Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ih-
nen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Es gibt nur eine kleine zusätzliche Mitteilung bzw . die
Notwendigkeit, etwas zu vereinbaren, bevor wir in die
Tagesordnung einsteigen . Es gibt eine Vereinbarung der
Fraktionen, den Entwurf eines Gesetzes zur Flexibilisie-
rung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand
und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im
Erwerbsleben auf der Drucksache 18/9787 auch an den
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zur Mit-
beratung zu überweisen . – Das leuchtet offenkundig fast
allen sofort ein . Dann können wir das so beschließen .
Dann wird so verfahren .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2016
Drucksache 18/9700
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 60 Minuten dauern . – Auch das ist unstreitig .
Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke .
I
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Drei Themen waren uns in diesem Jahr beim Bericht derBundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit be-sonders wichtig: erstens die wirtschaftliche Entwicklung,zweitens der dramatische Anstieg rechtsextremistischerund fremdenfeindlicher Gewalt und drittens die Renten-angleichung .Über die in dem Bericht zum Ausdruck gebrachteSorge über die Zunahme rechtsextremistischer und frem-denfeindlicher Gewalttaten und deren Auswirkungen aufdie gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklunggab es eine breite Berichterstattung . Unter den verschie-denen Kommentaren, auch von politischer Seite, gab eseine Menge Kommentare mit dem Tenor, eine so klareBenennung der Gefahren, die vom Anstieg des Rechtsex-tremismus ausgehen, tue dem Osten insgesamt nicht gut .Da war sogar von einem angeblich neuen Osthass unddergleichen mehr die Rede .Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stel-le einmal etwas zu meinem Amtsverständnis sagen . Ichbetrachte es als meine Aufgabe, die Probleme, die derHerstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse entgegen-stehen, klar und deutlich zu benennen .
Ja, natürlich sind das Erstarken von Rechtsextremismus,Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein gesamtdeut-sches Phänomen und ein gesamtdeutsches Problem; aberdie Zahlen sind eindeutig . Es gibt nichts daran zu beschö-nigen, dass es in Ostdeutschland erstens eine massive
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Zunahme dieser Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahrgibt und dass zweitens laut Verfassungsschutzbericht für2015 die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten be-zogen auf 1 Million Einwohner in jedem ostdeutschenBundesland deutlich über dem Durchschnitt der west-deutschen Länder liegt . Sollen wir vielleicht so tun, alsgäbe es diesen Befund nicht?Nach Einschätzung des BKA ist für das Jahr 2015vom höchsten Stand der politisch motivierten Krimina-lität seit der Einführung dieses Definitionssystems imJahre 2001 auszugehen . Sollen wir das auch ignorieren?Sollen wir darüber hinweggehen, in der Hoffnung, dasssich das alles irgendwie von selbst erledigt? Sollen wirdarüber schweigen? Sollen wir es tatsächlich so machenwie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören undnichts sagen?Wir leben in einem Land, in unserem Land, wo Flücht-lingsheime angezündet und Menschen über die Straßegejagt werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben .Diese Vorkommnisse haben auch weltweit für Aufmerk-samkeit und Entsetzen gesorgt . Wenn das kein Grund ist,Alarm zu schlagen! Wann soll man das bitte schön denneigentlich tun,
wann, wenn nicht jetzt? Und wer sollte es denn tun, wer,wenn nicht wir?Ich habe es in der vergangenen Woche gesagt, und ichwiederhole es hier: Rechtsextremismus, Fremdenfeind-lichkeit und Intoleranz stellen eine sehr ernste Bedrohungfür die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungder neuen Länder dar . Ein entschlossenes Handeln derBundesregierung, der Länder, der Kommunen und derZivilgesellschaft ist notwendig, um den gesellschaftli-chen Frieden in Ostdeutschland zu sichern .
Meine Damen und Herren, ich betone hier nochmalsausdrücklich: Die ganz überwältigende Mehrheit derOstdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechtsex-trem . Aber diese überwältigende Mehrheit ist leider imMoment noch eine zum Teil schweigende Mehrheit . Essind aber alle gefordert, dem braunen Spuk noch ent-schiedener, noch lauter, noch deutlicher entgegenzutre-ten und diejenigen zu unterstützen, die das schon seitvielen Jahren tun .
Diese Menschen und die zivilgesellschaftlichen Orga-nisationen, die sich gegen Extremismus und für Demokra-tie und Toleranz einsetzen, brauchen Planungssicherheit .Das empfiehlt der Bericht des NSU-Untersuchungsaus-schusses, und das ist im Koalitionsvertrag festgelegt .Auf dieser Grundlage hat Bundesministerin ManuelaSchwesig einen Entwurf für ein Demokratiefördergesetzerarbeitet, um von der Förderung einzelner Modellpro-jekte hin zu einer bundesweiten, mit den Ländern abge-stimmten Förderung der Präventionsarbeit zu gelangen .Ich finde, das ist ein wichtiger und ein richtiger Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt das guteWort vom Aufstand der Anständigen; es steht viel aufdem Spiel . Das ist wichtig für unsere moralische Inte-grität, und das ist auch deshalb wichtig, weil der wirt-schaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands, freundlichformuliert, äußerst verhalten verläuft .Ja, in 26 Jahren deutscher Einheit ist sehr viel erreichtworden, wirtschaftlich und sozial . Wir sind im OstenDeutschlands fast bei der wirtschaftlichen Stärke desEU-Durchschnitts angekommen . Darauf können wir mitRecht stolz sein; ich bin es jedenfalls .
Aber der Abstand zur Wirtschaftskraft Westdeutschlandslässt sich nicht leugnen und nicht schönreden; dazu binich jedenfalls auch nicht bereit .Mir ist schon klar: Das sind alles ziemlich unbequemeWahrheiten . Manche Leute in diesem Land sind offenbarder Meinung, dass man den Ostdeutschen diese Wahrhei-ten nicht zumuten dürfte . Deshalb macht man lieber einbisschen Schönfärberei hier und ein bisschen Propagan-da da . Dann wundert man sich hinterher darüber, dassso viele Leute AfD wählen, weil sie den etablierten Par-teien kein Wort mehr glauben . Die Ostdeutschen haltendie Wahrheit sehr wohl aus . Sie haben schon ganz andereDinge ausgehalten . Sie haben einer ganzen Reihe vonwidrigen Umständen zum Trotz Großartiges geleistet undunglaublich viel erreicht . Was die Ostdeutschen wirklichnicht mehr ertragen, ist die Unwahrheit . Ich kann deshalbnur dringend davor warnen, bei der im Koalitionsvertragklar und eindeutig vereinbarten Rentenangleichung er-neut Glaubwürdigkeit zu verspielen .
Ministerin Nahles hat einen Gesetzentwurf vorgelegt,der die vollständige Angleichung bis zum Jahr 2020 vor-sieht . Ich vertraue bei der Umsetzung auf die Unterstüt-zung von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen . Ichvertraue da selbstverständlich auch auf unsere Bundes-kanzlerin, die vor zwei Jahren in einem Interview gesagthat, dass die Renteneinheit 2020 erreicht sein soll unddass sie bis 2017 ein Gesetz anstrebt, das den Fahrplanzur vollständigen Angleichung der Rentenwerte in Ostund West festschreibt .Ich vertraue darauf, dass wir sagen, was wir tun, unddass wir tun, was wir sagen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
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Das Wort erhält nun die Kollegin Susanna Karawanskij
für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Wenn du etwas werden willst,
musst du in den Westen gehen . – Das hat nicht jemand
in den 90er-Jahren gesagt, sondern das habe ich letzte
Woche in meinem Wahlkreis in Oschatz zu hören bekom-
men . Dass das nach 26 Jahren immer noch in den Köpfen
drin ist und auch ein Teil der Wahrheit ist, ist irgendwie
schlimm .
Das erklärte Ziel, die Gleichwertigkeit der Lebensver-
hältnisse in Ost und West herzustellen, ist nach einer Ge-
neration noch nicht erreicht . Da frage ich mich, wie lange
der Versuch noch dauern soll . Noch eine weitere Genera-
tion, 50 Jahre? Wann wird das Ziel endlich erreicht? Das
ist doch eine Bankrotterklärung Ihrer Regierungspolitik .
Sie haben es über ein Vierteljahrhundert nicht geschafft,
dieses Ziel zu verwirklichen .
Neben der treffenden Analyse, dass vor allem der
ländliche Osten ganz schön abgehängt ist, liefern Sie
kein Zukunftsprogramm, keinen Entwurf, was man da-
gegen tun kann und welche Maßnahmen man ergreifen
sollte . Sie lassen die Menschen im Regen stehen . Ja, die
Menschen sind enttäuscht . Sie sind zum Teil wütend . Sie
sind auch besorgt, und manchmal haben sie resigniert .
Sie sind schlicht und ergreifend machtlos . Sie müssen
immer wieder diesen Kampf aufnehmen, immer wieder
darauf pochen, dass sie nicht wie Degradierte behandelt
werden . Das geschieht nicht durch offene Anfeindungen,
das geschieht auch nicht durch eine Ohrfeige, sondern
das geschieht ganz still, zum Beispiel auf dem Lohnzet-
tel, auf dem Rentenbescheid und im Portemonnaie . Der
Kfz-Mechaniker bekommt immer noch durchschnittlich
500 Euro weniger, obwohl er dieselbe Ausbildung genos-
sen hat, vielleicht sogar beim selben Ausbilder . Das ist
nicht hinnehmbar . Das ist nicht mehr erklärbar .
Der Osten wird älter . Auch das stellen Sie in Ihrem
Bericht fest, und zwar nicht zum ersten Mal . Über ein
Viertel der Pflegebedürftigen lebt im Osten. Aber auch
die Pflegekräfte bekommen im Osten durchschnittlich
500 Euro weniger . Dieses Missverhältnis wird nicht von
allein verschwinden . Es ist unglaublich, dass diese Ein-
kommensschere immer noch vorhanden ist . Es ist eine
politische Aufgabe, dieses Gleichgewicht herzustellen .
Da kann man nicht mit einem Fingerzeig sagen, dass ir-
gendjemand diese soziale Gerechtigkeit herstellen soll .
Es ist unsere Aufgabe, es ist die Aufgabe des Staates, die-
se soziale Gerechtigkeit herzustellen .
Es ist schon krass, wenn man sich die Tabellen zur
Altersarmut anschaut . Unter den Menschen, die in Ren-
te gehen oder in 20 Jahren in Rente gehen werden, ist
das Risiko, als Rentner arm zu sein, im Osten doppelt so
hoch wie im Westen . Warum eigentlich? Das muss doch
nicht so sein; das ist änderbar . Es ist jemandem, der die
DDR nur noch aus Geschichtsbüchern kennt, doch nicht
mehr erklärbar, warum er erstens weniger verdient und
zweitens auch noch weniger Rentenpunkte sammelt . Wir
wollen die steuerfinanzierte Angleichung des Rentenwer-
tes Ost an die allgemeinen Rentenwerte unter Beibehal-
tung des Umrechnungsfaktors der ostdeutschen Entgelte .
Ich kann es auch einfacher sagen: Wir wollen Augenhöhe
und Gleichheit .
Denn die Menschen arbeiten hart – auch das zeigt der
Bericht –, sie bringen sich ein und rackern . Und wozu?
Um zu erkennen und erzählt zu bekommen, dass sie im-
mer noch anders bewertet werden als die Menschen in
den alten Ländern, dass ihre Arbeit weniger wert ist, dass
der Torgauer, Wermsdorfer oder Schkeuditzer weniger
leistet oder weniger produktiv ist?
Sie erkennen in Ihrem Bericht an, dass trotz der
Kleinteiligkeit der Wirtschaft das Wirtschaftswachstum
im Osten steigt, dass es im Vergleich zum Westen aber
stagniert, und das Ganze bei 67 Prozent . Bei der Ver-
mögensverteilung ist es noch düsterer: 44 Prozent des
Westniveaus! Wir sehen an dieser Stelle eine Spaltung .
Wir sehen sie auch bei den Kommunen . Natürlich gibt es
auch im Westen ländliche Regionen und Kommunen, die
strukturell benachteiligt sind . Das Problem ist allerdings,
dass dies im Osten den Normalfall darstellt, im Westen
nicht . Natürlich gibt es Kommunen wie Gelsenkirchen
oder Bremen . Doch im Vergleich ist der ganze Osten Gel-
senkirchen; das macht den Unterschied aus .
Die Kommunen müssen wieder handlungsfähig, über-
lebensfähig und zukunftsfähig gemacht werden . Da ist es
nicht sonderlich attraktiv, wenn die öffentliche Daseins-
vorsorge abgebaut wird . Die Abwärtsspirale von niedri-
gen Einnahmen, verhältnismäßig hohen Sozialabgaben
und der lächerlichen Höhe der Investitionen – wir haben
immer noch einen Investitionsstau von über 130 Milli-
arden Euro – kann man nicht mit Kleckerbeträgen und
auch nicht mit finanziellen Probierportionen stoppen.
Es muss über eine umfassende Gemeindefinanzreform
nachgedacht werden . Wir Linke haben dazu Vorschläge
eingebracht .
Frau Karawanskij, würden Sie eine Zwischenfragedes Kollegen Wendt zulassen?
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Nein, ich bin gerade in Fahrt .
Das merken wir .
Wir wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemeinde-
wirtschaftsteuer weiterentwickeln . Wir haben einen Vor-
schlag unterbreitet, wie wir die Bund-Länder-Finanzbe-
ziehungen tatsächlich solidarisch gestalten können . Wir
wollen auch eine langfristige Förderung von struktur-
schwachen Regionen in Ost und West durch einen So-
lidarpakt III . Wenn Sie wirklich an der Herstellung der
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West
interessiert sind, dann setzen Sie sich doch damit ein-
mal auseinander, anstatt die Anträge der Linken immer
nur reflexartig abzulehnen, nur weil Ihnen der Absender
nicht passt .
Der Osten ist alt, der Osten ist arm – er wird sogar
noch ärmer –, und der Osten ist rechts . Frau Gleicke, Sie
haben gerade gesagt: Mit Erschrecken stellt die Bundes-
regierung fest, dass die Zahl der fremdenfeindlichen und
rechtsextremistischen Übergriffe im Osten zugenom-
men hat . – Das ist tatsächlich schlimm . Das ist vor allen
Dingen für die Menschen schlimm, die sich tagtäglich
engagieren, trotzdem den Mund aufmachen und Flagge
zeigen . Doch der Befund ist nicht neu, und er ist auch
nicht überraschend . Es ist seit Jahren erforscht und nach-
gewiesen, dass wir ein Problem mit Rassismus und rech-
ten Einstellungen haben . Die Frage ist doch: Was folgt
daraus? Abgesehen davon, dass der Bericht dies konsta-
tiert, geht er nicht auf die vielfältigen Ursachen ein . Es
fehlt an einer Zukunftsperspektive . Was wollen Sie denn
unternehmen, um das zu ändern? Ich muss sagen: Da ha-
ben Sie in der Vergangenheit wirklich gepennt oder das
Problem nicht ernst genommen .
Seit über 15 Jahren wissen wir, dass wir im Osten
manifeste rechte Strukturen haben . Anstatt langfristig
geeignete Institutionen zu fördern, haben Sie jahrelang
Programme mit einer Dauer von zwei bis drei Jahren
aufgelegt . Man konnte sich mit Projekten bewerben und
musste beschreiben, wie sie zur Demokratieförderung
beitragen . Das Ganze war meistens zeitlich begrenzt
und prekär . Dann wurde evaluiert, und es wurden Best
Practices gesammelt, aber sie wurden institutionell nicht
weiter fortgeführt . Was ist denn dagegen einzuwenden,
das Bekenntnis abzugeben, dass antirassistische Bil-
dungsarbeit Grundkonsens ist,
Grundkonsens bei der Ausbildung der Lehrerinnen
und Lehrer, beim Studium, im Kindergarten und in der
Grundschule? Das ist doch gar kein Problem .
Mir geht es nicht darum, hier eine Kluft zwischen Ost
und West aufzumachen und zu sagen, was besser oder
schlechter ist .
Der Osten ist zum Teil anders . Wenn man sich zum Bei-
spiel die Erwerbsquoten von Frauen anschaut und sieht,
dass alleinerziehende Frauen im Osten fast immer selbst-
bewusst Vollzeit arbeiten,
dann lässt sich schon feststellen, dass sich die biedere,
vielleicht altbackene Form des Hausfrauendaseins doch
ein bisschen gewandelt hat . Daran kann man doch an-
knüpfen . Das sind die Ansatzpunkte für ein fortschritt-
liches und zukunftsorientiertes Bild, das dann auch für
Gesamtdeutschland gelten kann .
Meine Damen und Herren, ich, meine Generation und
auch meine Fraktion, die Linke, haben keine Lust mehr,
möglicherweise noch einmal ein Vierteljahrhundert zu
warten, bis Sie die deutsche Einheit hergestellt haben .
Wachen Sie auf! Tun Sie etwas! Geben Sie den Men-
schen Zukunftsperspektive, Zuversicht und Vertrauen in
die Zukunft .
Vielen Dank .
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Mark
Hauptmann das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Geschätzte Zuschauer! Ich freue mich,dass wir in dieser Stunde der Debatte über den Jahres-bericht wieder einen besonderen Gast unter unserenZuschauern haben . Ich freue mich, einen ThüringerLandsmann begrüßen zu können, nämlich den Bundes-beauftragten für die Stasiunterlagen . Lieber Roland Jahn,herzlich willkommen zu dieser Debatte .
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Es freut uns, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit zei-gen, dass wir uns schätzen . Ich glaube, es spricht für Sie,aber auch für uns, dass wir beide sagen können: Es istgut, dass in diesen Jahresbericht nicht nur das Thema„Aufarbeitung der DDR-Diktatur“ aufgenommen wur-de, welches aus der Perspektive der letzten 25 Jahre be-leuchtet wird, sondern dass darin vor allem auch über denzukünftigen Umgang mit den Stasiunterlagen Aussagengetroffen wurden . Deswegen ein herzlicher Dank auch andie Staatssekretärin und ihr Haus .
Sehr geehrte Damen und Herren, bevor ich auf we-sentliche Punkte dieses Jahresberichtes eingehe, erlau-ben Sie mir bitte einen kurzen Hinweis an die geschätzteKollegin der Linken und eine Bemerkung zum ThemaRente .Zur Rente ist das Zitat der Bundeskanzlerin schon ge-nannt worden: Es gibt einen klaren Fahrplan in diesemLand, und der besagt: Angleichung 2020 . Was wir nichtbrauchen, ist eine populistische Debatte der Linken, diesagt: Wir wollen die Höherbewertung der Ostlöhne bei-behalten, gleichzeitig sollen sich die Ost- und Westren-ten aber auf demselben Niveau befinden. Fragen Sie docheinmal jemanden aus Gelsenkirchen, Delmenhorst oderTrier-Saarburg, was die sagen! Wo bleibt deren Lohnaus-gleich? Wo bleibt deren Hochstufung?Wir wollen in Deutschland ein generationengerechtesRentenmodell für das gesamte Land . Deswegen verab-schieden Sie sich bitte von Ihren Wunschvorstellungen!
Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann diese Jam-merei der Linken nicht mehr hören .
Ich bin stolz auf dieses Land und darauf, was wir in die-sem Land in den letzten 26 Jahren erreicht haben . BeiIhnen ist der Jammerton zum Kammerton geworden .
Das, was wir erreicht haben, ist übrigens einmalig indieser Welt . Kein anderes Land weltweit hat in den ver-gangenen 26 Jahren eine solche Leistung vollbracht . Dassollten wir in den Vordergrund stellen .Natürlich ist noch nicht alles hundertprozentig er-reicht . Sie sprechen aber immer vom halbleeren Glas .Dabei ist das Glas längst mehr als dreiviertel gefüllt .Hier müssen wir aufwachen und sagen, was wir in diesen26 Jahren Umbruchzeit erlebt haben .Wo einst rigide Planwirtschaft herrschte, florierenjetzt innovative Start-ups und ein innovativer Mittel-stand . Wo einst die Natur unter staatlicher Aufsicht derDDR verseucht wurde, wandern jetzt Touristen durchNaturschutzgebiete .
Wo einst Menschen sechs Jahre früher gestorben sind,haben wir jetzt eine höhere Lebenserwartung . Das habenwir in 26 Jahren deutsche Einheit erreicht .
Wenn wir uns in diesem Land einmal von Rostockbis Sonneberg und von Frankfurt/Oder bis Eisenachumschauen, dann erleben wir Betriebe, die internatio-nal wettbewerbsfähig sind, und einen Anteil der Indus-trie an der Bruttowertschöpfung, der heute höher als imEU-Durchschnitt liegt . Das alles sind Entwicklungen,auf die wir letztendlich stolz sein dürfen .Was richtig ist – ich glaube, hier zeigt auch der Jah-resbericht kein verzerrtes Bild –, ist, dass wir, wie vieleandere Länder auch, noch Herausforderungen zu bewäl-tigen haben . Diese Herausforderungen müssen wir mitaller Tatkraft angehen . Wir haben in den neuen Länderneine höhere Arbeitslosenquote, eine niedrigere Produk-tivität und geringere Steuereinnahmen . Aber die Wirt-schaftskraft hat sich in den letzten Jahren extrem entwi-ckelt . Hier müssen wir mithelfen, diese Lücke weiter zuverringern .Ich möchte, weil wir derzeit den Gesamthaushalt fürdas Jahr 2017 debattieren, sagen: Hier setzen wir nichtauf das Gießkannenprinzip, sondern hier machen wir eineFörderung auf den Punkt . Egal ob das bei INNO-KOModer bei ZIM ist, einem Programm für unseren Mittel-stand: Wir fördern gezielt innovative Ideen . Wir förderngezielt eine mittelständische Struktur .Eines ist in den neuen Ländern ganz klar zu sehen:Dort ist die Wirtschaftsstruktur anders als im Westen .Wir haben keine Supertanker im Sinne von vielen gro-ßen DAX-Firmen . Aber wir haben sehr viele mittelgroßeUnternehmen, unsere Schnellboote . Diese Unternehmenmüssen wir für den internationalen Markt und die Glo-balisierung fit machen. Hier haben wir seitens der Bun-desregierung und auch mit Blick auf den Haushalt 2017bereits Maßnahmen getroffen .
Herr Kollege Hauptmann, ich habe den Eindruck, Sie
sind nicht ganz so in Fahrt .
Könnten Sie sich vorstellen, eine Zwischenfrage des
Kollegen Tempel zuzulassen?
Ist das eine Aufforderung, noch weiter in Fahrt zukommen, Herr Präsident?
Aber ich lasse die Zwischenfrage gerne zu .
Mark Hauptmann
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Bitte .
Danke schön . – Herr Hauptmann, einmal unter Thü-
ringern: In meinem Landkreis, dem Altenburger Land –
das liegt von Ihnen aus gesehen auf der anderen Seite
von Thüringen –, muss sich gegenwärtig die Hälfte aller
Vollzeitbeschäftigten aufgrund der Löhne, die sie be-
kommen, und aufgrund des bestehenden Rentensystems
auf Altersarmut einstellen .
Jeder Dritte bei uns muss in den Westen fahren, um den
Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen, weil die
Löhne bei uns nicht ausreichen . Würden Sie auch das als
Gejammere bezeichnen? Diese Klagen nehmen wir mit
in dieses Haus . Das sind Thüringer, Leute aus dem Osten,
die bitte schön hier vertreten werden wollen .
Erstens . Geschätzter Herr Kollege, wenn ich michüber das Altenburger Land informieren will, dann ver-traue ich den Aussagen des direkt gewählten Abgeordne-ten des Altenburger Landes . Er sitzt in meiner Fraktion .Zweitens . Das Bild, das Sie von Thüringen und den neu-en Bundesländern zeichnen, ist doch im Jahr 2016 nichtmehr zutreffend .
Schauen Sie sich doch bitte an, was passiert ist . Wirhaben in Thüringen die niedrigste Arbeitslosigkeit seit26 Jahren . Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosig-keit in der Geschichte unseres Landes . Es gibt in meinemWahlkreis mehr Einpendler aus Franken als Auspendler,das heißt aus der Thüringer Region ins benachbarte Bun-desland . Das sind Beispiele dafür, dass das Programm,der Aufbau Ost, in den letzten 25 Jahren gewirkt hat .
Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe davon ge-sprochen, dass wir weiter daran arbeiten müssen, dieInfrastruktur und die Wirtschaft voranzubringen . Damitbin ich beim Thema Infrastruktur . Man vergisst immerso leicht, wie es früher war . Früher sind wir auf der Fahrtvon Leipzig nach Berlin über Betonplatten gepoltert .
Heute haben wir eine moderne Infrastruktur, in die seit1991, Herr Kollege, 94 Milliarden Euro investiert wur-den . Für jedermann ist der Vorteil dieser Infrastruktursichtbar .
Eine Fahrtdauer von einer Stunde und 45 Minuten vonBerlin nach Erfurt mit dem Schnellzug hat es noch niezuvor gegeben . Diese Verbesserungen in der Verkehrs-infrastruktur, die wir zu Wasser, auf der Straße und aufder Schiene sehen, setzen wir jetzt fort, indem wir unsauf die digitale Infrastruktur konzentrieren . Das ThemaBreitbandausbau im ländlichen Raum betrifft vor allemden Osten dieser Republik, wo wir an dieser Infrastruk-tur weiter arbeiten und die Lebensbedingungen der Men-schen verbessern .Wir dürfen – das ist das Weltbild der Union in die-ser Regierungskoalition – die Menschen in den Städtenund im ländlichen Raum nicht gegeneinander ausspielen;denn für uns ist jeder Mensch, egal wo er in Deutschlandlebt, ein Individuum, das wir fördern wollen und müs-sen und in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft rückenmüssen .
Deswegen brauchen wir aktive ländliche Räume .Deswegen fördern wir sie seitens der Bundesregierungüber die GRW-Politik und über verschiedene Maßnah-men . Aber was natürlich nicht hilft – da bin ich schnellwieder beim Kollegen der Linken –, ist eine ThüringerLinksregierung, die das einreißt, was wir als Bund mitFördermitteln aufgebaut haben . Ich meine die Gebietsre-form, bei der den Menschen vor Ort Infrastruktur wiederweggenommen wird: das Landratsamt, die Kreissparkas-se, verschiedene Dinge, mit denen man den ländlichenRaum bewusst ausdünnt .In diesen Räumen haben die Menschen das Gefühl,zurückgelassen zu werden, Bürger zweiter Klasse zusein . Das schafft natürlich auch Räume für Extremismusund Populismus und somit auch die Voraussetzung fürden Aufstieg Ihrer Partei und der AfD .
Das müssen wir verhindern, sehr geehrte Damen undHerren! Deswegen brauchen wir eine Stärkung des länd-lichen Raumes und kein Ausdünnen und kein Zurückzie-hen aus diesem Bereich .
Ich habe bereits angesprochen, was wir im infrastruk-turellen Bereich und in der Wirtschaft erreicht haben .Wichtig ist auch, was wir im sozialen Bereich erreichthaben . Die Kollegin hat vorhin angesprochen, wel-che Unterschiede es noch zwischen Ost und West beimLohngefüge gibt . Man darf dabei nicht vergessen, dasswir die Arbeitslosenzahl massiv verringert haben . Dass97 Prozent der tariflichen Entgelte in Ostdeutschland dasWestniveau erreicht haben, zeigt doch, dass der Prozess,den wir in den letzten 26 Jahren in Gang gesetzt haben,erfolgreich ist .
All dies widerspricht völlig dem Vorgehen, den Men-schen einzureden, dass alles schlecht und mies sei . IndemSie alles nur kaputtreden, erzielen Sie höchstens partiku-lär politische Erfolge für Ihre Seite .
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben inden letzten 26 Jahren viel erreicht . Der Osten Deutsch-lands hat zweifelsohne – das bestätigt auch jeder Jah-resbericht – von der deutschen Einheit überproportio-nal profitiert. Wir müssen jetzt weitergehen und auf derGrundlage der derzeitigen Ausgangslage die nächstenSchritte einleiten . Sie bestehen darin, zu sagen: Wir brau-chen maßgeschneiderte Programme für den Mittelstand .Wir müssen ihn automatisieren, digitalisieren, internatio-nalisieren und fit für die Weltmärkte und die Globalisie-rung machen .Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, seheich, dass man da unheimlich gut aufgestellt ist, dass wireine hohe Exportquote haben, dass wir innovative Ide-en haben, die ihresgleichen suchen, und dass wir HiddenChampions auch im ostdeutschen Mittelstand haben . Dasmacht mich letztendlich stolz .
Herr Kollege .
Ich komme zum Schluss . – Ich bin stolz auf unser ver-
eintes Deutschland und das, was wir geleistet haben . Ich
freue mich – genauso wie hoffentlich viele von Ihnen –
auf den Tag der Deutschen Einheit am 3 . Oktober .
Herzlichen Dank .
Katrin Göring-Eckardt spricht nun für die FraktionBündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Hauptmann, ich finde es sehr schön, dassSie so stolz sind und sich so wohl fühlen . So schlimmwie manch anderem in Ihrer Fraktion und aus Thürin-gen scheint Ihnen die rot-rot-grüne Regierung in unseremBundesland nicht zu bekommen .
Darüber freue ich mich sehr .
Meine Damen und Herren, wir verstehen den Berichtzum Stand der Deutschen Einheit hier im Haus gern alseine Art jährliches Ritual und als Pulsmesser für die Ent-wicklung der fünf noch immer neuen Länder . Das Inte-resse ist, nun ja, unterschiedlich . Es muss mehr sein alsdas – zumindest wenn man das ernst nimmt, was manmeint, wenn man von der deutschen Einheit spricht,wenn man mehr meint als die Aufholjagd des Ostens beiden Wirtschafts- und Lebensverhältnissen mit dem Zielder Angleichung an den Westen . „An welchen Westeneigentlich?“, fragt man sich da . Geht es um die Anglei-chung an das Ruhrgebiet, an Baden, an die Eifel, an Hol-stein? Manche Regionen im Westen haben heute mehrAufholbedarf . Manchen Regionen im Osten geht es rich-tig gut . Frau Karawanskij, ich nehme es Ihnen, ehrlichgesagt, übel, dass Sie das nicht akzeptieren, dass Sie dasnicht ansprechen können .
Denn auch daraus entsteht Identität, auch daraus ent-steht der Anspruch auf mehr, auch daraus entsteht, dasses nicht allen Regionen in Ostdeutschland schlecht geht,dass es manche geschafft haben und manche eben nicht .Deswegen geht es nicht dem ganzen Osten schlecht . Dasist Quatsch .
Es muss bei der Debatte über diesen Bericht um unserganzes Land gehen . Nichtsdestotrotz beschreibt der Be-richt in diesem Jahr – und das ist richtig – alarmierenddie Zunahme der Fremdenfeindlichkeit . Er wird nochvon der Realität eingeholt . In Dresden fanden in dieserWoche feige, abscheuliche Sprengstoffanschläge auf einGotteshaus und ein Kongresszentrum statt, all das we-nige Tage vor den offiziellen Einheitsfeierlichkeiten. Essollte eigentlich vor allem eine Feier der Wiederverei-nigung zu einem weltoffenen, freiheitlichen, tolerantenDeutschland sein . Ein Zeichen sollte gesetzt werden, ge-gen Fremdenfeindlichkeit in Bautzen, in Freital, in Hei-denau, gegen die Ausschreitungen, die nicht ein Angriffauf Fremde waren, sondern ein Angriff auf unsere Frei-heit und unsere Demokratie .
Stattdessen bestimmen Sprengstoffanschläge das Bilddes Jahrestages .Noch wissen wir zu wenig über die Täter . Dennoch:Die Polizei vermutet einen fremdenfeindlichen Hinter-grund . 2016 – das sagt der Bericht aus – hatten wir inDeutschland insgesamt bisher doppelt so viele fremden-feindliche Straftaten wie im ganzen Jahr 2015 . Inzwi-schen sind es 1 800 . 1 800! Das ist in der Tat besorg-niserregend . Und diejenigen, die den Anschlag auf dieMoschee verübt haben, haben bewusst in Kauf genom-men, dass dort Menschen verletzt werden . Sie habensignalisiert: Ihr gehört nicht hierher, ihr gehört nicht zuuns . – Nein, das ist nicht deutsche Einheit, wie ich sie mirvorstelle, meine Damen und Herren .
Im Jahresbericht finden sich jetzt starke Worte. VonRadikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesell-schaft ist die Rede – richtig . Die Ausschreitungen inSachsen, die davor waren, werden benannt – richtig .Es ist davon die Rede – auch richtig –, dass wir in Ost-deutschland den niedrigsten Ausländeranteil und diehöchste Fremdenfeindlichkeit haben . Fremdenfeindlich-Mark Hauptmann
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keit ohne Fremde, das muss man erst einmal hinkriegen,meine Damen und Herren .Es geht aber eben auch – deswegen ist es gut, dassRoland Jahn hier sitzt; ich freue mich darüber – immerum die Frage: Was ist eigentlich innerhalb der DDR-Zeitan Aufarbeitung des Nationalsozialismus passiert? Ha-ben wir nicht einfach nur festgestellt, dass wir auf derrichtigen Seite der Geschichte stehen? Haben wir nichtzu wenig aufgearbeitet, was das eigentlich auch für die-sen Teil des Landes bedeutet hat?Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahrenstanden wir selbst in Ost und West uns fremd gegenüber .Obwohl wir alle Deutsche sind, schien uns manchmalmehr zu trennen, als uns verbunden hat . 40 Jahre Sozi-alismus und 26 Jahre Mauer hinterlassen tiefe Spuren,Unsicherheit, Verunsicherung . Und ja, wir hatten Jam-merossis und Besserwessis . Trotzdem kann man sagen:Wir sind aufeinander zugegangen, wir haben voneinan-der gelernt, und wir haben angefangen, unser Land ge-meinsam zu gestalten .Ja, es gibt sie, die Fremdenfeinde, die Ausländerfein-de . Trotzdem ist es so, dass wir andere, die wir für De-mokratie, Offenheit und Toleranz in unserer Gesellschaftstehen, mehr sind .
Deswegen bleibe ich dabei: Wir, sie brauchen eine Stim-me . – Das heißt nicht, dass der Alarm im Bericht falschwäre . Das heißt, wir sollten uns darauf besinnen, auchzu sagen, was jetzt nach vorne hin geschehen muss . Dasheißt eben, dass man kein Integrationsgesetz machensollte, was mehr ein Integrationsverhinderungsgesetz istund was einen Stein nach dem anderen in den Weg legt .Dann kriegt man nicht Einheit, sondern dann gibt manauch noch denen Recht, die mit fremdenfeindlichen Pa-rolen durchs Land laufen, meine Damen und Herren .Deswegen meine große Bitte: Wenn wir deutsche Ein-heit ernst meinen, dann geht es um mehr als um Ost oderWest . Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen, dann gehtes um das Zusammenleben und den Zusammenhalt inunserem Land . Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen,dann geht es auch um diejenigen, die erst kurze Zeit indiesem Land sind . Dann geht es darum, mit ihnen ge-meinsam Demokratie zu bauen und auszubauen, gegenFremdenfeinde zu agieren und deutlich zu machen: Dasist unser Land, das ist unsere Demokratie . Wir werden sieverteidigen und gemeinsam, auch mit den jetzt Dazuge-kommenen, gestalten . Darum geht es . Dafür braucht esLeidenschaft und gerne auch Streit .
Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Poschmann
für die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im Ruhrgebiet sagt man: In alte Gräben sollman nicht noch Spundwände einziehen . Ich glaube, auchdas sollten wir hier im Parlament vermeiden und gemein-sam versuchen, alte Gräben zu überwinden .Rechtsextremismus kennt keine Himmelsrichtungenund auch keine Ländergrenzen . Es gibt ihn im Osten wieim Westen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung .Rechtsextreme Gesinnung ist eine zentrale Herausfor-derung für unsere Demokratie geworden . Das muss unsallen klar sein . Aber wir werden uns auch von Wirrköp-fen und Straftätern nicht vom Weg abbringen lassen undweiter daran arbeiten, für alle Menschen in Deutschlandgleichwertige Bedingungen zu schaffen .
Ein Schlüssel ist die Wirtschaftspolitik . Was wir benö-tigen, ist ein gesamtdeutsches Fördersystem, das struk-turschwachen Regionen in Ost und West gleichermaßenauf die Beine hilft, und zwar auch nach 2019, wenn derSolidarpakt II ausläuft .An den ersten Stellschrauben der aktuellen Förderar-chitektur haben wir bereits gedreht . Wir haben auf denOsten beschränkte Förderprogramme für alle Länder ge-öffnet . Das wird aber nicht reichen . Wir müssen vor al-len Dingen die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur“ auf neue Füße stellen .Sie ist neben anderen Programmen das wichtigste Instru-ment, um strukturschwachen Regionen unter die Armezu greifen . Wir brauchen ein Fördersystem, das Geld indie Regionen schickt, die es auch wirklich nötig haben .Und wir müssen die betroffenen Regionen bzw . Kom-munen in die Lage versetzen, dass sie die Kofinanzie-rung stemmen können, insbesondere aber auch, dass siepersonell die Projekte einstielen und nach vorne bringenkönnen, um die Fördergelder überhaupt abzuschöpfen .
Eine gute Wirtschaftspolitik, liebe Kolleginnen undKollegen, wird aber nur Erfolg haben, wenn sie auch voneiner guten Arbeitsmarktpolitik flankiert wird. Wir müs-sen uns intensiver um jene Menschen kümmern, die sichbereits jetzt von jeglichem Fortschritt abgekoppelt fühlenund für sich keine Perspektive mehr sehen . Wir müssendauerhaft für diejenigen Beschäftigung organisieren, de-nen der Weg zur Teilhabe am Berufsleben versperrt ge-blieben ist . Das funktioniert meiner Meinung nach ambesten mit einem neuen sozialen Arbeitsmarkt, wie er zuRecht von vielen gefordert wird .Die Konjunktur läuft gut, die Auftragsbücher von Un-ternehmen vieler Branchen sind voll. Trotzdem findenLangzeitarbeitslose nach wie vor nur selten einen Job,im Osten wie im Westen . In Sachsen-Anhalt sind 40 Pro-zent aller Langzeitarbeitslosen zwei bis fünf Jahre ohneJob, 13 Prozent sogar länger . In anderen Regionen Ost-deutschlands sieht das ganz ähnlich aus . Und im Westen?Sie werden Städte und Kreise finden, in denen der An-teil der Langzeitarbeitslosen über 50 Prozent liegt . Wirsollten uns ehrlich machen und eingestehen: So sinnvollKatrin Göring-Eckardt
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unsere bisherigen Instrumente sind, den harten Kern derLangzeitarbeitslosen erreichen wir nicht . Wir braucheneinen sozialen Arbeitsmarkt, der dauerhaft ausfinanziertist und feste, sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung garantiert .
Ich bin mir ganz sicher: Wenn es uns gelingt, Men-schen durch Arbeit und Teilhabe die Tür zu einem neuen,besseren Leben zu öffnen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dann wird es uns auch gelingen, das Vertrauen dieserMenschen zurückzugewinnen .Herzlichen Dank .
Monika Lazar ist die nächste Rednerin für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rassismus und Rechtsextremismus sind ein Problem im
ganzen Land, deren Bekämpfung die Politik aller Ebenen
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen muss .
Aber man muss auch benennen, dass es in Ostdeutsch-
land, bezogen auf die Einwohnerzahl, im letzten Jahr
fünfmal mehr rassistische Übergriffe gab . Deshalb ist es
gut, dass im diesjährigen Bericht zum Stand der Deut-
schen Einheit der Rechtsextremismus als eines von drei
zentralen Problemfeldern genannt wird .
Ja, wir haben ein Rassismusproblem im Osten . Das
sage ich gerade auch als sächsische Abgeordnete . Die
Einschätzung im Bericht, Ostdeutschland werde nur als
weltoffene Region Entwicklungschancen haben, wird
am Beispiel von Dresden eindrucksvoll belegt: Der von
Pegida angerichtete Imageschaden hat Tourismus und
Wirtschaft beeinträchtigt, und die Zahl der Studierenden
ist gesunken . Aber ganz unabhängig vom wirtschaftli-
chen Schaden ist entscheidend, dass das Problem „rechte
Gewalt“ überall endlich ernst genommen wird .
Überall in unserem Land hat es 2015 einen dramati-
schen Anstieg von rechtsmotivierter Gewalt gegeben,
aber besonders die Namen einiger sächsischer Orte sind
nun bundesweit bekannt: In Heidenau, Freital, Meißen,
Bautzen, Clausnitz und an anderen Orten ist die Situation
eskaliert . Rassistinnen und Rassisten haben sich von ver-
balen Drohungen zu realen, teils lebensbedrohlichen Ta-
ten aufgemacht . Es scheint, als ob Teile der Gesellschaft
besonders in Ostdeutschland Gewalt gegen Geflüchtete
tolerieren und als ob Anschläge auf Unterkünfte als legi-
times Ziel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert
werden . Das dürfen wir nicht hinnehmen .
Es nützt eben nichts, die Probleme zu ignorieren und
diejenigen, die sich auch in schwierigen Gegenden für
unsere Demokratie engagieren, als Nestbeschmutzer zu
verunglimpfen, wie es leider immer noch passiert . Die
Probleme müssen offen benannt werden, und die Enga-
gierten müssen auch von der lokalen Politik ernst genom-
men und unterstützt werden .
Die Verrohung und auch die immer niedrigere Hemm-
schwelle für Beleidigungen zeigen, wie tief die Gräben in
unserer Gesellschaft geworden sind . Als Demokratinnen
und Demokraten ist es unsere Aufgabe, für unsere Demo-
kratie zusammenzustehen, statt nach rechts zu blinken;
denn es bringt nichts, sich Rassistinnen und Rassisten
anzubiedern . Die Wählerinnen und Wähler entscheiden
sich zum Schluss ja doch für das Original .
Gerade angesichts unserer eigenen Geschichte ist es
unverständlich, dass es offenbar schwerfällt, Menschen,
die in Not zu uns kommen, einen sicheren Platz zum Le-
ben zu bieten .
Ich hoffe, dass auch dieser Bericht ein Anlass ist, um das
zu ändern .
Auch der Feiertag am nächsten Montag wäre eine gute
Gelegenheit, dass wir uns bewusst machen, dass Demo-
kratie kein Automatismus ist – die Ostdeutschen unter
uns wissen, wovon wir reden –, sondern dass wir uns alle
täglich für unsere Gesellschaft engagieren und unsere
freiheitlichen Errungenschaften verteidigen müssen .
Vielen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Eckhardt Rehberg für
die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Karawanskij, „Wer etwas werden möchte,muss in den Westen gehen“, so hieß es . Ich habe zweiSöhne; auch die wollten in den Westen . Ich habe sieüberzeugt, nach dem Abitur in Wismar zu studieren . Siehaben heute beide einen guten Job in Rostock und Um-gebung . Sie wollten in den Westen gehen, aber ich habeihnen klar gemacht: Bleibt hier, weil ihr hier alle Chan-cen in der Zukunft habt . Wenn Sie sagen: „Der Osten istarm“, dann entgegne ich Ihnen: Diese Region hat in denletzten 25 Jahren die positivste Entwicklung einer Regi-on in Europa und sogar auf der Welt genommen, die es jeSabine Poschmann
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gegeben hat – durch das Engagement der Ostdeutschenund durch die Solidarität der Westdeutschen .
Deswegen ist der Osten nicht arm .Der Osten ist auch nicht alt . Junge Menschen habendort alle Chancen . Wer so redet wie Sie, der wird nichtdafür sorgen, dass sich mancher, der vor 10, 15 oder20 Jahren in die alten Länder gegangen ist, womöglichgehen musste, weil zu Hause kein Arbeitsplatz für ihnwar, entschließt, wieder zurückzukommen . Ich kann Ih-nen für mein Heimatland sagen: In Rostock, in Wismar,in Stralsund werden Arbeitskräfte, Fachkräfte gesucht .Junge Menschen, die zurückkommen, Mann oder Frau,Familien haben dort alle Chancen: Ein Studium ist mög-lich, Kitaplätze und vernünftige Schulen sind vorhan-den . – Wer so redet wie Sie, der trägt zur VergreisungOstdeutschlands bei .
Zum Dritten hieß es: Der Osten ist rechts . – Sie stig-matisieren mit diesem Ausspruch 16 Millionen Men-schen .
Die Überschrift einer Presseerklärung von Staatssekre-tärin Gleicke lautete: „Rechtsextremismus ist ernsteBedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftlicheEntwicklung der neuen Länder“ .
Wissen Sie, was mir am Wochenende passiert ist? Schul-kolleginnen und -kollegen kamen in einem Baumarkt aufmich zu und sagten: Ecki, ich bin aber kein Nazi . – Siefühlten sich stigmatisiert . Wer heute bei der Debatte überden Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand derDeutschen Einheit 2016 seine Äußerungen auf das The-ma Rechtsextremismus verengt,
dem kann ich nur sagen: Thema an dieser Stelle schlicht-weg verfehlt!
Nun noch zu ein paar Fakten . Sie behaupten, dass dieAltersarmut im Osten mit Wucht zunehmen werde . Tat-sächlich verhält es sich völlig anders .
Heute sind 3,1 Prozent der Rentnerinnen und Rentner inden alten Bundesländern in der Grundsicherung . Im Os-ten sind es 1,7 Prozent .
Es gibt eine Studie der Uni Rostock, in Auftrag gegebenvom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, die auch fürdas nächste Jahrzehnt keine wesentliche Zunahme erken-nen lässt . Ich will Ihnen auch sagen, warum .Ich verweise auf Seite 44 des Berichts, Punkt 4 .4 „Al-terssicherung und Rentenangleichung“ . Wenn man da imletzten Absatz von der Rentenangleichung schreibt, mussman aber auch sagen, Frau Staatssekretärin Gleicke – Siehaben ja von Glaubwürdigkeit gesprochen –, dass dann6 Millionen Ostdeutsche zukünftig weniger Rente be-kommen werden, weil politisch und rechtlich die Höher-wertung der Löhne um aktuell 15 Prozent zwangsläufigwegfallen muss .
Das muss man dann aber bitte auch sagen . Wenn mandies nicht sagt, Frau Gleicke, dann werden irgendwann6 Millionen Ostdeutsche auf ihrem Rentenbescheid mit-bekommen, dass sie zukünftig weniger Rente erhaltenwerden . Die eine Wahrheit gehört zur anderen dazu . Ichkann nicht durch die politische Landschaft laufen undden Rentnern suggerieren, dass sie die Rentenanglei-chung bekommen, ohne den 6 Millionen ostdeutschenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen, dasssie dann einen Nachteil haben werden .
Wer das gemacht hat, war die BundesarbeitsministerinFrau Nahles . An der sollte sich so mancher ostdeutscheMinisterpräsident ein Beispiel nehmen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab zu dem Be-richt einen ganz spannenden Artikel in der Zeit mit demTitel „Mut zur guten Laune“, in dem die Meinung ver-treten wird, dass dieser Bericht, so wie er abgefasst ist,schlechte Laune verbreitet .
Es kommt natürlich immer darauf an, welche Vergleicheman bei der wirtschaftlichen Entwicklung zieht . Natür-lich kann man immer Ost und West vergleichen . Aberwenn man zum Beispiel Holstein oder die Pfalz ständigmit München oder Hamburg vergleichen würde, dannwürde man für erstere auch eine unterdurchschnittlicheWirtschaftskraft feststellen . Da sollten wir alle uns ge-legentlich überlegen – das ist für mich auch Sinn die-ser Debatte zum Bericht zum Stand der Deutschen Ein-Eckhardt Rehberg
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heit –: Wo standen wir vor 25 Jahren, wo standen wir vor20 Jahren, und wo stehen wir heute?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am beeindruckend-sten finde ich die Entwicklung im Behindertenbereich.
Waren Sie 1990 mal in einer Behinderteneinrichtung?Gehen Sie doch heute einmal hin! Es gibt einen altenGrundsatz: Du erkennst die Gesellschaft daran, wie siemit ihren Schwächsten umgeht . – Wie der real existieren-de Sozialismus in der DDR mit Behinderten, mit Alten,mit Kranken, mit Pflegebedürftigen umgegangen ist, daswar menschenunwürdig .
Denken Sie an moderne Krankenhäuser, moderne Uni-versitäten, moderne Hochschulen! Kollege Hauptmannhat auf die Infrastruktur hingewiesen. Ich finde es heraus-ragend, dass Alexander Dobrindt und Wolfgang Schäublevereinbart haben, 4 Milliarden Euro für den Breitband-ausbau zur Verfügung zu stellen . In mein Heimatlandfließen 700 Millionen Euro Fördermittel. Die Landesre-gierung wird das mit 300 Millionen Euro komplettieren .Das ist Zukunft . In meinem Heimatland kann ich jungenMenschen sagen, dass sie in zwei bis drei Jahren überall50 Megabit haben werden .
Breitbandausbau ist für mich Zukunft, und das ist auchZukunft für die ländlichen Räume, liebe Kolleginnen undKollegen .
Ich habe noch einmal beim Wirtschaftsministeriumnachgefragt: Gab es in Mecklenburg-Vorpommern in denletzten zehn Jahren wegen der NPD – sie ist 2006 in denLandtag eingezogen – irgendeine Absage, oder ist einTourist weniger gekommen? Ich kann Ihnen nur sagen:Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich die 30-Mil-lionen-Marke bei der Touristenzahl knacken . Das ist diehöchste Zahl, die es je gegeben hat . Und das Wirtschafts-ministerium hat mir geantwortet: Nein, ganz im Gegen-teil . Eine malaysische Investorengruppe hat drei Werftengekauft; die Beschäftigtenzahl soll verdoppelt werden .Auf Rügen ist die Ansiedlung eines türkischen Unterneh-mens, Großrohrleitungsbau, zu verzeichnen . SchweizerMedizinfirmen kommen. – Ich könnte die Liste endlosfortführen .Ja, es sind kleine Unternehmen, 20, 30, 40, 50 Ar-beitsplätze, aber es sind hochwertige Arbeitsplätze, dieda kommen . Es sind keine Arbeitsplätze im Dienstleis-tungsbereich – ganz im Gegenteil . Deswegen sollten wiruns auch vorsehen, ehe wir davon sprechen, dass derRechtsextremismus eine ernstzunehmende Gefahr fürdie wirtschaftliche Entwicklung sei . Wer so etwas in denVordergrund rückt, bringt natürlich andere zum Nach-denken, ob es sich lohnt und ob es interessant ist, in denneuen Bundesländern zu investieren .
Für Mecklenburg-Vorpommern kann ich sagen: DerRechtsextremismus ist keine Gefahr gewesen .
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anspre-chen – ich habe ihn schon einmal vor gut zehn Jahrenhier im Bundestag angesprochen; ich glaube, es war mei-ne erste Rede –: Wir hatten in dieser Woche ein Gesprächmit Stiftungen . Unisono waren alle Stiftungen der Mei-nung, dass wir bei der politischen Bildung in der Schuleerheblichen Nachholbedarf haben . In keinem deutschenBundesland wird bis zur zehnten Klasse ausführlich aufdie beiden Diktaturen in Deutschland, auf die braune undauf die rote Diktatur, eingegangen .
Es ist einfach keine Zeit . Deswegen mein Vorschlag:Lieber etwas weniger die Antike, das Römische Reich,das Mittelalter behandeln . Es muss doch in der neuntenund zehnten Klasse Zeit und Gelegenheit sein, 16- und17-Jährige mit der Geschichte und Politik des 19 . und20 . Jahrhunderts bekannt zu machen . Ich glaube, wer die-se Diktaturen bzw . Unrechtsstaaten nicht im Geschichts-unterricht nahegebracht bekommt, der wird nicht denWert von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat heuteeinschätzen können .Herzlichen Dank .
Stefan Zierke für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Herr Rehberg, das ist ein Bericht derBundesregierung, der vom Kabinett beschlossen wurde .Von daher sollten wir uns doch alle diesem Bericht stel-len, und zwar ehrlich . Ich danke Iris Gleicke ausdrück-lich, dass dieser Bericht ehrlich ist . Nur wer Ehrlichkeitlebt, kann auch ehrlich weiterarbeiten .
Wenn wir etwas verschweigen, dann können wir dieUrsache nicht finden und nicht die entsprechenden Instru-mente anwenden . Iris Gleicke hier jetzt einen Vorwurf zumachen, ist dem eigentlich nicht angemessen . Iris ist eineEckhardt Rehberg
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der Kolleginnen, die ich als Ostdeutscher schätze, weilsie wirklich die ostdeutschen Interessen durchsetzt,
und zwar gegen viele andere, die noch nicht in der ver-einten Bundesrepublik angekommen sind .Ich möchte hier im Bundestag aber auch noch einmaldie Wertschätzung für die Ostdeutschen zum Ausdruckbringen . Was die Ostdeutschen seit der Wende geleistethaben, ist wirklich enorm . Sie haben mit Umbrüchen ge-kämpft . Sie haben auch damit gekämpft, dass auf ein-mal Naturräume, die früher zum Wirtschaften da waren,komplett zu geschützten Kernzonen wurden . Auf all dasmussten sie sich neu einstellen . Der Tourismus wurde indiesem Zusammenhang schon benannt .Ich möchte für uns als SPD-Fraktion auch etwas zuden Linken sagen .
Sie taten so, als würde die Bundesregierung gar nichtsmachen,
als würden wir gar nichts für die Wertschätzung der Ost-deutschen tun . Wir haben, was Sie nie geglaubt haben,den Mindestlohn durchgesetzt .
Der Mindestlohn verhilft 1 Million Ostdeutschen zu ei-ner besseren Situation . Das ist etwas Gutes; das kannman ruhig sagen .
Das hat diese Bundesregierung gemacht . Wir haben imletzten Jahr gegen den Widerstand des Finanzministe-riums dafür gesorgt, dass die Regionalisierungsmittelauskömmlich neu verhandelt wurden . Mit 200 MillionenEuro mehr im Jahr hat die SPD erreicht,
dass auch wieder Regionalzüge im ländlichen Raum fah-ren können .
Was hat die SPD noch gemacht? Dieser Bericht ent-hält etwas, was viele sagen: Die innere Sicherheit ist einProblem . – Wir haben dafür gesorgt, dass 3 000 Bundes-polizisten mehr eingestellt werden sollen . Es sollen nochmehr kommen, bis zu 20 000 fordern wir . Das ist auchein Beitrag, den wir dafür leisten .Aber nun noch einmal zu den Unterschieden zwischenOst und West . Da muss ich auf das eingehen, was HerrRehberg zu den Renten gesagt hat . Die Angleichung derRenten ist das, worauf die Ostdeutschen warten, HerrRehberg . Die Rentenpunkte haben nicht unbedingt etwasdamit zu tun .
Das hat etwas mit den Löhnen zu tun . Und wenn wir fürgleiche Löhne in Ostdeutschland kämpfen, dann geht esdabei auch um das gleiche Rentenniveau derjenigen, dieheute arbeiten . Das dürfen Sie nicht verschweigen .
Das, was Sie sagen, stimmt einfach nicht . Kämpfen wirdafür, dass es in Ostdeutschland gleiche Löhne gibt, danngibt es auch gleiche Renten! Das ist Fakt .
Eines noch: Sie fragen immer, wieso die Wirtschaftnicht in Gang kommt . Dazu kann ich Ihnen aus meinerRegion ein gutes Beispiel bringen . Die Stromkosten inOstdeutschland sind die höchsten der ganzen Republik –für die Haushalte, für den Mittelstand und das Indus-triegewerbe . Das kann man bei der Bundesnetzagentursehr gut nachschauen . Das ist ein Standortnachteil fürostdeutsche Unternehmen und Haushalte . Lassen Sieuns doch jetzt daran arbeiten, diesen Standortnachteil fürOstdeutsche zu beseitigen .
Dann, glaube ich, nehmen uns die Ostdeutschen auchwieder wahr und sagen: Ja, die machen was für Ost-deutschland .Vielen Dank .
Arnold Vaatz ist der nächste Redner in dieser Debatte
für die CDU/CSU-Fraktion .
Lieber Herr Zierke, ich muss erst mal auf Ihren letztenSatz eingehen . Was Sie da über die Renten erzählt haben,das verwirrt ja mehr, als es klarstellt . Es ist doch ganzeinfach: Selbstverständlich sind die Renten von den Löh-nen abhängig . Und selbstverständlich werden die Rentenhöher, wenn die Löhne steigen .
Aber in dem Moment, in dem sich die Löhne angleichen,gleichen sich nach der jetzigen Formel auch die Rentenautomatisch an . Deshalb brauchen wir eigentlich über-haupt nichts daran zu ändern . Das ist der Punkt .
Stefan Zierke
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Selbstverständlich hatte Eckhardt Rehberg völligrecht: Wenn Sie über höhere Renten sprechen, dann dür-fen Sie das nicht nur denen gegenüber anpreisen, die da-durch Vorteile haben, sondern Sie müssen auch diejeni-gen ehrlich ansprechen, die Nachteile davon haben . UndSie müssen die Nachteile quantifizieren.
Und wenn Sie das nicht machen, dann ist das nur die hal-be Wahrheit, und die halbe Wahrheit ist gleichzeitig einehalbe Lüge, meine Damen und Herren .
Frau Karawanskij, ich muss mich auch mit Ihnennoch kurz auseinandersetzen . Sie waren im Jahr 1989neun Jahre alt, wie ich dem Kürschner entnommen habe .Deshalb können Sie nichts für den Zustand, in dem dieDDR gewesen ist, als sie in die Wiedervereinigung rein-geschlittert ist .
Deshalb wäre es vielleicht ganz gut, wenn Sie mal mitden Altvorderen Ihrer Partei reden und die mal fragenwürden, weshalb sie eigentlich, nachdem sie die Wirt-schaft vom Markt gefegt haben, darüber jammern, dassdie Wirtschaft weg ist . So haben wir das damals vorge-funden . Wenn diese „großartige“ Leistung Ihrer Altvor-deren nicht gewesen wäre, dann hätten wir uns mit derdeutschen Wiedervereinigung gar nicht weiter befassenmüssen . Denn der Unterschied, über den wir klagen, istdurch die Politik zustande gekommen, die die Partei, derdie Altvorderen damals angehört haben, dort gemachthat .
Herr Kollege Vaatz, darf Ihnen die Kollegin Wolff
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, na klar . Selbstverständlich .
Frau Wolff, bitte .
Sehr geehrter Herr Vaatz, vielen Dank, dass ich die-
se Zwischenfrage stellen darf . – Ich möchte ein Stück in
Ihrer Rede zurückgehen . Sie haben vorhin gesagt: Wenn
es um die Rentenangleichung Ost/West geht, dann gehört
zur ganzen Wahrheit dazu, den jetzt berufstätigen Men-
schen zu sagen, dass es auch Nachteile gibt und Verlierer
geben wird .
Sie haben gleichzeitig behauptet: Wer diese ganze
Wahrheit nicht sagt, der erzählt eine halbe Lüge . – Das
möchte ich nicht so im Raum stehen lassen . Sind Sie be-
reit, Herr Vaatz, anzuerkennen, dass die Bundesministe-
rin für Arbeit und Soziales, Frau Nahles, genau auf diese
Punkte hingewiesen hat und sehr wohl gesagt hat,
dass es Schwierigkeiten und Nachteile gibt und dass
wir genau an der Stelle ansetzen müssen, dass wir beim
Lohngefüge etwas tun und gemeinsam dafür arbeiten
müssen, damit Löhne in den neuen Bundesländern in der
Zukunft anders aussehen und dementsprechend auch die
Renten anders ausfallen werden?
Frau Wolff, ich antworte Ihnen gerne . Es dürfte Ih-nen nicht entgangen sein, dass ich nicht die verehrte FrauSozialministerin Nahles angesprochen habe, sondern denfrei gewählten und nur seinem Gewissen verantwortli-chen Abgeordneten Zierke . Es ging um das, was er ge-sagt hat, und nicht um das, was die Ministerin gesagt hat .Was die Ministerin gesagt hat, hat mein Kollege EckhardtRehberg vorher überzeugend herausgearbeitet .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möch-te heute in dieser Debatte auf keinen Fall versäumen,etwas zu sagen, was meines Erachtens dringend erfor-derlich ist . Ich möchte der Bevölkerung der Bundesre-publik Deutschland West meinen Dank aussprechen fürdie enorme Solidarleistung, die sie zustande gebracht hat,damit der Aufbau in Ostdeutschland zur größten Erfolgs-geschichte in Europa und in der Welt werden konnte .
Im Augenblick führen wir eine Diskussion über denaufkeimenden Rechtsradikalismus in Deutschland .
Ich kann nur sagen: Dieser Rechtsradikalismus hat tiefeWurzeln . Wer sich damit genauer befasst hat, weiß: Erstammt schon aus der Zeit der DDR .
– Dann sagen wir eben „um sich greifen“ . Entschuldi-gung, wenn ich das falsche Wort verwendet habe; aberSie wissen, was ich meine . – Die Skinheads gab es da-mals schon .Diese Entwicklung hat enorm an Umfang gewonnen,und es ist tatsächlich eine Angelegenheit, die uns belas-tet, besonders uns aus Dresden . Uns belastet Pegida, unduns belastet die Tatsache, dass die Demonstrationen nichtaufhören .
Deshalb muss man sich umso mehr fragen, ob wir durchunsere Diskussion hier tatsächlich dazu beitragen, die-Arnold Vaatz
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 194 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 30 . September 201619324
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ser Entwicklung entgegenzutreten . Ich bin der Meinung,dass das bei uns irgendwie suboptimal verläuft . Wir wä-ren wesentlich glaubwürdiger, wenn zum Beispiel eineinziges Wort über die Ereignisse in Connewitz, einemStadteil von Leipzig, fallen würde . Es gibt nämlich auchLinksradikale, die mit Pflastersteinen Polizeistationenangreifen; aber darüber fiel hier in der ganzen Debattebisher kein Wort . Ich halte es für selbstverständlich, dasswir auch darüber reden, wenn wir glaubwürdig sein wol-len .
Wir sollten auch darüber reden, wie die Hemmschwel-len für Gewalt abgebaut wurden . Was war denn in West-deutschland der 60er- und 70er-Jahre los? Die Gewaltgegen Sachen, der Terrorismus, die Mörderbanden unddie klammheimliche Sympathie auch von politischenKräften gegenüber dem Extremismus – all das hat umsich gegriffen . Das war bedauerlich, dem musste manentgegentreten . Aber es gab leider auch einen Abbau derHemmschwellen für Gewalt im Osten .
Wir reden viel über Respekt . Ich will Ihnen ein Bei-spiel für Respekt nennen und erläutern, wie das in Ost-deutschland gewirkt hat . Allen, die damals dabei waren –dazu zähle ich und meine Generation –, hat sich diesesBild eingeprägt, und wir werden uns daran erinnern, biswir gestorben sind .Können Sie sich noch an den 18 . März 1990 erinnern?
Es fanden die ersten – und die einzigen – freien Volks-kammerwahlen in Ostdeutschland statt . Wissen Sie, wasam Abend los war, nachdem die Allianz für Deutschland,die unser Freund Franz Josef Jung damals mitgegründethat, die Wahlen gewonnen hatte? Am Wahlabend wur-de vor laufenden TV-Kameras ein Bild gezeigt, auf demder damalige grüne Politiker, später SPD-Politiker Schilyzu sehen war . Er hielt eine Banane in der Hand, womiter symbolisieren wollte: Das ist der Grund, warum dieOstdeutschen die Wiedervereinigung wollen: Sie wollenmal Bananen essen . – Wer auf diese Art und Weise denFreiheitswillen, den Mut und die Bereitschaft zum Risikoin Ostdeutschland bis zum Gehtnichtmehr herabwürdigt,der muss sich nicht wundern,
wenn es eine Gegenreaktion auf eine solche Arroganzund Herabwürdigung gibt, meine Damen und Herren .
Kommen wir zur nächsten Behauptung, der Osten seirechts . Schauen Sie sich einmal die AfD, die als rechtePartei gilt, an . Wer sind denn die Führer der AfD? FrauPetry kommt aus dem Westen, Herr Höcke kommt ausdem Westen, Frau von Storch kommt aus dem Westen,und auch Herr Gauland kommt aus dem Westen . Wun-derbar, der Osten ist rechts! Ich glaube, mehr brauchtman dazu nicht zu sagen .
Eine kurze Bemerkung zum Thema Westen . Ich glau-be, das Vertrauen in die intellektuelle Qualität des öffent-lichen Urteils im Westen hat von Anfang an gelitten . Wersich noch daran erinnert, dass in den 70er- und 80er-Jah-ren im Westen niemand mehr Beachtung gefunden hat,der das Thema deutsche Einheit in den Mund genommenhat, und dass später die ganze westdeutsche Gesellschaftnicht bemerkt hat, welchem kollektiven Irrtum sie unter-legen ist, muss sich doch nicht wundern, wenn man inOstdeutschland jetzt sagt: Im Westen sagen sie, die Erdeist rund, also ist die Erde eckig .
Das ist ein Glaubwürdigkeitsproblem .Zum Schluss will ich zum Thema deutsche Einheitnoch eine zusätzliche wichtige Bemerkung machen . Seitlangem beobachten wir, dass der Westen auf dem Weg inden Osten ist – geistig . Dafür gibt es jetzt ein leuchtendesBeispiel . Ich wollte gestern eigentlich einen Brief an denOberbürgermeister von Trier schreiben; ich habe es aberunterlassen . Dort entsteht gerade eine Karl-Marx-Statue,von China bezahlt, 6,50 Meter hoch .
Tolle Sache! Eigentlich wollte ich dem Oberbürgermeis-ter dazu gratulieren und ihm den Vorschlag machen, dassdie Stadt Trier, weil ja durch die Wiedervereinigung derName „Karl-Marx-Stadt“ frei geworden ist,
den Antrag stellt, sich in „Karl-Marx-Stadt“ umzubenen-nen .
Vielleicht ist ja bei Frau Grütters auch noch ein biss-chen Geld übrig . Dann könnte man ein Programm fürden Ankauf von alten Lenin-Statuen machen . Die Polensind froh, wenn sie sie loswerden . In mancher polnischenScheune ist vielleicht auch noch eine alte Stalin-Statueunter Stroh und unter Säcken versteckt .
Die könnte man aufkaufen und dann ein fantastischesPanorama in Karl-Marx-Stadt, früher Trier, errichten –Karl Marx im Kreise seiner Schüler . Meine sehr verehr-ten Damen und Herren, damit hätten Sie einen großenBeitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet undgleichzeitig gezeigt, wie sich die Entwicklung im Westenvollzogen hat .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Arnold Vaatz
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 194 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 30 . September 2016 19325
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Interfraktionell wird Überweisung des Berichts derBundesregierung auf der Drucksache 18/9700 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen . Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linkeauf der Drucksache 18/9847 soll an dieselben Ausschüs-se überwiesen werden . – Das ist offensichtlich unstreitig .Also sind die Überweisungen so beschlossen .Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 und denZusatzpunkt 4 auf:23 . Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDAntibiotika-Resistenzen vermindern – Er-folgreichen Weg bei Antibiotikaminimierungin der Human- und Tiermedizin gemeinsamweitergehenDrucksache 18/9789Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung und Land-wirtschaft zu dem Antrag derAbgeordneten Friedrich Ostendorff, KordulaSchulz-Asche, Harald Ebner, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENWirksamkeit von Antibiotika erhalten – Ein-satz in der Tierhaltung auf vernünftiges MaßreduzierenDrucksachen 18/3152, 18/4704Auch diese Aussprache soll 60 Minuten dauern . –Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen . Dann verfahrenwir so .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister Christian Schmidt .
Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährungund Landwirtschaft:Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! In der Tat ist die Antibiotikaminimierungsstrate-gie eine schwierige Angelegenheit . Sie ist deswegen be-sonders wichtig, weil sie ein Thema anspricht, das unsnicht nur in der Landwirtschaft, in der Tierproduktion,sondern auch und insbesondere im Gesundheitswesenbetrifft . Daher besteht die sicherlich etwas außergewöhn-liche Situation, dass zu dem Antrag von zwei Fraktionendes Deutschen Bundestages gleich zwei Bundesministersprechen: zunächst ich als Landwirtschaftsminister undanschließend mein Kollege Hermann Gröhe als Gesund-heitsminister .Wir unterstreichen damit auch, dass wir über die Zei-ten des Gegenseitig-auf-sich-Zeigens hinweggekommensind,
dass wir nicht mehr die Schlichter zwischen Tierärztenund Humanmedizinern sind, sondern erfreulicherweisebeide Seiten sowie die anderen Betroffenen auf einemWeg zusammenführen, und zwar mit unserem – HerrPräsident, ich bitte um Entschuldigung, dass ich einenAnglizismus verwenden muss; auch die Bundesregierungist davor nicht hundertprozentig gefeit – One-Health-An-satz, man könnte auch sagen: Ein-Gesundheit-Ansatz .
Wenn Sie diese Bitte auch noch an die Frau Präsiden-tin richten, dann wäre das ganz wunderbar . Dann verzei-he ich Ihnen auch den Anglizismus .Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährungund Landwirtschaft:Im Hinblick auf die Vielfältigkeit der Themen wirdsich, Frau Präsidentin, sicherlich jeder hier im Hause an-gesprochen fühlen .Was liegt an? Was ist wichtig? Wir müssen uns ge-meinsam anstrengen, um den Kampf gegen Antibiotika-resistenzen zu gewinnen . Ich bin deswegen sehr dankbarfür den Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel„Antibiotika-Resistenzen vermindern“ . Er gibt sehr vielewichtige Einzelaspekte wieder und positioniert sich . Erist damit eine gute Ergänzung und Fortführung der Agen-da der Bundesregierung und wird in diese Arbeit Eingangfinden. Der Antrag ist eine Unterstützung der DeutschenAntibiotika-Resistenzstrategie, DART 2020, und desGrundgedankens „Eine Gesundheit“ .Wir alle wissen, Antibiotikaresistenzen haben mul-tikausale Ursachen, auch wenn in der öffentlichen De-batte teilweise ein einseitiges Bild gezeichnet wird, daszulasten der Nutztierhaltung geht . Die Vorsichtsmaßnah-men und die Reduzierung des Einsatzes von Antibiotikawerden wohl überall ein Thema sein . Jeder, der in derjetzt beginnenden kalten Jahreszeit vorschnell mit Breit-bandantibiotika vermeintliche grippale Infekte bekämpft,wird sich die Frage nach der Notwendigkeit dieses Ein-satzes genauso stellen müssen wie der Tierarzt, der dieBehandlung von kranken Tieren vornimmt .Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Vertretern deslandwirtschaftlichen Berufsstandes, dass sich unsereLandwirte insgesamt ihrer besonderen Verantwortungfür Mensch und Tier bewusst sind . Ich sage das ganz be-wusst heute, in dieser Woche, in der wir uns in verschie-denen Diskussionen befinden. Die Landwirte stellen sichihrer Verantwortung, und es ist ein Gebot des Tierschut-zes, kranke Tiere zu behandeln . Eines ist aber ganz klar:Es geht nur darum, kranke Tiere zu behandeln . Das heißt,wenn Tiere krank sind, werden sie behandelt, sie werdenaber nicht mit Antibiotika vollgestopft, damit sie schnel-ler wachsen .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Diese klare Grenze darf nicht eingerissen werden; hiersind wir uns einig . Das wird auch – ich sage das sehrdeutlich – bei internationalen Vereinbarungen und Rege-lungen immer die Grundlage unserer Position sein undbleiben .
Auf dem Weg der Minimierung des Antibiotikaeinsat-zes in der Tierhaltung sind wir bereits ein gutes Stückvorangekommen . Der letzte Deutsche Bundestag hat mitdem 16 . Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzesein Antibiotikaminimierungskonzept etabliert, das staat-liche Kontrollen vorsieht . Wir haben das umgesetzt, unddie entsprechenden Verordnungen sind erlassen worden .Ich freue mich sehr, dass wir feststellen können, dass sichder Antibiotikaeinsatz im Tierbereich von 2011 bis 2016deutlich reduziert, ja sogar halbiert hat . Seit dem letztenJahr, seit wir den in der Minimierungsstrategie vorgese-henen Meldepflichten nachkommen, werden 35 Prozentder Antibiotikaeinsätze als nicht mehr notwendig, alsüberflüssig betrachtet. Das ist auch ein Hinweis an dieVeterinäre und an diejenigen, die Tiere halten, dass wirauf dem richtigen Weg sind .Fragen der Prävention und der Haltungsbedingungengehören natürlich dazu . Deswegen werden wir uns dieHaltungsbedingungen anschauen und werden sie, wennnotwendig, regeln . Ich habe da ein klares Ziel . Wir sindauf dem Weg, aber noch nicht am Ende der Möglichkei-ten . Meine Initiative „Eine Frage der Haltung – NeueWege für mehr Tierwohl“ setzt vor allem bei der Tier-haltung an . Wir können mit Dankbarkeit feststellen, dasssich die Dinge verbessern .Lassen Sie mich zu zwei weiteren Punkten etwas sa-gen:Erstens . Impfstoffe sind Prävention . Wir sind in Eu-ropa gerade möglicherweise von einer Gefahr betroffen,die von der Knötchenkrankeit der Rinder ausgeht, die beiuns bisher nicht bekannt ist . Wir müssen überlegen, wiewir verhindern können, dass Tiere krank werden . Das isteine Aufgabe, der sich die Europäische Kommission mitmeiner Unterstützung stellt .Zweitens stellt sich die Frage, was mit den Antibiotikapassiert, die für die Behandlung von Mensch und Tier inbesonders kritischen Fällen verfügbar und wirksam seinmüssen und nicht durch Resistenzen in ihrer Wirkungblockiert sein dürfen . Manche sagen Reserveantibiotikadazu .Ich stelle fest, dass wir diese Antibiotika, wie auch im-mer wir sie bezeichnen, auf jeden Fall weg von der all-gemeinen Nutzung auf eine höhere Stufe der Wahrneh-mung, Betrachtung und Entscheidung bringen müssen .Deswegen werde ich meinen Entwurf zur Änderung derVerordnung über tierärztliche Hausapotheken in Kürzevorlegen . Wir werden in dieser Hausapothekenverord-nung – darüber diskutieren wir gerade mit den Fachkrei-sen – auch die Frage von Antibiogrammen diskutieren –Sie haben das in Ihrem Antrag angesprochen –, ob vorherzu klären ist, ob ein Antibiotikum tatsächlich wirksamist oder ob es nicht eher zu Resistenzbildungen beiträgt .Hierbei ist auch wichtig, dass wir international tätigwerden . Die deutsche G-7- und die G-20-Präsidentschaftunseres Landes im nächsten Jahr werden einen Schwer-punkt darauf setzen, die Antibiotikaresistenzbildung beiMensch und Tier weltweit zu reduzieren; denn in derglobalen Welt gibt es nicht nur die eine Gesundheit vonMensch und Tier, sondern eine globale Gesundheit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Karin Binder
von der Fraktion Die Linke das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Die deutscheLandwirtschaft steckt in einer Krise . Das sehen wir amPreisverfall von Fleisch und Milch; das sehen wir aberauch anhand von Bildern über unzumutbare Verhältnissein deutschen Ställen – damit verbunden sind Qualen fürdie Tiere –, und das sehen wir an der zunehmenden Un-wirksamkeit von Antibiotika, die in unserer heutigen Me-dizin ein ganz wichtiger Bestandteil bei der Behandlungvon Infektionen und Krankheiten sind . Dazu wird meineKollegin Kathrin Vogler nachher noch mehr vortragen .Antibiotikaresistenzen haben zwei fatale Wirkungen:Erstens sind gefährliche bakterielle Erkrankungen vonMenschen und Tieren immer schwieriger zu bekämpfenund zu heilen, und zweitens kosten die Folgen, die nichtmehr wirksame Antibiotika verursachen, die Kranken-kassen und die Steuerzahler jährlich Milliarden Euro .Die Union und die SPD fordern nun mit ihrem Antragin einer langen Liste mehr Vorsorge, bessere Überwa-chung, mehr Aufklärung und mehr Forschung, um denEinsatz von Antibiotika in der Tierhaltung zu verringern .Das ist alles richtig; die Frage ist nur: Warum weigertsich die Regierungskoalition, die eigentlichen Ursachender hohen Erkrankungszahlen in den Tierställen wirksamzu bekämpfen?Herr Minister, Sie haben es gerade angesprochen: Wirmüssen uns auch der Vorsorge zuwenden . Ich behaupteeines: Wenn Sie sich zuallererst und mit wirklicher Pri-orität der Vorsorge zuwenden, dann können Sie damitvieles von dem vermeiden, was man als Folgewirkungzu bekämpfen hat .
Die krankmachende Intensivtierhaltung ist unser Pro-blem; da müssen wir ran . Wenn wir die Gefahren ernstnehmen und der zunehmenden Antibiotikaresistenz ent-gegentreten wollen, müssen wir die Haltungsbedingun-gen von Schweinen, von Rindern, von Geflügel ändern.
Je größer die Ställe und je dichter der Tierbestand an ei-nem Standort, umso größer ist der Stress der Tiere, umsogrößer die Gefahr, dass die Tiere krank werden, undBundesminister Christian Schmidt
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umso größer ist die Gefahr von Ansteckung und einerAusbreitung der Krankheiten . Der massive Einsatz vonAntibiotika ist damit vorprogrammiert, weil nämlich vor-sorglich der ganze Bestand medikamentiert wird .Deshalb hilft uns mehr Monitoring, helfen uns mehrForschungsgelder und mehr Info-Flyer nur am Rande .Das Problem werden wir so nicht in den Griff bekom-men . Das Problem ist nur zu lösen, wenn wir erstens end-lich Bestandsobergrenzen für den Standort und die Regi-on definieren und wenn wir zweitens die Bestandsdichteverringern .
Artgerechte Haltungsformen in kleineren Gruppen mitausreichend Platz, mit Auslauf und mit frischer Luftmüssen zur Regel werden,
Wer behauptet, die Verwirklichung des Grundsatzes„Vorsorge statt Antibiotika“ koste zu viel Geld, liegtfalsch . Tierhaltung, die auf das Wohl der Tiere und dieUmwelt keine Rücksicht nimmt, kommt die Gesellschaftdurch Umweltbelastung, durch belastetes Trinkwasserund durch hohe Kosten im Gesundheitswesen teuer zustehen. Tierhaltung muss verpflichtend so ausgerichtetwerden, dass ein denkbar geringer Einsatz von Medika-menten ausreicht .Ich möchte hier auch noch auf einen Brief hinweisen,den verschiedene Tierärzteorganisationen Anfang Sep-tember an das Ministerium und an das Bundesamt fürVerbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geschickthaben . Ich kann mich den Fragen der Tierärzte anschlie-ßen . Ich möchte sie hier ganz kurz vortragen:Welche Änderungen der Kriterien zur Erfassung derAntibiotika-Abgaben an Tierärzte und Tierärztinnenwerden Sie veranlassen?Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um denEinsatz von Antibiotika in der Massen-Tierhaltunggenerell und insbesondere der „Reserve-Antibioti-ka“ nachhaltig zu reduzieren?Werden Sie sich für ein Verbot der Verwendung von„Reserve-Antibiotika“ in der Massen-Tierhaltungeinsetzen?Ich denke, es gibt noch viel zu beraten . Das werdenwir im Ausschuss und auch in einer weiteren Debatte tun .Ich hoffe, dass wir noch ein paar Ergänzungen im Antragder Koalition vornehmen können .Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht
Dr . Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Tierarztund auch als Abgeordneter habe ich mich Zeit meinesBerufslebens immer mit Antibiotika auseinandersetzenund beschäftigen müssen . Während meiner Dissertationund besonders in der Praxis hat das angefangen . Ich glau-be, es gibt niemanden in diesem Hause, der mehr Anti-biotika verordnet und abgegeben hat, als mich . Aus demGrunde, glaube ich, bin ich kompetent, zu diesem Themavorzutragen und Vorschläge zu machen .Als ich als Berufspraktiker angefangen habe, war dasVerhältnis des Berufsstandes und auch der Landwirte zudem Einsatz von Antibiotika wesentlich anders als heute .Damals hat man Antibiotika noch häufig als Produktions-mittel betrachtet . Es gab Einstallungsprophylaxe, linksgab es Stresnil, rechts gab es CTP, und sieben Tage langgab es eine Arzneimittelvormischung, die eingemischtwurde . Das hat dann in der Folge zu den Entwicklungenvon Resistenzen geführt, wie wir sie heute beobachten .Denn Resistenzen, die sich einmal entwickelt haben, ver-schwinden nicht über Nacht wieder .Als ich in den Bundestag gekommen bin, hatten wirgerade die 11 . AMG-Novelle in einer Frist von siebenTagen umzusetzen . Hintergrund war damals der großeArzneimittelskandal in Bayern . Es war zum Rücktritt derdamaligen stellvertretenden Ministerpräsidentin und Ge-sundheitsministerin gekommen, die Hinweise mehr alszwei Jahre lang in ihrer Schublade aufbewahrt und nichtverfolgt hatte . Das hat schon damals gezeigt, wie großder Handlungsdruck war . Dieser Handlungsdruck hat nienachgelassen .Heute verschreiben wir Antibiotika nicht mehr sosorglos . Ein Umdenken hat eingesetzt . Die Zusammen-hänge zwischen Betriebsmanagement und Stallhygieneund auch den betrieblichen Managementvoraussetzun-gen sind heute jedem Landwirt klar . Er kann an und fürsich wirtschaftlich nur überleben, wenn er das berück-sichtigt . Die Zeit der Schuldzuweisungen in der Debatteum Resistenzen ist Gott sei Dank hoffentlich vorbei .Das Stichwort „One Health“ ist gerade schon erwähntworden . An dieser Stelle möchte ich mich noch einmalbei Gitta Connemann bedanken, die in ganz besondererWeise dazu beigetragen hat, dass der Antrag gemeinsammit den Kollegen aus dem Gesundheitsbereich zustandegekommen ist . Ich glaube, das macht deutlich, dass wiran dieser Stelle auch für unser politisches Handeln hierim Bundestag einen neuen Ansatz hinsichtlich der Um-setzung der notwendigen Vorgaben finden wollen.
G 7 und OECD haben die Folgekosten hochgerechnet .Wenn wir nichts tun würden, würden die Kosten bis 2050auf 2,9 Billionen Dollar ansteigen . Das ist eine Größen-ordnung, die bestimmte Wohlstandsentwicklungen in un-seren Ländern im Grundsatz infrage stellen dürfte . Siesehen daran, wie groß der Handlungsdruck ist .
Karin Binder
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Die Forderung, die Abgabemenge von Antibiotika ineinem kurzen Zeitraum zu halbieren, gibt es . Wir sindauf einem guten Wege, aber noch nicht am Ziel . Die Zah-len sind hier eben schon erwähnt worden; ich möchtesie nicht wiederholen . Beunruhigend angesichts all derZahlen ist natürlich der Anstieg des Einsatzes von Reser-veantibiotika . Das lässt sich nicht aus einer reinen Men-genbetrachtung heraus beurteilen . Auf Reserveantibioti-ka, zumindest auf die Wirkstoffgruppen Cephalosporineund Fluorchinolone, werden wir in der Veterinärbehand-lung und in der Veterinärpraxis nicht ohne Weiteres ver-zichten können . Aber ihr Einsatz muss entsprechendenRegelungen und Beschränkungen unterworfen werden .An sich haben wir schon mit der 16 . AMG-Novelle dieVoraussetzungen dafür geschaffen . Im Rahmen der Ver-ordnung über tierärztliche Hausapotheken, die die ord-nungsgemäße Behandlung regelt, hätten wir damit schonbeginnen können . Der Prozess ist zwar fortgeschritten;aber irgendwie scheint mir die Umsetzung zwischen denBundesländern und dem Bund festgefahren zu sein . Des-halb kann ich nur appellieren, dieses Vorhaben schleu-nigst anzugehen und umzusetzen, um weiteren Schadenim Hinblick auf die Resistenzentwicklung zu vermeiden .Wir stärken mit unserem Antrag auch die Position desTierarztes .
Wir möchten regeln, dass jeder Bestand nur noch eineneinzigen Bestandstierarzt hat, der ausschließlich autori-siert ist, Medikamente zu verschreiben und abzugeben,und der sich hinterher auch vom Behandlungserfolg über-zeugen muss . Dazu ist es notwendig, dass wir die nochbestehenden Defizite in der Antibiotikadatenbank besei-tigen und für alle Nutztierarten und alle Haltungsformeneine verpflichtende Regelung treffen. Gleichzeitig musses unsere Aufgabe sein, Impfungen als Präventionsmaß-nahme grundsätzlich dann vorzuschreiben, wenn durchsie der Einsatz von Antibiotika vermieden werden kann .
Wir wollen die Rabattierung von Antibiotika unter-binden und den Internethandel am besten ganz verbieten .Die Entscheidungen auf europäischer Ebene sind nochim Fluss . Aber ich hoffe, dass durch den Einsatz der deut-schen Europaabgeordneten und durch unseren dortigenEinfluss einiges zu bewirken ist. Damit sind die Instru-mente des Arzneimittelrechts allerdings schon erschöpft .Wenn wir weitergehen wollen, brauchen wir das, waswir in den Koalitionsvertrag geschrieben haben: eineneinheitlichen Rechtsrahmen .
Die Ursachen des Problems sind der Tiergesundheitssta-tus, die Produktionshygiene, Hygiene und Infektionspro-phylaxe, angepasste Tierzucht und im Besonderen das ei-genverantwortliche Betriebsmanagement des jeweiligenTierhalters . Wenn wir weiter vorankommen und über dieInstrumente des Arzneimittelrechts hinausgehen wollen,dann müssen wir diesen Rechtsrahmen konsequent fort-entwickeln . Wir sollten diesen Versuch noch in der lau-fenden Legislatur unternehmen . Ich glaube, das ist eineganz wesentliche Voraussetzung, wenn wir hier Fort-schritte erzielen wollen .Die Abgabe und Anwendung von Antibiotika mit res-triktiven Vorgaben zu versehen, ist die eine Seite . DieVoraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Tiere erstgar nicht krank werden, ist die andere Seite . Ich glau-be, hier haben wir noch viel zu tun . Beratung und einerisikoorientierte Überwachung durch eine Tiergesund-heitsdatenbank, in der wir alle Befunde, die wir schonjetzt verbindlich erfassen müssen, zusammenführen, sindweitere Grundlagen . Die wichtigsten Aspekte für alle Be-teiligten, auch in den Betrieben, sind allerdings Vertrauenund Transparenz . Damit gewinnen wir letztendlich auchdas Vertrauen der Bevölkerung und der Konsumenten zu-rück, wenn es, wie ich es zum gegenwärtigen Zeitpunktbeurteile, infrage gestellt ist .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat KordulaSchulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünendas Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stim-me mit all meinen Vorrednern überein, dass Antibiotika-resistenzen weltweit zu einer ernsten Bedrohung für dieMenschen geworden sind . Ein Grund für diese Bedro-hung ist der leichtfertige Einsatz von Antibiotika auch inder Tierhaltung, vor allem in der Massentierhaltung .Ich habe Ihnen genau zugehört, Herr MinisterSchmidt . Sie haben im Hinblick auf die Maßnahmen,die Sie bei den Reserveantibiotika planen, von erhöhterWahrnehmung gesprochen . Ich fordere Sie auf, endlichdafür zu sorgen, dass Reserveantibiotika kranken, armen,alten Menschen, die keine Widerstandskräfte haben, vor-behalten bleiben und ihr Einsatz in der Tierzucht endlichverboten wird .
Die Weltgesundheitsorganisation spricht von der Ge-fahr eines postantibiotischen Zeitalters . Wir laufen Ge-fahr, in die Zeit vor Entdeckung des Penicillins zurückzu-fallen . Das heißt, dass Menschen in Zukunft – vielleichtschon bald, in naher Zukunft – sogar an leichten Infek-tionen sterben werden . Das dürfen wir nicht zulassen .Deswegen müssen jetzt endlich Maßnahmen ergriffenwerden, die zu einer tatsächlichen Reduzierung führen .Das ist in dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben, lei-der nicht enthalten .
Wir haben glücklicherweise inzwischen auf internati-onaler Ebene – ich nenne zum Beispiel die G 7 – Maß-Dr. Wilhelm Priesmeier
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nahmen vereinbart . Auch in der Deutschen Antibioti-ka-Resistenzstrategie sind zunehmend Verbesserungenzu sehen . Letztendlich sehen wir aber auch an IhremAntrag, dass dieser ganze Bereich in Deutschland nachwie vor unvollständig und ungenau geregelt und unter-finanziert ist. Das muss sich ändern. Sonst kommen wirbei diesem Thema nicht voran .
Lassen Sie mich das an einem ganz kleinen, aber sehrwesentlichen Beispiel deutlich machen: Wenn wir voneiner Minimierung des Einsatzes sprechen, dann müssenwir doch auch über die Reduktionsziele sprechen, die er-reicht werden sollen . Leider kann ich in Ihrem Antragnichts darüber finden. Es wäre doch das Mindeste, zu sa-gen, bis wohin man kommen möchte, wenn man gemein-same Anstrengungen unternimmt .
Das wird in der Rede, die mein Kollege Ostendorff dazuhalten wird, auch noch einmal Thema sein .Was ist jetzt eigentlich zu tun? Wir brauchen eine ver-besserte Aufklärung der Bevölkerung . Umfragen zeigen,dass die Hälfte der Bevölkerung gar nicht weiß, gegenwelche Erreger Antibiotika helfen . In Frankreich ist esmit einer Massenkampagne über einen längeren Zeit-raum gelungen, den Antibiotikaeinsatz um ein Drittel zureduzieren . Warum steht das nicht in Ihrem Antrag undin Ihrer Strategie? Warum vernachlässigen Sie diesenBereich?
Die meisten Verschreibungen in der Humanmedizinerfolgen in den ärztlichen Praxen . 80 Prozent der Anti-biotika werden in Praxen verschrieben . Wir wissen zumBeispiel nicht genau, warum es regionale Unterschiedegibt, aber wir wissen, dass es an Diagnostik und an ei-nem Feedback zur Verschreibungspraxis unter den Ärz-ten fehlt . Aus anderen europäischen Ländern wissen wir,dass ein Feedback zur Verschreibungspraxis unter denÄrzten dazu führen kann, dass die Antibiotikaverschrei-bung um bis zu 50 Prozent reduziert werden kann . Wa-rum steht das nicht in Ihrer Strategie, die Sie uns hierheute vorlegen?
Meine Damen und Herren, viele Menschen, die insKrankenhaus oder Heim kommen, haben Angst vor einerÜbertragung von multiresistenten Keimen . Wir habendas Problem, dass in Krankenhäusern und Heimen keinvernünftiges Screening bei der Aufnahme oder davorstattfindet. Daneben haben wir das weitere Problem, dassnatürlich vor allem die Belastung des Pflegepersonals indiesen Einrichtungen wesentlich dazu beiträgt, dass die-se multiresistenten Keime übertragen werden . Deswegenbrauchen wir endlich Personalbemessungsinstrumente,die sicherstellen, dass genug Zeit für die Pflege von Pati-enten zur Verfügung steht und dass die Belastung nicht sohoch ist, dass hier besondere Risiken entstehen .Darüber hinaus brauchen wir sofort Mindeststan-dards für bestimmte Stationen, nämlich für Intensivsta-tionen und für die Kinderintensivmedizin, weil dort dieschwächsten Patienten liegen, die am meisten von diesenInfektionen bedroht sind . Wenn Sie sich ansehen, dassdas Verhältnis zwischen Pflegepersonen und Patientenauf Intensivstationen in den Niederlanden eins zu eins,während es in Deutschland eins zu vier beträgt, dann se-hen Sie doch den Handlungsbedarf, den wir hier haben .Wir brauchen sofort Mindeststandards für die Intensiv-und die Kinderintensivmedizin .
Seit den 70er-Jahren ist im Bereich „Forschung undEntwicklung von Antibiotika“ nicht viel passiert . Das istsicher einer der Gründe dafür, dass es so viele Antibioti-karesistenzen gibt . Es gab sehr viele Antibiotika auf demMarkt, bei denen der Patentschutz abgelaufen war, undReserveantibiotika, die in der Regel zurückgehalten wer-den sollen, um bei einer Resistenzentwicklung eingesetztwerden zu können . Deren Einsatz hat dazu geführt, dasswir im Moment nur noch wenige Reserveantibiotika ha-ben – eigentlich ist es nur noch eines, das wirklich gegenalle Keime hilft –, und es wurden noch keine neuen Wegegefunden, wie wir in Zukunft mit Infektionen umgehenkönnen . – Das ist der Forschungszustand heute .Ich finde, dass sich sowohl die Pharmaindustrie alsauch die öffentliche Forschung so starkmachen müssen,dass wir auf internationaler Ebene zusammenarbeitenkönnen; denn wir brauchen neue Antibiotika und neueStoffe, die gegen diese Erreger helfen . Deswegen müssenwir alle zusammenarbeiten . Aus diesem Grund schlagenwir vor, einen internationalen sehr transparenten Fondseinzurichten, in dem die öffentlichen und privaten Mittelfür die Forschung zusammengefasst werden . Natürlichmuss auch Deutschland hier einen Beitrag leisten .All diese Punkte kommen bei Ihnen einfach nicht rich-tig vor, und sie sind nicht richtig finanziert. Das müssenwir ganz schnell ändern .
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss .Für mich heißt das Zauberwort „Zusammenarbeit zwi-schen den Gesundheitsberufen“: von der internationalenEbene bis runter auf die lokale Ebene des Rettungsdiens-tes und des Gesundheitsamtes . Wir dürfen bei dem The-ma Antibiotikaresistenzen nicht mehr kleckern, sondernwir müssen klotzen .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Herr Bundes-minister Hermann Gröhe für die Bundesregierung dasWort .
Kordula Schulz-Asche
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Als im Juni des letzten Jahres beim G-7-Gipfel in
Elmau die deutsche Präsidentschaft das Thema Antibio-
tikaresistenzen auf die Tagesordnung gesetzt hat, da hat
mancher in den Medien und auch in der Politik zunächst
einmal gefragt: Antibiotika- – was? Kümmern sich die
G-7-Staats- und Regierungschefs nicht um die ganz
wichtigen Fragen wie Frieden, Wirtschaftswachstum,
Gerechtigkeit, Klimawandel? Ja, und dazu gehören eben
auch Antibiotikaresistenzen . Es ist eine Frage, die genau
in diese Dimension gehört . Deutschland ist hier Schritt-
macher, und zwar nicht nur deshalb, weil wir dieses The-
ma auf die Tagesordnung der G 7 gesetzt haben, sondern
weil wir auch konsequent handeln im nationalen wie im
internationalen Rahmen .
Kollegin Schulz-Asche hat es ja angesprochen: Ein
Rückfall in das Vor-Penicillin-Zeitalter wäre eine Kata-
strophe für die Medizin . Seit dem Zweiten Weltkrieg sind
Antibiotika ein herausragendes Instrument zur Bekämp-
fung von Infektionskrankheiten . Viele medizinische Ein-
griffe, vom Hüftgelenkersatz bis zur Transplantation,
wären ohne vorbeugende Antibiotikabehandlungen nicht
möglich .
Jedes Jahr sterben weltweit 700 000 Menschen an
resistenten Keimen . Wenn die Kommission von Jim
O’Neill im Auftrag der britischen Regierung sagt: „Diese
Zahl kann bis 2050 auf 10 Millionen steigen, wenn wir
nicht gegensteuern“ – das hieße mehr Tote durch multi-
resistente Keime als infolge von Krebserkrankungen –,
dann macht das deutlich, wie ernst die Bedrohung ist .
Ähnlich wie beim Klimawandel ist es so, dass sich die
Entwicklung schleichend und weithin unsichtbar voll-
zieht . Deswegen ist es wichtig, hier gegenzuhalten .
Es geht um – es ist richtig, was Sie gesagt haben – die
lokale, die nationale und die internationale Ebene, also
um alle Ebenen . Ich will mich auf den Bereich der Me-
dizin konzentrieren . Gleichzeitig danke ich dem Kolle-
gen Schmidt herzlich für die gute Zusammenarbeit mit
seinem Hause und dafür, dass wir vor Ort informieren
und diskutieren . Frau Kollegin, Sie haben Kampagnen
angemahnt . Ich lade alle dazu ein, die guten Materialien
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu
nutzen .
Ich war vor einigen Wochen mit Apothekerinnen und
Apothekern meiner Heimatstadt mit diesen Materialien
in der Fußgängerzone . Wir haben Eltern angesprochen
und darauf hingewiesen, dass es falsch ist, ohne eine
anständige Diagnostik vorschnell auf den Einsatz von
Antibiotika zu drängen und die Behandlung nach einer
vermeintlichen Besserung vorschnell abzubrechen . Auch
damit werden Resistenzen gefördert . Natürlich betreiben
wir öffentliche Aufklärung . Natürlich gibt es auch ver-
besserte Weiterbildungsangebote an die Ärzteschaft . Das
Antibiotic-Stewardship-Programm mit der Universität
Freiburg als Ankerorganisation bietet diese Weiterbil-
dungen an . Natürlich gehört die Fülle der Maßnahmen
vor Ort, die wir im Bereich Krankenhaushygiene ergrei-
fen, auch dazu .
Herr Bundesminister, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu? Ich habe die ganze Zeit auf eine Redepause gewartet .
Ich musste Sie jetzt aber unterbrechen .
Gerne .
Frau Schulz-Asche .
Herr Minister Gröhe, herzlichen Dank, dass Sie
konkret auf meinen Vorschlag mit der Aufklärung ein-
gegangen sind . – Wir haben die Bundeszentrale für ge-
sundheitliche Aufklärung . Ich möchte Sie fragen, ob Sie
beabsichtigen, nach dem Vorbild von Frankreich eine
über Jahre dauernde, sehr breit angelegte und sehr inten-
sive Informationskampagne zu machen und nicht nur auf
die Broschüren der BZgA zu setzen?
Wir bauen diesen Bereich aus . Nicht nur die Bundes-zentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt Materiali-en heraus, sondern auch die örtlichen Gesundheitsämterund die Landesregierungen . Ja, wir werden sowohl imBereich der Information seitens der öffentlichen Verwal-tungen beharrlich und verstärkt arbeiten müssen – das istnicht mit der einmaligen Ausgabe von Materialien ge-tan –, als auch die Apotheken, die Ärzteschaft und dieanderen Gesundheitsberufe mit einbeziehen müssen .Natürlich müssen diese Arbeiten fortgesetzt und auchverstärkt werden; das steht übrigens im Antrag der Koa-litionsfraktionen . Es gibt regionale Netzwerke für dieseArbeit, die beispielsweise durch das Robert-Koch-In-stitut unterstützt werden . Ja, all das gehört ausdrücklichdazu .
– Doch . Ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir dieseMaßnahmen nachhaltig und verstärkt durchführen . Ichlade dazu ein, sie vielleicht erst einmal alle zur Kenntniszu nehmen und selber auch einzusetzen . Das lohnt sich .Wir haben im Bereich der Krankenhaushygiene nachden Verschärfungen des Infektionsschutzgesetzes zuletztdie Meldepflichten verschärft, damit bereits ein erstesAuftreten von Keimen rechtzeitig die entsprechendenReaktionen auslösen kann . Wir führen seit 2014 eineVerbrauchs-Surveillance in Krankenhäusern durch, undzwar zusammen mit dem Robert-Koch-Institut und derCharité; über 200 Krankenhäuser machen bereits mit .Auch daraus gewinnen wir wertvolle Informationen füreinen bestmöglichen Einsatz .
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Wir arbeiten intensiv zusammen – neben KollegeSchmidt war Kollegin Wanka an der Erarbeitung derDeutschen Antibiotika-Resistenzstrategie beteiligt –,wenn es um die Forschung geht . Eine gute Forschung,die international zusammenarbeitet, wurde angemahnt .Ich kann Ihnen sagen: Genau das geschieht . Das Deut-sche Zentrum für Infektionsforschung, das zur Helm-holtz-Familie gehört und vom Bund nachhaltig gefördertwird, ist eine der herausragenden Forschungseinrichtun-gen . Gerade vor wenigen Tagen hat das in Braunschweigbeheimatete Netzwerk zusammen mit acht anderen Spit-zenorganisationen in der Welt eine Allianz gegründet, umdas Erreichen der Ziele der UN-Resolution wissenschaft-lich zu begleiten und anzumahnen . Die deutsche For-schung ist also an der Gründung dieser Allianz beteiligt .Die Bundesregierung hat zusammen mit anderen im Rah-men der WHO dafür geworben, noch in diesem Monatdieses Thema auf die Tagesordnung nicht nur der WHO,sondern auch der Vereinten Nationen zu setzen und dazuHigh-Level-Meetings und Beratungen durchzuführen .Damit komme ich auf das zu sprechen, was wir imRahmen von G 7 und in der EU – hier vor allen Dingenzusammen mit Großbritannien und den Niederlanden,aber auch mit anderen Staaten aus der Völkergemein-schaft – tun . Bereits im nächsten Monat wird – initiiertim Rahmen des G-7-Prozesses – ein Treffen internati-onaler Experten in Berlin stattfinden. Über 100 renom-mierte Experten werden über Forschungsanreize, denZusammenhang von Tier- und Humanmedizin und überden klugen Einsatz von Antibiotika, aber auch über dieDurchsetzung einer weltweiten Verschreibungspflichtdiskutieren; auch Jim O’Neill wird daran teilnehmen .Wir haben uns entschlossen, im Mai nächsten Jahreserstmalig zu einer Konferenz der G-20-Gesundheitsmi-nister einzuladen; denn wir sind der Überzeugung, dasswir bei Fragen betreffend die Antibiotikaresistenz eineZusammenarbeit der forschungs- und wirtschaftsstarkenG-7-Staaten und der großen – auch großagrarisch täti-gen – Länder Lateinamerikas und Asiens brauchen .
Ich bin ausgesprochen dankbar, dass die japanischeG-7-Präsidentschaft unser Thema vorangetrieben hat undim April Indien, China und weitere asiatische Staaten ein-geladen hatte, um sie für unsere Sache zu gewinnen . Un-sere Anstrengungen, in denen wir nicht nur nicht nach-lassen dürfen, sondern die wir auch verstärken müssen,werden nur Erfolg haben, wenn wir es schaffen, andereStaaten auf internationaler Ebene einzubinden . Im Ge-gensatz zu dem Eindruck, der gerade erzeugt wurde, wirdDeutschland – fragen Sie in der WHO und der UNO – alsSchritt- und Tempomacher und aufgrund seiner Strategieals Vorbild gesehen .
Ich bin davon überzeugt, dass es uns gelingen wird,die Katastrophe, die eintreten kann – zu diesem Schlusskommt man, wenn man den Report von O’Neill und dieBerichte der Weltbank über die dramatischen wirtschaft-lichen Schäden liest –, zu verhindern, wenn wir alle zu-sammenarbeiten und handeln . Wir werden in Kürze überdie Ergebnisse des Pharmadialogs reden . Hier wird es ummehr Anreize für eine bessere Diagnostik, die Entwick-lung neuer Antibiotika und auch um die Frage gehen, wiewir den nachlassenden Nutzen von Generika fair bewer-ten .Also: Global und vor Ort handeln, das zeichnet unsaus . Der Antrag der Koalitionsfraktionen enthält dafürwichtige Punkte . Er macht Tempo und mahnt, am Ballzu bleiben . Ich begrüße dies sehr und freue mich auf dieweiteren Beratungen .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Kathrin
Vogler für die Fraktion Die Linke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutezur Diskussion stehenden Antibiotikaresistenzen sind einwichtiges Thema . Herr Gröhe, ich nehme Ihnen ab, dassSie tatsächlich etwas dagegen unternehmen wollen . Bak-terien sind faszinierende Lebensformen . Sie sind quasiüberall zu finden und trotzen den widrigsten Umwelt-bedingungen . Die meisten sind zum Glück ungefährlichoder sogar nützlich . Einige von Ihnen können aber ebenauch schwere Krankheiten verursachen . An Tuberkuloseetwa sterben weltweit 1,5 Millionen Menschen in jedemJahr . Und auch Keime, die gesunde Menschen problemlosabwehren können – wie Staphylokokkus Aureus oder be-stimmte Darmkeime –, können bei immungeschwächtenbzw . kranken Patientinnen und Patienten ganz schlimmeFolgen haben . Sie können lebensgefährlich sein .Deswegen war die Entwicklung von Antibiotika einunglaublicher Erfolg der Medizin im Kampf gegen bak-terielle Erkrankungen . Doch dieser Erfolg droht jetzt um-zukippen; denn das biologische Erfolgsmodell Bakteri-um beruht auf einer unglaublichen Anpassungsfähigkeit .Wenn nur wenige Exemplare den Angriff beispielsweiseeines Antibiotikums überleben, dann führt das dazu, dasssich diese umso schneller vermehren . So entstehen Re-sistenzen . Dabei droht das scharfe Schwert der Antibioti-ka stumpf zu werden .Jetzt gehen Experten davon aus, dass in Deutschlandinzwischen bis zu 25 000 Menschen jährlich durch In-fektionen mit multiresistenten Erregern sterben . Hun-derttausende erleben schweres Leid . Sie müssen längerim Krankenhaus bleiben . Oder sie erleiden schlimmeFolgen, wenn zum Beispiel Gliedmaßen, die nicht mehrgerettet werden können, amputiert werden müssen . Dasdürfen wir nicht akzeptieren . Damit dürfen wir uns nichtabfinden.
Es ist absolut richtig, dass die Koalitionsfraktionenin ihrem Antrag mehr Anstrengungen gegen die Aus-Bundesminister Hermann Gröhe
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breitung multiresistenter Keime verlangen und dass siedie Entwicklung neuer Antibiotika vorantreiben wollen .Richtig ist auch, dass das eine grenzüberschreitende Auf-gabe ist, weil die Erreger auch nicht an Grenzen haltma-chen . Was mich aber schon ein bisschen – nein, mehrals ein bisschen – aufregt ist, dass Sie das, was hier inDeutschland das wichtigste Mittel wäre, schlichtweg ig-norieren .Das wichtigste Mittel gegen die Ausbreitung antibio-tikaresistenter Keime in Krankenhäusern wäre schlicht-weg mehr Personal, und zwar deutlich mehr Personal . Inder Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom letz-ten Sonntag berichtet – ich zitiere – eine anonym blei-bende OP-Schwester:Wir gefährden jeden Tag Patienten, und zwar be-wusst .Sie erzählt von schweren Hygienemängeln, von schlechtgeschulten Reinigungskräften und vom ständigen Ar-beitsdruck in der Pflege, der eine sorgsame Händedesin-fektion unmöglich macht . Sie rechnet vor, dass Ärzte undSchwestern sich eigentlich etwa 150-mal am Tag – je-weils 30 Sekunden lang – die Hände desinfizieren müss-ten . Das ergibt 75 Minuten pro Arbeitstag . Das ist aberbei den derzeitigen Verhältnissen in Krankenhäusern ein-fach illusorisch .Viele Beschäftigte leiden psychisch darunter, dass siezwar genau wissen, was sie zu tun hätten, dass sie dieseZeit aber nicht aus ihrem dichtgepressten Arbeitsalltagherausschneiden können . Arbeitsverdichtung und Stressin der Pflege gefährden jeden Tag Menschenleben. Dage-gen müssen wir doch etwas tun .
Im Gesundheitsausschuss haben uns Sachverständigebei einer Anhörung vorgerechnet, dass akut 100 000 Pfle-gekräfte in den Kliniken fehlen . Und da feiern Sie sich indiesem Antrag für gerade einmal 6 000 zusätzliche Stel-len in drei Jahren, die Sie mit dem Krankenhausstruktur-gesetz geschaffen haben . Entschuldigung, das ist einfachlächerlich!Zum Thema Forschung . Wenn wir bei der Entwick-lung neuer Antibiotika gemeinsam substanziell voran-kommen wollen, dann sollten Sie unserem Änderungsan-trag zum Haushalt zustimmen, in dem wir 500 MillionenEuro für nichtkommerzielle öffentliche Arzneimittelfor-schung fordern . Denn wir sehen doch, dass das Interesseder Industrie an der Entwicklung neuer Antibiotika nichtnur für unsere Region denkbar gering ist . Das gilt auchfür die Entwicklung solcher Antibiotika, die gegen Tu-berkulose eingesetzt werden könnten . Da müssen wir öf-fentlich investieren . Das sind wirksame Ansätze, um un-ser Schwert gegen Infektionskrankheiten wieder scharfzu machen und Menschenleben zu retten . Ich würde michfreuen, wenn Sie das in der Beratung unterstützen wür-den .
Vielen Dank . – Jetzt hat Martina Stamm-Fibich von
der SPD das Wort .
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Verehrte Zuhörer! „Das Problem ist so ernst,dass es die Errungenschaften der modernen Medizin be-droht .“ – So heißt es im Bericht der WHO vom Som-mer 2014 . Die Gefahr ist real, und sie ist groß .Tagtäglich sterben auch in deutschen KrankenhäusernMenschen an den Folgen einer Infektion mit multiresis-tenten Bakterien . Meist sind es ältere, multimorbide Pati-enten, deren Immunsystem bereits stark geschwächt war .Doch es ist denkbar, dass in Kürze auch jüngere Men-schen an multiresistenten Erregern sterben . Wir müssensämtliche Anstrengungen bündeln, um ein solches Sze-nario zu verhindern .
Wie kaum ein anderes Problem ist das Problem derAntibiotikaresistenzen zum Teil hausgemacht; denn überJahrzehnte hinweg hat die Gesellschaft Antibiotika imGlauben an deren unerschöpfliche Allmacht nicht ratio-nal eingesetzt . Die meisten Patienten holen sich ein Re-zept für ein Antibiotikum bei einem Arzt ihres Vertrauens .So stellen Hausärzte und hausärztlich tätige Internistenzwei Drittel der Antibiotikarezepte aus, die insgesamtim ambulanten Bereich vergeben werden . Erschreckendfinde ich: Laut einer Umfrage des Robert-Koch-Institutsist vielen Ärzten nicht bewusst, was sie mit den Verord-nungen anrichten . Etwa 64 Prozent der niedergelassenenMediziner glauben, dass das, was sie täglich verordnen,keinen Einfluss auf die Anzahl und Sorte resistenter Erre-ger in ihrer Gegend hat . Das gibt schon zu denken .
Außerdem spielt auch das Anspruchsdenken mancherPatienten im medizinischen Alltag eine große Rolle . Wel-cher Hausarzt kennt nicht die Situation, in der ein erkäl-teter Patient in seine Praxis kommt und um ein Antibio-tikum bittet . Ob es sich dabei um eine bakterielle odervirale Infektion handelt, ist häufig auf die Schnelle nichtfestzustellen . Daher verordnen Ärzte Antibiotika aufVerdacht . Hinzu kommt die fehlende Compliance vielerPatienten; sie setzen den verordneten Wirkstoff vorzeitigab, weil sie sich einfach besser fühlen . Liebe Kollegin-nen und Kollegen, schauen Sie doch einmal zu Hause inIhren Medikamentenschrank . Neben den Halspastillenund den halbleeren Hustensaftflaschen findet sich be-stimmt auch ein Antibiotikum, dessen Haltbarkeitsdatumabgelaufen ist . Einige Tabletten sind weg, aber eben nichtalle .Besonders gefährlich ist die Situation in den Kran-kenhäusern; denn hier liegen kranke Menschen dicht anKathrin Vogler
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dicht, sodass die multiresistenten Erreger schnell denWirt wechseln können . Die Deutsche Gesellschaft fürKrankenhaushygiene schätzt die jährliche Zahl an Kran-kenhausinfektionen auf rund 90 000 . Das bedeutet, dasssich jeder 20. bei uns stationär behandelte Patient infi-ziert . Eine kompromisslose Reinigung und Desinfektionkönnen die Krankenhauskeime abtöten, doch viele Kli-niken stehen unter enormem Druck . Deshalb können siedie Empfehlungen nicht immer einhalten .Als Politik haben wir aber reagiert und mit verschie-denen Gesetzen in den vergangenen Jahren versucht, denEinsatz von Antibiotika in der Tierzucht einzudämmenund mehr Hygienebeauftragte in die Kliniken zu bringen .Außerdem hat das BMG neben der Aktualisierung derDeutschen Antibiotika-Resistenzstrategie einen Zehn-Punkte-Plan zur Bekämpfung multiresistenter Keimeerarbeitet .Auch im Pharmadialog der Bundesregierung hat dasThema eine große Rolle gespielt . Im Abschlussdoku-ment des Pharmadialogs wurde unter anderem festgehal-ten, dass das BMG die Regelungen zur Erstattung vondiagnostischen Verfahren für einen zielgenauen Einsatzvon Antibiotika verbessern soll . Zudem wurde eine Re-gelung auf den Weg gebracht, mit der die jeweils spe-zifische Resistenzsituation bei der Nutzenbewertung im AMNOG-Verfahren durch den G-BA besser berücksich-tigt werden kann . Diese beiden Punkte haben wir in die-sem Antrag, den wir heute vorgelegt haben, aufgegriffen .Ich hoffe, dass sie zum Ziel führen .Ein weiteres Problem ist aber auch das geringe Interes-se der Pharmaindustrie an der Forschung in diesem Be-reich; denn obwohl Antibiotika die häufigste Wirkstoff-gruppe unter den verschriebenen Medikamenten sind,ist mit ihnen vergleichsweise wenig Geld zu verdienen .Mir ist bewusst, dass Arzneimittelforschung kostspieligist, aber wir sind auf die Entwicklung neuer, potenterAntibiotika angewiesen . Gut 1 bis 1,5 Milliarden Euromuss ein Unternehmen in der Regel von der Entwicklungbis zur Marktreife investieren . Das ist ein Prozess, dermindestens zehn Jahre dauert . Doch anders als bei Me-dikamenten gegen chronische Leiden wie Diabetes undBluthochdruck, die ein Leben lang eingenommen werdenmüssen, sind die Ertragsaussichten bei Antibiotika deut-lich geringer,
insbesondere wenn es um die Entwicklung von Reser-veantibiotika geht, die naturgemäß nur dann zum Einsatzkommen sollen, wenn Standardarzneien versagen . Ichappelliere daher an dieser Stelle an die soziale Verant-wortung, der sich auch Pharmaunternehmen nicht entzie-hen dürfen .
Lassen Sie uns gemeinsam Antibiotikaresistenzenbekämpfen . Nur wenn wir gemeinsam an einem Strangziehen, kann dieses Mammutprojekt gelingen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat FriedrichOstendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dasWort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Erst seit 2011 muss erfasst werden, wieviel Antibiotika an Tierärzte abgegeben wird . MinisterSchmidt, es war nicht das ureigene Interesse und Bestre-ben Ihres Hauses, dass die Mengen erfasst und reduziertwerden . Die Novelle zum AMG war keine freiwilligeVerbesserung der Bundesregierung, ganz und gar nicht .Die Bedrohung durch multiresistente Keime aus denViehställen war der Grund . Es war ein harter und zäherKampf, dieses Monitoring gegen Ihre ewige Schönfärbe-rei durchzusetzen .
Der Rückgang der Abgabemenge zeigt doch, dass un-ser grünes Drängen richtig war, wobei die Verlässlichkeitder Zahlen infrage steht; zu groß erscheinen die Unter-schiede zwischen den einzelnen Daten, also den QS-Da-ten und den BVL-Daten . Hier gibt es noch viele Fragenzu klären .Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Lob mussaber sein: Der nun vorliegende Antrag beinhaltet durch-aus Positives . Es ist nämlich unbedingt erforderlich, dassder Antibiotikaeinsatz nicht nur in der Mast, sondernauch in der Aufzucht der Tiere und der Elterntierhaltungdokumentiert wird . Von der Geburt bis zum Tod mussdokumentiert werden, und die Dokumentation darf nichtirgendwann einsetzen . Bis Ferkel und Kälber abgesetztsind, ist beim Antibiotikaeinsatz nämlich eine Mengepassiert .Endlich wollen auch Sie gegen die ökonomischenFehlanreize beim Verkauf von Antibiotika vorgehen unddie Rabattgewährung – immerhin – überprüfen . Da hät-ten Sie doch aber auch einfach unserem grünen Antragvon 2014 folgen können . Diese Problematik ist dochschon seit langem bekannt . Da ist es aber wieder, dasAbwarten des Ministers Schmidt: Abwarten, Verzögern,Aufschieben; macht ihr erst einmal; ich schaue es mirdann vielleicht einmal an . – Heute sagte der Minister inseiner unnachahmlichen Weise: Ich habe das Ziel, dasswir auf dem Weg sind .
Apropos Aufschieben: Wo bleibt eigentlich die Listeder Reserveantibiotika, die so lange angemahnte, die Ge-genstand von Anwendungsbeschränkungen sein soll? Eswurden 2015 immer noch 14,2 Tonnen Reserveantibioti-ka abgegeben, 2,4 Tonnen Reserveantibiotika mehr als in2011 . Also: Immer schön die Kirche im Dorf lassen, liebeMartina Stamm-Fibich
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Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, bevor Sie zuviel Lobhudelei betreiben .Herr Minister, nicht das, was Sie heute sagten – dasProblem sollte auf eine höhere Stufe der Wahrnehmunggehoben werden –, ist entscheidend, sondern: Reservean-tibiotika müssen aus den Tierställen heraus . Das hat mei-ne Kollegin Ihnen doch eindeutig klargemacht .
Hören Sie doch auf den Fachverstand derjenigen, die esbeurteilen können .Im vorliegenden Antrag fehlen uns mindestens dreiPunkte .Erstens . Statt auf mehr Hygiene zu setzen, sollten Sieden Tieren einfach mehr Platz für ein artgerechtes Lebenbieten . Das hat doch auch die Kollegin der Linken sehrklargemacht .
Sie sehen aber nach wie vor keine Notwendigkeit, dieHaltungsvorschriften für Schweine zu ändern .Zweitens . Relevante Reserveantibiotika müssen klarerfasst und ihr Einsatz muss natürlich bis auf wenige gutbegründete Ausnahmen im Stall verboten werden .
Da ist das Verbot der Umwidmung einmal mehr doch nurSchönfärberei . Übrigens, Herr Minister, da Sie sich soausgebreitet über Antibiogramme ausließen: Nur bei derUmwidmung soll ein Antibiogramm erstellt werden undnicht grundsätzlich . Dass das bisher nicht so ist, ist nachwie vor stark zu kritisieren .Drittens . Die tierärztliche Bestandsbetreuung mussendlich verstärkt werden – darüber philosophieren wirnun schon seit zehn Jahren –, damit die Tierärzte mit ih-rem Wissen ihren Lebensunterhalt verdienen können undnicht durch den Verkauf von Antibiotika im Familien-pack . Dafür brauchen wir einheitliche Abgabepreise . Wirbrauchen eine Aufhebung der Rabattgewährung .Eines sei zum Abschluss noch gesagt . Auch wenn esleider absolut Standard ist, 40 000 Hähnchen mit Anti-biotika im Trinkwasser zu behandeln: Nur weil etwasgemacht wird, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, ist es noch lange nicht in Ordnung .
Prophylaxe ist und bleibt verboten .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Gitta
Connemann für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Minister Schmidt und Gröhe! Multiresistente Keime als
größte Gefahr der Menschheit – so warnen Wissenschaft-
ler weltweit . Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf
den Rängen, das ist kein Horrorszenario, sondern heute
schon globale Realität .
Menschen sterben an bakteriellen Infektionen, weil
kein Antibiotikum mehr anschlägt . Die Blasenentzün-
dung kann zum Todesurteil werden . Bakterien sind
schlau . Sie passen sich an . Das wusste übrigens schon
der Entdecker des Penicillins, Alexander Fleming . Er
wies bereits 1945 auf die Gefahren des unkontrollierten
Gebrauchs von Penicillin hin . Zu oft, zu kurz, bei fal-
scher Diagnose – bei Mensch und Tier –, so entstehen
multiresistente Keime . Ohne Zweifel – diese Erkenntnis
eint uns in diesem Hause –: Antibiotikaresistenzen sind
tickende Zeitbomben .
Deutschland hat darauf reagiert . 2008 wurde die erste
nationale Strategie gegen Antibiotikaresistenzen vorge-
legt . Unsere Bundeskanzlerin brachte es auf die Agen-
da der G 7; denn Bakterien kennen keine Grenzen . Sie
machen übrigens auch keinen Unterschied zwischen
Mensch und Tier . Human- und Tiermedizin müssen
deshalb gemeinsam Lösungen entwickeln . Dafür ste-
hen heute persönlich und beispielhaft Bundesminister
Es geht nur gemeinsam .
Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen niemandem .Dieses Wissen würde ich mir von so manchen Kollegenin diesem Hause wünschen,
die immer wieder nur mit dem Finger auf die Landwirt-schaft und übrigens auch auf die Tierärzte zeigen . Danenne ich beispielhaft den Kollegen Hofreiter; er ist heu-te leider nicht da .
Er verstieg sich vor kurzem zu der Aussage, dass – ichzitiere – viele Tiere „systematisch mit Antibiotika voll-gepumpt werden“ .
Wenn der Kollege Hofreiter da wäre, könnte ich ihm sa-gen: Sie ignorieren dabei eines: die Fakten .Erstens . Die prophylaktische Behandlung mit Antibio-tika ist seit 2006 in diesem Land verboten .
Friedrich Ostendorff
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Zweitens . Der Einsatz von Antibiotika in der Tierhal-tung ist seit 2011 um 53 Prozent zurückgegangen . Um53 Prozent!
Auch der Einsatz von Reserveantibiotika sinkt stetig .
Ihm sind diese Fakten egal . Damit stellt er übrigensden Berufsstand der Landwirte und den der Tierärzte intoto an den Pranger und verunsichert zu Unrecht die Ver-braucher .
Das ist nicht unsere Art, Politik zu machen; dennwir wissen: Wir können die immensen Herausforderun-gen nur gemeinsam bewältigen . Da stehen wir alle inder Verantwortung: Ärzte, Tierärzte, Patienten übrigensauch, Wissenschaft, Bildung, Umwelt, aber auch die Po-litik . Deshalb legt Ihnen die Große Koalition heute einenbereichsübergreifenden Katalog mit 26 Punkten vor: fürdie Gesundheitspolitik, für die Agrarpolitik . Es ist daserste Mal, dass ein solcher Antrag übergreifend vorgelegtwird. Ich persönlich finde: Das ist auch eine Sternstundein der Debattenkultur dieses Hauses .
Vorausgegangen ist ein Jahr härtester Arbeit: ein Kon-gress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu diesem The-ma, viele Gespräche zwischen Gesundheitsexperten undTiermedizinern, in der SPD, in der CDU/CSU – und amEnde ein gemeinsamer Antrag . Dafür sage ich an dieserStelle auch vielen Dank an Frau Keinhorst . Unsere zen-trale Forderung lautet: Wir brauchen mehr Präventionund Hygiene bei Mensch und Tier, im Krankenhaus undim Stall . Das wird kosten – ohne Frage –, aber es sind In-vestitionen, die Leben retten, und da ist kein Euro zu viel .Information, Aufklärung, Impfungen, Hygiene- undandere Präventionsmaßnahmen sind das A und O . Nur sokönnen Infektionen verhindert werden und damit über-flüssige Behandlungen, übrigens auch bei Mensch undTier .Für den Veterinärbereich – Herr Dr . Henke wird aufden Bereich der Humanmedizin eingehen – fordernwir deshalb – das ist eine Kernforderung; der KollegePriesmeier hat es schon angesprochen – einen einheitli-chen Rechtsrahmen für ein umfassendes Hygiene-, Ge-sundheits- und Haltungsmanagement .
Im Sommer habe ich Rinderbetriebe in Bayern be-sucht . Dort habe ich gesehen, wie effektiv ein gutesStallmanagement und eine Topumgebung für jedes Tiersind . Es ist übrigens mit Platz allein nicht getan, lieberFriedrich Ostendorff .
Vielmehr geht es um Hygiene, um sehr gut ausgestatte-te Fressliegeboxen und um modernste Mischtechnik fürindividuelle Fütterung nach Bedarf . Ich habe dort auchgesehen, wie erfolgreich eine vertrauensvolle Zusam-menarbeit von Tierärzten und Landwirten ist . Allerdingsmüsste diese tierärztliche Arbeit dann auch entsprechendbezahlt werden. Das findet heute noch nicht statt. Hierliegt der wirkliche Schlüssel zur Antibiotikaminimie-rung .
Das ist übrigens auch die Antwort auf die Standardfor-derung nach starren Reduktionszielen . Ich sage zu diesenZielen: Diese sind inhaltsleer und willkürlich .
Diese leiden darunter, dass sie keine Antwort auf dasWie geben können . Diese beschreiben nur ein Ob . Hiersetzen wir an . Wir müssen uns an dieser Stelle natürlichdarauf verlassen können, dass das Erfassungssystem, daswir im Rahmen der AMG-Novelle 2011 auf den Weg ge-bracht hatten, funktioniert .Lieber Friedrich Ostendorff, zur Wahrheit gehört dazu,dass wir nicht gezwungen worden sind . Wir haben dieseNovelle 2011 aus eigener Kraft auf den Weg gebracht .
Eines sage ich deshalb an dieser Stelle auch: Wennjemand keine Ahnung hat und so etwas sagt, ist dasschlimm; aber wenn jemand Ahnung hat – du hast sie –und so etwas sagt, dann grenzt das wirklich an Unwahr-heit .
Wir müssen das Ganze sicherlich noch schärfen . Dasheißt für uns: Auch der Nichteinsatz von Antibiotikamuss zukünftig gemeldet werden, die jetzige Bewertungvon Kombinationspräparaten muss überprüft werden,Mortalitätsraten müssen auch in die Erfassung einbezo-gen werden . Die stete Forderung, die wir auch in dieserDebatte wieder gehört haben, dass Reserveantibiotikaaus den Tierställen verbannt werden müssen,
Gitta Connemann
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zeigt eindeutig, dass Sie eines nicht verstanden haben:Auch Tiere haben ein Recht auf Behandlung . Alles ande-re wäre Tierquälerei .
Deshalb muss der Einsatz möglich bleiben – natürlichnur in begründeten Fällen und nur nach Erstellung einesAntibiogramms .
Die Liste ließe sich fortführen, auch was das Dispen-sierrecht angeht . Es hat sich aus Sicht unserer Fraktiongrundsätzlich bewährt . Aber wir wissen auch: Es gibtwirtschaftliche Fehlanreize . Diese Fehlanreize müssenabgeschafft werden . Wir fordern deshalb auch, dass sei-tens der Hersteller von antimikrobiell wirksamen Mittelndie Rabattgewährung überprüft und die Preisgestaltungüberarbeitet wird .Vor uns liegt noch ein längerer Weg, aber wir habenschon große Erfolge erzielt . Wenn wir bereit sind, auchunbequeme Wahrheiten zu benennen, wie wir es heutetun, –
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
– dann bin ich ganz sicher: Wir werden unser Ziel er-
reichen . Wir brauchen in Zukunft gemeinsam wirksame
Antibiotika . Das muss unser Ziel sein, und dafür setzen
wir uns ein – gemeinsam .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dr . Karin
Thissen für die SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Unser gemeinsa-mer Antrag „Antibiotika-Resistenzen vermindern“ istvor allem deswegen ein gemeinsamer Antrag, weil er vonAgrarpolitikern und Gesundheitspolitikern beider Frakti-onen ausformuliert wurde .
An dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschönan die Fachkolleginnen und -kollegen aus dem Gesund-heitsausschuss .
Um Antibiotikaresistenzen zu vermindern – verhin-dern kann man sie nicht; aber man kann sie vermin-dern –, ist es erforderlich, Antibiotika so selten wiemöglich einzusetzen, und zwar in der Human- und inder Veterinärmedizin . Deshalb freut es mich, dass wiruns auf die Einrichtung eines ständigen veterinär- undhumanmedizinischen Fachgremiums als Schnittstelle ei-nigen konnten, das regelmäßig die Resistenzlage bei An-tibiotika evaluieren soll . Lieber Friedrich Ostendorff, duhast den Antrag gelesen, aber vielleicht nicht verstanden;denn genau da kann ja die Liste der Reserveantibiotikaerarbeitet werden .
Die Zusammenarbeit zwischen Human- und Tierme-dizinern kann allerdings nur erfolgreich werden, wennjede Seite Verständnis für die jeweils andere Seite hatund jede Seite Verantwortung für den und im eigenen Be-rufsstand übernimmt . Will damit sagen: Ein jeder kehrevor seiner eigenen Haustür, statt mit dem Finger auf denjeweils anderen Berufsstand zu zeigen .
Auch Veterinäre sind in erster Linie für die Gesund-heit der Menschen verantwortlich . Tierärzte sind verant-wortlich dafür, dass unsere Tierbestände gesund bleiben .Denn nur gesunde Tiere liefern gesunde Lebensmittel,und gesunde Tiere übertragen keine Krankheiten aufMenschen . Deswegen ist es unsinnig, ein Verbot von Re-serveantibiotika in der Veterinärmedizin zu fordern . Wirwissen jetzt noch nicht, an welchen Krankheiten Tierbe-stände in Zukunft leiden könnten, und es wäre ja gerade-zu unsinnig, zu sagen: Die Tiere müssen krank bleiben;wir warten darauf, dass die Infektion auf die Menschenüberschwappt, und erst wenn die erkrankt sind, behan-deln wir die Tiere .Wie sagte eine von den Grünen vorhin so schön: Hö-ren Sie doch auf diejenigen, die Fachverstand haben unddas beurteilen können! – Ich bin eine davon .
Allerdings ist es auch richtig, dass sich die Tierärz-te bei der täglichen Arbeit viel zu oft im Spannungsfeldzwischen den Vorgaben der Landwirtschaft und den An-sprüchen der Gesellschaft an die Tierhaltung befinden.Wie sieht es zum Beispiel mit der vielbeschworenenTherapiefreiheit des Tierarztes – in der Realität, nicht aufdem Papier – aus? Wenn der Tierarzt im Stall tätig wird,dann wird er am Ende vom Landwirt bezahlt . Und werbezahlt, bestimmt . Und wer bestimmt, bestimmt auchdarüber, ob die immer wiederkehrenden Gesundheits-probleme im Stall nachhaltig gelöst oder durch immerwiederkehrende Medikamentenverabreichung kaschiertwerden .Was kann Politik tun, und wie können wir helfen? Ichsage es Ihnen: Die Rolle des Tierarztes muss gestärktwerden .
Gitta Connemann
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Die tierärztliche Funktion für die Gesellschaft kann derTierarzt nur aus einer starken Position heraus wahrneh-men .
Dafür werden wir einen einheitlichen Rechtsrahmenschaffen, und dieser Antrag ist ein erster Schritt in dieseRichtung .
Ich will an dieser Stelle auch nicht verheimlichen,dass es ein steiniger Weg mit den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion aus dem Agrarausschuss war . Mit denKollegen der CDU/CSU-Fraktion aus dem Gesundheits-ausschuss war die Zusammenarbeit deutlich einfacher .Dafür noch mal danke!
Zum Glück für diese Koalition verfügt die SPD-Frak-tion über geballten tiermedizinischen Sachverstand, denWilhelm Priesmeier und ich in den Antrag einfließen las-sen konnten . Deswegen konnten wesentliche Kernanlie-gen der SPD berücksichtigt werden .
– Ja, aber Frau Dr . Flachsbarth ist ja nicht in der SPD .
– Ach so, sorry . Die Frau Dr . Flachsbarth hat aber nichtso viel – –
– Es ist aber so .Karin Binder, ich will dir an zwei Beispielen zeigen,warum dieser Antrag eben doch für mehr Tiergesundheitsorgen wird .
– Nö . Aber ich verfüge über tierärztlichen Sachverstand,Sie nicht .
– Doch, das hat damit sehr viel zu tun .Erstens . Wir stehen für die Abschaffung ökonomi-scher Fehlanreize bei Tierarzneimitteln . Ganz besonderswollen wir die Rabatte, die die Pharmaunternehmenbeim Verkauf von Antibiotika gewähren, abschaffen .Denn von dieser Rabattgewährung profitieren in ersterLinie die Pharmaunternehmen, weil dadurch ihr Umsatzsteigt. Die Tierärzte profitieren nicht davon; das wirdzwar immer unterstellt, aber dem ist nicht so . Denn dieTierärzte waren und sind verpflichtet, diese Rabatte andie Landwirte weiterzugeben .Antibiotika zum Dumpingpreis schaffen falsche An-reize für die Landwirtinnen und Landwirte; denn dasschnelle Medikament ist günstiger, als die vorbeugendeImpfung oder die erforderlichen Hygienemaßnahmenzu veranlassen, damit die Tiere gar nicht erst erkranken .Und für die Gesellschaft rentiert sich dieses Rabattsys-tem erst recht nicht, weil es dazu führt, dass Antibiotikaunnötigerweise eingesetzt werden müssen . Denn die Tie-re erkranken, weil man vorher keine Prophylaxemaßnah-men ergriffen hat .Das Dispensierrecht darf der Tierarzt ruhig behalten .Dieses Recht der Tierärzte, quasi Arzt und Apotheker ineinem zu sein, ist nämlich nicht das eigentliche Problembei der Entstehung von Antibiotikaresistenzen .Die zweite sehr wichtige Maßnahme, die auch zumehr Tiergesundheit führen wird, ist, dass wir die Rolledes Tierarztes stärken werden, indem wir eine bestands-gebundene tierärztliche Betreuung in der landwirtschaft-lichen Nutztierhaltung auf nationaler Ebene zeitnah ver-bindlich vorgeben werden . Wir warten eben nicht ab, bisuns die EU das vorschreibt, sondern machen das selbst .Damit unterbinden wir das Ausspielen der Tierärzte ge-geneinander und machen die Betreuung von Tierbestän-den klarer und transparenter . Der bestandsbetreuendeTierarzt behält den Überblick über den Gesundheitszu-stand und die Behandlung der Tiere . Wir unterbindendamit auch, dass ein Tierbestand von zwei oder mehrTierärzten behandelt wird, die voneinander nichts wis-sen; das ist zurzeit nämlich möglich .Die Probleme und Missstände in der Nutztierhaltungund die daraus resultierenden zu häufigen Antibioti-kagaben sind unter Tierärzten ein offenes Geheimnis .Nichtsdestotrotz wird diese Tatsache von Ewiggestrigenin der Tierärzteschaft öffentlich gern negiert . Man zeigtmit dem Finger auf die Humanmedizin und propagiertfür den eigenen Berufsstand eine Verflechtung mit derLandwirtschaft, die, zum Nachteil des Verbrauchers, inKumpanei und Klüngelei mündet .Mit unserem Antrag „Antibiotika-Resistenzen ver-mindern“ fördern wir das Vertrauensverhältnis zwischenLandwirten und ihren Tierärzten, indem der Tierarztseine Therapiefreiheit wiedererlangt und seine Rolle imVerbraucherschutz und im Tierschutz ausfüllen kann .Das kommt am Ende den Tieren zugute und der gesam-ten Gesellschaft .Ich danke fürs Zuhören .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Ausspra-che hat Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion dasWort .
Dr. Karin Thissen
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 194 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 30 . September 201619338
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst möchte ich eine Gemeinsamkeit mit allen mei-nen Vorrednern herausstellen . Mein Dank gilt den Ar-beitsgruppen für die gute und lehrreiche Kooperation . Ichschließe in meinen Dank besonders Lothar Riebsamenund Tino Sorge aus unserer Arbeitsgruppe „Gesundheit“,die kräftig mitgearbeitet haben, ein und auch meinen Bü-roleiter Herrn Böckler, der mir sehr viel geholfen hat .Lassen Sie mich auf eine kleine Differenz hinweisen:Ich bin kein Tierarzt, und deswegen kann ich nicht mittiermedizinischer Kompetenz sprechen . Aber ich glaube,es gibt für die Tierheilkunde wie für die Humanheilkundeeinen klaren Grundsatz für den Einsatz von Antibiotika .Er lautet: So oft wie notwendig, aber so selten wie irgendmöglich .
Mit dieser Debatte haben wir die Chance, diese Botschaftnach draußen zu transportieren . Wenn ich mir im Bereichder Medizin eines wünschen dürfte, dann wäre es, dasswir mithilfe dieser Debatte der gesamten Bevölkerungklarmachen: Antibiotika helfen nicht gegen Viren!
Antibiotika helfen gegen Bakterien . Aber Viren und Bak-terien sind etwas Unterschiedliches . Eine Grippe ohneSuperinfektion, also ohne zusätzliche bakterielle Infekti-on, ist eine Viruskrankheit . So gerne man auch mit einemAntibiotikum nach Hause möchte: Wenn der Arzt sagt,das hilft nicht gegen Viren, dann ist das ein Grund, ihmstärker zu vertrauen und nicht etwa zu sagen: Der hilftmir nicht genug .
Viren sind keine Indikation für Antibiotika . Wenn eseine Zusatzinfektion mit Bakterien gibt, dann wird mannatürlich Antibiotika einsetzen . Warum ist das so wich-tig? Das ist so wichtig, weil Antibiotika zu den größ-ten Errungenschaften der Medizin, zu unseren größtenSchätzen überhaupt gehören . Seit der Entdeckung desPenicillins und seit seinem Einsatz als Medikament –1941 erstmals eingesetzt – ist es eines der wirksamstenInstrumente, und das droht uns verloren zu gehen . DasWeltwirtschaftsforum zählt Antibiotikaresistenzen zuden größten Risiken der Weltwirtschaft .Es wird eine Debatte darüber geführt, was uns dieneue Entwicklung kostet . Wir haben in unserem Antragzum Beispiel für den Bereich der Krankenhäuser – Mi-nister Hermann Gröhe hat darauf hingewiesen – dieAntibiotic-Stewardship-Programme in den Mittelpunktgestellt . Man darf sich nun nicht vorstellen, dass dieseAntibiotic-Stewardship-Programme keine Folgen in Be-zug auf den Einsatz hätten . Es gibt ein paar Kernkom-ponenten in diesen Programmen, die für jedes einzelneKrankenhaus maßgeschneidert werden müssen . Kern-komponenten sind zum Beispiel die Etablierung einesmultidisziplinären Teams für Antibiotic Stewardship,die Einrichtung der Funktion eines beauftragten Arztesoder eines infektiologischen Konsiliardienstes, die Fort-bildung des Klinikpersonals, die Durchführung von Sur-veillance-Aktivitäten, spezifische Maßnahmen, zum Bei-spiel die Bereitstellung von lokalen Therapieleitlinien,die Erstellung einer hauseigenen Antiinfektiva-Liste, dieDurchführung einer Verordnungsanalyse .Es reicht nicht alleine, mit Stolz und mit Recht fest-zustellen, dass wir in der Tierheilkunde seit 2011, seit esdie neue gesetzliche Grundlage gibt, einen Rückgang derAntibiotikaverordnungen um 53 Prozent haben und dasswir die Antibiotikaverordnungen in der Humanmedizinabgesenkt haben; beispielsweise sind Antibiotika auf derListe der verordnungsstärksten Arzneimittel von Platzzwei im Jahr 2013 auf Platz fünf im Jahr 2014 abge-rutscht, übrigens auch unter Minderung der Verordnun-gen von Cephalosporinen und Fluorchinolonen, die alsReserveantibiotika betrachtet werden .Das sind Erfolge; aber sie alleine reichen nicht aus .Man muss sich klar sein, welches Risiko hier besteht . DieEU rechnet heute schon mit Kosten aufgrund von Anti-biotikaresistenzen in der EU in Höhe von 1,5 MilliardenEuro pro Jahr . Die OECD – ich schenke den Zahlen derOECD ja nicht immer Glauben, aber in diesem Fall sindsie sehr beeindruckend, selbst wenn es am Ende 30 Pro-zent Abweichung gäbe – rechnet bis 2050 mit Kosten inHöhe von 2,9 Billionen US-Dollar, wenn nicht gegenge-steuert wird, und das nur in den OECD-Staaten . Das sinddie Staaten mit den kleineren Problemen . Überall sonstin der Welt – in Staaten, in denen es zum Teil einen völ-lig freien Zugang zu Antibiotika gibt und dafür gar keineRezepte ausgestellt werden, weil man einfach in einenLaden gehen und sich Antibiotika kaufen kann – sind dieProbleme noch größer .Insofern glaube ich: Ja, man braucht in der Tat auchzusätzliches Personal . Und ja, ich glaube, dass die hoheArbeitsdichte das größte Risiko im Hinblick auf noso-komiale Infektionen im Krankenhaus darstellt . Aber ge-messen an den Kosten von 2,9 Billionen US-Dollar, diedort drohen, ist doch jeder Euro, den wir da reinstecken,gut investiertes Geld . Ich glaube, das ist in der Debatte,in der Diskussion ein ganz wichtiger Punkt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ger-ne damit schließen, dass ich noch einmal sage, welchePunkte von ganz besonders hoher Bedeutung sind: Wirmüssen die Wirksamkeit der vorhandenen Antibiotika er-halten . Wir müssen Infektionen durch Prävention, durchEinhaltung allgemeiner Hygienestandards, auch durchSteigerung der Impfquoten entgegentreten . Wir müssengrundsätzlich für das Thema der Resistenzen sensibili-sieren . Wir brauchen bessere Informationen für die Ärzteund Tierärzte, aber vor allem auch für die Bevölkerungund die Patienten darüber, was es mit Antibiotika, ihremEinsatz in der Therapie und ihrer Wirksamkeit auf sich
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hat . Wir brauchen auch eine bessere Ausgestaltung desöffentlichen Gesundheitsdienstes,
der helfen kann und vor Ort handlungsfähig sein muss; erbraucht auch von den Landesregierungen Unterstützung,damit er weiß, was er in konkreten Situationen tun soll .Und wir brauchen ein besseres betriebliches Gesund-heits- und Hygienemanagement . Ich sage jetzt mal alsArzt: Auch in der Nutztierhaltung brauchen wir das; wirbrauchen den Einsatz schneller diagnostischer Tests mithoher Spezifität und Sensitivität.
Ich schließe damit, dass ich sage: Ja, Antibiotikaein-satz ist gut, aber nur, wenn er so oft wie notwendig undso selten wie möglich passiert .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-
mit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9789 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Wirksamkeit von Antibiotika
erhalten – Einsatz in der Tierhaltung auf vernünftiges
Maß reduzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4704, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 18/3152 abzulehnen . Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Op-
position angenommen worden .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Missstände und Stillstand beim Tierschutz be-
enden – Gesellschaftlichen Konsens umsetzen
Drucksache 18/9798
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin hat
Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieserWoche diskutieren wir jetzt zum wiederholten Male überdas Thema Tierschutz . Lassen Sie mich zu den scheuß-lichen Bildern aus den Ställen hochrangiger Agrar-lobbyisten und -funktionäre, die wir in den vergangenenTagen im Fernsehen sehen mussten, nur eines sagen:Ich finde es ganz erstaunlich, dass die Union nicht dieseTierschutzverstöße für den Skandal hält, sondern dass diePresse darüber berichtet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schlechte Nachrichtenwerden nicht dadurch besser, dass man den Überbringerverdrischt . Es müsste jetzt darum gehen, politische Kon-sequenzen zu ziehen, aus der Wagenburg herauszukom-men und mehr Tierschutz in diesem Land durchzusetzen .
Wenn es stimmt, was Herr Priesmeier gesagt hat, nämlichdass Sie noch nicht am Ende sind, dann müssen Sie jetztdie Konsequenz ziehen . Dann müssen Sie 91 Prozent derDeutschen folgen und klare und bessere Regeln für mehrTierschutz in diesem Land durchsetzen .Es ist ja nicht so, dass es keinen parteiübergreifendenKonsens dazu gibt . Die Bundesländer, der Bundesrat,die VSMK und die Agrarministerkonferenz haben inden verschiedenen Farbzusammensetzungen, die sichdort finden, eine ganze Reihe von Tierschutzinitiativenim Konsens beschlossen: Vom schwarz-grünen Hessenbis zum rot-roten Brandenburg fordert man ein Verbotvon Wildtieren im Zirkus; man fordert, dass Nerze nichtmehr in Pelztierfarmen gequält werden; man fordert,dass es endlich wirksam verboten wird, trächtige Tierezu schlachten; man fordert ein Verbot der ganzjährigenAnbindehaltung von Kühen . Gitta Connemann hat ge-sagt, sie sei in einem wunderbaren bayerischen Kuhstallgewesen . Wenn es für die Milchkühe überall wunderbarsein soll, dann nehmen Sie diese Tiere doch in die Tier-schutz-Nutztierhaltungsverordnung auf . Lange Rede,kurzer Sinn: Die Bundesländer haben Ihnen den Ball vordas Tor gelegt, Sie müssen ihn nur noch reinmachen . Ichfinde, hier ist der Minister in der Verantwortung.
Schon 2011 hat der Bundesrat in all seiner Vielfaltgefordert, die Tierheime zu entlasten und die unsäglicherechtliche Unterscheidung zwischen herrenlosen Tierenund Fundtieren, die dazu führt, dass die Tierheime in denKommunen chronisch unterfinanziert sind, endlich auf-zuheben . Das können nicht die Kommunen machen, daskönnen auch nicht die Länder machen; hier ist der Bundgefordert. Deshalb finde ich, dass der Minister nicht nureinen runden Tisch zum Thema Tierheime veranstaltensollte, sondern er sollte auch das Recht so ausgestalten,Rudolf Henke
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dass die Tierheime das bekommen, was sie wirklichbrauchen .
Frau Kollegin Maisch, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Röring zu?
Ja .
Frau Maisch, Sie haben die Rolle der Presse in Be-
zug auf den Tierschutz angesprochen . Meine Frage lau-
tet: Wie beurteilen Sie die Rolle der Presse, die sich in
diesem Fall mehrmals auf Bilder und Berichte von Men-
schen, die in Ställe eingebrochen sind, gestützt hat? Die
Presse hat die Fotos, die nächtlich illegal in den Ställen
gemacht wurden, in die Öffentlichkeit getragen . Wie be-
urteilen Sie die Rolle der Presse und des öffentlich-recht-
lichen Fernsehens? Man stützt sich auf Menschen, die
Eigentum verletzen,
in Ställe einbrechen, Türen aufbrechen und ganze Fami-
lien in Gefahr bringen, sodass einige ihr Eigentum nachts
nicht mehr betreten wollen, weil sie schlicht Angst ha-
ben . Ist das Ihr Verständnis von Presse?
Mein Verständnis von Presse: Erst einmal ist es eine
freie Presse . Auch wenn Bilder in die Öffentlichkeit
kommen, die Ihnen und der Union nicht gefallen: Es
muss darüber berichtet werden .
Wenn es zu Hausfriedensbruch gekommen ist, dann wer-
den die Gerichte darüber entscheiden . Das ist die Aufga-
be der Gerichte in diesem Land .
Herr Stier hat am Mittwoch ausgiebig Gerichts bashing
betrieben .
Ich finde, wir müssen die Gewaltenteilung beachten. Da
ist es ganz klar: Die Presse berichtet, und Gerichte ent-
scheiden darüber, ob es zu Rechtsübertretungen gekom-
men ist .
Meine Damen und Herren, die Legislaturperiode neigt
sich ja jetzt dem Ende zu . Ich weiß, dass man von großen
Koalitionen oft keine großen Lösungen erwarten kann .
Aber das, was ich Ihnen vorgetragen habe, liegt so klar
auf der Hand – dass man keine trächtigen Tiere schlach-
tet, dass man Nerze nicht in Farmen quält, dass man
etwas für die Tierheime tun muss, die von herrenlosen
Katzen und Hunden überquellen –, dass Sie zumindest
diese kleinen Punkte, auf die sich der Bundesrat schon
lange geeinigt hat, in die Tat umsetzen müssen . Einiges
davon hat der Minister auch schon in der Öffentlichkeit
versprochen; er hat es an die Medien gespielt . Da müssen
Sie jetzt aufhören, ihn auszubremsen, und Sie müssen
endlich für verlässlich mehr Tierschutz in diesem Land
sorgen .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dieter Stier
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der Besu-
chertribüne! Wir beraten heute über einen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Miss-
stände und Stillstand beim Tierschutz beenden – Gesell-
schaftlichen Konsens umsetzen“ .
Mit Verlaub, liebe Frau Maisch, er gehört auch wieder
zu den Anträgen jener Art, die wir hier im Plenum schon
oft erleben durften, ohne dass er eine breite und über-
zeugte Anhängerschaft gefunden hätte .
Auf die Frage: „Was steht denn drin?“ reicht eine kurze
Antwort:
Es sind stetig wiederkehrende, alte Forderungen aus den
zurückliegenden Legislaturperioden, diesmal in einer an-
deren Reihenfolge zusammengeschrieben, viele Verbote,
Kritik an der Regierungskoalition – das steht der Opposi-
tion zu –, und dies alles, so meine ich, losgelöst von den
Erfolgen unserer aktuellen Tierwohlpolitik .
Herr Kollege Stier, lassen Sie eine Zwischenfrage derKollegin Maisch zu?Nicole Maisch
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Aber selbstverständlich . – Ich habe ja noch gar nicht
alles gesagt, was ich sagen wollte, aber wenn Frau Maisch
jetzt schon Fragen hat, will ich sie gerne beantworten .
Herr Stier, vielen Dank, dass Sie meine Frage zulas-
sen . – Sie sagen: Das sind alles Punkte, bei denen man
keine Einigkeit erreichen kann . – Deshalb möchte ich Sie
fragen, ob Sie dafür sind, dass man Nerze in Pelztierfar-
men hält, und ob Sie dafür sind, dass man Kühe ganzjäh-
rig in der Anbindehaltung hält, und ob Sie dagegen sind,
dass man überprüft, ob es okay ist, Sauen in Kastenstän-
den zu halten, und ob Sie dagegen sind, dass man die
Betäubungsmethoden bei der Schweineschlachtung ver-
bessert, ob das alles Punkte sind, bei denen Sie glauben,
dass wir nicht zusammenkommen .
Liebe Frau Kollegin Maisch, wenn Sie mich noch einwenig länger ausführen lassen, werde ich auf einiges vondem, was Sie gerade konkret gefragt haben, eingehenund Ihnen dazu sicherlich etwas sagen . Ich sage Ihnenjetzt aber auch eines: Wenn Sie nur Fragen beantwortethaben wollen, die mit „Sind Sie dafür?“ oder mit „SindSie dagegen?“ beginnen, dann werden wir beide nie ei-nig . Wir sind für Lösungen; das ist meine Antwort an Sie .
Um es auch klar zu sagen und weiter auszuführen: Essind für mich immer wieder aufgewärmte Forderungenvon gestern, die wir zum Beispiel mit dem Start unsererTierwohlinitiative längst hinter uns gelassen haben .Unser Tierschutzansatz blickt hingegen schon seitlangem nach vorn . Das heißt auch: Praxisnahe Lösungenbestimmen bereits seit langem die Agenda . Zu mehr Tier-wohl kann man selbstverständlich auf unterschiedlichenPfaden gelangen . Fatal ist nur, wenn man aneinander vor-beiläuft . Sie laufen mit der von Ihnen immer wieder her-ausgeholten Verbotskeule in die Vergangenheit; wir hin-gegen, meine Damen und Herren, laufen mit den Bauernund den Landwirtschaftsbetrieben in die Zukunft diesesLandes .
Es wird Sie deshalb auch kaum verwundern: Ich tei-le Ihren im Antrag beschriebenen Dauerpessimismusauch heute wieder nicht; denn mein Blick auf unsereZwischenbilanz ist positiv, und er richtet sich auch nachvorn . Seit Beginn dieser Legislaturperiode arbeiten wirbeständig, überlegt und auch planvoll die Festlegungenaus dem Koalitionsvertrag ab . Das machen wir Stück fürStück; das machen wir völlig unaufgeregt, Frau Maisch,und das machen wir vor allem auch systematisch . So gehtes Ziel für Ziel voran .Ich kann verstehen, dass diese Arbeitsweise nichtjedem gefällt; aber sie ist, so glaube ich, von Vernunftgeprägt . Gesetzentwürfe mit realitätsfernen Inhalten zukonstruieren, nur um den schnellen Applaus von rabiatenAktivisten zu erhaschen, damit ist seriösem Tierschutznicht gedient .
Seriöser Tierschutz, wie ich ihn verstehe, verbindetdas Wohlergehen der Tiere mit praktikablen Lösungenfür die Tierhalter . Den Fortschrittsrahmen bildet die Tier-wohlinitiative von Bundesminister Christian Schmidt .Lieber Herr Minister, wir werden daran auch weiter ge-meinsam arbeiten .Einiges ist erreicht . Ich verweise auf die laufendenHaushaltsberatungen . Beträchtliche Mittel – das dürfteIhnen nicht entgangen sein – sind für die Verbesserungdes Tierwohls von der Koalition für die auch Ihnen be-kannten Maßnahmen auf den Weg gebracht worden . Ichwill die Beispiele noch einmal nennen .Forschungsförderung: Ich erinnere an die Entwick-lung des Verfahrens zur Geschlechterbestimmung im Ei .Ich erinnere an die Unterstützung von Modell- und De-monstrationsvorhaben bei der Erprobung von Maßnah-men zum künftigen Verzicht auf nicht kurative Eingriffe .Ich erinnere Sie auch an die Verbesserung bei der priva-ten Tierhaltung . Eine Studie zur Haltung exotischer Tiereund Wildtiere in Privathand ist in Auftrag . Wir haben am7 . Juli – zu nächtlicher Stunde und ohne Debatte – einenAntrag zum Wildtierschutz im Plenum verabschiedet . Icherinnere an den Aufbau des Deutschen Zentrums zumSchutz von Versuchstieren beim Bundesinstitut für Risi-kobewertung . Über die Fortschritte bei der Reduzierungdes Antibiotikaverbrauchs haben wir gerade diskutiert .Bitte nehmen Sie das doch einfach einmal zur Kenntnis .Weitere gesteckte Ziele werden in Angriff genom-men . Wir sind zum Beispiel im Gespräch, wie wir beiQualzuchten Verbesserungen erreichen können . Doch dieNotwendigkeit von Regelungsbedarf bedeutet nicht im-mer automatisch, Verbote auszusprechen oder Gesetzes-änderungen vorzunehmen . Ich sehe bei der Verbesserungdes Vollzugs weiterhin große Möglichkeiten . Hier kön-nen sich auch die Bundesländer nicht entziehen . Bei die-sem Thema ist auch einiges über Verordnungen möglich .Hier muss die geeignetste Lösung ausgelotet werden;denn eine kurzsichtige Politik können wir uns heutzutagenicht mehr leisten .Manchmal – da stimme ich Ihnen allerdings zu – wer-den wir auch mit Ordnungsrecht agieren . Das ist immerdann der Fall, wenn gewichtige Gründe dafür sprechen .Ich denke hier an eine viel diskutierte Problematik, näm-lich die Schlachtung trächtiger Rinder . Für mich stehtfest, dass wir das weitestgehend unterbinden wollen .Auch hier arbeiten wir an einer Lösung .
Wir blicken beim Tierschutz auch über unsere Lan-desgrenzen hinaus. Ende Oktober findet die Jahrestagungder Internationalen Walfangkommission statt . Hier mussnicht nur der Erhalt, sondern auch eine Stärkung desMoratoriums erreicht werden . Auch hier werden wir unseinmischen und mit einem Antrag klarmachen, dass dasTöten von Walen vollkommen inakzeptabel ist .
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Im Tierschutz setzen wir auf Geradlinigkeit .
Wir verbreiten keine falschen Illusionen . Das unterschei-det uns von der Opposition . Ja, wir machen eine Tier-schutzpolitik, die den Tierhalter in diesem Land nichtaußen vor lässt .Einige Ihrer Forderungen lehnen wir aber auch wei-terhin grundsätzlich ab . Ich denke da zum Beispiel andie von Ihnen abermals geforderte Ausdehnung vonVerbandsklagerechten . Ich meine, sie sind für mehr Tier-wohl nicht zielführend . Schon die bestehenden behindernnachhaltig eine positive Entwicklung .
Jeder Stallneubau bedeutet mehr Tierwohl . Gerade des-halb ist er zügig zu genehmigen und nicht durch weitereMöglichkeiten des Ausbremsens durch Nichtbetroffenezu erschweren .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, in Ihrem Autorenpapier „Pakt für faire Tierhal-tung“ haben Sie selbst eingeräumt, dass mehr Tierwohlnicht mit der Brechstange zu erreichen ist . Was hier heutevorliegt, ist das Gegenteil dieser Erkenntnis . Wenn ichlese, dass Sie – das hat jetzt mit diesem Thema nichts zutun – nun auch das Verbot von Verbrennungsmotoren for-dern, dann kann ich nur feststellen: Sie haben aus IhremVorschlag zum Veggieday nichts gelernt . Sie bleiben dieVerbotspartei . Wir hingegen verbessern das Tierwohl mitden Betroffenen . Ich kann Sie nur herzlich bitten, uns da-bei zu unterstützen . Ich wünsche Ihnen schon heute einenbesinnlichen Tag der Deutschen Einheit, an dem Sie indieser Republik einmal dankbar sein sollten .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Birgit Menz
von der Fraktion Die Linke das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Als ich letzten Freitag las, dassheute der Tagesordnungspunkt Tierschutz aufgesetzt ist,hatte ich kurz die Illusion, dass dieser Punkt von der Ko-alition kommt, damit sie in dieser Legislaturperiode dochnoch etwas für den Tierschutz tun kann . Dem ist leidernicht so . Und doch hoffe und wünsche ich, dass der An-trag, der heute eingebracht wurde, nach den Beratungenin den Ausschüssen nicht nur von der Opposition verab-schiedet wird .Auch wenn der Tierschutz seit 2002 als Staatsziel imGrundgesetz verankert ist, sieht es in Deutschland dies-bezüglich schlecht aus . Selbst die Ziele, die sich die Gro-ße Koalition in den Koalitionsvertrag geschrieben hat,wurden kaum angegangen, geschweige denn umgesetzt .Ich zitiere:Wir verbessern den Wildtierschutz und gehen gegenWilderei sowie den illegalen Wildtierhandel und de-ren Produkte vor; Handel mit und private Haltungvon exotischen und Wildtieren wird bundeseinheit-lich geregelt . Importe von Wildfängen in die EUsollen grundsätzlich verboten und gewerbliche Tier-börsen für exotische Tiere untersagt werden .Die derzeitige Tierschutzpolitik vernachlässigt denTierschutz und ist vielmehr am wirtschaftlichen Mehr-wert der Tiere interessiert . Deutlich wird dies nicht nurin der Landwirtschaft – darüber haben wir am Mittwochgesprochen –, sondern auch im Heimtierbereich . Auf ge-werblichen Tierbörsen floriert das Geschäft insbesonderemit exotischen Tierarten . In Deutschland werden jährlichunzählige Tiere auf diesen Börsen angeboten . Oftmalswerden sie in engen Behältern zur Schau gestellt undsind unterschiedlichsten Stressfaktoren ausgesetzt .Heutzutage gilt es als angesagt, im Privaten exoti-sche Tiere zu halten . Viele Tierhalterinnen und Tierhalterunterschätzen jedoch die privat schwer zu erfüllenden,extrem hohen Ansprüche an die Haltung der Tiere undsind aufgrund fehlender Fachkunde folglich überfordert .Bei vielen auf Tierbörsen angebotenen Exoten handelt essich zumeist nicht um Zuchttiere, sondern um sogenann-te Wildfänge . Somit bedroht der Fang von Wildtieren fürden Heimtiermarkt auch das Überleben von Wildbestän-den in den Herkunftsländern, und ferner geht das einhermit hoher Sterblichkeit bei Fang, Transport und in Ge-fangenschaft . Wir fordern daher schon lange ein Verbotdes Handels mit Wildfängen und die Einführung einerPositivliste für Arten, die in Privathaushalten tiergerechtgehalten werden können .
Auch die Haltung von Wildtieren in Zirkussen undvon exotischen Tieren in Privathaushalten muss strengerreguliert bzw . verboten werden; denn in beiden Fällenkönnen artgerechte Haltungsbedingungen kaum geschaf-fen werden . Weder Transportwaggons noch Wohnzim-mer sind Freilaufgehege . Gleiches gilt für die Haltungvon Tieren zur Produktion von zum Beispiel Pelzen . Esdarf nicht sein, dass Tiere allein zur Herstellung von Lu-xusgütern gehalten und getötet werden .
Die Linke fordert ebenso die Einführung des Ver-bandsklagerechts für anerkannte Tierschutzvereine aufBundesebene . Tiere sollen besser vor Gesetzesverstößengeschützt werden . Wenn sich Behörden und Betriebeüber das Tierschutzrecht hinwegsetzen, müssen aner-kannte Tierschutzverbände die Möglichkeit haben, stell-vertretend für die Tiere zu reden und zu klagen .Eine der Folgen des bisher unzureichenden staatlichenTierschutzes ist die Ursache dafür, dass die Tierheime,die einen großen Teil der gesellschaftlichen Aufgabenfür den Tierschutz erfüllen, in eine sehr schwierige LageDieter Stier
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geraten sind . Immer mehr Tiere und Tierarten werden ab-gegeben, und auch die Verweildauer steigt . Es wird engin den Tierheimen, und die Kosten für Futter und veteri-närmedizinische Leistungen steigen . Für exotische Tieremüssen extra Auffangstationen eingerichtet werden . Wirsehen hier Bund, Länder und Kommunen gemeinsam inder Pflicht, Finanzmittel für notwendige Investitionenbereitzustellen, Wege zu ebnen, damit die außerordent-lich wichtige Arbeit der Tierheime ausreichend gewür-digt und eine gute Versorgung der Tiere auch zukünftiggewährleistet werden kann, zum Beispiel durch die Auf-hebung der Unterscheidung zwischen Fundtieren undherrenlosen Tieren; denn nur so können die laufendenKosten in Zukunft gedeckt werden .Ein wirksamer Tierschutz kann nur gelingen, wenndie Bedürfnisse der Tiere in jedem Fall höher bewertetwerden als ihr wirtschaftlicher Nutzen . Tiere sind undbleiben Lebewesen und keine Sachen .Danke .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Christina
Jantz-Herrmann für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Mehr sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es ge-radeheraus, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen: In vielen Punkten kann ich Ihren An-trag deutlich unterstützen . In ihm wird ausführlich ausunserem Koalitionsvertrag zitiert, und in vielen Punktenwurden darin SPD-Positionen niedergeschrieben . DerAntrag enthält ein buntes Potpourri von Forderungen zuverschiedenen Tierschutzthemen . Genau das ist leiderauch sein Manko, weil der Antrag den Eindruck vermit-telt, dass man mit ihm die ganze Welt retten könnte .Unser Koalitionspartner hingegen meint, dass wirschon die besten Tierschutzregeln der Welt haben, und ersieht auch keinen weiteren Gestaltungsanspruch . In derRegierungskoalition – das ist sicherlich kein Geheim-nis – ist die SPD die treibende Kraft in Sachen Tierschutz .
Immer wieder aufs Neue leisten wir – auch gerne – Über-zeugungsarbeit . Teilweise ist das natürlich ein mühseli-ger Prozess, wie Sie mir glauben können .So stemmen wir uns gerade aktuell gegen die Aufhe-bung des Verbotes, Fett an Wiederkäuer zu verfüttern .Tiere, die selbst niemals tierische Fette essen würden,sollen mit tierischen Fetten gefüttert werden, nur damitsie schneller und besser gemästet werden können . Ichfinde das nicht nur unethisch, sondern gar widerwärtig.
Auch ziehen – das klang in dieser Woche leider auchschon an – Minister Schmidt und seine Fraktionskolle-gen nicht immer an einem Strang . Wenn der Minister dieInitiative ergreift, lässt ihn seine eigene Fraktion leidermanchmal hängen . Genau das – dieses Beispiel klangheute auch schon an – ist bei den Pelztieren und auchbeim Verbot des Tötens trächtiger Tiere der Fall .Einige Stellen des Koalitionsvertrages zum Tierschutzwerden sicher nur behäbig im Ministerium umgesetzt .Lassen Sie mich hier ein Beispiel nennen: Wir haben imKoalitionsvertrag niedergeschrieben, dass wir die Sach-kunde fördern möchten . Der Minister hat Anfang desJahres angekündigt, dass sein Ministerium genau das,einen Sachkundenachweis, prüfe . Bisher liegt uns leidernoch kein Ergebnis vor .Von Stillstand beim Tierschutz zu sprechen, ist trotz-dem deplatziert: Der runde Tisch zur Lage der Tierheimehat in dieser Woche erstmals getagt . Damit ist es demMinister gelungen, das erste Mal seit Jahren wieder alleEbenen an einen Tisch zu holen: Bund, Länder und Kom-munen . Ihnen allen obliegt die Aufgabe, die Lage derTierheime zu verbessern. Aktuell befindet sich die Prüf-und Zulassungsverordnung für Tierhaltungssysteme imVerfahren .Zudem prangern Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen der Grünen, im Antrag an – auch Frau Menz hat dasvorhin gesagt –, dass beim Wildtierschutz nichts getanwurde . Auch das ist falsch; denn wir haben vor der Som-merpause einen umfassenden Antrag zum Wildtierschutzverabschiedet . Sicherlich mussten hier Abstriche ge-macht werden, aber Sie wissen: Kompromisse gehörenzum Leben, und Kompromisse gehören auch zum Regie-ren .
Am Beispiel der Wildtiere lässt sich übrigens eingrundsätzliches Problem der Tierschutzpolitik aufzeigen:Bei den Beratungen mussten wir zur Kenntnis nehmen,dass sich gerade das von Ihnen angesprochene Verbotder gewerblichen Tierbörsen, Frau Menz, voraussicht-lich nicht verfassungsgemäß umsetzen ließe . Von daherhaben wir in unserem Antrag auch einen Prüfauftrag andie Bundesregierung formuliert, der genau dieses Verbotzum Ziel haben soll .Leider ignorieren Sie, die Grünen, genau diese verfas-sungsrechtlichen Bedenken auch in Ihrem aktuellen An-trag . Glauben Sie mir: Ich wäre natürlich sofort für einsolches Verbot, aber es muss vor Gericht Bestand haben .In dem Wildtier-Antrag wurde ein weiteres wichtigesThema ausgeklammert, nämlich das Verbot von Wildtie-ren im Zirkus . In unserer Fraktion ist die Haltung klar .Hier blockiert leider immer noch die Union, obwohl je-dem, der mit Herz und Verstand bei der Sache ist, eigent-lich klar sein müsste, dass Wildtiere nicht artgerecht ineinem Zirkus gehalten werden können .Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die un-terschiedlichen Positionen im Tierschutz auf den Punktbringen:Birgit Menz
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Wir erleben auf der einen Seite eine schwarze Ideolo-gie, die eher blockiert und sich damit auch Verbesserun-gen in den Weg stellt, und wir erleben auf der anderenSeite eine grüne Ideologie, die häufig leider über das Zielhinausschießt .
Das sind zwei Haltungen, die sich absolut konträr ge-genüberstehen und der Situation in Deutschland nichtgerecht werden .Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, versuchen Sie doch einmal, auf die konventio-nelle Landwirtschaft zuzugehen und sie mitzunehmen,anstatt ihr immer nur frontal zu begegnen, und liebe Kol-leginnen und Kollegen von der Union, stellen Sie sichdoch bitte endlich den Herausforderungen, und öffnenSie sich für eine zukunftsfähige Landwirtschaft .Die SPD steht für eine Tierschutzpolitik mit demWillen zur Verbesserung, aber auch für eine Politik mitAugenmaß . Wir stehen für Transparenz, und deswegenist uns auch ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabelwichtig . Es wäre ein Instrument für die Landwirte, derenTiere gut gehalten werden, um diese guten Haltungsbe-dingungen zu dokumentieren . Es wäre das Instrumentfür die Verbraucher, die auf dieser Grundlage ihre Kauf-entscheidung verlässlich treffen können, sodass sie sichnicht nur am Preis orientieren .
Genau dieses Label hat Minister Schmidt nun endlichangekündigt . Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir begrüßendas ausdrücklich . Aber erlauben Sie mir an dieser Stelleeine kleine Spitze: Wir wollen die Hoffnung nicht aufge-ben, dass dieser Ankündigung auch Taten folgen .
Viele Debatten in der Vergangenheit haben gezeigt,dass wir zudem eine Novellierung des Tierschutzgesetzesbenötigen . Auch hier hoffe ich weiter auf den Erkenntnis-gewinn und den Mut meiner Unionskollegen und seitensdes Ministers .Einen Punkt möchte ich in diesem Zusammenhangnennen: die Qualzucht . Meine Damen und Herren, Siealle kennen sicherlich die kleinen Hunde, die Möpse, de-ren Nasen entweder so weit zurückgezüchtet sind, dasssie kaum noch Luft bekommen, oder deren Augen schonaus den Augenhöhlen hervortreten . Das ist ein Punkt, andem wir dringend etwas tun müssen . Hier bin ich eini-germaßen optimistisch, dass wir gemeinsam auch mit un-serem Koalitionspartner einen guten Schritt weiterkom-men . Liebe Unionskollegen, bitte enttäuschen Sie michan dieser Stelle nicht .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Waldemar
Westermayer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute aufAntrag der Grünen den Tierschutz in Deutschland . Dasist – so weit sind wir uns wohl alle einig – ein wichtigesThema . Keiner will leidende Tiere in Deutschland und inEuropa. Ich bezweifle allerdings, ob Ihr Antrag tatsäch-lich einen Beitrag dazu leistet, das Tierwohl und die Tier-gesundheit in Deutschland zu verbessern .Sie fordern zum Beispiel ein Verbandsklagerecht fürTierschutzorganisationen . Davon geht es leider keinemeinzigen Tier besser .
Dadurch wird nur mehr Bürokratie geschaffen . DieLandratsämter haben bereits alle Hebel in der Hand, umFehlentwicklungen im Tierschutz zu verhindern .Als Landwirtschaftsmeister habe ich in der Ausbil-dung Sachkunde erlernt . Ich habe 40 Jahre selbst Rinderim Allgäu gehalten . Ich weiß also, wovon ich rede . Fürmich war dabei immer wichtig, dass es den Tieren gutgeht und dass sie gesund sind . Meiner Erfahrung nachhängt der nachhaltige Erfolg eines Betriebs nämlich ent-scheidend davon ab, dass das Wohl des Tieres gewähr-leistet ist .
Das Thema Tierwohl ist dabei hochkomplex . Deswe-gen bin ich dagegen, die Anbindehaltung bei Rindernpauschal zu verteufeln . Anbindehaltung mit Weide und/oder Laufhof kann eine gute Alternative zu Laufställensein . Bei mir im Stall hatte jedes Rind seinen Platz oderwar auf der Weide .
– Ich habe das schon gelesen . – Das gefährdet aus mei-ner Sicht nicht das Tierwohl . Vielmehr sind die Rinderfroh, ihren eigenen Bereich zu haben und vor dominantenTieren geschützt zu sein . Sie müssen auch nicht enthorntwerden: Alle meine Tiere haben noch ihre Hörner .
Beim Thema Kennzeichnung hingegen bin auch ichder Auffassung, dass sie durchaus Sinn machen kann .Mit den QS- und QM-Standards haben wir bereits guteErfahrungen gemacht . Klar ist dann aber auch, dass dieKennzeichnungspflicht nicht nur Produkte aus Deutsch-land erfassen darf, sondern auch importierte Fleisch- undMilchprodukte erfassen muss . Ich denke darüber hinaus,dass wir langfristig ein Umdenken in der Tierzucht sehenmüssen: weg von kurzfristigen Leistungssteigerungen inder Zucht, hin zu einer konstanten und insgesamt länge-ren Lebensleistung der Tiere .
Sie beklagen schließlich einen angeblichen Stillstandim Bereich Tierschutz . Das ist schlichtweg falsch . DieChristina Jantz-Herrmann
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Cross-Compliance-Regelungen in der GAP werden fort-laufend verschärft . Viele gute und wichtige Projekte sindaußerdem auf den Weg gebracht worden . Es gibt zahlrei-che Forschungsprogramme, welche die Verbesserung desTierwohls und der Tierzucht zum Ziel haben . So wurdenseit 2006 in der Bundesrepublik Deutschland 117 Pro-jekte im Bereich der Nutztierhaltung mit über 80 Millio-nen Euro gefördert, die das Tierwohl und die Tiergesund-heit noch weiter verbessern sollen .Aktuell wird unter anderem die Entwicklung neuerTierwohlindikatoren und neuer Haltungssysteme geför-dert . Neben diesem wichtigen Forschungsansatz wirkenwir auf der Regelungsebene auf Verbesserungen hin .Auf europäischer Ebene setzen wir uns für tierspezifi-sche Richtlinien in Bezug auf die Haltung ein, welcheeinzelne Besonderheiten bestimmter Gattungen bessererfassen können . Außerdem wollen wir das europäischeTierrecht weiterentwickeln, indem wir unter anderem dieTierschutztransportverordnung und die Richtlinie zumTierschutz bei der Schweinehaltung ändern . Dieser ganz-heitliche und auf ganz Europa zentrierte Ansatz ist ausmeiner Sicht das einzig Richtige .Tierschutz darf nicht an der Grenze aufhören . Wirgelangen nur dann zu wirklichen Verbesserungen, wenndiese in der gesamten Europäischen Union Bestand ha-ben . Ansonsten schaffen wir Wettbewerbsnachteile fürdeutsche Betriebe, die letztlich nur zu einer Verlagerungder Nahrungsmittelproduktion ins Ausland führen; icherinnere nur an das Verbot der Käfighaltung. Das kannnicht Ziel einer nachhaltigen Tierschutzpolitik sein .Schließlich müssen die bereits bestehenden Regelndurchgesetzt werden . Beim Vollzug sind nun einmal vorallem die Bundesländer, insbesondere die von den Grü-nen mitregierten, gefordert . Hier darf man es sich nichteinfach machen und die Verantwortung einseitig auf denBund schieben . Das gehört zur Wahrheit dazu .Abschließend möchte ich noch klar sagen, dass es vie-le Betriebe gibt, die trotz massiven Preisdrucks hervorra-gend arbeiten und alle Standards einhalten . Das ist nichteinfach . Wir sollten unseren Bauern und Bäuerinnen des-halb nicht nur zwei Tage vor dem Erntedankfest danken,sondern das ganze Jahr anerkennen, mit welch hochwer-tigen Lebensmitteln sie die Verbraucherinnen und Ver-braucher in der Bundesrepublik Deutschland versorgen .Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! „Den Tieren muss es am Ende derLegislaturperiode besser gehen als heute .“ Das versprach2014 Minister Schmidt . Nichts, aber auch gar nichts au-ßer großen Ankündigungen ist passiert . Wir debattierennicht etwa wegen eines aktionistischen Agrarministers,sondern trotz eines nichts tuenden Agrarministers, derjegliche Verantwortung von sich weist und Verbesserun-gen in der Tierhaltung einzig der Branche überlässt, unddas Ganze immer freiwillig . Unzählige Aufforderungenvonseiten der Wissenschaft, der Opposition, der Agrar-ministerkonferenz und der Gesellschaft stehen auf derTagesordnung, die Lebensbedingungen für Nutztiere inDeutschland endlich zu verbessern . Im Koalitionsvertragwurde versprochen, deutlich höhere Tierschutzstandardsdurchzusetzen . Doch Papier ist bekanntlich geduldig .Das Ministerium und Sie, Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, verweigern jeglichen Fortschritt und zie-hen stattdessen die Mauern der Wagenburg immer höher .
Wir fragen uns wirklich: Wie lange wollen Sie das nochfortsetzen?
Die ganzjährige Anbindehaltung von Rindern, dieHaltung von Sauen in Kastenständen, das Kükenschred-dern, die Missstände in der Putenhaltung, das Schlachtenhochträchtiger Tiere, das Amputieren von Gliedmaßenusw ., die Liste der dringend verbesserungsbedürftigenBereiche ließe sich leider noch sehr lange fortsetzen .Nichts, aber auch gar nichts ist passiert . Noch 2014hielten Sie es, Herr Minister, für nicht sinnvoll, das Ku-pieren von Schweineschwänzen zu verbieten, wenn dieTiere gleichzeitig eng beieinander leben . Da können wirals Grüne Ihnen nur zustimmen . Das geht in der heuteüblichen Haltung in der Tat nicht; da sind wir gleicherMeinung . Aber, Herr Minister, das Kupieren der Schwei-neschwänze muss beendet werden . Das ist die gesell-schaftliche Forderung, die Forderung der Menschen, diekritisch eingestellt sind . Sie von der CDU/CSU könnennicht so weitermachen und 100 Kilogramm schwereSchweine auf einer Vollspaltenfläche von 0,75 Quadrat-meter einsperren . Solange Sie das nicht ändern, werdenimmer wieder Bilder wie in der letzten Woche in Pano-rama zu sehen sein . Das kann Sie doch nicht gleichgültiglassen . Sie führen doch ein C in Ihrem Parteinamen .
Empfindsame, fühlende Lebewesen so leiden zu sehen,nur weil Sie ihnen nicht ein bisschen mehr Platz, ein biss-chen mehr Stroh und ein bisschen mehr Auslauf gönnenwollen – das muss beendet werden .
Wir Grüne müssen Sie leider immer wieder dazuzwingen, hier im Bundestag über Tierschutz zu sprechen .Wir wissen, dass Ihr tierschutzpolitischer Sprecher beiunseren Anträgen Schnappatmung kriegt, weil er immerwieder gezwungen ist, zu bekennen, dass im Tierschutznichts gemacht wird . Und er muss sich so ausdrücken,dass das draußen vielleicht noch irgendeiner versteht .Wir werden Sie – da können Sie gewiss sein – immeran Ihre Ankündigungen und Versprechen erinnern . DasWaldemar Westermayer
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werden wir so lange machen, bis Sie endlich beginnen,Ihre Verantwortung wahrzunehmen, die Bedingungen fürdie Tiere zu verbessern und eine zukunftsfähige nationaleNutztierstrategie für eine artgerechte Tierhaltung vorzu-legen . Das ist die Forderung der Zeit .
Das Wort hat die Kollegin Dr . Karin Thissen für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich schon wieder! Für die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
möchte ich kurz erklären, warum ich den Antrag als
solchen eigentlich ganz gut finde, ihn aber trotzdem ab-
lehnen werde: Um den Bundesminister zu unterstützen,
dass es den Tieren am Ende der Legislaturperiode besser
geht als heute, brauchen wir eine handlungswillige CDU/
CSU-Fraktion, keine grünen Anträge .
Um systemimmanente Probleme zu lösen, brauchen wir
echte Kontrollen und echte Sanktionen von Verstößen
sowie ein Umdenken in der Landwirtschaft und in der
Tierärzteschaft .
Die SPD blockiert keine Gesetzentwürfe; die SPD
steht bereit .
– Ja, dann hören Sie zu! – Wenn wir Missstände und
Stillstand beim Tierschutz beenden wollen, dann ist es
wichtig, dass wir die Einhaltung schon bestehender Ge-
setze kontrollieren und Verstöße dagegen sanktionieren .
Da wäre es zum Beispiel eine sehr gute Möglichkeit,
die Flaschenhalsfunktion Schlachthof zu nutzen . Jedes
landwirtschaftliche Nutztier kommt ja irgendwann zum
Schlachthof . An jedem Schlachthof sind zwei amtliche
Tierärzte: einer an der Schlachtlinie und einer bei der
Anlieferung . Der Tierarzt bei der Anlieferung schaut auf
die Tiere, weil er die Erlaubnis zur Schlachtung erteilen
muss . Nur gesunde Tiere dürfen geschlachtet werden . Er
sieht natürlich, in welchem Zustand die Tiere ankommen .
Aufgrund des Zustandes, den er dokumentiert, kann er
Rückschlüsse ziehen, wie die Tiere gehalten wurden .
Da bestünde eine ganz einfache Möglichkeit, zu doku-
mentieren und das Dokumentierte an die Behörde wei-
terzugeben . Gegebenenfalls könnte dann die Tierhaltung
überprüft und könnten Verstöße sanktioniert werden . Das
würde auch kein Geld kosten; denn man müsste nicht ex-
tra Strukturen schaffen .
Man könnte sich fragen: Warum wird das nicht schon
genutzt? Meine Redezeit würde nicht reichen, das jetzt
zu erklären . Sie können aber auf meine Homepage ge-
hen . Panorama und WISO haben sich schon im April
dieses Themas angenommen und das in Fernsehbeiträ-
gen gebracht . Ich habe das kommentiert und erklärt . Das
kann man da einsehen .
Ich möchte meine Redezeit nutzen, um mich ganz ge-
zielt an die Tierärzteschaft zu wenden; denn kein anderer
Berufsstand ist aufgrund seiner Ausbildung geeigneter,
sich für Tierschutz einzusetzen und ihn umzusetzen . Im-
mer wenn ich mich über Vollzugsdefizite am Schlacht-
hof – die Themen sind in der Tierärzteschaft bekannt; das
ist ein offenes Geheimnis – öffentlich äußere, bekomme
ich hinterher Briefe, E-Mails und Anrufe aus meinem
Berufsstand . Darunter sind viele, die sagen: Prima, end-
lich thematisiert es jemand . Weiter so! Das muss aufhö-
ren . – Je höher aber die Tierärzte in der Hierarchie ste-
hen – Amtsleiter, aber auch solche, die hohe Posten in
Berufsverbänden oder der Tierärztekammer bekleiden –,
desto mehr kritisieren sie die Tatsache, dass ich das the-
matisiere . Sie kritisieren nicht die Missstände . Auch wer-
fen sie mir keine Übertreibung vor, sondern sie kritisie-
ren, dass ich es thematisiere . Den Gipfel stellt dann dar,
dass diejenigen, die mit mir noch nicht einmal eine Dis-
kussion führen wollen, mich in öffentlichen Kammerver-
sammlungen diskreditieren und diffamieren . All diesen
honorigen Herren möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich
lasse mir den Mund nicht verbieten .
Ich danke Ihnen fürs Zuhören .
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion .
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Er-lauben Sie mir, dass ich zu Beginn der Debatte auch dieMenschen grüße, die für den Tierschutz mitverantwort-lich sind, alle Tierhalter in unserem Land, die mit ihrertäglichen Arbeit dafür sorgen, dass es den Tieren in un-serem Land sehr gut geht . Diese Menschen sollen heutegegrüßt sein .
Frau Kollegin Menz, wenn Sie mir kurz Ihre Auf-merksamkeit schenken: Es ist in meinem politischenUmfeld nicht üblich, dass man Sie lobt; aber ich bin Ih-nen dankbar für Ihre Ausführungen über die Haltung vonHeimtieren, die Haltung von Tieren, die nicht in unsereBreitengrade gehören . Darauf sollten wir etwas mehr denFokus legen . Viele Tiere in unserem Land werden vonMenschen gehalten, die nicht die Sachkunde haben wieFriedrich Ostendorff
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zum Beispiel eine Bäuerin oder ein Bauer . Darauf müs-sen wir in Zukunft besser achten .
In den letzten Tagen ist sehr viel über Tierschutz ge-redet worden, auch in den Medien . Was ich da teilweisevermisst habe, waren der nötige Sachverstand und dienötige Fairness gegenüber den Menschen, die mit denTieren arbeiten . Ich denke dabei gerade an unsere Bau-ernfamilien auf dem Land, die wirklich keine einfacheZeit haben . Wir haben hier schon über die Milchpreise,über die Erzeugerpreise diskutiert . Wenn die Bauernfa-milien diese Bilder sehen und die Diskussion in der Öf-fentlichkeit verfolgen, dann machen sie sich Sorgen undfragen sich: Was passiert mit unserem Berufsstand? Wiewird mit unserem Berufsstand umgegangen? Warumwerden wir von einzelnen Parteien instrumentalisiert, dieaus unserer Situation politisches Kapital schlagen?
Die ehrliche Arbeit unserer Bäuerinnen und Bauernverdient höchste Anerkennung und höchsten Respekt .Da geht es nicht nur um das Thema Tierschutz . In meinerHeimat stehen sechs Maishäcksler, Maiserntemaschinenin den Werkstätten, die von Aktivisten – ich muss sagen:von kranken Menschen – durch Metallteile dermaßendemoliert worden sind, dass sie den Fahrer gefährdet ha-ben . Diese Aktivisten haben hohe wirtschaftliche Schä-den verursacht . Meine sehr verehrten Damen und Herren,das sind die Auswüchse von Diskussionen, die wir hier indiesem Hause teilweise sehr emotional führen .
Ich möchte sagen: Wir sollten die Emotionen etwas he-runterfahren und wieder auf eine sachliche Ebene in derDiskussion kommen .
Meine lieben Freunde von den Grünen, ich habe Ih-ren Antrag gelesen und auch Ihr Lieblingsthema, dieAnbindehaltung, zur Kenntnis genommen . KollegeWestermayer hat es schon erklärt: Wenn wir einen Blickauf die deutsche Landwirtschaft werfen, dann stellen wirfest, dass circa 50 Prozent der bayerischen Milchviehhal-ter ihre Tiere noch in Anbindehaltung halten .
Es gibt viele Betriebe im Allgäu und in Oberbayern – ichhabe hier Freunde aus Österreich gesehen, wo das auchgilt –, wo die Tiere auf die Weide gebracht werden kön-nen . Aber wir haben auch Regionen in unserem Land –das ist nicht nur in Franken, sondern auch in Mittel-deutschland so –, wo wir enge Dorflagen haben und alteBetriebsleiter sagen: Ich möchte meine Tiere noch in dennächsten 10 bis 15 Jahre halten; aber verbietet mir bittenicht die Anbindehaltung . Wenn ihr sie verbietet sind,dann muss ich meinen Betrieb zusperren . – Es sind gera-de die kleinbäuerlichen Betriebe, die Sie mit dem Verbotder Anbindehaltung zur Aufgabe zwingen . Das darf dochnicht sein .
Wenn man über Tierschutz redet, dann muss man wis-sen, dass Tierschutz auch etwas mit der Wertschätzungfür unsere Lebensmittel zu tun hat, für die Wertschätzungdessen, was wir täglich essen und trinken . Da haben wireinen Partner, den wir stärker in die Pflicht nehmen müs-sen . Das ist der Lebensmitteleinzelhandel . Ich begrüßees, dass die landwirtschaftliche Branche Initiativen ge-startet hat, um gemeinsam nach besseren Lösungen zusuchen . Ich begrüße, dass es vorangeht . Aber ich möchteauch die deutschen Verbraucher und Verbraucherinnen indie Pflicht nehmen. Wer glaubt, er könne ein Schweine-schnitzel für einen Cent-Betrag im Supermarkt kaufen,der gibt sein Recht auf, über Tierschutz mitreden zu kön-nen . Das muss man ganz klar hier betonen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehenwenige Tage vor dem Erntedankfest . Es ist nicht selbst-verständlich, dass wir in Deutschland mit so guten, her-vorragenden Lebensmitteln versorgt sind . Wir solltendieses Erntedankfest nutzen, dankbar zu sein für die po-litische Arbeit, die hier geleistet wird für unsere Bäuerin-nen und Bauern, dankbar zu sein auch für die Arbeit un-seres Bundesministers, dankbar zu sein für die angeregteDiskussion, die wir hier führen, und besonders dankbarzu sein für die Arbeit unserer Bäuerinnen und Bauern .Sie haben es wirklich verdient .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/9798 an den in der Tagesordnung aufge-führten Ausschuss vorgeschlagen . Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung sobeschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzeszur Änderung des VereinsgesetzesDrucksache 18/9758Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Dr . Ole Schröder .
Artur Auernhammer
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kriminelle Rockergruppierungen sind im Be-
reich der schweren und organisierten Kriminalität tätig .
Die polizeilichen Lagebilder zeigen uns, dass sie Drogen
verkaufen, Bordelle betreiben und Geld waschen . Ein
wirksames Instrument gegen die kriminellen Rocker-
gruppierungen sind Vereinsverbote nach dem Vereinsge-
setz . Der Bundesinnenminister und die Landesinnenmi-
nister haben eine erhebliche Anzahl von Verboten gegen
verschiedene Rockergruppen ausgesprochen . Dieser
Weg soll auch künftig weiter beschritten werden .
Rockergruppierungen treten in der Öffentlichkeit
aggressiv und bedrohlich auf . Ihr Verhalten wirkt au-
ßerordentlich einschüchternd . Das löst bei den Bürgern
zu Recht Ängste und Besorgnisse aus . Es ist dringend
erforderlich, auch gegen die Selbstdarstellung kriminel-
ler Rockergruppen vorzugehen . Nahezu alle kriminellen
Rockergruppen tragen die sogenannten Kutten . Die Wes-
ten mit den speziellen Aufnähern sind Grundlage ihrer
Gruppenidentität .
Mit der Verschärfung des Vereinsgesetzes wollen wir
gegen diese Selbstdarstellung krimineller Rockergruppen
vorgehen . Mit dem Tragen von Kennzeichen verbotener
Vereinigungen zeigt man öffentlich, dass man mit diesen
Gruppen sympathisiert . Das Tragen ihrer Kennzeichen
ist immer auch eine Art Werbung für diese kriminellen
Gruppen . Wir verbieten also auch eine Form der Sympa-
thiewerbung .
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Kennzeichen ver-
botener Vereinigungen von anderen Gruppierungen im
Bundesgebiet nicht mehr genutzt werden dürfen . Glei-
ches gilt für solche Kennzeichen, die mit denen bereits
verbotener Vereine im Zusammenhang stehen . Das ent-
spricht dem Auftrag aus dem Koalitionsvertrag . Mit der
Verschärfung des Kennzeichenverbots ist gleichzeitig
eine Strafschärfung verbunden . Außerdem wird eine
Strafbarkeitslücke geschlossen . Der Bundesgerichtshof
hatte diese mit Blick auf das Verbot, Rockerkutten zu tra-
gen, festgestellt . Um unsere Ziele zu erreichen, werden
wir folgende Änderungen im Vereinsgesetz vornehmen:
Erstens . Das Kennzeichenverbot wird so ausgestaltet,
dass die Polizei anhand objektiver Kriterien feststellen
kann, ob ein Kennzeichen „in im Wesentlichen glei-
cher Form“ verwendet wird . Dazu wird das subjektive
Merkmal des „Teilens der Zielrichtung“ des verbotenen
Vereins gestrichen . Zusätzlich wird erläutert, wann ein
Kennzeichen „in im Wesentlichen gleicher Form“ ver-
wendet wird .
Zweitens . Das Verwenden von Kennzeichen verbote-
ner Vereine wird explizit unter Strafe gestellt .
Die Polizeien in Bund und Ländern können damit
künftig bundesweit einheitlich vorgehen . So wird ins-
besondere die sogenannte Kutte leichter beschlagnahmt
werden können . Außerdem kann eine Freiheitsstrafe von
bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe verhängt werden .
Abschließend möchte ich noch zwei Aspekte betonen:
Es handelt sich hier erstens nicht um eine Lex Rocker .
Das Kennzeichnungsverbot gilt selbstverständlich auch
für alle verbotenen terroristischen und extremistischen
Vereinigungen . Die Bundesregierung ist sich zweitens
bewusst, dass es sich hier nur um eine punktuelle Ände-
rung des Vereinsgesetzes handelt . Wir verschließen uns
damit nicht der Bitte des Bundesrats, das öffentliche Ver-
einsrecht auf weitere Bedürfnisse der Praxis zu prüfen
und gegebenenfalls zügig fortzuentwickeln .
Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derTat stehen manche Motorradklubs heute leider nichtnur für die Freiheit auf zwei Rädern oder für die Easy-Rider-Romantik . Einige bekannte international agie-rende Rockerklubs dienen auch als Deckmantel für dieorganisierte Kriminalität . Ein Teil ihrer Mitglieder sindin Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Zuhälterei, jasogar in Menschenhandel verstrickt . Immer wieder gibtes Tote bei Bandenkämpfen . Deswegen ist die Linke sehrdafür, diesem Teil der Rockerszene den Kampf anzusa-gen .
Doch Verbote von Symbolen oder Kennzeichen greifenoft ins Leere,
weil die kriminellen Rocker sich schnell unter anderemNamen neu formieren und sich einfach die Kutte einesNachbarklubs überstreifen . Notwendig und legitim wärees, gegen einen Rockerklub, wenn er denn als Deckman-tel für schwere Kriminalität dient, mit den Mitteln desStraf- und Vereinsrechts vorzugehen .Die Bundesregierung aber will es sich einfach ma-chen . Sie will selbst dann, wenn nur eine einzelne Orts-gruppe eines Vereins verboten wird, deren Symbolegleich bundesweit für alle Mitglieder unter Strafe stellen .Das ist eine völlig unverhältnismäßige Maßnahme, dienoch dazu mit dem föderalen Prinzip meines Erachtensnicht vereinbar zu sein scheint .
Es geht hier nicht nur um kriminelle Rockergruppie-rungen, wie uns der Gesetzestext fälschlicherweise sug-geriert; denn diese werden nur als ein Beispiel genannt .Man muss sagen, dass eigentlich jedes Mal, wenn wirüber Gesetzesverschärfungen im Bereich der innerenSicherheit diskutieren, eine Gruppierung als Begrün-dung angeführt wird . Wir sind uns hier aber sicherlichalle einig, dass Nazis, Dschihadisten, Kinderpornoringeund natürlich auch kriminelle Rocker bekämpft werdenmüssen . Doch in der Praxis trifft eine Gesetzesverschär-
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fung jedes Mal auch ganz andere Gruppierungen als dieursprünglich zur Rechtfertigung der Verschärfung an-geführten . Nehmen wir einmal an, eine Hooligan- oderUltragruppe wird verboten, weil sie regelmäßig Gewalt-taten verübt . Sollen nun auch andere, friedliche Fan-gruppen von Fußballvereinen in Sippenhaft genommenwerden, nur weil sie die gleichen Logos und Farben wiedie verbotene Ultragruppe verwenden? Auch einige Bei-spiele aus dem politischen Bereich, von links bis rechts,würden mir hier einfallen . Diese Unbestimmtheit desGesetzes eröffnet der Behördenwillkür einmal mehr Türund Tor, und deswegen können wir diesem Gesetz nichtzustimmen .Meine Damen und Herren, seien wir mal realistisch!Kriminelle Rockerbanden werden ihre Straftaten dochnicht deswegen einstellen, weil sie ihre Kutte nicht mehrtragen dürfen . Soweit sie überhaupt eines äußeren Erken-nungszeichens bedürfen, werden sie auf unverfänglicheSymbole ausweichen . Die meisten Verbrecher agierengänzlich ohne verräterische äußere Kennzeichnung, dadiese einer kriminellen Aktivität ja in der Regel eher ab-träglich erscheint .Der Kern des Problems mit den kriminellen Rocker-banden ist ein anderer . Es ist ein offenes Geheimnis, dassmanche der in organisierte Kriminalität verwickelten Ro-ckergruppen gute Kontakte zur Politik, zur Polizei, aberauch zum Justizapparat pflegen. Ich nenne hier nur alsBeispiel Hannover; aus zeitlichen Gründen kann ich dasleider nicht ausführen . Ermittlungen gegen diese Bandenverlaufen also oft im Sande, weil diese zum Beispiel vonder Polizei vor einer Razzia gewarnt worden sind . Ichfinde, diesen Saustall muss man ausmisten. Man mussetwas Vernünftiges tun, damit das nicht mehr passiert .Doch dazu braucht es den nötigen politischen Willen,und den vermissen wir hier .Dieser Gesetzentwurf ist zum einen untauglich, weil ersich auf Symbolpolitik beschränkt . Zum anderen schießter über das Ziel hinaus, weil durch das großzügige Ver-bot von Vereinswappen und Ähnlichem auch viele Un-schuldige betroffen sind . Insofern denken wir, dass wirnoch einmal im Ausschuss darüber beraten sollten . Es istjedenfalls keine effektive Bekämpfung von organisierterKriminalität, wenn man Symbole bekämpft .Danke .
Das Wort hat der Kollege Uli Grötsch für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manchmal merkt man geradezu, dass es mit den objek-tiven Argumenten eng wird, wenn es darum geht, einenAntrag der Regierungskoalition abzulehnen .
Ich will nicht verhehlen, dass uns das manchmal anders-herum genauso geht, liebe Kollegin Ulla Jelpke . Aber beidiesem Gesetzentwurf geht es ja nicht um eine Gruppe,sondern um ein Phänomen, auf das ich im Folgenden ein-gehen will .Es geht hier um die Hells Angels, die Bandidos, dieOutlaws, die Mongols . Bei diesen Rockergruppierungengeht es doch nicht mehr ums Motorradfahren, um Tattoosoder Machotum, sondern um organisierte Kriminalität .Es geht um Drogengeschäfte, um Schutzgelderpressungund um Menschenhandel . Weil die Mitgliedschaft in soeiner Rockergruppe offenbar so lukrativ ist, gründen diebesagten Rockerklubs immer neue Ortsvereine, soge-nannte Chapter oder Charter, die mancherorts wie Pilzeaus dem Boden schießen . Bundesweit gibt es inzwischenmehr als 9 300 solcher Rocker in mehr als 600 örtlichenChaptern . Diesen Kriminellen sagen wir mit diesem Ge-setz den Kampf an, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Auch wenn das auf den ersten Blick etwas ambitio-niert klingen mag: Mit diesem Gesetz werden wir einenwesentlichen Beitrag dazu leisten, diesen Strukturendas Handwerk zu legen . Wir beraten heute in erster Le-sung eine notwendige Anpassung, eine Verschärfung desVereinsgesetzes . Bislang ist es so, dass zwar einzelneOrtsvereine verboten wurden, die Rockerklubs aber dasgenerelle Vereinssymbol mit einer anderen Ortsbezeich-nung weiterverwenden konnten . Letztes Jahr musste derBundesgerichtshof in einem einschlägigen, die Rocker-gruppierung Bandidos betreffenden Fall entscheiden,dass das Tragen einer Kutte mit den von allen Chapternder Bandidos benutzten Kennzeichen, nämlich dem Wort„Bandidos“ und dem sogenannten Fat Mexican, zusam-men mit dem Ortszusatz eines nicht verbotenen Chaptersnach derzeitiger Rechtslage nicht strafbar ist .Wenn wir dieses Gesetz verabschieden, wird es so et-was in Zukunft nicht mehr geben .
Kennzeichen verbotener Vereinigungen können dannnicht mehr von anderen Gruppierungen im Bundesgebietgenutzt werden . Verbotene Chapter können dann nichtim nächsten Ort einen neuen Ortsverein gründen, um dasVereinsverbot zu umgehen . Das könnte im besten Falldas Ende des Mythos um Hells Angels oder Bandidosbedeuten, weil sie dann kein gemeinsames, öffentlichsichtbares, verbindendes Vereinssymbol mehr haben,liebe Kolleginnen und Kollegen . Das vereinfacht auchdie Arbeit der Polizeien, die künftig ganz einfach undobjektiv feststellen können, ob ein Verein ein Kennzei-chen in im Wesentlichen gleicher Form verwendet wieein verbotener Schwesterverein . Damit zeigen wir: Wirlassen uns nicht auf der Nase herumtanzen, wenn es umverbrecherische Parallelstrukturen im Rockermilieu odergar um verfassungsfeindliche Tendenzen geht .
Apropos verfassungsfeindlich: Was mir nicht zuletztSorgen im Zusammenhang mit dem Rockermilieu macht,ist seine Verflechtung mit der rechtsextremen Szene.Nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes und desUlla Jelpke
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Bundesamtes für Verfassungsschutz gibt es zunehmendNeonazis in den Rockerklubs . Über 500 einschlägigbekannte Neonazis gehören zu Rockergruppen wie denHells Angels oder dem Gremium MC, aber auch zu denBandidos und den Outlaws MC. Neonazikonzerte findenin den Klubhäusern der Rocker statt, die dann teilweisenoch von Rockern als Securities bewacht werden .Während es vor einigen Jahren noch hieß, dass keinRockerklub in Gänze als rechtsextrem gelte, weil Ro-ckerklubs ja per Satzung unpolitisch seien, zeigt unsetwa der Fall des inzwischen verbotenen RockerklubsSchwarze Schar MC Wismar aus Mecklenburg-Vorpom-mern das Gegenteil . Hier haben einschlägige Neonazisden Klub gegründet, um ihre kriminellen Machenschaf-ten zu organisieren . Beim Gremium MC sind auch bereitsDurchmischungen mit Nazis bekannt geworden; zumin-dest haben sie Ordnerpersonal für ein Neonazikonzert inThüringen gestellt .Diese Verflechtung – leider ganz speziell in den ost-deutschen Bundesländern, aber natürlich auch anderswoin Deutschland – halte ich für hochgradig besorgniser-regend .Ich komme zum Schluss . Ich bin froh, dass der Bun-desrat uns bei unserem Anliegen, das Vereinsgesetz zuverschärfen, unterstützt, Ich bitte auch die Oppositions-parteien, hier im Sinne der Sache mit uns gemeinsam die-se Erweiterung des Kennzeichenverbots zu tragen .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sie haben es vorhin schon angespro-chen: Wir beraten zwar jetzt das Vereinsgesetz, aberim Kern geht es natürlich um organisierte Kriminalität .Denn wenn kriminelle Organisationen in vereinsrechtli-chen Strukturen aufgehen, dann liegt natürlich im Ver-einsrecht ein möglicher Hebel, um anzusetzen .Rauschgiftkriminalität, Menschenhandel, Schutz-gelderpressung durch sogenannte Rockerbanden sindFormen schwerster Kriminalität, die wir auf jeden Fallernst nehmen müssen . Ihre Verbrechen und ihre Struktu-ren sind in jedem Fall auch der organisierten Kriminali-tät zuzurechnen . Ich glaube, es ist unbestritten, wenn ichsage, dass wir es hier wirklich mit großen Herausforde-rungen für die Polizeien in Bund und Ländern zu tun ha-ben . Wir müssen auch davon ausgehen, dass sich diesesProblem weiter sehr dynamisch entwickeln wird . Des-wegen ist es natürlich richtig, dass sich der Rechtsstaatauf solche Entwicklungen einstellt . Dazu gehört auch dieFrage, wie solche Rockerbanden als Vereine verbotenwerden können .
Deswegen finde ich den Hinweis des Bundesratesrichtig, dass auf jeden Fall geklärt werden muss, welcheBehörde im Einzelfall für ein Vereinsverbot zuständigist . Dasselbe gilt natürlich auch für das Verbot, Kenn-zeichen eines verbotenen Vereins öffentlich zu tragen .Auch darum geht es in dieser Debatte; denn die bisherigeRegelung hat nicht in jedem Fall dazu geführt, dass ver-botene Kennzeichen, wie zum Beispiel die Kutten vonRockerbanden, nicht mehr getragen werden durften .Nur darf man sich natürlich auch nichts vormachen:Auch wenn Rockerbanden oder solche Vereine verbotenwerden und das Tragen solcher Abzeichen künftig um-fassender verboten werden kann, heißt das nicht, dasssolche Banden dann nicht mehr da sind .
Natürlich können wir es nicht hinnehmen, dass Mitglie-der von Rockerbanden oder entsprechender Vereinigun-gen durch ihr Auftreten mit solchen Abzeichen und Sym-bolen, mit ihren Kutten in der Öffentlichkeit Angst undSchrecken verbreiten . Schließlich ist es nicht zuletzt eineLehre aus der deutschen Geschichte, dass wir einschüch-ternde Uniformierungen und Abzeichen ernst nehmenund aufs Schärfste ablehnen .
Wir müssen uns – darauf habe ich vorhin schon hinge-wiesen – auf jeden Fall darüber im Klaren sein, dass dieGefahren, die von solchen Gruppen und ihren Mitglie-dern ausgehen, durch das vorliegende Gesetz leider nichtgeringer werden . Deswegen liegt in einem möglichen Er-folg eines Verbotes solcher Abzeichen vielleicht auch diegrößte Gefahr: nämlich dass wir, weil wir sie nicht mehrsehen können, vergessen, dass sie da sind . Diese Gefahrscheint mir nicht allzu klein zu sein, wenn man bedenkt,wie lange es gedauert hat, bis der Rechtsterrorismus alsdas erkannt wurde, was er ist, und wie groß die Zahl derOpfer ist . Wir alle wissen, wie viel Kraft der Kampf ge-gen die Verdrängung dieser schlimmen Wahrheit brauchtund welche Aufklärungsdefizite und Wissenslückendamit bis heute verbunden sind . Denn viele Menschenglauben, nur weil sie keine Männer mehr mit Glatzenund Springerstiefeln auf den Straßen sehen, dass es kaumnoch Neonazis gibt . Aber das ist ein Trugschluss .
Auch im Bereich der organisierten Kriminalität be-stehen sehr große Wissenslücken . Ich persönlich habeden Eindruck, dass diesem Thema nicht genug Aufmerk-samkeit gewidmet wird bzw . dass wir uns damit nichternsthaft genug auseinandersetzen . Wir müssen meinesErachtens dringend die nötigen Rahmenbedingungenschaffen, damit dieser wichtige Teil der Polizeiarbeit ent-sprechend gestärkt wird .
Kollege Grötsch, Sie haben darauf hingewiesen: Ei-gentlich wissen wir noch viel zu wenig über Interakti-onen zwischen Rockerbanden und der internationalUli Grötsch
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organisierten Kriminalität oder der rechten Szene . Dasist ja auch eine Frage, mit der wir uns im NSU-Untersu-chungsausschuss auseinandersetzen: Welche Bezüge gibtes eigentlich? Das könnte zum Beispiel auch den illega-len Waffenhandel betreffen .Es gibt viele offene Fragen in diesem Bereich, zumBeispiel die Frage: Rüsten Rockerbanden auf? Gibt esVerbindungen in andere Szenen hinein? Wie sind ei-gentlich die internationalen Zusammenhänge? Gibt esÜberschneidungen mit rechtsextremistischen Struktu-ren? Es wäre gut, wenn die Bundesregierung, wenn dasBundesinnenministerium die Öffentlichkeit und uns hierim Parlament über solche Entwicklungen umfassenderinformieren würde, damit wir sehen, welche Handlungs-bedarfe es über Symbolverbote hinaus noch gibt .Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Oswin Veith für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir heute schon über Vereine sprechen, dann willich ein bisschen ausholen und damit beginnen, dass wirDeutsche, und zwar nicht nur bei unseren europäischenNachbarn, durchaus als Vereinsmeier gelten . Rein sta-tistisch gesehen ist jeder Deutsche in mindestens einemVerein, so auch viele von uns, ich auch .Wir wissen, wie es mit der Entstehung der Vereinelosging . In der frühen ersten Hälfte des 19 . Jahrhundertsgab es aufgrund der bürgerlichen Bewegungen die erstenVereinsgründungen .Hier möchte ich einen kleinen eigenen Werbeblockeinschieben . Neun Jahre lang hatte ich die Ehre, Bür-germeister der Hessentagsstadt Butzbach sein zu dür-fen, einer Stadt mit damals 204 Vereinen . Die erste Ver-einsgründung gab es bei uns 1839 . Die Stadt Butzbachist die Stadt von Dr . Friedrich Ludwig Weidig, einem derengsten Weggefährten von Georg Büchner . Zusammenverfassten sie den Hessischen Landboten mit dem Auf-ruf: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Beide sind1837 gestorben, Weidig in der Haftanstalt in Darmstadt .Allein über das Thema Vormärz und die Demokratiebe-strebungen könnte man abendfüllend reden .Über Vereine wie Gesangsvereine, Sportvereine,Turnvereine und Musikvereine reden wir jedoch nicht .Verfassungsrechtlich ist das, worüber wir heute reden, inArtikel 9 unseres Grundgesetzes freilich besonders ge-schützt . Die restlichen Regelungen, was unsere Vereinebetrifft, stehen alle im Bürgerlichen Gesetzbuch .Das Vereinsgesetz, über das wir heute reden, ist dafürgedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, um bestimmteVereine verbieten zu können . Gelten Vereine zwar ge-meinhin als friedliche Freizeitbetätigung, so sind man-che Gruppierungen trotz vorhandener Vereinsstrukturenjedoch als gefährlich einzuordnen; wir haben es geradeausführlich gehört .Wird ein Verein begründbar verboten, gilt dies auchfür die öffentliche Zurschaustellung der Vereinskenn-zeichen . Mitglieder eines Vereins bringen oft und ausÜberzeugung ihre Zugehörigkeit mittels Kennzeichenin Form von bestimmten Vereinsfarben, Symbolen undVereinskleidung zum Ausdruck . Man bekennt sich öf-fentlich zu einem Verein und zu dessen Werten . Han-delt es sich um etwas Harmloses wie einen Sport-, Ge-sangs- oder Musikverein, ist dies auch völlig legitim undin Ordnung . Meist dient das Tragen von Vereinsfarbenund -kleidung auch der Mitgliederwerbung . Was ist aber,wenn bestimmte Vereinssymbole und Kleidungsstückemit Werten und Strukturen in Verbindung gebracht wer-den, hinter denen manchmal erhebliche kriminelle Ener-gie steckt?2014 hatte Nordrhein-Westfalen daher das öffentlicheZeigen von Rockersymbolen vielerorts untersagt . Mit-glieder von Rockergruppierungen werden mit Gewalt,Straftaten und rechtsstaatswidrigem Verhalten in Ver-bindung gebracht . Das damals erlassene Verbot umfasstenicht nur das Zeigen bereits verbotener Abzeichen, un-tersagt wurde auch das Tragen von Emblemen mit Bezugauf sogenannte Schwestervereine, also Teilgruppen, diean einem Ort bereits verboten waren .Mit dem Hinweis, dass dieses umfassende Verbotnicht mit der derzeitigen Rechtslage in Einklang zu brin-gen war, hatte der Bundesgerichtshof diesem Verbot einedeutliche Absage erteilt . Um nun auch dem sympathiebe-kennenden Tragen von bestimmten Vereinszeichen einenRiegel vorzuschieben, verschärfen wir im Vereinsgesetzden § 9 zum sogenannten Kennzeichenverbot und passenebenfalls die entsprechende Strafvorschrift in § 20 an .Natürlich ist nicht jede Vereinigung von Menschen,die sich dem Motorradfahren verschreiben, eine Verbin-dung von Kriminellen . Wird aber gegen bestimmte Grup-pierungen ein Verbot erlassen, eben weil sie kriminelleStrukturen aufweisen, dann muss auch die Zurschau-stellung von Symbolen und Kleidungsstücken, die diesekriminellen Vereinigungen verherrlichen, unterbundenwerden . Menschen, die die freiheitliche Grundordnungunseres Landes offensichtlich ablehnen, auch wenn siesich in Form eines Vereins zusammentun, dürfen ihreVereinszeichen und die ihrer Schwestervereinigungen,die auch nichts Besseres im Schilde führen, nicht unge-straft zur Schau stellen . Das wollen wir nicht, und des-halb wollen wir es heute verbieten .
Klar ist, dass man nicht alles verbieten kann, was mannicht mag – um den Bundesinnenminister an dieser Stel-le ebenfalls zu zitieren . Aber bei organisierter Krimina-lität hört für mich und für uns der Spaß auf . OrganisierteKriminelle sind eine Bedrohung für die innere Sicherheitunseres Landes .Genauso wie wir unser Land vor Gefahren für die in-nere Sicherheit von außerhalb, wie Terrorgefahr, schüt-zen, schützen wir unser Land vor den Gefahren, die vomIrene Mihalic
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Inneren ausgehen . Gerade im Bereich innerer Sicherheithaben wir vieles vorangebracht . Ein großer Teil dieserMaßnahmen geht auf die Initiative der Union zurück . Sosind die heutigen Änderungen im Vereinsgesetz zwar nurein kleiner Schritt; aber wir meinen, er ist völlig richtig,um den kriminellen Strukturen das Wasser abzugrabenund klar für unsere freiheitlichen und rechtsstaatlichenWerte einzustehen . Deshalb würde ich mir wünschen,dass dieser Ansatz, dieses Gesetz eine breite Basis findet.Danke schön .
Das Wort hat die Kollegin Susanne Mittag für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn man sich die Liste der verbotenen Mo-torradklubs der vergangenen Jahre ansieht, dann fühltman sich leicht an den Geografieunterricht erinnert. Hiernur ein kleiner Auszug: 2012 Hells Angels MC Cologne,2012 Hells Angels MC Berlin City, 2013 Hells AngelsBremen, 2016 Hells Angels MC Bonn . Es ginge beliebigso weiter . In den vergangenen 15 Jahren haben Landes-innenminister insgesamt zwölf sogenannte Charter derHells Angels verboten . Und das sind nur die Fälle derHells Angels . Es gibt noch ein paar andere; Bandidos,Gremium MC, Mongols MC, Satudarah MC habe ichnoch nicht einmal erwähnt . Da gibt es jede Menge .Was auffällt, ist, dass der anscheinend größte Unter-schied zwischen den nun verbotenen Gruppierungen al-lenfalls der angehängte Ort ist . Ansonsten sind sie sichähnlich . Aber Hells Angels nennen sich viele; die Struk-turen sind identisch . Genau das ist das Problem, demwir mit dem nun vorliegenden Entwurf eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Vereinsgesetzes begegnenwollen . Bisher musste gemäß höchstrichterlicher Recht-sprechung die Polizei im Bund und in den Ländern nach-weisen, dass zum Beispiel die Bonner Hells Angels diegleiche Zielrichtung verfolgten wie die Rocker des be-reits verbotenen Hells-Angels-Charter in Berlin . Das warfür die Behörden äußerst schwierig und für die Rockeräußerst günstig .Wir dürfen uns hier nicht von den Namen der Mo-torradklubs täuschen lassen . Das hat nichts mit Freiheitund Abenteuer zu tun . Das sind einfach nur knallharteStrukturen der organisierten Kriminalität . Ob Rotlicht,Drogen, Waffen oder Schutzgeld – es ist schon erwähntworden –, überall sind diese kriminellen Vereinigungendabei, und das seit Jahrzehnten . Einige der Mitgliederder angeblichen Motorradklubs haben nicht einmal einenFührerschein oder ein Motorrad – aber das nur nebenbei .Das macht sie nicht weniger gefährlich, zeigt aber deut-lich auf, dass das Motorradfahren nicht im Fokus dieservermeintlichen Vereine steht . Das angeblich so cooleImage, das diesen Vereinen oft in der Öffentlichkeit zu-geschrieben wird, trifft nicht einmal ansatzweise zu .Im Jahr 2015 hat Innenminister de Maizière demaus den Niederlanden stammenden Satudarah MC jedeTätigkeit in Deutschland untersagt und die deutschenTeilorganisationen des Vereins komplett verboten . Daswar das erste Mal, dass ein Rockerklub als Ganzes inDeutschland verboten wurde . Das war ein sehr guter undwichtiger Schritt; denn Satudarah agierte nicht im luft-leeren Raum, sondern versuchte ganz massiv, andere Re-viere zu übernehmen . Daraus resultierten zum Teil sehrgewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den rivali-sierenden Gruppen, teilweise mit Todesfällen, aber dasist auch bei anderen Rockergruppen der Fall .Die Leidtragenden – das möchte ich noch einmal er-wähnen – sind oftmals die Polizisten, die zu diesen Aus-einandersetzungen gerufen werden und sich dann dazwi-schenwerfen dürfen . Das führt oftmals zu sehr schwerVerletzten . Aber auch unbeteiligte Menschen, die zufäl-lig getroffen werden, und Menschen im Umfeld dieserangeblichen Vereine, die das kriminelle Verhalten ertra-gen müssen, gehören zu den Leidtragenden . Das wirdvöllig unterschätzt . Das wollen wir nicht mehr .Wir nehmen gerne die Anregungen des Bundesratesin unsere Beratungen auf . Wir werden prüfen, inwieweitwir den Gesetzentwurf mit Blick auf den Fall, dass einVerein in Organisation und Tätigkeit über Bundeslän-dergrenzen hinaus in Erscheinung tritt, noch konkreterausgestalten können .Auch wenn Verbote dieser Klubs nach Vereinsrechtwichtig und richtig sind, lösen sie natürlich nur die wahr-nehmbaren Probleme . Man sieht den Schutzgelderpres-sern, Türstehern und Waffenschiebern dann natürlichnicht mehr an, dass sie von einem bestimmten Rocker-verein kommen. Die Machtdemonstration findet dannnicht länger derart öffentlich statt, aber die Kriminellenverschwinden natürlich nicht einfach und ihre Netzwerkelösen sich auch nicht automatisch auf . Straftaten werdenweiter begangen – das wissen wir –, aber eben nicht inKutte, sondern in normaler Kleidung . Ein Allheilmit-tel ist das Verbot nicht, aber ein wichtiger und richtigerSchritt zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität .Da muss es mehrere Maßnahmen geben .Gerade die Zahl der Straftaten in diesem Deliktsfeldder organisierten Kriminalität steigt seit Jahren an . Es istrichtig, dass wir die Sicherheitsbehörden im vergangenenJahr mit einem deutlichen Stellenaufwuchs zur Bekämp-fung des internationalen Terrorismus versehen haben .Wir haben Bundespolizei, BKA und die Nachrichten-dienste gestärkt und werden das auch im Haushalt für daskommende Jahr tun . Leider bleibt dabei die Bekämpfungder organisierten Kriminalität immer ein klein wenig aufder Strecke, vor allem die Bekämpfung der sogenanntenAlltags-OK, die es schon seit Jahren gibt . Dabei gehtes um genau die Kriminalitätsfelder, in denen die Ro-ckergruppen Straftaten begehen . Ich wünsche mir – dashat die Bundestagsfraktion der SPD im Innenausschussschon sehr deutlich gesagt –, dass wir die Zahl der Stel-len im BKA zur Bekämpfung dieser Alltags-OK endlichdeutlich anheben .
Oswin Veith
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– Das ist nett . – Die Koordinierungsstelle OK brauchtmehr Personal- und Sachmittel . Das muss ein ganz mas-siver Aufwuchs sein . Ich hoffe auf die Unterstützung .Wir müssen und wollen das BKA in seiner Koordinie-rungsfunktion stärken, um in Zusammenarbeit mit denLändern, die wir dann unterstützen können, gegen diesekriminellen Strukturen vorzugehen . Nur so schaffen wires zum Beispiel in Flensburg, Kiel, Köln, Berlin, Bre-men, Frankfurt, Bonn und sehr vielen anderen Städtenin Deutschland, der organisierten Kriminalität entgegen-zutreten .Herzlichen Dank .
Die Kollegin Andrea Lindholz hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute eine kleine, aber weitreichende Än-
derung im Vereinsgesetz . Die Bundesregierung will mit
dem Gesetzentwurf das Kennzeichenverbot in § 9 des
Vereinsgesetzes praxistauglicher ausgestalten und eine
Schwachstelle in unserem Vereinsgesetz beheben . Die
Polizei soll damit gleichzeitig ein neues Instrument für
den Kampf gegen die organisierte Kriminalität erhalten .
Ein Verein kann verboten werden, wenn ihm eine
schwerwiegende Gefährdung der Allgemeinheit und ent-
sprechende Straftaten nachgewiesen wurden . Mit dem
Verbot wird dann auch das Tragen des Abzeichens dieses
Vereins strafbar . Wenn der verbotene Verein allerdings
lediglich eine Ortsgruppe einer größeren Dachorganisati-
on ist, dann gilt das nicht gleichermaßen auch für die ge-
samte Organisation, und auch das Tragen gemeinsamer
Abzeichen – das sind zum Beispiel Fahnen, Uniformstü-
cke und andere Abzeichen dieses Dachverbandes – ist
dann nach geltendem Recht nicht strafbar, auch dann
nicht, wenn mehrere Unterorganisationen als kriminelle
Vereinigung verboten wurden . Der Koalitionsvertrag sah
daher bereits eine Änderung in diesem Bereich vor, und
der Bundesgerichtshof hat auch erst im Juli letzten Jahres
auf diese Strafbarkeitslücke hingewiesen . Es ging dabei
um das Tragen von Rockerkutten, die verschiedene Orts-
bezeichnungen, aber das gleiche Kennzeichen hatten .
Diese Lücke wollen wir jetzt schließen . Dies ist si-
cherlich kein Allheilmittel, aber es ist absolut richtig,
es ist wichtig und ein weiterer Beitrag im Kampf gegen
organisierte Kriminalität . Das Vereinsgesetz soll künftig
objektive und klar definierte Kriterien enthalten, anhand
derer die Polizei feststellen kann, ob ein im Wesentli-
chen gleiches Kennzeichen verwendet wird, das bereits
verboten wurde . Subjektive Merkmale wie die Ausle-
gung, ob es vielleicht die gleiche Zielrichtung ist, wer-
den gestrichen – subjektive Merkmale sind in der Regel
auch wenig praxistauglich –, sodass diese Änderung ein
wichtiges Instrument für unsere Behörden ist . Die ent-
sprechende Strafnorm in § 20 des Vereinsgesetzes soll
angepasst werden, indem sie ausdrücklich auf das Kenn-
zeichenverbot in § 9 des Vereinsgesetzes verweist .
Warum brauchen wir diese Verschärfung? Sie kann
vor allem im Kampf gegen Rockergruppen helfen . Sie
nennen sich selbst verharmlosend „Motorradclub“; tat-
sächlich sind es aber Klubs, die für schwerste Verbrechen
wie Drogen- und Menschenhandel, für Erpressung und
brutale Gewalttaten bis hin zu Mord verantwortlich sind .
8,4 Prozent aller Verfahren im Zusammenhang mit der
organisierten Kriminalität in Deutschland entfallen auf
diese Gruppierungen . Das Bundeskriminalamt hat in sei-
nem letzten Lagebild zur organisierten Kriminalität auch
von einem deutlichen Anstieg der Verfahren gegen diese
Rockergruppierungen berichtet .
Trotz Verboten werden ständig neue Ortsgruppen
gegründet . Zuletzt war die Presse auch wieder voll von
Gewaltexzessen in diesem Rockermilieu . Die Mitglie-
der glauben, dass sie sich in ihrer Gemeinschaft vor dem
Gesetz verstecken können . Mit dem Kennzeichenverbot,
mit der Verschärfung im Vereinsgesetz, können wir dem
zumindest ein Stück weit entgegenwirken . Sie haben es
gesagt, Frau Kollegin Mihalic: Deshalb sind sie nicht
gleich von der Bildfläche verschwunden. Aber ich halte
es für ein wichtiges Zeichen, auch seitens des Rechts-
staats, dass man dieses gemeinsame Kennzeichen in die-
sen schweren Fällen der organisierten Kriminalität auch
für alle, die damit irgendwo im Zusammenhang stehen,
verbieten sollte . Ich halte das für den richtigen Schritt .
Liebe Frau Kollegin Jelpke, nicht nachvollziehen kann
ich, wie man dem nicht zustimmen kann und das Ganze
mit Fußballvereinen vergleicht . Es geht hier um das Tra-
gen eines gemeinsamen Kennzeichens, eines bestimmten
Symbols, das auch für organisierte Kriminalität steht, für
schwerste Verbrechen, die dort begangen worden sind .
Ich kann deshalb nicht nachvollziehen, wie man einer
solchen Änderung nicht zustimmen kann .
Unsere Polizei steht heute vor großen Herausforde-
rungen . Islamistische Terroristen, gewaltbereiter Links-
und Rechtsextremismus und organisierte Kriminalität,
die wir allesamt mit ganzem Einsatz verhindern und be-
kämpfen müssen, fordern von unserer Polizei Höchstleis-
tungen . Mit diesem kleinen Beitrag können wir unseren
Sicherheitsbehörden auch effektivere Mittel an die Hand
geben . Deshalb bitte ich, die Beratungen konstruktiv zu
begleiten . Vielleicht können wir am Ende des Verfahrens
doch allesamt dieser Änderung zustimmen .
Vielen Dank .
Ich schließe nun die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/9758 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .Dann ist die Überweisung so beschlossen .Susanne Mittag
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Sabine Zimmermann ,Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEGerechte Krankenkassenbeiträge für Selbst-ständige in der gesetzlichen Krankenversiche-rungDrucksache 18/9711Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialesb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Sabine Zimmermann ,Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEGerechte Krankenkassenbeiträge für freiwil-lig in der gesetzlichen KrankenversicherungVersicherteDrucksache 18/9712Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die KolleginSabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Der konservative Teil der Koalition rühmtsich ja gerne, etwas für die Selbstständigen zu tun . Tat-sächlich haben aber viele der Selbstständigen das Gefühl,von der Bundesregierung gerade hinsichtlich ihrer sozia-len Absicherung im Stich gelassen zu werden . Über vieleJahre höre ich jetzt schon die Klagen, aber verbessert hatsich an der Situation nichts . Im Hinblick auf Ihre angebli-che Vertretung der Interessen von Selbstständigen ist dasschon einigermaßen dürftig . Für die Linke ist das völliginakzeptabel .
Ein Problem, das bei vielen Selbstständigen fürschlaflose Nächte sorgt, sind die hohen Beiträge zur ge-setzlichen Krankenversicherung; hier werden sie benach-teiligt . Meine Damen und Herren der Koalition, nehmenSie bitte einmal zur Kenntnis, dass hier etwas getan wer-den muss .
Die Bundesregierung geht offensichtlich davon aus, dassSelbstständige und Kleinunternehmer zu den Gutverdie-nern gehören . Das ist aber mitnichten der Fall . Dies zeigtauch die hohe Zahl der Selbstständigen, die ergänzendHartz-IV-Leistungen bekommen . Im Jahre 2015 warenes 117 000 .Besonders prekär ist die Situation oft für Solo-Selbst-ständige . In vielen Fällen verlagern Unternehmen Auf-gaben und das gesamte Risiko auf alleinarbeitendeSelbstständige . Der Weg in die Selbstständigkeit ist fürviele ein Weg in die prekäre Tätigkeit, von der man seineFamilie einfach nicht ernähren kann . Solo-Selbstständi-ge verfügen nun einmal über ein unterdurchschnittlichesEinkommen . Ich glaube, da sind wir uns auch in diesemHause einig . Insbesondere bei Solo-Selbstständigen istdie Selbstständigkeit auch Ausdruck zu weniger sozial-versicherungspflichtiger Arbeitsplätze oder auch einerOutsourcing-Mentalität der Unternehmen .Oft war die Entscheidung zur Selbstständigkeit keinefreiwillige . Durch die Einführung der Förderung als so-genannte Ich-AG im Zuge der Hartz-Gesetze wurden dieSolo-Selbstständigen als Allzweckwaffe gegen Erwerbs-losigkeit auserkoren; dies endete aber für viele in einerSackgasse . Zudem führte es zu Wettbewerbsverzerrun-gen und sorgte für einen ruinösen Wettbewerb . Doch daswar der Bundesregierung damals egal und ist es ihr auchheute noch . Viele Selbstständige fühlen sich mit ihrenProblemen alleingelassen und zu wenig gefördert . Ins-besondere für Kleinselbstständige müssen bessere Rah-menbedingungen geschaffen werden . Dies betrifft vorallem auch die Verbesserung der Einkommenssituation .Mit unserem Antrag wollen wir einen wichtigenBeitrag zu mehr Gerechtigkeit leisten . Derzeit wird beiSelbstständigen ein Krankenkassenbeitrag erhoben, derein Einkommen von über 4 000 Euro annimmt . Erst beiNachweis niedrigerer Einnahmen wird die Beitragsbe-messung auf 2 178 Euro gesenkt, sodass rund 400 EuroBeitrag zu leisten sind . Nur in wenigen Ausnahmefällenkann der Beitrag darunterliegen .Ein Beispiel: Wenn Sie als Selbstständiger ein Ein-kommen von 800 Euro haben, zahlen Sie die Hälfte alsBeitrag für die Krankenversicherung, also einen Bei-tragssatz von 50 Prozent. Ich finde, das ist nicht gerecht.
Ich weiß nicht, wie Sie es finden würden, wenn Sie dieHälfte Ihrer Diäten als Beitrag zur Krankenkasse zahlenmüssten . Wir möchten einen realistischen und fairen Bei-trag zur Krankenversicherung für Selbstständige, der be-zahlbar und leistbar ist . Auch Sie werden sicherlich mitvielen Selbstständigen reden . Daher wissen Sie, dass dasschon lange ein Problem in dieser Gesellschaft darstellt .
Wir fordern, dass sich der Mindestbeitrag an der Ge-ringfügigkeitsgrenze von 450 Euro orientiert . Das wäreein Beitrag von rund 70 Euro zur Krankenversicherungund 12 Euro zur Pflegeversicherung. Oberhalb davon sollwie bei den Angestellten entsprechend dem Einkommengezahlt werden . Das ist aus unserer Sicht eine Frage derGerechtigkeit .Eine weitere Gerechtigkeitslücke muss geschlossenwerden . Für freiwillig Versicherte mit geringem Einkom-men, etwa freiwillig versicherte Rentnerinnen und Rent-ner, Studierende mit über 14 Semestern oder über 29 Jah-Vizepräsidentin Petra Pau
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re alt und auch Promovierende, ist der Mindestbeitragvon derzeit rund 177 Euro einfach zu hoch und entbehrtjeder Grundlage . Auch hier wollen wir den Mindestbei-trag auf rund 70 Euro senken .Die beiden vorliegenden Anträge sind ein weitererBaustein für mehr soziale Gerechtigkeit in diesem Land .Vielleicht entdecken Sie, meine Damen und Herren vonder Union, Ihr Herz für die Selbstständigen wieder – nichtnur für die, die überdurchschnittlich verdienen, sondernauch für die, die unterdurchschnittlich verdienen –, undvielleicht entdecken Sie, meine Damen und Herren derSozialdemokratie, die soziale Gerechtigkeit wieder . Ichfürchte aber, dass Sie alle davon nichts wissen wollenund Ihre Politik weiter so fortsetzen . Meine Damen undHerren, ich sage Ihnen: Sozial geht anders, und das gehtnur mit der Linken .Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Beide debattierten Anträge der Fraktion Die Linke laufenunter der Überschrift „Gerechte Krankenkassenbeiträgefür Selbstständige und freiwillig gesetzlich Versicher-te“ . Da drängt sich natürlich die Vermutung auf, dass dieLinke entgegen der Klassenkampfrhethorik, die Sie hiergerade wieder vom Stapel gelassen haben,
wirklich ein Interesse an den unternehmerisch Tätigenhat . Das überrascht schon, weil Sie hier im Haus bishernicht als diejenigen bekannt waren, die Sachwalter derInteressen der Selbstständigen und der Freiberufler sind.
Ich finde es sehr gut, dass Sie die Bedeutung derselbstständig Tätigen offenkundig erkannt haben .
Aber nehmen Sie auch einmal zur Kenntnis, dass nichtnur die Selbstständigen wichtig sind, sondern dass wirmittlerweile auch insgesamt eine Beschäftigung haben –über 41 Millionen Menschen sind in Deutschland in Be-schäftigung –, die in dieser Höhe bisher noch nie dage-wesen ist . Was Sie hier getan haben, ist, wieder einmalzu versuchen, uns alten Wein in neuen Schläuchen zuverkaufen .
Meine Kollegen von der CSU würden angesichts des Ok-toberfestes sagen: Das ist eine abgestandene, schale Dis-kussion . Es geht Ihnen nur um die Abschaffung der PKVund die Einführung der Bürgerversicherung .
Sie sprachen von vermeintlicher Solidarität und voneiner solidarischen Gesundheitsversicherung, wie Sie sienennen . Wie sie aussehen soll, haben Sie gesagt; das stehtja auch in Ihrem Antrag . Sie wollen, dass die Solidarge-meinschaft über die Krankenversicherung beispielsweiseLangzeitstudierende alimentiert . Wenn es Ihre Vorstel-lung von Solidarität ist, zu sagen: „Der Auszubildende,der Handwerksmeister, die Kassiererin, der Frisör sollendurch ihre Beiträge dafür sorgen, dass die Langzeitstu-denten geringere Beiträge zahlen müssen“, dann, findeich, ist das echt ein Armutszeugnis .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie suggerierenwieder einmal, die Bürgerversicherung sei die eierlegen-de Wollmilchsau zur Lösung aller Probleme . Da kann ichIhnen gleich zu Beginn sagen: Dafür werden Sie von unskeine Zustimmung bekommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu: Auchmich treibt das Problem um, dass Existenzgründer undSolo-Selbstständige mit geringem Einkommen durchstarre Beitragsbemessungsgrenzen über Gebühr belastetwerden . Mich treibt auch das Problem um, dass geradeExistenzgründer und Selbstständige, deren Laden nochnicht so brummt, vom Einkommen her betrachtet prozen-tual überdurchschnittlich hohe Krankenkassenbeiträgezahlen sollen .
Aber ich bin dafür, dass wir genau hinschauen und auchgenau prüfen . Genau das haben wir in der Vergangenheitgetan .
Sabine Zimmermann
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Schauen Sie sich einmal die aktuelle Rechtslage an .Derzeit ist es so, dass die beitragspflichtigen Einnahmenim Regelfall auf Grundlage des aktuell vorliegenden Ein-kommensteuerbescheids ermittelt werden; da sind wiruns ja einig . Rückwirkende Änderungen der Beitragsfest-setzung sind nur in absoluten Ausnahmefällen möglich .Das ist unbefriedigend; das gebe ich zu . Allerdings hatder GKV-Spitzenverband in seinen Beitragsverfahrens-grundsätzen für Selbstzahler, die seit dem 1 . Januar 2009für alle Krankenkassen verbindlich gelten, auch Ausnah-men zugelassen, zum Beispiel für Existenzgründer undbei Vorliegen einer unverhältnismäßigen Belastung . Sieliegt beispielsweise dann vor, wenn ein Gewinneinbruchum mindestens 25 Prozent erfolgt ist, wenn also dervorliegende Einkommensteuerbescheid und die tatsäch-lichen Einnahmen um über 25 Prozent voneinander ab-weichen . Wir haben also schon Härtefallregelungen . Esbesteht beispielsweise auch die Möglichkeit, in dem Jahr,in dem der Gewinn eingebrochen ist, eine rückwirkendeNachberechnung der zu zahlenden Beiträge vorzuneh-men . Insofern gab es da schon eine Reaktion .Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Lin-ken, bei dieser Thematik, die die Bereiche Gesundheit,Wirtschaft und Steuerrecht betrifft, müssen wir sagen:Flexibilität ja, aber keine Schnellschüsse . Dann könnenwir beispielsweise auch die Frage stellen, ob die auf60 Prozent reduzierte Beitragsbemessungsgrenze nochzeitgemäß ist . Wir müssen dann aber auch darüber reden,dass die Absenkung auf die einheitliche Mindestbemes-sungsgrundlage, die Sie ja wollen, mindestens 1 Milli-arde Euro Beitragsmindereinnahmen zur Folge habenwürde . Darüber müssen wir eben auch sprechen, und dastun Sie nicht .
Man kann ebenso die Frage stellen, ob das Berech-nungsverfahren schnell genug ist, um gerade durch dieDigitalisierung herausgeforderte Unternehmen adäquatzu unterstützen .
Kollege Sorge, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Vogler?
Ja, sehr gerne .
Vielen Dank, Herr Sorge, dass Sie meine Zwischen-
bemerkung zulassen . – Sie rechnen hier mit angeblichen
Verlusten für die Krankenkassen . Ich möchte auf der
einen Seite schon noch einmal darauf hinweisen, dass
dieses Geld den Menschen, die davon betroffen sind,
natürlich konkret im Geldbeutel fehlt, um ihre Lebens-
haltungskosten zu decken und sich vielleicht auch eine
reguläre Alterssicherung aufzubauen . Sie sind ja immer
große Freunde davon, sich auch privat für das Alter ab-
zusichern . Viele junge Selbstständige schaffen das nicht .
Auf der anderen Seite möchte ich auch noch einmal
darauf hinweisen, dass gerade ein abgesenkter Mindest-
beitrag für junge Selbstständige, die gerade damit anfan-
gen, selbstständig zu werden, dazu beitragen könnte, sie
dafür zu gewinnen, in das solidarische System der ge-
setzlichen Krankenversicherung einzutreten und eben
nicht den Lockvogelangeboten der PKV auf den Leim zu
gehen, die für den Anfang, wenn man jung und gesund
ist, mit niedrigen Beiträgen werben, während das später
den Betroffenen möglicherweise auf den Fuß fällt – sei es
in Form von eingeschränkten Leistungen, weil man eben
nicht genau ins Kleingedruckte geguckt hat, oder sei es
auch in Form von im Alter massiv steigenden Beiträgen,
wie sie die PKV jetzt ja auch zum 1 . Januar nächsten Jah-
res für viele Menschen wieder angekündigt hat .
Vielleicht wäre das ja auch eine Möglichkeit, wieder
mehr Geld ins solidarisch finanzierte Umlagesystem zu
bekommen .
Sie behaupten immer, mit Ihrer solidarischen Gesund-heitsversicherung würde jedes Problem gelöst sein . Wirmüssen aber auch einmal darüber reden, dass wir im Be-reich der Unternehmen natürlich gerade auch diejenigenein bisschen vor sich selbst schützen müssen, deren Un-ternehmung auch nach einer gewissen Anlaufphase nichtzum Erfolg führt . Deshalb habe ich ja das Beispiel derExistenzgründer gebracht . Ich habe gesagt, es bestehtdie Möglichkeit, diesen Beitrag herabzusetzen, wenn dietatsächlichen Umstände noch nicht so gut sind, wie siesein sollten . Wir können aber natürlich nicht, wie Sie daswollen, über die Solidargemeinschaft und die Beiträgeder anderen Versicherten irgendwelche Liebhabereien,Hobbys oder unternehmerische Aktivitäten, die nicht zueinem Erfolg führen, dauerhaft subventionieren, und dasist genau das, was Sie möchten .
Lassen Sie uns diese Thematik doch in Ruhe und mitBesonnenheit anschauen . Ich habe ein paar Beispiele ge-nannt, über die wir sprechen könnten – auch, inwieweitwir gegebenenfalls bei der angemessenen Berücksichti-gung der Beiträge weitere Komponenten berücksichti-gen könnten . Was man aber nicht machen sollte, ist das,was Sie immer machen, nämlich verschiedene Aspektezu vermischen . Sie kochen einen linken Eintopf, würzenihn mit Ideologie, und zum Schluss haben Sie eine Dau-ersubventionierung auf Kosten der Solidargemeinschaft .Das wird mit uns nicht passieren .
Weil wir immer von Solidarität – Sie ja besonders –und von Ehrlichkeit reden, müssen wir uns auch einmalehrlich machen . Das heißt – wie ich es gesagt habe –, wernach dieser gewissen Zeit so geringe Einkünfte hat, dasser seinen Lebensunterhalt – und wir reden hier nicht überden gesamten Lebensunterhalt, sondern über die Kran-kenversicherungsbeiträge – nicht finanzieren kann, derTino Sorge
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muss sich auch einmal fragen und hinterfragen lassen, obdas Geschäftsmodell, mit dem er tätig ist, das richtige amMarkt ist . Wir wollen keine Vortäuschung selbstständigerAktivität . Wir wollen Qualität bei Selbstständigen, siche-re Einkünfte, langfristige Geschäftsmodelle und keineSchnellschüsse .Ich sage es deshalb zum Schluss noch einmal ganzklar: Angesichts der Komplexität wollen wir alle Kom-ponenten beachten . Wir wollen auch interessante Ansät-ze, wie gegebenenfalls eine zeitliche Staffelung von Bei-trägen für Gründer, in Betracht ziehen, und wir könnenüber die Beschleunigung von Berechnungsverfahren,über eine gewisse Flexibilität und darüber sprechen, in-wieweit bestimmte Komponenten bei der angemessenenBerechnung zusätzlich berücksichtigt werden können .Wir wollen die Diskussion aber sachgerecht, zielgrup-penorientiert und vor allen Dingen ideologiefrei führen –gerne mit Ihnen, wenn Sie das wollen .Insofern: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Anders als Kollege Sorge gerade geäußert hat,finden wir, dass das Problem, das in den Anträgen derLinken aufgeworfen wird, ein gravierendes und bedeut-sames Problem ist, dem wir uns mit aller Sorgfalt stellensollten .
Sie haben eigentlich mehr Problemabwehr und Ideo-logie in den Raum gestellt .
Genau darum geht es nicht . Ein Blick auf den Antragzeigt: Er ist sehr sachgerecht und sachlich und zeigt dieProblemlinien auf . Streiten kann man vielleicht darüber,wie wir die Problemlösungen angehen wollen . Das isteine andere Sache .Grundsätzlich muss man sagen: Es ist tatsächlich so,dass wir eine Schräglage haben bei den vielen Selbststän-digen mit geringem Einkommen, die eben nicht mehrdie klassischen Unternehmer sind . Vielmehr gibt es beiSelbstständigen vielfältige Formen am Arbeitsmarkt .Diese führen oft dazu, dass es Zeiten selbstständigerArbeit gibt, dass dann wieder als Angestellter gearbeitetwird, vielleicht auch ein kleiner Laden aufgemacht wird,der dann doch nicht oder nur sehr schleppend läuft . Viel-leicht ist man Sprachkursleiterin oder Sprachkursleiter ineinem der Kurse des BAMF und wird schlecht bezahlt .
Vielleicht ist man auch Schneiderin oder Schneider undhat ganz unterschiedliche Auftragslagen und muss damitklarkommen . Da muss man ganz klar sagen: Unser So-zialsystem wird diesen unterschiedlichen sozialen Lagennicht gerecht . Da müssen wir besser werden .
Es ist richtig, dass die wirklich grundlegende Lösungmit einer Bürgerversicherung als gemeinsames Systemgefunden werden könnte, weil man dann nicht mehr un-terscheiden muss, ob jemand angestellt oder selbststän-dig arbeitet . Aber dieser Schritt würde länger brauchen .Wir brauchen aber jetzt eine Lösung für die vielen Selbst-ständigen mit geringem Einkommen in der Kreativwirt-schaft und in vielen anderen Bereichen . Angesichts derBeitragsschulden in der Krankenversicherung, die sichmittlerweile auf 5,4 Milliarden Euro belaufen, sehen wir,dass es für viele Selbstständige ein ernsthaftes Problemist, die hohen Beiträge zu zahlen .
Da müssen wir etwas tun . Diese hohen Beitragssätzehaben damit zu tun, dass die Krankenversicherung einEinkommen unterstellt, das die meisten Selbstständigentatsächlich gar nicht haben . Wenn für die Berechnung desBeitragssatzes davon ausgegangen wird, dass ein Selbst-ständiger mindestens 4 236 Euro verdient, dann ist dasheute nicht mehr adäquat, weil viele das nicht schaffen,wie alle Statistiken zeigen . Deshalb müssen wir da etwastun .
Das Mindeste, was jemand selbst mit Nachweis einerNotlage erreichen kann, ist, dass ihm gesagt wird: ZurBerechnung deines Beitragssatzes legen wir ein Einkom-men von 2 148 Euro zugrunde . – Auch das haben ganzviele nicht . Dieser Tatsache müssen wir gerecht werden .Dafür brauchen wir eine Lösung .
Ob die Lösung, die die Linke vorgeschlagen hat, dasssich die Beitragsbemessung an der Geringfügigkeits-grenze orientiert, geeignet ist, müssen wir überprüfen .Ich habe da durchaus Zweifel .
Das Kernproblem ist: Wir vergleichen bei der Verbeitra-gung Nettoeinkommen und Bruttoeinkommen . Arbeit-nehmer zahlen ihre Beiträge auf ihr Bruttoeinkommen,Selbstständige auf das versteuerte Einkommen und damitauf das Nettoeinkommen . Da müssen wir eine Regelungfinden. Das wird nicht ganz so einfach sein.
Tino Sorge
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Aber dafür, Herr Sorge, sind die Anhörungen sehr hilf-reich, die wir durchführen werden . Dann ist es Zeit, sichfestzulegen und zu sagen: Okay, die Lösung sieht so oderauch anders aus .
Aber das Mindeste, was ich hier erwarte, ist das Si-gnal, dass man sich an die Problemlösung macht .
Ich meine, das sollte hier selbstverständlich sein . DieZahlen sprechen eine deutliche Sprache .
Das Wort hat die Kollegin Heike Baehrens für die
SPD .
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin-ken! Frau Klein-Schmeink! Mit den beiden hier vorlie-genden Anträgen formulieren Sie tatsächlich ein berech-tigtes Anliegen . Gerechte Krankenkassenbeiträge fürfreiwillig Versicherte und Selbstständige in der gesetz-lichen Krankenversicherung: Das wollen wir ebenso wieSie . Das muss man allerdings nach oben wie nach untenin den Blick nehmen .Solidarität als Grundprinzip unserer gesetzlichenKrankenversicherung heißt: Jede und jeder Versichertezahlt seinen Beitrag entsprechend seiner wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit. Punktuelle Schieflagen und Unge-rechtigkeiten in einem solch riesigen System sind für unspermanente Herausforderung, nachzujustieren und An-passungen vorzunehmen . Aber eigentlich geht es hier umnoch viel mehr; denn das Gesundheitswesen zählt zumKernbereich der öffentlichen Daseinsvorsorge .
Deshalb muss unser gemeinsamer Anspruch als Bundes-tag sein, mutige Schritte zu gehen, um solche strukturel-len Ungerechtigkeiten auszumerzen .
Als SPD haben wir hierfür längst die notwendigenReformoptionen erarbeitet und setzen für die Zukunftauf eine solidarische Bürgerversicherung; denn wir ha-ben seit langem einen Wandel in der Arbeitswelt zu ver-zeichnen . Er wurde eben beschrieben . Die Formen derErwerbstätigkeit verändern sich . Insbesondere die Zahlder Solo-Selbstständigen nimmt zu . Die Einkommens-unterschiede innerhalb dieser Gruppe sind allerdingssehr groß . Es gibt Einzelne, die sehr schnell reich wer-den, und es gibt viele, die so wenig verdienen, dass sienicht die finanzielle Möglichkeit haben, ihre Lebensri-siken abzusichern und Vorsorge zu betreiben . Trotz derbereits bestehenden Möglichkeiten, sich im gesetzlichenSystem der Krankenversicherung versichern zu lassen,sehen sich viele Solo-Selbstständige finanziell überfor-dert . Hierfür – da haben Sie recht – brauchen wir einetragfähige Antwort, eine Antwort, die dauerhaft zu mehrGerechtigkeit führt .
Wir plädieren für den Einstieg in eine Bürgerversiche-rung; denn eine solche Krankenversicherung für allebezieht selbstverständlich auch alle Selbstständigen ein .Das tatsächliche Einkommen aus selbstständiger Ar-beit würde in die Bemessungsgrundlage einfließen. DieBemessung des Mindestbeitrags würde auf das Niveauoberhalb der Geringfügigkeitsgrenze abgesenkt . Gleich-zeitig werden dann gut verdienende Selbstständige ent-sprechend ihrer Leistungsfähigkeit einen angemessenenBeitrag zu zahlen haben .Wir sind davon überzeugt: Die Zeit ist reif für eine Zu-sammenführung von gesetzlicher und privater Kranken-versicherung . Darin werden wir gerade durch die aktuel-le Berichterstattung und die Krisensignale der privatenVersicherer nachdrücklich bestärkt .
Die Beiträge vieler Privatversicherter werden im kom-menden Jahr gehörig steigen, weil auf dem Kapitalmarktkeine Gewinne mehr zu erwirtschaften sind . Wir allemüssen aufpassen, dass die gesetzliche Krankenversi-cherung nicht zum Ausfallbürgen wird für ein privatwirt-schaftliches Versicherungsmodell,
das nicht mehr allen seinen Versicherten eine gute Ge-sundheitsversorgung zu bezahlbaren Beiträgen bietenkann . Ja, die Zeit ist reif für den Übergang zu einer so-lidarisch, von allen finanzierten Bürgerversicherung.Mit ihr wollen wir als SPD fortsetzen, was wir schon indieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben .Mit ihr wollen wir die GKV zukunftsfest machen undin die richtige Richtung weiterentwickeln, zugunsteneiner wohnortnahen Versorgung, zugunsten einer hohenmedizinischen Versorgungsqualität, für einen höherenStellenwert von Gesundheitsprävention und nicht zuletztfür eine weitere Aufwertung der Pflege. Im Unterschiedzu den heutigen Antragstellern haben wir aber auch imBlick, dass dieses Versorgungsniveau zukunftsfest finan-ziert werden muss . Es gilt, die richtige Balance aus guterQualität und nachhaltiger Finanzierbarkeit herzustellen,damit auch unsere Enkelkinder noch in gleicher Weiseversorgt werden können .Wir hätten uns eine Lösung der angesprochenen Fra-gen in der laufenden Legislaturperiode durchaus vor-stellen können . Aber ich bin überzeugt: Die Zeit dafürwird kommen . Unser Konzept für eine solidarische Bür-gerversicherung als Weiterentwicklung der gesetzlichenKrankenversicherung wird in nicht allzu ferner Zukunfteine Mehrheit in diesem Hause finden. Wir als SPD, wer-den den Weg dafür bereiten .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Maria Klein-Schmeink
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Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Als ich diebeiden Anträge, die wir heute diskutieren, gelesen habe,habe ich mich gefragt: Was soll das? Erst ganz am Endewird klar, worum es geht . Den Antragstellern geht esdoch gar nicht um die Selbstständigen oder die freiwilligVersicherten . Sie wollen mit uns zum wiederholten Maledie Bürgerversicherung diskutieren . Und das machen wirauch immer gerne mit Ihnen – im Übrigen auch mit Ih-nen, Frau Baehrens .
Mich wundert allerdings, dass Sie noch immer nicht re-alisiert haben, dass eine Bürgerversicherung mit einerunionsgeführten Bundesregierung nicht kommen wird –
schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht kom-men kann .
– Wünsche darf man haben .Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition,legen Sie doch endlich einmal ein tragfähiges Konzeptvor, das den Bürgerinnen und Bürgern erklärt, wie Sie dieverfassungsrechtlichen Probleme lösen wollen . Was istmit der Eigentumsgarantie des Artikel 14 Grundgesetz?Wie wollen Sie zum Beispiel mit den Altersrückstellun-gen in der PKV umgehen? Wollen Sie diese den Versi-cherten wegnehmen? Hierauf wollen die Bürgerinnenund Bürger Antworten, keine Ideologien, die Sie nichteinmal schlüssig erklären können .
Antworten auf das Wie sind Sie uns über Jahre hinwegschuldig geblieben .
Bis jetzt haben Sie vor diesem Hintergrund rein garnichts vorgestellt, mit dem man sich auch nur ansatzwei-se sachgerecht auseinandersetzen könnte .
Hieran sollten Sie arbeiten .Meine Damen und Herren, wir sind davon überzeugt,dass sich das Konzept eines dualen Gesundheitssystemsmit GKV und PKV bewährt hat .
Mit diesem Wettbewerb können wir Effizienzreservenim Gesundheitswesen heben . Darüber hinaus stehen wirals CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ein freiheitlichesGesundheitswesen . Wir wollen Vielfalt und Wahlmög-lichkeiten im Sinne der Versicherten sicherstellen undden Menschen nicht vorschreiben, wie und wo sie sichzu versichern haben .
Also lassen Sie uns bitte daran konstruktiv weiterarbei-ten, und ersparen Sie uns Ihre Schaufensteranträge .Meine Damen und Herren, seit längerer Zeit disku-tieren wir darüber, die Mindestbemessungsgrundlagefür Selbstständige abzusenken oder gar abzuschaffen .Mindestbeiträge sind sinnvoll und notwendig, weil nied-rige Beiträge nicht kostendeckend sein können . Auchfreiwillig Versicherte haben für den umfassenden Ver-sicherungsschutz in der GKV angemessene Beiträgezu zahlen . Dies gilt bei Selbstständigen umso mehr, dadas Steuerrecht den Selbstständigen anders als Arbeit-nehmern eine gewisse Gestaltbarkeit des Einkommenserlaubt . Sie, Frau Kollegin Klein-Schmeink, haben dan-kenswerterweise darauf hingewiesen . Selbstständigekönnen zum Beispiel ihre Betriebsausgaben abziehen .Es werden also lediglich die Nettoeinkommen herange-zogen, während die anderen freiwillig Versicherten Bei-träge auf der Grundlage ihres Bruttoeinkommens zahlenmüssen . Diese steuerrechtlichen Möglichkeiten dürfensich nicht in Form ungerechtfertigt niedriger Beiträge aufdie GKV auswirken .Es diene der Beitragsgerechtigkeit, wenn dieser steu-erliche Vorteil für Selbstständige durch eine besonde-re Mindestbemessungsgrenze ausgeglichen werde . Sourteilte das Bundesverfassungsgericht schon im Jah-re 2001 . Und es sei rechtmäßig, das Unternehmerrisikoeines Selbstständigen nicht über die Beitragsbemessungauf die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Kranken-versicherung abzuwälzen . So das Bundesverfassungsge-richt weiter .Meine Damen und Herren, das Beitragsrecht der ge-setzlichen Krankenversicherung beruht auf dem Soli-darausgleich zwischen sozial schwächeren und sozialstärkeren Mitgliedern . Mit diesen Anträgen wollen Siefreiwillig versicherte Selbstständige mit anderen frei-willigen Mitgliedern beitragsrechtlich gleichstellen . Siewollen sie mit denjenigen gleichstellen, die tatsächlichüber geringe Einkünfte verfügen, wie etwa freiwillig ver-sicherte Studenten oder Rentner . Das ist Ihre Gerechtig-keit . Mit uns geht das nicht .
Gerade aus Gerechtigkeitsgründen können wir nichtzulassen, dass freiwillig Versicherte, die der gesetzlichenKrankenversicherung nach eigener Entscheidung ange-hören, sich zu unangemessen niedrigen Beiträgen – zu-lasten der anderen in der GKV Versicherten – versichernkönnen . Dennoch ist es eine Tatsache, dass es Selbst-ständige gibt, die noch nicht oder nicht mehr über einewirtschaftliche Stabilität verfügen und dementsprechendihren Lebensunterhalt auch nicht bestreiten können . Da-rauf haben wir bereits reagiert . Im Übrigen haben wir mitdem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz des Jahres 2007
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die Möglichkeit einer verringerten Mindestbemessungs-grundlage geschaffen . Für Existenzgründer, die zudemauch einen Anspruch auf den monatlichen Gründungszu-schuss nach SGB III haben, sowie für geringverdienendeSelbstständige gilt eine verringerte Mindestbemessungs-grundlage, wenn Bedürftigkeit vorliegt .Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung stehtauch bei uns die Verbeitragung von freiwillig und selbst-ständig in der GKV Versicherten auf dem Prüfstand .Auch wir meinen: Sie muss weiterentwickelt werden .Der Kollege Sorge hat dies bereits ausgeführt . Dabeimüssen mögliche Kosten und Auswirkungen auf die So-lidargemeinschaft der Beitragszahler sehr genau geprüft,bewertet und berücksichtigt werden . Auch hier gilt: Erstdie Situation bewerten, dann denken und dann komple-xe Lösungsansätze entwickeln, die wirklich das ganzeProblem in all seinen Facetten angehen . Dies, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Linken, lassen Ihre An-träge nicht erkennen . Deshalb werden wir beide Anträgeablehnen .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Marina
Kermer das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In derheutigen Debatte diskutieren wir zwei Anträge, die in-haltlich den SPD-Beschlüssen des Bundesparteitags 2011entsprechen .
Ich darf feststellen: Schön, dass Sie sich unserer Mei-nung angeschlossen haben . Das ist gut .
Der Situation geschuldet, werden wir dennoch Ihre An-träge am Ende der Beratungen wohl ablehnen müssen .Warum? Das möchte ich gern an dieser Stelle erläutern .
Als Koalitionspartner haben wir zu Beginn der Legis-laturperiode einen Vertrag geschlossen, der die Ziele undFormen unserer Zusammenarbeit vereinbart . Wir warenund sind bereit, Kompromisse zu schließen, um keinepolitische Starre zuzulassen, sondern um unsere Gesell-schaft zukunftssicher zu gestalten . Das heißt auch, dasswir Koalitionsfraktionen im Bundestag einheitlich ab-stimmen, wie unter Punkt 8 im Koalitionsvertrag zu denArbeitsweisen der Koalition festgelegt ist . Das bedeutet,wir können nicht zustimmen, es sei denn, Sie, liebe Kol-leginnen und Kollegen der Union, überdenken Ihre Auf-fassung bis dahin .
So möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, um un-sere Positionen im Gesamtzusammenhang darzustellen .Was Sie in Ihren Anträgen vorschlagen, sollte unsererMeinung nach tatsächlich Teil einer grundsätzlichenNeuaufstellung der Finanzierungsgrundlage der Gesund-heitsversorgung werden .Eine immer älter werdende Gesellschaft ist eine Ent-wicklung, auf die wir gerade in der Gesundheitspolitikbewusst hingearbeitet haben . Unsere Sozialversiche-rungssysteme sind beispielhaft .
Damit sie zukünftig den Anforderungen standhalten, ha-ben wir in dieser Legislaturperiode einiges auf den Weggebracht . Gerade als Berichterstatterin für die Kranken-hausstrukturreform ist mir bewusst, dass die beschlos-senen Maßnahmen Kosten verursachen . Wir sind unsmehrheitlich einig, dass diese Investitionen der maßgeb-lichen Verbesserung der Qualität der Versorgung dienenund die Patientinnen- und Patientenrechte stärken .
Mit den drei Pflegestärkungsgesetzen werden wirdie Versorgung im Alter verbessern und sichern . Allebeschlossenen Maßnahmen sind wichtig und richtig,um unser Gesundheitssystem auf die Herausforderun-gen unserer älter werdenden Gesellschaft vorzubereiten .Um die Standards zu sichern, werden wir vermutlich dieAusgaben nicht absehbar senken können . Das heißt, wirmüssen sozial gerechte und verträgliche Lösungen fin-den, um die Einnahmeseite zu sichern . Da stellt sich dieFrage: Wie? Ich bin überzeugt, dass das am besten miteiner Bürgerversicherung gelingen kann .
Als erste Partei haben wir 2003 die Entscheidung zurEinführung einer solidarischen Bürgerversicherung ge-troffen . Zwischenzeitlich haben sich auch andere mitdem Gedanken beschäftigt und teilen unser Konzept .Liebe Frau Klein-Schmeink, vielen Dank für Ihren Bei-trag dazu .Was ist der Kerngedanke? Alle gesetzlich Versicher-ten werden zu Mitgliedern einer Bürgerversicherung,
Dietrich Monstadt
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auch Beamte und Selbstständige, genau wie Studieren-de, Herr Sorge . Gemeinsam sollen hohe und niedrigeEinkommen von einem solidarischen Sicherungssystemprofitieren. Übergangsregelungen sollten gelten, HerrMonstadt, sodass privat Versicherte wählen können, obsie der Bürgerversicherung beitreten oder in der privatenVersicherung bleiben wollen . Für viele Private würde dasallerdings auch eine Chance eröffnen, im Alter aus einerPrivatversicherung herauszukommen, wenn sie in Tarif-strukturen mit hohen Beitragssätzen festsitzen .Außerdem wollen wir die paritätische Beitragsfinan-zierung .
Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen zu gleichen Tei-len an den Gesundheitskosten beteiligt werden, so wie inder Debatte gestern ausführlich erklärt .
Denn eine sichere und solidarische Finanzierungsgrund-lage ist die Voraussetzung für eine gerechte Gesundheits-versorgung .Gestatten Sie noch einen Gedanken: Der Zugang zuguter medizinischer Versorgung für alle ist eine Grund-voraussetzung für Chancengleichheit im Leben . Ein ge-sunder Start ins Leben ist die Voraussetzung für ein er-folgreiches und selbstbestimmtes Leben . Das ist das Ziel,um das es eigentlich geht . Gesundheit ist deshalb nichtnur das Gegenteil von Krankheit, sondern maßgeblich inallen Lebensbereichen . Wir brauchen ressortübergreifen-de Zusammenarbeit; dann können wir es schaffen, dassGesundheit und ein gutes Leben unabhängig von Her-kunft und Einkommen sein werden .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beratenheute zwei Anträge zum Thema „Krankenkassenbeiträgefür freiwillig in der gesetzlichen KrankenversicherungVersicherte“ .
Es geht um Selbstständige, und es geht um Menschen,die nicht pflichtversichert sind und keinen anderweitigenAnspruch auf Krankenversicherung haben . Beiden Grup-pen ist gemeinsam – Sie sprachen es an –, dass es umMenschen mit niedrigem Einkommen geht .Frau Klein-Schmeink, dieses Thema ist viel zu ernst,als dass man es wieder für Schaufensterreden oder sonstetwas benutzen darf; vielmehr sollte man sich der eigent-lichen Thematik nähern .
– Stopp, lassen Sie mich doch ausreden . – Es geht um dieFrage der individuellen Bezahlbarkeit; es geht aber auchum die Frage, wie wir das Gesundheitssystem insgesamtbezahlbar halten, also um die Frage der gerechten Finan-zierbarkeit eines solchen Systems .
Beides – individuelle Bezahlbarkeit und gerechte Finan-zierbarkeit – ist eng miteinander verknüpft, und wir su-chen alle nach vernünftigen und praktikablen Lösungen .Was ich am Antrag der Linken schade finde, ist – ichsage es ganz offen –, dass die Linken sich auf das Thema„niedrige Einkommen“ beschränkt haben und dass sienicht dargelegt haben, wie ein fairer Interessensausgleichstattfinden kann,
weil zu hohe Krankenversicherungsbeiträge Menschenmit niedrigem Einkommen, aber mittlerweile auch Men-schen mit höherem Einkommen extrem belasten können .Frau Baehrens, Sie haben es vollkommen zu Recht an-gesprochen: Auch in der privaten Krankenversicherunggibt es solche Fälle, denen wir uns stellen müssen .
Die Frage ist: Kann die Bürgerversicherung das Allheil-mittel sein?
– Stopp! – Ich glaube – das sage ich ganz offen –, dasswir bisher eine gute Lösung hatten .
Wir haben für die Privatversicherten eine Lösung,wir haben für die gesetzlich Versicherten eine Lösung,die vom Bundesverfassungsgericht übrigens abgesegnetwurde; über sie wurde verlautbart, dass sie richtig ist . Eswurde ja heute schon im Einzelnen dargelegt, wie dieMechanismen funktionieren, wie die Mindestbemessungbei schlechter Einkommenssituation auf 265 Euro bzw .177 Euro reduziert wird .
– Stopp! Jetzt lassen Sie mich doch ausreden .Marina Kermer
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(C)
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In § 240 SGB V ist geregelt, wie die Bemessung desBeitrags freiwillig versicherter Mitglieder erfolgt undwie er gegebenenfalls abgestaffelt wird . Wir haben da be-rücksichtigt, dass der zur sozialen Sicherung vorgeseheneTeil des Gründungszuschusses nicht angerechnet werdendarf. Wir haben berücksichtigt, dass das an eine Pflege-person weitergereichte Pflegegeld nicht herangezogenwerden soll . Aber – das sage auch ich noch einmal – esgeht auch darum, dass wir die, die dieses System heutemit ihren hohen Beiträgen stützen, nicht überfordern unddass wir auch da einen fairen Ausgleich schaffen .Ich möchte einmal ein ganz spezielles Thema auf-greifen . Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, denMindestbeitrag für freiwillig Versicherte auf 70 Euro zureduzieren –
– 70 Euro; das steht in Ihrem Antrag –, dann haben wirdergestalt ein Problem, dass wir in einem gewissen Wer-tungswiderspruch stehen, da die Zuweisung des Bundespro Arbeitslosengeld-II-Empfänger und pro Flüchtling90 Euro monatlich beträgt . Wir Gesundheitspolitikerhaben momentan alle ein Interesse daran, dass der Steu-erzuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung fürArbeitslosengeld-II-Empfänger und Flüchtlinge erhöhtwird . Wie soll ich das rechtfertigen, wenn dann der Ei-genbeitrag bei 70 Euro für Solo-Selbstständige, für Rent-nerinnen und Rentner – –
– Das ist nicht völliger Blödsinn .
Setzen Sie sich doch einmal ernsthaft mit dem Themaauseinander . Diese Frage bekommen Sie an diesemPunkt nicht gelöst .
Im Kern geht es darum, dass wir das nur über Steuernlösen können . Wir müssen vernünftig schauen, dass wirdas nicht nur sozusagen über das Krankenversicherungs-system regeln . Das steht für mich für solidarischen Aus-gleich zwischen Gesund und Krank . Der Ausgleich zwi-schen Einkommensstarken und Einkommensschwachenfindet im Steuersystem statt. Deswegen wäre eigentlichder richtige Ansatz – das haben Sie in Ihrem Antrag über-haupt nicht berücksichtigt –, dass wir schauen: Wie krie-gen wir das über die Steuer vernünftig geregelt?Ich möchte einen Punkt zum Schluss erwähnen, undzwar noch einmal zum Thema Bürgerversicherung . Mirkommen da die Worte der Bundeskanzlerin von vor, ichglaube, zehn Tagen in Erinnerung . Sie hat im Zusammen-hang mit dem Satz „Wir schaffen das“ von einer Leerfor-mel gesprochen . Beim Stichwort „Bürgerversicherung“
– den Eindruck habe ich – arbeiten und hantieren wirauch nur noch mit einer Leerformel .
Der Punkt, den ich erwähnen möchte, ist: Gesternwurde ein Gutachten vom Wissenschaftlichen Beiratdes Bundeswirtschaftsministeriums – ein SPD-geführtesHaus – veröffentlicht, und dieses hat nicht eine Bürger-versicherung favorisiert,
sondern eine Prämie mit Steuerausgleich .
Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir uns einfach malvon diesen Floskeln wegbewegen würden und versu-chen, uns den Themen inhaltlich zu nähern .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9711 und 18/9712 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 19 . Oktober 2016, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute .
Die Sitzung ist geschlossen .