die fi-nanzielle und materielle Ausstattung der Bundeswehrnoch deutlich verbesserungsfähig ist, auch wenn dieVerteidigungsministerin schon große Fortschritte errei-chen konnte . Nationale und globale Sicherheit habenihren Preis . Europa und Deutschland müssen also mehrVerantwortung übernehmen, nicht nur für die eigene,sondern auch für die globale Sicherheit und das globaleWohlergehen, insbesondere in Afrika . Die Unterstützungvon Krisenstaaten wie Mali ist deshalb unerlässlich . Nurwenn Menschen in der Heimat wieder eine Perspektivesehen, können wir auch die globale Migration besser inden Griff bekommen. Aber Verantwortung müssen schließlich auch die Län-der tragen, die wir unterstützen . Unser Ziel muss es daherstets sein, schnell zur Eigenverantwortung der betreffen-den Länder zurückzukehren, zur Verantwortung für dieeigene Sicherheit wie auch für das Funktionieren vonStaat und Gesellschaft insgesamt . Wie schwer das in derPraxis ist, zeigt der Einsatz in Afghanistan .Der ohnehin schleppende Friedensprozess in Maliist aber nicht nur aufgrund der häufigen terroristischen Anschläge bedroht, er droht derzeit auch aufgrund vonApathie und Desinteresse aufseiten der malischen Re-gierung zu scheitern . Unsere Hilfe müssen wir daher mitdeutlich mehr Druck auf die Regierung verbinden, beimFriedensprozess voranzukommen und Reformen umzu-setzen . Wir sollten überprüfbare Ziele vereinbaren, derenEinhaltung honorieren, deren Nichteinhaltung dann aberauch sanktionieren .Wir tun den Maliern aber auch keinen Gefallen, wennwir sie in eine Dauerabhängigkeit geraten lassen . Freiheitund Eigenverantwortung sind auch in der Sicherheitspo-litik richtige Leitmaximen für Europa und für Deutsch-land, aber auch für Mali . In diesem Sinne gestalten wirunseren Einsatz in Mali . Eine wichtige Säule dabei istder Einsatz unserer Bundeswehr dort . Ich bedanke michan dieser Stelle bei unseren Soldatinnen und Soldaten fürihren Einsatz .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass dieVorlage auf Drucksache 18/10819 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden soll .Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall .Dann ist so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte zur Ausbildungsunterstüt-zung der Sicherheitskräfte der Regierung derRegion Kurdistan-Irak und der irakischenStreitkräfteDrucksache 18/10820Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GOInterfraktionell wurde vereinbart, dass für die Aus-sprache 38 Minuten vorgesehen sind . – Auch hier höreich keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun-desregierung hat Bundesministerin Dr . Ursula von derLeyen .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es ist jetzt zweieinhalb Jahre her – ichglaube, wir alle hier im Hohen Hause erinnern uns nochdaran –, als wir zum ersten Mal das grauenhafte, aberfoudroyante Vorgehen des sogenannten „IslamischenStaates“ im Irak beobachten konnten, nämlich als damalsMosul durch den IS eingenommen worden ist . Sie wer-den sich daran erinnern, dass damals die Goldreservender Bank geplündert worden sind, dass Waffen in die Hände der Terroristen gefallen sind . Es gab einen fou-droyanten Siegeszug des IS damals . Er stand bis 10 Kilo-meter vor den Toren Bagdads .Wir haben es uns vor zweieinhalb Jahren nicht leichtgemacht bei der Entscheidung, denjenigen, die dort unterdem Morden und Wüten des IS leiden, Hilfe zu leisten .Wir haben uns zum allerersten Mal in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland entschieden, Waffen in ein Krisengebiet zu schicken . Ich glaube heute, diese Ent-scheidung war richtig .
Es war richtig, die Kurden, das heißt die Peschmer-ga, auszurüsten und dies mit Ausbildung, ganz eng be-gleitet, zu kombinieren . Die Peschmerga haben viel Mutbewiesen . Sie haben als Erste den IS gestoppt, sie habenihn empfindlich zurückgeschlagen, und sie haben Terri-torium zurückgewonnen . Viel wichtiger ist aber, dass wirvon Anfang an, so wie wir es eben bei dem anderen Man-dat auch besprochen haben, vernetzt vorgegangen sind .Von Anfang an haben wir die Kurden, die über1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben, dabeiunterstützt, humanitäre Hilfe zu leisten . Vielen Dank andas BMZ, das bis heute intensiv mit den Kurden zusam-menarbeitet, um dort humanitäre Hilfe zu leisten und dieFlorian Hahn
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Flüchtlinge zu schützen und zu unterstützen . Wir habenvon Anfang an auf Diplomatie gesetzt, und das Auswär-tige Amt hat mit der irakischen Zentralregierung zusam-mengearbeitet, damit der Prozess inklusiv bleibt, dasheißt, dass Sunniten, Schiiten, Kurden und die anderenGruppen in den Kampf gegen die Terroristen, die dasLand zerstören wollen, einbezogen sind . Andere Länderwaren bereit, in der großen Koalition gegen den Terrorauch die irakischen Zentraltruppen auszurüsten und aus-zubilden .Es hat sich gezeigt, dass wir in diesem Fall vieles –nicht alles – richtig gemacht haben . Denn bei der Rück-eroberung des Gebietes, sei es Tikrit, sei es Ramadi, istvon Anfang an so vorgegangen worden, dass am Tag derBefreiung dieser Städte die Vereinten Nationen sofortreingegangen sind und Hilfe für die Menschen geleistethaben . Dabei ging es um die Versorgung mit Wasser undElektrizität, um Erste Hilfe und den Wiederaufbau vonHäusern . Dadurch sollten die Menschen merken, dass eseinen Unterschied macht, ob der IS in der Stadt ist undsie dominiert oder ob sie befreit sind .Dieses Mandat umfasst die Ausbildung von kurdi-schen Peschmerga . 150 Soldatinnen und Soldaten derBundeswehr sind daran beteiligt . Wir sind gemeinsammit anderen Nationen dort . Im letzten Monat, im Dezem-ber, hat Deutschland die Führung von Italien rotations-mäßig zum dritten Mal übernommen .Drei Punkte im Rahmen dieses Mandates, um dessenVerlängerung wir heute bitten, möchte ich erwähnen .Zunächst einmal: 12 000 Streitkräfte sind inzwischenausgebildet worden . Wir haben von Anfang an daraufgeachtet, dass die Peschmerga bereit sind, auch hier dasPrinzip der Inklusion ernst zu nehmen . Inzwischen sind,soweit sie ihre Heimat verteidigen wollen, auch Christen,Jesiden, Kakai und Turkmenen ausgebildet worden, umnur einige zu nennen .Zweiter Punkt: Materiallieferung und Ausbildungmüssen Hand in Hand gehen . Ich will nur zwei Beispielenennen . Am Anfang ging es um basale Fähigkeiten, umdie Grundausbildung bis hin zur richtigen Anwendungvon Erster Hilfe, damit diejenigen an der Front, die ver-letzt sind, dort nicht verbluten . Material, das geliefertwurde, umfasst zum Beispiel ein Lagerhaus für Medi-kamente und Verbandsmaterial, das wir kürzlich an dieKurden übergeben konnten .Beim dritten Punkt – den wir modulmäßig anpas-sen, je nachdem, wie der Verlauf des Konfliktes und der kriegerischen Auseinandersetzung mit dem IS durch diePeschmerga ist – liegt der Schwerpunkt inzwischen na-türlich auf der Minenentschärfung, auf Counter-IED . DasGebiet, das zurückerobert wird, ist minenverseucht . Dasist eine der entscheidenden Aufgaben bei der Rückerobe-rung von Gebieten . Auch das Thema Häuserkampf spielteine wichtige Rolle; hierfür haben wir entsprechendeTrainingsareale ausgebaut .Heute, zweieinhalb Jahre später, geht es wieder umMosul, aber diesmal mit umgekehrten Vorzeichen . Esgelingt der irakischen Zentralregierung inzwischen ge-meinsam mit den Kurden und in einer engen Absprachemit der Koalition gegen den Terror, Schritt für Schritt dieletzte Bastion des IS im Irak zurückzuerobern, nämlichMosul . Noch lange ist nicht entschieden, wie das zu ei-nem guten Ende gebracht wird, obwohl Fortschritte er-reicht wurden . Auch hier ist neben der militärischen Aus-rüstung und dem militärischen Rat, den die Peschmergaund die Zentralstreitkräfte brauchen, wichtig, dass vonAnfang an darauf geachtet wird, dass ethnische Konflikte im Keim erstickt werden, und dass von Anfang an daraufgeachtet wird, dass die Versorgung der Flüchtlinge naht-los funktioniert . 125 000 Menschen sind inzwischen ausMosul geflohen, aber etwa 1,5 Millionen Zivilisten sind nach wie vor in Mosul eingeschlossen .Ein weiterer Punkt ist mir wichtig . Es ist entschei-dend, nach einem Sieg über den IS – diesen werden wirhoffentlich erreichen –, was das Territorium im Irak an-geht, das heißt nach dem physischen Verschwinden dessogenannten äußeren Feindes, Sorge zu tragen, dass dieinneren Konflikte nicht aufbrechen, sondern dass der Irak weiter den Weg der Inklusion geht . In diesem Sinne bitteich um Verlängerung des Mandates .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die Linke hat jetzt das Wort Jan
van Aken .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wol-len 150 Soldatinnen und Soldaten in den Nordirak schi-cken, um kurdische Peschmerga auszubilden . Es gibtviele gute Gründe gegen dieses Mandat . Ich habe Ihnenheute fünf mitgebracht .Erstens . Sie bilden dort die Miliz einer politischenPartei aus . Nur um das einmal klarzustellen: Wir redennicht über die reguläre Armee des Irak oder des Nord-irak . Die sogenannten Peschmerga sind Milizen von po-litischen Parteien . Es gibt im Osten die Peschmerga, diezur PUK-Partei gehören . Es gibt die Peschmerga, die zurPartei des Präsidenten Barzani gehören .Im Nordirak gibt es noch eine dritte große Partei, näm-lich die Gorran-Bewegung . Sie hat keine Milizen – unddann Pech gehabt; denn ohne Waffengewalt gibt es im Norden des Irak überhaupt keine demokratische Teilha-be . Sie wird am Betreten des Parlaments gehindert . Indieser Situation sind Sie im Nordirak selbst dann, wennSie Wahlen gewinnen; wenn Sie keine Peschmerga ha-ben, haben Sie verloren .Ich halte die Ausbildung von Parteimilizen durch dieBundeswehr für eine derart schlechte Idee, dass wir auchdeswegen dieses Mandat ablehnen werden .
– Herr Otte, wenn Sie jetzt „Märchenstunde“ rufen, dannkann ich nur sagen: Sie haben vom Nordirak überhauptBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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keine Ahnung . Das wundert mich auch gar nicht . Sie ha-ben natürlich nicht mit Regimegegnern gesprochen .
Sie waren nicht an der Front und haben nicht mit Pesch-merga geredet . Wer die ganze Zeit immer nur Klinken beider Waffenindustrie putzt, hat für solche richtige Arbeit keine Zeit . Das ist wirklich Ihr Problem .
Zweitens . Sie unterstützen mit diesem Mandat einenillegitimen Präsidenten . Präsident Massud Barzani hatseine Amtszeit ja schon zwei Jahre überschritten . Washat er gemacht? Er ist einfach weiter im Amt geblieben .
Mithilfe seiner Peschmerga hat er das Regionalparla-ment daran gehindert, überhaupt zusammenzutreten . Esgibt keine demokratische Kraft mehr, die ihn entfernenkönnte .
Gewählte Abgeordnete des Regionalparlaments werdenvon Barzanis Peschmerga daran gehindert, überhaupt nurdie Hauptstadt Erbil zu betreten, geschweige denn dasParlament .Diese Peschmerga wollen Sie jetzt auch noch ausbil-den, um diese undemokratischen Praktiken zu unterstüt-zen? Ich verstehe Sie da einfach nicht . Auch deswegenlehnen wir dieses Mandat ab .
Drittens . Mit diesem Mandat – Frau von der Leyen, dakomme ich genau auf Ihren letzten Punkt zu sprechen –treiben Sie die Spaltung des Irak immer weiter voran .
Wir waren uns doch eigentlich alle in dem einen Zieleinig, dass der Irak auf gar keinen Fall noch weiter ineinzelne Regionen zerfallen darf und dass wir eine inklu-sive, ausgewogene Regierung in Bagdad brauchen, in deralle drei Bevölkerungsgruppen – die Sunniten, die Schi-iten und die Kurden – gleichberechtigt vertreten sind .Denn wenn wir das nicht haben, wird der sogenannte„Islamische Staat“ immer stärker . Schließlich hat er denNährboden, auf dem er stark geworden ist, in den sunniti-schen Gebieten . Deswegen muss es doch unser Ziel sein,die Spaltung des Irak zu verhindern .
Jetzt machen Sie mit der Ausbildung der Peschmergagenau das Gegenteil . Sie unterstützen die einzige großeKraft im Irak, die die Spaltung will, nämlich die Kurdenim Nordirak . Ihr Partner, Präsident Barzani, sagt dochimmer wieder – zuletzt im November 2016 –, dass ereine Volksabstimmung über die Bildung eines eigenenNationalstaates durchführen lassen will . Dabei unterstüt-zen Sie ihn militärisch . Politisch unterstützen Sie ihn mitdem Bundeswehrmandat . Sie geben ihm aber auch diemilitärischen Mittel an die Hand, um diese Abspaltung,diese Bildung eines eigenen Nationalstaates, wirklichdurchzuführen .Ich halte das für absoluten Wahnsinn . Auch deswegenlehnen wir dieses Mandat ab .
Viertens . Sie unterstützen massive Menschenrechts-verletzungen . Können Sie eigentlich wirklich ausschlie-ßen – Frau von der Leyen, Ihre Antwort auf diese Frageinteressiert mich sehr –, dass die von Ihnen ausgebildetenPeschmerga nicht bei der Verhaftung von Regimegeg-nern, bei der Schließung von Menschenrechtsorganisati-onen oder bei der Ermordung von Journalisten eingesetztwerden? Sie kennen doch auch den Fall des jungen Jour-nalisten Wedad Hussein Ali, der im letzten Sommer vonBarzanis Sicherheitskräften erst schikaniert und dann be-droht wurde und am 13 . August 2016 umgebracht wordenist . Frau von der Leyen, wissen Sie sicher, dass da keinvon Ihnen ausgebildeter Peschmerga mit beteiligt war?
Ich finde, dass allein dieser Fall ein Grund ist, dieses Mandat abzulehnen .
Fünftens . Sie unterstützen – um das auch noch ein-mal ganz deutlich zu sagen – mit dieser Ausbildung ver-fassungswidrige Aktionen von Präsident Barzani . DiePeschmerga haben sich die Stadt Kirkuk in Verletzungder irakischen Verfassung einfach unter den Nagel geris-sen. Natürlich ist dadurch der Konflikt mit Bagdad eska-liert; denn in Kirkuk gibt es sehr viel Öl . Wir reden überMilliarden von Dollar . Die Peschmerga haben sich dasausdrücklich gegen die irakische Verfassung einverleibtund sagen, es sei jetzt kurdisches Gebiet . Genau das un-terstützen Sie mit Ihrem Bundeswehrmandat – die Spal-tung des Irak .
Manchmal verstehe ich überhaupt nicht, was in IhremKopf vorgeht .
Sie wollen ein Regime militärisch unterstützen, das denIrak spalten will, das die Menschenrechte mit Füßen tritt,dass die irakische Verfassung mit Füßen tritt und das voneinem illegitimen Präsidenten geführt wird .
Manchmal verstehe ich wirklich gar nicht, wie Siesich zu solchen Mandaten hinreißen lassen können . Ichfinde, Sie sollten es ablehnen.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandüberhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte – weder Jan van Aken
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in den Nordirak noch in den Irak und von mir aus auchnicht in die Türkei .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Das Wort für die Bundesregierung hat
jetzt Herr Staatsminister Michael Roth . Bitte schön .
Guten Tag, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn ich Diplomat wäre, Herr van Aken – ichbin es nicht –, würde ich sagen: Ihre Rede war ein wenigunterkomplex .
Da ich aber Politiker bin, muss ich sagen: Ihre Rede warunterirdisch,
weil Sie den Eindruck erweckt hat, dass der DeutscheBundestag seiner Verantwortung bislang nicht gerechtgeworden ist .
Ich kann mich an keine Debatte erinnern – diese liegtja nun schon einige Zeit zurück –, die derart emotionalund auch derart kritisch und verantwortungsbewusstgeführt wurde . Wir waren uns doch in allen Fraktionendarüber einig, dass dies ein ganz besonderer und in un-serer Geschichte bislang einzigartiger Fall ist und wirselbstverständlich um die dramatischen Risiken wissen .Ich kann nicht nur für meine Fraktion, sondern sicherlichauch für viele, viele andere Kolleginnen und Kollegen –auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Verantwortungund ihrer eigenen Expertise – sagen: Wir haben es unsnicht leicht gemacht .Herr van Aken, Sie haben eine zentrale Frage nichtbeantwortet: Was wäre denn passiert, wenn wir nicht soentschieden hätten?
Wo ist denn Ihre Strategie im Umgang mit den Schläch-tern und Barbaren der Terrororganisation „IslamischerStaat“?
„Tut doch endlich etwas!“ – das war der Ruf, der unsallen immer noch in den Ohren liegt .
Ich hörte ihn in den Medien, in Bürgergesprächen undzugegebenermaßen auch bei mir zu Hause am Familien-tisch . Die Bilder, die sich mir und vielen anderen ins Ge-dächtnis eingeprägt, eingebrannt haben, haben auch beiuns in Deutschland zu großer Emotionalität geführt .
Wir haben uns zu einer Sondersitzung zusammenge-funden – nicht nur, weil es so sein muss, sondern auch,weil es wichtig war –, um diese Entscheidung sehr offen zu treffen. Ich befinde mich nicht in der kritischen Aus-einandersetzung mit Ihnen, weil Sie Argumente dagegenvorgetragen haben; teilweise kennen wir sie ja . Was ichIhnen aber vorwerfe, ist, dass Sie keine Alternativen auf-zeigen
und sich hier in kollektive Verantwortungslosigkeit bege-ben . Eine solche kollektive Verantwortungslosigkeit magfür eine Oppositionspartei wie die Linke möglich sein .Aber sie kann nicht für Parteien und erst recht nicht füreine Regierung in Betracht kommen, die Verantwortungfür ein Land und Verantwortung für den internationalenFrieden übernommen haben, liebe Kolleginnen und Kol-legen .
Es gab damals zwei Optionen, die wir debattiert ha-ben. Die erste Option war, Waffen und militärische Aus-rüstung an die kurdischen Peschmerga zu liefern . Vielevon uns haben damals mit ihrem Gewissen gerungen: Istes das wert? Können wir das verantworten? Die zweiteOption war, sich auf rein humanitäre Unterstützung zubeschränken und damit das weitere Erstarken einer men-schenverachtenden Terrormiliz und das Versinken einerganzen Region in Blut und Chaos zu riskieren .Einige Monate später, fast auf den Tag genau vor zweiJahren, haben wir hier im Bundestag beschlossen, zusätz-lich zur militärischen Ausbildung auch deutsche Solda-tinnen und Soldaten in den Nordirak zu entsenden, umdie Sicherheitskräfte auszubilden . Ich erinnere mich gut:Auch das waren keine einfachen Debatten und schon garkeine einfachen Entscheidungen . Aber da kann ich michnur der Kollegin Frau von der Leyen und weiteren Kolle-gen aus der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, aberauch aus der Mitte der Grünenfraktion anschließen: Wirhaben damals richtig entschieden; denn der Vormarschdes „Islamischen Staates“ konnte vorerst gestoppt wer-den .Die Terrororganisation hat etwa die Hälfte der vonihr kontrollierten Gebiete im Irak verloren . Vor allem imNorden des Irak ist es den kurdischen Sicherheitskräftenund den Regierungstruppen mit Unterstützung der inter-nationalen Allianz gelungen, den IS in die Defensive zudrängen . Das bestätigt doch unseren Kurs . Der Ansatz,die irakischen Sicherheitskräfte durch Ausbildung undJan van Aken
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Ausrüstung zum Kampf gegen den IS zu befähigen, istwirksam . Auch dank unserer Unterstützung konnten vie-le Menschen von der Schreckensherrschaft der Terrormi-liz befreit und unzählige Menschenleben gerettet werden,und Zehntausende Vertriebene konnten in ihre Heimatzurückkehren . Das war es wert – trotz der Risiken, dieich überhaupt nicht vernachlässigen möchte .Den Bitten der irakischen Regierung und den wieder-holten Aufrufen des Sicherheitsrates der Vereinten Nati-onen sind wir damals gefolgt . Gemeinsam mit unsereninternationalen Partnern haben wir seit Februar 2015 12 000 Sicherheitskräfte ausgebildet .Frau Ministerin von der Leyen sprach schon davon: Esgeht dabei um einen sogenannten inklusiven Ansatz . Erwar uns von Anfang an wichtig . Denn es ging nicht nurum militärische Ausrüstung und um Ausbildung, sondernes geht um viel mehr . Wir haben dafür auch Anerkennungund Dank unserer kurdischen und zentralirakischen Part-ner erfahren . Klar ist aber auch: Wir werden noch einenlangen Atem brauchen, bis im Irak dauerhaft wieder Sta-bilität und Frieden einkehren .Wir rechnen auch nicht mit einer raschen BefreiungMosuls; darüber ist schon gesprochen worden . Im Groß-raum Mosul sind derzeit über 162 000 Menschen aufder Flucht vor den Gefechten . Noch ist es möglich, diehumanitäre Versorgung dieser Menschen zu garantieren .Auch konnten bislang rund 20 000 Menschen wieder inTeile des südlichen Mosuls und die Vororte zurückkeh-ren, weil die Sicherheitslage dies ermöglicht hat .Die militärische Komponente ist nur das eine . Aber sieist der erste und wichtigste Schritt . Wichtig ist nun aberauch, die befreiten Gebiete dauerhaft zu stabilisieren, da-mit die vielen Binnenvertriebenen wieder in ihre Heimatzurückkehren und ein normales Leben führen können .Trotz schwieriger Bedingungen ist dies beispielsweise inRamadi und Falludscha auf einem guten Wege . Deshalbarbeiten wir nicht nur an dieser militärischen Komponen-te, sondern wir arbeiten auch daran, dass die Menscheneine wirtschaftliche und eine soziale Perspektive in ihrerHeimat haben . Nur wenn es uns gelingt, den Menschenim Irak eine sichere Bleibeperspektive in ihrer Heimat zueröffnen, wird auch die Zahl derer abnehmen, die einen sehr gefahrvollen Weg auf sich nehmen, um ein Leben inFrieden und in Sicherheit zu finden. Angesichts der gewaltigen Zerstörungen ist dieser Be-darf in allen befreiten Gebieten immens . Es geht dabeium die Grundversorgung mit Strom, Wasser und Ge-sundheitseinrichtungen .In der öffentlichen Debatte kommt mir die Gefahr für die Bevölkerung etwas zu kurz, die von Mienen undSprengfallen ausgeht . Auch hierbei sind wir konkret ak-tiv .Wir haben im Jahr 2016 die Stabilisierung mit 41 Mil-lionen Euro unterstützt . Wir werden das in diesem Jahrunvermindert fortsetzen . Wir wollen die staatlichenStrukturen in den vom IS befreiten Gebieten stärken . Wirwollen vor allem aber auch zur Versöhnung beitragen .Das ist dieser inklusive Ansatz, von dem die Kolleginnenund Kollegen schon gesprochen haben, Herr van Aken .Denn sie ist die Voraussetzung für den Frieden . Beispiel-haft nenne ich unser Engagement in der ArbeitsgruppeStabilisierung der internationalen Koalition gegen denIS, in der wir gemeinsam mit den Vereinigten ArabischenEmiraten den Kovorsitz übernommen haben .Dann möchte ich für die humanitäre Hilfe werben;denn ich weiß, dass es ohne Ihre Unterstützung, liebeKolleginnen und Kollegen, nicht ginge . Denn Sie stel-len uns die Finanzmittel im Haushalt zur Verfügung . Wirhaben im Jahr 2016 rund 119 Millionen Euro zur Ver-fügung gestellt . Der Irak bleibt auch in diesem Jahr derSchwerpunkt der humanitären Hilfe der Bundesregie-rung . Wir haben auf der Washingtoner Geberkonferenzim Juli vergangenen Jahres für dieses Jahr noch einmal60 Millionen Euro zugesagt . Das ist die Voraussetzungdafür, humanitäre Hilfe zu leisten und die Menschen mitWasser sowie mit Nahrungsmitteln zu versorgen .Es gibt noch zwei weitere Schwerpunkte, bei denenDeutschland besondere Verantwortung übernommen hat .Wenn ich von „Deutschland“ rede, meine ich natürlichunsere Hilfsorganisationen . Das sind die medizinischeVersorgung und die psychosoziale Betreuung der Opfervon Krieg und Vertreibung . Nur wenn die tiefen Wundender Traumatisierung heilen, können wir verhindern, dasseine ganze Generation den Teufelskreis aus Hass und Ge-walt endlos wiederholt . Es ist so unendlich wichtig, wasdort viele Expertinnen und Experten täglich leisten . Ichbin froh, dass wir dazu einen Beitrag zu leisten vermö-gen .Die eigentliche zivile Stabilisierungsarbeit kann abererst beginnen, wenn die Sicherheitslage dies zulässt . Dabin ich wieder bei der militärischen Komponente, die wirnicht außer Acht lassen dürfen . Deshalb ist der umfassen-de und vernetzte Ansatz sehr wichtig: die Unterstützungbei der Ausbildung und unser Engagement in den Berei-chen Stabilisierung, Wiederaufbau, humanitäre Hilfe,langfristige Entwicklungszusammenarbeit und natürlichauch Diplomatie . Das alles greift ineinander . Da kannman nicht, wie Sie das seit Jahren beharrlich tun, einewesentliche, aber nicht die einzige Komponente, einfachso herausnehmen . Alles gehört zusammen .Die Bundesregierung lässt sich von folgender Über-zeugung leiten: Letztendlich – da sind wir vermutlichwieder einer Meinung, Herr van Aken – kann es nur einepolitische Lösung der Krisen im Nahen und MittlerenOsten geben . Daher unterstützen wir die Initiativen, dievon der irakischen Regierung unter Ministerpräsidental-Abadi ausgehen und die dazu beitragen, dass alle po-litisch Verantwortlichen am Prozess teilhaben . Denn: Jestärker der irakische Staat ist, desto mehr schwächt dasDaesh . Gerade deshalb tragen wir in dieser Region Ver-antwortung .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte michnoch einmal bei Ihnen bedanken, dass Sie dieses Mandatso konstruktiv und generös begleiten . Mein besondererDank und Respekt gilt aber auch den Soldatinnen undSoldaten, die in den vergangenen zwei Jahren die Aus-bildung in der Region Kurdistan-Nordirak oftmals unterStaatsminister Michael Roth
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ganz schwierigen Bedingungen aufgebaut und damit ei-nen erfolgreichen Beitrag Deutschlands im internationa-len Kampf gegen den IS geleistet haben .Ich danke ganz besonders den Expertinnen und Ex-perten der Hilfsorganisationen, die eine humanitär be-achtliche Arbeit für uns alle und für die internationaleGemeinschaft leisten . Deshalb bitte ich Sie aus vollerÜberzeugung um Ihre Unterstützung, dieses Mandat umein weiteres Jahr zu verlängern . Die Menschen in der Re-gion erwarten von uns, dass wir sie nicht im Stich lassen,sondern sie in ihrem Kampf um Menschenwürde undFreiheit weiterhin unterstützen .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt Omid Nouripour .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirbrauchen in der Auseinandersetzung mit ISIS Partner .Die autonome Region Nordirak ist einer der wichtigstenPartner, die wir haben . Nicht nur dort, sondern im gesam-ten Irak leiden Menschen unter der Barbarei von ISIS:Sunnitinnen und Sunniten, Schiitinnen und Schiiten, Je-sidinnen und Jesiden sowie die Kurdinnen und Kurden .Gerade die Menschen im Nordirak übernehmen in einerArt und Weise Verantwortung, vor der man einfach nurden Hut ziehen muss, sowohl in der Auseinandersetzungmit ISIS als auch in der Aufnahme und Versorgung vonFlüchtlingen .Eine Ausbildung in der vorgesehenen Form kannSinn machen . Schließlich bilden wir die Jesidinnen undJesiden darin aus, sich selbst zu verteidigen . Im Übri-gen berichten diese uns, dass sie diese Ausbildung auchdeswegen bräuchten, weil sie sich manchmal gegen diePeschmerga verteidigen müssten .Die Mission finden wir an und für sich nicht falsch. Aber wir als Grüne werden ihr nicht zustimmen können,weil sich die Bundesregierung beispielsweise weigert,eine verfassungsgemäße Grundlage vorzulegen . Das isteindeutig .
– Nein, das ist keine Flucht . Wir wissen, was unsKarlsruhe ins Stammbuch geschrieben hat: Man brauchtfür Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes ein Systemkollektiver Sicherheit . Dieses System liegt hier nicht vor;das haben wir letztes Jahr schon gesagt . Sie haben sichnicht darum bemüht, ein solches herzustellen . Deshalbkönnen wir dem Mandat nicht zustimmen .
Zurzeit gibt es die Auseinandersetzung um Mosul . Ja,man muss großen Respekt vor dem haben, was dort anMut, Disziplin, an Einsatz und an Opferbereitschaft vonallen irakischen Streitkräften gezeigt wird; nicht von denMilizen, aber von Peschmerga auf der einen Seite undvon der irakischen Armee auf der anderen Seite .Die Probleme sind sichtbar: Was passiert am Tag nachder Befreiung? Was passiert, wenn die letzte große Stadtvon ISIS befreit worden ist? Was passiert mit den Dör-fern, aus denen die Sunniten nach Berichten von AmnestyInternational und Human Rights Watch von Peschmergavertrieben wurden und die zerstört worden sind, mögli-cherweise mit deutschen Waffen? Was ist mit den vielen Problemen in Kurdistan, die immer deutlicher werden?Ich habe mir meine Rede in der Debatte im letztenJahr angeschaut, und ich fürchte, ich könnte vieles Wortfür Wort wiederholen . Das werde ich nicht machen . Aberes ist weiterhin so, dass – es ist gerade gesagt worden –die Regierung in Erbil keine Legitimität hat . Es ist wei-terhin so, dass eine große Fraktion, der Gorran, aus demParlament ausgeschlossen ist . Es ist weiterhin so, dassdie Spaltung zwischen KDP und PUK voranschreitet, sostark wie schon lange nicht mehr und so sichtbar und ze-mentiert wie noch nie, auch physisch in Form von Gren-zen . Es gibt mittlerweile eine feste Grenzziehung zwi-schen den Regionen Sulaymaniyah und Erbil .Die Bundesregierung ist einer der größten Geber inder autonomen Region Nordirak, und sie sagt zu all die-sen Dingen einfach gar nichts . Ich frage mich die ganzeZeit: Warum nicht? Nach den Reden der Mitglieder derBundesregierung, die ich gerade gehört habe, weiß iches: Sie stecken immer noch im August 2014 fest und ha-ben das, was in den letzten zweieinhalb Jahren passiertist, anscheinend überhaupt nicht mitbekommen .
Es tut mir leid: Das ist keine verantwortungsvolle Politik .
Zu den Waffenlieferungen. Es ist gerade gesagt wor-den: Sie haben es sich nicht zu leicht gemacht . – Ich teiledas; das ist richtig . Ich habe das damals beobachtet undweiß: Niemand in diesem Hohen Hause hat es sich zuleicht gemacht . Aber gerade weil die Debatte damals sokontrovers und emotional war, hat man doch als Bun-desregierung, die die Waffen geliefert hat – auch bei uns gab es Menschen, die das richtig gefunden haben –, eineVerantwortung, sich darum zu kümmern, was mit diesenWaffen passiert.
Es gibt wachsende interne Konflikte innerhalb der Peschmerga . Es gibt Skandale, die hier aufschlagen, umden Verkauf der Waffen. Es gibt keine Transparenz in der KDP-Administration . Es gibt mittlerweile ein massivesÜberschwappen der Auseinandersetzungen zwischenErdogan und der PKK . Und im November lieferte dieBundesregierung Tausende von Gewehren und Millionenvon Schüssen . Ich habe die Bundesregierung vorgesterngefragt, was denn eigentlich mit der Endverbleibskon-trolle ist . Die Antwort – in meinen Worten – lautete: Wirwissen es nicht; wir wollen es aber auch nicht so genauwissen .Staatsminister Michael Roth
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Das ist in einer so fragilen Region ausgesprochenfahrlässig und verantwortungslos . Sie können nicht an-gesichts der Risiken einfach den Kopf in den Sand ste-cken . Die Risiken gab es schon damals; wir haben sieabgewogen und kamen diesbezüglich zu verschiedenenErgebnissen . Ich gebe zu, dass man auch zu Ihren Ergeb-nissen hätte kommen können; aber das entlässt Sie nichtaus der Verantwortung, sich heute darum zu kümmernund sehr klar und laut zu fragen, wo diese Waffen gelan-det sind . Das tun Sie nicht . Das ist aus meiner Sicht be-schämend und hat mit der guten Arbeit, die die Soldatin-nen und Soldaten vor Ort machen, nichts zu tun . NehmenSie sich ein Beispiel an der Gründlichkeit, mit der dortausgebildet wird . Dann wäre es für uns auch wieder mög-lich, darüber zu sprechen, wie wir einem solchen Mandatzustimmen können .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Dr . Johann
Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Für uns ist der Irak ein Schlüsselstaat in der Re-gion, und wir müssen alles tun, um diesen Staat zu stabi-lisieren . Wir müssen den Kampf gegen den IS fortsetzen .Das ist die wesentliche Begründung für dieses Mandatgewesen . Der Kampf gegen den IS ist erfolgreich gewe-sen . Ich will durchaus konzedieren, dass manches, wasder Kollege von Aken an kritischen Punkten genannthat – Kollege Nouripour hat das unterstrichen –, natür-lich von uns gesehen werden muss . Nur: An die Play-er, an diejenigen, die staatliche Gewalt im Irak besitzen,können wir nicht westeuropäische Maßstäbe anlegen .Das muss man einfach konzedieren . Man muss eine Gü-terabwägung treffen in einer ganz konkreten Situation. Es gab eine politisch-ethisch schwierige Abwägung, be-vor wir den Einsatz beschlossen haben . Aber wenn Sie,Herr Kollege von Aken, heute sagen, wir hätten mit die-sem Einsatz massive Menschenrechtsverletzungen unter-stützt, dann verkehren Sie die Sache ins Gegenteil . Wirhaben einen kleinen, angemessenen, aber auch notwendi-gen Beitrag dazu geleistet, dass die massiven Menschen-rechtsverletzungen durch den sogenannten „IslamischenStaat“ gestoppt werden konnten .
Das war der wesentliche Grund für diesen Einsatz, undden muss man sicherlich auch weiterhin unterstreichen .Im Irak gibt es nach wie vor staatliche Kräfte – dassind die positiven Kräfte, die wir unterstützen –, die miteinem inklusiven Ansatz versuchen, den Staat aufrecht-zuerhalten, indem Sunniten und Schiiten – MehrheitSchiiten, Minderheit Sunniten – versuchen, möglichstmiteinander auszukommen und übrigens auch die Kur-den zu integrieren . Das ist Ihnen, Kolleginnen und Kol-legen der Linksfraktion, in Syrien so wahnsinnig wichtig .Ein Zwischenruf in einer Sitzung des Auswärtigen Aus-schusses war da sehr bezeichnend . Als es nämlich um dieUnterstützung der irakischen Kurden ging, gab es denZwischenruf: Das sind die falschen Kurden . – Meine sehrverehrten Damen und Herren, man kann sich in dieser Si-tuation halt nicht immer die richtigen Kurden aussuchen .Ich bin der festen Überzeugung, dass es notwendig ist,übrigens auch bei den Gesprächen in Astana, die Kurdenin Syrien zu integrieren . Ich bin aber auch der Überzeu-gung, dass es notwendig ist, die Kurden im Irak zu inte-grieren, auf sie einzuwirken . Die Möglichkeit dazu habenSie am Ende aber nur, wenn Sie kooperieren, wenn Sieden Kurden auch eine gewisse Unterstützung geben . Siemüssen diesen Kurden aber auch sagen – darin stimmenwir wahrscheinlich sogar überein –: Das ist kein Mittelzum Zweck, um sich selbstständig zu machen, um diesenStaat Irak zu zerstören . Wir werden mit kleinen Ministaa-ten, die an sich alle wirtschaftlich und politisch in dieserRegion nicht lebensfähig wären, keine bessere Politikhaben . Deswegen ist es Ziel unserer Politik, dafür zu sor-gen, dass der Irak ein Staat bleibt, ein inklusiver Staatbleibt, auch mit einer kurdischen Vertretung in diesemStaat . Das ist die Politik der Bundesregierung .An dieser Stelle muss ich etwas zum Vorwurf desKollegen Nouripour sagen . Die Bundesregierung, auchVertreter der Koalitionsfraktionen sagen immer wiederin allen Gesprächen, die sie mit den Kurden führen, diesie mit Vertretern aller politischen Fraktionen führen, diees dort gibt – Sie haben sie aufgezeigt –: Unsere Politikist ganz klar; wir unterstützen die Kurden an dieser Stel-le, aber wir erwarten, dass sie Teil des irakischen Staatesbleiben, und wir leisten keinen Beitrag zu Abspaltungs-tendenzen . – Das ist klar unsere Position und die Positionder Bundesregierung .
Wie geht es weiter? In der jetzigen Situation mussman die Frage beantworten: Beendet man jetzt die Un-terstützung, oder setzt man sie fort? Natürlich gibt es andem, was in Kurdistan politisch passiert, manches zukritisieren . Natürlich braucht der Präsident eine neue de-mokratische Legitimität; das kann man überhaupt nichtbestreiten . Selbstverständlich ist das unser Ansatz . Ent-scheidend aber ist Mosul – die Frau Bundesministerinhat darauf hingewiesen –, wo der sogenannte „IslamischeStaat“ von dem sogenannten Kalifen Baghdadi ausgeru-fen worden ist . Mosul ist nicht nur wegen der Hundert-tausenden Menschen, vielleicht Millionen Menschen, diedort leben, von großer Bedeutung, sondern eben auch,weil die Stadt eine große symbolische Bedeutung für densogenannten „Islamischen Staat“ hat .Deswegen müssen wir auf dem weiteren Weg kon-sequent bleiben und weiterhin auch unsere militärischeUnterstützung liefern . Das ist nur ein Segment unsererPolitik zur Stabilisierung des Irak, aber ein unverzichtba-res Element . Deswegen werden wir uns dafür einsetzen,dass diese Ausbildungsmission fortgesetzt wird .Herzlichen Dank .
Omid Nouripour
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Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Florian Hahn,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute den Einsatz beenden würden, wäre das
Fazit dieses Mandats positiv . Das Einsatzkontingent in
Erbil hat in den vergangenen zwei Jahren sehr erfolg-
reich kurdische und irakische Kämpfer ausgebildet .
Der maßgebliche Auftrag des Deutschen Bundestages,
die Bekämpfung der Miliz, deren menschenverachten-
de Gewaltakte bis nach Deutschland reichen, wird im
Irak wirksam ausgeführt . Die Terroristenorganisation IS
konnte aus weitflächigen Rückzugsräumen vertrieben
werden . Die Peschmerga haben an nur einem Tag die
vereinbarten Haltepunkte vor Mosul eingenommen . Seit-
dem verteidigen sie diese Linie . Insgesamt genießt die
Bundesrepublik als Partner Erbils sowie Bagdads großes
Vertrauen, das insbesondere durch die zuverlässige Zu-
sammenarbeit mit der Bundeswehr entstehen konnte .
Ist daher nicht jetzt oder spätestens nach der Einnah-
me Mosuls der richtige Zeitpunkt, an dem wir erfolgreich
diese Mission abschließen können – ein durchweg po-
sitives Ergebnis und dann Strich drunter? Hinter jeder
Konfliktlinie steckt eine weitere mögliche Auseinander-
setzung: die Beziehungen zwischen Erbil und Bagdad,
die innerkurdischen Dispute, die Rolle der schiitischen
Volksmobilisierung und die destabilisierenden Einflüsse
externer Partner, daneben die über 2 Millionen Binnen-
flüchtlinge, die zusätzlich zur Wirtschafts- und Haus-
haltskrise vor allem Kurdistan und Irak zu schaffen ma-
chen . Noch herrscht durch die IS-Bedrohung der Geist
der Einheit; aber was passiert am Tag danach?
Mir zeigen gerade diese Unsicherheiten, dass die Ver-
längerung des Mandats unerlässlich ist . Die Bundeswehr
wird auch über die Zerschlagung des IS hinaus als Stabi-
lisierungsfaktor in der Region notwendig sein . Der Irak
ist aufgrund seiner geostrategischen Position sowie als
Akteur im Kampf gegen den IS ein Schlüsselland . Gera-
de weil wir in der Region als verlässlicher Partner wahr-
genommen werden, ist unsere Präsenz vor Ort weiterhin
entscheidend .
Wir müssen aber auch das Gleichgewicht zwischen
Erbil und Bagdad im Blick haben . Die Entscheidungen,
irakische Streitkräfte vermehrt in die Ausbildung einzu-
binden sowie im Rahmen der NATO einen Militärberater
nach Bagdad zu senden, sind in diesem Kontext wichtige
Signale . Unser Engagement muss auch dazu dienen, die
Zusammenarbeit zwischen irakischer Zentralregierung
und kurdischer Regionalregierung zu verbessern .
Herr van Aken, wir können uns eben die Akteure vor
Ort nicht aussuchen . Wir müssen die Situation, in der wir
dort sind, nutzen, unseren Einfluss geltend machen, um
natürlich für entsprechend positive, auch demokratische,
Entwicklungen zu sorgen . Aber ich würde mir manchmal
wünschen, dass Sie Ihren Maßstab von Demokratie bei-
spielsweise auch bei der Russischen Föderation anlegen .
– Sie und vor allem Ihre Partei .
Auch bei den humanitären Fragen sollten wir unseren
Blick entsprechend schärfen . Es ist eine Illusion, zu glau-
ben, dass sich Konflikte auf das Land und den Kontinent
begrenzen . Uns sollte bewusst sein, dass die Stabilität
des Iraks ganz maßgeblich im sicherheitspolitischen In-
teresse Deutschlands liegt . Wir haben im Falle Syriens
gemerkt, wie massiv die Folgen auch Europa treffen
können . Sollte es uns nicht gelingen, den Irak weiter zu
stabilisieren, können aus den mehr als 2 Millionen Bin-
nenflüchtlingen auch schnell viele Millionen Flüchtlinge
werden, die nach Europa aufbrechen .
Nicht nur aus humanitärer Verantwortung, sondern
auch aus eigenem Interesse müssen wir uns bei der Kon-
fliktbewältigung weiter engagieren. Mein Dank gilt an
dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten, die direkt
an der Ausbildung beteiligt sind, militärische Hilfsliefe-
rungen oder Bauprojekte begleiten und damit ihren Bei-
trag zum Erfolg dieses Einsatzes leisten .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 18/10820 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse zu überweisen . – Sie sind damit
einverstanden, wie ich sehe . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Dr . Axel Troost, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zulassungspflicht für Finanzprodukte schaf-
fen – Finanz-TÜV einführen
Drucksache 18/9709
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist auch dies so beschlossen .
Ich bitte Sie, jetzt die Plätze zügig einzunehmen .
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion Die Linke Susanna Karawanskij .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Eine Frage: Würden Sie mit ih-
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ren Kindern oder Enkeln auf den Rummel gehen und Rie-senrad fahren, wenn Sie wüssten, dass das Gerüst nichtzugelassen ist oder es nicht den Sicherheitsvorschriftenentspricht? Oder würden Sie eine Kopfschmerztabletteeinnehmen, wenn Sie nicht wüssten, dass das Medika-ment auch zugelassen ist?
– Genau, würden Sie nicht . Ich würde es auch nicht ma-chen .Aber die Eltern, die Mütter, die für ihre Kinder etwasGeld anlegen wollen, und die baldigen Ruheständler, dieGeld für die ruhigeren Tage zurücklegen wollen, sind amFinanzmarkt auf sich selber gestellt .
Denn da gilt: Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist,ist erlaubt . Fast jede Bank kann ein noch so komplexesProdukt auf den Markt bringen und verkaufen . So wirdder Finanzmarkt tagtäglich mit einer wirklich unüber-schaubaren Anzahl von Finanzprodukten überschwemmt,und das Ganze wird damit immer unbeherrschbarer .Die fortwährende Finanzkrise, mit der wir es zu tunhaben, hat sich unter anderem gerade auch wegen derkomplexen Finanzinstrumente und ihrer völlig falscheingeschätzten Werthaltigkeit über den Globus ausge-breitet .Die Verbraucherinnen und Verbraucher können kei-nen Durchblick behalten und tappen dann schnell in dieFalle . Sie kaufen ein Produkt, das ihren Risikoneigungenüberhaupt nicht entspricht . Auch der Gang zu einem Fi-nanzberater schafft nicht wirklich Abhilfe; denn er kann auch nur sehr schwer einschätzen, mit welchem Risikodie Geldanlagen tatsächlich behaftet sind . Außerdemberät er meistens auch mit Blick auf eine zu erwartendeProvision und damit eben nicht immer hundertprozentigverbrauchergerecht .Nach unterschiedlichen Schätzungen verlieren dieBundesbürger jährlich bis zu 98 Milliarden Euro we-gen – meist auf der Erwartung von Provision basieren-der – Falschberatung bei Abschluss von Kapitalanlagen .Bei Prokon – ich denke, der Skandal dürfte Ihnen nochin Erinnerung sein – haben die 75 000 Anlegerinnen undAnleger durch angeblich sichere Genussrechte bislangetwa 1,4 Milliarden Euro verloren .Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland besitzenungefähr 90 Millionen Lebensversicherungsverträge,und die Anbieter von Lebensversicherungen haben einenKapitalanlagebestand von gut 885 Milliarden Euro . Istes angesichts solcher Zahlen nicht völlig absurd, dassniemand prüft, ob die Anleihe, das Derivat oder dasZertifikat den Verbraucherinnen und Verbrauchern, den Rentenversicherungen, den Lebensversicherungen odersogar der Volkswirtschaft gefährlich werden kann?
– Ja, in der Vergangenheit wurden Instrumente geschaf-fen, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schüt-zen .
Die Finanzaufsicht prüft vorab aber lediglich formal, obdie Prospekte für ein neues Produkt vollständig und da-mit kohärent sind .
Sie prüft nicht inhaltlich . Somit kommt tatsächlich ge-fährlicher Finanzschrott auf den Markt .Es gibt die Möglichkeit der sogenannten Produktin-tervention, und es gibt die Marktwächter Finanzen . Siewerden aber höchstens im Nachhinein tätig,
was bedeutet, dass sie sich erst dann inhaltlich mit einemFinanzprodukt auseinandersetzen, nachdem das Produktauf den Markt gekommen ist und schon entsprechendeSchäden bei den Anlegern angerichtet hat .Das ist für uns nicht ausreichend . Wir als Linke for-dern eine Verfahrensumkehr und einen Finanz-TÜV .
Im Gegensatz zum derzeitigen Zustand wollen wir näm-lich, dass zukünftig jedes Finanzprodukt ausdrücklichdurch qualifizierte Fachleute zugelassen wird, bevor es auf den Markt kommt .Beim Finanz-TÜV geht es um eine präventive Re-gulierung nach dem Vorsorgeprinzip, damit die Märktenicht weiter mit Finanzschrott geflutet werden können und die Finanzbranche nicht weiter sehr kreativ beste-hende Regulierungen umgehen kann, wodurch vor allenDingen ungeeignete Produkte in die Hände von Kleinan-legern kommen .
Durch die ausdrückliche Erstzulassung von Finanzin-strumenten, Finanzmarktakteuren und -praktiken sollendie Märkte entsprechend entschlackt und systemischeRisiken minimiert werden .
Zudem sollen entsprechend transparente, einfache, kos-tengünstige, risikobeherrschbare Finanzprodukte auf denMarkt kommen und gleichzeitig schädliche Geldanlagenherausgefiltert werden, damit Anlagepleiten vermieden werden können .Klar ist, dass ein solcher Finanz-TÜV auf europäi-scher Ebene – am besten bei der ESMA – etabliert wer-den sollte, weil es überhaupt nichts nützt, wenn ein Fi-nanzprodukt in Deutschland verboten ist, in Belgien aberzugelassen wird .
Susanna Karawanskij
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Um es an dieser Stelle aber ganz deutlich zu sagen:Wir wollen kein Verbot von Kapitalanlagen jenseits desSparbuchs . Das ist nicht unser Anliegen . Wer zockenwill, soll das gerne auch weiterhin tun können . Aktienund andere riskante Produkte sollen auch weiterhin indie Hände von Kleinanlegern gelangen können, solan-ge sie transparent und seriös sind . Eine Zulassung durchden Finanz-TÜV soll eben nicht wie ein Unbedenklich-keitssiegel wirken, das zum Beispiel sagt, dass dadurchVerluste ausgeschlossen sind . Sie verklagen ja auch nichteinen Fönhersteller, weil ihre Haare nicht schnell genugtrocken werden, oder einen Autohersteller, weil Sie mitdem Fahrzeug zu schnell gefahren sind .
Zum Abschluss möchte ich noch etwas zur Finanzie-rung des Finanz-TÜVs sagen . Die Prüfung durch ausrei-chend qualifiziertes Personal kostet zwangsläufig Geld. Mit zunehmender Komplexität eines Produkts wird diePrüfung immer mehr kosten; das ist klar . Wir haben dabeifolgenden grundlegenden Gedanken: Die Herausgeberder Finanzinstrumente zahlen für die Prüfung entspre-chend dem Prüfaufwand . Ich denke, dass allein dadurchdie Finanzprodukte zwangsläufig ein bisschen verein-facht werden .
Der vorliegende Antrag greift unsere Kernforderun-gen zum Finanz-TÜV auf . Ich kann Ihnen nur wärmstensempfehlen, innerhalb der parlamentarischen Beratungenauch unser umfassendes Konzeptpapier dazu durchzule-sen . Vielen Menschen, die für das Alter vorsorgen wol-len, können Sie durch die Annahme unseres VorschlagsEnttäuschungen ersparen . Gerade in einem Wahljahr wiediesem sollte es in Ihrem Interesse liegen, die Menschenins Zentrum zu rücken und nicht die Finanzmarktlobby .Vielen Dank .
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Frank Steffel,
CDU/CSU-Fraktion .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Frau Karawanskij, Sie habenIhre Rede begonnen – Sie haben das charmant vorgetra-gen – mit dem Hinweis auf Medikamente . Das klingt fürdie Zuhörer sicherlich überzeugend,
sodass sie sich fragen: Warum machen wir es nicht soeinfach? – Sie sollten aber fairerweise darauf hinweisen,dass es bei Medikamenten erstens einen Beipackzettelgibt und zweitens die Nebenwirkungen angegeben sind .Nur weil ein Medikament mit größerer oder geringererWahrscheinlichkeit möglicherweise Nebenwirkungenhat, wird es nicht verboten . Wenn wir alle Medikamenteverbieten würden, die Nebenwirkungen haben könnten,dann gäbe es in Deutschland keine Medikamente .
– Melden Sie sich doch zu einer Zwischenfrage . Ich steheIhnen gerne zur Verfügung . Ansonsten sollten Sie michmeine Argumente genauso vortragen lassen, wie ich esbei Ihnen getan habe .Wenn Sie das bei Finanzprodukten ähnlich machenwollen, dann gilt das Gleiche . Sie können natürlich sagen:Wir verbieten alle Finanzprodukte, die Nebenwirkungenhaben . – Aber, meine Damen und Herren Zuhörer, Siemüssen wissen, dass das dann nicht nur hochspekulati-ve, von uns allen als dubios und unseriös eingeschätzteProdukte betrifft, sondern auch den Ökobauernhof um die Ecke, das Sozialprojekt, das Kulturprojekt und denSportverein, der ein paar Tausend Euro für das neue Ver-einsheim sammelt . Das alles müssten wir – weil es Risi-ken birgt und Nebenwirkungen hat – ebenfalls verbieten .
Sie erwecken des Weiteren den Eindruck – das istschon erstaunlich –, dass diese Bundesregierung undauch ihre Vorgängerin seit dem Ausbruch der globalenFinanzkrise nicht unendlich viel für die Stabilisierungder Finanzmärkte und insbesondere für den Anleger-schutz getan hätten . Ich gebe Ihnen trotzdem recht – ichsage das sehr klar –: Natürlich ist dieser Markt hoch dy-namisch . Wir alle müssen aufpassen und schnell genugsein, wenn es um Regulierung, Nachjustierung und denSchutz von Bürgerinnen und Bürgern, die ihr Geld an-legen wollen, geht; denn die Finanzindustrie ist außer-gewöhnlich kreativ . Wir alle arbeiten ständig mit Hoch-druck und versuchen, rechtzeitig wirksame Regelungenzu finden, nachzujustieren und übrigens aufzuklären, aufzuklären, aufzuklären . Der Deutsche Bundestag hataus diesem Grunde gerade im Finanzbereich so viele Ge-setze beschlossen wie nur selten zuvor zu einem anderenThema in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land .
Wir haben seit 2007 Gesetzeslücken geschlossen . Wirhaben mit unglaublichem Aufwand die Transparenz derVermögensanlagen erhöht . Wir haben zur Stabilisierungder Finanzmärkte und zum Schutz der Anleger sehr vielgetan . Wir haben 40 Maßnahmen zur dauerhaften Sta-bilisierung der Finanzmärkte auf nationaler und insbe-sondere auf europäischer Ebene ergriffen; es gibt diverse Gesetze . Wir haben die Bankenunion beschlossen . Da-mit gibt es eine europäische Aufsicht . Denn wir haben inder Krise lernen müssen: Es nutzt uns gar nichts, wennwir Deutsche das perfekt machen . Wenn Lehman Bro-thers in Amerika Probleme bekommt, dann wackelt auchder deutsche Finanzsektor, mit allen Konsequenzen fürden deutschen Anleger . Wir haben die europäische Ein-Susanna Karawanskij
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lagensicherung und den europäischen Bankenabwick-lungsmechanismus auf den Weg gebracht . Wir haben dieBankenaufsicht für alle Banken Europas bei der EZBangesiedelt . Übrigens sagen uns alle, die damit zu tunhaben, dass das hervorragend klappt .
Viele von uns hatten die Sorge, dass das nicht vernünf-tig funktionieren wird . Nein, selbst die Bundesbank sagtuns, dass es mindestens so gut klappt wie bei uns inDeutschland . Wir sollten das heute einmal erwähnen undstolz darauf sein, was der Deutsche Bundestag gerade indiesem Bereich beschlossen hat .
Ich möchte Sie an das Kleinanlegerschutzgesetz er-innern . Wir haben vor wenigen Monaten ein Kleinan-legerschutzgesetz beschlossen . Wir haben hier den Ver-braucherschutz zu einem weiteren Aufsichtsziel unsererBaFin erklärt . Wir haben den Vertrieb problematischerProdukte dramatisch beschränkt . Wir verbieten irrefüh-rende Werbung; denn das war ein Teil der Probleme: Manhat den Menschen Sicherheit – bei hoher Rendite – ver-sprochen . Das kann es natürlich nicht geben . Wenn Sie15 Prozent Zinsen erwarten, dann haben Sie ein hohesRisiko . Das ist das kleine Einmaleins der Marktwirt-schaft . Jemand wird 15 Prozent nur zahlen, weil er für3 Prozent niemanden findet. Damit ist das Risiko natur-gemäß höher als bei 3 oder 4 Prozent .Wir ermöglichen der BaFin, bereits zu Beginn einerVermarktung eine Beschränkung oder ein Verbot auszu-sprechen . Das heißt, die BaFin kann genau das, was Siefordern . Sie kann verhindern, dass problematische Pro-dukte in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt erstauf den Markt kommen .Wir haben den Vertrieb eingeschränkt und gesagt:Bestimmte Produkte dürfen nur an Menschen vertriebenwerden, die von dem Produkt auch etwas verstehen .
Übrigens, meine Damen und Herren, dieser Satz giltimmer – ich sage das gerade und besonders gerne hier imDeutschen Bundestag, wenn hoffentlich ein paar Men-schen zuschauen und zuhören –: Kaufe kein Produkt, dasdu nicht verstehst . Das ist der Hinweis an jeden Men-schen, der Geld anlegen möchte: Kaufe nur Produkte, diedu verstehst . – Wenn das geschähe, hätten wir übrigenseinen Großteil der Probleme schon gelöst .
Das Kleinanlegerschutzgesetz hat darüber hinaus eineMindestlaufzeit eingeführt, weil kurze Laufzeiten eingroßes Problem waren . Es hat ein Kündigungsrecht ein-geräumt . Heute kann man, wenn man ein Finanzproduktkauft, wie bei anderen Produkten auch innerhalb einergewissen Frist sagen: Ich habe mich geirrt, ich habe michschlaumachen lassen, ich trete vom Kaufvertrag zu-rück . – Das war früher nicht so . Das, was für viele andereProdukte galt, galt für Finanzprodukte nicht . – Auch die-se Verbesserungen hat diese Koalition eingeführt .Wir haben bei der Erarbeitung dieses Gesetzes – dieKolleginnen und Kollegen, die wie ich damit befasst wa-ren, werden das bestätigen können – gelernt, wie hetero-gen auch der kleine Finanzmarkt ist . Ich habe zwischender ersten und zweiten Lesung über 60 Zuschriften vonkleinen Unternehmen, Sozialprojekten, Kulturprojek-ten und Bürgerinitiativen bekommen, die gesagt haben:Wir sammeln Geld ein, aber wir führen nichts Böses imSchilde . Achtet darauf, dass ihr unsere Arbeit nicht durchgesetzliche Regelungen unmöglich macht .Wir haben deshalb in der Beratung hier im Bundes-tag das Gesetz an vielen Stellen nachjustiert und gesagt:Wir wollen, dass auch ein Sozialprojekt 50 000 Euroeinsammeln kann . Und wir wollen, dass es im Rahmeneines Wohnprojekts Mieterinnen und Mietern ermöglichtwird, ein Haus etwa zu kaufen . Natürlich gibt es da einRisiko . Es gibt bei jeder Finanzanlage ein Risiko . Immergibt es ein Risiko, wenn man Geld hat, das man irgendwohinpackt, um damit Geld zu verdienen . Das ist ein Na-turgesetz der Marktwirtschaft . Und darüber müssen wiraufklären . Im Übrigen gibt es nicht gute und schlechteFinanzprodukte, wie Sie versuchen, das den Menscheneinzureden .
– Nein, das Finanzprodukt, Herr Schick, richtet sich na-türlich am Ziel und am Anlegerkreis aus . Wenn Sie fürsich entscheiden, von Ihrem üppigen Einkommen hier imDeutschen Bundestag 1 000 Euro in ein hochriskantesGeschäft zu stecken, weil Sie die Hoffnung haben, dass aus den 1 000 Euro 100 000 Euro werden, dann ist dasIhre freie Entscheidung . Wenn ein anderer – weil er be-scheidener ist als Sie – entscheidet, die 1 000 Euro inein vermeintlich ganz sicheres Produkt zu packen, wo ernur 0,2 Prozent Zinsen bekommt, dann ist das seine ganzpersönliche Entscheidung . Und diese Entscheidung sollauch jeder Deutsche treffen können. Das wollen wir! Er muss nur wissen, wofür er sich entscheidet .
Er muss wissen, welches Produkt er kauft . Deswegenhaben wir gesagt: Es muss eine klare Aufklärung, großeWarnhinweise und eine Einschränkung der Vertriebswe-ge geben . Und die Werbung darf nicht mehr irreführen .Das gibt es in vielen anderen Bereichen des Lebens übri-gens auch, nur, im Finanzbereich sind die Auswirkungenbesonders elementar . Deswegen hat der Staat eingegrif-fen .Wir werden – ich will das abschließend noch erwäh-nen – weitere Gesetze beschließen . Wir machen geradedas Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz . Hier wer-den wir natürlich wieder hingucken, wo wir nachjustie-ren und an welchen Stellen wir den Entwicklungen fol-gen müssen, die der Markt in den letzten Monaten oderJahren genommen hat .Meine Damen und Herren, Ihre Forderung nach ei-nem Finanz-TÜV hört sich super an . Und ich sage nochDr. Frank Steffel
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einmal: Sie haben das lustig vorgetragen . Komplimentan Ihren Redenschreiber! – Sie haben den Menschen dasGefühl gegeben, man kann bei Finanzprodukten zwi-schen guten und schlechten bzw . sicheren und unsicherenunterscheiden . Meine Damen und Herren, so einfach istdie Welt nicht . Es wird immer unterschiedliche Finanz-produkte geben . Selbst die vermeintlich sichere Aktieder Deutschen Bank hat gerade in diesem Jahr bewiesen,dass es Risiken gibt . Und keiner weiß, wo der Kurs mor-gen steht . Denn wenn wir das wüssten, dann säßen wiralle nicht hier, sondern würden unser Geld entsprechendanlegen und ab morgen unser Leben in der Sonne ver-bringen . Insofern werden wir damit leben müssen, dasses Unsicherheiten gibt .Ein TÜV gaukelt Sicherheit vor, die es nicht gibt . Mankann Produkte nicht unterscheiden, indem man rote undgrüne Ampeln einführt . Ich komme zurück zu den Medi-kamenten . Sie können Medikamente nicht verbieten, nurweil eines von tausend möglicherweise Nebenwirkungenhatte, die wir alle nicht wollen . Dies gilt auch für Finanz-produkte .
Wir wollen Aufklärung und Sicherheit für die Verbrau-cher . Wir wollen, dass sich die Menschen bewusst füretwas entscheiden können . Deswegen werden wir weiterregulieren, aber nicht populistisch und einfach . So, wieSie mit Ihrem sozialistischen Weltbild sich die Welt vor-stellen, ist sie nicht .
Vielen Dank . – Das hat jetzt die Frau Karawanskij
dazu bewegt, eine Kurzintervention zu beantragen . Bitte
schön, Frau Kollegin .
Herr Steffel, erst einmal vielen Dank dafür, dass Sie
meinen Mitarbeitern zutrauen, eine Rede zu schreiben,
aber nicht mir . Das mache ich immer noch selber!
Zum anderen danke ich Ihnen dafür, dass Sie meine Rede
amüsant fanden . Ich denke angesichts des Amüsements
durch meine Rede: Sie hätten besser zuhören sollen . Ich
habe in meiner Rede und im Übrigen auch in unserem
Antrag – das lässt mich vermuten, dass Sie ihn doch
nicht gelesen haben – nicht davon gesprochen, dass wir
Finanzprodukte verbieten wollen; das ist überhaupt nicht
unser Anliegen . Unser Anliegen ist es, eine Zulassung für
Finanzprodukte mit einem Finanz-TÜV zu etablieren .
Das kommt keinem Verbot gleich; denn verboten werden
kann etwas erst, wenn es überhaupt existent ist . Vielmehr
geht es darum, dass es vorher zugelassen wird .
Sie haben es ja eben selber gesagt – ich habe es in
meiner Rede auch gewürdigt; das finden wir auch gut –,
dass für den Kleinanlegerschutz in dieser Legislaturpe-
riode schon viel gemacht worden ist . Wenn Sie sagen,
dass bereits so viele Regulierungen auf den Weg gebracht
worden sind, dann müssten Sie doch gar kein Problem
damit haben, wenn wir jetzt sagten: Wir sollten dieses
Hase-und-Igel-Spiel beenden . Wir sollten nicht immer
weiteren Novellierungsgesetzen – wenn ich es richtig
sehe, haben wir das Zweite Finanzmarktnovellierungs-
gesetz noch in dieser Legislaturperiode auf dem Tisch –
hinterherlaufen . Wir sollten dem Ganzen den Garaus
machen und einfach grundsätzlich festlegen – in anderen
Gesetzen tun wir es bereits –, dass Kleinanlegerinnen
und Kleinanleger dadurch geschützt werden, dass sie nur
das tatsächlich in die Finger bekommen, womit sie auch
umgehen können . Dafür sind natürlich gesunder Men-
schenverstand und Informationsblätter, die den Produk-
ten quasi als Beipackzettel beigefügt sind, notwendig .
Insofern brauchen Sie doch gar kein Problem mit dem
von uns geforderten Finanz-TÜV zu haben .
Herr Kollege Steffel.
Liebe Frau Kollegin Karawanskij, ich fand nicht Ihre
Rede, sondern einige Beispiele Ihrer Rede amüsant .
Was die Zulassung angeht, ist es ganz einfach: Eine
Zulassung von Produkten beinhaltet logischerweise die
Nichtzulassung von anderen Produkten, und die Nicht-
zulassung von anderen Produkten bedeutet de facto das
Verbot dieser anderen Produkte . Deswegen sage ich völ-
lig zu Recht: Sie wollen mit Ihrem Antrag Produkte ver-
bieten . Übrigens, Regelungen dafür gibt es . Wir sagen:
Das ist nicht die Lösung; lasst uns vielmehr aufklären .
Lasst uns schauen, dass wir einfach allen Menschen die
Möglichkeit geben, sich frei zu entscheiden und dabei
keinen Fehler zu machen . – Ich habe dazu das Nötige
gesagt .
Es ist Freitagmittag. Ich hoffe, dass Sie am Wochen-
ende darüber nachdenken und Montagmorgen schlauer
zurückkommen .
Jetzt hat der Kollege Dr . Gerhard Schick, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort . – Bitte schön .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Auseinandersetzung hat gerade schon gezeigt, dassdie Frage, wie viele Regeln es eigentlich braucht, wieviele Vorgaben der Staat machen soll, immer heiß um-stritten war . Wenn man sich anschaut, wie sich die CDU/CSU-Fraktion über Jahre hinweg gegen Verbote bei of-fensichtlich schlechten, nämlich intransparenten Finanz-produkten, die für die Kunden eindeutig gefährlich sind,gewehrt hat, dann merkt man: Es waren genau diesel-ben Argumente, die Sie heute vorgetragen haben, HerrSteffel. Sie haben heute zugegeben, dass Produktverbote Dr. Frank Steffel
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manchmal schon notwendig sind . Daher sage ich Ihnen:Wägen Sie Ihre Argumente noch einmal sehr gut . Es gibtnämlich sehr wohl schlechte Finanzprodukte .
Es gibt zu viele schlechte Finanzprodukte, nämlich sol-che, bei denen das, was das Finanzprodukt eigentlichausmacht, verschleiert wird, ohne dass der Kunde dasnachvollziehen kann . Von dieser Art Produkte gibt esHunderttausende in Deutschland .Damit sind wir bei einem Zustand, den man einfacheinmal sehen muss. Herr Steffel, Sie haben gesagt: Wir müssen aufpassen, dass wir schnell genug sind . – Leiderist der Staat unter dieser Bundesregierung nicht schnellgenug. Seit 2008 hat die Menge der Zertifikate, die in Deutschland zirkulieren, zugenommen .
Die Lebensversicherungen sind an vielen Stellen immernoch intransparent, und die Auszahlungen für die Kun-den sind nicht nachvollziehbar . Deswegen muss mansagen: Diese Regierung ist gegenüber dem Finanzmarktnicht schnell genug .
Was leistet jetzt ein Finanz-TÜV, wie er im Antragvorgeschlagen wird? Erst einmal möchte ich sagen: ImVergleich zu dem, was in der letzten Legislaturperiodevorgeschlagen wurde, gibt es eine entscheidende Ver-besserung: Sie setzen jetzt nämlich auf die europäischeEbene, weil wir einen europäischen Finanzbinnenmarkthaben – das haben Sie erkannt –, und deswegen wird einesolche Zulassung europäisch verankert sein müssen . DieFrage, inwieweit der Staat für das haftet, was er zugelas-sen hat, ist jetzt beantwortet – wunderbar .Es gibt trotzdem entscheidende Schwächen, und diemuss man sehen .Mein erstes Beispiel für diese Schwäche betrifft jetzt nicht den Verbraucherbereich, sondern Derivate wiezum Beispiel Kreditausfallversicherungen, die berühm-ten Credit Default Swaps . Was solche Absicherungsge-schäfte zwischen einzelnen Unternehmen und Bankenbetrifft, so sind das erst einmal Produkte, bei denen eine Behörde sagen würde: Das können wir zulassen . – Mög-licherweise können in einem Einzelfall zwischen Unter-nehmen, die genau wissen, was sie machen, bestimmteAbsicherungen Sinn machen . Wenn das aber zum Mas-sengeschäft wird und plötzlich ein Riesenmarkt darausentsteht, dann wird das in einer Immobilienkrise einemassiv gefährliche Geschichte . So gibt es verschiedeneProdukte, die in ihren Ursprüngen gar nicht mal völligverkehrt waren, als sie in Einzelfällen genutzt wurden,die aber in ihrer Gesamtwirkung für den Markt fatal wer-den können . Wenn Sie jetzt denken: „Wenn man dieseProdukte am Anfang einmal prüft, dann ist alles gut“,dann springen Sie eindeutig zu kurz . Vielmehr braucht esauch eine Kontrolle: Welche Entwicklungen gibt es amMarkt? Insofern ist diese makroökonomische Sicht, alsodie gesamtwirtschaftliche Sicht, die Frage „Was passiertam Finanzmarkt?“ und gegebenenfalls ein nachträglichesEingreifen, um Produkte aus dem Verkehr zu ziehen, dieeine gefährliche Wirkung haben, so wichtig . Das überse-hen Sie . Es braucht nicht nur einen Zulassungs- und Kon-trollprozess am Anfang, es braucht ihn auch, während dieProdukte laufen, und das fehlt .
Das Zweite, was mich nicht überzeugt, ist: Es gibtja bereits Kontrollen am Anfang, zum Beispiel die Pro-spektpflicht. In der Tat sehen wir auch da Nachsteue-rungsbedarf . Bisher ist das immer noch zu formal, undes wird zu wenig darauf geschaut, ob sich die Inhalte wi-dersprechen, ob es Hinweise auf Interessenkonflikte gibt. Viele Finanzprodukte sind als Produkt erst einmal okay .Nehmen wir den Bereich der Immobilienfinanzierung: Wenn derjenige, der ein solches Produkt anbietet, mitdem Bauträger, dem Vermieter und anderen am ProjektBeteiligten unter einer Decke steckt, sodass die Rendite,die normalerweise dem Anleger zugutekommen müsste,unter den anderen aufgeteilt wird, dann steckt das Pro-blem nicht allein im Produkt, sondern in dem, was insge-samt passiert . In diesem Fall darf man nicht nur auf dieProduktzulassung schauen, um beim Vergleich mit denArzneimitteln zu bleiben, sondern man braucht, wenn soetwas auf den Markt kommt, auch eine Kontrolle, dasses hier keine Interessenkonflikte gibt und der Anleger nachher nicht leer ausgeht, bis hin zu betrügerischen Ge-schäftsmodellen . Ich glaube, da greift der Vergleich mitden Arzneimitteln an dieser Stelle zu kurz .
Wenn man schon den Vergleich mit Arzneimittelnbemüht, dann muss man sagen: Auch im Finanzbereichgibt es einen Beratungsprozess . Viele Produkte sind fürmanche Kunden grundsätzlich in Ordnung, erreichenaber auch die völlig falschen Kunden . An der Stelle mussman die Frage der Zulassung zusammendenken mit demganzen Beratungsprozess . Hier ist Kritik daran zu üben,wie es heute in Deutschland läuft . Wir haben das Provisi-onsunwesen immer noch nicht überwunden, obwohl wirschon seit acht Jahren, seit Ausbruch der Finanzmarkt-krise, hier intensiv darüber diskutieren . Es gibt immernoch Leute, die es schützen wollen – in Brüssel und inDeutschland. Dazu gehören leider das Bundesfinanz-ministerium und insbesondere die CDU/CSU-Fraktion .Auch da müsste dringend etwas getan werden . Wir müs-sen also die Dinge in einem größeren Zusammenhang se-hen und vorher und nachher eingreifen . Dann kann manden Zustand überwinden, dass es immer noch zu vieleschlechte Produkte für die Anleger gibt .Danke .
Vielen Dank . – Jetzt hat für die SPD-Fraktion SarahRyglewski das Wort .
Dr. Gerhard Schick
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger auf der Tribüne!Finanz-TÜV – Kompliment an die Linken – ist ein tollerBegriff. Wir alle können uns etwas unter TÜV vorstellen. Wenn wir uns in ein TÜV-geprüftes Auto setzen, dannwissen wir, dass es sicher ist, dann haben wir Vertrauen .Was könnte man denn grundsätzlich dagegen sagen, einesolche Prüfung, die wir in Deutschland immerhin schonseit mehr als 100 Jahren mit Verlässlichkeit und Sicher-heit verbinden, auch für Finanzprodukte einzuführen?Ich sage es Ihnen: Bei genauerer Betrachtung –, das kamja schon in den vorherigen Redebeiträgen zur Sprache –ist es nämlich so, dass dieses Sicherheitsversprechennicht viel mehr bietet als diesen griffigen Namen.Das, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, ist leidernur eine Scheinlösung, die viel verspricht, den Anlege-rinnen und Anlegern aber nur eine gefährliche Scheinsi-cherheit bietet . Wirkliche Verbesserungen erreichen wirnur, indem wir die Transparenz für Anlegerinnen und An-leger erhöhen, vor allem aber eine gute Beratung sicher-stellen, weil nicht jedes Finanzprodukt für jeden geeignetist, und indem wir weiterhin für eine effektive Aufsicht sorgen .
Sie hingegen fordern eine Zulassungspflicht für Fi-nanzprodukte und führen als Begründung an, dass esdiese auch für Medikamente und technische Produktegebe . Leider muss ich Ihnen sagen: Pillen und Policensind sich in etwa so ähnlich wie Äpfel und Birnen . DerVergleich zwischen der Zulassung von Medikamentenund der Zulassung von Finanzprodukten hinkt einfach .Bei einer Pille kann ich ganz konkret bestimmte Folgenabsehen; ich kann sie an Probanden testen . Bei einem Fi-nanzprodukt muss ich mich auf eine Prognose beschrän-ken . Ich weiß nicht, wie viel Erfolg ein Unternehmenhat, ich weiß nicht, ob es Zukunft hat, und ich weiß auchnicht – das hat Herr Kollege Dr . Schick dargestellt –, obsich möglicherweise Produkte, die für einen einzelnenVerbraucher geeignet sind, in der Summe zu einem Pro-blem aufbauen . Deswegen ist das eine Scheinsicherheit .Finanzmärkte und Risiko sind eben untrennbar miteinan-der verbunden .Hinzu kommt, dass wir Leute möglicherweise mitProdukten locken, die für sie gar nicht geeignet sind,weil der Stempel „sicher“ darauf ist: staatlich geprüft .Der TÜV hat es geprüft; das kennen wir vom Auto . Daskann man also machen . – Das wollen wir nicht .Es wird argumentiert, man könne die Haftung desStaates dafür ausschließen . Das kann man juristischmöglicherweise machen; das will ich nicht ausschließen .Trotzdem ist es so, dass, wenn wir den Finanz-TÜV ein-richten und es ein Problem gibt, das nicht der Kontrolleder Einrichtung unterliegt, alle mit dem Finger auf dieseEinrichtung zeigen werden . Ihr Vertrauen wäre dann un-tergraben, und wir wären keinen Schritt weiter .Etwas anderes, was ich sehr kritisch finde, ist, wie Sie mit den Etiketten „Verbraucherrelevanz“, „Verbrau-cherfreundlichkeit“ und „Verbraucherschutz“ umgehen .Ich frage mich: Was ist denn eine verbraucherfreundli-che Geldanlage? Ist ein Sparbrief mit mageren 0,1 Pro-zent Zinsen verbraucherfreundlich? Ist ein kompliziertesZertifikat, das mir aktuell 5 Prozent Rendite verspricht und bei dem mir ein geringes Risiko zugesichert wird,verbraucherfreundlich? Was ist mit einem Nachrangdar-lehen für ein junges ökologisches Unternehmen? Ist dasverbraucherfreundlich? Ob ein Produkt geeignet ist, daskommt auf den Verbraucher an und darauf, was er möch-te .
Ich würde nicht jedem empfehlen, in Crowdfunding zuinvestieren . Aber wenn jemand sagt: „Ich habe in mei-ner Nachbarschaft jemanden, der ein innovatives Produktentwickelt hat, das ich unterstützen möchte“, dann würdeich sagen: Das Risiko ist möglicherweise relativ hoch;aber wenn du Interesse an dem Produkt hast und Geldübrig hast, dann investiere .Für uns heißt verbraucherfreundliche Kapitalanlage:Jeder bekommt das Produkt, das zu ihm passt .
Dafür braucht man in erster Linie eine gute Beratung .Wir sollten Anlegerinnen und Anleger nicht in falscherSicherheit wiegen, noch sollten wir für sie entscheiden,wie sie ihr Geld investieren sollen .In der Realität – das stört mich generell an Ihren An-trägen – gibt es nicht die eine große Lösung, mit der alleRisiken von den Kapitalmärkten verschwinden und je-der Anleger sein Geld ohne Risiko, dafür aber mit hohenRenditen anlegen kann . In der Praxis führt nur das Ne-beneinander und Miteinander verschiedener Maßnahmenzu einem verbesserten Schutz von Verbraucherinnen undVerbrauchern . Daran arbeiten wir in dieser Koalition inDeutschland und in Europa . Unsere Ziele sind deswegenTransparenz, eine effektive Aufsicht der Finanzmärkte und vor allem – das habe ich vorhin schon gesagt – einegute Beratung, damit jeder das Produkt bekommt, das zuihm passt .Mit dieser Koalition ist hier einiges passiert; Herr Kol-lege Steffel hat das schon ausgeführt. Wir haben viele Produkte, die bisher nur unzureichend reguliert werden,aus dem Zwielicht des Grauen Kapitalmarkts geholt . Wirstellen sicher, dass sie nicht mehr auf Kleinanlegerinnenund Kleinanleger losgelassen werden, indem wir gesagthaben: Diese Produkte sind für diesen Anlegerkreis nichtgeeignet . – So können Anlegerinnen und Anleger bessereinschätzen, welche Chancen und Risiken sich hinterProdukten wie Nachrangdarlehen oder Crowdinvest-ments verbergen .Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen zu-dem laufend über auftretende Problem informiert wer-den . Auch hier haben wir etwas getan . Das Thema Ri-sikoklassen habe ich schon angesprochen; dadurchwird es leichter, sich im Dschungel der Finanzproduktezurechtzufinden. Das Thema „Kosten von Produkten“
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werden wir weiter angehen . Wir haben die Aufsicht, dieEingriffsmöglichkeiten der BaFin weiter verbessert; das muss ich nicht weiter ausführen . Es ist ja nicht so, dassdas ein stumpfes Schwert ist . Sie macht von ihren Mög-lichkeiten Gebrauch . So ist die BaFin beispielsweise beiBonitätsanleihen und Differenzkontrakten schon tätig geworden . Wir werden weiter beobachten, was passiert .Ich möchte zum Schluss noch auf das Thema Be-ratung eingehen . Ich bin mit dem Kollegen Dr . Schickvöllig einer Meinung: Wir müssen dafür sorgen, dass dieBeratung weiter verbessert wird . Für mich heißt das ganzklar, dass wir das Thema Honorarberatung bzw . unab-hängige Beratung – das ist eigentlich der richtige Begriff; Honorar beratung unterstellt ja immer, dass das andereumsonst ist – weiter voranbringen müssen . Ich würdemich freuen, wenn bei den Kolleginnen und Kollegenvon der Union noch ein bisschen mehr Offenheit und Be-reitschaft vorhanden wären, hier weiterzukommen . Alsersten Schritt sollten wir im FiMaNoG festlegen, dassdie Kosten und die Interessenlage bei provisionsbasierterBeratung offengelegt werden, damit eine Vergleichbar-keit gewährleistet werden kann .
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich Ihr Verspre-
chen einhalten, zum Schluss zu kommen .
Genau . – Deswegen mein Appell: Wir debattieren
in der nächsten Woche hier im Plenum über das Zwei-
te Finanzmarktnovellierungsgesetz . In den Beratungen
sollten wir das Thema dann angehen . Finanzmarktno-
vellierungsgesetz klingt vielleicht nicht so sexy wie Fi-
nanz-TÜV, ist aber wahrscheinlich deutlich wirksamer .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat Dr . Volker Ullrich, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Antrag der Linken, einen Finanz-TÜV ein-zuführen, zielt darauf ab, dass Finanzprodukte zukünftignur noch auf den Markt kommen dürfen, wenn sie vorherzugelassen wurden . Der Hintergrund dieser Regelung istin der Tat ein Ärgernis . In den vergangenen Jahren gabes gerade im Bereich des sogenannten Grauen Kapital-markts Vorkommnisse, die uns als Gesetzgeber nicht zu-friedenstellen können: Schiffsfonds mit hohen Verlusten, Schrottimmobilien, die viele Kleinanleger in die Pleitegetrieben haben, Abschlüsse von Verträgen, bei denenlediglich das Provisionsinteresse im Vordergrund standund nicht das Interesse des Anlegers, und auch betrügeri-sche Fonds, deren Vorgehen im Augenblick strafrechtlichaufgearbeitet wird .So ärgerlich diese Vorkommnisse auch waren, so är-gerlich ist es auch, dass Sie in Ihrem Antrag nicht deutlichmachen, dass die Große Koalition auf diesen Missstandbereits geantwortet hat . Es sind viele Gesetze erlassenworden, mit denen wir auf diese Missstände reagiert ha-ben, zum Beispiel das Kleinanlegerschutzgesetz mit ei-ner strikteren Prospekthaftung und mehr Befugnissen fürdie BaFin . Es gibt seit vielen Jahren in Deutschland einAltersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz, mit dem gerade die Produkte der Altersvorsorge unter eine ganzbesonders strenge Prüfung gestellt werden . Wir debattie-ren in der nächsten Woche im Deutschen Bundestag überdas Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz, und im Be-reich des Verbraucherschutzes gibt es seit einigen Jahrendie Marktwächter, die ganz deutlich darauf hinweisen,welche Produkte für Verbraucher geeignet sind und wel-che nicht . Diese Art der klugen Regulierung zeigt, dassder Gesetzgeber aus den Missständen gelernt hat, und erhat gehandelt . Zu sagen, es sei nichts passiert, ist allen-falls populistisch, meine Damen und Herren .
Ihr Finanz-TÜV wird von einer ganz anderen Grund-haltung getragen . Sie sagen explizit: Alles, was nicht aus-drücklich erlaubt ist, ist verboten . Dem liegt im Grundegenommen ein ganz anderer Geist, eine andere Haltungzu Fragen der Freiheit und der sozialen Marktwirtschaftzugrunde . Ich sage Ihnen ehrlich: Ihre Haltung gegen-über Freiheit und Marktwirtschaft ist nicht unsere Hal-tung . Das ist Staatsdirigismus, und den lehnen wir ent-schieden ab .
Ihr Konzept wird auch nicht funktionieren, weil eineUmsetzung in der Praxis nicht zu leisten ist . Sie schlagenvor, eine Produktanlage aus Deutschland von einer Be-hörde mit Sitz in Paris prüfen zu lassen . Von den sprachli-chen Schwierigkeiten bei einem französischen, portugie-sischen oder finnischen Mitarbeiter ganz zu schweigen, beantworten Sie die praktischen Fragen nicht, zum Bei-spiel, wie es funktionieren soll, dass sich Mitarbeitereiner europäischen Behörde in jedes Geschäftsmodelleinarbeiten .
Die praktischen Schwierigkeiten dieses Modells habenSie nicht einmal im Ansatz umrissen . Aber Sie bekom-men die Schwierigkeit, dass Sie die Haftung des Staates,selbst wenn Sie sie am Anfang vielleicht rechtlich aus-schließen wollen, tatsächlich nicht ausschließen können,wenn der Staat einem Produkt seinen Stempel aufdrückt;denn dann wird jeder Kleinanleger, bei dem sich dasRisiko verwirklicht hat, nicht beim Emittenten Regressnehmen, sondern den Staat in Anspruch nehmen . DerSarah Ryglewski
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Staat haftet aber nicht für das Versagen einer Kapitalan-lage . Das ist nicht unser Verständnis .
Sie müssen das einmal plastisch sehen . Ich erkläre esIhnen ganz einfach:
Wenn in einem Restaurant oder in einer Gaststätte jederfür sich selbst bezahlt, ist der Umsatz meistens geringer,als wenn einer die Runde schmeißt und jeder so viel neh-men kann, wie er möchte . So wird es auch im Bereich derFinanzprodukte sein . Wenn der Staat haftet, dann werdendie Emittenten im Endeffekt ein höheres Risiko einge-hen, als wenn der Staat nicht haften würde, weil ebenletzten Endes der Staat dahintersteht . Die Frage des Risi-kos haben Sie völlig ausgeblendet .
Wir setzen auf das Konzept einer vernünftigen Regu-lierung . Wenn Betrug vorliegt, schaltet sich der Staatsan-walt ein . Wenn Angaben im Prospekt nicht ordnungsge-mäß gedruckt sind, kann die BaFin das Produkt bereitsjetzt aus dem Verkehr ziehen .
Wir sagen aber auch ganz ehrlich, dass es in unsererVolkswirtschaft einen Bedarf an Kapitalanlagen, dieMöglichkeit des Einsammelns von Geld gibt, und zwar,weil wir es für Investitionen benötigen . Ich nenne Ih-nen nur eine Zahl aus dem Bereich der Start-ups: ImJahr 2015 ist im gesamten Silicon Valley die Summe von34 Milliarden Dollar an Wagniskapital eingesammeltworden, um Start-ups, neue Firmen zu finanzieren. Im gleichen Zeitraum sind in ganz Deutschland nur 4 Mil-liarden Euro eingesammelt worden . Das heißt, allein imSilicon Valley war es achtmal so viel . Wir brauchen auchin Deutschland eine Kultur des Geldeinsammelns – fürStart-ups, für neue Ideen, für neue Firmen und für jungeGründer . Diese Idee würden Sie zunichtemachen, wennSie letztendlich den Staat für die Geschäftsidee eines jun-gen Unternehmers verantwortlich machten . Das ist nichtunsere Vorstellung von einer vernünftigen Finanzarchi-tektur .
Wir entlassen – das dürfen wir auch nicht – vor demHintergrund unserer Vorstellungen die Menschen nichtaus der Verantwortung . Es gilt der Satz, dass jeder nurdas Produkt kaufen soll, das er selbst versteht und be-urteilen kann . Die Eigenverantwortung des Verbrauchersist die notwendige Kehrseite des staatlichen Schutzes,den wir leisten . Nur notwendige Eigenvorsorge und klareund strikte Regeln zusammen ergeben eine Finanzmarkt-und Kapitalmarktarchitektur, die wirklich vernünftig ist .Lassen Sie uns deswegen an klugen und praxistauglichenRegelungen weiterarbeiten, an Regelungen, die einer-seits verhindern, dass betrügerische Produkte auf denMarkt kommen, die uns andererseits aber Luft lassen,damit wir Investitionen tätigen und Kapital einsammelnkönnen, um damit zum Wohlergehen unserer Volkswirt-schaft beizutragen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist Herr Kollege Christian Petry, SPD-Frak-
tion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal habe ich mich gefragt, was derAnlass war, dass wir zum heutigen Zeitpunkt, da DonaldTrump Präsident wird, über den Finanz-TÜV reden . Viel-leicht ist das Zufall; ich weiß es nicht genau . Ich habedarauf noch keine Antwort gefunden .Die Kritik, dass es dubiose Praktiken bei der Finanz-anlagevermittlung und undurchsichtige Finanzvehikelgibt, ist absolut berechtigt . Der Graue Kapitalmarkt hatuns hier schon oft in Debatten beschäftigt . Wir hattenProdukte, die tatsächlich kritisch waren . In Ihrem Antragwird auch Prokon genannt . Das war jetzt nicht unbedingtein klassisches Produkt des Grauen Kapitalmarkts . DieHinweise waren alle da . Es wollte sie nur niemand lesen;denn 10 Prozent Zinsen sind so verführerisch, dass mandas Kleingedruckte oder auch das größer Gedruckte nichtmehr liest . Von daher muss man immer aufpassen, wieman argumentiert . Das passt also als Beispiel nicht, dasThema als solches letztlich aber schon .Wir haben hier im Bundestag in vielfältiger WeiseRegularien beschlossen . Das Kleinanlegerschutzgesetz,durch das wir Finanzprodukte transparenter gemacht ha-ben, ist genannt worden . Wir haben auch bezüglich desWertpapiergeschäfts Regelungen und Gesetze geschaf-fen. Wir haben die Pflicht, ein Protokoll über das Bera-tungsgespräch zu verfassen, eingeführt bzw . verbessert;das war ein wesentlicher Schritt . Wir haben hinsichtlichder Honoraranlagenberatung seit 2014 ein Gesetz, durchdas die unabhängige Finanzberatung, die Vermittlungvon Wertpapieren und Vermögensanlagen geregelt wird .Ich glaube, seit der Finanzkrise ist es Daueraufgabe desDeutschen Bundestages, hier Regelungen zu implemen-tieren .Ziel dieser Regelungen sind die Stärkung der Integritätder Finanzmärkte und die Verbesserung der Transparenzfür Anlegerinnen und Anleger . In der kommenden Wo-che – es ist hier genannt worden – fällt der Startschuss fürdie Beratungen zum Zweiten Finanzmarktnovellierungs-gesetz, dem FiMaNoG 2 . Das ist ein Mammutwerk; dieVorlage umfasst 500 Seiten . Darin sollen, wenn man esgenau betrachtet, über 80 Rechtsfelder neu geregelt bzw .verbessert werden . Die Finanzmarktrichtlinie MiFIDund die Durchführungen dazu in der MiFIR werden dieMärkte grundlegend noch transparenter und noch kon-Dr. Volker Ullrich
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trollierter machen . Das ist ein ganz wesentlicher Schritt .Wir werden sehr intensiv beraten müssen, wie weit wirda gehen .Es ist in der Tat so, dass wir die Märkte nicht über-regulieren wollen, sodass sie nicht mehr funktionieren .Ein Spannungsfeld muss es geben . Die Verbraucher ha-ben selbstverständlich auch Verantwortung; das ist ganzklar . Hier ist niemand blauäugig . Wir wissen: Egal, waswir an Regelungen einbringen, wenn jemand hohe Zins-versprechen macht, wird es immer wieder welche geben,die darauf hineinfallen. Zins ist Ausfluss von Risiko; das ist eine Binsenweisheit . Aber es ist sehr verführerisch,wenn jemand sagt: Statt 0,1 Prozent auf eurem Sparbuchbekommt ihr 8 Prozent bei der Anlage, und alles ist si-cher . – Herr Dr . Meister wird mir zustimmen können,dass es immer wieder solche Fälle gibt und dass es immerwieder Risiken gibt . Die BaFin hat ja tagtäglich damitzu tun .Ich denke, dass die Geeignetheitsprüfung für jedesProdukt durch die FiMaNoG-2-Novelle letztlich deutlichgestärkt wird . Wir werden bessere Beratungsprotokollehaben. Zielmärkte werden definiert werden. Zu den An-forderungen an die Finanzvermittler werden umfassendeProduktinformationen gehören . Die Qualität der Anla-geberatung wird deutlich erhöht . Wir werden letztlichdie Honorarberatung auf europäischer Ebene einführen .Die Möglichkeit von unabhängigen Finanzvermittlern,Provisionen anzunehmen, wird eingeschränkt . SolcheZuwendungen dürfen in Zukunft nur noch unter ganz be-stimmten Bedingungen erhoben und einbehalten werden .Durch diese Regelungen wird es stärkere Offenlegungs-pflichten geben, und der Markt wird für den Anleger transparenter und damit auch sicherer .
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken forderneine Ausweitung der Kompetenzen auf europäischerEbene, auf europäische Aufsichtsbehörden . Die Wert-papieraufsicht ESMA wird genannt . Sie soll zusammenmit der Bankenaufsicht EBA und der Versicherungsauf-sicht EIOPA Produkte zulassen . Das wird technisch ganzschwer . Das ist ein Vorschlag, über den man reden kann .Aber angesichts des Geflechts, das dahintersteht, halte ich es für sehr schwierig, solche Produkte spontan – imCrowdfunding muss es eben schnell gehen – effektiv und effizient zu regeln. Gleichwohl ist natürlich die Idee eines Finanz-TÜVs nicht ganz abwegig . Darüber kannman reden . Es waren die Verbraucherschützer, die die-sen Begriff zum ersten Mal verwendet haben und vorge-schlagen haben, das auf europäischer Ebene zu tun . Wirwerden im Verfahren darüber diskutieren . Die Diskussi-on ist durchaus offen. Aber ich halte das, was wir auf der Ebene der Bundesrepublik Deutschland schon allesgemacht haben und machen werden, durchaus für effek-tiv . Ich würde zunächst abwarten wollen, wie sich dasauswirkt . Es wirkt sich sehr positiv aus . Trotzdem stehenspannende Gespräche im Fachausschuss an . Darauf freu-en wir uns alle .Glück auf!
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage aufDrucksache 18/9709 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse zu überweisen . – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden . Dann ist die Überweisung so be-schlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragtenJahresbericht 2015
Drucksachen 18/7250, 18/9768Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Auch hier gibtes keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehr-beauftragte des Deutschen Bundestages, Herr Dr . Hans-Peter Bartels .Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit Abgabe meines Jahresberichts für 2015 ist einigesgeschehen: auf der Weltbühne noch mehr Risiken, nochmehr Unberechenbarkeit, noch mehr Erwartungen anDeutschland und in der deutschen Politik ein sehr brei-tes Bekenntnis zur gewachsenen Verantwortung und zurStärkung der Bundeswehr . Unsere Soldatinnen und Sol-daten müssen die Mittel bekommen – personell, materi-ell, finanziell –, die sie brauchen, um ihre zunehmenden und sehr unterschiedlichen Aufträge gut erfüllen zu kön-nen .Ich freue mich, dass das Parlament hier in wichtigenBereichen der Antreiber ist – Stichwort „materielle Voll-ausstattung“ –, aber auch bei Fragen der Attraktivität –Stichwort „Trennungsgeld/UKV“ . Außerdem gibt esFortschritte beim Dauerthema Radaropfer. Der Begriff „Parlamentsarmee“ wird hier sehr gut mit Inhalt gefüllt .Es geht eben nicht nur um die Beschlussfassung überAuslandseinsätze, sondern ganz grundsätzlich um Ver-antwortung für die Soldatinnen und Soldaten . Das ist un-sere gemeinsame Aufgabe .Im letzten Bericht hatte ich unter anderem die Per-sonalausstattung unserer Flugabwehrraketenkräfte the-matisiert . Die Einsatzintervalle bei Active Fence in derTürkei waren für viele Soldatinnen und Soldaten zu kurz .Es gab zu wenig Regeneration, zu wenig Personal . Wennich jetzt in der „Trendwende Personal“ lese, dass dasFlaRak-Geschwader künftig um 400 Dienstposten aufge-stockt wird, macht mich das froh . Die Richtung stimmt .Hoffentlich kommt das Personal auch, und zwar bald.Personalgewinnung, Personalbindung und Attrak-tivität – das zusammen ist ein Riesenthema . Die dazuim letzten Jahr beschlossenen Verbesserungen sind allenützlich . Aber viele Bestandssoldaten – Portepee-Un-Christian Petry
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teroffiziere, Fachdienstoffiziere – sagen, dass sie noch nichts von verbesserter Attraktivität merken . Woran liegtdas? Sollten wir uns hier nicht noch einmal zusätzlicheGedanken machen? Ganz gewiss spielt für die Attrak-tivität des Dienstes das Schließen der materiellen undpersonellen Lücken eine zentrale Rolle . Das ist militä-rischer Kernbereich . Dazu kommen die Belastungen desPendelns für sehr viele Soldatinnen und Soldaten undihre Familien sowie die Unsicherheit über Verwendung,Versetzung, Beförderung und letztlich die Dauer derDienstzeit . Altersgrenzen vertragen keine Spekulationen .Soldaten wollen Planungssicherheit .Eine besondere Aktivität, die 2015 begonnen hat,läuft jetzt aus . Das ist die Flüchtlingshilfe . Im nächstenBericht werde ich einige Anmerkungen dazu machen .Hier möchte ich Ihnen nur weitergeben, was der Leiterdes Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, mir dazu geschrieben hat . Er schreibt:Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leis-ten im Bundesamt in Haltung, Einstellung und inder Qualität der Arbeit einen unschätzbaren Beitrag .Die Mobilität und Flexibilität, die sich durch die-se personelle Unterstützung für das BAMF ergibt,ist … von hoher Bedeutung . Es bestätigt das besteBild, welches wir von unserer Bundeswehr haben .So weit Herr Weise . Ich glaube, wir alle stimmen ihm zuund sagen: Danke!
Danke für das große Engagement Tausender Soldatinnenund Soldaten bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise!Im nächsten Bericht – ich übergebe ihn nächste Wo-che – wird der Soldatenarbeitszeitverordnung ein Kapitelgewidmet sein . Sie war 2015 in der Bundeswehr nochkein Thema, insofern auch nicht in meinem Bericht .Vielleicht war das ein Fehler; bessere Vorbereitung hättehelfen können . So muss jetzt, wie es dann immer heißt,nachgebessert werden . Aber bitte ohne schuldhaftes Zö-gern! Kleinkariertheiten im Regelungswesen gehen im-mer zulasten der Soldaten .Wir reden in diesen Tagen auch über die Erweiterungdes deutschen Engagements in Mali . Parallelen zu Afgha-nistan kommen einem da fast reflexartig in den Sinn, und sie werden genauso reflexartig offiziell zurückgewiesen. Klar, jeder Einsatz ist anders . Aber Lektionen, die wir ausAfghanistan lernen können, sollten wir nicht ignorieren .Es fehlt auch in Mali bisher an gemeinsamer Führungoder wenigstens starker Koordination der unterschiedli-chen militärischen Bemühungen von UNO, EU, franzö-sischer Armee, malischer Armee und all der zusätzlichenzivilen Hilfe, die ins Land kommt . Der vernetzte Ansatzbzw . – international gesprochen – der ComprehensiveApproach braucht mehr als guten Willen . Er braucht ver-bindliche Strukturen . Unsere Soldatinnen und Soldatenwollen, dass ihr Einsatz in Mali erfolgreich ist . Kümmernwir uns also auch um die Strukturen, die einen Erfolg inMali möglich machen .Ich möchte hier noch ein Thema ansprechen, dasebenfalls nicht im alten Jahresbericht erwähnt ist, son-dern gerade jetzt recht aktuell geworden ist: den soge-nannten Verhaltenskodex . Ich verstehe, dass Sie, FrauMinisterin, auf die Vorschläge der Müller-Kommissionpositiv reagieren wollten .
Dabei geht es um das Rüstungs- und Beschaffungswesen der Bundeswehr . Hier können wir uns alle in der Tat man-ches vorstellen, was noch besser zu regeln wäre . Aberwas, bitte schön, soll der Panzergrenadier in Hagenowdavon halten, wenn er auf solche Compliance-Kauder-welsch-Sätze verpflichtet werden soll wie – ich zitiere einen – „Wir wollen die strategische Koordination vonPolitikfeldern, die Realisierung von politischen Zielen,Schwerpunkten und Programmen und die internationaleZusammenarbeit gestalten“?
Wer ist „wir“? Was soll die Truppe mit solchem Agen-tur-Blabla? Was machen die Soldatinnen und Soldatenbisher falsch, dass sie jetzt so einen Verhaltenskodexbekommen sollen? Wenn diese fünf Seiten eng geschrie-bener Text die Lösung sind, was war dann eigentlich dasProblem?Soldaten schwören oder geloben; da geht es um Rechtund Freiheit . Auch die Beamten der Bundeswehr schwö-ren übrigens einen Eid . Alle Rechtsverhältnisse der Sol-daten sind durch das Grundgesetz, durch Bundesgesetzeund durch eine Vielzahl von Erlassen und Bestimmungengeregelt .
Keine Behörde, keine Firma hat präzisere Regeln alsdie Bundeswehr . Ich meine, das reicht . Unsere Soldatin-nen und Soldaten sind mündige Bürger, Staatsbürger inUniform . Sie folgen den Grundsätzen der Inneren Füh-rung . Das heißt, dass sie in aller Loyalität auch berech-tigt sind, Kritik zu üben, auch zum Beispiel gegenüberBundestags abgeordneten . Unsere Soldatinnen und Sol-daten verdienen Vertrauen . Deshalb: Lassen Sie uns bittenoch einmal darüber reden, wo wirklich etwas geregeltwerden muss und wo nicht .
Für die Arbeit am Bericht und die Umsetzung vielerHinweise und Empfehlungen danke ich meinen Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern im Amt, den Zuständigenin Ministerium und Bundeswehr und den Berichterstatte-rinnen und Berichterstattern der Fraktionen . Die Zusam-menarbeit ist wirklich kollegial und konstruktiv; auchdas macht mich froh .Vielen Dank .
Dr. Hans-Peter Bartels
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Vielen Dank . – Für die Bundesregierung hat jetzt Bun-desministerin Dr . Ursula von der Leyen das Wort .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Lieber Herr Bartels, Herr Wehrbeauftrag-ter! Ich fange mit dem Jahresbericht 2015, über den wirhier diskutieren, an . Wir müssen vielleicht irgendwanneinmal ein anderes Tempo hinbekommen, auch im Hin-blick auf die Debatte; denn es ist für uns alle, glaubeich, nicht ganz einfach, über den Jahresbericht 2015 zudiskutieren, wenn schon nächste Woche der berechtigte,wichtige Jahresbericht 2016 übergeben wird . Aber das istein Wunsch, den wir vielleicht gemeinsam voranbringenkönnen .Im Jahresbericht 2015 schreiben Sie – ich zitiere, HerrWehrbeauftragter –:Wir leben in unruhigen Zeiten . Sicherheitspolitischbewegt sich gerade sehr viel in Europa und welt-weit .Daran hat sich, wie Sie eingangs sagten, nicht viel geän-dert . Sie schreiben weiter, die Bundeswehr habe „in ei-nigen Bereichen inzwischen ihr Limit erreicht, personellund materiell“ . Ihre Schlussfolgerung lautet:Die Bundeswehr hat von allem zu wenig .In der Tat schreiben wir jetzt das Jahr 2017 . Ich möchtefesthalten: Ihre damalige Bestandsaufnahme war richtig;das ist gar keine Frage . Wir haben viel darüber in diesemHohen Hause gesprochen . Aber wir alle haben hart darangearbeitet, dass inzwischen – ich darf es so formulieren –von allem mehr da ist . Das fängt mit dem Geld an . Ichbin sehr erfreut gewesen, dass wir im Jahr 2016 zeigenkonnten – der Finanzminister hat den Jahresabschlussam Mittwoch vorgestellt –, dass wir eine Punktlandunghingelegt haben und dass wir in der Tat effizient sowie effektiv mit dem Geld umgehen. Wir haben sogar etwas mehr ausgegeben, als geplant war, nämlich 850 Millio-nen Euro . Wir wissen: Das ist ein Fortschritt, denn es warin anderen Zeiten schon anders .Der Haushalt 2017 umfasst rund 37 Milliarden Euro .Das ist ein Rekordwert in der Geschichte der Bundes-wehr . Ich möchte heute nicht über die Trendwende „Fi-nanzen“, ich möchte nicht über die Trendwende „Mate-rial“, die auch zu sichtbaren und messbaren Ergebnissengeführt hat, sprechen, sondern ich möchte, Herr Wehrbe-auftragter, meine Damen und Herren, darauf fokussieren,wo in der Tat das Zentrum das Berichts liegt, nämlich aufdas Personal, die Menschen in der Bundeswehr .Sie sagen zu Recht: Lücken identifizieren, Menschen ansprechen, anwerben, ausbilden, halten – die gan-ze lange Kette . Ich bin sehr froh, dass wir zum erstenMal in der Geschichte der Bundeswehr eine umfassen-de und vorausschauende Personalstrategie eingerichtethaben . Im letzten Jahr haben wir erstmals die Grundla-gen vorgestellt . Damit gibt es zum ersten Mal eine mit-telfristige Finanzplanung nach vorn . Damit wissen wir,wie die nächsten sieben Jahre anhand der Daten, die wirheute schon festlegen, aussehen, wo wir bereits Lücken,Schwierigkeiten und Probleme ausmachen können undwas wir dagegen zu tun gedenken .Sie wissen, dass das erste Personalboard im letztenJahr gezeigt hat, dass wir einen strukturellen Bedarf vonzusätzlich rund 7 000 militärischen und rund 4 400 zivi-len Stellen haben . Ich bin dem Hohen Haus sehr dankbar,dass dies in unsere haushälterische Planung aufgenom-men worden ist .Das zweite Personalboard – es kommt in diesemJahr – wird sich damit befassen, welche Personallückenwir in den einzelnen Bereichen haben . Nicht überall istes knapp . Zum Teil gibt es einige seltene Ausnahmen, wowir gut aufgestellt sind und genug, wenn nicht sogar zuviel haben . Wir werden gezielt deutlich machen, wo dieLücken sind .Das hat sich natürlich mit der Einführung der Sol-datenarbeitszeitverordnung abgezeichnet . Sie hat dassichtbar gemacht . Sie hat aber nichts Neues eingeführt,etwa dass Soldatinnen und Soldaten abgezogen oder zu-sätzlich eingeführt würden . Sie hat sichtbar gemacht, wobisher immer schon eklatante Lücken gewesen sind, dieaber dadurch überdeckt worden sind, dass Soldatinnenund Soldaten schlicht und einfach Mehrarbeit machenmussten . Keiner hat das gemessen .Wir sehen jetzt Lücken aufgrund der Soldatenarbeits-zeitverordnung . Sie hat diese Lücken aber nicht verur-sacht . Wir sehen, dass der Dienstherr durch die Lebens-arbeitszeit von Soldatinnen und Soldaten subventioniertworden ist . Das wollen wir ändern .
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Dienst-herr nicht dauerhaft Personalmangel durch Mehrarbeitkompensieren kann . Es muss ein nachvollziehbares undverlässliches Maß und eine Mitte geben zwischen demDienst, der notwendig ist, der Erholung, die notwendigist, und gelegentlich angeordneter Mehrarbeit . Sie mussdann durch Freizeit oder finanziell ausgeglichen werden. Aber klar sein muss, dass dort gemessen wird .Wenn es objektiv Lücken gibt – diesen Punkt betrach-ten wir jetzt –, muss es mehr Personal geben . Jetzt wächstdie Bundeswehr endlich wieder . Ich will Ihnen einigeZahlen nennen . Mit Stand vom 31 . Dezember 2016 wa-ren wir bei 168 342 Soldatinnen und Soldaten . Wir hättengerne mehr, und wir brauchen mehr; ja, gar keine Frage .Aber eines ist wichtig: Es geht in die richtige Richtung,nämlich bergauf .Um einige Zahlen zu nennen: Allein in den letz-ten sechs Monaten haben wir einen Aufwuchs von1 800 Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten erreicht .Die Einplanungen der Zeitsoldaten sind im letzten Jahrum 16 Prozent gestiegen. Bei Offizieren gibt es ein Plus von 21 Prozent, bei den Mannschaften von 18 Prozent .Besonders erfreulich: Bei den Feldwebeln im Fachdienst,die sehr knapp sind, ist ein Plus von 28 Prozent zu ver-zeichnen .
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Wir bekommen mehr Fachkräfte, weil wir an die The-men sehr gezielt herangehen . Ein Beispiel: Gerade beiden besonders gesuchten Informatikerinnen und Infor-matikern beträgt der Zuwachs sage und schreibe weitüber 60 Prozent . Das hat natürlich auch etwas damit zutun, dass wir Cyber und IT als Kommando aufstellen unddas Thema damit in der Bundeswehr sichtbar wird . Dashat auch etwas damit zu tun, dass wir in diesen Fachrich-tungen selber ganz gezielt werben, damit die Menschenwissen, dass das bei uns ein Topthema ist und sie bei unseine Zukunft finden können.Bei den Feldwebeln im Rettungsdienst freuen wir unsüber ein Plus von über 30 Prozent . Was mich und Siesicherlich auch alle besonders freut, ist, dass wir im No-vember letzten Jahres zum allerersten Mal die Marke von20 000 Soldatinnen überschritten haben .
Die Evaluierung der Soldatenarbeitszeitverordnungläuft noch . Erste Verbesserungen sind erreicht, an an-deren arbeiten wir intensiv . Sie haben recht, Herr Wehr-beauftragter: Ich wünschte, man könnte Veränderungenimmer glatt umsetzen, aber so große Veränderungenkommen immer holperig daher . Wahrscheinlich werdenwir gesetzliche Anpassungen brauchen .Eine andere konkrete Gesetzesänderung, die wir der-zeit mit dem BMI verhandeln, möchte ich ansprechen:den Auslandsverwendungszuschlag . Sie wissen, dass erderzeit nur Frauen und Männern gewährt wird, die inmandatierten Einsätzen sind, und nicht denen in einsatz-gleichen Verpflichtungen. Dabei handelt es sich beispiels-weise um Soldatinnen und Soldaten in der Ägäis oder umdiejenigen, die in Eurofightern im Bereich Air Policing im Luftraum über dem Baltikum eingesetzt sind . Das be-trifft jetzt unsere Truppe, die nach Litauen geht und die Vorne-Präsenz mit aufbaut . Meine Damen und Herren,auch diese Soldatinnen und Soldaten sind Wochen undMonate von zu Hause weg . Deshalb bin ich der festenÜberzeugung, dass alle Soldatinnen und Soldaten in ein-satzgleichen Verpflichtungen den AVZ schnellstmöglich bekommen sollten . Das ist eine Frage der Gerechtigkeit .
Einige Themen muss ich noch anmerken .Erstens . Das Thema Compliance-Kodex . Herr Wehr-beauftragter, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf:Ich weiß nicht, aus welchem Entwurf Sie zitiert haben;denn das Ganze ist noch im Entwurfsstadium und in derAbstimmung im Haus, insbesondere mit den Personal-vertretungen . Deshalb kann ich zu dem Satz keine Stel-lung nehmen . Ich weiß nicht, welchen Stand Sie ebenzitiert haben .Zweitens . Nicht nur die Abstimmung im Haus läuft,sondern auch Beratungen mit Transparency Internatio-nal . Es ist uns wichtig, auch von außen Feedback zu be-kommen. Das heißt, wir befinden uns in einem Prozess. Ich glaube, diesen Prozess sollten wir abwarten, bis erzumindest innerhalb des Hauses abgeschlossen ist . Erstdann werden wir mit dem Parlament das Ergebnis Wortfür Wort besprechen .Drittens . Sie haben recht: Es gibt eine Unzahl von Re-geln und Gesetzen in der Bundeswehr . Wir wollen nichtdarüber hinausgehen und keine neuen Regeln einführen .Aber haben Sie einmal den Raummeter gesehen, der dasumfasst, was in den verschiedenen Gesetzen, Verord-nungen und Erlassen alles geregelt ist? Ich glaube, esist nicht schlecht, uns noch einmal gemeinsam klarzu-machen, dass Rechtssicherheit dadurch gewährleistet ist,dass wir positiv formulieren, was wir gemeinsam verab-redet haben .Letztes Thema .
Frau Bundesministerin, als Mitglied der Bundesregie-rung dürfen Sie so lange reden, wie Sie wollen . WennSie jetzt als Abgeordnete reden würden, müsste ich Sieunterbrechen . Ich muss Sie darauf aufmerksam machen:Wenn Sie jetzt weiter reden, geht das zulasten Ihrer Frak-tion .Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Ja . – Ich bitte die Fraktion, dass ich ein mir wichti-ges Thema noch ansprechen darf . Es geht um das The-ma Chancengerechtigkeit und Offenheit für Vielfalt. Ich habe mich dieses Themas immer angenommen . Wennwir schlagkräftige, attraktive und moderne Streitkräftehaben wollen, kommen wir um das Thema nicht herum .Das Thema ist breit angelegt. Mir ist wichtig: Es betrifft nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Herkunft,Bildung, sexuelle Orientierung und Religion – um nureinige Themen zu nennen .Zwei Punkte: Erstens . Es geht bei der Bemühung umVielfalt nicht nur um Lippenbekenntnisse; sonst hättenwir die gesamte Thematik der Attraktivität und Verein-barkeit nicht einführen müssen . Wir werden deshalbEnde Januar einen Kongress über den Umgang mit un-terschiedlicher sexueller Orientierung veranstalten . Ichhalte dieses Thema nicht für randständig. Es betrifft mehrere Tausend Soldatinnen und Soldaten und zivileBeschäftigte in der Bundeswehr, genauso wie das ThemaReligion mehrere Tausend betrifft und wie das Thema Migrationshintergrund oder Behinderung, zum Beispieldurch PTBS, eine zentrale Rolle in mehreren Hundertoder Tausend Leben von Menschen in der Bundeswehrspielt . Deshalb, meine Damen und Herren, ist mir wich-tig, dass dieses Anliegen, das für diese Menschen zen-tral ist, genauso ernst genommen wird wie viele andereAnliegen, die uns beschäftigen . Es ist kein randständigesThema .
Zweitens . Diese Soldatinnen und Soldaten und zivilenBeschäftigten tun ihren Dienst wie alle Kameradinnenund Kameraden . Sie haben einen Eid geschworen, diesesLand tapfer zu verteidigen . Sie sind bereit, im Einsatz ihrLeben einzusetzen für unsere Freiheit. Ich finde deshalb, Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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dass unsere Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Be-schäftigten, egal woher sie kommen, egal wen sie lieben,egal an was oder wen sie glauben, nicht dem Spott ausge-setzt werden dürfen, sondern unseren Respekt und unsereAnerkennung verdienen .
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die
Kollegin Christine Buchholz .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Bartels! Liebe Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Wehrbeauftragten! Gerade heute Mor-
gen haben wir über die Fortsetzung und Ausweitung der
Bundeswehreinsätze im Nordirak und in Mali diskutiert .
Für diese Beschlüsse, die nächste Woche gefällt werden,
müssen Soldatinnen und Soldaten den Kopf hinhalten .
Die Folgen können einsatzbedingte Krankheiten sein .
Was sicher ist: Je mehr Auslandseinsätze von der Regie-
rung beschlossen werden, umso größer wird der Druck
auf die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien .
Wer Waffen und Soldaten in alle Welt schickt, be-
kommt die Folgen der Kriege zurück . Auch das ist ein
Grund, die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu been-
den .
Der Bericht des Wehrbeauftragten spiegelt diese Wirk-
lichkeit wider, und die vorliegende Antwort des Verteidi-
gungsministeriums auf den Bericht zeigt: Auf viele der
Probleme reagiert die Bundesregierung gar nicht, oder
sie reagiert zu langsam, zu bürokratisch . Eine Ausnahme
gibt es; das ist die aus unserer Sicht völlig verfehlte Kritik
des Wehrbeauftragten an der zu schlechten Ausrüstung
der Bundeswehr . Denn für die Aufrüstung hat die Große
Koalition für 2017 einen Rekordhaushalt beschlossen .
Doch wenn es um die menschlichen Folgen der Mili-
täreinsätze geht, etwa um die zügige Anerkennung von
Wehrdienstbeschädigung, dann ist nicht genug Geld da .
Konkret: Auf 5 000 Anträge kommen 30 Sachbearbeiter .
Das erklärt, warum die Bearbeitung von Anträgen auf
Wehrdienstbeschädigung durchschnittlich 15 Monate
dauert, oft auch über zwei Jahre . Der Wehrbeauftragte
hat das zu Recht bemängelt .
Die Reaktion des Ministeriums: neue Stellen – null .
Aber die Abläufe sollen optimiert werden . Das muss
doch in den Ohren der Betroffenen als absolut nicht ak-
zeptabel klingen .
Aber die Probleme der einsatzgeschädigten Soldatin-
nen und Soldaten sind tiefer gehend . Wenn psychisch er-
krankte Soldaten sich um die Anerkennung einer Wehr-
dienstbeschädigung bemühen, dann müssen sie selbst
den konkreten Zusammenhang mit einem Auslandsein-
satz nachweisen. Das ist jedoch in der Praxis häufig kaum
möglich und führt zu langen, belastenden Verfahren .
Ich sage: Wenn die Bundeswehr einen Soldaten als
psychisch gesund in einen Auslandseinsatz schickt und
später dieser Soldat oder diese Soldatin psychisch er-
krankt, dann ist im Streitfall die Bundeswehr in der Be-
weispflicht. Und die Fürsorgepflicht des Dienstherrn darf
nicht mit dem Dienstverhältnis enden .
Es ist ein Unding, dass die Bundesregierung nicht einmal
Statistiken darüber erhebt, wie viele ehemalige Soldaten
Selbstmord begehen . Auch hier muss sich dringend et-
was ändern .
Ein anderes Beispiel . Im Bericht bemängelt der Wehr-
beauftragte, dass – ich zitiere – für „die einsatzrelevante
Verbrennungsmedizin . . . seit Jahren nur noch eine sehr
eingeschränkte Versorgungskompetenz vorgehalten
wird“ . Wie dramatisch das sein kann, hat vor zwei Ta-
gen der verheerende Anschlag im malischen Gao gezeigt .
Über 70 malische Soldaten starben, über 110 überlebten
schwer verletzt . Der Anschlag hätte auch deutsche Solda-
ten treffen können. Das Lager der Bundeswehr liegt kei-
ne 2 Kilometer vom Anschlagsort entfernt . Wie reagiert
nun das Verteidigungsministerium auf die Forderung
nach besserer Versorgungskompetenz für einsatzrelevan-
te Verbrennungsmedizin? Antwort: Gar nicht . Alles, was
dem Verteidigungsministerium einfällt, ist der Verweis
auf zivile Krankenhäuser in Deutschland . Der Einsatz
kommt zuerst, die Behandlung der Folgen ist nachrangig,
und das finden wir zynisch.
Ich verstehe, warum das Verteidigungsministerium,
auch die Koalition, das nicht gerne hört . Diese Realität
stört die Hochglanz-PR-Aktionen, mit denen Sie jungen
Menschen die Bundeswehr schmackhaft machen wollen .
Pikant ist übrigens auch, dass die Ministerin – Sie
haben eben selbst dazu gesprochen – Angehörigen der
Bundeswehr strenge Verhaltensrichtlinien, einen Verhal-
tenskodex für den Umgang mit Parlament und Medien
verordnen will . Wir sind sehr gespannt, was Sie dazu in
Ihrem Hause erarbeiten . Meine Fragen und meine Kritik
schließen an das an, was der Wehrbeauftragte themati-
siert hat . Ich sage Ihnen: Wer die Wahrheit unterdrücken
will, der hat was zu verbergen . Ein Maulkorberlass ist
das Letzte, was Soldatinnen und Soldaten brauchen .
Frau Kollegin Buchholz, gestatten Sie noch eine Zwi-schenfrage des Kollegen Otte?Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Das ist jetzt zwar keine Zwischenfrage mehr, aber ger-
ne .
Dann machen wir das jetzt einmal so . – Bitte schön .
Frau Kollegin Buchholz, wir hatten zusammen mit
unserer Frau Bundesverteidigungsministerin Gelegen-
heit zu einem Besuch in Mali . Sie suggerieren jetzt in
Ihrer Rede – das ist mir vorhin schon aufgefallen –, dass
die Politik und das Ministerium ihren Soldatinnen und
Soldaten nicht genügend Fürsorge entgegenbrächten .
Sie stellen hier einfach Behauptungen in den Raum . Das
kann Ihre Taktik sein .
Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie die of-
fenen Fragen, die Sie hier stellen, nicht beim Besuch in
Gao, in Bamako im Kreise der Fachleute, die dort vor
Ort waren, gestellt? Es drängt sich hier der Eindruck auf,
dass es Ihnen gar nicht um die Beantwortung von Fragen
geht, sondern um das Vorlesen der Argumente, die Ihnen
aufgeschrieben worden sind . Ich frage Sie, ob Sie nicht
fast ein schlechtes Gewissen haben, weil Sie hier Dinge
behaupten, die fernab jeglicher Realität sind .
Frau Kollegin Buchholz .
Lieber Kollege Otte, ich weiß nicht, ob Sie den Be-
such in Mali genutzt haben, um am Rande auch mit Sol-
datinnen und Soldaten zu sprechen . Ich führe sehr viele
Gespräche, die genau diese Fragen unterlegen, die den
Frust, den Unmut der Soldatinnen und Soldaten wider-
spiegeln, die sich eben nicht genügend berücksichtigt
finden.
Was die Frage des Einsatzes in Mali angeht: Gucken
Sie sich bitte die Realität an . Mein Gefühl ist, dass Sie
hier bestimmte Fragen an die von Ihnen beschlossenen
und zu beschließenden Einsätze nicht zulassen .
Die Realität können Sie den Gesprächen in Mali, aber
auch den Zeitungen und Berichten verschiedener Akteu-
re entnehmen . Von daher gebe ich diese Frage zurück .
Seien Sie ehrlich, und beantworten Sie sich ehrlich die
Fragen . Gucken Sie sich die Realität genau an . Vielleicht
kommen auch Sie dann irgendwann zu anderen Antwor-
ten .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Heidtrud Henn
für die SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Mi-nisterin! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten!Am kommenden Dienstag wird Hans-Peter Bartels unsseinen Bericht für das Jahr 2016 vorlegen . Wir sprechenheute über seinen Bericht aus dem Jahr 2015 . Die Bun-deswehr am Wendepunkt – so hat der Wehrbeauftragteseinen ersten Bericht überschrieben . Die Überschrift desneuen Berichts kenne ich noch nicht .Ich glaube, dass es gut ist, das Wahre zu sagen, und ichweiß aus meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung, dass vor jeder Verbesserung der Mut zur Wahrheit steht .Martin Luther, über den wir insbesondere in diesem Jahrviel hören und lesen können, hat viel zur Wahrheit ge-sagt . Vor 500 Jahren hat er seine 95 Thesen in Wittenbergan die Tür der Schlosskirche geschlagen . Er hat hörbarund lesbar gemacht, was falsch war, mit den Mitteln sei-ner Zeit, in der er noch nicht die Möglichkeit zur Veröf-fentlichung im Internet hatte . Dennoch waren seine Wor-te durchschlagend, im wahrsten Sinne des Wortes . Daszeigt uns, wie kraftvoll die Wahrheit ist . Sie braucht aberimmer jemanden, der sie ausspricht .„Iss, was gar ist, trink, was klar ist, red, was wahrist!“ – das gibt uns Martin Luther mit auf den Weg . Ohnedie Soldatinnen und Soldaten, die die Zeit und manchmalauch den Mut aufbringen, ihre Wahrheit an den Wehr-beauftragten heranzutragen, wäre der Bericht des Wehr-beauftragten nicht denkbar . Darum gilt mein Dank fürden Bericht des Wehrbeauftragten nicht nur Hans-PeterBartels und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,sondern auch allen, die sich im Berichtsjahr an den Wehr-beauftragten gewandt haben .Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie, sehr geehrte Frauvon der Leyen, und auch Frau Staatssekretärin Dr . Suderzu Recht viel Applaus dafür bekommen, dass Sie eineneue Fehlerkultur in Ihrem Haus gewünscht und sogareingefordert haben . Es sollte keine Angst vor einem Kar-riereknick geben, wenn mündige Soldaten Probleme undMissstände benennen . Auch uns Sozialdemokratinnenund Sozialdemokraten hat das gefallen . Grund für dieFehlerkulturoffensive waren die Probleme bei der Rüs-tungsbeschaffung. Sie hatten aber auch gesehen, dass es nicht hilfreich ist, wenn Kritiker mit Kenntnis des Hau-ses blockiert statt gehört werden . Durch Verschweigenheilen keine Krankheiten . Eine Kultur des Schweigensverhindert Veränderungen und Verbesserungen .
In Ihrer Rede zum Bericht des Wehrbeauftragten am28 . April letzten Jahres haben Sie, sehr geehrte Frau Mi-nisterin, gesagt – ich zitiere –:Ich finde, es ist ganz entscheidend, Transparenz über unsere Organisation herzustellen .
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Ich stimme Ihnen da voll zu . Mit großer Sorge erfülltmich deshalb die Berichterstattung zu dem von Ihnen ge-planten sogenannten Verhaltenskodex . Ich kenne hierzunur Presseberichte, aber es gibt eine öffentliche Debat-te, und gerade weil in diesem Zusammenhang über denWehrbeauftragten und seine besonderen Zugangsrechtegesprochen wird, möchte ich das Thema auch hier an-sprechen .Ich nutze jede Gelegenheit, um mit Soldatinnen undSoldaten ins Gespräch zu kommen, also mit der Basis .Das ist auch immer mein Wunsch, wenn ich Standortebesuche oder wenn ich in Einsatzgebieten bin . Mich inte-ressiert, wie es den Menschen bei der Bundeswehr geht,wie sie ticken, was sie umtreibt, aber auch, was sie be-geistert . Der Mensch hat meine Aufmerksamkeit, nichtder Dienstgrad; der steht an anderer Stelle . Bei all diesenGesprächen und Telefonaten mit den Menschen in derBundeswehr habe ich viel über die Bundeswehr gelernt .Vor allem habe ich gelernt, wie loyal, professionell undzugleich ehrlich die Soldatinnen und Soldaten im Ge-spräch sind, ohne etwas oder jemanden zu verraten . Siekennen ihre Vorschriften bestens und handeln danach .Angst und Misstrauen tun niemandem gut . Sie ma-chen Seelen krank, und sie schaffen ein Klima, das ein kameradschaftliches Miteinander verhindert . Vertrauenist im Einsatz und im Grundbetrieb der Garant für dieSicherheit der Soldatinnen und Soldaten, die für unsereSicherheit sorgen . In der Bundeswehr muss es um Zu-sammenhalt gehen . In der freien Marktwirtschaft gehtes um Gewinnmaximierung und Macht . Diese Prinzipi-en sind in meinen Augen nicht auf unsere Bundeswehrübertragbar .Anfang 2013 haben Sie, liebe Frau von der Leyen,oft betont, dass der Mensch im Mittelpunkt steht . Dashat mir gut gefallen, und das habe ich Ihnen auch gesagt .Soldat sein ist eine Berufung . Wer dient, verdient Ver-trauen . Wer dient, muss reden dürfen . Reden ist die Basisfür ein gutes Miteinander und Kommunikation .Eine sachlich vorgetragene Kritik ist niemals ein An-griff, und vor der Wahrheit sollte sich niemand fürchten. Auch vor uns Abgeordnete sollte niemand Angst haben .Wenn uns jemand ein Anliegen vorträgt, wissen wir ganzgut, wie wir damit umgehen und wie wir Kritik einzu-ordnen haben . Eine Parlamentsarmee muss mit den Mit-gliedern des Parlamentes reden dürfen – ohne Angst undohne Verbot .
Dass der Mensch im Mittelpunkt der Bundeswehrsteht, hat die Verteidigungsministerin richtigerweiseimmer wieder betont . Ich möchte, dass das so wird unddann auch so bleibt; denn das ist schlicht und ergreifendnicht bei allen Entscheidungen des Hauses der Fall .Der Wehrbeauftragte ist bereits auf wesentliche Punk-te seines Berichtes eingegangen, und ich denke, auch inder Debatte zu seinem nächsten Bericht werden wir vielüber eine bessere Ausstattung sprechen . Unsere Haushäl-ter haben hier gute Voraussetzungen geschaffen. Auch für das kommende Jahr soll es genug finanzielle Mittel für die wachsenden Aufgaben der Bundeswehr geben .Sie wissen, dass ich besonders genau hinsehe, wennes um Menschen und um ihr seelisches und gesundheit-liches Wohl geht .Der Sanitätsdienst leistet hier, im Ausland und auchim zivilen Bereich gute Arbeit . Das Personal ist top, dienoch immer vorhandenen Papierdokumente sind einFlop . Wenn ich den Sanitätsdienst in den Standorten be-suche, fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt .Damals haben die Arzthelferinnen auch alles mit demBleistift auf Papier dokumentiert . Irgendwie widersprichtsich das Ganze: Im Ausland ist unser Sanitätsdienst füh-rend, und zu Hause sind wir, was die Dokumentation be-trifft, noch immer in den 60er-Jahren.Ich weiß, dass manche Menschen im SanitätsdienstSchnappatmung bekommen, wenn ich dieses Thema im-mer wieder anspreche, und hoffe, dass eine truppenärzt-liche Versorgung bald überall vor Ort gewährleistet ist .Oftmals fehlt sie .Lassen Sie mich noch zu den Lotsen kommen . Auchder Wehrbeauftragte hat betont, dass sich das Angebotder Lotsen bewährt hat . Sie erfüllen eine wichtige Aufga-be für ihre Kameradinnen und Kameraden .Auch hier geht es um Vertrauen . Man darf aber nichtvergessen, welche Last Lotsen auf ihren Schultern tra-gen . Als ehrenamtlicher Nebenjob funktioniert dies aufDauer nicht . Auf Dauer ist eine Freistellung für dieseAufgabe notwendig und, um die Last von den Schulternder Lotsen zu nehmen, eine regelmäßige Supervision .
Im Hinblick auf die Infrastruktur möchte ich einfachnur ein paar Stichworte nennen:Alte Unterkünfte sollen abgerissen, neue gebaut wer-den, was dauert . Betreuungseinrichtungen werden ge-schlossen, und es gibt keinen Ersatz . Gebäude des Sa-nitätsdienstes in Zweibrücken und Idar-Oberstein sollenabgerissen und neu gebaut werden . Hier gibt es noch im-mer keine Bewegung . Auf dem Klotzberg in Idar-Ober-stein tut sich mittlerweile aber etwas . Die Container fürdie Betreuungseinrichtung sollen in diesem Jahr wirklichendlich stehen . Das hat dann von 2014 bis 2017 gedau-ert . Bei der Sporthalle und der Küche in Zweibrückenbewegt sich dagegen noch immer nichts .Ich bin immer wieder fasziniert, mit welchen Mittelnunsere Soldaten ihre Aufgaben meistern . „Aktiv . Attrak-tiv . Anders .“: Sie sind sehr aktiv, an der Attraktivitätmüssen wir noch arbeiten, und dem „Anders .“ stimmeich voll zu .Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen undKollegen, lieber Herr Dr . Bartels, ich schließe mit diesemZitat von Martin Luther:Für Heuchelei gibt’s Geld genug . Wahrheit geht bet-teln .Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, zu prüfen, ob das, was wir entscheiden, auch so ankommt, wie wiruns das gedacht haben . Was oben gut entschieden wor-Heidtrud Henn
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den ist, muss unten auch gut ankommen und darf nichtin der Mitte hängen bleiben . Darum ist der Bericht desWehrbeauftragten so wichtig für unsere Arbeit, und esist wichtig, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten,denen wir viel zumuten, auch Zutrauen entgegenbringen .Dieses Zutrauen zeigen wir mit Vertrauen . Nicht verges-sen: Der Mensch steht im Mittelpunkt!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen Gottes Segen .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Doris Wagner
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Lieber Hans-PeterBartels! Werte Kolleginnen und Kollegen! Begrüßenmöchte ich auch die Mitglieder unserer Streitkräfte:Kommen Sie sicher und gesund durch das neue Jahr! Al-les Gute für Sie!Die Bundeswehr hat von allem zu wenig . Das war dieKernbotschaft des Berichts, den der Wehrbeauftragte unsvor ziemlich genau einem Jahr vorgelegt hat . Frau Mi-nisterin, ich sehe, ehrlich gesagt, nicht, dass sich diesesGrundproblem der Bundeswehr im Jahr 2016 wirklichgrundlegend geändert hat . Der Klarstand von Hubschrau-bern und Kampfflugzeugen in der Bundeswehr ist noch immer erschreckend niedrig . Sieben von zehn Kampf-hubschraubern waren im Oktober nicht einsatzfähig . Sie-ben von zehn! Nach wie vor schafft es die Bundeswehr nicht, ihre 170 000 Dienstposten für Berufs- und Zeitsol-daten tatsächlich zu besetzen . Ende November fehltenüber 2 000 Soldatinnen und Soldaten . Die Bundeswehrgleicht auch 2017 einem Potemkinschen Dorf aus lauterPappfassaden .
Was, meine Damen und Herren, tut die Ministerin hier?Sie fügt den Fassaden, die wir schon haben, eifrig neuehinzu .Gleich zwei sogenannte Trendwenden hat Frau vonder Leyen in den letzten Monaten verkündet . Mit derTrendwende „Material“ sollen bis 2030 zusätzlich130 Milliarden Euro in die Rüstung fließen. Von diesem Geld soll die Bundeswehr nun eine aufgabenorientierteAusstattung erhalten . Doch schon bei der Frage, worindenn die Aufgaben der Bundeswehr eigentlich bestehen,muss die Bundesregierung passen; denn anstatt im Weiß-buch ein klares Aufgabenprofil mit klaren Prioritäten zu skizzieren – auch bei der Ausrüstung –, meint Frau vonder Leyen, dass die Bundeswehr einfach alles könnensoll . Deshalb investieren wir jetzt viele Milliarden Euroin unnötige Kampfpanzer und in fragwürdige Korvetten .
Dabei hat die Bundeswehr weder das Personal, um allediese Rüstungsprojekte vernünftig zu managen, KollegeGädechens, noch das Personal, diese vielen neuen Gerät-schaften vernünftig zu nutzen und zu warten .Ja, ich bin einverstanden: Die Bundeswehr brauchtbesseres Material, gar kein Zweifel . Doch, Frau Ministe-rin, dieses Problem alleine durch neue Milliardeninves-titionen in Rüstung zu beheben, halte ich für kurzsichtigund allzu oberflächlich.
Was die Bundeswehr vor allem braucht, sind ein klaresund mit unseren neuen europäischen Partnern abge-stimmtes Aufgabenprofil und ausreichendes Personal, das das Material auch nutzen und warten kann .
Damit sind wir bei der zweiten sogenannten Trend-wende, nämlich bei der Trendwende „Personal“ . Um7 000 Soldatinnen und Soldaten soll die Truppe bis 2023aufgestockt werden . Genauso gut könnte Frau von derLeyen verkünden, dass Wladimir Putin morgen seineTruppen von der Krim abzieht . Solche Ankündigungensind noch keine Politik . Das ist doch reines Wunschden-ken . Woher sollen denn diese vielen neuen Soldatinnenund Soldaten kommen?
Bei der Marine fehlen laut Bericht des Wehrbeauftrag-ten Techniker . Ganze U-Boot-Besatzungen sind lahmge-legt, weil es keine Techniker in ausreichender Zahl gibt .
Im Sanitätsbereich klaffen mittlerweile solche Lü-cken, dass es fraglich ist, ob die Gesundheit der Sol-datinnen und Soldaten im Einsatz überhaupt noch zuschützen ist . Schauen wir uns den Einsatz in Mali an:Da müssen wir doch – lassen Sie mich das etwas saloppausdrücken – das medizinische Personal an allen Eckenzusammenkratzen .In dieser Situation einmal so eben 7 000 zusätzlicheSoldatinnen und Soldaten zu verordnen, ist in meinenAugen unredlich . Das verhöhnt auch die völlig überlaste-te Truppe, meine Damen und Herren .
Ihre Trendwenden, Frau Ministerin, sind in meinenAugen nichts anderes als reine Symbolpolitik . Die Pro-bleme der Bundeswehr lösen Sie damit nicht, genausowenig wie mit Ihren Werbeplakaten und der neuen Re-krutenserie, die die Bundeswehr als eine Art OutdoorChallenge verharmlost . Keine dieser teuren Werbemaß-nahmen hat bisher den Schrumpfungsprozess der Streit-kräfte verhindert . Ende November zählte die Truppeknapp 7 500 Soldatinnen und Soldaten weniger als noch2013 .Heidtrud Henn
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Die Menschen sind doch nicht dumm . Sie lesen Zei-tung, hören Radio und schauen Nachrichten . Dort erfah-ren sie dann, dass es bei der Bundeswehr oft gar nicht umdas Weiterkommen und die Karriere geht, wie zwei vondiesen Werbeplakaten vollmundig versprechen, sondernum frustrierende Beurteilungen und Beförderungsstau .
Bei der Bundeswehr erlebt man gerade keine Stärkungdes Selbstwertgefühls, sondern häufig genug herabwür-digende Sprüche, omnipräsente Hierarchie und Bürokra-tie, so weit das Auge reicht .
– Sie bringen mich nicht aus dem Konzept, Herr Kolle-ge . – Insbesondere die begehrten Cyberspezialisten, dieIT-Nerds, werden von dieser Organisationskultur dochgerade abgeschreckt .Deshalb, Frau Ministerin, hören Sie doch bitte mit Ih-rer Politik der verordneten Trendwenden auf . Hören Sieauf mit den falschen Versprechungen .
Gehen Sie ran an die Organisationskultur . Setzen Sie dieArbeitszeitverordnung vernünftig um . Entrümpeln Sieden Grundbetrieb . Stellen Sie das Personalamt endlichin den Dienst der Soldatinnen und Soldaten . Nur so – mitehrlichen Reformen – kann die Bundeswehr auf demWeg zu einer modernen Streitkraft wirklich vorankom-men .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Gisela Manderla von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen undKolleginnen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Wer sichheutzutage in dieser durchzivilisierten Gesellschaft fürden Dienst in der Bundeswehr entscheidet und damit fürdie unterschiedlichen Strapazen und Belastungen, priva-te und persönliche Entbehrungen, langer Zeiten der Tren-nung von der Familie und vieles mehr, der hat – das hatsich heute gezeigt – die umfassende Unterstützung nichtnur des Verteidigungsausschusses, sondern des ganzenHauses verdient . Ja, die Soldaten und Soldatinnen habenein Anrecht darauf, liebe Kollegen und Kolleginnen . Dageht es nicht um ein Gefühl . Auch geht es dabei nichtdarum, die Bundeswehr, das Ministerium sowie die Sol-daten und Soldatinnen immer nur schlechtzureden .
Diese Unterstützung, dieses Anrecht muss meines Er-achtens besonders für drei Bereiche gelten: erstens fürdie materielle Unterstützung und Ausrüstung unsererSoldatinnen und Soldaten, zweitens für eine tiefgreifen-de Verankerung der Streitkräfte in der Mitte der Gesell-schaft, und drittens geht es um den Schutz unserer Sol-daten und Soldatinnen bzw . um die Gewährleistung ihrerGrundrechte nach innen wie nach außen .Insbesondere für den dritten Punkt, den Schutz, hat derDeutsche Bundestag mit dem Amt des Wehrbeauftragteneine ganz besondere Institution geschaffen, welche die Fürsorgeverantwortung des Hauses für die Menschen inunseren Streitkräften widerspiegelt . Ich möchte Ihnen,Herr Dr . Bartels, sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern ganz herzlich für Ihre Arbeit danken .Anregen möchte ich auch, dass wir den Bericht dem-nächst zeitnah nach Ende des jeweiligen Jahres beratenkönnen . Jetzt über 2015 zu reden – das ist ja schon meh-rere Male angesprochen worden –, ist nicht so sinnvoll .Aber die Ministerin hat ja schon die anstehenden Dingegenannt .Angesichts der verschiedenen Entwicklungen in derBundeswehr und angesichts eines ganzen Bündels alterund vor allen Dingen neuer Aufgaben fällt einem im Jah-resbericht besonders eines auf: Die Eingabequote sinktzum dritten Mal in Folge . Auf jeweils 1 000 Soldatenund Soldatinnen gab es genau 24 Eingaben . Natürlichmuss jede Eingabe ernst genommen werden . Manch eineEingabe deckt Missstände und Fehlentwicklungen auf,denen der Dienstherr dann nachgehen kann . Insofern istdieser Jahresbericht ein ausgesprochen nützliches Doku-ment, nämlich einerseits für die Soldatinnen und Solda-ten, die sich außerhalb des regulären Dienstweges an eineneutrale und objektive Instanz wenden können, und an-dererseits für den Dienstherrn, der über den Jahresberichteinen noch besseren Überblick über die innere Verfasst-heit seines Personals bekommt .Angesichts der Größe des Personalkörpers, der Gottsei Dank aufwächst, läuft offenkundig eine Menge ganz gut und richtig in der Bundeswehr – und das, meine Da-men und Herren, obwohl sich unsere Streitkräfte in ei-nem tiefgreifenden Wandel befinden und sich umfassend neu ausrichten auf alte und neue Herausforderungen, de-nen sich Deutschland gegenübersieht, liebe Kolleginnenund Kollegen . Dies deckt sich auch mit Erfahrungen, dieich in vielen Gesprächen mit den Soldatinnen und Solda-ten im Inland, aber auch in den Einsatzgebieten geführthabe . Deren hohe Leistungsbereitschaft, deren Willen,sich einzubringen, müssen wir aktiv flankieren und un-terstützen . Und das geschieht auch .Besonders vor dem Hintergrund neuer Einsatzszenari-en und eines Wandels der Rolle Deutschlands in der Weltist der Umbau der Bundeswehr von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligenarmee eine besonders anspruchsvol-le Aufgabe, die auch haushalterisch zu hinterlegen ist .Wir haben begonnen, diesen Weg zu gehen, und habenden Einzelplan 14 mit mehr Mitteln ausgestattet . Die-sen Weg, liebe Kollegen und Kolleginnen, müssen wirmit aller Entschlossenheit fortsetzen; denn – da hat dieKollegin Wagner recht – nach 25 Jahren auf der Haus-haltsbremse und der daraus resultierenden materiellenwie personellen Auszehrung der Bundeswehr können dieProbleme nicht über Nacht gelöst werden und nicht mitDoris Wagner
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einer einmaligen Erhöhung des Etats . Da muss noch ei-niges folgen .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Danke schön, Frau Präsidentin . – Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
noch einmal herzlichen Dank an den Wehrbeauftragten
für seinen Bericht . Ich wünsche den Soldaten und Solda-
tinnen im Einsatz, dass sie gesund nach Hause kommen .
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden uns weiterhin für
unsere Soldatinnen und Soldaten einsetzen .
Vielen Dank .
Als letzter Redner hat der Kollege Reinhard Brandl
das Wort . – Ich habe die herzliche Bitte, die vereinbarte
Redezeit einzuhalten .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Einen Vorteil hat es schon, Frau Ministerin, wenn
wir jetzt den Bericht von 2015 diskutieren: Wir können
nämlich direkt vergleichen, was 2016 alles passiert ist .
Ihr Haus arbeitet da ja sehr transparent . Wir haben Mit-
te 2016 einen Bericht bekommen, was das BMVg alles
tun möchte, und wir haben Ende 2016 von Staatssekretär
Grübel einen Bericht bekommen, was es nach dem Be-
richt des Wehrbeauftragten 2015 bereits alles getan hat .
Bei diesen Berichten wird eines deutlich: Die Ministe-
rin legt nicht die Hände in den Schoß,
und wir im Parlament ziehen nicht die Köpfe ein und
warten nicht darauf, dass das Unwetter in Form der Si-
cherheitslage vielleicht an uns vorüberzieht, sodass wir
bei schönem Wetter mit Sonnenschein und Frieden wie-
der aufwachen . Nein, vielmehr wird deutlich: Wir haben
gemeinsam gehandelt, die Bundeswehr für ihre Aufga-
ben heute besser auszurüsten .
Der Bundeshaushalt ist bereits angesprochen worden .
Ich möchte beispielhaft ein paar Elemente aus dem Be-
richt von Staatssekretär Grübel nennen .
Nehmen wir als Beispiel – es ist heute schon öfter an-
gesprochen worden – den Mangel an geschützten Fahr-
zeugen . Im letzten Jahr sind über 1 000 Pkws und Lkws
zugelaufen .
Nehmen wir als Beispiel die Kampfausrüstung – sie
wurde von den Soldaten immer wieder bemängelt –: Im
letzten Jahr sind 5 000 Sätze moderner Kampfbekleidung
und 5 500 Schutzwesten für die Soldaten zugelaufen .
Nehmen wir als Beispiel das Personal . Ein Talentpool
wurde eingerichtet, Möglichkeiten der Onlinebewer-
bung wurden verbessert . Über viele Werbemaßnahmen
stolpern wir tatsächlich jeden Tag, wenn wir durch die
Straßen gehen . Sie mögen jetzt nicht jedem gefallen; aber
vielleicht gehört ja auch nicht jeder von uns der entspre-
chenden Zielgruppe an .
Nichtsdestotrotz geben die Zahlen der Ministerin recht:
Die Bewerberzahlen steigen, und der Frauenanteil inner-
halb der Bundeswehr steigt auch .
Meine Damen und Herren, es ist nicht alles gut und
schön bei der Bundeswehr; das will ich mit diesem State-
ment gar nicht zum Ausdruck bringen . Wir haben einige
Probleme, die strukturell bedingt sind . Die Sicherheits-
lage hat sich in den letzten Jahren massiv verändert . Das
Aufgabenspektrum hat sich massiv verändert . Vor drei
Jahren hat niemand hier eingeplant, dass die Bundeswehr
ein Bataillon nach Litauen verlegen wird . Sie tut es doch .
Sie tut es gut . Sie muss es tun, obwohl ihre Strukturen
nicht darauf ausgelegt sind . Das führt zu Engpässen beim
Personal . Das führt zu Engpässen beim Material .
Aber, meine Damen und Herren, nicht alles das, was
der Wehrbeauftragte des Bundestages aufgeschrieben
hat, hängt mit der veränderten Sicherheitslage zusam-
men . Wenn, wie wir in dem Bericht lesen, in einer Kaser-
ne die Wasserversorgung nicht richtig funktioniert und
ständig Legionellen auftreten, dann sind daran weder
Russland noch der IS schuld . Oder wenn – das können
wir da auch lesen – ein Vorgesetzter seinen Untergebe-
nen als „Wurst“ bezeichnet, dann ist das schlicht und ein-
fach Ausdruck fehlender Führungsverantwortung . Daran
muss die Bundeswehr arbeiten .
Wenn ich unter 2016 den Strich ziehe, dann kann ich
feststellen, dass die Bundeswehr 2016 jeden Tag besser
geworden ist .
Um diesen Prozess aber fortzusetzen, müssen Probleme
benannt werden . Das Ministerium tut das, wir alle hier
im Parlament tun das, und der Wehrbeauftragte tut das .
Insofern freue ich mich, meine Damen und Herren, auf
den Bericht, den er nächste Woche für 2016 vorlegen
wird . Es wird auch für unsere Arbeit wieder eine Menge
Ansatzpunkte geben . Aber dafür sind wir ja da .
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-
samkeit .
Danke, auch dafür, dass Sie innerhalb der Redezeitgeblieben sind .Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, schließe ichdie Aussprache .Gisela Manderla
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Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Ver-teidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2015 desWehrbeauftragten; das sind die Drucksachen 18/7250und 18/9768. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen . Darüberwerden wir jetzt abstimmen . Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung des Ausschusses? – Gibt es jeman-den, der dagegenstimmt oder sich enthält? – Damit istdiese Beschlussempfehlung einstimmig angenommenworden, und ich schließe diesen Tagesordnungspunkt .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund SPDDem Frieden verpflichtet – Friedens- undKonfliktforschung stärkenDrucksachen 18/10239, 18/10849Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das sobeschlossen .Ich kann die Aussprache eröffnen. Als erste Rednerin in der Aussprache hat Dr . Claudia Lücking-Michel dasWort für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Gäste! Einen ganzen Morgen lang haben wirjetzt schon über Bundeswehreinsätze und die Bundes-wehr im Plenum gesprochen . Jetzt endlich rufen wir dasThema „Friedens- und Konfliktforschung“ auf. Stoff genug haben wir offensichtlich. Trotzdem wird die Re-levanz dieses Forschungsgebietes durchaus von einigenKollegen infrage gestellt . Aber unser Antrag zeigt, dasswir das ganz anders sehen . Gleichzeitig zeigt er auch dieKomplexität des Themengebietes . Einige Anmerkungendazu:Erstens. Friedens- und Konfliktforschung ist vor allen Dingen eines: interdisziplinär . Wenn sie auch traditionellpolitikwissenschaftlich geprägt war, so umfasst sie jetztviele Fachgebiete: Jura, Geistes- und Sozialwissenschaf-ten, Theologie, Ethnologie und natürlich auch die Na-turwissenschaften . Denken Sie nur an die Rüstungskon-trolle . Eine Vielzahl von Disziplinen ist gefragt und ihreExpertise dringend nötig; denn die zahlreichen Konflikte überall auf der Welt haben niemals nur eine einzige Ursa-che . Entsprechend kann man ihnen sinnvollerweise auchnicht nur mit einem einzigen Ansatz begegnen .
Nur auf Militär zu setzen, geht nicht . Aber leider giltoft genug: Mit militärischen Mitteln muss man erst be-waffnete Konflikte so weit beenden, dass die Vorausset-zungen geschaffen sind für Verhandlungen und weitere Maßnahmen . Erst dann kann man sinnvoll an Aussöh-nung arbeiten, rechtsstaatliche Strukturen aufbauen undgute Regierungsführung ermöglichen . In diesen schwie-rigen Situationen ist jedenfalls eines unbedingt nötig:klare Analysen, um informierte und kluge politische Ent-scheidungen treffen zu können.
Zweitens. Friedens- und Konfliktforschung befasst sich mit einem breiten Themenfeld; denn es hat wenigSinn, zwischen- und innerstaatliche Konflikte als einzel-ne, isolierte thematische Blöcke zu untersuchen . In denBlick nehmen muss man immer ganze Kontexte . Kon-flikte sind etwa Ursache für Flucht und Vertreibung, und die Folgen von Flucht und Vertreibung sind oft genugwieder Ursachen für neue Konflikte. Ein Beispiel will ich aufführen: Aktuell fördert das BMBF ein Verbundprojekt „Flucht: Forschung undTransfer“, das Erkenntnisse über Gewaltmigration undFluchtursachen bündelt . Diese Fluchtforschung beziehtexplizit die Auswirkungen von Gewalterfahrungen mitein . Wir wissen es: Sie sind für die Radikalisierungvon Menschen oft von zentraler Bedeutung . Es geht indem Projekt aber auch um die spätere Reintegration vonFlüchtlingen . So wird analysiert, wie die Rückkehr vonGeflüchteten in ihre Herkunftsländer irgendwann einmal gelingen kann, ohne dass vor Ort gleich wieder neueKonflikte geschaffen werden, welche Bedingungen da-für in der Heimat geschaffen werden müssen, aber auch, welche in der Zwischenzeit in den Aufnahmeländern .Zunehmend – das wird jetzt schon klar – geht es alsoauch um Themen, die uns hier in Deutschland direktbetreffen. Es geht um innere Sicherheit und die Bedin-gungen gesellschaftlichen Friedens hier bei uns . Hoch-aktuell ist das Projekt zur Erforschung des Salafismus in Deutschland, das von der Hessischen Stiftung Frie-dens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren durchgeführt wurde . Es liefert einen Überblick über dasWissen, das wir bei uns über Salafismus schon haben, aber auch darüber, welche Daten und Erkenntnisse unsnoch fehlen, zum Beispiel über Anwerbepraktiken, umdaraus wirkungsvolle Maßnahmen zur Prävention ablei-ten zu können .Noch ein Drittes will ich sagen: Akteure der Friedens-und Konfliktforschung sind ebenso vielfältig wie die Disziplinen und die Themen . Sie arbeiten aus sehr unter-schiedlichen Perspektiven . Schauen wir einmal auf dieAkteure: Hier gibt es ein Spektrum von der Universitätder Bundeswehr über das Institut für Friedensforschungund Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg bis hin zumLeibniz-Institut in Form der Hessischen Stiftung . Wirfördern diese Träger in der ganzen Breite und sollten diesbewusst auch in Zukunft tun, sei es über die sogenanntenArea Studies, die soziale, kulturelle und politische Ge-gebenheiten für bestimmte Regionen untersuchen, sei esüber die Deutsche Stiftung Friedensforschung, die ihrer-seits Förderangebote für Dritte ausschreibt .In der Debatte über unseren Antrag im Forschungsaus-schuss wurde schon deutlich, dass die Kollegen von derVizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
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Linken der deutschen Friedens- und Konfliktforschung gerne pauschal Regierungsnähe unterstellen .
Umgekehrt halten einige CDU/CSU-Kollegen, also Kol-legen von mir, die ganze Szene für links unterwandert .
Ich finde, wenn sich beide Seiten aufregen, ist das schon einmal kein schlechtes Zeichen .
Denn mir ist eine plurale Trägerstruktur in diesem For-schungsfeld besonders wichtig . Wir sollten als Politikernicht bestimmte Träger bevorzugen oder gar Ergebnissein Auftrag geben, sondern unsere Aufgabe sollte es sein,einen Rahmen zu setzen, in dem die verschiedensten Ak-teure unabhängig forschen können .Wir haben aber durchaus auch einige sehr konkreteAnliegen . So formuliert unser Antrag, dass wir in Zu-kunft einen noch deutlich verstärkten Wissenstransfervon der Forschung in Gesellschaft und Politik habenwollen . Im besten Fall liefert die Forschung fundierteHintergrundinformationen für unsere politisch aktuel-len Entscheidungen, liefert unabhängige Bewertungenfür die praktische Politik und zeigt neue Handlungsop-tionen auf . Jetzt höre ich schon die Kritiker sagen: Aberdie Forschungsergebnisse kommen doch immer zu spät .Schauen Sie doch einmal, wie viele Konflikte Sie nicht verhindern konnten . Und: Für die Suche nach Lösungensind sie nicht verwertbar . – Das stimmt so nicht .
Vorab will ich sagen: Grundlagenforschung hat ihrenSinn auch dann, wenn ihre Ergebnisse nicht direkt an-gewendet werden können . Diese Binsenweisheit jederWissenschafts- und Forschungspolitik gilt auch für dieFriedens- und Konfliktforschung. Doch dann gilt selbst-verständlich auch: Es gibt Anwendungsnutzen . Das zeigtallein schon die Tatsache, wie oft Expertise von den ver-schiedenen Ministerien angefordert wird .
Ein Beispiel will ich nennen . Das BMZ hat im letztenJahr erstmals eine Strategie zu Religion und Entwick-lung vorgelegt und dazu auf Ergebnisse von Forschungs-projekten zurückgegriffen, die aus dem Hamburger GIGA-Institut kamen . In einem Projekt wird die Rollevon Religionen in Konflikten untersucht. Wichtig ist: Da-bei zeigt sich, dass Religion nicht nur etwa oft Ursachefür die gewaltsame Eskalation von Konflikten ist – wie ich es oft genug in öffentlichen Debatten höre –, sondern auch umgekehrt eine Rolle spielt, wenn es darum geht,Konflikte zu befrieden oder einzudämmen. Ebenso wird dort untersucht, inwiefern Religion positiv nachhaltigeEntwicklung in einer Community befördern kann . Hierfindet also Forschung begleitend zu Politikentwicklung statt .Das gilt übrigens auch für das schon erwähnte Sala-fismus-Projekt. Forschungsergebnisse wurden nicht nur den Fachpolitikern kommuniziert, sondern sie warenauch Inhalt von Kurzfilmen und Blogs. Diese Kurzfilme gehören seit Mitte 2016 übrigens zum Standardlehrmate-rial für die Aus- und Weiterbildung von Polizeibeamtenin Baden-Württemberg . Das nenne ich mal einen gelun-genen Transfer .
In anderen Punkten unseres Antrags machen wir je-doch auch deutlich, wie wichtig es ist, dass es eine unvor-eingenommene Evaluierung des gesamten Forschungs-feldes – am besten durch den Wissenschaftsrat – gibt, umErkenntnisse darüber zu gewinnen, was man verbessernkann . Ich bin überzeugt: Die Ergebnisse der Evaluierungwerden auch Hinweise für eine zukünftige auskömmli-che Finanzierung dieses Forschungsfeldes geben .Zum Schluss möchte ich noch kurz auf ein drittes An-liegen in unserem Antrag eingehen . Ich nenne nur einSchlagwort: Es geht uns um internationale Vernetzungund Austausch, auch und gerade für das hier adressierteFeld .Mit unserem Antrag wollen wir der Friedens- undKonfliktforschung die dringend nötigen neuen Impulse geben . Ich bitte Sie: Stimmen Sie dafür!Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Ralph Lenkert
für die Fraktion die Linke das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen undHerren! Wie sieht es in vielen arabischen Regionen aus?Ein ausgetrocknetes Flussbett liegt in gleißender Sonne,am Ufer stehen ein paar ärmliche Häuser mit abgestor-benen Obstbäumen, und auf der staubigen Straße verab-schiedet sich eine Familie von den Großeltern . Infolgeder Erderwärmung stieg die Temperatur, und seit vierJahren hat es nicht geregnet . Um zu überleben, muss dieFamilie in die Großstadt ziehen . Ihr Ackerland verwaist .Nur die Alten bleiben zurück .Tausende Bauern und Hirten verloren wegen derDürre ihre Existenzgrundlage und zogen in die Städte .Behörden, Infrastruktur, Sozialsysteme sind dem An-sturm nicht gewachsen . Die Spannungen zwischen denMenschen nehmen in dem Maße zu, wie Binnenflucht, Armut, aber auch Reichtum wachsen . Auf beginnendeProteste der Bevölkerung reagiert der autokratische Prä-sident mit Repressalien . Religiöse Fanatiker und Natio-nalisten wittern ihre Chance . Das Land steuert auf einenBürgerkrieg zu .Genau dieses Szenario – Dürre, Landflucht, übervöl-kerte Städte, innere Spannung, Bürgerkrieg – entstammtDr. Claudia Lücking-Michel
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einer wissenschaftlichen Studie von 2012 . Diese Studieschlägt auch Gegenmaßnahmen vor: Investitionen inwirtschaftliche Entwicklung, zum Beispiel in erneuer-bare Energien, damit Meerwasser preiswert entsalzt undzur Bewässerung genutzt werden kann, in die Unterstüt-zung der Landbevölkerung zur Bewältigung der neuenklimatischen Bedingungen . Es geht also um eine lokalewirtschaftliche Entwicklung, von der die Gesellschaftvor Ort profitiert.
Das hilft, Spannungen und Konflikte zu reduzieren. Wirt-schaftskrisen und wachsende Einkommensunterschiededagegen verstärken die Probleme .Die Studie ist eine beeindruckende Vorhersage für dennordafrikanischen bzw . arabischen Raum und stammtvon einer regierungsnahen, einer von uns eigentlich nichtso sehr geliebten Organisation, nämlich der Bundeswehr,
dem Dezernat „Zukunftsanalysen“ des Planungsamtesder Bundeswehr . Diese Studie sagt geradezu prophetischdie Entwicklung des syrischen Bürgerkrieges voraus .Kannten Sie, liebe Damen und Herren von der Koaliti-on, diese Studie mit dem Titel „Umweltdimensionen vonSicherheit“? Wenn nein, frage ich mich: Nehmen Sie dieBundeswehr ernst? Und wenn ja, muss ich feststellen:Sie ignorieren die Ergebnisse, die Ihnen nicht passen .
Aber egal, ob ja oder nein: Angesichts dieses Umgangsmit der Bundeswehrstudie frage ich Sie: Werden Siezukünftig die Ergebnisse der Friedens- und Konfliktfor-schung, deren Stärkung Sie hier fordern, auch berück-sichtigen?
Der Bürgerkrieg in Syrien hätte verhindert werdenkönnen . In der rückblickenden Analyse zum Syrien-Kon-flikt des Instituts für Friedensforschung und Sicherheits-politik, Hamburg, werden neben dem Klimawandel wei-tere Faktoren genannt, die innersyrische Spannungenverschärften: einbrechende Einnahmen aus dem Ölex-port, die vom Westen erzwungene Liberalisierung derWirtschaft, die fehlende soziale Verantwortung des Re-gimes, ineffiziente Verwaltungsstrukturen, und dann kam die Dürre obendrauf . Jeder normal denkende Menschweiß: Wenn man in so eine Krisenregion Waffen liefert, wie es deutsche Firmen getan haben, dann legt man dieZündschnur .
Deshalb lehnt die Linke Waffenexporte strikt ab. Die Linke fordert fairen Handel statt Freihandel, mehr Gelderfür Entwicklung und die Unterstützung des Ausbaus dererneuerbaren Energien .
Hätte man 2012 diese Maßnahmen ergriffen, würden Hunderttausende Syrer vielleicht noch leben, wären Mil-lionen nicht auf der Flucht . Aber der Prophet gilt im ei-genen Hause bekanntlich nichts .
Wahrscheinlich ignorieren Sie deshalb seit Jahren unsereWarnungen und Forderungen und sogar die Informatio-nen der Bundeswehr .Ich freue mich trotzdem über den Antrag der Koali-tion und habe die Hoffnung, dass Sie vielleicht zukünf-tig die Ergebnisse der Forschung übernehmen werden,auch wenn in diesem Antrag sehr wenig Konkretes steht .Die Linke wird alles unterstützen, was Kriege verhindertoder beendet, Frieden sichert und Frieden schafft – ohne Waffen.Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat René Röspel
für die SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vielleicht ist es sogar bezeichnend, dass wiran einem Mittag kurz vor dem Wochenende, nachdemüber die Militäreinsätze gesprochen und der Bericht desWehrbeauftragten gegeben worden ist, noch über Frie-dens- und Konfliktforschung reden, sozusagen am Ende der Sitzungswoche .
Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich indem Alter vieler der Zuhörer hier war: 1979 saß ich vordem Fernseher und betrachtete entsetzt die sowjetischeArmee, die in Afghanistan einmarschierte, und ich warnicht sicher, was passieren würde . Ihr in der DDR werdetdas vielleicht anders gesehen und anders beurteilt haben .
Es gab ein paar Tage und Wochen Diskussionen, in denenbegründet wurde, warum das passiert, und dann ist dasThema schnell wieder verschwunden, und man hat Jahrenichts davon gehört .Mir, wie vielen Millionen anderer Menschen, begeg-nete das Thema Afghanistan erst wieder, als James Bondin dem Kinofilm Der Hauch des Todes von den afgha-Ralph Lenkert
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nischen Mudschaheddin, den Glaubenskriegern, gerettetwurde, und das waren dann offenbar die Guten. Das The-ma ist dann wieder verschwunden, und im März 2001ging ein Erschrecken durch die Weltbevölkerung, weildie Taliban die Buddha-Statuen in Bamiyan, die zumWeltkulturerbe gehörten, zerstörten . Die Welt war überdiesen Kulturfrevel entsetzt . Ein halbes Jahr später muss-te dann der Bundestag hier entscheiden, ob er sich militä-risch an einem Einsatz in Afghanistan beteiligt .Viel differenzierter als der Krieg in Afghanistan sind in den 90er-Jahren die Golfkriege betrachtet worden . Siewaren viel mobilisierender . Tausende von Menschen, da-runter Kinder und Schüler, sind auf die Straße gegangen .Damals war der Irak unter Saddam Hussein sozusagendas Bollwerk des freien Westens gegen den Iran unterdem Ajatollah Chomeini . Das ändert sich relativ schnell .Irgendwann Jahre später wurde dann Saddam Husseinder Gegner und der Böse in einer Auseinandersetzung,bei der es um viel mehr ging als um Frieden in der Golf-region, nämlich auch um wirtschaftliche Interessen .Als in Libyen die Gelegenheit bestand, Gaddafi los-zuwerden, waren viele Länder versucht – sie haben esauch gemacht –, Gaddafi zu stürzen, nicht wissend, was eigentlich in dem Land und mit dem Land danach pas-sieren wird .Wenn man die fürchterlichen Bilder aus Syrien sieht –so geht es mir jedenfalls –, weiß man nicht, wer bei demKonflikt gerade mit wem gegen wen wofür kämpft. Am Ende ist die Frage: Wer sind eigentlich die Guten und werdie Bösen? Die Antwort darauf wird es so nie geben, weildas ganze Feld sehr komplex ist .Wer sind eigentlich diejenigen, die Kriege anfangen?Wie entstehen Konflikte? Wo ist Konfliktpotenzial? Was sind die Ursachen von Kriegen? Ralph Lenkert hat jaeinige angesprochen . Was werden die neuen Herausfor-derungen sein? Zum Beispiel der Klimawandel oder dieTatsache, dass Menschen nicht mehr in ihrer Region le-ben können, weil sie dort kein Wasser haben, keine Chan-ce auf Arbeit, ihre Ernährung nicht sicherstellen können,weil es dort unterschiedliche Ethnien gibt, die aufgrundbestimmter Bedingungen als Land zusammengeschweißtwurden – wie geht man mit solchen Fragen um?Wenn es um die Antworten geht, braucht Politik im-mer Hilfe und Beratung . Das Beste wäre, wenn man eineFriedens- und Konfliktforschung hätte, die eindeutige Antworten geben kann . Das ist im seltensten Fall so .Aber es ist wichtig, dass es eine solche Friedens- undKonfliktforschung gibt. Wir sind in Deutschland exzel-lent aufgestellt . Ich habe in meiner vor einigen Wochenzu Protokoll gegebenen Rede viele Institute aufgezählt,auf die wir stolz sein können . Sie verrichten gute Arbeit .Ihre Analysen und Äußerungen werden häufig nicht ge-nug beachtet, aber sie geben wichtige Anhaltspunkte fürpolitische Entscheidungen .Ein wichtiger Impuls, den wir als Koalition mit die-sem Antrag setzen, ist, dass wir der Friedens- und Kon-fliktforschung einen anderen Stellenwert geben und für Kontinuität und Verlässlichkeit sorgen wollen . Auch dasist ein wesentlicher Vorteil dieses Antrags: Wir redenüber dieses Thema, während die Opposition in dieserFrage leider keinen Vorstoß gemacht hat .
Ich finde sogar, dass Friedens- und Konfliktforschung so verlässlich und kontinuierlich finanziert werden sollte, wie wir es beim Pakt für Forschung und Innovation ma-chen, in dessen Rahmen wir technische Wissenschaftenund viele andere mit 3 Prozent jährlich fördern .
Ausdrücklich will ich an dieser Stelle – meine Rede-zeit ist kurz – Claudia Lücking-Michel für ihr Engage-ment danken und dafür, dass der Antrag, über den wirhier reden, überhaupt zustande gekommen ist . Das warnicht ganz einfach . Wir haben bei dem gemeinsamen An-trag für Friedens- und Konfliktforschung vieles abspe-cken müssen . Es ist auch dein Verdienst, dass es möglichgeworden ist, dass wir diesen Impuls setzen. Ich finde es ausdrücklich schade, dass wir gerade aus den Reihender Verteidigungspolitiker der Union immer wieder auf-gefordert wurden, das Ganze abzuspecken oder zu redu-zieren .Ich will an dieser Stelle sagen: Wir haben in diesemHaushalt den Verteidigungsetat gegenüber dem letztenJahr um 2 700 Millionen Euro erhöht . Angesichts derKrisen und Katastrophen, angesichts der Notwendig-keit, mehr darüber zu wissen, wie Konflikte entstehen, wie man sie vielleicht verhindern kann und wie manAbrüstung und Rüstungskontrolle machen kann, müsstees doch eigentlich ein paar Millionen mehr für Friedens-und Konfliktforschung geben, um an den Ursachen zu arbeiten .
Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch beiden vielen in der Bevölkerung, die seit Jahrzehnten inder Friedensbewegung immer wieder daran gearbeitethaben, Ursachen differenziert zu betrachten und auf sie hinzuweisen . Sie erlauben mir, dass ich stellvertretend andieser Stelle ganz herzlich Günter Sauerbier danke, derin einigen Minuten in Hagen einen Friedenspreis für seinLebenswerk, für seine Arbeit bei Pax Christi bekommenwird . Menschen wie er sind es, die unsere Gesellschaftbesser machen; von diesen brauchen wir viel mehr . Ichwünsche Ihnen viele gute Erkenntnisse und dass wir beider Friedens- und Konfliktforschung besser werden.Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Kai Gehringfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .René Röspel
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!An diesem Tag einer tiefen Zäsur in den USA diskutierenwir über die Perspektiven der Friedens- und Konfliktfor-schung hierzulande. Ich finde das durchaus passend. Denn das Verstehen von Konfliktursachen, das Verhin-dern von Konflikten und Kriegen, mehr Prävention, Rati-onalität und Gedankenaustausch tun den internationalenBeziehungen gut . Anders gesagt: Postfaktische Einfaltdarf die internationale Politik nicht bestimmen; denn esgeht letztlich um den Erhalt des friedlichen Zusammen-lebens von uns allen . Die Politik ist auf wissenschaftlichfundierte Informationen und Empfehlungen angewiesen .Für uns Grüne ist deshalb klar: Wir müssen die Friedens-forschung besser ausstatten und systematisch stärken .
Die Regierung hat die Expertise der Friedens- undKonfliktforschung in den vergangenen Jahren zu wenig berücksichtigt . Das muss sich dringend ändern . Die Er-gebnisse der Friedensforschung müssen endlich stärkerin der Regierungsarbeit auf allen Ebenen Leitschnur wer-den .
Politische Tatkraft und Weisheit können dadurch nichtersetzt werden . Aber die Forschung kann uns Parlamen-tariern und auch den Regierungsmitgliedern wichtigeEntscheidungshilfen in sehr unsicheren Zeiten geben .Genannt seien die verschärften Herausforderungen desinternationalen Terrorismus und asymmetrischer Kriegs-führung, Attacken auf unsere digitalen Infrastrukturenund Verteilungskonflikte – Verteilungskonflikte aufgrund von Ressourcenmangel, von Klimakrise, aufgrund einerunfairen Handelspolitik oder der wachsenden Kluft zwi-schen Arm und Reich; Kollege Lenkert hat hierzu auchschon ausgeführt .Notwendig sind dafür mehr interdisziplinäre undvernetzte Forschungsansätze, wie sie in dieser Wocheim Forschungsausschuss auch mit Blick auf Flucht undFlüchtlinge diskutiert wurden .In ihrem Antrag listet die Koalition die wichtigstenForschungsinstitute im Bereich Frieden und Konflikt auf. Das ist verdienstvoll . Wir vermissen allerdings konkreteAussagen zu strukturellen Verbesserungen und zu denZukunftsperspektiven dieser Institute und ihrer künftigenFinanzierungsstruktur . Die Finanzierungslücken sind ek-latant – vor allem, wenn renommierte Institute wie dieDeutsche Stiftung Friedensforschung auf Zinszahlungenaus ihrem relativ kleinen Stiftungskapital angewiesensind . Das muss sich dringend bessern .
Denn die unsichere Finanzierung ist auch eine wichti-ge Ursache dafür, dass der wissenschaftliche Nachwuchsin diesem so wichtigen Forschungsfeld nur schwer Fußfassen kann . Die Friedensforschung ist leider ein Muster-beispiel dafür, wie unsichere Beschäftigungsperspekti-ven zur Abwanderung hochqualifizierter Nachwuchswis-senschaftlerinnen und -wissenschaftler führen . DiesenVerlust an Expertise dürfen wir uns nicht länger leisten .
Wir begrüßen, dass der Wissenschaftsrat mit derEvaluation der Friedensforschungsstrukturen beauftragtwurde . Aus den Ergebnissen müssen wir dann aber tat-sächlich auch Konsequenzen ziehen, vor allem zur Stär-kung der Friedensforschung in Deutschland .Verbesserungsbedarf sehen wir auch bei der europä-ischen und internationalen Vernetzung . Es ist gut, dassdie Deutsche Stiftung Friedensforschung zumindest klei-ne Pilotprojekte im internationalen Raum startet . Mehrist momentan nicht drin, weil die Stiftung an ihrem Limitarbeitet . Das hat sogar der Bundesrechnungshof festge-stellt und bemängelt . Und das sollten Sie doch ernsternehmen, meine Damen und Herren . Das hätten Sie mitIhrem Antrag doch ändern können .
Friedensförderung und Konfliktprävention sind für uns Querschnittsaufgaben . Es geht dabei auch um denAusbau der Friedenspädagogik, um zivile Krisenpräven-tion etwa durch den Ausbau von Austauschprogrammen,Freiwilligendiensten und interdisziplinären internationa-len Studiengängen . Gerade bei Letzterem könnte sich dasBMBF auch deutlich mehr anstrengen .Friedensforschung muss unabhängig sein . Friedens-forschung muss auch immer unbequem sein . Gerade siekann Ursachen für Konflikte aufdecken, die andere nicht sehen können oder sehen wollen – beispielsweise denZusammenhang zwischen steigenden Rüstungsexportenund Fluchtursachen .Wir sollten dies als Parlament wertschätzen und be-rücksichtigen . Dem Koalitionsantrag merkt man aber angenau diesen Stellen an, dass sich die Autorinnen undAutoren der Koalition hier nicht grün sind .
Uns als Grünen geht es nicht nur um die Methodender Friedensforschung, sondern es geht uns um Inhalte,um bessere Strukturen und um höhere Finanzmittel . Ge-rade zu diesen wichtigen Bereichen schweigen Sie sichin dem Antrag weitestgehend aus .Wegen dieser Unzulänglichkeiten und Unklarheitenkönnen wir Ihrem Antrag leider nicht zustimmen – soverdienstvoll es ist, dass Sie sich dem Thema überhauptwidmen; wahrscheinlich auch, um Kürzungswünschenvon Frau Wanka etwas entgegenzuhalten .Gleichwohl freuen wir uns auf die gemeinsame Zu-sammenarbeit an diesem so wichtigen Thema . Spätestenswenn die Evaluationsergebnisse des Wissenschaftsratesvorliegen, sollten wir zu substanzielleren Antworten fürden Ausbau der Friedensforschung in Deutschland kom-men; denn in einer Welt, die immer stärker aus den Fugengeraten ist, braucht es Konflikt- und Friedensforschung mehr denn je .
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 213 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 20 . Januar 201721398
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Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Philipp
Lengsfeld von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag hatmeine Unterstützung, obwohl sich der Titel wie eine Pa-role aus meiner Pionierzeit in der DDR anhört .
Es handelt sich tatsächlich um ein wichtiges Anliegen,insbesondere natürlich auch vor dem Hintergrund unse-rer deutschen Geschichte – das ist hier, glaube ich, nochnicht erwähnt worden –, aber nicht nur wegen unsererVerbrechen . Es gibt im Zusammenhang mit der Frie-dens- und Konfliktforschung einen sehr positiven, bei-spielgebenden Prozess in unserem Land . Die Wende inder DDR, der Einigungsprozess und der Zusammenbrucheiner hochgerüsteten Diktatur praktisch ohne Blutvergie-ßen – ein Klassiker der modernen Friedens- und Kon-fliktforschung.
Aber Friedens- und Konfliktforschung hat natürlich auch einen ganz konkreten Bezug zur aktuellen deutschenPolitik – auch das ist schon mehrfach erwähnt worden –,insbesondere da Deutschland zur verstärkten Übernahmeinternationaler Verantwortung bereit ist, wie zum Bei-spiel im Münchner Konsens vor zwei Jahren festgestelltwurde . Damit sind auch wir als Deutscher Bundestag ineiner besonderen Verantwortung . Es ist also folgerichtig,dass wir uns mit dem Feld der Friedens- und Konfliktfor-schung mehr beschäftigen und es stärken .Die wissenschaftliche Analyse von Konfliktursachen ist von herausragender Bedeutung, um Fehlentwick-lungen frühzeitig zu erkennen, Strategien für friedlicheLösungen zu entwickeln und fundierte Entscheidungenzu treffen; auch das ist schon gesagt worden. Ich will an einem konkreten Beispiel illustrieren, dass die Thema-tik durchaus nicht nur komplex, sondern teilweise auchhochinteressant ist . Ich greife einen Nebenaspekt derKonfliktforschung heraus: das Thema „Begleitende My-then“; sie sind ja oft wesentlicher Teil einer Auseinan-dersetzung .
Ich nehme als konkretes Beispiel die Auseinanderset-zung um die Krim, ein aktuelles, wenn auch nicht mehrbrandaktuelles Beispiel .
Wussten Sie zum Beispiel, liebe Kolleginnen undKollegen, dass die Annexion der Krim durch die Russi-sche Föderation eigentlich ein russisch-deutsches Projektwar oder ist?
So wurde es jedenfalls einer sehr erstaunten Helm-holtz-Delegation – ich war dabei – 2014 in Moskauanlässlich des zehnjährigen Jubiläums des MoskauerHelmholtz-Büros von einem hochrangingen russischenWissenschaftler erklärt .
Ich glaube, er wollte uns eine Art Kompliment machenund um mehr Verständnis auf deutscher Seite bitten .
Die Lösung ist natürlich ganz einfach: Die erste russi-sche Annexion der Krim erfolgte unter Katharina derGroßen, die als geborene Sophie Auguste Friederike vonAnhalt-Zerbst natürlich Deutsche war . Sie können sichvorstellen, dass die deutsche Delegation in Moskau et-was gequält gelächelt hat .
Viel interessanter finde ich in diesem Zusammenhang aber, dass die Annexion 1783 von Fürst Potemkin ange-führt wurde – er war dafür zuständig –, der mit Blickauf einen Besuch der siegreichen Zarin Katharina auf derKrim ebenjene berühmten, aber falschen russischen Dör-fer errichtet hat, um der Zarin die erfolgreiche Russifizie-rung der Krim zu demonstrieren . „Potemkinsche Dörfer“ist ein geflügeltes Wort, nicht nur im Deutschen.
Mich persönlich hat die Sowjetzeit immer mehr inte-ressiert . Diesen zweiten Punkt der Krim-Mythologie willich nicht unerwähnt lassen, weil er die ganzen Schwierig-keiten und Sensibilitäten einer solchen Geschichte ziem-lich gut deutlich macht . 1954 wurde die Krim nämlichinnerhalb der Sowjetunion administrativ umgehangen:von der Russischen SFSR zur Ukrainischen SSR .
Dieser Vorgang wird heute von russischer Seite gerne sodargestellt, als habe der Ukrainer Chruschtschow – qua-si in einer Wodkalaune, ohne echten Grund, unter Bruchselbst sowjetischer Regeln – dieses Stück Land der Ukra-ine unrechtmäßig zugeschanzt – eine perfide Legende, die wie alle guten Lügen natürlich auch einen Teil Wahr-heit enthält .
Chruschtschows ursprüngliche Machtbasis war dieUkraine . Es gab nach Stalins Tod 1953 einen heftigenMachtkampf, und die Unterstützung der ukrainischen
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Kommunisten brauchte er dabei dringend . Nicht richtigist aber, dass es für diese administrative Änderung nichtgute Gründe gab . Die Versorgung der Krim lief vor allemüber die Ukraine; das ist übrigens heute noch eine He-rausforderung in diesem Konflikt.Was ich an der Legende aber besonders perfide finde – deshalb erzähle ich sie hier –, ist die subtile nationalis-tische Unterstellung . Mit sehr, sehr großer Wahrschein-lichkeit – ich habe das nachgeprüft; es ist gar nicht soeinfach herauszubekommen – ist Chruschtschow näm-lich Russe:
nach Geburtsort, nach ethnischer Herkunft und auch for-mal gemäß den damals gültigen sowjetischen Rechtsnor-men . An diesem vermeintlich kleinen Beispiel erkennenSie die Dimension dieser Art von Problematiken .Und deshalb muss die Arbeit in der Friedens- undKonfliktforschung sehr verantwortungsbewusst betrie-ben werden . Interdisziplinäre und internationale Zusam-menarbeit ist absolut essenziell .Eine gute Qualitätssicherung ist sehr wichtig; dennKonflikte werden auch gerne mithilfe von „wissenschaft-lichen Erkenntnissen“ angeheizt . Eine gut geförderteForschungslandschaft in einem sehr politischen und vorallem sehr dynamischen Umfeld in Deutschland kannauch die Tendenz zum Wildwuchs zeigen . Deshalb istmir die im Antrag festgeschriebene externe Evaluierungdurch den Wissenschaftsrat ein wichtiges Anliegen . Ichbin mir auch sicher, dass dies völlig im Interesse desHauses ist .Es ist gut und richtig – das ist heute auch schon er-wähnt worden –, dass sich die Forschung stets auch anaktuellen Fragestellungen ausrichten muss . Ich begrüßees deshalb ausdrücklich, dass es ein BMBF-gefördertesProjekt „Salafismus in Deutschland“ gibt; es ist schon erwähnt worden .Zum Abschluss kann ich mir eine Bemerkung zu un-serer Aktuellen Stunde am Mittwoch nicht ersparen . Imerweiterten Zusammenhang mit dem Mörder Amri ausTunesien brachte Dietmar Bartsch, der Vorsitzende derLinksfraktion, die linken Standardfloskeln von den Inter-ventionskriegen und dem Klimawandel als den tieferenFluchtursachen ins Spiel . Das mag in der Theorie richtigsein . Ich sage dazu ganz ausdrücklich in Richtung derlinken Seite: Bitte unterlassen Sie im konkreten Fall auchnur den Versuch einer Legendenbildung . Die Geschichtedes Mörders und Terroristen aus Tunesien hat weder miteiner Intervention noch dem Klimawandel zu tun .
Und ein Flüchtling war er auch nicht . Für diese Feststel-lung brauche ich eigentlich keine Wissenschaftler, aberwenn es gutgemachte Untersuchungen über die wahrenUrsachen des Islamismus in Deutschland gibt, wird esvielleicht auch anderen leichter fallen, dieser Art von Le-gendenbildung ein klares Stoppsignal zu zeigen .Zusammengefasst: Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland dient der Beförderung von friedlichenKonfliktlösungen, von demokratischen Prozessen und Lösungen unter dem Leitstern von Freiheit und Men-schenrechten .So unterstütze ich das Anliegen der Stärkung der Frie-dens- und Konfliktforschung – auch unter dieser blumi-gen Überschrift .Vielen Dank .
Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat Frau
Dr . De Ridder von der SPD-Fraktion das Wort .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Mit einemsolchen Ritt in die Geschichte, wie ihn gerade PhilippLengsfeld präsentiert hat, kann ich nicht dienen .
Meiner geht nicht so weit zurück und bezieht sich aufGustav Heinemann . Er sagte schon – das ist 50 Jahreher –, dass der Friede der Ernstfall sei .Wenn ich Länderbeispiele wie Syrien, die Ukraineund – lieber Philipp Lengsfeld, wenn ich dein Ohr ge-winnen könnte – gern auch die Krim nenne, sehr verehrteKolleginnen und Kollegen, läuft – das weiß ich – in Ih-rem Hinterkopf ein Film ab . Das sind keine paradiesi-schen Bilder, die dann hervorgerufen werden .Gleiches gilt für die inneren Konflikte, wenn ich nach Europa gucke . Ich habe eine belgische Staatsan-gehörigkeit und trage heute eine Rosette, weil ich eben-falls wie Michael Roth ausgezeichnet worden bin . Dasdeutsch-belgische Verhältnis war aber lange ein kon-fliktträchtiges. Das kann ich auch mit Blick auf meine eigene Geschichte sagen . Auch das gilt es intensiver zubetrachten . Dafür muss man auf dem europäischen Kon-tinent bleiben .Aber am heutigen Nachmittag werden sich viele vonuns und von Ihnen – davon bin ich überzeugt – die Amts-übergabe an Donald Trump anschauen .
Sie werden dabei noch einmal mit dem Thema der Cy-berangriffe des sogenannten Cyberwar konfrontiert wer-den; ich komme darauf gleich zurück .Aber bleiben wir doch – im postfaktischen Zeitalter –bei den Fakten. Friedens- und Konfliktforschung ist ein Dr. Philipp Lengsfeld
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interdisziplinäres Wissenschaftsfeld . Wir tun gut daran,es nicht darauf zu reduzieren, dass es um geistes- undsozialwissenschaftliche Forschung geht . Es geht auch –auch das ist schon angesprochen worden – um Natur- undIngenieurwissenschaften . Das muss man entsprechendflankieren. Auch die Juristinnen und Juristen sind hierbei gefordert . Politik ist gut beraten, wenn sie auf die Befun-de der Friedens- und Konfliktforschung schaut.
Ich bin im Übrigen Stefan Müller sehr dankbar, dermich immer zu den Sitzungen der Deutschen StiftungFriedensforschung begleitet; er ist rege und intensiv da-bei . Es ist richtig: Wir haben mitnichten das Programm sogelassen, wie es war . Wir haben für eine Neuaufstellunggesorgt . Die Deutsche Stiftung Friedensforschung hat dieEmpfehlung, die wir ausgesprochen haben, sehr gern auf-genommen, nämlich dort, wo es um den Wissenstransferund um die Öffentlichkeitsarbeit zu den bereits erzielten Befunden der Friedens- und Konfliktforschung geht. Lie-ber Stefan Müller, Lob gibt es aber nicht umsonst . DieDeutsche Stiftung Friedensforschung verlangt in der Tatnach einer deutlich besseren Finanzierung, insbesonde-re – auch dies wurde erwähnt – in Niedrigzinsphasen .
Ich will aber auch das Leibniz-Institut HessischeStiftung Friedens- und Konfliktforschung nicht uner-wähnt lassen . Ich will das Augenmerk ebenso auf dasDeutsch-Kolumbianische Friedensinstitut in Gießen len-ken, weil wir auch den lateinamerikanischen Teil unsererWelt nicht aus dem Blick verlieren dürfen . Denn auchKolumbien hat große Probleme; das wissen wir . Vielewaren entsetzt darüber, wie der Friedensverhandlungs-prozess ausgegangen ist .Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, was wirin der Friedens- und Konfliktforschung brauchen. In der Tat muss diese Forschung besser und stärker alimentiertwerden . Aber dafür bietet uns der Antrag jetzt die Mög-lichkeit . Es geht darum, europäische Forschungsverbün-de zu schaffen, Wissenschaftsnetzwerke zu unterstützen, um damit deutlich zu machen, dass es möglicherweiseeine Aufgabe der Deutschen Stiftung Friedensforschungist, dies mit zu flankieren.Wenn wir über Cyberwar, Cyberkrisen und Cyberatta-cken im Netz reden, dann müssen wir auch über die For-schung zur Cyberresilienz reden . Dies sind neue Themenund Schwerpunkte, die es interdisziplinär anzugehen gilt .
Wir müssen auch über den wissenschaftlichen Nach-wuchs reden . Für viele jüngere Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler ist das Thema der Friedens- und Kon-fliktforschung offensichtlich nicht mehr so brisant. Das sollten wir ändern, da müssen wir mehr tun .Es bleibt bei der Schnittstellenforschung und beimWissenstransfer . Auch den Gender- und Diversity-As-pekten sollten wir uns nähern, was die Unterstützungangeht. Flucht und Frauen oder auch ethnische Konflikte sind ebenfalls ein riesiges Thema .Lassen Sie mich enden, indem ich Ihnen in Erinne-rung rufe, was einst Willy Brandt sagte: „Krieg“ – so dasZitat – „ist nicht mehr die Ultima Ratio, sondern die Ul-tima Irratio.“ Friedens- und Konfliktforschung beweist dies jeden Tag .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-mit schließe ich die Debatte .Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Dem Friedenverpflichtet – Friedens- und Konfliktforschung stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10849, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10239 anzuneh-men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieseBeschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Opposition an-genommen worden . – Damit schließe ich diesen Tages-ordnungspunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen .Ich komme zum Tagesordnungspunkt 27:Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Katja Keul,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUnternehmensmitbestimmung stärken –Grauzonen schließenDrucksache 18/10253Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazukeinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Im letzten Jahr wurde unser Antragzur betrieblichen Mitbestimmung abgelehnt . Ich sagtedamals, wir bleiben dran an diesem Thema . Deshalb le-Dr. Daniela De Ridder
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gen wir heute einen Antrag zur Unternehmensmitbestim-mung vor;
denn auch hier werden die weißen Flecken immer größer .Auch die Unternehmensmitbestimmung ist in der Defen-sive . Deshalb müssen wir auch hier gesetzlich nachbes-sern und Schlupflöcher schließen.
Der politische Wille ist eindeutig . Das Mitbestim-mungsgesetz von 1976 und das Drittelbeteiligungsgesetzformulieren klar: Die Beschäftigten sind demokratischan der Unternehmensspitze zu beteiligen . – Und dochzeigen die Studien der Hans-Böckler-Stiftung ein ande-res Bild . Mehr als 800 000 Beschäftigte werden durchjuristische Tricks von der Unternehmensmitbestimmungausgeschlossen . 2002 waren noch 767 Unternehmenparitätisch mitbestimmt, heute sind es nur noch 635 .Eine Stichprobe zur Drittelbeteiligung hat ergeben, dass56 Prozent der Unternehmen diese Pflicht ganz einfach ignorieren . Zu viele Unternehmen vermeiden die Unter-nehmensmitbestimmung durch die geschickte Wahl derRechtsform . Sie nutzen vorhandene Rechtslücken stra-tegisch und bewusst, und das geht gar nicht . Die Fluchtaus der Mitbestimmung im Aufsichtsrat kann und mussgestoppt werden .
Das war übrigens auch Thema bei einem Symposiumder Hans-Böckler-Stiftung im letzten Jahr . Zu Gast warMinisterin Nahles . Sie sagte damals, die Unternehmens-mitbestimmung habe Risse bekommen, und sie sprachvon Handlungsdruck . Aber schon zwei Wochen späterwusste das Bundesarbeitsministerium davon gar nichtsmehr . Ich hatte mit einer Kleinen Anfrage nach der Situ-ation bei der Unternehmensmitbestimmung gefragt . DieAntworten waren nichtssagend . Die Bundesregierungweiß nichts; sie hat auch keine belastbaren Daten . Daskann alles nachgelesen werden . Auch der besagte Hand-lungsdruck wurde mit keinem Wort erwähnt . Vor diesemHintergrund sind die Aussagen von Ministerin Nahlesnichts anderes als eine Farce, und das ist nicht akzep-tabel .
Weil der Bundesregierung jegliches Problembewusst-sein fehlt, werden wir Grünen jetzt mit unserem Antragzur Unternehmensmitbestimmung aktiv . Zumindest vierForderungen möchte ich ganz kurz ansprechen:Erstens . Aldi Nord und Süd werden durch zwei Fa-milienstiftungen gesteuert . Darunter liegen Regionalge-sellschaften, und zwar in der Form einer GmbH & Co .KG . Weil weder bei Stiftungen die Mitbestimmung nochbei Kommanditgesellschaften die Drittelbeteiligunggreift, werden 66 000 Aldi-Beschäftigte von der Mitbe-stimmung in Aufsichtsräten ausgeschlossen . Das ist mitnichts zu rechtfertigen . Deshalb wollen wir Stiftungen,die Erwerbszwecke verfolgen, in die Unternehmensmit-bestimmung einbeziehen .Zweitens . Wir wollen auch Kommanditgesellschaf-ten ins Drittelbeteiligungsgesetz aufnehmen, wenn derKomplementär keine natürliche Person, sondern eineKapitalgesellschaft ist . Die Mitbestimmung muss an dieveränderte Unternehmenslandschaft angepasst werden;denn die heutigen Ausnahmen sind nicht fair und schongar nicht gerecht .
Drittens wollen wir die Konzernzurechnung, die heutenur für Unternehmen mit mehr als 2 000 Beschäftigtengilt, auch im Drittelbeteiligungsgesetz verankern; dennes gibt etliche Unternehmen mit mehr als 500 Beschäf-tigten, die sich gezielt in kleine Einzelteile zerlegen, nurum die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten zu um-gehen . Auch damit muss Schluss sein .Viertens . Es geht aber nicht nur um die Lücken beider Mitbestimmung . 56 Prozent der Unternehmen – ichhabe es schon gesagt – verstoßen gegen das Drittelbetei-ligungsgesetz . Sie ignorieren rechtswidrig die Rechte derBeschäftigten auf Mitbestimmung . So entstehen rechts-freie Räume, und das ist nicht akzeptabel . Deshalb sindSanktionen notwendig; denn die Mitbestimmung mussnicht nur konsistent, sondern auch rechtssicher ausge-staltet werden .
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die Mitbestim-mung hat sich auf Unternehmensebene bewährt . Sie istein wesentliches Element der sozialen Marktwirtschaftund hat einen nicht unerheblichen Beitrag dazu geleistet,dass Deutschland wirtschaftliche Krisen meistern konn-te . – Jetzt könnten Sie eigentlich alle klatschen; denn daswar die einzige konkrete und richtige Antwort der Bun-desregierung auf meine Kleine Anfrage .
Auch die Konsequenzen daraus müssten eigentlich klarsein . Wenn Unternehmen die Mitbestimmung bewusstumgehen, wenn sie die Mitbestimmung rechtswidrig ig-norieren, dann müsste das doch aufschrecken und eigent-lich zum Handeln bewegen .Bei der Mitbestimmung müssen für alle Unterneh-men die gleichen Rahmenbedingungen gelten und füralle Beschäftigten die gleichen Mitbestimmungsrechte .Vor allem gehört zu einer funktionierenden Demokratieauch eine demokratische Teilhabe der Beschäftigten inden Unternehmen . Um diese Teilhabe auch in Zukunftsicherzustellen, müssen Sie, die Regierungsfraktionen,endlich die Lücken bei der Mitbestimmung schließen .Die schönen Reden, die wir jetzt gleich bestimmt wiederhören, sind zu wenig; Handeln ist angesagt .
Bekräftigen Sie den politischen Willen, und stärken Siedie Unternehmensmitbestimmung! Noch haben Sie Zeit .Beate Müller-Gemmeke
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Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Uwe Lagosky
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Mitbestimmung ist ein wesentlicher Faktor für denbetrieblichen Frieden und damit auch für die Produkti-vität unserer Unternehmen . Als ehemaliger stellvertre-tender Aufsichtsratsvorsitzender eines drittelparitätischmitbestimmten Unternehmens kann ich darüber einigeserzählen . Für mich ist Mitbestimmung für das Gelingenunserer sozialen Marktwirtschaft absolut erforderlich; siegehört dazu .
– Wenn Sie das mit „schönen Reden“ gemeint haben,dann sage ich: Danke für den Applaus .Durch die Unternehmensmitbestimmung spiegelnsich im Aufsichtsrat nicht nur die Interessen der Anteils-eigner, sondern auch die der Arbeitnehmer wider . Durchdas Drittelbeteiligungsgesetz – wir haben schon zum Teildavon gehört – wird ab einer Unternehmensgröße von500 Mitarbeitern ein Drittel des Aufsichtsrates durch Ar-beitnehmer besetzt . Ab 2 000 Mitarbeitern kommt dasMitbestimmungsgesetz von 1976 zur Geltung . Danachbesteht der Aufsichtsrat je zur Hälfte aus Arbeitgebernund Arbeitnehmern . Dazu kommt noch das Montan-Mit-bestimmungsgesetz von 1951, das unter einer unions-geführten Bundesregierung – das darf ich an der Stelledeutlich sagen – eingeführt wurde
und die Basis unserer Mitbestimmung ist . Diese Eini-gung war nicht nur für Unternehmen der Montanindus-trie – Bergbau-, Stahl- und Eisenindustrie – ein Meilen-stein, sondern für die Mitbestimmung generell . Das kannman hier, denke ich, auch so deutlich erwähnen .
– Natürlich leben wir im Heute; darauf komme ich jetztzu sprechen . – Nach wie vor gilt für diese Unternehmeneine paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat ab ei-ner Betriebsgröße von 1 000 Mitarbeitern, beispielsweisebei der Salzgitter AG in meinem Wahlkreis .Lassen Sie mich einen Blick auf die Ursprünge deraktuellen Gesetzgebung werfen . Der Abstimmung überdas Mitbestimmungsgesetz im Februar 1976 im Parla-ment ging ein Diskussionsprozess von acht Jahren undeine darauf folgende Phase von zwei Jahren, in der derAusschuss für Arbeit und Soziales über dieses Themadiskutiert hat, voraus . Das war der gesellschaftlichen Be-deutung dieses Themas angemessen und führte am Endedes Dialoges dazu, dass das Mitbestimmungsgesetz mitgroßer Mehrheit im Deutschen Bundestag verabschiedetund eingeführt wurde .Ziel muss es auch heute sein, einen solch nachhalti-gen, tragfähigen Kompromiss zu finden. Das kann die Politik nicht allein, sondern nur mit Arbeitgebern undArbeitnehmern zusammen schaffen.Dass es sinnvoll war, über das Thema Mitbestimmungausgiebig zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zudiskutieren, beweist die lange Lebensdauer der Vereinba-rung: von 1976 bis heute . So etwas lässt sich eben nur miteinem Kompromiss erreichen und nicht mit kurzweiligenMehrheiten .
Unter Bundeskanzler Schröder wurde die zweite Bie-denkopf-Kommission ins Leben gerufen . Von Bundes-kanzlerin Angela Merkel wurde sie nach der Wahl bestä-tigt . Ihre Aufgabe war es, Vorschläge für eine moderneund europataugliche Weiterentwicklung der deutschenUnternehmensmitbestimmung zu erarbeiten . Damals, imJahr 2006, konnten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmernicht einigen . Die Politik hat damals bewusst davon ab-gesehen, über die Köpfe der Konfliktparteien hinweg zu entscheiden . So war es letztendlich gut, dass man so ver-fahren ist; denn das Mitbestimmungsgesetz, das darausentstanden wäre, wäre möglicherweise auf einem Funda-ment gebaut worden, das nicht allzu lange getragen hätte .Die Gründe für das Scheitern der Kommission werdenvon den Beteiligten je nach Perspektive ganz unterschied-lich bewertet . BDI und BDA hatten sich vorgenommen,die bisherige paritätische Mitbestimmung in den Auf-sichtsräten zu beenden und den Anteil der Arbeitnehmerauf ein Drittel herunterzufahren . Der Status quo seit 1976war natürlich, dass die Arbeitnehmer in den Unterneh-men ab 2 000 Beschäftigten paritätisch beteiligt wurden .Ich kann durchaus verstehen, dass das Angebot, das dieArbeitgeber damals unterbreitet haben, nicht auf Anhiebüberzeugt hat . Von daher war eigentlich von vornhereinklar, dass, wenn die Arbeitgeberseite auf ihren Extrem-forderungen beharrt, kein Kompromiss gefunden werdenwürde . Das betraf auch andere Verhandlungsbereichewie die Einordnung von Unternehmen mit ausländischerRechtsform . Leider muss man feststellen, dass die Arbeitder Kommission ergebnislos blieb .Zumindest die Professoren Kurt Biedenkopf, HellmutWißmann und Wolfgang Streeck haben einen Bericht ab-gegeben . In dem Bericht heißt es:Allerdings erscheinen verschiedene Anpassungs-maßnahmen geboten, um der gewachsenen Mobili-tät der Unternehmen und ihrer InternationalisierungBeate Müller-Gemmeke
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sowie veränderten rechtlichen Rahmenbedingungenauf europäischer Ebene gerecht zu werden .Wohl gemerkt, das war 2006 . Diese Feststellung wurdealso vor gut zehn Jahren getroffen. Dass wir uns auf den bestehenden Regeln nicht ausru-hen dürfen, zeigen auch die wirtschaftlichen Entwicklun-gen der letzten Jahre, die nach Beendigung der Arbeit derKommission eingetreten sind . Im Zuge der weltweitenFinanz- und Wirtschaftskrise hat sich einmal mehr ge-zeigt, dass die Mitbestimmung in Unternehmen keinenNachteil im internationalen Wettbewerb darstellt . In un-sicheren Zeiten ist die Phalanx aus Arbeitgebern und Be-legschaft ein Garant für die Stabilität .
– Ja, das ist auch wieder „schönes Reden“, keine Frage . –Es ist nun mal so gewesen – das haben wir in der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise festgestellt –: Die Sozialpart-nerschaft ist der entscheidende Baustein für die sozialeMarktwirtschaft und damit für den Erfolg Deutschlands .Es bleiben natürlich die Herausforderungen rund umdie Internationalisierung und die Europäisierung von Un-ternehmen bestehen . Unser Mitbestimmungsmodell mussauch für Unternehmen mit ausländischer Rechtsform inDeutschland gelten. Aus meiner Sicht betrifft dies ins-besondere die Mitbestimmung bei den europäischen Ak-tiengesellschaften . Auch ich sehe hier Handlungsbedarf .
Die europäische Initiative zur Einpersonengesellschaft,die auch Nachteile für die Mitbestimmung mit sich ge-bracht hätte, konnten wir in dieser Legislaturperiode zu-nächst aufhalten . Dankend weise ich auf den Entschlie-ßungsantrag hin, den wir hier im Bundestag einstimmigbeschlossen haben .Ihr vorliegender Antrag, liebe Grüne, macht allerdingsden zweiten vor dem ersten Schritt . Dass wir losgehenmüssen, darüber sind wir uns auf jeden Fall einig . Dafürmüssen wir Arbeitgeber und Arbeitnehmer allerdings aneinen Tisch bringen . Ich halte es für zielführender, wenneine Mitbestimmungskommission das Fundament füreine politische Entscheidung schafft. Denn nur wenn die Sozialpartner einen Konsens erarbeiten, besteht die Ge-währ, dass eine lang akzeptierte gesetzliche Regelung aufden Weg gebracht wird .
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen, der imersten Moment vielleicht nicht gleich mit dem ThemaMitbestimmung in Verbindung gebracht wird: Die Digi-talisierung hat Auswirkungen auf fast alle Bereiche unse-res Lebens und so auch auf den betrieblichen Alltag . EinBlick ins Silicon Valley und auf die Gründerszene hierin Deutschland und in vielen anderen Ländern zeigt, wasfür innovative Geschäftsmodelle dort ihren Anfang neh-men und weltweit Verbreitung finden. Neue Geschäfts-modelle haben erfahrungsgemäß enorme Auswirkungenauf bestehende Strukturen . Damit sind für die Unterneh-men erhebliche Chancen verbunden, gleichzeitig aberauch Risiken .Es wird deutlich, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der sich unsere Arbeitswelt so schnell verändert wiedie Intelligenz der Rechnersysteme – damit auch unsereArbeit und unsere Arbeitswelt . Das hat auch etwas mitunserer Unternehmensmitbestimmung zu tun . Nicht nurin wirtschaftlichen Krisenzeiten, sondern auch bei star-ken strukturellen Veränderungen kommen die Vorteileder Mitbestimmung zur Geltung .
Wenn sich ein Unternehmen fit für die Zukunft machen will, dann muss es seine Beschäftigten mitnehmen undmotivieren .
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind zwei Seiten der-selben Medaille . Es braucht den Dialog, um Antwortenauf Herausforderungen zu geben, vor die uns die Digita-lisierung und die Transformation von Unternehmen stel-len . Es braucht den Konsens, um die Erfolgsgeschichteder Mitbestimmung fortzuschreiben . Lassen Sie uns da-ran arbeiten!Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat jetzt Jutta
Krellmann für die Linke das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es gibt immer zwei Möglichkeiten, mitder Mitbestimmung umzugehen. Entweder man findet sie richtig gut, oder man findet sie richtig schlecht und sieht sie als einen Eingriff in die unternehmerische Selbstbe-stimmung . Für mich als Gewerkschaftssekretärin ist ganzklar: Ich stehe ausdrücklich auf der Seite der Befürwor-ter der betrieblichen Mitbestimmung und der Mitbestim-mung insgesamt .Für mich als Linke gehört die Ausweitung der Mitbe-stimmungsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern ganz oben auf die Agenda . Die Beschäftigten sollennicht nur über die Farbe der Gardinen in ihren Betrieben,sondern auch über das Was, das Wie und das Wo der Pro-duktion mitbestimmen .
Uwe Lagosky
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Mit anderen Worten: Sie müssen in die wirtschaft-lichen Entscheidungen des Unternehmens einbezogenwerden . Die Beschäftigten haben keinen Bock darauf,nur dann mitzubestimmen, wenn es um Lohnverzichtund den Abbau ihrer Arbeitsplätze geht . Aus Erfahrungweiß ich: Sie wollen auch mitentscheiden, ob Boni nuran die Chefetagen verteilt und ausbezahlt werden und obUnternehmensgewinne zur Sicherung der Arbeitsplätzereinvestiert werden .
Die Linke steht ganz klar hinter diesem Anspruch . Wirwollen die Mitbestimmung mit einem Gesamtkonzeptstärken und ausbauen – sowohl auf betrieblicher als auchauf Unternehmensebene . Die Unternehmensmitbestim-mung ist nur so gut wie die Gesetze, die sie tragen . Ge-nau hier liegt im Moment der Hase im Pfeffer.In dem Antrag der Grünen werden einige Bereicheaufgegriffen, in denen sich in den letzten Jahren Lücken entwickelt haben. Nur ein Beispiel: Die Leiharbeitsfirma Adecco hat einfach eine ausländische Rechtsform ange-nommen, und zack: Das war es mit der Unternehmens-mitbestimmung . Das kann doch überhaupt nicht wahrsein .Allein durch diese Gesetzeslücke schlossen schon2007 17 Unternehmen ihre Beschäftigten von der Mitbe-stimmung im Aufsichtsrat aus . Drei Jahre später waren esschon 37 Unternehmen, und fünf Jahre später, also 2015,waren es allein über diesen Weg sogar 69 Unternehmenmit insgesamt über 200 000 Beschäftigten . Das zeigt: Esist ein wachsendes Problem . Deswegen muss es durchden Gesetzgeber gelöst werden . Auf was wollen wir dennimmer wieder neu warten?Neu ist das alles auch nicht . Herr Lagosky, Sie habenes selbst gesagt: Schon vor zehn Jahren hatte der dama-lige Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Kommissionzur Reformierung der Unternehmensmitbestimmung ein-gesetzt . Das Problem war also schon damals, vor zehnJahren, bekannt . Leider ist die Kommission an der Un-beweglichkeit der Arbeitgeberverbände gescheitert . Siehatten gar kein Interesse an einer Reform . Nein, sie woll-ten die paritätische Besetzung in den Aufsichtsräten lie-ber verhindern als ausbauen .Die Kommission hat gezeigt: Wenn wir über Mitbe-stimmung reden, dann müssen wir nicht von wenigerMitbestimmungsrechten sprechen, sondern wir müssensie an dieser Stelle stärken .
Unser Ziel ist eine Ausweitung der Mitbestimmung;das ist ganz klar . Nur über diesen Weg ist für die Beschäf-tigten die demokratische Teilhabe in den Unternehmenmöglich . Das haben einige Landesregierungen, wie die inNiedersachsen oder die rot-rot-grüne Landesregierung inThüringen, auch verstanden . Deren Antrag „Mitbestim-mung zukunftsfest gestalten“ im Bundesrat enthält eineklare Ansage an die Bundesregierung: Kümmert euch umden Erhalt und den Ausbau der gesetzlichen Mitbestim-mung
und entwickelt sie europarechtlich weiter!Wieso das Europarecht wichtig ist, zeigt sich geradejetzt, wo einige Urteile anstehen . Anstatt endlich ihr Ge-wicht dafür einzusetzen, eine Richtlinie zur europäischenUnternehmensmitbestimmung auf den Weg zu bringen,wartet die Bundesregierung wieder einmal einfach ab .Einfach nur warten und nichts tun, das kann doch wohlnicht wahr sein . Es ist Ihre Aufgabe, sich zu bewegen,wenn Sie Probleme erkannt haben . Warten Sie nicht aufdie Initiativen der Opposition . Wir brauchen ein Mehran Mitbestimmung in den Betrieben . Wir brauchen eineSchließung der Schlupflöcher. Wir brauchen eine stärke-re Beteiligung der Beschäftigten .
Denn gute Arbeit ist für die Linke unbefristet, tariflich bezahlt und mitbestimmt .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Bernd Rützel
für die SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen!Sehr geehrte Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin froh, dass wir wieder einmal über die Mitbestim-mung sprechen; das ist dringend notwendig . In IhremAntrag weisen Sie zu Recht darauf hin, dass Deutschlanddie letzte Wirtschaftskrise dank der Mitbestimmung sogut überstanden hat . Erstens stimmt das, und zweitensrennen Sie mit diesem Thema offene Türen bei uns ein.
Wann immer es hier um die Mitbestimmung geht,weise ich darauf hin, dass seit Jahrzehnten die Mit-bestimmung eine tragende Säule unserer Sozial- undWirtschaftspolitik ist . Sie sorgt für Ausgleich und sozi-alen Frieden . Die Zeit titelt in ihrer gestrigen Ausgabe:„Arbeitnehmer, die mitbestimmen, sind gut für die Wirt-schaft“ . Hier hat also ein Umdenken stattgefunden .
An der Mitbestimmung wird aber – Sie haben das zuRecht beschrieben – geknabbert und genagt . Man kanndas auch als Erosionstendenzen bezeichnen . Mich ärgertdie Klage eines TUI-Aktionärs vor dem EuropäischenGerichtshof . Am kommenden Dienstag wird darüber ver-handelt, ob die Mitbestimmung gestärkt oder geschwächtwird; denn der Kläger hält es für ungerechtfertigt, dassnur die Beschäftigten innerhalb Deutschlands wählenJutta Krellmann
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dürfen . Sollte er Recht bekommen, dann ist das einemassive Gefährdung der Mitbestimmung in ihrer jetzi-gen Form .
– Richtig .Tatsächlich haben die Beschäftigten, egal welcherNationalität, in einem Unternehmen in Deutschland einWahlrecht, und das ist auch gut so . Selbstverständlich ha-ben deutsche und nichtdeutsche Beschäftigte an Standor-ten in anderen europäischen Ländern kein Wahlrecht wiein Deutschland . Das ist keine Diskriminierung . Vielmehrgilt das Territorialprinzip . Die Ansicht des Klägers istscheinheilig und sachlich falsch .Gott sei Dank sieht der Europäische Gewerkschafts-bund das genauso und hat noch einmal deutlich gemacht,dass man sich nicht auseinanderdividieren lässt . Dieeuropäischen Gewerkschaften stehen zusammen . DGB-Chef Reiner Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer haben sich gemeinsam zugunsten der Mitbestim-mung positioniert und nennen den Vorwurf des Klägersrealitätsfremd . Sie schreiben:Wer so etwas vorträgt, ist fern jeglicher Praxis inden Unternehmen – sei es aus Sicht des Arbeitge-bers, sei es aus Sicht des Arbeitnehmers .
Ich hoffe, dass die Richterinnen und Richter des Europäi-schen Gerichtshofs in Luxemburg in der nächsten Wochedie Mitbestimmung stärken und klarmachen, dass sie mitdem Europarecht vereinbar ist .Mich hat der Schulterschluss der Gewerkschaften mitden Arbeitgebern erfreut . Das zeigt, dass die Mitbestim-mung ein Standortvorteil ist . Es war ja lange Zeit so,dass fast alle Arbeitgebervertreter die Mitbestimmungoft verdammt haben . Wirtschaftswissenschaftler habenversucht, zu beweisen, dass sie Innovationen hemmt .Doch das Blatt hat sich gewendet . Die Wissenschaftlerrevidieren ihre Meinung, und aktuelle Untersuchungenheben hervor, dass mitbestimmte Unternehmen langfris-tig orientiert sind, mehr investieren, eine höhere Ausbil-dungsquote haben und mehr Menschen einstellen . DieArbeitnehmervertreter in diesen Unternehmen hängen anihrem Betrieb – sie sind oft länger im Unternehmen alsmancher Manager, der kurzfristig Erfolg erzielen will –,und sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz .
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von den Grünen,Sie stoßen mit Ihrem Antrag bei uns auf offene Ohren und treffen auf offene Türen.
Es gibt viele Gründe, die Mitbestimmung zu stärken .Die Wissenschaftler haben es erkannt . Arbeitgeber- undArbeitnehmervertreter sind hier gemeinsam unterwegs .Deswegen hoffe ich, dass sich auch bei unserem Koa-litionspartner – also nicht nur bei Arbeitgeberverbän-den und Ökonomen – die Sichtweise etwas verändernmöge . Denn die Mitbestimmung ist kein Hindernis fürden Standort Deutschland . Sie hat uns stark gemacht . DieVerlässlichkeit wurde durch sie erhöht .Man darf nicht ausgrenzen, man muss die Menschenmitnehmen und integrieren . Deswegen ist es das Gebotder Stunde, unsere Mitbestimmung zu stärken . Sollte dasin dieser Legislatur nicht möglich sein, dann wünsche ichuns allen, dass uns das spätestens in der nächsten Wahl-periode gelingt .In diesem Sinne vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Tobias Zech
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bun-despräsident Gauck hat die deutsche Mitbestimmung alsKulturgut bezeichnet, was, glaube ich, deutlich macht,wie einzigartig sie ist . Die BDA und der DGB sprechenvon Eckpfeilern der deutschen Sozialordnung und voneinem Teil der deutschen Wirtschaftsordnung . Das allesist richtig .
Meine Damen und Herren, es ist unbestritten: DieMitbestimmung in deutschen Unternehmen ist einewichtige Säule der Unternehmenskultur und der sozialenMarktwirtschaft, die wir in Deutschland haben . Sie wäreohne Mitbestimmung nicht möglich . Somit ist es richtig,für die Mitbestimmung zu kämpfen, vor allem wenn manweiß, wo die Mitbestimmung herkommt .
Wir sollten uns einmal überlegen – die Montangesetz-gebung wurde vorhin schon erwähnt –, was das Ziel war .Ziel war nämlich nicht das Erreichen von mehr Flexi-bilität, die heute von jedem – das steht auch in IhremAntrag – gelobt wird . Damit sind wir zwar gut über dieFinanzkrise hinweggekommen, aber das war nie das Ziel .Das Ziel bei der Einführung der Mitbestimmung war,die Kontrolle wieder in deutsche Hand zu bekommen .Es bestand die Vorstellung, dass es einen scheinbar un-auflösbaren Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gibt. Und was hat sich daraus ergeben? Das Gegenteil: Wirhaben erlebt, dass es da keinen unauflösbaren Konflikt gibt . Wir haben erlebt – wie die Kollegen vorhin ausge-führt haben –, dass durch die Mitbestimmung Prosperitäterreicht wurde und dass wir durch sie viel flexibler auf Bernd Rützel
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schwierige Situationen – sei es in Finanzkrisen, sei es inWirtschaftskrisen – reagieren können .
Man muss einmal darüber nachdenken, wo wir herkom-men . Seit 1920, seit 1967 ist das alles schon gemachtworden .Nun haben wir die Mitbestimmung – nicht nur ge-setzlich, sondern auch in den Unternehmen – weiterent-wickelt . Wir erleben in der Mitbestimmung ein partner-schaftliches Verhältnis und in der Regel auch ein gutesMiteinander . Es gibt nur wenige Streiktage, und wirhaben während eines Streiks eigentlich immer noch dieMöglichkeit, miteinander zu sprechen . Die Fronten ver-härten sich nicht . Somit können wir, glaube ich, ein Bei-spiel geben, wie man vernünftige Mitbestimmung auchim europäischen Kontext umsetzen kann . – So weit dieZustimmung .
– Frau Müller-Gemmeke, dazu muss ich schon noch et-was sagen . Ihr Antrag trägt einen guten Titel, hat damitaber nichts zu tun .Erstens widerspricht er sich inhaltlich .Zweitens . Wenn Sie trotz dieses etwas langweiligenbis uninspirierten Antrags wirklich daran interessiertsind, etwas für die Menschen, für die Unternehmen undfür die Mitbestimmung zu tun, dann müssen Sie zurKenntnis nehmen: Es wird nicht funktionieren, Problemenational zu lösen, sondern man muss, wie Sie in Punkt 7richtigerweise sagen, eine europäische Lösung herbei-führen .
Wenn man sich aber nur rudimentär – nicht einmaltief – mit diesem Thema beschäftigt, dann stellt man fest,dass es in 14 Ländern in Europa überhaupt keine Unter-nehmensmitbestimmung gibt; wenn überhaupt, gibt esdort eine betriebliche Mitbestimmung .
Alle Versuche, die Unternehmensmitbestimmung auf eu-ropäischer Ebene zu harmonisieren, sind immer an dersehr guten, aber doch starken Unternehmensmitbestim-mung in Deutschland gescheitert .Frau Müller-Gemmeke – ich spreche jetzt direkt mitIhnen –, Sie fordern in Punkt 7 Ihres Antrags, eine eu-ropäische Harmonisierung herbeizuführen; in den Punk-ten 1 bis 6 Ihres Antrags fordern Sie dagegen, die Mitbe-stimmung auf nationaler Ebene auszuweiten . Angesichtsdessen Ihren Antrag als vernünftig zu bezeichnen, istschon grenzwertig . Ich wiederhole: In den Punkten 1 bis6 Ihres Antrages fordern Sie eine nationale Ausweitungder Mitbestimmung,
und in Punkt 7 fordern Sie eine Einigung auf europäi-scher Ebene . Das hat mit der Sachlage überhaupt nichtszu tun . Die Umsetzung Ihrer Forderungen würde wederder Unternehmensmitbestimmung in Deutschland nochirgendjemandem dienen . Ich kann Ihnen nur sagen:Wenn Sie wirklich etwas tun wollen, dann müssen Siediesen Antrag überarbeiten und sich mit diesem Themavorher beschäftigen . Wir werden diesen Antrag aus sach-lichen Gründen – er ist inhaltlich und handwerklich ein-fach schlecht – ablehnen .
Das hat aber nichts damit zu tun, wie wir die Mitbe-stimmung ausgestalten . Natürlich müssen wir die Mit-bestimmung verändern, weil sich die Zeit, die Arbeits-verhältnisse, die Arbeitsmodalitäten ändern . Das liegteinmal daran, dass die klare Trennung zwischen Arbeit-nehmer und der Kapitalseite immer mehr aufweicht: Im-mer mehr Arbeitnehmer sind auch Aktionäre . Das heißt,sie beurteilen manches anders, als Arbeitnehmer diesfrüher taten .
– Das ist keine gewagte Aussage . Ich habe das selbererlebt . Ich komme aus der Metall- und Elektroindustrie .Bei uns hat es ein Aktienpaket gegeben: Jedes Jahr er-hielt jeder Mitarbeiter zehn Aktien . Das ist Realität . Siehaben mit Ihrem Einwurf nur bewiesen, wie weit Sie vonden Menschen in diesem Land entfernt sind .
– Ich versuche gerade, Ihnen ein paar Lösungsvorschlä-ge anzubieten, wie man Mitbestimmung handwerklichbesser ausgestalten kann und wie man damit nicht nurplakativ umgeht .Wir sollten uns einmal darüber unterhalten, wie wirmit dem Recht zur Wahl der Aufsichtsräte umgehen . Esgibt divergierende Möglichkeiten: Es gibt Delegierten-wahlsysteme . Es gibt Wahlsysteme mit unmittelbarer Be-teiligung . In anderen Bereichen gibt es die Beorderungoder die Festlegung auf einen Gewerkschaftssekretär .Ich glaube, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin diesem Land wissen ganz genau, wer ihre Interessenim Aufsichtsrat am besten vertritt . Lassen Sie uns docheinmal darüber diskutieren, ob wir nicht eine Regelungeinführen, die dazu verpflichtet, alle Aufsichtsräte unmit-telbar zu wählen . Lassen wir doch einmal die Arbeitneh-mer über alles abstimmen . Das ist vielleicht besser, alsTobias Zech
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dass die von außen kommenden Gewerkschaftssekretärein die Kontrollorgane entsandt werden .Ein weiterer Punkt: Wie können wir Aufsichtsratswah-len im Jahr 2017 besser gestalten? Ich glaube, wir müs-sen uns auch hier modernisieren, elektronische Wahlver-fahren einführen, um mehr Partizipation der Belegschaftan Aufsichtsratswahlen zu ermöglichen . Ich kann nur da-für werben, dass wir die gute Mitbestimmung, die wir inDeutschland haben, verteidigen . Außerdem werbe ich füreine europäische Lösung . Schaufensteranträge wie denheutigen sollten wir ablehnen . Damit tun wir Gutes fürdie deutsche Wirtschaft und somit auch für die deutschenArbeitnehmer .Herzlichen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Klaus Barthel
spricht als letzter Redner in dieser Aussprache für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wärenatürlich schön, wenn ich in dieser Frage das letzte Worthätte; aber da darf man sich keine falschen Hoffnungen machen .Kollege Zech, natürlich müssen wir uns erst einmalüber die Realität in Deutschland unterhalten . Sie tunso, als wären wir, die Bundesrepublik, ein Land vonKleinaktionären,
die alle an den Erträgen und der Führung der Unterneh-men beteiligt wären . Wenn das so wäre, dann verliefediese Debatte wirklich anders . Aber Sie wissen auch,dass man selbst dann, wenn man eine Aktie oder ein paarAktien hat, nicht wirklich über das Unternehmensge-schehen mitbestimmen kann, sondern dass das eben nurüber Aufsichtsräte und Mitbestimmungsgremien geht .Insofern ging ein großer Teil Ihrer Rede eigentlich an derSache bzw . dem Antrag vorbei .
Wir begrüßen diesen Antrag, weil es damit gelingt,dieses Thema ein bisschen aus seinem Schattendasein zuholen . Es ist ja immer gefährlich, wenn sich alle so wahn-sinnig einig sind über die Mitbestimmung . Das könnte jaeinerseits heißen, wir würden in dieser Legislaturperiodenoch etwas hinkriegen, was ich hoffe. Dass der verbale Konsens so groß ist, kann aber andererseits auch heißen,dass am Ende wieder gar nichts geht . Das werden wirjetzt untersuchen müssen . Denn das Ganze ist, wie ge-sagt, keine Funktionärsdebatte, sondern Kern unseresWirtschaftsmodells, Kulturgut, auf CSU-Deutsch: Teilder Leitkultur .Die Mitbestimmung funktioniert abseits des medialenSpektakels geräuschlos, weil sie gut ist . Ich habe, ehr-lich gesagt, in dem Antrag nichts Falsches gefunden . Erübernimmt im Wesentlichen das, was der DGB in seinerMitbestimmungskampagne im Rahmen des Bundestags-wahlkampfs vorhat . Ich würde mich sehr freuen, wennwir in diese Mitbestimmungskampagne Schub reinbrin-gen würden .
Ich gehe davon aus, dass sich diese Inhalte in weiten Tei-len auch im Regierungsprogramm der SPD wiederfinden werden .
Ich möchte noch auf eines hinweisen: Der Antrag be-fasst sich ja nur mit der Unternehmensmitbestimmung inAufsichtsräten . Was wir auch noch sehen müssen, ist dieFrage der Mitbestimmung in Betrieben mit Betriebs- undPersonalräten, Jugend- und Auszubildendenvertretungenusw . Im Grunde haben wir da ja eine parallele Entwick-lung .
Ich will das erwähnen, weil auch die betriebliche Mitbe-stimmung ausgehöhlt wird und ein großer Teil der Be-schäftigten – rund 60 Prozent – nicht mehr in Betriebenarbeitet, in denen es einen Betriebsrat gibt .
Das passt zu dieser ganzen Geschichte mit TUI . Trotzaller verbalen Akzeptanz von Mitbestimmung gibt es of-fensichtlich einen Teil von Anlegern, Unternehmern undinteressierten Kreisen, die dieser Mitbestimmung denKrieg erklärt haben und die solche Klagen inszenieren,um die Mitbestimmung sturmreif zu schießen . Das Pro-blem ist: Sie finden damit ja auch Unterstützung, zum Beispiel bei der EU-Kommission . Das ist ja nicht irgend-etwas, was völlig abseitig ist; denn es gibt neben derEU-Kommission Regierungen, die solche Initiativen un-terstützen . Deswegen brauchen wir in der Tat auch eineeuropäische Neuregelung .Sie haben die Zahlen genannt . Die Unternehmensmit-bestimmung wird ausgehöhlt . Wir stellen fest: Das isteindeutig gesetzwidrig .
Deswegen müssen wir hier auch schauen, wie man die-se Gesetzesverstöße mit Sanktionen belegen kann; dennTobias Zech
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wenn die Tatsache, dass man Gesetze nicht einhält, keineFolgen hat, dann kann man auf so etwas auch pfeifen .
Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung an-schauen, dann stellen wir also fest: Es besteht die Ge-fahr, dass die Unternehmensmitbestimmung zum Aus-laufmodell wird . Da müssen wir gar nicht viel machen .Das geschieht einfach durch die immer stärkere interna-tionale Verflechtung der Wertschöpfungsketten in den Unternehmen . Das geschieht durch die immer stärkereFinanzmarktgetriebenheit der Unternehmen . Es gibteben immer weniger klassische Familienbetriebe mitdem Pa triarchen, der vor Ort ansprechbar ist . Vielmehrhaben wir es immer mehr mit anonymen Investoren undAnlegern zu tun, die ganz andere Strategien verfolgenund die von Mitbestimmung noch nichts gehört haben .Das hat zu tun mit dem Strukturwandel in den Betrieben,Stichwort „Digitalisierung“, mit der Tertiarisierung – derDienstleistungsbereich, der immer mehr Beschäftigteumfasst, ist in weiten Teilen eine mitbestimmungsfreieZone – und natürlich mit der Prekarisierung von Arbeits-verhältnissen . Befristet Beschäftigte, zum Beispiel Leih-arbeiterinnen und Leiharbeiter, werden wenig Kampfes-willen entwickeln, wenn es um die unternehmerischeoder betriebliche Mitbestimmung geht .
Das heißt also: Die Reden über die Chancen von Di-gitalisierung und Arbeit 4 .0 kann man sich sparen, wennwir nicht bereit sind, auch die Ausweitung der Mitbe-stimmungstatbestände zu diskutieren bei Fragen derUnternehmensstrukturierung, in wirtschaftlichen Ange-legenheiten, aber auch in Fragen der Weiterbildung usw .usf . Das heißt, es geht nicht nur um die Schließung vonLücken, sondern um eine umfassende Ertüchtigung . Wirsind sehr gespannt, wie es in den nächsten Wochen in denAusschussberatungen laufen wird .
Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass bei der kom-menden Bundestagswahl Mehrheiten entstehen – viel-leicht mit den Grünen zusammen oder mit wem auchimmer –, die einer solchen Initiative, wie wir sie hier voruns haben, zum Erfolg verhelfen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss dieses Tagesordnungspunktes . Ich schließe die
Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10253 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 25 . Januar 2017, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .