Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich zu unserer Plenarsitzung .Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich demKollegen Gernot Erler zu seinem 72 . Geburtstag gra-tulieren, den er in der vergangenen Woche begangen hat .Herzliche Glückwünsche und alles Gute für das neue Le-bensjahr!
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Tages-ordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführtenPunkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Haltung der Bundesregierung zu TTIP
ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordne-ten Hans-Christian Ströbele, Renate Künast,Dr . Konstantin von Notz, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zurÄnderung des Strafgesetzbuches zur Strei-chung des Majestätsbeleidigungsparagrafen
Drucksache 18/8123Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Kultur und MedienZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten HaraldPetzold , Frank Tempel, Dr . AndréHahn, weiteren Abgeordneten und der FraktionDIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Ge-setzes zur Änderung des Strafgesetzbuches –Neuordnung der BeleidigungsdelikteDrucksache 18/8272Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kor-dula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMit Beitragsgeldern der gesetzlich Versicher-ten sorgsam umgehen – Mehr Transparenzund bessere Aufsicht über die Selbstverwal-tung im GesundheitswesenDrucksache 18/8394Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr . Va-lerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan Kühn
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPkw-Maut zurückziehen und Konflikt mit derEU-Kommission beendenDrucksache 18/8397Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Aktuelle Entwicklungen beim EU-Türkei-Ab-kommenZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Anna-lena Baerbock, Stephan Kühn , OliverKrischer, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBraunkohlesanierung durch die Lausitzerund Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsge-sellschaft mbH fortsetzenDrucksache 18/8396
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Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheitVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden .Des Weiteren sollen die Tagesordnungspunkte 7 und 8ihre Plätze tauschen . Der Tagesordnungspunkt 5 – ersteBeratung des Entwurfs eines Bundespolizeibeauftrag-tengesetzes – wird abgesetzt . Stattdessen sollen die Ge-setzentwürfe auf den Drucksachen 18/8123 und 18/8272aufgerufen werden . Hier geht es um Änderungen desStrafgesetzbuches .Darüber hinaus sollen auch der Tagesordnungs-punkt 18 c – Beratung der Beschlussempfehlung zumAntrag mit dem Titel „Dem CETA-Abkommen so nichtzustimmen“ – und der Tagesordnungspunkt 24 a – Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung des Agrarmarktstruk-turgesetzes – abgesetzt werden .Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli-che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-punkteliste aufmerksam:Der am 14 . April 2016 überwiese-ne nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung arzneimittelrechtlicher und ande-rer VorschriftenDrucksache 18/8034Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungDer am 14 . April 2016 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Kultur und Medien zur Mit-beratung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurStärkung der beruflichen Weiterbildung unddes Versicherungsschutzes in der Arbeitslo-
Drucksache 18/8042Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GODie am 28 . April 2016 gemäß § 80 Absatz 3 der Ge-schäftsordnung überwiesene nachfolgende Unterrich-tung soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung zurMitberatung überwiesen werden:Unterrichtung durch die BundesregierungStrategie zur Eindämmung von HIV, HepatitisB und C und anderen sexuell übertragbarenInfektionenBIS 2030 – Bedarfsorientiert, Integriert, Sek-torübergreifendDrucksache 18/8058Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklungIch frage Sie, ob Sie mit diesen Änderungen einver-standen sind . – Das ist offensichtlich der Fall . Damit istdas so beschlossen .Dann rufe ich unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er-leichterung des Ausbaus digitaler Hochge-schwindigkeitsnetze
Drucksache 18/8332Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Ausschuss Digitale AgendaDie Aussprache dazu soll nach einer Vereinbarungzwischen den Fraktionen 60 Minuten dauern . – Auchdazu stelle ich Einvernehmen fest . Dann verfahren wirso .Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-nister Dobrindt das Wort .
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute einge-brachten Entwurf des sogenannten DigiNetz-Gesetzesstellen wir die drei Is in den Vordergrund unserer Digital-strategie: Investition, Innovation und Infrastruktur . Dasist ein Meilenstein in der Gigabitstrategie der Bundes-regierung mit dem klaren Prinzip: Jede Baustelle schafftBandbreite . Das heißt, zukünftig gibt es eine Investiti-onskombination . Überall, wo der Bund in seine Netzeinvestiert, wird automatisch Breitband mitverlegt .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Das ist in einer Situation, die wir gern als Substanzre-volution von Wirtschaft und Gesellschaft beschreiben,die notwendige Maßnahme, um den dynamischen Inno-vationsphasen Rechnung zu tragen und den Ausbau derGlasfaser massiv voranzutreiben .Wir werden einen sprunghaften Anstieg beim Daten-volumen in den nächsten Jahren erleben . Bis 2020 wirdsich das weltweite Datenvolumen verzehnfachen . Da-ran sieht man, wie dynamisch sich das Wachstum wei-ter abbilden wird . Wir erleben nach der Vernetzung derMenschen durch Communitys, soziale Netzwerke undKommunikationsdienste wie Skype oder WhatsApp dennächsten Schritt dieser Revolution, nämlich die Vernet-zung der Dinge, das Internet of Everything mit Industrie4 .0, Smart Home sowie dem automatisierten und ver-netzten Fahren . Dieser Schritt ist so bedeutsam für uns,weil die Digitalisierung an dieser Stelle unsere Stärkenerreicht . Als führende Industrienation, Weltmarktführerbei Maschinen und Autos sowie als Maßstab bei Infra-struktur und Bau sind wir schlichtweg das Land der Din-ge . Wenn es nun um die Vernetzung der Dinge geht, istgenau das der Punkt, an dem die Stärken der Eigentümerder Maschinen die Nutzung der Daten mit voranbringenkönnen . Das wird durch eine Reihe von Studien so be-legt . Vor zwei Tagen gab es eine neue Studie der GfK .Deutschland ist inzwischen in Europa das am meistenvernetzte Land und weltweit unter den Top Fünf . Wirwerden einen wesentlichen Teil der 50 Milliarden Dinge,die in den nächsten Jahren online verbunden werden, inDeutschland erleben . Allein 15 Milliarden davon wer-den – so die Prognosen – in Deutschland vernetzt .Jetzt geht es darum, dass wir diese Stärken auch stra-tegisch einsetzen . Die Voraussetzung dafür ist eine leis-tungsfähige digitale Infrastruktur . Wir stehen bei dieserDigitalisierung, dieser Substanzrevolution, nicht nur ineinem Wettbewerb der Unternehmen, wie es gerne im-mer wieder beschrieben wird, sondern in Wahrheit auchin einem Wettbewerb der Regionen der Welt . DiesenWettbewerb gilt es weiterhin maßgeblich zu beeinflus-sen . Das kann nur mit Bandbreite funktionieren . Der kla-re Grundsatz lautet: Wer die Netze hat, erzielt die Wert-schöpfung . Wer nicht komplett digitalisiert, verliert iminternationalen Wettbewerb .
Die Aufgabe ist deswegen klar . Wir brauchen das stärksteHighspeednetz der Welt . Dafür haben wir in der Koaliti-on zu Beginn der Legislaturperiode eine Gigabitstrategiegestartet mit drei Grundsäulen .Die erste war die Aktivierung des Marktes . Wir habendie Netzallianz Digitales Deutschland gegründet und alleinvestitions- und innovationswilligen Unternehmen füreine gemeinsame Initiative an einen Tisch gebracht . DieUnternehmen in der Netzallianz Digitales Deutschlandhaben für das Jahr 2016 zugesagt, 8 Milliarden Euro inden Ausbau der superschnellen Breitbandnetze zu inves-tieren . Dieses Ziel wird auch erreicht werden .
Damit haben wir uns im Wirtschafts-Digitalindex aufPlatz vier vorgeschoben . Die Länge der verlegten Glas-faserkabel hat sich seit dem Beginn der Legislaturperiodemehr als verdoppelt .Das zweite Element ist die Förderung der Regionen .Wir haben im November des vergangenen Jahres dasBundesprogramm für superschnelles Breitband gestartetmit einem Volumen von insgesamt 2,7 Milliarden Eurofür unterversorgte Kommunen und Landkreise . Das klarePrinzip lautet hier: Vorfahrt für Glasfaser . Wir haben seit-dem bereits 340 Planungs- und Beratungsprojekte unter-zeichnen können . Wir haben im April dieses Jahres, alsoim letzten Monat, die ersten Bescheide zur Förderungder konkreten Ausbauprojekte übergeben . Damit bewe-gen wir in einem allerersten Schritt 420 Millionen EuroBundesmittel und tätigen damit eine Gesamtinvestitionin Höhe von 1,2 Milliarden Euro in die Netze .Das heißt konkret: Wir bringen auf einen Schlag55 Landkreise und Kommunen, mehr als 500 000 Haus-halte und Gewerbebetriebe, an das superschnelle Breit-bandnetz, wobei der ganz überwiegende Teil davon Zu-gang zum Glasfasernetz erhält . Insgesamt werden 26 000Kilometer Glasfaser alleine mit diesem ersten Zuschlagmit Förderbeträgen ausgebaut . Das ist ein erheblicherBeitrag zum Ausbau der Glasfaser in Deutschland .
Heute gehen wir mit dem DigiNetz-Gesetz das dritteElement der Gigabitstrategie an, um eine weitere Dyna-misierung des Glasfaserausbaus in Deutschland zu errei-chen . Wir öffnen damit zum allerersten Mal klassischeInfrastrukturen dem Glasfaserausbau, heißt: Wo geeigne-te klassische Infrastrukturen wie beispielsweise Energie-,Schienen- oder Straßennetze mit freien Kapazitäten zurVerfügung stehen, können Digitalunternehmen zukünftigdie Glasfaserinfrastruktur gleich mitinstallieren .Das schafft natürlich erhebliche Synergien, sorgt da-für, dass die Kosten gesenkt werden, und sorgt übrigensnoch für etwas anderes: Viele unserer Bürger irritiert seitlanger Zeit, dass bei dem Neubau einer Straße nach kur-zer Zeit die Straße wieder in Teilen aufgerissen wird, umKabel zu verlegen, um das Breitbandnetz auszubauen .Anschließend wird die Straße wieder zugeteert . Das hatzukünftig ein Ende . Überall da, wo der Bund investiert,überall da, wo klassische Infrastruktur neu entsteht, wirdzukünftig automatisch in die Glasfaserinfrastruktur mit-investiert .
Das gilt übrigens auch für Neubaugebiete im Wohn-und im Gewerbebereich . Das Phänomen, dass man Neu-baugebiete erschließt und eine alte Kupferinfrastrukturverlegt, hat jetzt ein Ende . Es wird in Zukunft im Neu-baubereich nichts anderes mehr als Glasfaser geben . Dassind die notwendigen, innovativen Schritte, um die Zu-kunftsfähigkeit der Breitbandnetze zu erhalten .Ich darf ein Beispiel dafür bringen, was dies anKosten einsparung mit sich bringt . Jede Verlegung von1 Meter Glasfaser kostet durchschnittlich rund 80 Euro .Wenn wir die Glasfaser gleich mitverlegen, wenn wirBundesminister Alexander Dobrindt
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ohnehin in unsere Infrastruktur investieren, dann sinkendie Kosten auf 17,50 Euro . Das heißt, wir haben rund80 Prozent Kosteneinsparung, die wir wiederum nutzenkönnen, um zusätzlich zu investieren . Das ist der richtigeWeg, den wir jetzt gemeinsam gehen .Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegender Koalition im Verkehrsausschuss, die es möglich ge-macht haben, dass wir diese weitreichenden Entschei-dungen hin zur Gigabitgesellschaft jetzt treffen können .Das DigiNetz-Gesetz schafft mehr Bandbreite, es schafftweniger Bürokratie, es schafft Einsparungen in Milliar-denhöhe und es stärkt das Highspeednetz der Welt .Das ist meine Gigabitstrategie, das ist die Gigabitstra-tegie der Bundesregierung für den Ausbau der digita-len Netze in Deutschland . Wir bewegen uns mit großenSprüngen auf die Gigabitgesellschaft und Bandbreite füralle zu .Danke schön .
Herbert Behrens ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ZurErläuterung für die Zuhörer auf den Tribünen: Auch wennim Titel, etwas verkürzt, vom Ausbau digitaler Hochge-schwindigkeitsnetze die Rede ist, gilt, dass wir geradedarüber heute nicht reden . Wir reden vielmehr über dieUmsetzung einer Richtlinie der EU, in der es darum geht,diese Netze erleichtert auszubauen . Leider sind wir beimAusbau noch weit hinter dem zurück, was nötig ist .
Das lässt sich auch nicht hinter wortgewaltigen Dar-stellungen verbergen, wie sie vom Verkehrsministerkommen . Er spricht, geradezu bombastisch, vom Sprungin die Gigabitgesellschaft, etwa indem er sagt: Wir ma-chen Deutschland fit für die Gigabitgesellschaft. JedeBaustelle bringe Bandbreite, wurde eben noch einmalgesagt . Im Gesetzentwurf steht, „ohne die Umsetzungder Maßnahmen der Kostensenkungsrichtlinie“ werde„auf die Chance verzichtet, auf allen Stufen des Ausbausdigitaler Hochgeschwindigkeitsnetze Kosten zu senkenoder zu vermeiden“ .20 Milliarden Euro sollen in den nächsten drei Jahreneingespart werden, wenn der Glasfaserausbau vorange-trieben wird . Dass dies gelingt, wird doch nur vom Ver-kehrsminister, nur von Herrn Dobrindt, behauptet . Wennich mir einmal die Stellungnahmen der Verbände ganzgenau anschaue – ich meine damit nicht nur die uns na-hestehenden Verbände, sondern alle –, dann komme ichzu dem Ergebnis: Es muss wahrgenommen werden, dasses intensive, fundierte Kritik der Verbände an diesemGesetzentwurf gibt . Einige der Kritikpunkte möchte ichnennen .Die EU-Richtlinie wird vom Bundesverband Breit-bandkommunikation kritisiert . Es wird insbesonderedarauf hingewiesen: Das, was an Einsparvolumen ange-kündigt worden ist, ist überhaupt nicht realisierbar, weiles voraussetzt, dass bis zu 80 Milliarden Euro investiertwerden müssen . Von diesen Summen sind wir weit ent-fernt . Das heißt, das angekündigte Einsparvolumen wirdes überhaupt nicht geben .Wir haben es mit einem Gesetzentwurf zu tun, mitdem man sich im Wesentlichen um die Umsetzung einerEU-Richtlinie kümmert . Diese Richtlinie ist seit 2014in Kraft . Eigentlich sollte sie schon zum 1 . Januar 2016in nationales Recht umgesetzt sein und die Zukunft desBreitbandausbaus regeln . Geregelt sein sollte auch, obzukünftig vorhandene Infrastruktur, seien es Ver- undEntsorgungsleitungen der Kommunen oder auch ande-re Leitungen, intensiver genutzt werden sollte, weil esgünstiger zu sein scheint . Auch der Zugang zu bereitsverlegten Kabeln und Leerrohren soll geregelt werden .Aber so flott geht es nun doch nicht mit dem schnellenInternet aus dem Hause Dobrindt . Man könnte ja geneigtsein, zu glauben, dass besonders gründlich gearbeitetwird, wenn alles ein bisschen länger dauert, zu glauben,dass die Vorschläge und Anregungen der betroffenenLänder und Kommunen einbezogen werden oder dass dieVerbände, die kommunalen Verbände und auch die pri-vaten Wirtschaftsverbände, gefragt werden, was in die-sem Gesetz geregelt werden muss, um den Sprung in dieGigabitgesellschaft wirklich zu vollziehen . Das scheintnicht passiert zu sein . Die Kritik ist, wie gesagt, vernich-tend, insbesondere in Bezug auf das Einsparvolumen von20 Milliarden Euro .Der Verband kommunaler Unternehmen, VKU – in-zwischen trägt dort eine ehemalige Staatssekretärin Ver-antwortung –, spricht von einem inkonsistenten Gesetz,von überhöhten Erwartungen und davon, dass die kon-ventionelle Verlegung oft kostengünstiger sei als die jetzthier angedachte . Das bestätigte auch mir ein Netzbetrei-ber, und er nannte mir auch Zahlen . Er sagte: 1 MeterTiefbau im klassischen Sinne kostet zwischen 20 und30 Euro . Die komplizierte, technisch sehr aufwendigumzusetzende Idee, die Ver- und Entsorgungsinfrastruk-tur oder sogar das Gasnetz zu nutzen, kostet 80 Euro .Das heißt, wer hier von Infrastrukturkosteneinsparungenspricht, der hat irgendetwas nicht mitbekommen .
Der Verband der Anbieter von Telekommunikations-und Mehrwertdiensten schreibt in seiner Stellungnahme,die Kostenreduzierung sei extrem hoch angesetzt . Auchprivate Kabelanbieter wie beispielsweise Unitymedia sa-gen, die Zahlen seien sehr hoch gegriffen und in keinerWeise belegt . Auch das ist ein Hinweis, den wir auf jedenFall wahrnehmen müssen .Was ist statt dieser vollmundigen Ankündigungen not-wendig?Erstens . Die bereits vorhandene Infrastruktur beimNetzausbau muss konsequent genutzt werden . Wir brau-chen da nichts Neues zu erfinden. Schließlich sind Ver-Bundesminister Alexander Dobrindt
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und Entsorgungsleitungen schon heute nutzbar, aber siewerden nicht genutzt . Ich habe die Gründe dafür ebengenannt . Es ist einfach teurer, diese vorhandene Infra-struktur zu nutzen .Das alles fordert beispielsweise auch der Bundesrat; erfordert, dort offensiver heranzugehen . Dazu gehört bei-spielsweise, dass man Einsicht in den Infrastrukturatlasbekommt . Heute ist es nur möglich, diesen Atlas, in demalle Ver- und Entsorgungsleitungen verzeichnet sind, ein-zusehen, wenn man ein konkretes Projekt vor sich hat .Das ist zu wenig, um wirklich eine wegweisende Strate-gie zu entwickeln, die im Vordergrund sieht, dass wir un-versorgte Gebiete mit Glasfaserkabel versorgen müssen .Also an dieser Stelle muss der Gesetzentwurf umgeän-dert werden . Er sieht hier lediglich vor, dass Investoren –private oder öffentliche – in diese Liste hineinschauenkönnen sollen . Insofern muss dieser Atlas „geöffnet“werden .Zweitens . Wir brauchen verlässliche und realisierbareInvestitionen in den Netzausbau . Ankündigungen brin-gen keinen Euro . Es reicht nicht aus, ausschließlich anden Rahmenbedingungen herumzudoktern, um die In-vestoren einmal so weit zu bringen, dass sie nun dochihr Geld in dieses Feld investieren . Der Breitbandausbaumit Glasfaser ist eine öffentliche Aufgabe . Dazu gehörenInvestitionen aus dem Bundeshaushalt . Andere Staatenhaben es vorgemacht . Da sind wir heute im IndustrielandDeutschland noch weit hinten dran . Das sagen uns dieZahlen .Drittens . Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zurKostenreduzierung gehört auch dazu, dass parallele Net-ze verhindert werden, dass der sogenannte Überbau ver-hindert wird . Wenn das nicht geschieht, werden Investiti-onen von privaten, aber auch von öffentlichen Investorenentwertet . Das bedeutet einen massiven volkswirtschaft-lichen Schaden, und das ist eindeutig das Gegenteil vonKosteneinsparung .
Die Linke hat immer wieder die fehlenden öffentli-chen Investitionen im Glasfaserausbau kritisiert . Ange-sichts dieses Gesetzentwurfs wird sich das nicht ändern .Wir haben gefordert, dass die Telekom AG als marktbe-herrschendes Unternehmen, an dem der Bund ja zumin-dest immer noch beteiligt ist, eine besondere Rolle spie-len muss . Doch die Telekom wird nicht mit Forderungenkonfrontiert, sondern im Gegenteil, sie wird geschützt,wenn es darum geht, dass andere Anbieter ihre Infra-struktur – gegen Gebühr selbstverständlich – mit nutzenwollen . Die Telekom soll die Infrastruktur ja nicht ein-fach altruistisch kostenlos zur Verfügung stellen .Interessant ist dabei auch, dass von der Telekom andiesem Gesetz keine laute Kritik kommt . Nur dort, wodas Recht auf Zugang zu ihrer Infrastruktur aufgerufenwird, wird sie mit einem Mal rührig und meldet sich zuWort .Die Bundesregierung ist aufgefordert, Unternehmennicht ständig zu pampern, um sie zu Investitionen zubringen, wenn sich die renditeorientierten Unternehmennicht bewegen . Wir brauchen auch keine weiteren Strate-gien – die haben wir wirklich in Hülle und Fülle –, son-dern wir brauchen eine konsequente, eine einheitliche,eine abgesprochene, koordinierte Strategie der zuständi-gen Ministerien . Daran fehlt es bisher für die Zukunft .Ich fürchte, dass wir an dieser Stelle auch mit dem Di-giNetz-Gesetz überhaupt keinen Schritt weiterkommen .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Martin
Dörmann das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Schnelles Internet für alle“, das ist das erklärte Ziel derKoalition . Bis 2018 soll jeder Haushalt in Deutschlandüber eine Versorgung mit mindestens 50 Megabit proSekunde verfügen . 2014 haben wir hier im Bundestageinen Antrag verabschiedet, der ein Maßnahmenpaketbeschrieben hat, um dieses sehr ambitionierte Ziel auchtatsächlich zu erreichen . Denn es sei daran erinnert: ZuBeginn der Wahlperiode lag die Versorgungsquote beigerade einmal 60 Prozent . Jetzt liegen wir immerhinschon bei über 70 Prozent . Aber wir alle wissen, genaudie letzten 30 Prozent sind die, die am schwersten zu er-schließen sind .Das liegt an den bestehenden Wirtschaftlichkeitslü-cken insbesondere aufgrund der Kosten für Tiefbauar-beiten, namentlich für die Verlegung von Glasfaserlei-tungen . Gerade hier setzt der von der Bundesregierungvorgelegte Entwurf für ein DigiNetz-Gesetz an . Vorgese-hen sind darin beispielsweise eine verbesserte Nutzungbestehender Infrastrukturen, eine verpflichtende Mit-verlegung von Leerrohren und Glasfaserleitungen oderauch ein transparenteres Informationssystem . Das alleszusammen wird die Kosten signifikant senken und einenwesentlichen Beitrag zu einem günstigeren und damitschnelleren Breitbandausbau leisten .Wir werden im parlamentarischen Verfahren selbst-verständlich genau prüfen, lieber Kollege Behrens, wonoch Nachbesserungen am Gesetzentwurf nötig sind, da-mit dieser eine optimale Wirkung erzielen kann . Ich binganz zuversichtlich, dass uns das gelingen wird .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich dieGelegenheit nutzen, noch einmal darauf hinzuweisen,was wir in den letzten beiden Jahren bereits auf den Weggebracht haben, und das war viel:Im letzten Jahr haben wir in einem nationalen Konsensmit den Ländern zusätzliche Funkfrequenzen für mobilesBreitband freigemacht. Durch hohe Versorgungsauflagenwerden bis 2018 mindestens 98 Prozent der Haushalte inDeutschland auch mobil mit schnellem Internet versorgtwerden . Damit ist Deutschland europaweit führend .Herbert Behrens
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Mit den Einnahmen aus der Versteigerung der Digi-talen Dividende II sowie zusätzlichen Mitteln im Bun-deshaushalt werden insgesamt 2,7 Milliarden Euro fürBreitbandförderprogramme zur Verfügung gestellt .
Allein das Bundesförderprogramm hat ein Gesamtvolu-men von 2 Milliarden Euro, erstmals überhaupt in dieserGrößenordnung . Es läuft seit November letzten Jahres,und zwar äußerst erfolgreich; denn voraussichtlich schonbis Ende dieses Jahres werden die kompletten 2 Milliar-den Euro Bundesmittel vergeben sein . Wir sollten des-halb schon die Beratungen zum Bundeshaushalt 2017nutzen, um zu überlegen, ob wir dieses sehr erfolgreicheProgramm nicht noch weiter finanzieren können, um ge-gebenenfalls noch bestehende Lücken zu schließen .Besonders erfreulich ist dabei Folgendes: Es zeigtsich, dass 70 Prozent der Gelder in sogenannte reineFTTB-Projekte gehen, also in Projekte, die den direktenGlasfaseranschluss bis ans Haus mit sich bringen . Und:Der Hebeleffekt beträgt 1 : 2 . Das heißt, für jeden Euroöffentlicher Förderung werden zusätzlich private Inves-titionen in Höhe von 2 Euro ausgelöst . Wenn man daseinmal bezogen auf die genannte Gesamtsumme von2,7 Milliarden Euro zusammenrechnet, kommt man aufein Volumen von über 8 Milliarden Euro für den Breit-bandausbau; das haben wir durch unsere Entscheidungangeschoben . Ich glaube, das kann sich sehen lassen .
Gut ist auch, dass sich die Koalition gerade in dieserWoche darauf verständigt hat, durch eine Änderung desTelemediengesetzes die WLAN-Störerhaftung aus derWelt zu schaffen und damit die Nutzung öffentlichenWLANs nachhaltig zu stärken .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir sindauf einem konsequenten Weg, um das ehrgeizige Ziel ei-ner flächendeckenden Versorgung mit Hochleistungsnet-zen bis 2018 zu erreichen und damit allen die Teilhabean der digitalen Gesellschaft zu ermöglichen . Ich glaube,man kann sogar sagen: 2016 wird somit zum bislang bes-ten Jahr für schnelles Internet werden .Schon heute ist aber absehbar, dass die Bandbreitenbe-darfe weiter wachsen werden . Gerade eine Industrienati-on wie Deutschland muss sich darauf einstellen und soll-te vorwegschreiten . Bundeswirtschaftsminister SigmarGabriel hat deshalb beim letzten IT-Gipfel festgestellt:Unser Ziel sollte sein, im Jahr 2025 die modernste digi-tale Infrastruktur der Welt zu haben . – Denn: Die digitaleWelt wird immer datenintensiver . Die Netze der Zukunftbrauchen stetig höhere Kapazitäten für höheren Down-und Upload sowie bessere Latenzzeiten . Die Herstellerstehen bereit, neue Dienstleistungen und Industrieverfah-ren massentauglich zu machen . Industrie 4 .0, das Internetder Dinge, oder Virtual Reality sind in aller Munde . DerWeg in die Gigabit-Gesellschaft erfordert neue Konzep-te und einen konsequenten Netzausbau, vor allem denweiteren Ausbau von Glasfaserleitungen . Auch hierfürist das vorliegende DigiNetz-Gesetz eine wichtige undnotwendige Weichenstellung .Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich des-halb zum Schluss zusammenfassen: Wir haben in der Ko-alition in den vergangenen zwei Jahren den Grundsteindafür gelegt, schnelles Internet für alle auch tatsächlichzu verwirklichen . In den Reden der Opposition zu Be-ginn der Legislaturperiode wurden große Zweifel darangeäußert . Wir haben einfach Fakten sprechen lassen . Esist klar: Die Programme sind erst seit November bewil-ligt . In diesem Jahr werden noch die restlichen bewilligt .Dann wird ausgebaut, und dann werden wir diesem Zielsehr nahe sein . Da, wo es noch Lücken gibt, müssen wirnachjustieren . Dann haben wir eine gute Grundlage . Da-rauf aufsetzend gehen wir in die Gigabitgesellschaft;denn uns allen ist klar: Schnelles Internet ist nicht nureine Sache von 2018; schnelles Internet ist die Voraus-setzung dafür, dass unsere Industrienation Deutschland,dass wir alle eine gute wirtschaftliche Zukunft haben,und daran arbeiten wir .Vielen Dank .
Tabea Rößner erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-ber Kollege Dörmann! „Deutschland hat kein schnellesInternet“ – das sagt nicht irgendwer, sondern der Bun-deswirtschaftsminister und noch amtierende Parteivorsit-zende der SPD, Sigmar Gabriel,
und zwar in seiner „Digitalen Strategie 2025“ . Ich tei-le diese Beobachtung . Die Aussage ist äußerst bemer-kenswert; denn sie kommt von einem Mitglied derBundesregierung, die sich ja eine flächendeckende Breit-bandversorgung mit 50 Mbit/s bis 2018 auf die Fahnengeschrieben hat . Wenn also BundeswirtschaftsministerGabriel das so sagt, dann gesteht er das Versagen der ei-genen Regierung ein. Das finde ich schon sehr bemer-kenswert .
Armer Minister Dobrindt! Das war nicht nett vomKollegen . Es war ehrlich, aber es war ganz und gar nichtnett .
Und dann macht der Wirtschaftsminister auch noch im-mer weiter .
– Ja . – Er fordert massiven Glasfaserausbau, Investitio-nen in Milliardenhöhe . Da frage ich mich: Wie sieht ei-Martin Dörmann
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gentlich die Aufgabenverteilung bei Ihnen im Kabinettaus?
Im Prinzip hat er ja recht, der Herr Gabriel . Schade, dasser heute nicht da ist; denn so etwas hört er ja nicht allzuoft in diesen Tagen .
Die Analyse stimmt, die Handlungsoptionen auch .Wir brauchen einen massiven Ausbau mit Glasfaser inDeutschland .
Nur: Wenn er das wirklich so meint, dann hätte der Wirt-schaftsminister ganz sicher nicht den Vectoring-Antragder Telekom so massiv pushen müssen .
Nun musste es kommen, wie es kam: Die Bundesre-gierung hat sich ordentlich blamiert . Vorgestern teilte dieEU-Kommission, übrigens durch den deutschen Kom-missar Oettinger, mit, dass sie den Vectoring-Beschlusseiner vertieften Prüfung unterziehen werde . Und das istauch richtig so . Der Beschluss der Bundesnetzagentur istnämlich kontraproduktiv, und er verzögert den Ausbauvon hochleistungsfähigem Internet in Deutschland .
Es braucht eben mehr und nicht weniger Wettbewerb .Stattdessen werden die Konkurrenten künstlich ausge-bremst und das Monopol der Telekom wiederbelebt .
Deshalb wäre es gut und wichtig, wenn dieser Beschlussnoch einmal überdacht werden würde .Aber zu den Ministern Gabriel und Dobrindt . Esbraucht noch nicht einmal die interkoalitionäre Oppositi-on, um festzustellen: Die Breitbandpolitik der vergange-nen Jahre hat uns überhaupt nicht vorangebracht:
too little, too late .
Erst bekam Bundesminister Dobrindt jahrelang keinGeld, und jetzt dürfte es für die Breitbandziele der Bun-desregierung deutlich zu spät sein . Laut Breitbandatlaswaren Ende 2015 erst 70,1 Prozent der Haushalte mit50 Mbit/s versorgt . Wie bitte schön sollen denn bis 2018die restlichen 30 Prozent geschafft werden?
Das vorliegende Gesetz wird hier – so viel können wirmit Sicherheit sagen – nur ein Tropfen auf den heißenStein sein . Es wird jedenfalls nicht dafür sorgen, dassDeutschland über Nacht zum Gigabitland wird . Dafürbraucht es dann tatsächlich Investitionen in Milliarden-höhe .
Und auch hier: too late . Das DigiNetz-Gesetz ist die Um-setzung der EU-Kostensenkungsrichtlinie . Nur: Die istja schon zwei Jahre alt, und sie hätte bis zum 1 . Januar2016, also vor über fünf Monaten, umgesetzt sein müs-sen . Droht da etwa ein Vertragsverletzungsverfahren?Und es sieht nicht so aus, als ob dieses Gesetz problem-los durch den Bundesrat ginge . Wer sich die Stellung-nahme des Bundesrates und die Entgegnung der Bundes-regierung anschaut, merkt ganz schnell: Da gibt es nocheinige ungeklärte Differenzen . Alles in allem: Kein guterStart für dieses Gesetz .
Die Umsetzung der Kostensenkungsrichtlinie soll –wenig überraschend – Kosten senken . Bis zu 80 Prozentder Breitbandausbaukosten entfallen auf den Tiefbau .Die Bundesregierung glaubt, dass durch Mitverlegungvon Rohren der Ausbau bis zu 25 Prozent weniger kos-ten würde . Wir haben heute schon gehört: Angesichts derGesamtkosten für einen flächendeckenden Netzausbauvon geschätzten 80 Milliarden Euro sollen das bis zu20 Milliarden Euro sein, so der Gesetzentwurf .Aber mal ehrlich: Jedem Controller würde bei dieserMilchmädchenrechnung ganz schön schwindelig wer-den . Ihre Rechnung funktioniert nämlich nur, wenn mandavon ausgeht, dass ein flächendeckender Glasfaseraus-bau auch zu 100 Prozent durch Mitverlegung realisiertwerden würde . Tatsächlich wird hier eine Datenlückekaschiert . Es gibt keine Aussage dazu, in welchem Aus-maß die bisher nicht mit mindestens 50 Mbit/s versorgtenGebiete durch Mitverlegung erschlossen werden können .Nur auf diesen Anteil wäre das Einsparpotenzial auch zuberechnen .Einfacher gesagt: Es ist schön und gut, eine EU-Richt-linie zur Kostensenkung umzusetzen, sie kann aber einGesamtkonzept zum Breitbandausbau nicht ersetzen .
Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass bei mit öffentlichenMitteln finanzierten Bauarbeiten im Verkehrsbereichoder bei der Erschließung von Neubaugebieten nicht nurLeerrohre, sondern auch Glasfaserkabel mitverlegt wer-den sollen, auch wenn es für das Netz noch gar keinenBetreiber gibt . Leerrohre verstehe ich . Aber warum solldie öffentliche Hand Glasfaserkabel verlegen, wenn eskeinen Betreiber gibt? Das erscheint nur auf den erstenBlick sinnvoll, auf den zweiten drohen Fehlinvestitionen;Tabea Rößner
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denn Versorgungsunternehmen sind nicht zwangsläu-fig Experten für Telekommunikationsnetze. Sie könnennicht beurteilen, welche Technik zu welchem Zeitpunktverbaut werden muss, welcher Typ von Glasfaser ver-wendet werden soll oder wo beispielsweise ein Tech-nik-Shelter benötigt wird .Ohne ein überregionales Ausbaukonzept und einekonkrete Netzplanung nützt auch das Verlegen von Ka-beln nichts. Darum finde ich es weitaus sinnvoller, wennerst einmal nur Leerrohre verlegt werden, die die Be-treiber später nutzen können . Das spart den KommunenGeld, und trotzdem werden die Kosten für die Tiefbauar-beiten gesenkt . Damit schlägt man zwei Fliegen mit einerKlappe .
Für mich ist auch nicht nachvollziehbar, warum es denAnspruch auf Anschluss eines Gebäudes an ein Hochge-schwindigkeitsnetz gibt, aber keine Vorgaben für die ge-bäudeinterne Infrastruktur . Es wäre doch sinnvoll, wennvor allem größere Gebäude wie Bürogebäude oder großeMietshäuser vom Keller bis zu den Wohnungen von An-fang an mit Infrastruktur für Hochgeschwindigkeitsnet-ze ausgestattet wären . In Spanien gibt es entsprechendeRegelungen . Da frage ich mich: Warum nicht auch hier?
Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dass esreicht, wenn Inhouseklingeldraht verlegt wird, womög-lich gar direkt auf den Beton getackert, statt Leerrohre,die man später auch für Glasfaser nutzen könnte . Das istso von gestern, das kann man kaum glauben .Ich frage mich auch: Warum nutzen Sie nicht die Ge-legenheit zu einer umfassenden Open-Access-Verpflich-tung? Wenn Unternehmen dadurch Geld sparen, dass sieLeerrohre mitbenutzen können oder sich die Kosten fürBauarbeiten sparen, entsteht ihnen doch sozusagen eingeldwerter Vorteil . Der sei ihnen ja gegönnt, aber im Ge-genzug wäre es doch nur konsequent, wenn diese Unter-nehmen dann auch andere Anbieter auf ihre Leitungenlassen würden . Schließlich wollen wir mit dem Gesetznicht die Entstehung neuer Monopole fördern, sondernwir wollen einen funktionierenden Infrastrukturwettbe-werb ermöglichen. Ich finde, darüber könnten Sie ruhigeinmal nachdenken .Sehr geehrte Damen und Herren, „Deutschland hatkein schnelles Internet“, und bis 2018 – so viel deutetsich an – werden wir auch keins haben .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Schluss . – Denn Deutschland hat
auch keine schnelle Bundesregierung . Dieser Gesetzent-
wurf setzt zwar größtenteils eine EU-Richtlinie sinnvoll
um, nur kommt diese Umsetzung reichlich spät . Wenn
Minister Dobrindt sagt: „Bandbreite für alle“, dann
hoffentlich auch für sein Ministerium . Es wird nämlich
höchste Zeit, dass das Ministerium auch einmal seine Ar-
beitsgeschwindigkeit erhöht .
Vielen Dank .
Thomas Jarzombek ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauRößner, Sie haben hier gerade ein Bild skizziert – dakommen einem ja fast die Tränen .
Ich weiß nicht, ob es eine kluge Strategie der Oppositionist, wenn man das Land immer schlechtredet . Das bringtSie nicht nach vorne .
– Wenn sich dem schon Leute aus der SPD anschließen,finde ich das gefährlich für die SPD und ihre Perspektivein der nächsten Legislaturperiode .Meine Damen und Herren, wenn wir über die Fra-ge reden, ob Deutschland ein schnelles Internet hatoder nicht, dann schauen wir doch mal auf Zahlen, die BITKOM im Jahr 2014 veröffentlicht hat . Die Frage war,wie hoch eigentlich die tatsächliche Nutzung von Inter-netanschlüssen ist . Dieser Punkt ist doch viel entschei-dender als die Frage, was theoretisch möglich ist . Undsieh an: Deutschland liegt deutlich über dem EU-Durch-schnitt, auf Platz 5; denn 85 Prozent der Haushalte nut-zen Breitbandanschlüsse . Auf Platz 1 liegt Finnland mit88 Prozent . Das heißt, wir sind hier in der absoluten Spit-zengruppe .Bei der Diskussion über Gigabit und Glasfaser undalle möglichen anderen Technologien, die wir hier im-mer wieder führen, vergessen wir manchmal einen ganzentscheidenden Punkt: Es kommt nicht nur auf die Ge-schwindigkeit des Internets an, sondern auch darauf,dass Menschen es sich leisten können. Das, finde ich,ist ein ziemlich wichtiges Argument . In den 20 Jahren,die mittlerweile seit der Liberalisierung des Telekom-munikationsmarktes vergangen sind, sind die Preise he-runtergegangen . Im Gegensatz zu manchem, der das alsProblem beschreibt, empfinde ich das überhaupt nicht alsProblem . Ich glaube, es ist gut, dass sich auch Menschenohne ein hohes Einkommen in Deutschland einen Breit-bandinternetanschluss leisten können .
Tabea Rößner
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Das ist der Grund, warum die Nutzung in Deutschlandmöglicherweise höher ist als in anderen Ländern .Ziehen wir den Vergleich mit den USA . Da gibt eseine ganz andere Situation: Die Versorgung ist dort ge-rade in den ländlichen Räumen extrem schlecht . Da kannman in der Regel bei AT&T wählen, ob man einen An-schluss mit 3 oder 6 Mbit haben will . Und dann ist mannoch verdammt gut im Rennen . In vielen Bereichen siehtes noch deutlich schlechter aus .
Schauen wir auf die Glasfasernetze in Städten derUSA. Da findet man Angebote für 150 Dollar im Mo-nat . So, wie man es vielleicht von amerikanischen Un-ternehmen fast erwarten würde, wird das Nutzerverhal-ten manchmal auch noch vom Netzbetreiber analysiert,damit den Nutzern bessere Werbung zugeschickt werdenkann . Wenn man das nicht will, muss man noch einmalmehr bezahlen . Ich möchte nicht, dass Deutschland einLand ist, in dem man 150 Euro im Monat zahlen muss,um an das Internet angeschlossen zu werden .
Deshalb ist das, was die Regierung macht, gut, und sie isthier auch flott unterwegs.Frau Kollegin Rößner, Sie haben vorhin gesagt, wirhätten hier irgendwelche Schwierigkeiten, eine Kosten-senkungsrichtlinie der EU umzusetzen . Die Wahrheit ist,dass wir schon im Jahre 2012 eine Novelle des Telekom-munikationsgesetzes verabschiedet haben und wir vieleder Dinge, die später in der Richtlinie standen, hier imDeutschen Bundestag schon vor vier Jahren implemen-tiert haben .
Wir legen jetzt auch an bestimmten Stellen nach . Umdie konkreten Punkte zu benennen: Nachdem wir dieTKG-Novelle 2012 verabschiedet haben, ging es darum,dass Kabelschächte mitgenutzt werden können . Das ers-te Unternehmen, das dies beantragt hat, war eine däni-sche Firma, die Kabel zur Insel Sylt verlegen wollte . Siewollte in den wunderbaren Schächten, die die DeutscheBahn dort dank des Hindenburgdamms hat, über den manschön mit dem Zug nach Sylt fahren kann, Kabel verle-gen . Dann gab es jahrelangen Streit, jahrelanges Thea-ter, aber am Ende hat man sich durchgesetzt . Die Kabelwurden verlegt, und das ist auch richtig . Ich weiß: Tech-niker hassen nichts mehr, als wenn andere Techniker inihrer Infrastruktur herumfummeln . Das ist so; das kannich auch absolut nachvollziehen . Aber: Wir müssen ebendiese passiven Infrastrukturen nutzen .Sie haben vorhin etwas über Glasfaserkabel gesagt,die jetzt beim Bau von Straßen verlegt werden sollen . Ichfahre morgens gerne schon mal mit dem Fahrrad über dieKarl-Liebknecht-Straße – so gerne fahre ich da eigentlichauch nicht .
Da war vier Monate lang eine irre Baustelle .
Der ganze Verkehr stand still, die ganze Straße wurdeaufgerissen . Irgendjemand hat mir gesagt, dass da neueLeitungen und Kanäle verlegt werden . Da habe ich michjeden Morgen, als ich da vorbeigefahren bin: Warum legtda keiner ein Glasfaserkabel rein? Jetzt ist alles wiederzubetoniert, und es sind keine Kabel da .Was wir künftig brauchen, sind Glasfaserkabel in denStraßen, an denen Laternen stehen . Unser Ziel ist dochdie fünfte Mobilfunkgeneration, und dafür brauchen wiralle 200 Meter Sender . Wo sollen die denn hin? Das kannja nur an Straßenlaternen und an ähnlichen Infrastruktu-ren passieren . Wenn doch sowieso schon Leitungen undKanäle verlegt werden, dann sollten wir das reine, unbe-schaltete Kabel, das sogenannte Dark Fiber, dort verle-gen . Damit ist noch keine technologische Entscheidunggetroffen . Das ist einfach nur ein dumpfes Stück passiverInfrastruktur, das erst dann aktiv wird, wenn es beleuch-tet wird . Das wird dann die Entscheidung von Betreibernsein .
Ich möchte der Bundesregierung ein Kompliment ma-chen: Wir haben in dieser Wahlperiode vieles erreicht .Das Erste ist: Wir haben die Frequenz im Bereich700 Megahertz bereitgestellt . Ab dem nächsten Jahr gibtes doppelt so schnelles Breitbandinternet . Auch hier sindwir Vorreiter in Europa . Wir verhandeln gerade, dass dasab 2020 europaweiter Standard wird . Wir bekommen imnächsten Jahr auch noch Full HD über Antennenfernse-hen – ein sehr positiver Nebeneffekt für die Medienpoli-tiker, weil es so wieder attraktiv wird .Zweitens . Wir haben zum ersten Mal ein richtigesBreitbandförderprogramm in Deutschland mit einemVolumen von 2,7 Milliarden Euro aufgelegt . Das läuftjetzt im ländlichen Raum an . Die Regierung arbeitet echtschnell und hat schon viele Förderbescheide erteilt .Drittens . Wir bringen ein DigiNetz-Gesetz auf denWeg, damit Neubaugebiete an das Glasfasernetz ange-bunden werden, damit überall, wo die Straße aufgemachtwird, Kabel verlegt werden . So werden wir auch in die-sem Bereich besser .Viertens . Wir haben endlich die Störerhaftung beimWLAN beseitigt . Das ist ein großer Schritt; denn irgend-was muss man mit den Gigabitanschlüssen doch anfan-gen können .
Insofern: Teilen ist doch eine gute Sache an dieser Stelle .
Fünftens . Wir sorgen für Netzneutralität auf europä-ischer Ebene . Sie liegen ganz schön schief, wenn SieThomas Jarzombek
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wieder einen nationalen Alleingang machen wollen . Dasführt nur zu einem Flickenteppich .Sechstens . Wir wollen Netze der fünften Generationschaffen . Dafür schafft das DigiNetz-Gesetz exzellenteGrundlagen für Datenleitungen .Ich freue mich auf die Beratung der unzähligen De-tails . Wir werden in den nächsten Wochen sicherlichnoch einiges zu tun haben . Ich glaube aber, mit diesensechs Maßnahmen werden wir den Breitbandausbau inDeutschland substanziell nach vorne bringen .Vielen Dank .
Lars Klingbeil ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill ausdrücklich sagen, dass der Zugang zum schnellenInternet Grundlage für Wohlstand, für Wachstum, aberauch für Teilhabe in dieser Zeit ist und wir als Parlamentaufgefordert sind, sicherzustellen, dass dieser Zugangzum schnellen Internet überall in Deutschland stattfindenkann .Zugang schafft Zukunft . Wir reden hier im Parlamentin unterschiedlichsten Arbeitsgruppen und in Parlaments-debatten sehr viel und immer wieder über neue technolo-gische Entwicklungen, über Industrie 4 .0, über die Verän-derung der Arbeitswelt in Form von Arbeit 4 .0; über dasInternet der Dinge ist heute Morgen auch schon geredetworden . Ich sage Ihnen: Wir als Parlament müssen daraufachten, dass diese technologischen Entwicklungen, dieseZukunftsentwicklungen überall in Deutschland stattfin-den können und dass das nicht nur ein Thema ist, dasin den Großstädten eine Rolle spielt . Die Sicherung derZukunftschancen und das Bemühen um Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse, das ist unsere Aufgabe, die wirals Parlament haben . Ich möchte, dass auch der ländlicheRaum von einem Zugang zum schnellen Internet profi-tiert, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wenn ich in meinem Wahlkreis in der LüneburgerHeide unterwegs bin und dort auf Bürgermeister treffe,dann ist der Zugang zum schnellen Internet häufig dasThema Nummer eins . Über Zugang zum schnellen In-ternet entscheidet sich heutzutage die Perspektive einerKommune im ländlichen Raum . Wenn man mit Neubür-gern redet, dann stellt man fest, dass Entscheidungen, woman hinzieht, auch anhand der Frage getroffen werden:Bekomme ich dort Zugang zu schnellem Internet?
Wenn ich mit Unternehmen rede, muss ich feststellen,dass Unternehmen abwandern, leider auch bei mir imWahlkreis, wenn sie keinen Zugang zu schnellem Inter-net haben . Es geht hier wirklich um die Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse . Wir sehen an diesen Entwicklun-gen auch, dass digitale Infrastruktur die Zukunftsvoraus-setzung Nummer eins ist .Liebe Kollegin Rößner, ich will hier deutlich sagen:Man kann sich immer mehr wünschen, und Sie wissen,dass auch wir in der SPD Druck machen, damit mehrpassiert . Aber der Vorwurf an diese Regierung, hier wärenichts passiert, ist schlichtweg falsch . Es ist viel passiertin dieser Koalition,
und wir haben schon vieles auf den Weg gebracht, umdigitale Infrastruktur zu sichern .Wir setzen heute die Kostenreduzierungsrichtlinie derEU um . Das mag angesichts der einzelnen darin enthal-tenen Schritte recht banal klingen . Auf einmal redet mandarüber, ob wir Leerrohre mitnutzen können, ob wir beider Erschließung von neuen Wohngebieten auch auto-matisch Glasfaser verlegen . Das mag erst einmal banalklingen, aber es ist notwendig, dass wir das heute auf denWeg bringen . Außerdem ordnet sich das in ein Gesamt-konzept ein, das wir als Große Koalition seit zweieinhalbJahren verfolgen .Ich will an die Punkte anschließen, die KollegeJarzombek aufgeführt hat – auch Martin Dörmann hatdarauf hingewiesen –: Wir haben im Koalitionsvertragdas Ziel formuliert, mindestens 50 Mbit/s bis 2018 flä-chendeckend zur Verfügung zu stellen . Wir arbeiten sehrhart an diesem Ziel . Ich bin mir recht sicher: Wir wer-den dieses Ziel erreichen . Damit schaffen wir eine guteGrundlage in Deutschland .Wir haben gestern den Durchbruch beim Thema „offe-nes WLAN“ erreicht .
Es ist ein ganz wichtiger Punkt für die digitale Infrastruk-tur, dass wir jetzt überall in Deutschland flächendeckendoffene WLAN-Netze bekommen werden . Ein großerDank an den Koalitionspartner, dass wir gestern denDurchbruch hinbekommen haben . Das ist ein ganz wich-tiges Signal für die digitale Infrastruktur in Deutschland .Wir werden bald Innenstädte mit offenen WLAN-Netzenhaben, die aus diesem Grund aufblühen . Dafür ein großesDankeschön .
Nachdem wir die Grundlagen für eine Grundversor-gung mit 50 Mbit/s und für offene WLAN-Netze ge-schaffen haben, geht es jetzt darum, darüber zu reden,wie wir endlich eine Glasfaserstrategie in Deutschlandumsetzen können . Wir müssen doch selbstkritisch fest-stellen, dass wir diesbezüglich bei weitem noch nichtThomas Jarzombek
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so weit sind, wie wir eigentlich sein müssten . In SachenGlasfaserausbau liegen wir sogar hinter Rumänien; dasstreitet hier keiner ab . Wir haben aber bereits einigesgemacht, und wir wollen jetzt als Große Koalition nocheins draufsetzen . Der Gesetzentwurf zur Umsetzung derKostenreduzierungsrichtlinie, den wir heute in erster Le-sung beraten, ist dabei ein weiterer wichtiger Schritt: Wirwollen Synergien nutzen, wir wollen Informationen zurVerfügung stellen, und wir wollen schauen, was wir beiNeubauten verbessern und wie wir Neubaugebiete besseranschließen können . Wir werden den Bürokratieabbauvorantreiben . Wir machen Tempo beim Glasfaseraus-bau . Es wird eine neue Dynamik entstehen . Ich will denSkeptikern entgegenhalten: Lassen Sie sich überzeugen,dass dieses Gesetz, das wir hier verabschieden werden,am Ende zu mehr Glasfaser in Deutschland führen wird .
Wir führen aktuell auch eine Debatte über Vectoring .Das Vectoring wird jetzt erst einmal durch die Europäi-sche Kommission vertieft geprüft . Ich hoffe, wir erhaltenmit Blick auf die Förderung von Vectoring schnell Klar-heit. Es wurden auch hier im Parlament schon häufig De-batten darüber geführt, ob Vectoring die richtige Strate-gie ist oder nicht . Wir brauchen jetzt aber Klarheit, wie esmit Vectoring weitergeht . Herr Dobrindt, ich hoffe, dassdiese Debatte über Vectoring nicht zu einer erheblichenVerzögerung des von Ihnen geplanten Breitbandausbausführt . Wir brauchen eine schnelle Klärung .Wir als Parlament müssen uns aber auch bewusstmachen, dass Vectoring nur eine Brückentechnologieist . Wir müssen auf Glasfaser setzen . Daran müssen wirarbeiten . Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat vorge-schlagen, im Rahmen der „Digitalen Strategie 2025“ eineGlasfaserstrategie auf den Weg zu bringen . Ich wünschemir, dass wir als Parlament gemeinsam daran arbeiten,dass wir in Deutschland mehr Glasfaser bekommen .Das, was heute vorliegt, ist ein guter Auftakt . Daswird aber nicht ausreichen . Wir müssen als Bundesregie-rung und Bundestag diesbezüglich noch mehr tun . Aberauf alle Fälle ist es ein guter Auftakt . Im Rahmen des Ge-setzgebungsverfahrens werden wir natürlich schauen –Martin Dörmann hat es vorhin gesagt –, wo wir diesenGesetzentwurf noch verbessern können . Das ist aber einweiterer richtiger Schritt, um die digitale Infrastruktur inDeutschland auszubauen und zu verbessern und damitfür die Zukunftsfähigkeit des Landes zu sorgen .Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Schnieder für
die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Leistungsfähige Breit-bandinfrastruktur ist Teil der modernen Daseinsvorsor-ge. Ohne flächendeckende Breitbandversorgung wirdDeutschland insgesamt nicht zukunftsfähig, nicht wett-bewerbsfähig sein: Wir hätten keine flächendeckendeTeilhabe an diesem Medium, die Konkurrenzfähigkeitder deutschen Wirtschaft würde leiden, und auch gleich-wertige Lebensverhältnisse in Deutschland wären ohneflächendeckende Breitbandversorgung nicht gewährleis-tet . Deshalb ist es ein wichtiges Ziel – dies haben wir unsja gesetzt –, bis 2018 eine flächendeckende Versorgungmit einer Mindestbandbreite von 50 Mbit/s zu verwirk-lichen .
– Das ist in der Tat ein Zwischenschritt, ein Zwischen-ziel, weil wir wissen, dass der heutige Maßstab morgenschon nicht mehr ausreichen wird .Diese Bundesregierung hat in den letzten Jahren enor-me Anstrengungen unternommen, um dieses Ziel, diesesZwischenziel zu erreichen, und die Weichen gestellt,um die Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Infra-struktur in Deutschland zu schaffen . Dazu zählt nicht nurdas Breitbandförderprogramm, das der Bund aufgelegthat – schon nach den ersten Förderbescheiden könnenwir feststellen, dass es einen enormen Anschub gibt –,sondern auch die Abschaffung der Störerhaftung, diewir gestern auf den Weg gebracht haben, wodurch eineflächendeckende WLAN-Versorgung möglich wird. Mitdem Entwurf eines DigiNetz-Gesetzes, das wir heute inerster Lesung beraten, unternehmen wir einen weiterenwichtigen Schritt . Das muss man zusammen als Strate-gie betrachten . Zwar sind all diese Punkte auch für sichgenommen wichtig, aber eine Maßnahme alleine wirdkeinen Fortschritt bringen . Deshalb kann ich nur sagen:Das, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, und dieMöglichkeiten, die wir mit dem DigiNetz-Gesetz schaf-fen wollen, werden dem Breitbandausbau in Deutschlandweiteren Schub geben .
Ich will den Blick nicht nur auf die Wettbewerbsfä-higkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Ver-gleich richten, sondern ich möchte den Blick auch auf dieRegionen in Deutschland legen . Wir haben dort noch einUngleichgewicht . Gerade in ländlichen Regionen habenwir viele weiße Flecken . Deshalb ist es wichtig, dass wirden Blick auch auf diese ländlichen Regionen richten .Liebe Frau Kollegin Rößner, Sie sagen, dass wir keinschnelles Internet haben .
Aber Sie und auch wir beide wissen, dass das so nichtstimmt .
Wir haben viele Regionen, in denen wir noch nicht aus-reichend schnelles Internet haben . Wir wissen aber auch –wir beide zumal, die wir aus Rheinland-Pfalz kommen –,Lars Klingbeil
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dass gerade dieses Bundesland, in dem Ihre Partei mitre-giert hat und weiter mitregiert, nach der TÜV-Studie undauch nach anderen Studien im letzten Drittel der Bun-desländer beim Breitbandausbau liegt . Sie können dochfroh sein, dass der Bund nicht nur so viele Mittel in dieHand nimmt, sondern auch mit Gesetzesinitiativen wieder vorliegenden die Weichen stellt, dass wir gerade inländlichen Räumen, in unterversorgten Räumen endlicheinen ordentlichen Schritt nach vorne kommen .
Da wir schnell vorankommen wollen, da wir denAusbau nachhaltig gestalten wollen, das heißt mit einerzukunftsfähigen Technologie, also mit dem ganz schnel-len Internet, da wir angesichts der hohen Investitionenkostengünstig bauen wollen, ist das DigiNetz-Gesetzein wichtiger Meilenstein bei der Umsetzung der Breit-bandstrategie . 80 Prozent der Kosten, die anfallen, sindGrabungskosten . Deshalb ist es ein wichtiger Schritt,dass wir die Mitbenutzung von vorhandener Infrastruk-tur regeln und die Verlegung von Glasfaser bei größerenöffentlichen Baumaßnahmen zur Pflicht machen. Außer-dem schaffen wir Informationsmöglichkeiten . Ich willhier nicht beckmesserisch über den letzten Euro reden .Aber wer infrage stellt, dass wir damit wesentlich Kosteneinsparen, der geht an der Wirklichkeit vorbei .
Herr Kollege Schnieder, darf die Kollegin Rößner
eine Zwischenfrage stellen?
Aber bitte sehr .
Kollege Schnieder, vielen Dank, dass ich diese Zwi-
schenfrage stellen darf . Sie wissen – wir kommen beide
aus Rheinland-Pfalz –: Die Landesregierung hat erstmals
in der letzten Wahlperiode Geld in die Hand genommen .
Deshalb frage ich Sie: Wie viel Geld hat denn die Bun-
desregierung für den Breitband- und insbesondere auch
Glasfaserausbau in den vergangenen Jahren in die Hand
genommen, um tatsächlich nach vorne zu kommen?
Wie viel Geld wird in der Zukunft tatsächlich eingespeist?
Ich meine jetzt nicht das Geld, das über die Frequenzver-
steigerung eingenommen wurde; denn die Frequenzen
fallen zum Teil in die Länderkompetenz . Insofern ist es
nicht originär Geld, das der Bund aus seinem Haushalt
zur Verfügung stellt .
Also, was zahlt die Bundesregierung darüber hinaus tat-
sächlich für den Breitbandausbau?
Liebe Frau Kollegin Rößner, ich bin für diese Fra-
ge sehr dankbar . Bevor wir jetzt einmal herausrechnen,
was über die Versteigerung hinaus zusätzlich verausgabt
wird, muss man zunächst einmal feststellen, dass das
Land Rheinland-Pfalz in den letzten vier Jahren in sum-
ma 28 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat . Nach
Adam Riese und Eva Zwerg sind das 7 Millionen Euro
pro Haushaltsjahr .
Schauen Sie einmal, was die Bayern machen: In vier Jah-
ren bis 2018 1,5 Milliarden Euro!
Allein das zeigt, wo das Land Rheinland-Pfalz, in dem
Ihre Partei an der Regierung beteiligt ist, steht . Deshalb
sollten wir alle froh sein, dass der Bund endlich die Ini-
tiative ergreift, damit wir flächendeckend eine vernünf-
tige Versorgung mit schnellem Internet in Deutschland
bekommen
und dass auch die Länder, die das bisher nicht so prioritär
gesehen haben, endlich einen ordentlichen Anschub vom
Bund bekommen, dort mehr zu tun .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, das DigiNetz-Gesetz ist das Ergeb-
nis guter Arbeit . Wo noch nachgebessert werden muss,
werden wir das auch tun .
Eines steht fest: Noch nie wurde in einer Legislatur so
viel für den Breitbandausbau bewegt . Das DigiNetz-Ge-
setz ist der nächste wichtige Baustein, mit dem wir den
Abstand auf die führenden Breitbandnationen weiter ver-
kürzen . Deshalb spreche ich ein großes Lob und große
Anerkennung an die Bundesregierung, an unseren Minis-
ter und an die Kolleginnen und Kollegen, die das mit auf
den Weg gebracht haben, aus .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribü-ne haben der Präsident der Staatsversammlung derRepublik Slowenien, Milan Brglez, und seine Delega-tion Platz genommen, die ich im Namen aller Kollegin-Patrick Schnieder
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nen und Kollegen des Bundestages herzlich hier bei unsbegrüßen möchte .
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirfreuen uns über die gute und immer engere Zusammenar-beit zwischen unseren Ländern, insbesondere auch zwi-schen unseren Parlamenten, und ganz besonders über dieauch gestern in den Gesprächen noch einmal bekräftigteAbsicht zur Zusammenarbeit bei notwendigen gemeinsa-men europäischen Lösungen für die großen Herausforde-rungen, vor denen wir stehen . Alles Gute für Ihr weiteresparlamentarisches Wirken!Nächster Redner ist der Kollege Udo Schiefner für dieSPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um
einen wichtigen Schritt hin zu einer leistungsfähigen di-
gitalen Infrastruktur . Ich möchte betonen: Der Bund und
die Koalition müssen sich hier nicht verstecken . Wir tun
in diesem Bereich Erhebliches, und wir stellen auch er-
hebliche Mittel zur Verfügung .
Dies ist eine wichtige und richtige Entscheidung dieser
Regierungskoalition .
Wir wissen, dass für Hochgeschwindigkeitsnetze
erhebliche Investitionen erforderlich sind . Dabei geht
es nicht darum, ob in Millisekunden Bilder von uns im
Wahlkreis ankommen .
Dabei geht es auch nicht nur darum, dass Bilder auf
Facebook schnell verschickt werden können . Es geht um
wesentlich mehr; das wissen auch wir im – wie es der
Minister immer sagt – „Ausschuss für Mobilität und Mo-
dernität“ .
Ich möchte heute Morgen nur ein Thema, das in die-
sem Ausschuss eine Rolle spielt, beleuchten, nämlich das
Thema „Transport und Logistik“; denn gerade in diesem
Bereich ist Digitalisierung viel mehr als ein knackiges
Schlagwort oder eine schöne Zukunftsfantasie . Für die
Unternehmen der Logistikbranche ist modernste Daten-
infrastruktur bereits heute wettbewerbsentscheidend .
Wo Industrieproduktion und Logistik perfekt mit-
einander verbunden sind, können Synergien genutzt
werden . Produktionsabläufe können beschleunigt, Lie-
ferfristen verkürzt und Prozesse standardisiert werden .
Wir erwarten von den Transporteuren im Kleinen und
im Großen, dass sie schnell, effizient, kostengünstig und
zuverlässig liefern . Transport und Logistik bilden das
Rückgrat unserer Industrie, unserer Wirtschaft und unse-
res täglichen Lebens . Der Wirtschaftsstandort Deutsch-
land hängt in hohem Maße von leistungsfähiger Logistik
und diese wiederum von leistungsfähiger Infrastruktur
ab, meine Damen und Herren .
Hochgeschwindigkeitsnetze brauchen wir nicht für ein
Navi oder für zuverlässige Stauwarnungen; das bekom-
men wir heute schon hin . Es geht um gewaltige Daten-
mengen, die versandt, ausgewertet und nutzbar gemacht
werden müssen . Diese Datenmengen vertausendfachen
sich alle zehn Jahre . Beim sicheren Datenaustausch geht
es auch um Big Data . „Big Data“ bedeutet, maximale Da-
tenmengen zu erfassen und auszuwerten . Aus der Masse
der Daten können Muster herausgefiltert und im besten
Falle intelligente Schlüsse gezogen werden .
Meine Damen und Herren, der Verkehrsfluss kann
dauernd ausgewertet, Gefahren und Behinderungen kön-
nen in Echtzeit erkannt werden . Möglich ist das alles nur
mit modernster Infrastruktur . Dafür setzen wir uns in die-
ser Koalition ein, und wir setzen auch Signale . „Modern“
bedeutet, dass jeder Ort in Deutschland digital in Hoch-
geschwindigkeit erreichbar werden muss . Indem wir das
sicherstellen, stellen wir auch die Leistungs- und Wett-
bewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sicher . Ich kann nur
dazu auffordern, dieses Thema sachlich anzugehen und
uns zu unterstützen, statt immer nur zu kritisieren .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerBreitbandausbau ist ein absoluter Kernbereich und einabsolutes Kernthema der Infrastruktur . Nicht umsonstheißt das Ministerium inzwischen Bundesministeriumfür Verkehr und digitale Infrastruktur . Liebe KolleginRößner, auch dieser Bereich kann in den letzten Wochenund Monaten eine hervorragende Leistungsbilanz vorle-gen .
Lieber Bundesminister, dafür ein herzliches Dankeschön .
Wir wissen, wo wir angefangen haben und wo wir heu-te stehen . Da brauchen Sie nicht mit dem Daumen nachunten zu zeigen, Frau Kollegin Rößner . Ich werde Ihnenjetzt noch zwei Ihrer Fragen beantworten, damit es rich-tig peinlich für Sie wird .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Wir haben als erstes Land in Europa die Rundfunkfre-quenzen versteigert .
– Das stimmt, danke sehr . – Dieses Geld haben wir kon-sequent auch in den Ausbau der digitalen Infrastrukturgesteckt . Bund und Länder haben dies gemeinsam getan .
– Das stimmt auch .Zu Ihrer Frage, wie viel Geld der Bund gibt: Der Bundgibt über das Zukunftsinvestitionsprogramm noch ein-mal über 1 Milliarde Euro aus den zusätzlichen 10 Milli-arden Euro . Stimmt das?
– Ja, das stimmt auch . – Liebe Frau Kollegin Rößner, ins-gesamt sind das 2,7 Milliarden Euro von der Bundesseitefür den Breitbandausbau . Ich glaube, da geht es jetzt inerster Linie darum, dass dieses Geld auch tatsächlich ab-gerufen, eingesetzt und verbaut wird, und darum, dasswir wirklich das schnelle Internet bekommen .
Die Anzahl der Förderbescheide, die in den letztenWochen von unserem Ministerium herausgegeben wer-den konnten, zeigt auch: Es ist etwas in Bewegung ge-kommen in dieser Republik dadurch, dass wir das ange-packt haben .
Es ist dadurch deutlich mehr in Bewegung gekommen,als in den letzten Monaten und Jahren in den Ländern –mit Ausnahme Bayerns, dort waren es 1,5 MilliardenEuro; auch das stimmt – in Bewegung gekommen war .Insofern ist Ihre Kritik nicht nur unberechtigt, sie ist ge-radezu falsch . Packen Sie selbst an in den Ländern, indenen Sie mitregieren – und es sind ja nicht wenige –,und nehmen Sie sich an Bayern ein Beispiel!
– Nein, Sie waren schon dran .
Jetzt zum DigiNetz-Gesetz: Es ist ein weiterer echterHebel, den wir auf den Weg bringen . Es ist, wie es vorhinschon angesprochen wurde, ein Hebel, der auf einer Ideeder letzten Bundesregierung basiert .
– Ich habe gesagt: Nein . Daran ändert sich auch nichts .
Sie können sich aber ruhig noch ein paar Mal melden . –Der Kollege Jarzombek hat es schon gesagt: Hier wirdeine Idee der letzten Bundesregierung aufgenommen unddurch die Europäische Kommission weiterentwickelt .
– Ja, Frau Kollegin, wir können das nachher auf den Plät-zen klären . Sie können sich schon einmal hinten anmel-den .Wir haben hier also eine Idee aufgegriffen und weiter-entwickelt: konsequente Öffnung alternativer Netzinfra-struktur, mehr Transparenz und – auch das ist wichtig –schnelle Entscheidungen durch die Bundesnetzagentur .Und eines ist klar: Wird eine Straße aufgegraben, dannsollte und muss dort Glasfaser verlegt werden .All das sind wichtige Entscheidungen . Es sind wich-tige Dinge, die wir mit diesem Gesetz auf den Weg brin-gen . Wir von der Koalition setzen damit auch das um,was wir mit unserem Antrag im Sommer 2014 schon mitauf den Weg gebracht und definiert haben. Wir haben hieralso gemeinsam konsequent gehandelt .Im parlamentarischen Verfahren werden wir sicher ander einen oder anderen Stelle noch einmal genauer hin-schauen müssen, zum Beispiel, wenn es um das Thema„Glasfaserleitungen zu den Häusern“ und um die Fragegeht, wie wir in den Häusern konkret damit umgehen .Dazu werden wir im Rahmen eines guten parlamenta-rischen Verfahrens Expertenanhörungen im Ausschussdurchführen .Ich bin mir sicher: Am Ende werden wir ein sehr gutesGesetz erreichen, durch das alle Regionen Deutschlandsmit schnellem Internet versorgt sein werden .Danke schön .
Ich schließe die Aussprache .
Bevor wir nun über die Überweisung des vorliegen-
den Gesetzentwurfes entscheiden, bekommt die Kollegin
Rößner Gelegenheit zu einer Erklärung zur Aussprache
nach § 30 unserer Geschäftsordnung .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Ich hätte gerne nocheine Frage an den Kollegen Lange gestellt, der mich jaangesprochen hat, und zwar, inwieweit die Koalition zurKenntnis nehmen möchte und was sie dazu zu sagen hat,dass wir im internationalen Ranking nicht besonders gutdastehen . Vielleicht sind Ihnen die Zahlen nicht bekannt,aber beim Glasfaserausbau steht Deutschland im europä-ischen Ranking auf Platz 28 und weltweit auf Platz 51 .
Das ist für eine führende Industrienation nicht besondersgut .Ulrich Lange
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 2016 16703
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Ich hätte gerne noch einmal eine Antwort auf die Fra-ge bekommen, wie die Koalition dazu steht, dass dieBundesregierung da in den vergangenen Jahren wirklichnicht die richtigen Weichen gestellt und das Land nichtvorangebracht hat .
Nein, auf Erklärungen zur Aussprache gibt es keineMöglichkeit der Erwiderung . Sie sollen ja nur der Klar-stellung eigener Äußerungen dienen .
Wir entscheiden nun über die interfraktionell empfoh-lene Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Druck-sache 18/8332 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse . Ich darf fragen, ob dagegen Widersprucherhoben wird . – Das ist nicht der Fall . Dann ist die Über-weisung so beschlossen .Wir kommen damit zu den Tagesordnungspunkten 4 abis 4 c:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDFluchtursachen bekämpfen – Aufnahmestaa-ten um Syrien sowie Libyen entwicklungspo-litisch stärkenDrucksache 18/8393Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Uwe Kekeritz, Tom Koenigs, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN25 Jahre Waffenstillstandsabkommen in derWestsahara – UN-Resolution 690 umsetzen,Referendum durchführenDrucksache 18/8247Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Dr . Frithjof Schmidt, ClaudiaRoth , Omid Nouripour, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENInterministerielle Zusammenarbeit bei derBewältigung der Fluchtkrise in DrittstaatenverbessernDrucksachen 18/6772, 18/8430Auch diese Aussprache soll nach einer Vereinbarungzwischen den Fraktionen 60 Minuten dauern . – Dazustelle ich wiederum Einvernehmen fest . Also können wirso verfahren .Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-nister Gerd Müller das Wort .
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Als ich das letzte Mal ein Projekt in Neu-Delhibesucht habe, fragte mich ein kleiner Junge mit funkeln-den, treuen Augen, ob er mit nach Deutschland kommendarf. Wir finanzieren dort ein Projekt für Kinder, dieMüll sammeln, um überleben zu können . 200 MillionenKinder in Indien leben in Not und Elend . Ich konnte denJungen nicht mitnehmen, aber ich habe ihm gesagt: Wirhelfen dir vor Ort .Dies ist eine entscheidende Botschaft: Wir müssenmehr vor Ort tun . Wir können die Probleme nicht da-durch lösen, dass wir alle Menschen hierher holen . Dasheißt aber, wir müssen mehr vor Ort tun .
Ich danke den Koalitionsfraktionen, dass wir dieses dra-matische Thema, diese Herausforderungen heute einmalgrundsätzlich diskutieren können .Der Antrag der Koalitionsfraktionen zeigt auf, dassdie Migrations- und Fluchtbewegungen unserer Zeit vie-le Ursachen haben, die weit über das hinausgehen, waswir tagesaktuell diskutieren . Dies ist eine Generationen-aufgabe und fordert von der Weltgemeinschaft eine ganzneue Dimension von globaler Zusammenarbeit und Ver-antwortung .
Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht .Die Ursachen dafür sind im Antrag sehr präzise beschrie-ben; ich empfehle wirklich, ihn zu lesen .
Das sind Naturkatastrophen, Stichwort „El Niño“ .10 Millionen Menschen sind auf der Flucht, weil eineDürrekatastrophe sie um ihr Leben fürchten lässt . AndereUrsachen sind natürlich Kriege, nicht nur in Syrien undim Irak . Wir denken auch an den Jemen und viele andereKrisenherde .Tabea Rößner
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Aber grundsätzlich geht es um eine Entwicklung, mitder wir uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten be-schäftigen müssen: eine dynamisch wachsende Weltbe-völkerung . Am heutigen Tag wächst die Weltbevölkerungum 250 000 Menschen . 80 Millionen Menschen kommenjedes Jahr neu auf unseren Planeten . Diese Menschenwollen essen und trinken . Sie brauchen Arbeit, sie brau-chen Zukunft .Es geht um das Thema Ernährungssicherung und umdie Bekämpfung des Hungers . Wir stehen vor der großenHerausforderung des Klimawandels . Wissenschaftler sa-gen uns: Sollten wir durch gemeinsame Anstrengungendas 2-Grad-Ziel nicht erreichen, so werden sich 100 oder200 Millionen Menschen in den nächsten Jahren undJahrzehnten auf den Weg in Richtung Norden machen,also auch in Richtung Europa. Auch Verteilungskonflikteund eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sindFluchtursachen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Pro-bleme werden in den kommenden Jahren eher zu- alsabnehmen . Was viele übersehen, auch in der Diskussi-on in Deutschland, ist, dass 90 Prozent der derzeitigenFlüchtlinge Aufnahme in Entwicklungs- und Schwel-lenländern finden. Nicht wir in den reichen Industrielän-dern – in Deutschland, in den europäischen Staaten undin den USA – sind die Hauptbetroffenen . Zwei Drittelder Flüchtlinge sind Binnenvertriebene im eigenen Land .Die Reaktion der reichen Industriestaaten wie der USAund Staaten der EU darf nicht auf Abwehr und Zurück-weisung beschränkt sein .
Es muss uns allen weltweit klar sein, dass wir heute ineinem globalen Dorf, in einer Welt leben und dass auchwir durch unseren Lebens-, Konsum- und Wirtschaftsstilfür die Ursachen der Krisen mitverantwortlich sind .
Wegducken vor der Verantwortung und Abschottungwird ebenso wenig die Lösung sein wie die Aufnahmealler potenziellen Flüchtlinge in Deutschland und denanderen Ländern Europas . Es bedarf vielmehr einer neu-en globalen Verantwortungsethik weltweiten Handels,das heißt einer neuen Partnerschaft zwischen Industrie-,Schwellen- und Entwicklungsländern .
Dazu brauchen wir Handlungskonzepte auf internatio-naler, europäischer und nationaler Ebene, die über dieaktuellen Antworten weit hinausgehen . Im Antrag derKoalitionsfraktionen sind dazu ganz wichtige Vorgabengemacht .
Ich möchte einige Punkte aufgreifen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich anden Jungen in Indien denke, die Kinder in Aleppo oderdie verfolgten und geschändeten Frauen der Jesiden inder Sindschar-Region, dann muss über all unserem Tunstehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar unduniversell gültig . Jeder Mensch hat ein Recht auf Lebens-würde, auch der Junge in Neu-Delhi .
Daraus ergibt sich international, dass die Vereinten Na-tionen in die Lage versetzt werden, humanitäres Völker-recht zu wahren und durchzusetzen . Meine Damen undHerren, das Bombardieren von Krankenhäusern in Alep-po, die Vergewaltigungslager in der Sindschar-Regionund der Völkermord an den Jesiden sind Kriegsverbre-chen und dürfen nicht ohne Folgen bleiben .
Wir müssen die Vereinten Nationen stärken . Wir brau-chen ebenso einen globalen Rahmen verbindlicher Nor-men zur Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele,die wir beschlossen haben . Wenn heute 20 Prozent derMenschen 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen – dassind wir in den Industrieländern mit unserer Lebens-weise – und 10 Prozent der Menschheit 90 Prozent desVermögens besitzen, dann haben wir ein globales Ge-rechtigkeitsproblem, das auch Auslöser für Flucht undMigration ist .
Deshalb brauchen wir auch Ihre Unterstützung, um welt-weite Standards für einen fairen globalen Handel durch-zusetzen .
Wir müssen Überlebens-, Zukunfts- und Bleibeper-spektiven für die Menschen in Krisen-, Konflikt- undEntwicklungsländern vor Ort schaffen . Dafür bedankeich mich bei allen Abgeordneten im Bundestag und beiden Kollegen in der Regierung . Lösen wir die Problemenicht vor Ort, so kommen die Menschen zu uns .Deutschland und die Kanzlerin gehen voran . Alleinunser Ministerium hat die Mittel zur Bewältigung derSyrien-Krise in den letzten zwei Jahren verdreifacht . Wirreden nicht nur, sondern mit unserer Beschäftigungsof-fensive „Cash for work“ schaffen wir bereits jetzt Ar-beitsplätze für Flüchtlinge vor Ort im Nordirak, in Jor-danien und im Libanon .
300 000 Kinder können mit unserer Unterstützung, mitdeutschen Steuergeldern, zur Schule gehen . Wir habenein Infrastrukturprogramm aufgelegt . Wir bauen zerstör-Bundesminister Dr. Gerd Müller
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te Dörfer wieder auf, führen die Menschen zurück, undwir helfen vor Ort .Ich sage an dieser Stelle den deutschen Finanzpoliti-kern in Bund, Ländern und Kommunen: Jeder Euro inDohuk hat die 50-fache Wirkung eines Euros in Trieroder München .
Mit 300 Euro schaffen wir für einen Menschen vor OrtBleibe und Verpflegung für ein ganzes Jahr.Die Menschen, die ich in Dohuk, Erbil oder in an-deren Regionen getroffen habe, haben mir gesagt: Wirwollen vor Ort bleiben . Sobald es Sicherheit gibt, wollenwir wieder in unsere Dörfer, in unsere Heimatregionenzurückgeführt werden . Aber wenn ihr uns vor Ort nichthelft, dann bleibt uns nur die Chance, uns nach Deutsch-land oder Europa aufzumachen . – Deshalb drehen wirden Spieß um und geben den Menschen in ihren Regio-nen eine Bleibeperspektive .
Dazu muss auch Europa seinen Beitrag leisten . Wirmüssen Europa neu gestalten und wieder handlungsfä-hig machen . Ich könnte dazu eine eigene Rede halten .Europa braucht ein neues Nachbarschaftskonzept für dieosteuropäischen Freunde und Partner, aber auch für denMittelmeerraum, für Nordafrika und Ägypten . Europabraucht einen Flüchtlingskommissar statt vier Kommis-sare, die sich gegenseitig behindern .
Europa braucht eine neue Haushaltsstruktur, die denneuen Herausforderungen gerecht wird, und zwar einenFlüchtlingsfonds von jährlich 10 Milliarden Euro und ei-nen Marshallplan für den Wiederaufbau .Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zusa-gen im Zusammenhang mit der Unterfinanzierung derUN-Hilfsprogramme müssen eingehalten werden . Icherwarte in Istanbul, dass die Geberländer genau angeben,was sie seit der Londoner Konferenz eingezahlt haben .
Die Bundeskanzlerin hat Zeichen gesetzt . Deutschlandfinanziert inzwischen die Hälfte der Beiträge zum Welt-ernährungsprogramm . Wir bilden aus . Wir bauen auf .Wir gliedern ein, und wir legen ein Rückkehrprogrammauf .Lassen Sie mich zum Schluss zusammenfassend sa-gen: Wir müssen Entwicklungspolitik weltweit in einerganz neuen Dimension sehen und gestalten . Dafür brau-chen wir unter anderem eine Verdoppelung der weltwei-ten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und eineVervielfältigung privater Investitionen in Entwicklungs-ländern mit neuen Instrumenten auch in Deutschland .Wir brauchen private Investitionen in nachhaltige Ent-wicklung . Die ADB-Jahrestagung in Frankfurt hat dazuentsprechende Standards vorgegeben . Ihr Gouverneur,Staatssekretär Fuchtel aus meinem Haus, hat dazu wich-tige Vorarbeiten geliefert .Wir brauchen auch – das muss klar sein, meine Damenund Herren – eine faire Handelspartnerschaft zwischenEntwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern .
Herr Minister .
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Herr Präsident, mein letzter Satz . – Zeiten der Krise
bieten uns auch die Chance für einen neuen Aufbruch .
Nutzen wir diese Chance!
Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Heike
Hänsel das Wort .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Minister Müller, Sie haben Ihre Rede mit demHinweis auf einen Jungen in Neu-Delhi begonnen, denSie getroffen haben und der durch die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit unterstützt wird . Ich frage Sie aber:Was ist mit all den Flüchtlingskindern, die seit Monatenin Idomeni im Morast und unter menschenunwürdigenBedingungen dahinvegetieren müssen, den Kindern, dienun von den griechischen Inseln in die Türkei und dannvon der Türkei weiter nach Syrien zurückgeschickt wer-den? Es ist fraglich, ob sie es überhaupt überleben; denntürkische Grenzsoldaten schießen auf Flüchtlinge, auchauf Frauen und Kinder . Was ist mit all diesen Kindern?Das ist die Schande Europas . Selbst der Papst hat diesePolitik, für die Sie Verantwortung tragen, scharf kritisiert .
Es gibt nun mehr Geld, Bildungsangebote und Ar-beitsmöglichkeiten für die Flüchtlinge, die seit Jahren inden Nachbarländern der Kriegsregionen Syrien und Irakausharren müssen . Das ist bitter nötig . Aber auch hiersehen wir die Folgen der verfehlten Politik der Bundes-regierung . Sie hat viel zu lange, über Jahre hinweg, trotzzahlreicher Appelle von Hilfsorganisationen die Beiträgesehr gering gehalten und wollte noch 2014 die Beiträgefür das Welternährungsprogramm sogar kürzen, und dastrotz der großen Anzahl an Flüchtlingen . Wir haben dasin jeder Haushaltsdebatte kritisiert und deutliche Erhö-Bundesminister Dr. Gerd Müller
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hungen gefordert . Seit Jahren ist hier eine Verfehlung derBundesregierung festzustellen .
Wir sind konfrontiert mit einem Höchststand bei denFlüchtlingszahlen weltweit . Herr Müller, Sie haben ge-sagt, es gehe um die Fluchtursachen . Aber in dem, wasim Antrag von CDU/CSU und SPD niedergeschriebenist, reden Sie nicht von den eigentlichen Ursachen, wa-rum Millionen Menschen auf der Flucht sind .
Sie fliehen aus den Kriegsregionen Syrien, Irak, Libyenund Jemen . All diese Länder werden seit Jahren durcheine Kriegspolitik des Westens destabilisiert . Diese Po-litik hat zu einem Chaos in diesen Ländern beigetragen .Unter Führung der USA wurden diese Länder im Namendes sogenannten Krieges gegen den Terror massiv desta-bilisiert und zerstört . Den dort lebenden Menschen wur-de jegliche Lebensperspektive genommen . Das zwingtdie Menschen zur Flucht . Wir haben von Anfang andiesen Krieg gegen den Terror, der selbst Terror für dieMenschen in der Region bedeutet, verurteilt und hier alseinzige Fraktion abgelehnt .
Deutschland beteiligt sich doch an all diesen Militär-einsätzen . 15 Jahre Krieg in Afghanistan! Die Situationist fatal . Das ist eine Katastrophe für die Menschen in derRegion . Deutschland unterstützt logistisch US-Drohnen-angriffe in Pakistan oder im Jemen . Deutschland hat sichzum Beispiel an der Umsturzpolitik in Syrien beteiligt . Inall diesen Regionen wird auch mit deutschen Waffen ge-mordet . Deswegen: Wer von der Bekämpfung der Flucht-ursachen spricht, darf zu dieser Kriegspolitik, dieser Um-sturzpolitik und den Waffenexporten nicht schweigen .
Die deutsche Außenpolitik muss sich grundsätzlichändern, wenn wir zur Überwindung der Fluchtursachenernsthaft beitragen wollen . Wir wollen eine aktive Frie-denspolitik, die sich nicht an NATO-Militärinterventi-onen beteiligt, die die Rüstungsexporte weltweit stopptund die auch sämtliche Drohnenangriffe von deutschemBoden aus sofort unterbindet .
Aber das genaue Gegenteil ist der Fall . Frau von derLeyen rüstet sich jetzt für neue Kriegseinsätze . Sie willdie Bundeswehr erstmalig wieder aufstocken und damitdie Ära der Abrüstung beenden . Ich frage Sie, Herr Ent-wicklungsminister Müller: Was sagen Sie denn zu dieserPolitik der neuen Aufrüstung und des neuen Wettrüstens?Das ist doch ein Wahnsinn . Was sagen denn die SPD undAußenminister Steinmeier dazu? Treten wir jetzt in eineneue Ära des Wettrüstens ein? Wo ist Ihre Friedenspoli-tik?
Frau von der Leyen fordert 130 Milliarden Euro in denkommenden Jahren für die Bundeswehr . 130 MilliardenEuro sind mehr als die weltweiten Entwicklungsausga-ben eines gesamten Jahres . Wir wollen nicht, dass diesesGeld für noch mehr Kriegseinsätze, für noch mehr Todund Zerstörung verwendet wird, was immer wieder neueFlüchtlinge hervorbringt, sondern wir wollen, dass diesesGeld endlich in die soziale Entwicklung in den Länderndes Südens und auch in eine soziale Offensive hier in denKommunen investiert wird .
Wer Flüchtlinge schützen und Fluchtursachen be-kämpfen will, muss auch ganz deutlich und scharf Neinzu diesem schmutzigen Flüchtlingsdeal mit dem türki-schen Despoten und Merkel-Freund Erdogan sagen;
denn dieser Deal ist menschenverachtend . Flüchtlingewerden von der Türkei sogar in Kriegsgebiete zurück-geschickt . Gleichzeitig wird Erdogan dafür von der Bun-desregierung und der EU mit 6 Milliarden Euro Steuer-geldern belohnt . Das muss man sich einmal vorstellen:6 Milliarden Euro für diese verbrecherische Politik vonErdogan, der eine Kriegspolitik gegen die eigene Bevöl-kerung betreibt, der Massaker an Zivilisten in den kurdi-schen Städten Diyarbakir und Cizre begangen hat, der dieEnteignung von christlich-armenischen Kirchen durch-geführt hat und die Vertreibung von Kurden und Alevitenim Südosten der Türkei vorantreibt . Was sagen Sie denneigentlich zu dieser Politik? Hier hört man auch von Ih-nen, Herr Müller, herzlich wenig . Sie machen sich mitt-lerweile zum Komplizen dieser verbrecherischen Politik .
Aber Erdogan ist nicht der einzige Despot, mit dem dieEU nun beste Beziehungen pflegt. Das Magazin Monitorhat vor kurzem interne Berichte der EU-Kommissionveröffentlicht, die neue Kooperationen mit afrikanischenMachthabern aufdecken, unter anderem im Sudan, in Eri-trea, Äthiopien und Somalia . Dabei ging es darum, dassunter keinen Umständen dies an die Öffentlichkeit gelan-gen dürfte . Herr Müller, weswegen eigentlich nicht? Washaben Sie denn zu verschweigen?
Warum war es denn so wichtig für die EU-Kommissi-on, dass das nicht an die Öffentlichkeit kommt? Es zeigtnämlich, dass die EU mittlerweile vor nichts mehr zu-rückschreckt, wenn es um die Flüchtlingsabwehr geht .Äthiopien zum Beispiel, eine brutale Militärdiktatur, sollmit mehr Entwicklungsgeld belohnt werden, wenn esFlüchtlinge zurücknimmt .
Afrikanische Staaten jetzt mit mehr Entwicklungshil-fe ködern zu wollen, damit sie ihre Grenzen zur Flücht-lingsabwehr hochrüsten und Rücknahmeabkommen ab-schließen, ist eine perfide Strategie. Je mehr Flüchtlingezurückgenommen werden, desto mehr Entwicklungshil-fe – das ist ein Missbrauch von Entwicklungsgeldern undmenschenverachtend .
Heike Hänsel
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Statt diese Politik mit Afrika zu betreiben, brauchenwir endlich gerechte Handelsbeziehungen, die eine wirt-schaftliche und soziale Entwicklung in den afrikanischenLändern ermöglichen . Seit Jahren kämpfen wir dafür,Herr Müller, dass deswegen die Freihandelsabkommenmit Afrika, die sogenannten EPAs, eben nicht abge-schlossen werden, sondern gerechte Handelsstrukturenaufgebaut werden .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Wer Fluchtursachen und nicht Flüchtlinge bekämp-
fen will, muss ein solidarisches und soziales Europa, ein
friedliches Europa entwickeln . Die Linke wird weiter da-
für kämpfen .
Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man viel in anderen europäischen Ländern un-terwegs ist und dort mit Abgeordneten, Vertretern derRegierungen und der Zivilgesellschaft redet oder wennman außenpolitisch mit Partnern, auch in Kriegsgebie-ten, zu tun hat, wird man immer wieder eines feststellen:Die deutsche Bundesregierung, unser Land insgesamt,ist durch vielfältige Initiativen und aufgrund von Organi-sationen, aber vor allem wegen ihrer Verlässlichkeit einwichtiger Ansprechpartner . Wir sind ein Garant dafür,dass wir in dieser Welt für den Frieden und für mehr Ge-rechtigkeit eintreten . Unser Land ist das Gegenteil vondem, was meine Vorrednerin eben ausgeführt hat .
Glauben Sie mir: Ich war schon an vielen Orten unter-wegs . Es ist völlig klar: Von Deutschland geht Vertrauenaus . Das ist auch dem persönlichen Wirken der beidenMinister zu verdanken, die für die Bereiche, über die wirheute diskutieren – Entwicklungszusammenarbeit undAußenpolitik –, verantwortlich sind . Entscheidend istdas ständige Bemühen um Lösungen und nicht um krie-gerische Aktionen oder sonstige Aktivitäten . Genau dasGegenteil von dem, was Sie, Frau Hänsel, gesagt haben,ist der Fall .
Das hat natürlich auch Konsequenzen . Wir werdendas in der Haushaltsdebatte im September noch sehen .Heute ist weder Zeit noch Ort, das Ganze noch einmalauszuführen . Wir werden in der Haushaltsdebatte anhandvon Millionen und Milliarden Euro noch einmal darle-gen, was verändert und was verbessert worden ist . Genaudarum wird es gehen .
Dass bei der Urkatastrophe des 21 . Jahrhunderts, imIrakkrieg, Deutschland gesagt hat: „Wir beteiligen unsnicht an dem, was von der Bush-Administration völker-rechtswidrig gemacht wird“, ist die Grundlage für alleGespräche, die Minister Müller, Minister Steinmeier undandere heute führen können; das Vertrauen in Deutsch-land als wichtige Friedensmacht in Europa ist vorhanden .
Es wird entscheidend darauf ankommen, dass wir unsinnerhalb der EU – die EU ist nun einmal, was die Fi-nanzen anbelangt, der wichtigste Player – für eine Poli-tik einsetzen, die tatsächlich mehr Mittel zur Verfügungstellt, um Fluchtursachen zu bekämpfen . Dieser Einsatzinnerhalb der Europäischen Union wird für uns wichtigsein . Diesen Einsatz werden wir leisten, und dabei müs-sen wir, bitte schön, ehrlich vorgehen .Es kann ja nicht sein, dass wir im Jahre 2013 auch ausDeutschland hören: „Wir müssen eigentlich den EU-Etatkürzen“, dass wir aber im Jahr 2016 sagen: Wir brauchenaus dem EU-Etat mehr Geld für die Fluchtursachenbe-kämpfung . – Entweder das eine oder das andere . DieSPD ist für mehr Geld für Fluchtursachenbekämpfung,auch über den EU-Etat .
Noch etwas müssen wir hier kritisch beleuchten: Ichbin dagegen, dass auf die ODA-Quote die nationalenMittel angerechnet werden, die wir für Flüchtlinge aus-geben .
Das würde dem widersprechen, was unsere auf Nachhal-tigkeit angelegte Politik – Sie wissen, es gilt, mindestens0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwick-lungshilfe aufzuwenden – eigentlich sein soll, die aber inder Praxis noch nicht immer umgesetzt worden ist .Ich erlaube mir, zum Schluss mit der Genehmigungdes Herrn Präsidenten ein Zitat vorzutragen:Auf dem Wege zu einer neuen internationalen Ord-nung dürfen wir eine der tragischsten Konsequen-zen andauernder Konflikte und Spannungen nichtübersehen: nämlich die Millionen von Flüchtlingen,deren Leben entwurzelt wurde und die oft verzwei-feltem Elend ausgesetzt sind . . . . Die gesamte inter-nationale Staatengemeinschaft muß VerantwortungHeike Hänsel
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übernehmen für die Existenzbedingungen jenerMitmenschen, die Opfer von Intoleranz und Bru-talität werden . Die Last jener Länder, die in engerNachbarschaft zu einem Regime leben, das einenExodus von Flüchtlingen verursacht, sollte im Geis-te der Solidarität mitgetragen werden von denen, diees besser haben .Das sagte Willy Brandt 1979 in seiner Einleitung zumBericht der Nord-Süd-Kommission .
Sie sehen, vor welchen Problemen wir stehen . Sie se-hen aber auch genau an diesem Zitat, dass die Herausfor-derungen von heute viel mit Fehlern der Vergangenheitzu tun haben . Wir müssen dazu stehen und müssen auchdie Konsequenzen ziehen . Wir sind mit der Politik dieserBundesregierung dabei, die richtigen Konsequenzen zuziehen .
Das Wort erhält nun die Kollegin Claudia Roth für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr verehrter, lieber Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Eigentlich dürfte ich hier heutegar nicht stehen . Warum? Als wir Grünen veranlassenwollten, dass unser eigener Antrag zur Fluchtursachen-bekämpfung mit aufgesetzt wird, hieß es aus den Koa-litionsfraktionen, das sei leider nicht möglich, denn derGrünenantrag sei einfach zu breit angelegt .
Ich glaube, sehr viel deutlicher hätten Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von Union und SPD, Ihr mangeln-des Verständnis dafür, was wirksame Fluchtursachenbe-kämpfung tatsächlich bedeutet, gar nicht zum Ausdruckbringen können .
Wer nämlich Fluchtursachen bekämpfen will, derkann seine Politik gar nicht breit genug anlegen .
Bei der Bekämpfung von Fluchtursachen geht es dochgerade um eine möglichst allumfassende Politik, die keinRessort, die kein Ministerium außer Acht lässt und ebennicht nur den Minister für das gute Gewissen hier spre-chen lässt,
die konsequent der Frage nachgeht, inwieweit das poli-tische Handeln und Nichthandeln in unseren Partnerlän-dern, aber eben auch bei uns in Deutschland dazu bei-tragen, dass über 60 Millionen Menschen ihre bisherigeHeimat, ihr bisheriges Leben hinter sich lassen mussten .Fluchtursachenbekämpfung bedeutet dann zum Bei-spiel, die diplomatischen, die politischen Anstrengungenzur Beilegung aktueller Krisen und Kriege stärker zu ver-vielfachen und Deutschland wirklich zu einem Vorreiterin der zivilen Krisenprävention zu machen .
Das muss doch unser Anspruch sein . Das muss doch derAnspruch der deutschen Bundesregierung sein .Fluchtursachenbekämpfung bedeutet auch, lieberGerd Müller, Jemen nicht nur in einem Nebensatz zu er-wähnen, sondern dann auch die milliardenschweren Rüs-tungsexporte in die Krisengebiete endlich einzustellen .
Fluchtursachenbekämpfung heißt, für eine wirklichfaire Handelspolitik einzutreten, die eben nicht einerücksichtslose maximale Marktöffnung für unsere Unter-nehmen zum Ziel hat, sondern sie beim Umweltschutz,bei den Arbeitnehmerrechten, beim Menschenrechts-schutz systematisch in die Pflicht nimmt. Und da habenwir erhebliche Zweifel, dass TTIP das leistet .
Fluchtursachenbekämpfung bedeutet schließlich, diewachsende globale Ungerechtigkeit ebenso konsequentanzugehen wie den fortschreitenden Klimawandel; dasheißt, die Beschlüsse von Paris und New York nicht nurabzudrucken, sondern sie wirklich umzusetzen und damitjetzt anzufangen .
Weiter heißt das, die ärmsten Staaten der Welt umfas-send zu unterstützen und – ja, Axel Schäfer – nicht dieODA-Quote nun durch die Anrechnung innerdeutscherAusgaben für die Flüchtlingsversorgung oder durch dieVermischung mit Geldern für den Klimaschutz künstlichschönzurechnen .
Insofern gebe ich Ihnen recht, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD und von der Union: Unser grünerAnsatz ist viel breiter angelegt als Ihr heutiger Antrag,der sich letztlich doch kaum mit der im Titel benanntenBekämpfung von Fluchtursachen beschäftigt, sondernviel mehr mit der Unterstützung der Nachbarstaaten Sy-riens .
Verstehen Sie uns bitte nicht falsch: Selbstverständ-lich sind Länder wie der Libanon, wie Jordanien, der Irakoder die Türkei, die für die Flüchtlinge aus der Hölle vonSyrien die ersten Rückzugsorte sind, heillos überfordert .Axel Schäfer
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Selbstverständlich liegt das auch daran, dass wir dieseLänder viel zu lange alleingelassen haben .
Selbstverständlich ist es allerhöchste Zeit, sie zu unter-stützen .
Aber damit bekämpfen wir doch keine Fluchtursachen inden Herkunftsländern!
Wenn wir tatsächlich dafür sorgen wollen, dass we-niger Menschen fliehen, und nicht nur erreichen wollen,dass weniger Menschen bei uns ankommen, dann müs-sen wir unsere Politik in vielen Feldern ganz grundle-gend umgestalten .
Und dann kann der Ansatz eben nicht breit genug sein,sondern dann muss er überall, in allen Bereichen, anfan-gen – und das besser heute als morgen, liebe Kolleginnenund Kollegen .
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Wöhrl für
die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Auch wenn die Zahl der ankommenden Flüchtlinge beiuns sinkt, heißt das noch lange nicht, dass die Fluchtur-sachen verschwunden sind, heißt das noch lange nicht,dass wir aufhören können, die Fluchtursachen vor Ortzu bekämpfen . Im Gegenteil – ich glaube, dies ist auchdurch meine Vorredner und Vorrednerinnen deutlich ge-worden –: Wir müssen noch intensiver an deren Bekämp-fung arbeiten .Fakt ist: Der Konflikt in Syrien ist nicht beseitigt, imGegenteil . Wir haben gestern neue Zahlen bekommen,nach denen allein im letzten Jahr 1,3 Millionen neue Bin-nenflüchtlinge dazugekommen sind – zusätzlich zu denbereits vorhandenen 6,6 Millionen . Wir wissen, dass dieSituation in den Nachbarländern weiterhin sehr ange-spannt ist . Wir wissen auch, dass immer mehr Menschenaus der Subsahara in Libyen ankommen, um sich auf denWeg nach Europa zu machen .Das heißt: Der Schlüssel für die Lösung ist, dieFluchtursachen sowohl in den Herkunftsländern als auchin den Nachbarländern so zu bekämpfen, dass die Men-schen in diesen Ländern eine Zukunftsperspektive haben .Wir müssen helfen, die Probleme vor Ort zu lösen; denn,wie der Minister gesagt hat, wenn wir es nicht schaffen,die Probleme dort zu lösen, werden die Probleme zu unskommen .
Die wichtigste Ursache für Flucht und Vertreibung istnach wie vor der Syrien-Konflikt. Ich habe es erwähnt:Inzwischen gibt es fast 8 Millionen Binnenvertriebene .Über 13,5 Millionen Menschen in Syrien, davon über dieHälfte Kinder, sind hilfsbedürftig . Trotz aller politischenBemühungen gibt es leider noch keinen Erfolg in diesemBereich . Es ist noch nicht zu einem Frieden gekommen –zu vielfältig, zu gegenläufig sind die Interessen. Die Ter-rorgruppen gehen weiterhin brutal vor . Assad versuchtmit allen Mitteln, auch mithilfe brutalster Gewalt, an sei-ner Macht festzuhalten .Trotz brüchiger Feuerpause sieht man aber dochmanchmal einen kleinen Hoffnungsschimmer . Wir ha-ben es jetzt das erste Mal geschafft, mit Hilfskonvois mitLebensmitteln und Gesundheitsversorgungsinstrumen-ten in besetzte Gebiete zu kommen, in Gebiete, die vonTerrororganisationen oder von Assads Soldaten besetztsind . Den Menschen dort konnten wir nach monatelan-gem Hunger und vielen Entbehrungen endlich wiederNahrungsmittel geben . Wir erreichen leider nicht alleGebiete, weil wir nicht überall hindürfen und jedes Maleine Erlaubnis brauchen . Aber für einige HunderttausendMenschen gibt es in diesem Bereich zumindest diesenHoffnungsschimmer .
Wir sehen ebenfalls, dass Menschen wieder in ihreGebiete zurückkehren können – zwar nicht in alle, aberwenigstens in einige – und versuchen, ihre zerstörtenHäuser wieder aufzubauen . Wir versuchen hier, unter-stützend tätig zu sein . Wir versuchen auch, vorbereitetzu sein, um mit weiteren Maßnahmen beginnen zu kön-nen, wenn nach erfolgreichen Friedensverhandlungen –darauf hoffen wir alle – der Frieden eintritt . Wir wollenmit Infrastrukturmaßnahmen und vielem anderen helfen,damit die Menschen dort wieder ein lebenswertes Lebenhaben .4,8 Millionen syrische Flüchtlinge sind in Nachbar-länder geflüchtet und haben dort großzügig Aufnahmegefunden . Aber diese Länder sind am Ende ihrer Kapa-zität . Sie stehen vor immens großen Herausforderungen .
Es sind Länder wie Jordanien, der Libanon und der Irak,die auch vorher schon Probleme hatten, die auch vorherschon eine hohe Arbeitslosigkeit hatten, die auch vorherschon – wie Jordanien – Wasserprobleme hatten . DieseProbleme werden jetzt durch die syrischen Flüchtlingeverstärkt . Im Libanon sind die Wohnungskosten um über200 Prozent gestiegen . Viele syrische Flüchtlinge gehenin die Schwarzarbeit, weil sie keine Arbeitsgenehmigunghaben. Ihre finanziellen Möglichkeiten sind erschöpft.Das bisschen Geld, das sie am Anfang hatten, ist auf-gebraucht . Sie nehmen der einheimischen Bevölkerungso aber die Arbeitsplätze weg . In manchen Ländern, inVizepräsidentin Claudia Roth
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Jordanien etwa, kommen die Lastwägen mit Wasser nurnoch alle zwei Monate in die Dörfer, weil wegen dersyrischen Flüchtlinge sehr viel mehr Wasser gebrauchtwird . Man sieht, dass die Aufnahmewilligkeit dort anihre Grenzen gekommen ist .Deswegen müssen wir schauen, dass wir unterstützen,und zwar nicht nur im Hinblick auf die Grundbedürfnis-se . Unsere Aussage muss immer sein: Bleibt da, wo ihrseid! Wir versuchen, zu helfen, wo wir helfen können, obdas beim Aufbau der Dörfer, der Schulen oder in vielenanderen Bereichen ist . – Wir müssen schauen, dass dieSpannungen, die es zwischen der Bevölkerung und denFlüchtlingen teilweise gibt, nicht immer mehr anwach-sen, damit es nicht zum Eklat kommt .Wir fördern Bildung und Beschäftigung im Libanon .Wir bauen die Infrastruktur und das Gesundheitswesenim Irak auf . Wir helfen bei der Wasserversorgung in Jor-danien . Wir versuchen, junge syrische Flüchtlinge oderüberhaupt syrische Flüchtlinge mit einem Programm zuerreichen, das der Minister aufgelegt hat, nämlich „Cashfor Work“ . Sie sollen sich handwerkliche Fähigkeiten,etwa als Klempner oder als Schreiner, aneignen, damitsie beim Aufbau helfen können, damit sie die Möglich-keit haben, Geld zu verdienen, sodass sie ihre Familieernähren können . Wir versuchen auch, die Gemeinden zuunterstützen, die Flüchtlinge aufgenommen haben, undwir werben sehr stark für Städtepartnerschaften – ichfinde, das ist ein ganz wichtiger Punkt – zwischen deut-schen Städten und Gemeinden in den Herkunftsländern .
Die Londoner Konferenz, an der 70 Staaten teilge-nommen haben, hat 9,3 Milliarden Euro eingebracht . Wirhoffen natürlich, dass das nicht nur Zusagen waren wie inder Vergangenheit, sondern dass das Geld diesmal auchwirklich fließt. Deutschland wird sich mit 2,3 MilliardenEuro daran beteiligen . Davon gehen allein 570 MillionenEuro an das World Food Programme; denn es darf nichtmehr vorkommen, dass –wie im letzten Jahr geschehen –die Lebensmittelrationen gekürzt werden müssen undpro Person nur noch 13 Euro im Monat zur Verfügungstehen . Das bietet keine Lebensmöglichkeit . Wenn dieMütter sehen, dass ihre Kinder keine Nahrung mehr ha-ben, wenn die Mütter sehen, dass die Kinder auch keineAusbildung mehr bekommen, wenn die Mütter bzw . Fa-milien so verzweifelt sind, dass sie ihre jungen Mädchenmit 10, 11 oder 12 Jahren an reiche Araber verkaufenmüssen, damit sie zukünftig ihre Familien ernähren kön-nen, wenn Väter sehen, dass sie nicht die Möglichkeithaben, ihrer Familie durch Arbeit eine gewisse Existenz-basis zu verschaffen, dann werden diese Menschen nichtin diesen Ländern bleiben, dann werden sie sich auf denWeg machen .Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in einem La-ger liegt heute bei 17 Jahren – mit steigender Tendenz .Wer schon einmal in solch einem Lager gewesen ist,kennt die Hoffnung, die am Anfang noch da war, dieHoffnung auf eine schnelle Rückkehr . Diese Hoffnungist einer physisch greifbaren Hoffnungslosigkeit gewi-chen . Unsere größte Sorge gilt den Kindern . Kinder sinddie Leidtragenden in diesem Bereich . 11 000 Kinder sindinzwischen durch den syrischen Konflikt gestorben, nichtnur durch Heckenschützen oder Fassbomben, sondernoft auch durch Mangelernährung, durch Krankheiten, dieman hätte heilen können, wenn eine entsprechende Ge-sundheitsversorgung vorhanden gewesen wäre .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident . – So hoffen
wir natürlich, dass wir mit unserer Hilfe vor Ort etwas
ändern können . Wir können natürlich nicht die ganze
Welt retten; das ist klar .
Aber wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten ver-
suchen, diesen Menschen vor Ort eine Chance zu geben,
eine Zukunft zu geben, Perspektiven zu geben . Das wird
nicht nur eine Aufgabe für uns und für heute sein, son-
dern es wird eine Aufgabe für die zukünftigen Generatio-
nen sein . Aber wir müssen dafür schon den Weg bereiten .
Vielen Dank .
Katja Keul ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Minister Müller, gegen mehrGeld für Flüchtlingslager hat sicher niemand etwas . AberFluchtursachen werden Sie mit Geld alleine nicht be-kämpfen .
Die allermeisten Menschen sind bereit, viel Armut zuertragen, um in ihrer Heimat zu bleiben. Die häufigsteUrsache für Fluchtbewegungen sind und bleiben aberbewaffnete Auseinandersetzungen . Deswegen ist es sowichtig, rechtzeitig Krisenprävention zu betreiben undnicht tatenlos zuzusehen, wenn die Eskalation abseh-bar ist . In Ihrem Antrag nennen Sie als Beispiel Libyen .Nach dem Sturz Gaddafis in 2011 waren zwei Dinge ab-sehbar: erstens, dass Libyen ohne Hilfe nicht in der Lagesein würde, die Kriegsverbrechen aufzuarbeiten und dasVolk zu versöhnen, und zweitens, dass das NachbarlandMali eine Destabilisierung durch die Rückkehr hochbe-waffneter Tuareg-Kämpfer nicht überstehen würde . Bei-des haben wir ignoriert . Konsequenz: Heute verlängernwir zum dritten Mal den Bundeswehreinsatz in Mali, undLibyen ist zu einem Failed State geworden, in dem unsDagmar G. Wöhrl
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auch für Flüchtlingsfragen keine Ansprechpartner mehrzur Verfügung stehen .
Mit unserem Antrag wollen wir Grünen Ihr Augen-merk auf die nächste drohende Eskalation vor unsererHaustür richten . Vor 40 Jahren marschierte Marokko völ-kerrechtswidrig in die Westsahara ein und besiedelte dasLand mit eigenen Staatsangehörigen, nachdem die Kolo-nialmacht Spanien sich zurückgezogen hatte . Die Saha-rauis nahmen daraufhin den Kampf auf und riefen ihreneigenen Staat aus, die Demokratische Arabische Repu-blik Sahara . 1991, also vor 25 Jahren, konnte die UNOeinen Waffenstillstand vermitteln . Grundlage dieses Waf-fenstillstandes war ein Referendum, das bis heute nichtdurchgeführt wurde . Entgegen der Vereinbarung weigertsich Marokko bis heute, die Option einer Unabhängig-keit mit in das Referendum aufzunehmen . Dabei sind dietechnischen Voraussetzungen zur Bestimmung der Wahl-berechtigten laut UNO längst geklärt . Der UN-Sonder-beauftragte Christopher Ross durfte in den letzten Jahrennicht einmal mehr in die besetzten Gebiete einreisen . Wersich in der Westsahara zum Selbstbestimmungsrecht derSaharauis äußert oder womöglich das Wort „Besatzung“benutzt, wird strafrechtlich verfolgt .Als im März der Generalsekretär Ban Ki-moon dieFlüchtlingslager der Polisario auf algerischem Territori-um besuchte und ebenfalls von Besatzung sprach, ver-wies Marokko aus Protest die Mitarbeiter der UN-Mis-sion MINURSO des Landes . Wissen Sie, was das fürein Eklat für die UNO ist? Die Europäer und der Sicher-heitsrat jedoch haben das einfach so hingenommen undden Generalsekretär im Regen stehen lassen . Dieser un-geheuerliche Vorgang ist eine Bedrohung für sämtlichePeacekeeping-Missionen der Vereinten Nationen . Wokommen wir da hin?
Was macht die Bundesregierung? Statt die VereintenNationen zu stärken, fährt de Maizière nach Marokko,um dem König anzukündigen, dass man sein Land jetztals sicheren Herkunftsstaat anerkennen will, wenn erdafür die abgelehnten Asylbewerber zurücknimmt . Undnicht nur das: Erst im Dezember hat der EuGH in ersterInstanz das Handelsabkommen der EU mit Marokko fürrechtswidrig erklärt, weil es die Westsahara behandelt,als sei sie marokkanisches Staatsgebiet . Was macht derdeutsche Innenminister? Er verspricht dem marokka-nischen König, dass sich Deutschland für einen Erfolgder Berufung einsetzen wird . Ja was ist denn das für einRechtsstaatsbewusstsein? Seit wann nimmt die Exekuti-ve Einfluss auf den Ausgang eines gerichtlichen Verfah-rens?
Das alles ist an Kurzsichtigkeit nicht mehr zu überbie-ten . Die junge Generation der Saharauis hat längst genugvon 25 Jahren Waffenstillstand . Sie sehen, dass die Eu-ropäer sie nicht beachten, wenn sie nicht zu den Waffengreifen und selbst die UNO keine Unterstützung mehrbekommt . Wenn sie die Hoffnung verlieren, werden siesich nicht einfach zum Sterben in die Wüste legen; dakönnen wir sicher sein . Wenn sich die Europäer gegen-seitig zuflüstern, dass eine Unabhängigkeit der West-sahara unrealistisch sei, dann sage ich Ihnen, was unre-alistisch ist: Unrealistisch ist es, zu glauben, man könneeinen Konflikt einfach aussitzen und ignorieren, bis ersich in Luft auflöst.
Der Konflikt wird sich nicht auflösen, und die Men-schen, die davon betroffen sind, auch nicht . Übrigenshaben Oxfam und das Welternährungsprogramm ihreUnterstützung für die Flüchtlingslager der Polisario re-duzieren müssen .Wer eine weitere Fluchtursache verhindern will, musssich endlich ernsthaft um eine Lösung dieses Konfliktesbemühen, zum Wohle der Menschen in der Westsahara,des gesamten Maghreb und letztlich auch der EU .Vielen Dank .
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriela
Heinrich das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Roth, Siehaben völlig recht: Wir müssen eine unheimlich breiteDebatte führen . Das haben viele Beiträge gezeigt . WerFluchtursachenbekämpfung – blödes Wort; Vermeidungtrifft es eher – betreiben will, muss sehr viel breiter dis-kutieren . Wir müssen diese Debatte führen . Aber gestat-ten Sie mir, dass ich heute zu unserem Antrag rede .
Dieser hat den Zusatz „Aufnahmestaaten um Syriensowie Libyen entwicklungspolitisch stärken“ . Deshalbwerde ich mich darauf beziehen .Über 250 000 Tote, über 1 Million Verletzte und mehrals die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht: Das istdie aktuelle Situation in Syrien . Nicht erst, nachdem eseinem Teil der Flüchtlinge gelungen ist, nach Europa,nach Deutschland zu kommen, geht uns dies etwas an .Wenn wir über Fluchtursachen reden, dann reden wirüber Krieg, Hass und Gewalt und über Perspektivlosig-keit . Wir reden über Menschen, die die Hoffnung verlo-ren haben, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können,weil die Kämpfe immer weitergehen und der Frieden fastundenkbar scheint . Das geht uns etwas an . Deshalb binich den Ehrenamtlichen dankbar, die hier bei uns denFlüchtlingen helfen . Ich bin froh über das EngagementKatja Keul
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der Bundesregierung und insbesondere das Engagementunseres Außenministers Frank-Walter Steinmeier .
Er setzt sich für einen möglichen Frieden in Syrien undauch in Libyen ein . Ich glaube, das können auch Sie nichtbestreiten .Die Menschen kommen aus vielen Ländern zu uns .Sie suchen in Europa Sicherheit vor Bomben und Ge-walt . Wir alle wissen, wie viele Menschen auf dem Wegzu einem sicheren Leben eben dieses Leben verloren ha-ben . In Idomeni konnte ich letztens als Begleitung derMenschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung miteinigen Syrern reden . Ja, sie harren dort unter unsägli-chen Bedingungen aus, in der Hoffnung, dass sich dieGrenze wieder öffnet .
Sie haben alles verkauft, was sie noch hatten, um dieFlucht nach Griechenland zu finanzieren, obwohl sie inIdomeni vermeintlich schon in Sicherheit waren .Frau Hänsel, ich sage Ihnen: Zu dem Zeitpunkt, alsich in Idomeni war, ging dort das Gerücht herum, einMinisterpräsident – ich glaube, aus Thüringen – habe an-gekündigt, man könne doch 2 000 der Flüchtlinge dortübernehmen . Was glauben Sie, was in einem Camp – esist kein richtiges Camp, es gibt dort keine Rechtssicher-heit – mit 12 000 Menschen passiert, wenn 2 000 Men-schen denken, sie könnten den Weg antreten?
Ich sage, es ist auch schäbig, wenn Aktivisten dafür sor-gen, dass die Menschen dort verharren .
Es ist schäbig von ihnen, die Menschen dort zu halten,indem sie ihnen Hoffnung machen, dass die Grenze wie-der aufgeht .Darüber, dass wir hier eine europäische Lösung brau-chen, bin ich mit Ihnen völlig einig . Aber es kann nichtangehen, dass Sie sich hierhinstellen und sagen: Nehmtsie halt alle auf, und dann sind die Sorgen erledigt .
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Hänsel zu?
Bitte .
Liebe Kollegin Heinrich, ich muss schon sagen: Wie
Sie hier Ursache und Wirkung verdrehen, ist wirklich
schändlich . Ich war letztes Jahr in so vielen Regionen, in
denen Flüchtlinge ankommen: auf den griechischen In-
seln, in den Balkanstaaten usw . Wenn es die freiwilligen
internationalen Helfer nicht gegeben hätte, wären viele
Flüchtlinge verhungert . Es gab fast keine Unterstützung
von der internationalen Staatengemeinschaft . Auf Les-
bos, auf Chios haben ausschließlich Freiwillige die Ver-
sorgung der Flüchtlinge übernommen . Es war niemand
zu sehen, weder Vertreter der UN noch sonstiger großer
Organisationen . Jetzt wollen Sie den Freiwilligen vor-
werfen, sie seien verantwortlich dafür, dass die Flücht-
linge dort in einer schlechten Situation leben? Das ist ja
wirklich zynisch .
Was Bodo Ramelow angeht: Es war doch – genau
umgekehrt – ein gutes Beispiel, mit dem er vorausgehen
wollte . Er wollte zeigen: Wir nehmen Flüchtlinge aus
Idomeni auf . – Wenn sich alle Bundesländer angeschlos-
sen hätten,
dann hätten alle hierherkommen können .
Es kann doch nicht sein, dass 12 000 Menschen für ein
Land mit 80 Millionen Einwohnern plötzlich die riesen-
große Gefahr sind . Wieso kann man keine menschliche
Politik betreiben und die Leute hierherholen? Die Fami-
lien sind jetzt zerrissen . Das, was dort passiert, ist ein
großes Drama, ein Trauerspiel . Insofern war es genau die
richtige Antwort von Bodo Ramelow .
Kollegin Hänsel, ich halte diese Antwort von BodoRamelow trotzdem für falsch . Ich versuche, Ihnen zuerklären, warum . Wenn man in einer solchen Situationverhindert, dass die Menschen sich registrieren lassen,
in die umliegenden Camps gehen, die es ja gibt – die Vo-raussetzungen sind dort deutlich besser; ich habe sie mirangeschaut –, und versuchen, im Rahmen der Familien-zusammenführung nach Deutschland zu kommen, dannsorgt man nicht dafür, dass es vorangeht .Natürlich können Sie sich hinstellen und sagen: Neh-men wir mal die 12 000 Flüchtlinge und demnächst15 000 Flüchtlinge auf! –
Ich glaube aber, Deutschland und der Bundesregierungvorzuwerfen, dass im letzten Jahr nicht genug MenschenGabriela Heinrich
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aufgenommen wurden, ist wirklich ein bisschen übertrie-ben .
Die Frage ist halt, inwieweit wir sagen sollten, dass esimmer so weitergeht .Ich würde jetzt gerne zu meiner Rede zurückkommen .
Sie haben Idomeni ins Spiel gebracht . An dieser Stellemache ich jetzt weiter . – Manche der Menschen in Ido-meni waren bereits drei Jahre in der Türkei . Sie habenfast ihr ganzes Geld verbraucht und sehen keinerlei Per-spektiven, in ihrem Erstaufnahmeland Fuß zu fassen –nicht für sich, schon gar nicht für ihre Kinder . Der Restdes Geldes ist jetzt für Schlepper draufgegangen . Manch-mal reichte er nur für ein Familienmitglied, das dann na-türlich so schnell wie möglich seine Familie nachholenmöchte. Sie fliehen erneut, weil sie wissen, dass es vieleJahre dauern kann, bis sie vielleicht jemals in die Heimatzurückkehren können .4,8 Millionen syrische Flüchtlinge haben bisher inden Nachbarstaaten Syriens Aufnahme gefunden: in derTürkei, im Libanon, in Jordanien, im Irak . Die wenigstenkönnen arbeiten, unendlich viele Kinder können nicht indie Schule gehen, und die medizinische Versorgung istmangelhaft . Mit unserem vorliegenden Antrag zielen wirdarauf ab, neue Perspektiven zu schaffen . Dieser Aufga-be müssen wir uns, muss sich Europa stellen, und zwarunabhängig vom EU-Türkei-Abkommen . Das ist mir andieser Stelle wirklich wichtig .
Wir brauchen die Diplomatie, aber wir brauchen zual-lererst humanitäre Hilfe, um Menschen in akuter Not aufder Flucht zu versorgen . Bei aller Kritik: Deutschland istder drittgrößte bilaterale Geber im Bereich humanitäreHilfe . Wir haben durchaus verstanden, dass die inter-nationalen Hilfsorganisationen viel mehr Unterstützungbrauchen, weil die Zahl der Flüchtlinge immer weiteransteigt, und dies der erste Weg ist, um den Menschendirekt zu helfen .
Wenn wir die Entwicklungspolitik heranziehen, umFluchtursachen zu vermeiden, dann geht es um länger-fristige Perspektiven für die Flüchtlinge, aber auch fürdie Aufnahmeländer, weil Integration eben kein vorüber-gehendes Phänomen ist . Wenn wir in Deutschland ein In-tegrationskonzept auflegen, dann doch auch, weil es ebennicht vorübergehend sein wird . Deswegen unterstützenwir mit der Beschäftigungsinitiative „Cash for Work“,mit der bis zum Ende des Jahres mindestens 50 000 Jobsin Jordanien, im Irak und in der Türkei entstehen sollen,eben nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die Aufnah-meländer. Deswegen setzen wir uns für die flächende-ckende Absicherung des Schulunterrichts für alle Kinderin den Aufnahmestaaten ein . Wir müssen und wollensicherstellen, dass keine verlorene Generation entsteht .Das sind wir den Kindern schuldig .
Wenn wir nachhaltig Fluchtursachen beseitigen wol-len, dann müssen wir den Blick noch weiter richten . Wirwollen den Zivilen Friedensdienst weiter stärken mitProjekten zur Krisenprävention, Gewaltminderung undlangfristigen Friedenssicherung, auch und gerade unterBeteiligung der Frauen . Dazu gehören auch die psycho-soziale Unterstützung und die Arbeit mit traumatisiertenMenschen . Wenn Syrien eine Zukunft haben soll, dannwerden dort Menschen zusammenleben müssen, die sichderzeit noch mit Waffen gegenüberstehen . Natürlichhoffen wir auf einen Frieden in Syrien, aber er wird nurnachhaltig sein, wenn es gelingt, einen Wiederaufbau in-ternational zu organisieren und zu finanzieren.Wenn wir über den Nahen Osten reden, dann müssenwir auch über Libyen reden . Dort trägt der Präsidialratnoch nicht wie erhofft zur Stabilisierung des Landes bei,aber eine Stabilisierung ist die Voraussetzung dafür, inLibyen entwicklungspolitisch tätig zu werden . Auch hiergeht es darum, ein Land zu unterstützen, aus dem vieleMenschen aufgrund von Gewalt in die Nachbarländer ge-flüchtet sind, zum Beispiel nach Tunesien. Es geht aberauch um Libyen als Transitland . Niemand kann ein In-teresse daran haben, dass sich Hunderttausende Flücht-linge in Libyen skrupellosen Schleppern ausliefern unddie gefährliche Überfahrt nach Europa wagen . Die Stär-kung der staatlichen Strukturen, der Frieden und irgend-wann auch der Wiederaufbau sind entscheidend, um denSchleppern und den Terroristen in Libyen das Handwerkzu legen .
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss .
Aus Sicht der SPD ist das, was im vorliegenden An-
trag steht, auch ein Teil des richtigen Weges, den wir in
Zukunft fortsetzen wollen und müssen, auch dann, wenn
nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland kom-
men und vielleicht wieder verstärkt die Frage im Raum
stehen wird: Was geht uns das an?
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dr . JohannWadephul für die CDU/CSU-Fraktion .
Gabriela Heinrich
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist die natürliche Aufgabe der Opposition, zukritisieren, Mängel aufzudecken und diese Regierung zunoch besserer Arbeit anzuregen, zu motivieren .
Dennoch habe ich mich heute über einige Beiträge dergeschätzten Kolleginnen wirklich sehr gewundert .Jetzt haben wir einen Minister in dieser Regierung,der für wirtschaftliche Zusammenarbeit steht und der vonvornherein genau das sagt, was Sie einfordern .
Es besteht doch große Einigkeit darüber, dass wir einenallumfassenden Ansatz brauchen, um die Fluchtursachenzu bekämpfen . Der Minister sagt: Natürlich ist es nichtdamit getan – Frau Keul, Sie haben es angesprochen –,dass man Geld gibt, aber wir leisten einen großen Bei-trag, einen der größten Beiträge, die überhaupt geleistetwerden, und darauf darf man doch stolz sein, man darfdoch zufrieden sein, und man darf doch hier im Deut-schen Bundestag den Steuerzahlerinnen und Steuerzah-lern danken, dass sie das Geld dafür zur Verfügung stel-len und diese Maßnahmen ermöglichen .
Wir haben einen Minister – es mag Sie ja etwas be-schämen, dass er dieser Regierung angehört und es nichtschon in früheren Regierungszeiten mehr Engagementgab; es darf Sie auch verwundern, dass er ein Christso-zialer ist;
es gibt auch manchen bei uns, der sich darüber wun-dert –, der sagt: Wir brauchen einen umfassenden Ansatz,wir brauchen Klimaschutz, wir brauchen die Hilfe vorOrt, wir brauchen den Ansatz „Work for Life“, also Pro-gramme vor Ort .
Das sind doch Dinge, die Sie immer gefordert haben .
Ich möchte Minister Müller an dieser Stelle einmal ganzherzlich danken . Für diesen Paradigmenwechsel steht ermit seiner Person, und darauf sind wir stolz .
Sie haben sich auch zur deutschen Außenpolitik ge-äußert . Auch dazu möchte ich etwas sagen . Frau Kolle-gin Hänsel, wesentliche Aussagen Ihrerseits sind ja imGrunde überhaupt nicht einlassungsfähig . Sie sagten, wirwürden nur schmutzige Deals mit der Türkei machen,
wir würden nur tatenlos zusehen – das sagten auch Sie,Frau Kollegin Keul – und die UN nicht unterstützen .Dabei verkennen Sie natürlich, was wir machen; es istvorhin schon darauf hingewiesen worden . Außenminis-ter Steinmeier kann sich der Anfragen, im Rahmen derAußenpolitik als ehrlicher Makler aufzutreten, überhauptnicht mehr erwehren . Natürlich wird AußenministerSteinmeier bereit sein, sich auch noch des Westsaha-ra-Problems anzunehmen .
Überall werden wir gefordert . Überall wird MinisterSteinmeier gefordert .
Im klassischen Nahostkonflikt zwischen Palästinen-sern und Israelis werden Anfragen an ihn gestellt . Undwer ist bei der Lösung des Syrien-Konflikts treibendeKraft neben Außenminister Kerry? Das ist Frank-WalterSteinmeier .
Ich sage: Wir sind stolz darauf, dass das die deutsche Au-ßenpolitik ist .Sie haben die UN erwähnt . Wer unterstützt denn Staffan de Mistura? Wer entsendet mit Martin Kobler ei-nen hochrangigen Diplomaten nach Libyen, um diesesschwierige Problem zu lösen? Das ist die deutsche Di-plomatie . Ich möchte einmal allen Angehörigen des Aus-wärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland sehrherzlich danken . Sie leisten einen großen Beitrag undbringen uns insgesamt nach vorne .
Wir haben hier so manche Türkei-Debatte geführt .Wahrscheinlich wird man in diesem Hause niemandenfinden, der die innenpolitischen Maßnahmen und man-ches außenpolitische Agieren des derzeitigen Präsiden-ten der Türkei gutheißt; das ist doch völlig unstreitig .Aber wir sollten anerkennen und sehen, was die Türkeialles leistet – schließlich besteht Einigkeit, dass wir denMenschen nur vor Ort helfen können –: 2,5 MillionenFlüchtlinge befinden sich ständig in der Türkei. Undwir als Deutsche wissen doch, welche Probleme es ma-chen kann, das der eigenen Bevölkerung zu vermitteln .Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist nicht besonderseinfach . Trotzdem erlaubt die Türkei den Flüchtlingenaufgrund dieses Abkommens, das übrigens nicht wir mitder Türkei geschlossen haben, sondern die EuropäischeUnion, zu arbeiten .
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Wir wissen doch, wie schwer das war, als die mittel- undosteuropäischen Staaten der Europäischen Union beige-treten sind . Rumänen, Polen, Bulgaren etc . pp . haben wirdoch auch nicht sofort auf den deutschen Arbeitsmarktgelassen . Die Türken machen das . Das sind doch Schrit-te, die man anerkennen muss . Das kann man doch nichtalles diskreditieren . Das ist doch gut .
Insofern ist das doch ein sinnvolles Abkommen .Ich möchte mich hier den Ausführungen der Kolle-gen von der sozialdemokratischen Fraktion anschließen .Auch Frau Wöhrl hat die Maßnahmen, die wir vor Ort er-greifen, sehr eingehend geschildert . Das können wir nurim europäischen Rahmen erledigen . Abschließend möch-te ich daher sagen, dass all das, was wir machen – das istauch für die Bundeskanzlerin der wesentliche Anlass –,immer nur mit und durch Europa erreicht werden kann .Es lohnt sich, dafür zu kämpfen . Europa muss von denZuschauerbänken herunter . Europa muss mit aufs Spiel-feld, und wir Deutsche müssen jeden Einsatz erbringen,damit Europa in dieser Art und Weise agiert .
Es ist gut, dass wir mit diesen Maßnahmen vorange-hen . Der vorliegende Antrag fasst das zusammen . Siesollten ihm zustimmen .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Michelle Müntefering hat für die
SPD-Fraktion als nächste Rednerin das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Wadephul, ich bin bzw . wir als sozialdemo-kratische Fraktion sind so viel Lob von Ihnen gar nichtgewohnt . Dem Lob für unseren Minister, für die deutscheAußenpolitik, für die gemeinsame Außenpolitik und fürdie Entwicklungszusammenarbeit können wir uns nuranschließen . Denn es ist vollkommen richtig, dass wirfür eine Friedenspolitik stehen und diese vorantreiben .
Erlauben Sie mir eine Geschichte vorab, bevor ichzu der Frage der Fluchtursachen und Fluchtursachen-bekämpfung komme, über die heute reichlich diskutiertwird . Im letzten Jahr habe ich vor ungefähr 600 auslän-dischen Studierenden gesprochen, die auf Einladung desDAAD mit einem Stipendium bei uns in Deutschlandstudieren . Auf der Bühne der Humboldt-Universität wur-de darüber gesprochen, wie wir sie ins Land holen undausbilden . Es ist erstaunlich, wie viele von ihnen späterin ihr Land zurückgehen und dort für Wohlstand undWachstum sorgen . Einer der Studenten meldete sich beider Diskussion zu Wort – es war ein Student aus Afrika;er stand in der letzten Reihe – und fragte: Warum tun Siedas für uns? Was haben Sie davon? Ich fand, dass daseine kluge Frage war . Neben Dankbarkeit und wahremInteresse schwang bei der Frage auch ein Misstrauen mit,das sich durch die Kolonialgeschichte und den Protek-tionismus der Wirtschaftsmächte in Europa tief in dasGedächtnis einiger Länder in der Welt eingegraben hat .Das zu verstehen, muss Teil dieser Debatte sein, in derwir über die Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen .
Dieser Protektionismus, der andere durch Zoll- und Han-delspolitik strukturell benachteiligt, ist natürlich daraufangelegt, dass wir schneller und noch stärker wachsen .Das ist nichts anderes als globalisierter Eigennutz .Libyen ist nicht erst seit heute, sondern schon seitGaddafi das Haupttransitland auf der zentralen Route vonNordafrika über das Mittelmeer nach Italien . Seit 2014gelangten über 300 000 Flüchtlinge von dort aus nachEuropa . Im Jahr 2015 haben 4 000 Menschen die Boots-flucht durch das Mittelmeer nicht überlebt. Seit demSturz Gaddafis wird offensichtlich, was den afrikanischenKontinent schon sehr lange bewegt und inzwischen auchunseren . Der Gipfel in Valletta sollte die Lösung bringen:Geld für afrikanische Staaten, damit die Fluchtursachenvor Ort bekämpft werden können . Aber es stellt sich dieFrage – vielleicht heute mehr denn je –, ob ein Hilfsfondsallein wirklich die Lösung sein kann, solange Märkte mitsubventionierten Waren überschwemmt werden .
Das ist ein Grund für die massenhafte Migration vonMenschen aus Afrika Richtung Norden . Faires Handelnist ein Gebot der Menschenrechte, das ökonomisch auchnoch Sinn macht . Deswegen lautete die Antwort, die ichdem jungen Mann gegeben habe: Wir brauchen keineschwachen Partner in der Welt, wir brauchen starke Part-ner .
Es wird uns dauerhaft nur gut gehen, wenn es auch an-deren gut geht . Für unsere Außenpolitik heißt das, weg-zukommen von einer Außenpolitik der Staaten hin zueiner Außenpolitik der Zivilgesellschaften . Denn eineAußenpolitik, die Zivilgesellschaften stärkt, ist auch eineAußenpolitik, die Fluchtursachen bekämpft .
Als Sprecherin der sozialdemokratischen Fraktionfür die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik habeich mich sehr gefreut, dass diese in dem Beschluss derFraktionsvorsitzenden unserer Koalition jetzt endlich alswirksames Mittel bei der Bekämpfung von Fluchtursa-chen mit genannt wird .
Das Auswärtige Amt hat da in den letzten zwei JahrenAußerordentliches geleistet . Ich will nicht noch einmalwiederholen, was Kollege Wadephul gesagt hat, aber ei-Dr. Johann Wadephul
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nes ist, glaube ich, klar: Auf dem Weltparkett und auchhier in Berlin sucht unser Außenminister mit unerschüt-terlicher Ruhe, die nur ein Ostwestfale mitbringen kann,
nach diplomatischen Lösungen für den Frieden .
Wir brauchen diese Diplomatie dringend, damit einBoden für die Verständigung geebnet wird . Versöhnenstatt spalten – auf dem Boden wirkt auch die dritte Säuleunserer Außenpolitik, die Auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik .Humanitäre Hilfe ist mehr als ein Brot, ein Bett, einZelt . Es geht darum, Zukunftsperspektiven zu schaffen,Heimat zu stabilisieren und wieder aufzurichten . LassenSie mich sagen: Das Cash-for-Work-Programm ist gut .Aber vielleicht könnten wir noch etwas draufsetzen .„Education for Work“, das wäre eine Initiative, über dieich mich freuen würde . In diesem Sinne sollten wir dasweiterentwickeln .Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Tobias Zech für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben viel über die Fragen gehört: Wie können wir Flucht-ursachen vor Ort bekämpfen? Wie können wir den Men-schen vor Ort helfen? Lassen Sie mich einen Blick aufdie Frage werfen: Wie können wir den Ländern, die umdie Katastrophengebiete herum liegen, helfen? Wir ha-ben über die Türkei gesprochen, wir haben über Jordani-en gesprochen, und wir haben über den Irak gesprochen .Das alles sind Länder, in denen momentan Flüchtlin-ge aufgenommen werden . Meine Damen und Herren,90 Prozent der Flüchtlinge aus dem Syrienkrieg fliehennicht nach Europa, sondern in diese Länder .
Europa hat jahrelang dabei zugesehen, wie diese Län-der mit dieser Katastrophe umgehen . Jetzt ist es Zeit, zuhandeln; wir haben auch das richtige Team . Ich möchtegleich zu Beginn Minister Müller dafür danken, dass erdies sofort nach seiner Amtsübernahme erkannt und die-se Länder massiv unterstützt hat, und das unter Ausrei-zung aller Ermessensspielräume, die der Bundeshaushalthergibt .
Sehr geehrter Herr Minister, vielen Dank! Sie haben Gro-ßes geleistet, und wir sind auf dem Weg, noch mehr zuleisten .
Ich möchte mich, wie es auch der Kollege Wadephulgetan hat – Herr Staatsminister Roth, ich bitte, das aus-zurichten –, aber auch bei den deutschen Diplomaten undden deutschen BMZ-Mitarbeitern vor Ort bedanken . Ichbin oft im Libanon und in der dortigen Botschaft . DieDiplomaten vor Ort, die die Bundesrepublik – uns allehier – vertreten, leisten Großes . Wir können auf dieseMitarbeiter stolz sein, und wir können stolz auf das sein,was sie tun . Sie verschaffen der Bundesrepublik nicht nurein hervorragendes Antlitz, sondern sie vertreten auchunsere Interessen, und sie sind ein großer Beitrag zu un-serem Erfolg . Ich bitte, diesen Dank weiterzugeben .
Kommen wir zur Türkei . Ich weiß, es ist momentansehr einfach, auf die Türkei zu schimpfen . Ich habe, wieauch viele von Ihnen, Nizip und Kilis besucht . Wenn mandort in einem Lager mit 25 000 Menschen steht und sieht,welche Anstrengungen die Türkei unternommen hat,dann muss man – unabhängig davon, wie die Regierungmomentan agiert – auch den dort Verantwortlichen, etwader Bürgermeisterin von Gaziantep, den NGOs vor Ortund den türkischen Beamten danken, die sich schon seitJahren um diese Menschen kümmern . Auch das gehörtzur Wahrheit .
Wir haben in der Türkei zumindest eine, ob sie unsgefällt oder nicht, stabile Regierung – noch . Es gibt aberandere Länder um Syrien herum – Sie erlauben mir, dassich den Blick jetzt etwas stärker auf den Libanon len-ke –, die keine stabile Regierung haben . Im Libanon zumBeispiel gibt es seit 2014 keinen Staatspräsidenten mehr .Der Libanon, meine Damen und Herren, ist das einzigeLand im Orient, in dem ein früherer Staatspräsident nochlebt . Der Libanon könnte eine Modellregion sein .
– Das ist vielleicht nicht im Orient, Kollegin Roth; aberdarüber können wir ja noch streiten . Dann sage ich: DerLibanon ist eines der wenigen Länder, in denen das derFall ist . Kollegin Roth, können wir uns darauf einigen?
– Gut . – Aber ich glaube, wir sind uns einig, dass wir denLibanon als eine Modellregion betrachten können, alseine Modellregion, in der verschiedene Religionen undverschiedene soziokulturelle Gruppen in einer Demokra-tie friedlich miteinander gelebt haben . Ihnen müssen wirhelfen .
Michelle Müntefering
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Ich habe Kommunen in der Bekaa-Ebene und in Akkarbesucht . In diesen ärmsten Provinzen leben 5 000 Ein-wohner und 5 000 Flüchtlinge . Hier funktioniert nichtsmehr, weder bei der Wasserversorgung noch bei der Was-serentsorgung . Jeder von Ihnen, der auch Kommunalpo-litiker ist – ich bin es seit 14 Jahren –, weiß, dass eineKommune so etwas nicht stemmen kann . Diesen Men-schen müssen wir vor Ort helfen . Nicht nur mit Geld,sondern auch politisch müssen wir dem Libanon helfen,diesen „governmental freeze“ zu überwinden und das zuwerden, was das Land sein kann: eine Modellregion indiesem eskalierenden Konflikt.
Lassen Sie mich noch erwähnen, warum es wichtigist, dass wir auch mit Geld helfen . Ich selbst bin gelernterEinzelhandelskaufmann . Ich will damit sagen: Ich kanngut einkaufen . Alle Stereotypen, die man in diesem Zu-sammenhang äußern könnte, treffen auf mich nicht zu,weil ich während meiner Ausbildung zwei Jahre langTomaten nach Größe und Joghurts nach Datum sortierthabe . Ich habe versucht, für 21 Dollar im Libanon einzu-kaufen, und ich weiß, wie man Lebensmittel einkauft . Ichweiß, wo ich zugreifen muss, damit ich für wenig Geldviele Proteine bekomme . Ich habe es nicht geschafft .Deutschland hat als größter bilateraler Geber in Lon-don einen sehr großen Beitrag geleistet, was richtig ist .Darüber hinaus ist es unsere Verpflichtung, alle anderenLänder in Europa, aber auch in der Welt weiter dazu an-zuspornen, sich auch zu beteiligen . Wenn ich nach Frank-reich mit 70 Millionen Einwohnern und nach Italien mit43 Millionen Einwohnern sehe, dann stelle ich fest, dasses in der Frage, wie man vor Ort helfen kann, noch Raumfür Verbesserungen gibt .Ich kann es niemandem verdenken, dass er sich dann,wenn er seine Familie nicht ernähren kann, auf den Wegüber das Meer macht . Der Minister hat es ausgeführt, unddie Kollegin Wöhrl hat es ebenso sehr klar zum Ausdruckgebracht: Die humanitäre Hilfe, die wir leisten, geschiehtnicht hier bei uns, sie geschieht vor Ort . Hier müssen wirmit Geld unterstützen . Wir müssen aber auch politischunterstützen . Frau Kollegin Hänsel, deswegen sind Siemit Ihren Ausführungen oft über das Ziel hinausgeschos-sen . Natürlich gehört die Sicherheitspolitik auch dazu .Ohne Sicherheit können Sie ein Land nicht entwickeln .
Deshalb lassen Sie mich zum Schluss noch eines sa-gen: Ich war acht Jahre lang Soldat, und ich bin dank-bar für die Entscheidung der Bundesministerin, dass wirnicht nur die Truppen verstärken, sondern auch derenEquipment verbessern . Wir können stolz sein auf unsereSoldaten . Sie sind teilweise unsere besten Entwicklungs-helfer . Lassen Sie uns so weitermachen .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Ich schließe diese Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/8393 und 18/8247 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dannsind die Überweisungen so beschlossen .Ich komme zu Tagesordnungspunkt 4 c, zur Be-schlussfassung des Ausschusses für Menschenrechteund humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „InterministerielleZusammenarbeit bei der Bewältigung der Fluchtkrisein Drittstaaten verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8430,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/6772 abzulehnen . Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Op-position angenommen worden .Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Renate Künast, Dr . Konstantinvon Notz, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung desStrafgesetzbuches zur Streichung des Majes-tätsbeleidigungsparagrafen
Drucksache 18/8123Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Kultur und MedienZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten HaraldPetzold , Frank Tempel, Dr . AndréHahn, weiteren Abgeordneten und der FraktionDIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines ... Ge-setzes zur Änderung des Strafgesetzbuches –Neuordnung der BeleidigungsdelikteDrucksache 18/8272Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazukeinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Debatte . Als erster Redner in der De-batte hat Hans-Christian Ströbele von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir haben einen Ge-setzentwurf eingebracht, mit dem wir die Streichung des§ 103 Strafgesetzbuch erreichen wollen, und zwar nichterst in der nächsten Legislaturperiode, sondern jetzt, undTobias Zech
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zwar sofort mit der Veröffentlichung im Bundesgesetz-blatt .
Wir brauchen in Deutschland keinen Strafrechtsschutzgegen Majestätsbeleidigung .
Der Majestätsbeleidigungsparagraf passt nicht mehr inunsere Gesellschaft . Er ist auch nach Auffassung derKanzlerin entbehrlich . Ich sage: Er ist nicht nur entbehr-lich, sondern er ist auch gefährlich, weil die Kommen-tatoren immer wieder zu diesem Paragrafen geschriebenhaben: Er verführt dazu, dass Despoten mithilfe diesesParagrafen versuchen, zu verhindern, Kritik an ihrenFehlhandlungen öffentlich werden zu lassen . Das warschon immer eine Gefahr, und dieser wollen wir vorbeu-gen .
Wir brauchen einen solchen Schutz auch nicht; dennauch Majestäten sind Menschen, und alle Menschensind durch § 185 Strafgesetzbuch vor Beleidigungengeschützt . Wir müssen hier also keine Unterschiede ma-chen, schon gar nicht in einer demokratischen Gesell-schaft, in der es ja eigentlich gar keine Majestäten mehrgeben soll .
Wenn man die Zeitungen liest und die Kanzlerin imFernsehen erlebt, dann weiß man, dass eigentlich alle da-für sind, diese Vorschrift abzuschaffen .
Man fragt sich: Wo ist eigentlich das Problem?Ich habe heute Morgen im Fernsehen gesehen, dassSie noch ein Problem haben und das Außenministeriumeinbeziehen wollen . Aber die Kanzlerin hat schon ange-kündigt, dass von der Bundesregierung ein entsprechen-der Gesetzentwurf vorgelegt wird . Ich nehme an, das hatsie mit Ihnen abgesprochen . Der Bundesjustizministerhat auch schon einen Entwurf fertiggestellt . Er liegt alsovor . Da sich hier alle einig sind, frage ich: Woran liegt es,dass das nicht ganz schnell verabschiedet werden kann?
Ich sage: Das Problem ist die Majestät Erdogan,
die ein nachhaltig gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit,zur Meinungsfreiheit und zur Kunstfreiheit hat, und dasProblem ist die Kanzlerin, die versucht, diesem HerrnErdogan, dieser Majestät, alles recht zu machen .
Daraus ist das Problem entstanden, mit dem wir uns heu-te hier zu beschäftigen haben .
Die Kanzlerin hat am 15 . April 2016 im Fernseheneine Erklärung abgegeben, in der sie erklärt hat – dasist, glaube ich, einmalig in der Geschichte –, dass sie dieStaatsanwaltschaft ermächtigt, auf den Strafantrag desHerrn Erdogan hin ein Ermittlungs- und Strafverfahrengegen Herrn Böhmermann zu eröffnen .
Gleichzeitig, im gleichen Atemzug – zwei Sätze spä-ter –, sagt sie: Aber diese Vorschrift wollen wir abschaf-fen . –
Das soll allerdings erst im Jahr 2018 in Kraft treten, alsoin der nächsten Legislaturperiode . Ich glaube, einen sol-chen Vorgang hat es noch nicht gegeben . Ich habe einensolchen jedenfalls noch nicht miterlebt .Jetzt kommt das Nächste: Die Kanzlerin sagt: Wir ma-chen das ja nur, weil wir uns in die Justiz nicht einmi-schen wollen . Die Justiz soll natürlich darüber entschei-den, ob hier ein Straftatbestand gegeben ist und ob manbestrafen soll .
Das ist ja richtig . Nur, darum geht es überhaupt nicht .Die Justiz wird sich mit diesem Fall ohnehin beschäfti-gen und klären, ob das, was Herr Böhmermann gemachthat, eine Beleidigung war oder ob es dafür Rechtferti-gungsgründe – Pressefreiheit, Kunstfreiheit, Meinungs-freiheit – gibt .
Das wird die Justiz ohnehin prüfen . Hier ging es um einepolitische Entscheidung der Kanzlerin: Gibt sie die Er-mächtigung? Es ist nur in ganz wenigen Vorschriften desStrafgesetzbuches vorgesehen, dass die Bundesregierungeine Ermächtigung geben muss . Dabei wird sie sich na-türlich nach politischen Überlegungen richten .Das Schlimmste daran ist aber, dass die Kanzlerinnicht sagt, worum es eigentlich geht . Die Verlogenheitdieser Politik führt zu Unzufriedenheit überall in der Ge-sellschaft . Sie sagt nicht, dass es darum geht, dass sieHerrn Erdogan besuchen und das Klima und die Stim-mung dafür vorbereiten wollte und dass sie ihm rechtgibt und sagt: Das wird jetzt hier in Deutschland verfolgt;ich haben die Ermächtigung erteilt .Hans-Christian Ströbele
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Dieser Kotau vor der Stimmungslage von HerrnErdogan, dieser Majestät oder dieses Sultans, ist der ei-gentliche Grund . Das darf deutsche Politik nicht bestim-men .
Es darf auch nicht bestimmen, ob ein Strafverfahrendurchgeführt werden muss . Das sind keine politischenÜberlegungen . Die Kanzlerin weigert sich, hier im Deut-schen Bundestag und in der Öffentlichkeit die eigentli-chen Gründe zur Diskussion zu stellen .
Man kann ja darüber diskutieren: Was tun wir allesfür ein gutes Verhältnis zur Türkei? Was tun wir nicht?Wo ist da die Grenze? – Aber sie kann nicht drumherumreden . Wir verlangen von ihr, dass sie sagt, warum sie soentschieden hat, und dass sie diese ihre Auffassung hierzur Diskussion stellt .Der langen Rede kurzer Sinn:
Da alle dafür sind, laden wir Sie ein, für unseren Gesetz-entwurf zu stimmen .
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Sie können auch – wir sind da ganz flexibel – eigene
Zusätze vorlegen . Dagegen haben wir gar nichts .
Wir wollen nur, dass das Inkrafttreten dieser Streichung
nicht erst in die nächste Legislaturperiode verschoben
wird – wer weiß, was dann ist –, sondern wir wollen sie
vom Fall Böhmermann abtrennen .
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss .
Dann sind Sie auch die ganzen Probleme mit Herrn
Erdogan los, weil in dem Augenblick das Verfahren ge-
gen Herrn Böhmermann nicht mehr durchgeführt werden
kann .
Als nächster Redner hat Volker Ullrich von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe zurNeuregelung des § 103 Strafgesetzbuch .
Ich möchte vorausschicken, dass wir nicht den Fehlerbegehen sollten, ein Einzelfallgesetz zu debattieren . Esgeht um die Regelung von Straftaten gegen Vertreter aus-ländischer Staaten .Vorausgeschickt sei auch, dass in der Frage von Mei-nungs- und Pressefreiheit eines festgestellt wird: DieMeinungsfreiheit ist ein hohes Gut . Sie ist schlichtwegkonstituierend für eine freiheitlich-demokratische Ge-sellschaft . Sie ist sehr weitgehend . Diejenigen, die imöffentlichen Leben stehen, müssen viel ertragen . Aberdie Meinungsfreiheit ist auch nicht grenzen- und schran-kenlos, sondern sie findet ihre Grenzen im Recht und inder Würde des anderen . Es ist ein Grundrecht in der Ab-wägung und keines ohne Grenzen .
Über den § 103 Strafgesetzbuch lässt sich sehr treff-lich streiten . Wenn man sich die Debatten der letzten Wo-chen so ansieht, ist es erstaunlich, wer sich alles zu § 103Strafgesetzbuch geäußert hat und wer dessen sofortigeStreichung verlangte . Teilweise wird der Eindruck er-weckt, dass manche die Vorschrift sofort streichen woll-ten, ohne überhaupt zu wissen, dass sie jemals existierthat . Offenbar plant auch Justizminister Maas, den § 103sofort abzuschaffen . Aber wenn es ein solches Bedürfnisgäbe, sofort zu handeln: Warum hat er es denn nicht vor-her getan? Warum jetzt erst einzelfallbezogen?
Meine Damen und Herren, von einem Parlament wirdnicht erwartet – das sollte nicht unser Leitbild sein –, zuschnell und zu hektisch zu handeln und Gesetzgebungs-verfahren am derzeitigen Erregungsgrad sozialer Medienfestzumachen .
Gesetzgebung braucht klare Orientierung, Nachdenken,Verlässlichkeit und Sorgfalt . Wir brauchen eine ernstzu-nehmende Verantwortung und keine Schnellschüsse .
Das gilt insbesondere für das Strafrecht . Der Straf-anspruch des Staates ist die einschneidendste Form, wieder Verfassungsstaat seinen Bürgern gegenübertritt . DasStrafrecht ist das schärfste Schwert des Staates . Deswe-gen hat der Gesetzgeber besondere Sorgfaltspflichten,wenn er über strafrechtliche Normen debattiert . DieseSorgfaltspflicht, meine Damen und Herren, lassen die Ge-setzentwürfe der Grünen und der Linken stark vermissen .Hans-Christian Ströbele
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Man könnte den Eindruck gewinnen, es ginge Ihnengar nicht um Strafgesetzgebung, sondern darum, auf derWelle der ansonsten berechtigten Kritik gegen Erdoganzu surfen und damit taktisches Handeln zu produzieren,statt sorgfältiger Gesetzgebung . Das ist mit uns nicht zumachen .
Sie sprechen zunächst vom „Majestätsbeleidungspa-ragrafen“ . Den Begriff des Majestätsbeleidigungspara-grafen hat in letzter Zeit vornehmlich die Boulevardpres-se gebraucht .
Das mag zur Vereinfachung eines Sachverhaltes zutref-fend sein . Er ist aber fehl am Platz, wenn es um konkreteRechtsfragen geht . Ich sage Ihnen: Unsere Fraktion istnicht bereit, im Strafrecht eine Boulevardisierung derBegriffe und der Politik zu akzeptieren . Wir arbeiten hiersorgfältig .
Die Majestätsbeleidigung ist zunächst einmal die Be-leidigung des eigenen Staatsoberhauptes, sofern er einMonarch ist . Aber der § 103 Strafgesetzbuch schützt inerster Linie gar nicht die Ehre . Geschützt werden dieauswärtigen Beziehungen des Bundes, die Integrität vonauswärtigen Delegationen und Diplomaten, also der Res-pekt zwischen den Völkern und das Funktionieren desVölkerrechts . Das ist das Schutzgut . Das bitte ich Sie zurKenntnis zu nehmen .
§ 103 Strafgesetzbuch steht nicht allein . Er ist in einSystem von weiteren Normen eingebettet; dazu gehörtbeispielsweise auch der Schutz ausländischer Flaggenund Hoheitszeichen .
Wenn man § 103 Strafgesetzbuch isoliert streichen wür-de, dann hätte das zur Folge: Wenn Sie einen Diplomatenoder Regierungschef eines anderen Landes anspuckenund sein Gesicht treffen, werden Sie nach Ihrer Rechts-art weniger hart bestraft, als wenn Sie die Flagge treffen,die am Auto angebracht ist . Ein solcher Wertungswider-spruch kann nicht sein . Deshalb sollte man die gesamtenParagrafen lesen . Man sollte den Paragrafen lesen, der§ 103 vorausgeht, und den, der danach folgt .
Das lernt man im ersten Semester Strafrecht .
Nun zum Gesetzentwurf der Linken . Kern Ihres Ge-setzentwurfs ist die Streichung der Verunglimpfung desBundespräsidenten . Aus unserer Sicht muss die Verung-limpfung des Bundespräsidenten bleiben,
nicht deswegen, weil der Bundespräsident als Personmehr Ehrenschutz verdient hätte als ein normaler Staats-bürger – insofern befindet sich auch der erste Bürger die-ses Landes auf der gleichen Ebene –, sondern weil wir,indem wir den Bundespräsidenten schützen, auch unsereigenes Verfassungssystem schützen . Wir schützen denRespekt vor dem gewählten Staatsoberhaupt und dieSelbstachtung der freiheitlich-demokratischen Grund-ordnung . Daran werden wir nichts ändern .
Trotzdem werden wir die Straftaten gegen ausländi-sche Staaten einer konkreten, aber auch verantwortlichenund klug abgewägten Reform zuführen .
Wir müssen darüber diskutieren, ob die Strafrahmen zu-einanderpassen, ob es sein kann, dass die Strafrahmenbei Beleidigungsdelikten höher oder tiefer liegen als imBereich der §§ 102, 103, 104 a Strafgesetzbuch .Wir müssen darüber reden, ob wir die Verfolgungser-mächtigung durch die Bundesregierung beibehalten, dieübrigens in der Strafantragsbefugnis ihre Entsprechunghat, wenn jemand einzelbeleidigt wird . Wir müssen darü-ber reden, ob sie beibehalten wird oder ob wir es als Auf-gabe des Rechtsstaats und der unabhängigen Gerichteansehen, nachzuprüfen, ob eine Beleidigung vorlag odernicht . Wir müssen uns fragen, wie wir Hoheitszeichenund Flaggen ausländischer Delegationen schützen, wennsie sich in offizieller Mission in Deutschland befindenund auch den Respekt dieses Landes verdient haben .Das sind Fragen, für deren Lösung wir uns die nötigeZeit nehmen sollten .
Nur kurzfristig zu sagen: „Es gibt eine gewisse Empö-rung in diesem Lande, und daraufhin ändern wir dasStrafgesetzbuch“, ist unsorgfältig . Gegen ein solcheskurzfristiges Handeln der Politik wenden sich die Men-schen zu Recht .
Dr. Volker Ullrich
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Ja, wir sind auch empört
darüber, dass in vielen Teilen der Welt Presse- und Mei-nungsfreiheit nicht in dem Maße gewährleistet werden,wie sie gewährleistet werden müssten . Wir sind empörtdarüber, dass auch ausländische Politiker den Rechtsstaatin Deutschland in Anspruch nehmen dürfen, obwohl sieselbst diesen Rechtsstaat in ihrem eigenen Land nicht imgleichen Maße gewährleisten . Auch das muss man sagen .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Bitte .
Herr Kollege, ich höre Ihnen mit großem Interesse zu
und frage mich, mit wem Sie das alles abgestimmt haben .
Ich lese Ihnen nur einen kurzen Satz der Kanzlerin vor .
In ihrer bekannten Rede vom 15 . April 2016, die immer
wieder gesendet worden ist, heißt es abschließend:
Wir werden deshalb einen Gesetzentwurf zu seiner
Aufhebung
– gemeint ist § 103 –
vorlegen .
Die Frage ist doch geklärt . Oder sollen wir der Kanzlerin
nicht mehr glauben?
Herr Kollege Ströbele, in diesem Lande werden die
Gesetze durch das Parlament gemacht, nicht durch die
Bundesregierung .
Das sollten Sie wissen . Die Bundesregierung kann gerne
einen Vorschlag machen . Wir werden darüber in Ruhe
debattieren und eine Anhörung dazu durchführen . Wir
werden aber nicht dem süßen Gift erliegen, ein Einzel-
fallgesetz zu machen, das verfassungswidrig wäre und
das nur einer temporären Empörung entsprechen würde .
Wir haben in diesem Hohen Hause die Verpflichtung,
gerade im Bereich des Strafrechts sehr besonnen, klug
und verlässlich zu agieren . Das werden wir machen . Wir
werden diese Aufgabe wahrnehmen, aber nicht, indem
wir heute einem untauglichen, inhaltlich nicht abge-
stimmten und auch nicht sehr guten Vorschlag Ihrerseits
zustimmen .
Herzlichen Dank .
Als nächster Redner hat Harald Petzold von der Frak-
tion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Besuchertri-bünen! Jetzt haben wir es also amtlich von der Unions-fraktion bekommen, dass die Kanzlerin offensichtlichden Vorschlag für ein verfassungswidriges Gesetz ge-macht hat . Einen so starken Tobak hat noch nie ein Uni-onsvertreter hier am Rednerpult abgelassen .
Ich möchte meine Rede mit einem Zitat beginnen:„Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch, Herr Präsident!“
Dieser Satz wurde in diesem Haus einmal gesprochen .Der Urheber dieses inzwischen historischen Zitatjuwelsaus der deutschen Parlamentsgeschichte kam damalsglimpflich davon. Das lag vielleicht auch daran, dassRichard Stücklen, der seinerzeit als Vizepräsident der da-maligen Sitzung so tituliert wurde, über einen gewissenRestposten an Humor verfügte . Ich habe mir mittlerweilesagen lassen, dass das A-Wort in Stücklens bayerischerHeimat manchmal sogar eine Art Belobigung sein soll .Der – ich zitiere wieder – nervenkranke Despot vomBosporus ist dagegen ein eher missmutiger Zeitgenosse .Das wissen die am besten, die unter ihm zu leiden haben .Er gehört mit Sicherheit zum Kreis derjenigen, die dieseArt bayerischer Belobigung allemal verdient hätten .
Ich frage: Sind noch ein paar Namen mehr gefällig?Assad in Syrien, Kim Jong-un in Nordkorea, Umaral-Baschir im Sudan, jeder Einzelne aus der Reihe dieserBlutrünstigen steht unter dem Schutz des § 103 unseresStrafgesetzbuches . Aus Staatsräson darf ich keinen die-ser mordlüsternen Spießgesellen so kritisieren, wie daseigentlich nötig wäre, weil ich dann Gefahr laufe, ihn zubeleidigen .
Im Übrigen ist der Kollege Orban in Ungarn auch keiner,dem die Presse- und Meinungsfreiheit besonders am Her-zen liegt . Oder was ist mit dem Kollegen Kaczynski inDr. Volker Ullrich
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Polen oder dem Kollegen Putin in Russland? Von DonaldTrump erhoffe ich mir, dass er nie in die Gesellschaft der-jenigen vorrückt, die die Privilegien des § 103 genießen .Dieser Paragraf muss fallen .
Herr Kollege Ullrich, wenn ich Sie richtig verstandenhabe, wollen Sie eigentlich gar nicht, dass dieser Para-graf gestrichen wird .
Warum will die Bundeskanzlerin die Streichung erst2018? Was spricht gegen eine sofortige Streichung, wiesie die anderen Fraktionen einfordern? Hierfür kann esaus unserer Sicht nur eine Erklärung geben: Hier sollder Öffentlichkeit wieder einmal eine der berühmten Merkel’schen Beruhigungspillen verpasst werden, damitman ein Problem aussitzen kann .
Denn erst mit ihrer verhängnisvollen Kommentierung dessogenannten Schmähgedichts von Herrn Böhmermannhat die Staatsaffäre Böhmermann begonnen . Jetzt wol-len Sie einfach Gras über die Sache wachsen lassen unddann so weitermachen wie bisher . Das macht die Linkenicht mit .
Das Strafgesetzbuch regelt Beleidigungsdeliktegrundsätzlich in den §§ 185 ff . Die Beleidigungsdelikteumfassen neben der Beleidigung die üble Nachrede unddie Verleumdung . Dennoch enthält das deutsche Straf-recht seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs ei-nen Anachronismus, der nicht nur seinesgleichen sucht,sondern auch die Gleichheit aller vor dem Gesetz aushe-belt, die sogenannten Sonderbeleidigungsdelikte .Das sind die Regelungen über die Beleidigung vonOrganen und Vertretern ausländischer Staaten, also der§ 103, die Verunglimpfung des Bundespräsidenten, der§ 90, sowie die üble Nachrede und Verleumdung vonPersonen des politischen Lebens, der § 188 . Diese Son-derregelungen verstoßen gegen unser freiheitlich-de-mokratisches Grundverständnis; denn im Artikel 3 desGrundgesetzes steht: „Alle Menschen sind vor dem Ge-setz gleich .“
Weder der türkische Präsident noch der Bundespräsi-dent oder Personen des politischen Lebens sind gleicher,und niemand kann die Frage beantworten, warum wirPolitikerinnen und Politiker gleicher als unsere Wähle-rinnen und Wähler sein sollen .
Die Linke ist die einzige im Bundestag vertreteneKraft, die neben der Abschaffung des § 103 Strafgesetz-buch auch die Abschaffung dieser eben genannten Son-derparagrafen fordert . Es ist einfach inkonsequent, denbesonderen Schutz ausländischer Staatsoberhäupter ab-schaffen zu wollen, aber den des eigenen beizubehalten .
Deswegen sagen wir: Wer auf halber Strecke stehenbleibt, indem er es bei der Streichung nur des § 103 desStrafgesetzbuchs belässt, der offenbart entweder, dass esihm oder ihr nicht um die Sache geht, sondern nur darum,einer aktuellen Stimmung hinterherzulaufen,
oder dass sie oder er ein seltsames Verständnis unseresGrundgesetzes hat .Hinzu kommt, dass an verschiedenen Stellen desStrafgesetzbuches die Strafverfolgung von einer soge-nannten Verfolgungsermächtigung abhängig gemachtwird . Ohne eine solche Verfolgungsermächtigung kanndie Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die im Einzelnengenannten Straftaten nicht tätig werden, so auch im Fal-le Böhmermann . So wurde die Kanzlerin zur De-facto-Anklägerin . Das erinnert eher an Feudalabsolutismus .Auf jeden Fall widerspricht es der Gewaltenteilung inunserem Land; denn ob eine Strafverfolgung stattfindet,obliegt einzig und allein der Judikative .
Linke, SPD und Grüne haben zu Recht die Verfol-gungsermächtigung durch die Bundesregierung im Fal-le Böhmermann kritisiert . Die drei SPD-Minister habensogar im Kabinett ihre ewige Oppositionsrolle wiederheldenhaft gespielt . Aber auch hier ist die Linke wiedereinmal die einzige im Bundestag vertretene politischeKraft, die durch eine Streichung dieser Verfolgungser-mächtigung im Strafgesetzbuch eine strikte Gewaltentei-lung einfordert . Liebe Besucherinnen und Besucher, Siekönnen damit sehen: Die Linke bleibt nicht auf halbemWege stehen . Wir denken die Sache mit unserem Gesetz-entwurf konsequent zu Ende .An die Kolleginnen und Kollegen der SPD möch-te ich abschließend folgende Worte richten: Sollten Siewirklich ein ernsthaftes Interesse an der Umsetzung IhrerAnkündigung oder der Ankündigung von JustizministerHeiko Maas haben, so nutzen Sie die vorhandene parla-mentarische Mehrheit hier im Deutschen Bundestag undstimmen unserem oder wenigstens dem Gesetzentwurfder Grünen zu . Wenn Sie mir jetzt wieder sagen wollen,das sei mit Ihrem Koalitionspartner, das sei mit der Unionnicht zu machen, dann frage ich Sie allen Ernstes mit denWorten Ihres Neumitglieds, der Putzfrau Susanne „Susi“Neumann: Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?Vielen Dank .
Harald Petzold
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Als nächste Rednerin hat Dr . Eva Högl für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undliebe Kollegen! Die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit,auch die Kunstfreiheit sind höchste Schutzgüter unseresGrundgesetzes . Sie stehen in Artikel 5 an prominenterStelle und werden dort garantiert, und sie sind nicht ver-handelbar – die erste Vorbemerkung .
Die zweite Vorbemerkung . Alle Menschen genießengleichermaßen das Recht auf körperliche Unversehrtheitund auf Achtung ihrer Würde, alle Menschen, egal ob siearm oder reich, groß oder klein, dick oder dünn sind, obsie Ausländer oder Inländer, ob sie Politiker oder diesnicht sind . Die Ehre eines jeden Bürgers und einer jedenBürgerin ist gleich viel wert .
Deshalb soll das Strafrecht alle Menschen ohne Ansehender Person vor tätlichen Angriffen und auch vor Beleidi-gungen und Verleumdungen schützen . Das ist ein ganzwichtiges Prinzip .Der Fall Böhmermann hat uns vor Augen geführt, dasswir im Strafrecht einige Sondertatbestände haben, dieeinige vielleicht schon gekannt haben, einige vielleichtaber auch nicht – ich schaue jetzt einfach einmal in dieRunde –, und die uns zu der Überlegung geführt haben,diese Sondertatbestände zu streichen. Ich finde es absolutin Ordnung, dass wir darüber anlässlich eines Einzelfallsnachdenken; das ist absolut in Ordnung . Das heißt nicht,dass wir immer auf einen Einzelfall reagieren . Aber esheißt, dass wir einen Einzelfall zum Ausgangspunkt neh-men, um zu erkennen, dass bestimmte Dinge vielleichtnicht so sind, wie sie sein sollen . Wir als SPD-Bundes-tagsfraktion stimmen absolut mit der Bundeskanzlerinüberein, dass § 103 StGB gestrichen werden soll .
Das hat unser Fraktionsvorsitzender und damit wir alserste Bundestagsfraktion – darauf lege ich hier schon einbisschen Wert – schon am 12 . April dieses Jahres öffent-lich gefordert . Dabei bleiben wir auch . Ja, § 103 stammtaus einer vordemokratischen Zeit: Als er entstand, ginges um Majestätsbeleidigung . Ich glaube, wir sind unsalle hier in diesem Haus einig, dass dieser Paragraf nichtmehr in unsere Zeit passt .Die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupterwird schärfer sanktioniert als die normale Beleidigung .Der Fall Böhmermann hat gezeigt, dass genau diese ansich gutgemeinte Regelung, die nämlich die diplomati-schen Beziehungen schützen soll, das gerade nicht tut,sondern sogar zum Gegenteil führt, nämlich zu diploma-tischen Verwicklungen . Denn neben dem ohnehin über-zogenen Ehrenschutz, wie ich es eben schon dargelegthabe, führen auch die Voraussetzungen der Strafverfol-gung zu Verwicklungen und zu Schwierigkeiten, nämlichbeim § 104 a .Das vorgesehene Strafverlangen der türkischen Re-gierung hat zu Recht bei uns Befremden ausgelöst – ichglaube, das gilt für viele hier im Haus –; denn geradedie Türkei hat kein besonders gutes Verhältnis zu Pres-se- und Meinungsfreiheit . Das konnten wir nicht nur inden letzten Tagen und Wochen beobachten . PräsidentErdogan hat seit seinem Amtsantritt rund 2 000 Strafver-fahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung ein-leiten lassen . Auch das gehört in unsere Diskussion . Vordiesem Hintergrund und wegen des hohen Stellenwertesder Meinungsfreiheit ist die Ermächtigung der Bundes-regierung zur Strafverfolgung in der Öffentlichkeit nichtvermittelbar; auch diese Ermächtigung ist absolut unzeit-gemäß .
Denn damit wird das Verhalten von Privatpersonen wieim Fall Böhmermann zu einer Staatsaffäre . Deswegen ist§ 104 a zu streichen .Was ich besonders problematisch finde, ist, dass essich im Fall Böhmermann gar nicht um eine normaleBeleidigung handelt, dass seine Äußerungen vielmehrim Kontext einer Satiresendung geäußert wurden . Auchdeswegen ist sehr kritisch zu beleuchten, dass nicht nur§ 104 a grundsätzlich falsch ist und zum Gegenteil führt,sondern dass wir es auch gar nicht zulassen dürfen, dassausländische Regierungen diese Vorschriften des Straf-gesetzbuches zu ihren politischen Zwecken missbrau-chen . Das ist eine ganz wichtige Frage, die wir hier mit-einander erörtern müssen .Die jetzige Rechtslage führt dazu, dass letztendlichdie Bundesregierung durch die Entscheidung darüber, obsie eine Ermächtigung erteilt, in eine politische Zwangs-lage kommt, in der man eigentlich nur falsch handelnkann, in der es fast kein Richtig gibt . Das hat sich ja auchdadurch gezeigt, dass die Bundesregierung bei dieserEntscheidung erstens nicht einer Meinung war und dasssie es sich zweitens zu Recht sehr schwer gemacht hat,ob diese Ermächtigung erteilt werden soll . Wenn es zudiplomatischen Störungen kommt, dann führt diese Er-mächtigung der Bundesregierung in § 104 a gerade zudem Gegenteil dessen, was sie eigentlich bewirken soll,nämlich die diplomatischen Beziehungen zu schützen .
Deswegen sagen wir ganz deutlich, dass es schwierigwar, dass die Bundesregierung die Ermächtigung erteilthat; ich habe es eben schon gesagt . Der Vorgang ist unter-schiedlich bewertet worden . Ich persönlich, viele anderein der Bundestagsfraktion und auch die SPD-Ministerhaben die Entscheidung der Bundeskanzlerin für einenFehler gehalten . Wir müssen auch schauen, dass kein po-litischer Schaden entsteht; denn allein dadurch, dass derEindruck entsteht, man habe sich von Erdogan in die eineoder andere Richtung lenken lassen, ist schon politischerSchaden entstanden . Es ist absolut richtig, dass die Bun-deskanzlerin direkt bei der Erklärung, dass die Ermäch-
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tigung erteilt wird, gesagt hat: Es ist Zeit, § 103 aus demStGB zu streichen, weil er nicht in unsere Zeit passt .
Deswegen: § 103 muss weg . Da sind wir uns hoffent-lich alle einig . Die SPD-Bundestagsfraktion sagt: Auch§ 104 a muss weg . Das sagen die Grünen leider nicht . Daenthält ihr Vorschlag eine Lücke, wie ich finde. Die Lin-ken gehen leider nicht weit genug mit ihrem Vorschlag,weil sie es bei § 104 a belassen und nur die Ermächti-gung der Bundesregierung herausstreichen wollen; dieRegelung zum Verlangen des Staates auf Strafverfolgungwollen sie leider nicht streichen . Deswegen sind beidevorliegenden Gesetzentwürfe nicht geeignet, hier be-schlossen zu werden . Die SPD-Bundestagsfraktion sagt:Beides weg, § 103 und § 104 a! Außerdem, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der Unionsfraktion: Sofortstreichen und nicht erst 2018! Dann würden wir hier dierichtige Entscheidung treffen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Detlef Seif
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich wollte eigentlich einerechtspolitische Rede halten und mich im Wesentlichennur an den Rechtsvorschriften entlang bewegen . Aber ei-niges, was die Kollegen Ströbele und Petzold gesagt ha-ben, kann so nicht stehen bleiben, weil es nicht richtig ist .Kollege Ströbele hat eingeleitet mit den Worten: Wenn§ 103 des Strafgesetzbuches abgeschafft wird, ist dasStrafverfahren gegen Böhmermann beendet .
Meine Damen und Herren, das ist rechtlich falsch .
Erdogan hat einen Strafantrag nach § 185 des Strafge-setzbuches gestellt .
Allein deshalb wird ein Strafverfahren durchgeführt .§ 103 des Strafgesetzbuches ist eine Spezialvorschrift;
sie führt zu einer Strafverschärfung . Aber es ist unwahr,wenn man sagt, das Verfahren wäre dann beendet . Nein,es wird ein Verfahren durchgeführt,
und zwar von der Justiz .
– Ja, von wem sonst?Meine Damen und Herren, eines ist doch klar: Pres-se- und Meinungsfreiheit sind ein hohes Gut . Satire istzulässig, ganz klar .
Aber, Herr Petzold, zu behaupten, dass man, wenn § 103des Strafgesetzbuches bestehen bleibt, in seiner Mei-nungsfreiheit, in der Pressefreiheit beeinträchtigt ist, istnicht richtig . Ich stelle immer wieder fest – insbesonderein der Bevölkerung, aber auch bei den Medien, teilweiseauch bei Kollegen –, dass nicht allgemein bekannt ist,was Böhmermann in seinem angeblichen Schmähgedichtgesagt hat . Da werden nur Fetzen herausgerissen . Ichwollte es eigentlich nicht; aber ich lese Ihnen das einmalvor, damit man weiß, was hier überhaupt gesagt wordenist:
Sackdoof, feige und verklemmt, ist Erdogan, der Präsident . Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner, selbst ein Schweinefurz riecht schöner .
Er ist der Mann, der Mädchen schlägt und dabei Gummimasken trägt . Am liebsten mag er Ziegen ficken und Minderheiten unterdrücken, Kurden treten, Christen hauen und dabei Kinderpornos schauen . Und selbst abends heißt’s statt schlafen, Fellatio mit hundert Schafen . Ja, Erdogan ist voll und ganz ein Präsident mit kleinem Schwanz . Jeden Türken hört man flöten, die dumme Sau hat Schrumpelklöten . Von Ankara bis Istanbul weiß jeder, dieser Mann ist schwul,
pervers, verlaust und zoophil – Recep Fritzl Priklopil . Sein Kopf so leer wie seine Eier, der Star auf jeder Gangbang-Feier . Dr. Eva Högl
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Bis der Schwanz beim Pinkeln brennt, das ist Recep Erdogan, der türkische Präsident .
Meine Damen und Herren, darüber brauche ichnicht lange nachzudenken: Hier werden Ressentimentsbedient . Hier wird eine Person in ihrer Ehre ganz klarangesprochen . Die Justiz hat zu entscheiden, ob dieseAusdrucksweise in dieser Form noch gedeckt ist von derMeinungs- und Pressefreiheit, und zwar unabhängig von§ 103 des Strafgesetzbuches .
Aber lassen Sie das einmal in Gänze auf sich wirken,ohne Ansehen der Person .
Versetzen Sie sich in Erdogan, und überlegen Sie, wieSie dazu stehen würden .
Jetzt kommen wir zur Rechtsdogmatik . Richtig ist,dass § 103 des Strafgesetzbuches eine Spezialvorschriftim Verhältnis zu den allgemeinen Beleidigungsvor-schriften nach § 185 ff . vorsieht . Voraussetzung ist dieBeleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts – derKollege Ullrich hat das auch vorgetragen –, eines aus-ländischen Regierungsmitglieds, das sich in Deutschlandaufhält, oder des Leiters einer diplomatischen Vertre-tung, also insbesondere eines Botschafters . Die Tathand-lung muss in der Tat zunächst einmal den allgemeinenBeleidigungsvorschriften entsprechen, also allgemeineBeleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung, und daslegt dann den Schluss nahe: Aha, es handelt sich um eintypisches spezielles Beleidigungsdelikt . – Das Argumentvon den Grünen und den Linken ist: Die Würde des Men-schen ist gleich, die Ehre ist gleich, und deshalb dürfehier keine Ungleichbehandlung erfolgen .Meine Damen und Herren, die Strafverfolgung fin-det nur statt, wenn die Bundesrepublik Deutschland zudem Staat, dessen Staatspräsident beleidigt worden ist,diplomatische Beziehungen unterhält . Die Gegenseitig-keit muss verbürgt sein, zum Zeitpunkt der Tatbegehungund zum Zeitpunkt der Prozessführung . Es muss einStrafverlangen der ausländischen Regierung vorliegen .Dieses zusätzliche Strafverlangen der türkischen Re-gierung über die Botschaft – neben dem Strafantrag vonErdogan – ist auch erfolgt . Die Bundesregierung – dasheißt in dem Fall insbesondere der Außenminister, auchwenn die Kanzlerin das erklärt hat – muss die Ermächti-gung zur Strafverfolgung erteilt haben .Es ist richtig, dass die Vorschrift auf die Historie zu-rückgeht: Preußisches Allgemeines Landrecht, 1794 . Et-liche Länder des Deutschen Bundes haben die Vorschriftübernommen . Sie wurde auch ins Reichsstrafgesetzbuchaufgenommen . Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegswurde sie zunächst gestrichen . Warum? Weil Deutsch-land keine außenpolitischen Beziehungen unterhaltendurfte, weil es keine Außenpolitik mehr machen durf-te . Deshalb war der Zweck der Vorschrift, nämlich derSchutz der außenpolitischen Beziehungen, entfallen .Insoweit ist die Rechtsvorschrift erst 1953 eingeführtworden, in etwas modifizierter Form. Es ist also keineVorschrift, die in dieser Form seit etlichen Hundert Jahrenbestanden hätte . Wörtlich heißt es in der Begründung –der Kollege Ullrich hat es schon allgemein ausgeführt –:Solche Handlungen können geeignet sein, das fried-liche Zusammenleben Deutschlands mit anderenVölkern zu beeinträchtigen, und sind daher im In-teresse der Völkergemeinschaft unter Strafe zu stel-len . …Die besondere Strafwürdigkeit der Tat ergibt sichdaraus, daß sich in dem Angegriffenen die auslän-dische Staatshoheit verkörpert . Es handelt sich umden Schutz der zwischenstaatlichen Beziehungenund nicht um den besonderen Schutz der Ehre einerEinzelperson .So schon der Gesetzgeber in der Begründung aus demJahr 1953 . Es ist somit erkennbar falsch, wenn man sichhier auf den Gleichheitsgrundsatz bezieht . Schutzgutsind die internationalen Beziehungen .Man muss daher wohl überlegen, wenn man an dieserVorschrift Änderungen vornimmt, dass sie in einem Sys-tem des Schutzes der internationalen Rechtsbeziehungenim Strafgesetzbuch steht . Die Kanzlerin hat zu Recht da-rauf hingewiesen, dass man hier genau hingucken muss,ehe man Änderungen vollzieht .
Auch die Vorschriften „Verunglimpfung des Bundesprä-sidenten“ oder „Üble Nachrede und Verleumdung gegenPersonen des politischen Lebens“ verfolgen letztlichnicht den Ehrschutz . Die eine Vorschrift verfolgt denSchutz des Amtes des Bundespräsidenten . Personen, diein der Öffentlichkeit eine politische Tätigkeit ausüben,sind geschützt vor öffentlich ausgesprochener üblerNachrede oder Verleumdung, vor Tatsachenbehauptun-gen, die sich auf das Amt beziehen, weil sie sonst Gefahrlaufen, in ihrer Amtsführung beeinträchtigt zu werden .Was ist daran falsch, jemanden, der eine Straftat begeht,nämlich sich ganz klar einer üblen Nachrede oder Ver-leumdung schuldig macht und damit die politische Exis-tenz einer Person, die ein Amt ausübt, gefährdet, einergewissen Strafverschärfung zu unterstellen? Man musshier ganz genau hingucken .Der letzte Punkt . Mit dem Entwurf der Grünen ist esschwierig; er besteht nur aus drei Sätzen . Da ist bei denLinken schon mehr Differenzierung vorhanden .
Bei dem Streichen der Strafverfolgungsermächtigungmuss man unterscheiden; das ist schon gesagt worden .Einmal ist das an das Antragsdelikt anzulehnen; ichglaube, Kollege Ullrich hat das auch gesagt . Wenn zumBeispiel eine Körperschaft beleidigt wird, muss die Kör-perschaft der Verfolgung zustimmen . Wenn der Bundes-Detlef Seif
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präsident verunglimpft wird, muss er ihr zustimmen . Dasist quasi wie beim Antragsdelikt . Darüber hinaus gibt esaber auch noch andere Strafverfolgungsermächtigun-gen – ich komme dann auch gleich zum Ende; die Zeit istfast abgelaufen –, und zwar im Bereich der Vorbereitungeiner schweren staatsgefährdenden Straftat . Bei der Auf-nahme von Beziehungen zur Begehung einer schwerenstaatsgefährdenden Straftat und der Terrorismusfinan-zierung, nämlich in den Fällen, in denen zumindest einTeil der Tatbegehung außerhalb der Europäischen Unionstattgefunden hat, soll der als außenpolitisch sinnvoll er-achteten Handhabung dieser Rechtsvorschrift Rechnunggetragen werden . Das ist der Grund, warum der Justiz-minister hier letztlich die Ermächtigung erteilen muss .Auch bei dieser Vorschrift macht es Sinn, sie in dieseroder zumindest ähnlicher Form beizubehalten .Was Sie heute vorgelegt haben, ist ein Schnellschuss .Diese Vorschriften dürfen angesichts der Systematik desGesetzes und der Wichtigkeit des Themas nicht einzel-fallbezogen, sondern müssen ohne Ansehen der Personangegangen werden .
Herr Kollege, es wäre schön, wenn Sie Ihren Worten
Taten folgen lassen .
Jetzt kommt meine Tat .
Sie müssen zum Schluss kommen .
Deshalb: Heute keine Änderung, erst darüber nach-
denken, beraten, Sachverständigenanhörung, und dann
sehen wir weiter .
Vielen Dank .
Als nächste Rednerin hat Renate Künast von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegenund speziell Herr Seif! Die Indemnität schützt Sie ja;aber vielleicht können Sie uns nachher einmal verraten,was Sie eigentlich geritten hat, das Gedicht hier zum Vor-trag zu bringen .
Niemand hat das getan . Ich muss ehrlich sagen: Ich fanddas Gedicht von Böhmermann nicht besonders klug,nicht besonders intelligent; hohe Kunst war es auchnicht . Seine Redenschreiber sind schlecht . Wahrschein-lich war er nur neidisch auf extra 3 und dachte: Da setzeich was drauf . – Aber es war eingebettet in eine Gesamt-konstruktion Satire . Ich meine, wir dürfen uns durch ei-nen Ausländer nicht vorschreiben lassen, was bei uns imLand Satire ist, wo immer er herkommt .
Das entscheiden wir selbst . Das legen bei uns die Ge-richte aus . Deshalb wird die Frage, ob Herr Böhmermannmit seinem Vorspann und seinen Ziegenfantasien – kru-de; das sagt ja auch etwas über ihn aus – Satire ist odersein kann, ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft ent-scheiden . Ich glaube nicht, dass darin wirklich außenpo-litischer Schaden liegt . Aber, ehrlich gesagt, war ich sehrpeinlich berührt für dieses Haus, als Sie als Mitglied desDeutschen Bundestages diesen Text hier verlesen haben .
Zu Herrn Ullrich, der meinte, der Maßstab für Geset-ze sei nicht der momentane Erregungszustand einzelnerMdBs . Ich sage Ihnen einmal ehrlich: Erregt sind ja zwei,Herr Erdogan und danach Frau Merkel, die sich im Te-lefongespräch gleich distanzierte und, und, und . HerrUllrich, Sie kommen hier mit der Sorgfaltseinrede . Ichsage Ihnen: Gerne beraten wir sorgfältig . Ich bin aller-dings der festen Überzeugung, dass wir vor dem 1 . Ja-nuar 2018 in der Lage sein werden – so viel Kompetenzist hier vorhanden; auch durch potenzielle Sachverstän-dige –, sorgfältig über dieses Gesetz zu beraten und zuentscheiden .
Das könnten wir innerhalb einiger Monate hinkriegen .Das ist doch fast eine Debatte aus Absurdistan . DieBundeskanzlerin und Parteivorsitzende der CDU – nach-dem sie erst einmal eine ordentliche Wende vollzogen hatin ihrer Auffassung – sagt, diese Regelung müsse manstreichen, der Bundesjustizminister sagt es, alle Frakti-onen im Haus sagen es, Sie haben als GroKo sogar eine80-prozentige Mehrheit; aber es soll dann lieber nichtentschieden werden . Das riecht schon fast nach Arbeits-verweigerung . Ich sage Ihnen: Was nach Auffassung al-ler Fraktionen, aller Abgeordneter in diesem Hause – wirsind der Gesetzgeber, die Gesetzgeberin – 2018 falschist, kann auch heute nicht richtig sein .
Warum sollen wir das Ganze eigentlich zu den Staats-anwälten und Gerichten schieben? Sie wissen: Alle sindder Meinung, dass dieser Paragraf falsch ist und dass erabgeschafft werden soll . Insofern ist es keine normaleGesetzesberatung, bei der man ein Problem berät, vondem man nicht weiß, ob oder wie man es löst und obman am Ende bei der alten Rechtslage bleibt . Nein, hierwissen wir schon, und zwar alle: Diesen Paragrafen solles nicht mehr geben . Und wir nehmen diese heiße Kar-Detlef Seif
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toffel und werfen sie den Staatsanwälten und Gerichtenzu, weil die erste Gewalt, die Gesetze machen muss, zufeige ist, sich dürfen zu trauen zum jetzigen Zeitpunkt?Was glauben Sie eigentlich, was passiert? Gehen Sieeinmal zu den Kriminalgerichten in die Besenkammern,in die Hinterzimmer . Da stehen die Aktenwagen, die dieStaatsanwälte da reinschieben . Anschließend werfen sieden Schlüssel weg, weil sie sich sagen: Wir sind ja nichtblöd, heute ein Verfahren mit aufwendiger Beweisauf-nahme durchzuführen . – Das Gedicht, das Sie zitiert ha-ben, würde dann auch noch von Anwälten in die Beweis-aufnahme gezogen; wahrscheinlich würden noch Ziegenvor Gericht vorgeführt, meine Damen und Herren .
Eine gruselige Vorstellung! Das werden die doch nichtdurchziehen . Die werden diese Aktenwagen irgendwoverlustig gehen lassen .Ich finde, das ist dem Ganzen auch nicht würdig. Esist nicht würdig, dass andere sagen, was bei uns Satireist . Es ist aber auch nicht würdig, dass sich dieses Haussystematisch und kollektiv der Arbeit verweigert, wasdann dazu führt, dass Staatsanwälte und Gerichte diesam Ende auch machen,
weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt und sie mit ih-ren knappen Personalkapazitäten anderes zu tun haben,meine Damen und Herren .Tragisch ist, dass jetzt ein Gesamtkunstwerk, also derVorspann und das Gedicht, entstanden ist, bei dem sichErdogan Merkel zur Teilhaberin gemacht hat – und HerrnSeif jetzt auch noch . Ob das für Ihre Karriere förderlichist, werden wir sehen .
Meine Damen und Herren, ich meine, wir müssen andieser Stelle die Kunstfreiheit schützen . Lassen Sie unsdiesmal ein wirklich zügiges Verfahren durchführen!Lassen Sie uns diese Situation nutzen, um auf etwas an-deres hinzuweisen, nämlich dass in der Türkei 33 Journa-listen im Gefängnis sitzen,
7 000 Journalisten auf Weisung von Erdogan ihren Jobverloren haben . Lassen Sie uns als Vorbild zeigen, wasFreiheit ist und dass wir uns in dieser schizophrenen Si-tuation nicht erpressen lassen . Dazu gehört nicht nur eingewisses Standing, sondern auch, dass wir den Paragra-fen abschaffen, den andere zu unserer Erpressung benut-zen wollen .
Als nächster Redner spricht Christian Flisek von der
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Kollege Seif, ich schließemich den Vorbemerkungen von Frau Künast vollends an .Ich sage auch: Sie hätten sich das Zitat schlichtweg spa-ren können,
insbesondere deswegen, weil Sie den Anspruch hatten,eine rechtspolitische Rede zu halten . Für eine rechtlicheBeurteilung ist der Gesamtkontext entscheidend . Sie ha-ben das Zitat aber aus dem Kontext herausgerissen .
Meine Damen und Herren, die Entrümpelung des ma-teriellen Strafrechts bedarf manchmal äußerer Anlässe,Anlässe, die man sich vielleicht nicht wünscht, die aberwiederum zeigen, wie sehr aus der Zeit gefallen mancherStraftatbestand unseres geltenden Rechts ist . Die Straf-vorschriften der §§ 103 und 104 a StGB, über deren Ab-schaffung wir heute beraten, sind solche Vorschriften, dieaus der Zeit gefallen sind . Aus Anlass der sogenanntenAffäre Böhmermann, die eigentlich eine Affäre Erdoganist, wurde uns dies drastisch vor Augen geführt .
Die Regelungen des § 103 StGB, so wie wir sie heutekennen, gibt es schon seit den 1950er-Jahren . Aber erst inden 1960er-Jahren wurden sie massenhaft angewendet .Sie erlangten ihren heute noch gebräuchlichen Spitzna-men, als der damalige Schah von Persien in jeder Kritikan seiner Person eine Beleidigung seiner selbst sah undeine Strafverfolgung dieser Majestätsbeleidigung durchden deutschen Staat verlangte . Den Schah von Persiengibt es heute nicht mehr; geblieben aber ist der Schah-Pa-ragraf . Geblieben sind auch ausländische Staatsober-häupter, die sich ziemlich schnell beleidigt fühlen .So konnte sich die Geschichte in der Vergangenheitauch wiederholen . Was 1964 die Redakteure des KölnerStadt-Anzeigers waren, die sich mit einer Fotomonta-ge über den Schah lustig machten, das war 1987 Rudi Carrell, der das iranische Staatsoberhaupt Ayatollah Chomeini verspottete, das war 2001 Jan Weiler, derdas japanische Kaiserpaar auf die Schippe nahm, dassind heute die Redakteure von extra 3, das sind Jan Böhmermann und Mathias Döpfner . Wer diese Liste be-trachtet, muss feststellen: Manchmal sagt die Einleitungeines Strafverfahrens mehr über den Anzeigenerstatterals über den Beschuldigten aus .
Renate Künast
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Zur Analyse gehört auch, dass das Skandalisierungs-potenzial im materiellen Recht dieser Vorschriften be-reits angelegt ist; denn zur Staatsaffäre konnten sicheinige dieser Fälle nur deswegen entwickeln, weil dasStrafgesetzbuch die Bundesregierung derart einbezieht,dass sie zur Strafverfolgung wegen Beleidigung von Or-ganen und Vertretern ausländischer Staaten ermächtigenmuss . Was eine Privataffäre ist und eigentlich auch einePrivataffäre bleiben sollte, wird damit qua Gesetz zurStaatsaffäre gemacht . Diese Rechtslage ist unnötig undanachronistisch .
Sie ist unnötig, weil auch bei Abschaffung der Sonder-vorschrift des § 103 StGB das ausländische Staatsober-haupt – darauf ist hingewiesen worden – nicht schutzlosgestellt wird . Jede Person kann – wie jeder Bürger diesesLandes auch – nach den allgemeinen Beleidigungspara-grafen vorgehen . Die Bundesregierung ist dann außenvor .Anachronistisch ist diese Rechtslage, weil es im21 . Jahrhundert völlig unangemessen ist, ein Sonderstraf-recht für bestimmte Personengruppen festzuschreiben,die in besonderer Weise Gegenstand einer kritischen Be-richterstattung oder auch einer künstlerisch-satirischenAuseinandersetzung sind . Die präventive Funktion desStrafrechts soll zur Rechtstreue anhalten; sie darf nichtzur Selbstzensur führen .
Der Anachronismus tritt dann besonders deutlich zu-tage, wenn das ausländische Staatsoberhaupt selbst nichtgerade durch Liebe zum Rechtsstaat, zur Freiheitlichkeit,zur Demokratie auf sich aufmerksam gemacht hat .
§ 103 macht hier leider keinen Unterschied . Er schütztjedes ausländische Staatsoberhaupt, den demokratischgewählten Präsidenten genauso wie den pseudodemokra-tisch gewählten Präsidenten und auch den gewaltsamenDespoten . Das kann nicht richtig sein .
Wenn man eine so unnötige und aus der Zeit gefalle-ne Vorschrift des materiellen Strafrechts entdeckt, dannmuss man sofort die notwendigen Konsequenzen ziehen .
Zu fordern, diese Vorschrift abzuschaffen, gleichzeitigaber Herrn Erdogan im konkreten Fall den roten Teppichfür ein Strafverfahren gegen Herrn Böhmermann aus-zurollen, ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch inhöchstem Maße politisch unklug .
Deswegen wäre die Bundeskanzlerin auch gut beraten,hier auf die SPD zu hören und eine unverzügliche Strei-chung dieses Paragrafen zu unterstützen .Gerichte werden in Deutschland klären, inwieweitdas, was Sie, Herr Kollege Seif, aus dem Kontext heraus-gerissen zitiert haben, strafrechtliche Relevanz hat odernicht . Meine Fraktion wird sich aber für die sofortigeStreichung der beiden genannten Paragrafen einsetzen .Wir werden hierfür in Kürze einen eigenen Gesetzent-wurf vorlegen . Weil die Gesetzentwürfe der Oppositionnun einmal einige handwerkliche Mängel haben, könnenwir ihnen nicht zustimmen . Aber wir laden Sie alle, mei-ne Damen und Herren, herzlich ein, dann den Entwurfmeiner Fraktion zu unterstützen . Das wäre ein wesent-licher Schritt hin zu einer sofortigen Streichung dieserParagrafen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht für die
CDU/CSU-Fraktion Thorsten Frei .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutie-
ren – das hat die bisherige Debatte schon gezeigt – eine
spannende rechtspolitische Frage, die jede Menge juris-
tische Problemstellungen aufwirft und darüber hinaus
natürlich auch außenpolitische Implikationen hat, die das
Ganze umso komplexer machen .
Es ist schon bemerkenswert, dass es einem Komiker
und Satiriker mit einer förmlichen Guerillaaktion ein
weiteres Mal gelungen ist, eine gesellschafts- und auch
staatspolitische Debatte bei uns im Land anzustoßen . Es
war letztes Jahr das „Varoufake“-Video, es ist jetzt das
Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan .
Natürlich ist dieses Gedicht – das will ich an dieser Stel-
le sagen; das hat auch diese Debatte gezeigt – zutiefst
verletzend und ehrabschneidend . Es ist im Hinblick auf
Form, Inhalt, Art und Weise absolut inakzeptabel, auch in
dem Zusammenhang, in dem es vorgetragen worden ist .
Trotz allem ist es so – –
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
So früh schon? Ich habe ja noch gar nichts gesagt .
Christian Flisek
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Darüber entscheide ich nicht, wie Sie wissen . – Bitte .
Vielen Dank, Herr Kollege Frei, dass Sie die Zwi-
schenfrage zulassen . – ich bin etwas verwundert darü-
ber, dass Sie gerade „Varoufake“ und das Schmähgedicht
in einem Zuge genannt haben . Ist Ihnen bekannt, dass
Böhmermann für „Varoufake“ den Grimme-Preis be-
kommen hat?
Ich habe insbesondere darauf Bezug genommen, Frau
Kollegin, dass es natürlich in gewisser Hinsicht proble-
matisch ist, wenn man letztlich die Konfrontation und
Auseinandersetzung mit ausländischen Staats- und Re-
gierungsvertretern zum Gegenstand solcher Satirewerke
macht . Unabhängig davon, ob es dafür einen Preis gab
oder nicht, entzieht es sich nicht einer politischen Be-
wertung . Deshalb habe ich diesen Zusammenhang herge-
stellt . Ich halte ihn, auch wenn es unterschiedliche Sach-
verhalte sind, durchaus für richtig .
Ich hatte es angesprochen: Man kann über Inhalt und
Form unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem zu
einem klaren Ergebnis kommen . Jedenfalls ist klar, dass
es Grenzen gibt, auch bei den Grundfreiheiten unserer
Verfassung . Es gibt eben nicht nur die Kunstfreiheit, es
gibt nicht nur die Meinungsfreiheit . Diese Freiheiten ha-
ben letztlich dort ihre Grenzen, wo andere Werte mit Ver-
fassungsrang tangiert werden, und das ist nicht zuletzt
das Persönlichkeitsrecht .
Es ist nicht entscheidend, ob die Frage der Strafbarkeit
links oder rechts zu verorten ist; denn das hat in Deutsch-
land Gott sei Dank weder die Exekutive noch die Legis-
lative, sondern das zuständige Gericht zu entscheiden .
Deshalb halte ich die Entscheidung der Bundesregierung
für zutreffend und richtig, erstens nach § 104 Strafge-
setzbuch die entsprechende Ermächtigung zu erteilen
und zweitens nicht in einem Schnellschuss – meine Kol-
legen haben das rechtspolitisch ausführlich dargelegt –
über die Abschaffung eines alten Straftatbestandes zu
entscheiden, sondern dies zum Gegenstand umfassender
Überlegungen zu machen . Es ist richtig, was gesagt wor-
den ist: Keine Strafvorschrift steht am Ende des Tages für
sich alleine, sondern sie ist in einen Gesamtzusammen-
hang zu rücken . Insbesondere mein Kollege Ullrich hat
ausführlich darauf hingewiesen, dass es durchaus Ände-
rungsmöglichkeiten und Änderungsbedarf gibt . Aber es
muss möglich sein, das in einer ausführlichen Debatte zu
klären .
Ich will Ihre Fragen mit einer Gegenfrage beantwor-
ten: Was ist der Grund dafür, dass man jetzt eine uralte
Regelung, über deren Richtigkeit man unterschiedlicher
Meinung sein kann – ich bin von der Ihrigen übrigens
nicht weit entfernt –, in einem Schnellschuss beseitigen
will? Warum greift man einen Sondertatbestand heraus,
ohne die Beleidigungstatbestände insgesamt zu prüfen?
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Dehm zu?
Ich würde sagen, dass ich jetzt weiterrede . Wenn derWunsch nach einer Zwischenfrage später immer nochvorhanden ist, dann besteht die Möglichkeit einer Kurz-intervention .Ich glaube, dass diese Entscheidung der Bundesregie-rung richtig war . Man muss in der Tat klarstellen, dassRecht Recht ist und Außenpolitik Außenpolitik . Genaudiese Unterscheidung hat die Bundesregierung getrof-fen, und diese Entscheidung war korrekt und richtig . Ichglaube auch, dass dies ein gutes Beispiel ist, um denen,die nicht glauben, dass Gewaltenteilung ein konstitutivesElement einer freiheitlich-demokratischen Grundord-nung ist, deutlich zu machen, was die Gewaltenteilungbedeutet .Es ist richtig, an dieser Stelle über Sinn und Unsinndes § 103 des Strafgesetzbuches insgesamt, losgelöstvom Fall Böhmermann, nachzudenken . Ich gebe Ihnen inweiten Teilen recht: Das ist eine Vorschrift, die ein Stückweit aus der Zeit gefallen ist . Was 1871 oder auch schondavor in früheren Landesstrafgesetzbüchern richtig war,muss heute keineswegs mehr richtig sein . Während dieBeleidigung eines Staatsoberhauptes früher mit der Be-leidigung eines Staates gleichzusetzen war, was dadurchzum Ausbruch eines Krieges mit hohem Blutzoll führenkonnte, ist es heute eben nicht mehr so . Auf so etwaswürde sich in Deutschland kein Mensch berufen .Deshalb – auch das ist bereits gesagt worden – sprichtes eher gegen denjenigen, der sich auf eine solche Re-gelung beruft, als gegen denjenigen, der sich mit einerentsprechenden Anklage konfrontiert sieht . Nur als Maß-stab: Wenn jemand eine solche Vorschrift für sich in An-spruch nimmt, dann zeugt das davon, dass er nicht überdie notwendige Souveränität verfügt und offensichtlicheine relativ schwache Stellung hat . Unsere Bundeskanz-lerin hat in der Vergangenheit mehrfach gezeigt, wasder Maßstab für einen Staats- oder Regierungschef ist .Im vergangenen Sommer hat sie angesichts der inakzep-tablen Schmähungen aus Athen gezeigt, wie souveränman mit solchen absolut deplatzierten Anschuldigungen,Anwürfen und Schmähungen umzugehen hat . Das ist si-cherlich die richtige Herangehensweise .
Ein Weiteres: Ich glaube, dass das Schutzgut des§ 103 Strafgesetzbuch in einer globalen Informations-gesellschaft durch solche Regelungen nur noch einge-schränkt berücksichtigt werden kann . Man muss, glaubeich, auch im Blick haben, dass in einer Zeit, in der Infor-mationen weltweit zeitgleich zur Verfügung stehen, dieseInformationen in unterschiedlichen Gesellschaften sehr
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unterschiedlich gehandhabt und betrachtet werden . Da-rüber muss man genauso nachdenken wie über die Frage,inwieweit es zu gesellschaftlichen Veränderungen mitAuswirkungen auf die Rechtsprechung in unserem Landselbst gekommen ist . Wenn man sich die wenigen Fälleanschaut, in denen nach § 103 geurteilt wurde, stellt manfest, dass die Dinge ganz unterschiedlich entschiedenworden sind: In den 60er-Jahren, als es um den Schahging, und in den 70er-Jahren, als es um die chilenischeMilitärdiktatur ging, wurden andere Entscheidungengetroffen als 2006, als es um Papst Benedikt ging . Des-halb, glaube ich, muss man berücksichtigen, dass gesell-schaftliche Veränderungen immer auch Auswirkungenauf die Rechtsprechung haben und deshalb gleiche odervergleichbare Fälle heute anders betrachtet werden als infrüheren Jahren .Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glau-be, man muss an dieser Stelle auch die außenpolitischenWirkungen berücksichtigen . Man muss sehen, dass es indiesem Fall so war, dass die Vorstellungswelten auslän-discher Staats- und Regierungschefs in unsere nationaleDebatte überschwappen konnten . Das wird sich am Endesicherlich nicht in der Rechtsprechung niederschlagen –davon bin ich absolut überzeugt –; aber dass wir uns mitDebatten beschäftigen, die in andere Länder gehören,halte ich am Ende auch nicht für angemessen .Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass sichhier jemand auf § 103 beruft, der andererseits in seinemLand sehr differenziert mit der Frage umgeht, was jetzteine Beleidigung ist und was nicht,
der einerseits seit 2014 etwa 2 000 Strafverfahren auf-grund dieser Beleidigungstatbestände angestrengt hat,aber andererseits den Oppositionsführer im Parlament alspolitischen Perversling bezeichnet . Das sind Dinge, dieletztlich nicht zusammenpassen . Deshalb ist es richtig,zu sagen – ich glaube, das ist insgesamt deutlich gewor-den –, dass das auf denjenigen zurückfällt, der so etwastatsächlich anstrengt .
Wenn man all diese Dinge berücksichtigt, dann wird,glaube ich, eines vollkommen deutlich: Es gibt viele guteGründe – darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen –,diesen § 103 zu ändern bzw . abzuschaffen .
Dabei müssen aber viele Überlegungen berücksichtigtwerden . In dieser Debatte ist nicht ein plausibler Grundbenannt worden, warum das jetzt sofort geschehen muss
und nicht nach intensiven Überlegungen und einer aus-giebigen parlamentarischen Debatte . Vielleicht kann mirHerr Dr . Fechner das erklären .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Dehm das Wort
zu einer Intervention .
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie den politischen Zu-
sammenhang erwähnt haben, dass Sie gesagt haben, all
diese Dinge gehören eingebettet in den politischen Zu-
sammenhang . Ich erinnere nur daran, dass, bevor sich die
Gegnerschaft mit der NATO zuspitzte, in unserer Bou-
levardpresse fast jeder, auf den sich das bezog, als „Hit-
ler“ bezeichnet wurde . Ob Milosevic, Putin oder Saddam
Hussein – sie waren immer „Hitler“ . Drunter ging es ja
offensichtlich nicht. Im Vergleich damit ist „Ziegen fi-
cken“ ja nicht gerade der Superlativ an Schmähungen,
Beleidigungen oder auch Rufmord, den man jemandem
angedeihen lassen kann .
Ich finde das, was vorgetragen wurde, auch nicht dra-
matisch . Das ist ja so absurd . Eigentlich geht es dabei nur
um die Freiheit für etwas völlig Absurdes . Kein Mensch
auf dieser Welt, egal ob er Erdogan liebt oder hasst, wird
davon ausgehen, dass er Ziegen fickt. Deswegen ist das
völlig absurd . Das ist auch im Zusammenhang der Sen-
dung als absurd gezeigt worden . Das ist eher eine dadais-
tische Form . Ich denke, das sollte im Zweifelsfall unter
die Freiheit fallen .
Was mich geärgert hat, war – das war auch ein biss-
chen die Tendenz von Frau Künast –, „Ziegen ficken“
auf „Minderheiten unterdrücken“ zu reimen, weil Letz-
teres mit Intelektuellen und Kurden auch tatsächlich ge-
schieht . Wenn jetzt Erdogan auch noch die anklagen will,
die Böhmermann unterstützt haben, also Hallervorden
und viele andere, dann zeigt das auch, welche Dimension
diese Staatsaffäre hat .
Ich wollte Sie aber fragen, Herr Kollege, ob Sie glau-
ben – in der Öffentlichkeit wird allgemein über diesen
möglichen politischen Zusammenhang diskutiert –, dass
die Ermächtigung für ein Strafverfahren durch Frau
Merkel tatsächlich auch so stattgefunden hätte, hätte es
diesen schmutzigen Deal mit der Türkei, was die Flücht-
linge anbetrifft, nicht gegeben . Der Eindruck bei vielen
ist, dass bei einigen Fünfe gerade gelassen sein werden,
aber dieser Fall des Deals wegen in dieser Art und Weise
behandelt wurde .
Herr Kollege Dehm, ich möchte Ihnen gerne in dreiPunkten auf Ihre Frage antworten .Erstens . Den von Ihnen insinuierten Zusammenhanggibt es nicht . Ich bin davon überzeugt, dass die Bundes-regierung auch in jedem anderen Falle so entschiedenThorsten Frei
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hätte; denn es entspricht der aktuellen Rechtslage . Es istauch kein einziger außenpolitischer Grund sichtbar, wa-rum die Bundesregierung, warum die Bundeskanzlerin indiesem Falle ihre Ermächtigung hätte versagen müssen .Zweitens . Ihre Wortmeldung spricht ein gutes Stückweit für sich selbst, für Ihre Haltung und Ihre Sichtweise .Ich möchte mir diese in keiner Weise zu eigen machen .
Drittens . Sie haben in Ihrer Wortmeldung eines getan,wovon ich in meiner Rede sehr deutlich gesagt habe, dasses uns als Legislative nicht zusteht . Die Entscheidung, obdas jetzt noch zulässige Meinungsfreiheit ist, ob das einKunstwerk ist oder eben nicht, ob es gegen die Persön-lichkeitsrechte eines anderen verstößt, ist nicht Aufgabeeines Parlaments . Das entscheiden am Ende Gerichte .Dahin gehört es . Deshalb werde ich eine solche Bewer-tung auch nicht vornehmen .Vielen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an das an-
knüpfen . Die Entscheidung, wie dieser Text zu bewerten
ist, wird von Gerichten getroffen werden . Ich bitte die
Kolleginnen und Kollegen, trotzdem zu berücksichtigen,
dass wir im deutschen Parlament sind . Man sollte dies
auch bei Zitaten nicht völlig vergessen .
Ich denke, dieser Hinweis ist meines Erachtens wirklich
notwendig . Auch wenn es mir nicht zusteht, Reden zu
bewerten, bitte ich trotzdem darum, dass sich jeder dieser
Verantwortung auch bewusst ist, die er hier im Deutschen
Bundestag hat .
Dr . Johannes Fechner von der SPD hat das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Dieheute hier zur Debatte stehende Majestätsbeleidigung –sie ist in § 103 des Strafgesetzbuches geregelt – sorg-te in den vergangenen Jahrzehnten für nur sehr wenigeVerfahren und Verurteilungen . Wurde August Bebelnoch für harmlose Kritik am Kaiser zu neun MonatenHaft verurteilt und wurden 1894 rund 300 Personenwegen Majestätsbeleidigung verurteilt, darunter vieleSozialdemokraten, so gab es in den letzten Jahren kaumnoch Verurteilungen . Der Straftatbestand der Majestäts-beleidigung war ein Herrschaftsmittel, um Proteste undKritik zu unterdrücken und kritische Bürgerinnen undBürger einzuschüchtern . Dafür gibt es in einem moder-nen Rechtsstaat keine Rechtfertigung mehr . Die Zeiten,in denen Herrscher und Regenten ihre Macht durch sol-che Straftatbestände absichern konnten, sind vorbei . Wirmüssen deshalb diesen Tatbestand der Majestätsbeleidi-gung sofort abschaffen .
Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, weshalb dernormale Bürger, die normale Bürgerin strafrechtlichanders behandelt werden sollte als ein ausländischerStaatschef . Das gilt umso mehr, wenn es sich bei demStaatschef um eine Person mit zweifelhaftem Demokra-tieverständnis handelt, der die Pressefreiheit mit Füßentritt und den Rechtsstaat demontiert . Auch deshalb müs-sen wir diese Sonderbehandlung in § 103 des Strafge-setzbuches streichen .
Dadurch entstehen auch keine Strafbarkeitslücken .Wir haben den Straftatbestand der Beleidigung oder derüblen Nachrede . Es gibt genügend Straftatbestände, umdie Ehrverletzungen von Personen zu ahnden, und zwarunabhängig von ihrem politischen oder beruflichen Sta-tus . Deshalb: Lassen Sie uns diesen alten Zopf der Ma-jestätsbeleidigung abschaffen!
Ob das Gedicht von Jan Böhmermann nun künstleri-sche Satire war oder aber eine Straftat darstellt, müssenwir als Gesetzgeber nicht beurteilen; denn nach der Ge-waltenteilung ist das mit guten Gründen Sache der Justiz .Ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust, mich hier imHohen Haus mit Ziegenfantasien oder Ähnlichem zu be-schäftigen . Auch ich fand es beschämend, wie die Wort-wahl teilweise ausfiel.
Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, dassich bewährt hat und das wir eher noch ausbauen soll-ten . Deshalb macht es keinen Sinn, der Exekutive, alsoder Bundesregierung, die entscheidende Rolle dabei zu-zumessen, ob es wegen dieses zweifelhaften Straftatbe-standes zu einem Strafverfahren kommt oder eben nicht .Diese Ermächtigung des § 104 a des Strafgesetzbuchesbrauchen wir nicht . Wir haben eine bewährte Gewalten-teilung, sodass allein die Justiz entscheiden sollte, ob einStrafverfahren durchgeführt wird oder nicht .Der Fall Böhmermann hat ja gerade gezeigt, dass eineEntscheidung der Bundesregierung in der Öffentlichkeitwie eine Vorverurteilung aufgefasst werden kann . Es warrichtig, dass die Kanzlerin ihr erstes Statement klarge-stellt hat . Sonst hätte ich die Sorge, dass der Eindruckentsteht, die Bundesregierung würde vor zweifelhaftenDiktatoren kuschen und das außenpolitische Wohlwollenvon Diktatoren im Zweifel höher bewerten als den Schutzder eigenen Bürger vor längst überkommenen Strafvor-schriften wie der Majestätsbeleidigung . Vor allem dür-fen wir nicht zulassen, dass ausländische Staatschefsdiese Vorschrift ausnutzen, um Künstler oder Satirikerin Deutschland einzuschüchtern . Liebe Kolleginnen undThorsten Frei
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Kollegen, auch deswegen sollten wir die Ermächtigungin § 104 a des Strafgesetzbuches streichen .
Ich will kein Geheimnis daraus machen, dass ich dieEntscheidung der Kanzlerin, das Strafverfahren gegenBöhmermann zuzulassen, für falsch halte . Es gibt keinenGrund, auf Erdogan Rücksicht zu nehmen und ihm so dieMöglichkeit zu geben, über den überkommenen Straf-tatbestand der Majestätsbeleidigung Druck auf Satirikerund Künstler hier in Deutschland auszuüben .
Gerade wer – wie er – im eigenen Land die Pressefrei-heit mit Füßen tritt, Journalisten verhaften und verfolgenlässt, der hat keinen besonderen Schutz seiner Ehre ver-dient, meine sehr geehrten Damen und Herren .Ich bin Außenminister Frank-Walter Steinmeier undJustizminister Heiko Maas sehr dankbar, dass sie eindeu-tig und klar gesagt haben, dass das Strafverfahren nach§ 103 des Strafgesetzbuches nicht hätte zugelassen wer-den sollen . Denn – Herr Frei, das ist die Antwort – wiekönnen wir ein Strafverfahren zulassen, wenn wir unsalle weitgehend einig sind, dass wir diese Norm nichtmehr brauchen, dass sie überholt ist und dass wir sie ab-schaffen sollten?
Dann müssen wir auch so konsequent sein, kein Straf-verfahren zuzulassen . Auch hieran sieht man, warum wirdiese Norm abschaffen sollten .Damit bin ich schon beim entscheidenden Mangel desGesetzentwurfs der Grünen . Sie wollen offensichtlichnach wie vor die Bundesregierung und damit die Exe-kutive darüber entscheiden lassen, ob ein Strafverfahrendurchgeführt wird . Sie wollen die Möglichkeit für dieBundesregierung in § 104 a des Strafgesetzbuches belas-sen . Ich meine, dass dies ein Fehler ist . Wir sollten allei-ne die Justiz entscheiden lassen, ob es zu einem Strafver-fahren kommt, gerade in solch heiklen Fällen . Deswegenkann man Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen .
Herr Kollege Fechner, es gibt noch den Wunsch nach
einer Zwischenfrage .
Ja, klar .
Okay, bitte .
Danke, Herr Kollege Fechner, für das Zulassen der
Zwischenfrage; danke, Frau Präsidentin . – Kollege
Fechner, Sie haben gerade ausdrücklich betont, dass Sie
die Entscheidung des Bundesjustizministers und die Stel-
lungnahme des Außenministers Frank-Walter Steinmeier
für richtig halten . Ich habe mich zu dieser Zwischenfra-
ge veranlasst gefühlt, weil Sie das im Ausschuss schon
einmal gesagt haben . Ich habe dann im Ausschuss den
Staatssekretär und auch Sie gefragt, wie denn die materi-
ell-rechtliche Begründung für diese Einschätzung lautet .
Wir leben ja in einem Rechtsstaat . Dort gibt es gesetzli-
che Regelungen . Solange sie gelten, sind sie anzuwen-
den . Ich war damals verwundert, weil weder der Staats-
sekretär noch Sie eine materiell-rechtliche Begründung
für diese Einschätzung haben liefern können . Deswegen
möchte ich Sie fragen, ob Sie jetzt, bei dieser Gelegen-
heit, die Chance nutzen wollen, mir diese Begründung
zu geben .
Vielen Dank .
Vielen Dank für die Frage . Selbstverständlich hole ichdas gerne nach . Ich bitte, das Versäumnis zu entschuldi-gen, wenn ich Ihre Frage überhört haben sollte .Der Punkt ist einfach der, dass es hier um eine po-litische Ermessensentscheidung geht: Lasse ich dasStrafverfahren als Bundesregierung zu, ja oder nein?Es handelt sich hier um einen Herrn mit zweifelhaftemDemokratieverständnis . Wenn wir uns einig sind, dasses um eine Norm geht, die überholt ist, da sie aus derKaiserzeit stammt, die kaum einen Anwendungsbereichhat und die nur der Einschüchterung dienen kann, dannsollten wir diese Norm sofort streichen . Das ist die mate-riell-rechtliche Erklärung .
Auch zu den Linken möchte ich einen Satz sagen, weilich natürlich auch euren Gesetzentwurf intensiv gelesenhabe. Ich finde es widersprüchlich, dass ihr einerseits dieVerunglimpfung des Bundespräsidenten straflos stellen,andererseits aber Verfassungsrichter, Regierungsmitglie-der und Abgeordnete strafrechtlich weiterhin besondersschützen wollt. Ich finde, das ist ein Widerspruch.
Daher kann man eurem Gesetzentwurf wegen dieser Un-stimmigkeit nicht zustimmen .Zum Zeitpunkt der Abschaffung: In der Tat ist es inder Koalition offen, wann wir die Norm abschaffen wol-len bzw . wann die Abschaffung in Kraft treten soll . Ausmeiner Sicht wäre es völlig widersprüchlich und falsch,dieses Gesetz noch jahrzehntelang oder jahrelang – bis2018 oder darüber hinaus – anzuwenden . Die Norm istüberholt . Sie ist unnötig, und sie kann dazu dienen, dassDiktatoren in Deutschland Künstler und Satiriker ein-schüchtern . Deshalb sind wir der Meinung, dass dieseVorschrift schnell, sofort, abgeschafft werden sollte . DasZeitalter der Majestätsbeleidigung ist vorbei, meine Da-men und Herren .
Dr. Johannes Fechner
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 2016 16733
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Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 18/8123 und 18/8272 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen . Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall . Dann sind die Überweisungen so be-schlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowiedie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf .23 . a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 29. Juni 2015 zwi-schen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der Repu-blik Kosovo über die justizielle Zusammen-arbeit in StrafsachenDrucksache 18/8211Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 24. September 2014zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung derRepublik Ruanda über den LuftverkehrDrucksache 18/8296Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismusc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetzes und zur Änderung desBVL-GesetzesDrucksache 18/8335Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzZP 4 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENMit Beitragsgeldern der gesetzlich Versi-cherten sorgsam umgehen – Mehr Transpa-renz und bessere Aufsicht über die Selbst-verwaltung im GesundheitswesenDrucksache 18/8394Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheitb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Valerie Wilms, Matthias Gastel, StephanKühn , weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPkw-Maut zurückziehen und Konflikt mitder EU-Kommission beendenDrucksache 18/8397Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall, dann sind die Überweisungen so beschlossen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 b bis 24 i auf . Eshandelt sich ebenfalls um die Beschlussfassung zu Vor-lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist .Tagesordnungspunkt 24 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Aktualisierung der Strukturreformdes Gebührenrechts des BundesDrucksache 18/7988Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/8431Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 18/8431, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 18/7988 in derAusschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-ter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei keinerGegenstimme und bei Enthaltung der Opposition ange-nommen worden .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derGesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition bei Ent-haltung der Opposition angenommen worden .Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 24 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes über die weitere Bereinigung vonBundesrechtDrucksache 18/7989Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/8423
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Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache18/8423, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 18/7989 in der Ausschussfassung anzuneh-men . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit denStimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppositionangenommen worden .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-setzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Koali-tion bei Enthaltung der Opposition angenommen worden .Ich komme zum Tagesordnungspunkt 24 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Protokoll vom 11. Januar 2016zur Änderung des Abkommens vom 12. April2012 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Königreich der Niederlande zurVermeidung der Doppelbesteuerung und zurVerhinderung der Steuerverkürzung auf demGebiet der Steuern vom EinkommenDrucksache 18/8208Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
Drucksache 18/8400Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 18/8400, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 18/8208 anzuneh-men . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurfin zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition beiEnthaltung der Opposition angenommen worden .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-setzentwurf in dritter Beratung mit den Stimmen der Koa-lition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-cherschutz
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht 2 BvR 2453/15Drucksache 18/8410Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung, eine Stellungnah-me abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Pro-zessbevollmächtigten zu bestellen . Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Op-position angenommen worden .Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 24 fbis 24 i, bei denen es sich um Beschlussempfehlungendes Petitionsausschusses handelt .Tagesordnungspunkt 24 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 309 zu PetitionenDrucksache 18/8253Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Gibt es je-manden, der dagegenstimmt? – Gibt es jemanden, dersich enthält? – Die Sammelübersicht 309 ist damit ein-stimmig angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 310 zu PetitionenDrucksache 18/8254Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent-hält sich jemand? – Damit ist auch diese Sammelüber-sicht einstimmig angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 311 zu PetitionenDrucksache 18/8255Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit denStimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-nommen worden .Tagesordnungspunkt 24 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 312 zu PetitionenDrucksache 18/8256 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi-on angenommen worden .Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEAktuelle Entwicklungen beim EU-Türkei-Ab-kommenVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätzeeinzunehmen, damit ich gleich die Aussprache eröffnenkann .Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in derAussprache hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke dasWort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe die Bundesregierung einmal gefragt, wie siees eigentlich mit den Werten in der Europäischen Uni-on hält . Sie hat mir freundlicherweise geantwortet – ichzitiere –: Die EU ist eine Werteunion . Artikel 2 EU-Ver-trag definiert die Werte der Achtung der Menschenwür-de, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeitund die Wahrung der Menschenrechte einschließlich derRechte der Personen, die Minderheiten angehören, alsgemeinsames, universell gültiges Fundament der Mit-gliedstaaten . Damit bilden diese Werte einen Wesenskernder EU, der unabhängig von aktuellen politischen Ereig-nissen besteht .Ich denke, Ihnen fällt etwas auf; ich hoffe das zu-mindest . Zur gleichen Zeit, in der uns mit Hinweis aufdiese Werte geantwortet wird, machen diese EU unddiese Bundesregierung einen dreckigen Deal mit der Erdogan-Regierung, die gegen jeden einzelnen dieserGrundwerte verstößt . Das ist inakzeptabel .
Zur Lage in der Türkei – man kann es jeden Tag le-sen –: Zurzeit sind über drei Dutzend Journalisten undBlogger in Haft . Seit 2014 gibt es über 2 000 Verfahrenwegen Verunglimpfung des Staatspräsidenten . Der Krieggegen die kurdische Bevölkerung brutalisiert sich immermehr. Mindestens 500 000 Menschen fliehen bereits vordiesem Krieg . – Daher ist Ihr Verbündeter Erdogan nichtTeil der Lösung in der Flüchtlingsdebatte, sondern Teildes Problems .
Er ist selber eine Fluchtursache .Nun ist ganz interessant, was mittlerweile in den Rei-hen der Union so alles diskutiert wird . Sie sind ja bis datonoch nicht als die großen Freunde der Visafreiheit oderder Beförderung der Reisefreiheit aufgefallen . Seitdemman mit Erdogan paktiert, ist das bei Ihnen eine ganzneue Debatte und zeigt – was übrigens in der gesamtenDebatte ein Kennzeichen der Bundesregierung ist –, dassSie frei von Überzeugungen sind .
Ich will es deutlich sagen: Die Linke war, ist und wirdimmer gegen jede Beschränkung von Reisefreiheit sein .Deswegen ist sie ganz grundsätzlich für Visafreiheit, undzwar für jedermann .
Was wir kritisieren, und zwar zu Recht, ist, dass mandie Visafreiheit, den Wert von Reisefreiheit zu einemTeil dieses schmutzigen Deals und damit zur Verhand-lungsmasse in diesem Poker macht – auf dem Rückender Flüchtlinge . Das geht nicht, liebe Kolleginnen undKollegen .
Ich will ganz aktuell Amnesty International zitieren:Männer, Frauen und Kinder wurden in Gruppen vonbis zu 100 nach Syrien abgeschoben . Fast täglich istes seit Mitte Januar zu solchen rechtswidrigen Mas-senabschiebungen gekommen .Das ist Ihnen offensichtlich völlig schnurzpiepegal . DerLinken ist das nicht egal . Dieser Deal kann so nicht blei-ben, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Welche wirklich irren Züge das Ganze annimmt, istder Fakt, dass mittlerweile der türkische Staatspräsidentso viel Einfluss und so ein großes Erpressungspotenzialgegenüber der Bundesregierung hat, dass davon mitt-lerweile in Teilen sogar die Innenpolitik bestimmt wird .Wir haben vorhin einen Tagesordnungspunkt zum Fall Böhmermann gehabt . Dazu ist vonseiten der Oppositionalles Richtige gesagt worden . Aber wie weit wir gekom-men sind, kann man zum Beispiel daran erkennen, dasssich ausgerechnet der Springer-Chef Döpfner mit demSatiriker Böhmermann solidarisieren muss, was eigent-lich Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre . Soweit sind wir schon gekommen . Es ist grotesk, was indiesem Land innenpolitisch abgeht .
Statt sich mit Herrn Böhmermann zu solidarisieren,was die Aufgabe der Bundeskanzlerin wäre, betätigt siesich – damit ist sie vorher noch nicht aufgefallen – alsSatiresachverständige im Sinne des türkischen Staatsprä-sidenten . Das ist so unwürdig und daneben, dass es nichtzu akzeptieren ist, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ich will kurz daran erinnern, mit wem Sie eigentlichdealen . Ein enger Berater von Erdogan – das haben Siesicherlich gelesen – erklärte gestern, was passiert, wenndas EU-Parlament nicht das macht, was die Türkei will .Er hat sich wie folgt zitieren lassen – ich lese es Ihnenvor –:Wenn es die falsche Entscheidung trifft,– also das Europäische Parlament –,schicken wir die Flüchtlinge los .Was sind das bitte für Partner, mit denen Sie hier Ge-schäfte machen! Das kann nicht sein . Das EuropäischeParlament entscheidet selber, wann es was berät . DasVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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sollte vonseiten der Bundesregierung unterstützt und ver-teidigt werden – ohne Wenn und Aber .
Jetzt werden Sie natürlich sagen: Alles richtig, wasKorte und die Linke sagt,
aber was sollen wir tun? Natürlich brauchen wir zumeinen eine europäische Lösung . Zum anderen bräuch-ten wir aufseiten der Bundesregierung ein paar Über-zeugungen und eine klare Haltung im Sinne der Men-schenrechte und Demokratie sowie Engagement für diein Haft sitzenden Journalisten . Das ist das Mindeste, wasman verlangen kann, wenn man sich auf die Werte derEuropäischen Union bezieht . Die Meinungsfreiheit, diebitter erkämpft wurde, was im Übrigen insbesondere dasLächerlichmachen der Herrschenden einschließt, ist zuverteidigen und nicht im Geschacher um irgendwelcheDeals zu verhandeln, um das klar zu sagen .Deswegen abschließend: Beenden Sie diesen unwür-digen Deal! Schließen Sie besser einen Deal mit der inBedrängnis und von Verfolgung bedrohten Zivilgesell-schaft in der Türkei . Machen Sie einen Deal für Freiheit,Menschenrechte und Demokratie, wie es in Artikel 2 desEU-Vertrages beschrieben ist! Dafür hätten Sie unsereUnterstützung .Vielen Dank .
Als nächster Redner hat Stephan Mayer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal, HerrKollege Korte, muss ich Ihre Erwartung leider enttäu-schen . Ich kann Ihnen leider nicht zugestehen, dass wirsagen: Es ist alles richtig, was der Herr Korte und dieanderen von der Linksfraktion gesagt haben .
Leider ist das Gegenteil der Fall .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichmöchte mich vor allem mit aller Deutlichkeit gegen IhrenVorwurf verwahren, dass das Abkommen zwischen derEU und der Türkei ein schmutziger und dreckiger Dealwäre . Das trifft so nicht zu . Es ist bemerkenswert – mirwürden noch andere Begriffe einfallen –, wenn ein Ver-treter der Nachfolgepartei der SED sich jetzt als großerVorkämpfer der Reisefreiheit geriert .
Aber zum Thema, meine sehr verehrten Damen undHerren: Das Abkommen zwischen der EU und der Türkeivom 18 . März ist aus meiner Sicht deutlich besser, als esin der Öffentlichkeit dargestellt wird . Es ist deutlich bes-ser als sein Ruf . Ich möchte es nicht überhöhen, aber ausmeiner Sicht ist dieses Abkommen ein wichtiger Bau-stein in dem gesamten Instrumentenkasten zur Bekämp-fung und Bewältigung, der jetzt in der Flüchtlingskrisezur Anwendung kommt .Die Übertrittszahlen sind in den letzten Wochendeutlich zurückgegangen . Während Mitte Februar noch19 000 Flüchtlinge die griechischen Inseln erreicht ha-ben, sind es heute nur noch wenige Hundert .Ich gestehe durchaus zu, dass Präsident Erdogan keineinfacher Verhandlungspartner ist . Er ist auch kein einfa-cher Zeitgenosse, und es gibt viele Vorkommnisse in derTürkei, die in höchstem Maße kritikwürdig sind .
Die Bundesregierung hält hier mit ihrer Kritik nicht zu-rück – um das klar zu sagen .
Wenn es um Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit oderden Umgang mit Minderheiten – insbesondere mit derkurdischen Minderheit – geht, dann muss natürlich inaller Deutlichkeit gesagt werden, dass die türkische Re-gierung in fundamentaler Weise elementare Menschen-rechte verletzt .
Aber – auch das gehört zur Wahrheit – für mich ist dasnoch kein Grund, nicht mit der Türkei zu verhandeln . Wirmüssen uns auch mit der Türkei und mit anderen Län-dern, die nicht westlichen Demokratien entsprechen, wiewir sie in Deutschland oder in Europa haben, auseinan-dersetzen und möglicherweise in dem einen oder anderenFall Vereinbarungen treffen .
Deshalb bin ich der Überzeugung, dass dieses Abkom-men durchaus tragfähig ist und dass beide Seiten ein In-teresse daran haben, dass dieses Abkommen erfolgreichumgesetzt wird . Es müsste jedem schon im Vorfeld desAbschlusses klar sein, dass auch die europäische SeiteZugeständnisse machen muss . Es ist bei jedem Abkom-men so, dass man sich letztlich auf einen Kompromiss ei-Jan Korte
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nigt und dass auch wir als Europäer gewisse Zugeständ-nisse machen müssen .
Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es auchinsbesondere im Interesse der Türkei ist, dass dieses Ab-kommen erfolgreich umgesetzt wird . Die Türkei hat inden letzten Jahren außenpolitisch viel Porzellan zerschla-gen . Das Verhältnis zu Israel ist auf dem Gefrierpunkt .Das Verhältnis zu Russland ist auf dem Nullpunkt ange-langt . Das Verhältnis zu den USA ist deutlich angespannt .Ich bin der festen Überzeugung, dass insbesonderePräsident Erdogan ein elementares Interesse daran habenmuss, dass die Verbindungen zur Europäischen Unionweiterhin einigermaßen akzeptabel und vertretbar sind .Deshalb habe ich die nachdrückliche Hoffnung, dass die-ses Abkommen von beiden Seiten konstruktiv weiterver-folgt wird . Ich sage aber auch in aller Deutlichkeit dazu:Natürlich darf es keinen Rabatt geben . Es darf keinepolitischen Zugeständnisse geben, wenn es darum geht,dass die Türkei ihre Verpflichtungen erfüllt, um eines derZiele, nämlich die Visafreiheit, zu erreichen .
Ich sage das auch deshalb ganz deutlich, weil dieEuropäische Union sich nicht nur mit der Türkei in Ver-handlungen zur Ausreichung der Visafreiheit befindet,sondern beispielsweise auch mit der Ukraine und mitGeorgien . Welche Signale würden denn jetzt gesetzt,wenn wir der Türkei Rabatt gewähren und sie aus derVerpflichtung entlassen, lückenlos alle 72 Voraussetzun-gen zu erfüllen, und andere Länder wie die Ukraine oderGeorgien hier schon wesentlich weiter sind als die Tür-kei?Ich bin deshalb der festen Überzeugung, dass es wich-tig ist, die nächsten Wochen und Monate intensiv dazu zunutzen, der Türkei klarzumachen, dass sie die Restanten,die offenkundig noch im Raum stehen, angehen und dievorhandenen Defizite beseitigen muss. Ich möchte nichtverhehlen, dass ich der Überzeugung bin, das wird derTürkei nicht leichtfallen, zumindest wenn der Zeitrah-men bis Mitte des Jahres eingehalten werden soll, wobeiich sehr interessiert zur Kenntnis genommen habe, dassselbst Präsident Erdogan gestern schon avisiert hat, dasser sich die Visafreiheit auch erst im Oktober vorstellenkann .Ich glaube, es gibt hierzu gute und konstruktive Ge-spräche zwischen der Europäischen Union und der Tür-kei . Ich bin der festen Überzeugung, dass es wichtig ist,auch andere Maßnahmen weiterhin intensiv voranzutrei-ben, beispielsweise die Forderung des Bundesinnenmi-nisters auf Einführung eines Einreise-Ausreise-Systemsan der EU-Außengrenze . Wir müssen lückenlos wissen,wer nach Europa einreist . Auch das ist ein wichtiger Be-standteil .Ich möchte zum Schluss eines deutlich machen, weilimmer wieder auf die Menschenrechte hingewiesenwird: Deutschland hat bislang schon 54 syrische Flücht-linge aus der Türkei im Rahmen des Resettlement-Pro-gramms übernommen . Wir werden in der kommendenWoche weitere 110 syrische Flüchtlinge in Deutschlandaufnehmen . Ich würde mich freuen, wenn man sich nichtnur auf die Türkei einschießen würde, wenn es darumgeht, Kritik zu üben, sondern durchaus öfter auch an dieSolidarität der EU appellieren und vor allem immer wie-der brandmarken würde, dass sich viele EU-Länder, wasdie Durchführung dieses Abkommens angeht, leider nachwie vor vornehm in die Büsche schlagen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als Nächste erhält nun die KolleginClaudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!Über den EU-Türkei-Vertrag, besser bekannt als Deal,wird im Moment eigentlich nur unter einem Aspekt dis-kutiert: der möglichen Visafreiheit für türkische Bürge-rinnen und Bürger in der EU . Ich glaube aber, dass manviel grundsätzlicher fragen muss, ob dieser Deal wirklichvernünftig, ob er wirklich verantwortlich und ob er wirk-lich glaubwürdig ist .Zuerst zur Visafreiheit . Sie ist längst überfällig .
Seit der Einführung der Visapflicht 1980 kämpfen vielefür das Fallen dieser Barriere – und zwar immer wiedermit Erfolg – vor europäischen Gerichten . Dafür gibt essehr gute Gründe .Erstens . Ganz selbstverständlich reisen wir Deutscheseit Jahrzehnten in die Türkei, genießen dort unseren Ur-laub, machen Geschäfte und treffen Freunde und Ange-hörige . Den Menschen aus der Türkei verwehren wir imGegenzug aber dieses Recht seit 36 Jahren . Das ist keinfairer und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe .
Zweitens. Unter der Visapflicht leiden zuallererst dieMenschen, die selbst oder deren Vorfahren längst vomGastarbeiter zum Bürger unseres Landes geworden sind,Menschen, die auch der Grund dafür sind, dass Deutsch-land und die Türkei ein ganz besonderes Verhältnis ver-bindet . Ihren Verwandten weiterhin die Visafreiheit zuverwehren, bedeutet nichts anderes, als sie in Geiselhaftfür eine entfesselte Politik Erdogans zu nehmen .Drittens . Mit der Reisefreiheit würden wir zudemdiejenigen in der Türkei unterstützen, die ihr Land nichtdem Autoritarismus eines Erdogan überlassen wollen,sondern für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowiefür eine europäische Türkei kämpfen und damit Brücken-bauer in unserem Verhältnis zur Türkei sind .
Stephan Mayer
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Wie Sie sehen, haben all diese Argumente gar nichtsmit der Flüchtlingsfrage zu tun . Die Visaliberalisierungals eine Belohnung für Erdogan dafür feilzubieten, dasser uns die Flüchtlinge fernhält, ist eine unzulässige Ver-mischung .
Aber auch die Verweigerung der Visafreiheit mit Verweisauf das türkische Antiterrorgesetz, das in Wirklichkeitein Antifreiheitsgesetz ist, ist höchst unglaubwürdig .Denn steckt hinter der Ablehnung der Visafreiheit nichtvielleicht ein Ressentiment, das den gleichberechtigtenUmgang mit den Menschen in und aus der Türkei ver-weigert, weil es in ihnen immer nur die Fremden, dieNichteuropäer und die Muslime sieht?Natürlich darf es keinen Rabatt gegenüber Erdoganbei den Menschenrechten geben . Das braucht man unswirklich nicht zu sagen . Aber wo ist denn die Kritik,wenn es um den Krieg gegen die Zivilbevölkerung inden Kurdengebieten geht, wenn es um die Abschaffungder Presse- und Meinungsfreiheit geht, wenn es um dieMissachtung der Minderheitenrechte geht, zum Beispielder Rechte der Christen in der Türkei? Wo hatten Siedenn Ihre Menschenrechtsrhetorik geparkt, als es umdie Zustimmung zu diesem EU-Türkei-Deal ging? Wares nicht das eigentliche Ziel, aus innenpolitischem Ab-schottungsinteresse die Türkei zum sicheren Drittstaatumzudefinieren?Lassen Sie uns einmal über diesen Deal reden . Ichmöchte fragen, ob mit der türkischen Regierung auch da-rüber verhandelt worden ist, wie im Umgang mit Flücht-lingen internationales Recht, also die Genfer Flüchtlings-konvention, eingehalten wird . Das wird sie in der Türkeinämlich nicht . Oder haben Sie mit der türkischen Regie-rung darüber gesprochen, dass Erdogan Flüchtlinge nachSyrien und in den Irak abschieben lässt, dass er auf syri-sche Flüchtlinge, auch auf Kinder, schießen lässt? HabenSie darüber verhandelt, dass an der Grenze zu Syrien dieMenschen mit einer Mauer an der Flucht aus der HölleAleppos gehindert werden, was doch mit Flüchtlings-schutz und Schutzverantwortung überhaupt nichts mehrzu tun hat?
Was bedeutet es, wenn wir gestern im AuswärtigenAusschuss von der Bundesregierung zu hören bekom-men, dass über die Abschiebungen nach Syrien und überdie Schüsse auf Flüchtlinge keine Kenntnisse vorlägen?Bedeutet das etwa, dass Sie Berichte von Amnesty In-ternational und Human Rights Watch nicht mehr zurKenntnis nehmen, oder bedeutet es vielleicht, dass Siediese Kenntnisse gar nicht so sehr interessieren, weil derZweck bei diesem Deal die Mittel heiligt? Wenn das soist, dann frage ich Sie als Letztes: Wer verdealt hier ei-gentlich gerade die Menschenrechte und die völkerrecht-lichen Verpflichtungen?
Vielen Dank . – Als Nächstes erhält der Kollege Uli
Grötsch, SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Verhalten des türkischen Staatspräsidenten Erdoganirritiert und entsetzt uns alle doch sicherlich gleicher-maßen . Mit einer aus der Türkei lange nicht gekanntenautokratischen Art reagiert der türkische Staatspräsidentauf – wenn auch möglicherweise überzogen heftige – Sa-tire geradezu majestätsbeleidigt .Verlässlichkeit und der grundsätzliche Wille zum Mit-einander sind gerade in diesen Wochen und Monatenaber unbedingte Voraussetzung, um gemeinsam gesteck-te Ziele erreichen zu können . EU-ParlamentspräsidentMartin Schulz hat das, wie ich finde, trefflich formuliert,als er sagte, dass sich das Europäische Parlament nichtmit einem Abkommen befassen kann, dem schlichtwegdie Basis fehlt . Wenn der türkische Staatspräsident jetztlauthals kundtut, dass die Türkei ihre sogenannten Anti-terrorgesetze nicht wie vereinbart ändern wird, dann fehltdem Abkommen eben schlicht die Basis . Dann sehe ichden eben erwähnten Willen zum Miteinander, den Willenzur Einigung ganz und gar nicht .Der Staatspräsident aber ist nicht die ganze Türkei .Die Türkei, das sind mehr als 75 Millionen Menschen,und dazu zähle ich auch die mehr als 3 Millionen Men-schen in Deutschland mit türkischem Migrationshinter-grund, die inzwischen ein Teil unseres Landes gewordensind . Um all diese Menschen, auch mit Blick auf Eu-ropa, geht es doch letztendlich bei diesem Abkommen .Die Visafreiheit der türkischen Staatsbürger ist deshalbaus meiner Sicht nicht ein Zugeständnis an die türkischeRegierung, sie ist vielmehr ein Signal an die Türkei alsGanzes, ein Signal dafür, dass das freie Reisen in beideRichtungen möglich sein soll und dass man sich auf Au-genhöhe begegnet .Ich finde, dass wir uns in der Türkei-Politik auch ehr-lich machen müssen . Deutschland und die Türkei ver-bindet doch seit vielen Jahrzehnten viel mehr als nurdie Visafreiheit oder das EU-Türkei-Abkommen . Unse-re beiden Länder verbinden eine Freundschaft und einePartnerschaft, die bis auf Ernst Reuter und andere zu-rückgeht . Ja, die Türkei ist auch ein wichtiger Handels-partner für Deutschland und die EU . Aber auch auf denwirtschaftlichen Aspekt beschränkt sich das starke Bandzwischen unseren Ländern ganz bestimmt nicht . Auchder Kampf gegen den Terror von Daesh ist ein Aspektder Zusammenarbeit unserer Länder, aber auch daraufbeschränkt sich das Band ganz bestimmt nicht .Ich sage: Das Band zwischen der Türkei und Deutsch-land ist so fest und stark, dass es keine Regierung gibt,die das zerschneiden kann, egal wie scharf die Klingenderen politischer Schere auch sein mögen . Keine Schereist so groß, dass sie das deutsch-türkische Band durch-trennen könnte .Vizepräsidentin Claudia Roth
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Selbstverständlich muss die Türkei – das wurde schonausreichend gesagt – alle im EU-Türkei-Abkommen ver-einbarten Kriterien erfüllen, also auch die Änderung derumstrittenen sogenannten Antiterrorgesetzgebung . Ichbegrüße deshalb die klare Haltung des EU-Parlaments-präsidenten, Martin Schulz, sehr und sehe es auch als einsehr starkes Signal des Europäischen Parlaments, dass essich hinter seinen Präsidenten stellt .
Dieses Verantwortungsgefühl wünsche ich mir im Üb-rigen auch hier im Hohen Haus, liebe Kolleginnen undKollegen . Sie wissen: Wenn man ein Haar in der Suppesucht, dann findet man auch eines.
Aber hier geht es vor allem um die Suppe, also schonum das große Ganze und nicht um das einzelne Haar . Esstimmt schon: Auch das EU-Türkei-Abkommen ist be-stimmt keine besonders schmackhafte Suppe – um beidiesem Bild zu bleiben –; aber ich glaube, dass es eineSuppe ist, die jetzt einfach notwendigerweise ausgelöf-felt werden muss .Ich komme zum Schluss . Ich bin überzeugt: Die Vi-safreiheit ist das richtige Signal an die Türkei, dass wirunsere Versprechen halten und dass sich die Menschenin der Türkei nicht von der EU abwenden, sondern dasssie die Annäherung der Türkei an die Europäische Uni-on wieder betreiben . Das baut das in vielen Jahren ver-lorengegangene Vertrauen wieder auf, damit – auch dassage ich ganz deutlich – nächste Schritte folgen können .Ich lade Sie alle dazu ein, diesen ersten Schritt auch alsChance für die krisengebeutelte Europäische Union zubegreifen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat für die Fraktion der
CDU/CSU Nina Warken das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich vorab eines feststellen: Die Bundesre-gierung und auch die EU sind nicht erpressbar und wer-den auch nicht erpressbar sein. Das wird ihnen häufigvorgeworfen . Wir haben ein klares und eindeutiges Ab-kommen mit der Türkei . Es gilt für uns die Regel: Pactasunt servanda . Gleiches erwarten wir auch von unserenVertragspartnern, unabhängig von den handelnden Per-sonen .Das EU-Türkei-Abkommen beinhaltet auch die viel-diskutierte Frage nach der Visaliberalisierung . Unse-re Haltung hier ist eindeutig: Nur wenn die Türkei allePunkte der EU-Visa-Verordnung erfüllt, wird es zu dieserLiberalisierung kommen .
Entscheidend für den Zeitpunkt des Inkrafttretens istdabei einzig, wann die Bedingungen vollständig erfülltsind . Hier darf es schon aus sicherheitspolitischen Ge-sichtspunkten keine Kompromisse geben . Darin sindsich meine Fraktion und auch der Bundesinnenministermit der EU-Kommission und auch dem EuropäischenParlament einig . Vergangene Woche hat die Kommissi-on festgestellt, dass die Türkei 65 der 72 Bedingungenfür die EU-Visafreiheit erfüllt hat . Es besteht also nochNachholbedarf .Meine Damen und Herren, ungeachtet der diesbezüg-lichen Meinungsverschiedenheiten gilt es doch, festzu-stellen: Die Türkei ist der Nachbar der EU . Sie ist seit1952 Mitglied der NATO und seit dem Beitritt der Bun-desrepublik 1955 unser Verbündeter . Sie ist unser strate-gischer Partner, und bisher hat sie sich auch an die Abma-chungen des aktuellen EU-Türkei-Abkommens gehalten .Über das gefährliche Mittelmeer kommen heute fastkeine Flüchtlinge mehr illegal aus der Türkei nach Euro-pa . Insbesondere an der Küste gehen die türkischen Be-hörden hart gegen die kriminellen Schlepper und Men-schenhändler vor . Zudem verlaufen die Rückführungenin die Türkei weitgehend reibungslos . Auch die Situationder Flüchtlinge in der Türkei hat sich durch das Abkom-men und die damit einhergehenden Maßnahmen deutlichverbessert . Zu nennen sind zum Beispiel die Gewährungdes Arbeitsmarktzugangs für Flüchtlinge oder der Aus-bau der Infrastruktur in den Lagern . All das sind guteMeldungen . Gleichzeitig stellt die EU bis 2018 6 Mil-liarden Euro Hilfsmittel für die Türkei bereit, die nur fürdie Flüchtlingshilfe verwendet werden dürfen .Auch in Griechenland hat das Abkommen ausschließ-lich positive Auswirkungen . Wir unterstützen die Grie-chen nun personell mit Entscheidern aus dem BAMF .Die griechische Regierung wurde durch das Abkommendazu veranlasst, endlich die Politik des Durchwinkensder Flüchtlinge zu beenden und im Land die notwendi-gen Strukturen zu schaffen, um konstruktiv an einer Lö-sung mitarbeiten zu können .
Vor Ort – davon konnte ich mich kürzlich selbst über-zeugen – schreitet der Aufbau der Hotspots gut voran .Natürlich gibt es noch viel zu tun, und wir werden dieEntwicklung weiter im Auge behalten . Nunmehr wirdjedoch jeder Flüchtling registriert, und jedem Flüchtlingwird hier ein faires und individuelles Verfahren zuteil .Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Fazit ist festzustel-len: Europa hat durch das EU-Türkei-Abkommen dieFlüchtlingsfrage in geregelte Bahnen lenken können .Nicht zu leugnen ist allerdings auch, dass die innen-politischen Entwicklungen in der Türkei durchaus Anlasszur Sorge geben . Vieles läuft hier nicht so, wie wir Eu-ropäer es uns wünschen . Ich warne jedoch davor, jedeinnenpolitische Rhetorik mit außenpolitischem Handelngleichzusetzen . In der Türkei tobte ein innenpolitischerMachtkampf, in dem sich Erdogan nun durchgesetzt hat .Der türkische Präsident muss auch ein großes Interesseam EU-Türkei-Abkommen haben . Seinen LandsleutenUli Grötsch
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versprach er zuletzt immer wieder, auf die Visafreiheithinzuarbeiten .Meine Damen und Herren, so bedauerlich es ist: Wirkönnen uns die Länder dieser Welt und deren Staatsober-häupter nicht backen, wie wir sie gerade brauchen . Wirmüssen uns an den tatsächlichen Gegebenheiten orien-tieren . Fakt ist: Zwei Drittel der Welt teilen nicht unsereAuffassung von Rechtsstaatlichkeit . Das gilt sicherlichfür Herrn Erdogan, seinen Umgang mit der Opposition,mit Medien, mit Frauenrechten, für seine Kurdenpolitik .All das ist in aller Deutlichkeit zu kritisieren, und das tunwir nicht zuletzt mit den an die Türkei gestellten Forde-rungen .Das Gleiche gilt aber nicht minder für China oder fürHerrn Putin, der sich erst unlängst einen halben Staathandstreichartig einverleibt hat, jedoch nach wie vor vonweiten Teilen unserer Linken hofiert wird.
Dennoch müssen wir als für unser Land in Verantwor-tung Stehende auch mit denjenigen Staatsoberhäupternreden, diskutieren und verhandeln, die nicht unsere Wer-te teilen . Tun wir dies nicht, sitzen wir bald mit hehrenPrinzipien, aber sonst allein an den Verhandlungstischender Welt . Politik ist und bleibt die Kunst des Machbaren .Das EU-Türkei-Abkommen zeigt, dass Europa mit sei-nen Partnern handlungsfähig ist und große Herausforde-rungen bewältigen kann .Lassen Sie uns Bedenken seriös prüfen und Fehler undMängel offen ansprechen . Es bleibt aber unser Interesse,weiter an der Umsetzung des Abkommens zu arbeiten .Darauf sollten wir uns konzentrieren . Hier bitte ich auchdie Bundesregierung und die Bundeskanzlerin, sich mitaller Kraft einzusetzen .Vielen Dank .
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sevim Dağdelen,
Fraktion Die Linke .
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Wer es heute in Deutschland wagt, den türki-schen Staatspräsidenten zu kritisieren, wird von seinenFans auch hierzulande bedroht, mit antisemitischen Be-schimpfungen eingedeckt, als alevitischer Ungläubigerverunglimpft oder auch im Jargon der Völkermörder von1915 als Freund armenischer oder kurdischer Terroristenbeschimpft .Ich finde diese Welle des Hasses durch türkische Fa-schisten und Islamisten in Deutschland, die den Despo-ten Erdogan unterstützen, unerträglich .
Es ist beschämend, dass die Bundesregierung hierzuschweigt und nicht Tacheles redet . Wer wissen möchte,wie sehr sich die Bundesregierung durch den schäbigenEU-Türkei-Deal erpressbar gemacht hat, der muss nichtnur an Herrn Jan Böhmermann denken, wo die Bundes-kanzlerin das sehr deutlich veranschaulicht hat, der kannauch dem engen Erdogan-Vertrauten Burhan Kuzu zuhö-ren, der via Twitter in der Frage der Visaliberalisierungder EU wie folgt drohte:Sollten sie eine falsche Entscheidung treffen, schi-cken wir die Flüchtlinge los .Ich sage Ihnen: Als Demokrat verhandelt man nichtmit solchen Leuten, sondern man kämpft gegen solcheLeute an,
und man schweigt schon gar nicht zu deren Verbrechen .Die Visafrage und auch die Flüchtlingsfrage dürfenschon gar keine Angelegenheiten sein, für die im Gegen-zug ein Schweigen gegenüber den massiven Verletzun-gen der Pressefreiheit und den Massakern an Kurden inder Türkei ausgehandelt wird . Das wäre äußerst prinzi-pienlos und auch unmoralisch, meine Damen und Herren .
Genau das passiert aber durch die deutsche Bundesregie-rung . Die Visafrage ist Teil dieses schmutzigen EU-Tür-kei-Deals, den wir zutiefst ablehnen .
Wir wollen keine Visaliberalisierung, für die der Preisdas Schweigen zu den Verbrechen Erdogans an der Zivil-bevölkerung in der Türkei ist .
Ich sage das gerade im Hinblick auf die Massaker Erdogans an der Zivilbevölkerung .Wir müssen hier im Bundestag das Schweigen überdie Verbrechen an den Kurden brechen . Infolge desKriegs von Erdogan gegen die Kurden sind bereits Hun-derte Zivilisten von türkischen Sicherheitskräften ermor-det worden . Ganze Stadtteile liegen in Schutt und Asche .Berichten von Hilfsorganisationen zufolge gibt es mitt-lerweile über 500 000 Binnenvertriebene in der Türkei .Die Vereinten Nationen wollen jetzt den Fall von über100 bei lebendigem Leib verbrannten Kurden in Cizreuntersuchen . Türkische Soldaten schießen an der syri-schen Grenze auf Frauen und Kinder, die Flüchtlinge undauf der Suche nach Schutz sind . Was macht die Bundes-regierung? Ich frage Sie: Warum schweigt die Bundesre-gierung hier dazu? Ist dies Teil Ihrer Abmachung, FrauBundeskanzlerin Merkel? Das frage ich diese Bundesre-gierung .
Ich habe es gestern mit meinen Kolleginnen und Kolle-gen im Innenausschuss selbst erfahren – der Parlamenta-rische Staatssekretär Schröder beim Bundesinnenminis-terium hat es gesagt –: Wir haben bis April dieses JahresNina Warken
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exorbitant gestiegene Zahlen von Asylantragstellerinnenund Asylantragstellern aus der Türkei . 90 Prozent davonsind Kurdinnen und Kurden .Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Wenn dieBundesregierung ihre perfide Politik der Unterstützungder AKP-Regierung nicht ändert, werden Hunderttausen-de Kurden gezwungen sein, hier in Deutschland Schutzzu suchen .Was macht die Bundesregierung? Sie schickenErdogan weiter Waffen . Den Sicherheitskräften werdenzum Beispiel Scharfschützengewehre zur Verfügung ge-stellt, die Sie sozusagen mitliefern . Die Kurden in derTürkei werden von den türkischen Sicherheitskräften mitdiesen deutschen Scharfschützengewehren ermordet .
Das, was Sie mit Ihren Waffenlieferungen machen, mei-ne Damen und Herren, ist Beihilfe zum Mord an denKurden .
– Ja, Sie hören richtig, und da müssen Sie hier auch garnicht so verzweifelt dazwischenrufen . Sie müssen end-lich aufhören mit Ihrer Politik des Exports von Waffen aneine Regierung, die Krieg gegen einen Teil der eigenenBevölkerung im Südosten des Landes führt .
Ihr Partner steuert auf ein Präsidialsystem in der Tür-kei zu . Dazu wird jetzt in faschistischer Manier die Op-positionspartei HDP durch die Gefolgsleute Erdoganszerstört . Abgeordnete werden verhaftet . Die gesamteFraktion wird kriminalisiert und soll ihrer Mandate be-raubt werden .Ein letzter Satz .
Aber wirklich der letzte .
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sind hier im Reichstag . Wer möchte,
kann sich das Gedenkbuch der vom NS-Regime verfolg-
ten kommunistischen, sozialdemokratischen und auch
konservativen Abgeordneten anschauen. Ich finde, in
diesem Reichstag mit dieser Tradition wäre es mehr als
geboten, sich an die Seite der verfolgten HDP-Abgeord-
neten in der Türkei zu stellen und sich mit ihnen zu so-
lidarisieren .
Vielen Dank .
Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben zum Schluss an
die Leistungen der Abgeordneten hier im Reichstag er-
innert . Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass in diesem
deutschen Parlament weder eine Frau noch ein Mann
sitzt, der oder die Beihilfe zum Mord leistet . Ich bitte Sie,
das in Ihren Reden auch nicht zu verwenden .
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege
Dr . Lars Castellucci .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Korteund insbesondere Frau Dağdelen, zu dem, was Sie hieram Schluss gesagt haben: Sie müssen aufpassen, dass Siemit Ihrer Kritik nicht überziehen .
Aus all dem, was Sie an Anklagen hier erheben, wirdnoch kein Konzept .
Das ist aber das Entscheidende . Man merkt Ihnen mitjeder Faser an, Ihnen beiden, dass Sie noch nie in derVerantwortung waren .Sie sagen, wir sollten einen Pakt mit der Bevölkerungin der Türkei schließen . Jetzt frage ich Sie: Wie soll dasgehen? Sie rufen uns dazu auf, gegen Erdogan zu kämp-fen. Das sind doch hohle Phrasen, Frau Dağdelen.
Mit solchen Beiträgen kommen wir hier sicher nicht wei-ter .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist dasErste, was wir zu leisten haben? Das Erste, was wir zuleisten haben, ist Sicherheit . Der Herr Erdogan ist sicher-lich auch nicht mein Freund – ich weiß nicht, ob er jetztmich als Nächsten verklagt –, aber ich sage Ihnen: Ichbin froh, dass wir mit ihm im Gespräch sind und mit ihmam Verhandlungstisch sitzen, weil wir so wenigstens andiesem Punkt Einfluss nehmen können und mitbekom-men, was dort passiert .
Sevim Dağdelen
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Einfluss zu nehmen, ist doch besser, als beiseitezuste-hen und recht haben zu wollen .
Wir müssen Sicherheit organisieren . Wir haben eine All-gemeine Erklärung der Menschenrechte .
In der ist festgelegt, dass jeder Mensch das Recht hat,sein Land zu verlassen . Leider fehlt das Gegenstück . Eshat nicht jeder Mensch auch das Recht, von einem ande-ren Land aufgenommen zu werden .
Deswegen haben wir dieses ganze Chaos, und deswegengibt es Schleuser, die Geld damit verdienen und die Ge-winne wieder in die Konflikte reinstecken, die das ganzeLeid erst verursachen .
Es ist unsere Aufgabe, hier für Sicherheit zu sorgen, ohneden kriminellen Machenschaften weiter Futter zu geben .
An dieser Stelle ist natürlich entscheidend, dass dieMenschen, die vor dem Krieg fliehen, weiterhin über dieGrenzen kommen – in Sicherheit . Das ist natürlich nurder erste Schritt . Insofern ist Grenzen schützen auch et-was anderes als Grenzen schließen, wie Sie das immerbehaupten . Wenn Human Rights Watch uns sagt: „Da istan der Grenze geschossen worden“, dann ist doch für unsalle in diesem Haus ganz klar – egal, was Frau von Storchoder Herr Erdogan sagen –: An den Grenzen darf nichtauf Flüchtlinge geschossen werden . Das ist nicht unserePolitik .
Wenn die Menschen in Sicherheit sind, ist der nächsteSchritt, dafür zu sorgen, dass sie dort, wo sie hinkom-men – ob sie nun in zentralen Lagern oder irgendwosonst im Land sind –, einigermaßen anständig überlebenkönnen . Auch diesbezüglich gibt es Lücken im internati-onalen Recht . Es ist doch absurd, dass das UNHCR oderdas World Food Programme ihre Mittel von der Welt-gemeinschaft zusammenkratzen müssen, statt dass wirdiese Organisationen ordentlich ausfinanzieren, damitsie rechtzeitig, wenn irgendwo Leid aufkommt, agierenkönnen .
Aber solange wir das noch nicht realisiert haben, sindwir gefordert, direkt zu helfen . Die 6 Milliarden Euro,von denen gesprochen wurde, sind ein starker Beitrag derEuropäischen Union, der ja nicht an Herrn Erdogan geht,sondern mit dem konkret vor Ort in der Türkei geholfenwerden soll, damit Flüchtlinge Unterkunft, Essen, Trin-ken, ein Dach über dem Kopf und Bildungseinrichtungenhaben . Das ist ein wichtiger und guter Teil dieser Verein-barung mit der Türkei .
Ein weiterer Punkt, den man auch unserer eigenen Be-völkerung sagen muss: Warum soll es denn gut sein, dassin der Türkei 3 Millionen Flüchtlinge sind, in Deutsch-land aber nur 1 Million und in ganz Europa gar nur 2 Mil-lionen?
Ja, wir hatten mit 1 Million Flüchtlinge jetzt erst einmalzu kämpfen, gar keine Frage . Aber wenn wir bedenken,dass in der Türkei 3 Millionen Flüchtlinge sind, in Jor-danien 10 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge sind undim Libanon jeder Vierte ein Flüchtling ist, dann wirddoch klar, dass wir mit einer solchen Art von Politik dieRegionen immer weiter destabilisieren, denen es ohnehinschon nicht gut geht .
Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Der Kern derVereinbarung mit der Türkei – das halte ich darin für denwichtigsten Punkt – ist die Umsiedlung, dass wir endlichso weit sind, dass wir gesagt haben: Es werden Kontin-gente vereinbart, damit die Menschen auf legalen, siche-ren Wegen zu uns kommen können, und dann werden siein Europa umverteilt . Das ist ein großer Schritt, der in derRealität noch lächerlich ist aufgrund der kleinen Zahlen .Aber daran werden wir weiter arbeiten .
Das Wichtigste ist natürlich, die Ursachen zu betrach-ten, die dazu führen, dass die ganze Fluchtbewegungüberhaupt stattfindet. Uns ist dieser Tage vom Auswär-tigen Amt noch einmal eine Zusammenstellung zur Ver-fügung gestellt worden über das Engagement Deutsch-lands, was den Syrien-Konflikt angeht. Ich muss Ihnensagen: Ob es jetzt unser Beitrag als Geberland bei derKonferenz ist, wo es um Gelder für Syrien ging – da ha-ben wir den Hauptbeitrag geleistet –, oder unser Beitrag,die Menschen an einen Tisch zu holen und zu Friedens-verhandlungen einzuladen – ich weiß nicht, was mehr ge-tan werden kann als das, was von der Bundesregierung,namentlich Frank-Walter Steinmeier, hier geleistet wird .Wir leisten ja als ein kleines Land in Europa wirklichgroße Beiträge . Das hat auch einmal die Unterstützung,die Würdigung der Opposition verdient .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen spricht jetzt die Kollegin Luise Amtsberg .Dr. Lars Castellucci
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istdoch vollkommen unbestritten, dass die Türkei Teil derLösung bei der Aufnahme und bei der Versorgung vonFlüchtlingen ist . Von meiner Fraktion hat das nie jemandbestritten . Im Gegenteil: Während sich die Bundesregie-rung in den vergangenen zwei Jahren immer nur mit deneuropäischen Nachbarländern verglichen hat im Hinblickauf die großen Herausforderungen, die unser Land zwei-felsohne zu leisten hat und hatte, waren in Jordanien, wa-ren im Libanon, waren in der Türkei bereits Millionenvon Flüchtlingen angekommen .Schon damals haben wir hier im Bundestag deutlicheingefordert, dass die Nachbarländer Syriens besser un-terstützt werden müssen, und zwar nicht nur finanziell,sondern vor allem auch durch die gezielte und sichereAufnahme von Flüchtlingen aus diesen Ländern .
Die Unfähigkeit europäischer Regierungen, diesen Wegkonsequent zu verfolgen, hat dazu geführt, dass Flücht-linge in den Nachbarländern Syriens wegen Hungers,fehlender Unterkünfte und fehlender Perspektiven einzweites Mal flüchten mussten, nämlich nach Europa.Und das ist auch nachvollziehbar, liebe Kolleginnen undKollegen .
Also ja, europäische Lösungen für die Herausforde-rungen in der Flüchtlingspolitik waren nie und zu keinerZeit denkbar ohne die Türkei . Die EU – das ist sozusagendie Analyse dessen, was jetzt passiert ist – hat sich mitder nun geschlossenen Vereinbarung, wie wir finden, ineine inakzeptable Abhängigkeit von der Türkei begeben;denn die gleiche Türkei, der Europa jetzt das Schicksalvon Millionen von Flüchtlingen in die Hand legt, produ-ziert mit ihrer Innenpolitik und ihrem Umgang mit denKurden täglich neue Flucht . Darüber darf hier, meinesehr verehrten Damen und Herren, nicht geschwiegenwerden .
Nicht nur deswegen ist diese Vereinbarung schlecht;sie entspricht nicht dem, was wir als unsere europäischenWerte definiert haben. Da muss man die Bundesregie-rung kritisieren: Bei Abschluss dieser Vereinbarung, die-ses Deals, wurde die Aufnahme von Flüchtlingen ebennicht eng verknüpft mit der Forderung, dass die Türkeidie Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt, dass sie fürMenschen im eigenen Land Perspektiven schafft . Des-halb, glaube ich, ist es naiv, zu glauben, dass diese Ver-einbarung hält . Sie ist nicht auf Dauer angelegt . Das zeigtunter anderem auch die Haltung der Bundesregierung zurVisaliberalisierung . Die 72 Bestimmungen umzusetzen,ist ein ziemlich harter Schritt, der so schnell nicht zu leis-ten sein wird . Das heißt, es wird sich noch in diesem Jahrdie Frage stellen, ob die Türkei alle Forderungen erfüllenkann . Wenn nicht, stellt sich die Frage, ob der EU-Tür-kei-Deal weiterhin Bestand hat . Das ist doch ganz klar .
Insofern müssen Sie, wenn man einmal nach Deutsch-land schaut, sich unter anderem auch die Situation unse-rer eigenen Flüchtlingspolitik ansehen . Wir haben vieleErstaufnahmeeinrichtungen, die leer stehen . Viele In-nenminister stellen sich jetzt die Fragen: Müssen wir diedichtmachen? Sollen wir die auflassen? Müssen wir wei-ter Geld investieren? Sie halten sich alle an die Prognoseder Bundesregierung, dass diese Vereinbarung mit derTürkei hält, bauen Unterkünfte und Strukturen zurück,obwohl wir wissen, dass eine Verlagerung der Fluchtrou-ten stattfinden wird und dass dieser Deal möglicherwei-se nicht hält und wir vielleicht in Deutschland am Endedieses Jahres wieder vor derselben Situation stehen wieim vergangenen Jahr . Das kann wirklich keiner wollen,verehrte Kolleginnen und Kollegen .
Ihnen sollte klar sein: Wenn man einen Deal macht,wenn man Verantwortung verlagert, dann bedeutet dasgleichzeitig auch, dass die Verantwortung nicht an deneigenen Landesgrenzen haltmacht . Wenn man einen Dealmit der Türkei macht, dann ist das, was in der Türkei pas-siert, auch unsere Angelegenheit und fällt in unsere Ver-antwortung . Dann kann uns nicht egal sein, was vor Ortpassiert .Da geht es um Themen, die hier mehrfach schon an-gesprochen wurden . Es gibt glaubhafte Berichte vonMenschenrechtsorganisationen, die von Abschiebungenvon Frauen und Kindern in Kriegsgebiete sprechen,mittlerweile sogar von Schüssen auf Flüchtlinge . DieseAuskünfte können wir nicht widerlegen . Während dieKanzlerin sich schöngemachte Flüchtlingslager in derTürkei ansieht, leben aber Hunderttausende von Men-schen in prekären Verhältnissen, viele syrische Kinderdort sind ohne Zugang zu Bildung, Menschen sind ohnePerspektive und Zugang zu Arbeit . Auch die Situation inGriechenland hängt damit im Übrigen unmittelbar zu-sammen .Wie können wir von einer Lösung sprechen, wenn inIdomeni noch Tausende von Menschen an der Grenzeausharren, weil sie wissen, dass jeder Weg ins griechi-sche Asylsystem in eine Sackgasse mündet? 54 000 Men-schen in Griechenland warten noch auf die Bearbeitungvon Asylanträgen . Die griechische Asylbehörde verfügtderzeit über 260 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter undkann nur eine winzig kleine Zahl von Anträgen bearbei-ten . Und der KOM, der Kommission, fällt nichts Besse-res ein, als sich wieder an das Dublin-System zu ketten,statt alles daranzusetzen und alles zu unternehmen, umwieder zurück zu den Plänen einer gemeinsamen Vertei-lung zu kommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind die Nicht-regierungsorganisationen, die dafür Sorge tragen, dassschutzsuchende Kinder in Griechenland geimpft wer-
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den, medizinisch versorgt werden, weil der griechischeStaat dies derzeit nicht leistet . Der UNHCR schätzt, dass2 000 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge derzeit inGriechenland sind . Es gibt aber nur 500 Plätze für dieseKinder in regulären Einrichtungen . Die restlichen Kinderwerden notdürftig in Polizeistationen in Gewahrsam ge-nommen, also inhaftiert .In den provisorischen Lagern am Athener Flughafenist die Lage so prekär, dass Flüchtlinge aus lauter Ver-zweiflung in den Hungerstreik treten. Auf Lesbos werdenohne Rechtsgrundlage Menschen, darunter auch Frauen,Kinder und Kranke, über einen unzulässig langen Zeit-raum inhaftiert . Um dem zu entgehen – das haben wirgestern lesen können –, sind Menschen sogar so ver-zweifelt, dass sie versuchen, in die Türkei zurückzu-schwimmen . Die NGOs ziehen sich aus diesen Haftla-gern zurück, weil die Arbeit dort nicht mehr mit ihrenGrundsätzen zu vereinbaren ist . Tausende von Menschenhängen noch auf der Balkanroute fest . Und wir sprechenhier von einer Lösung? Meine sehr verehrten Damen undHerren, das kann einfach nicht sein .
Vielen Dank . – Als Nächste erhält nun die Kollegin
Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle haben in den vergangenen Monaten erlebt undgesehen, dass das bisherige europäische Asylsystem un-ter diesen Flüchtlingsströmen schlicht nicht funktionierthat . Das Dublin-System, EU-Standards, der Grenzschutz,die Verteilung von Flüchtlingen – all das wurde nicht ide-al umgesetzt und ist auch an der einen oder anderen Stel-le nicht praktikabel .In Deutschland, aber auch in anderen Ländern werdendie Rufe nach nationalen Maßnahmen lauter, obwohl siein einem vereinten Europa nur Notlösungen und keineechten Lösungen sein können . Die Reform des Asylsys-tems, an der aktuell gearbeitet wird, ist insofern auch fürdie Wirksamkeit des Abkommens mit der Türkei ent-scheidend . Die Kommission hat aktuell vorgeschlagen,das Dublin-System mit einem Notfallmechanismus aus-zustatten, um Ländern, die an ihre Grenzen stoßen – wiees zum Beispiel bei Italien der Fall war –, zu helfen, indemdie Schutzbedürftigen dann auf die anderen Mitgliedstaa-ten verteilt werden . Endlich erfolgt die Androhung, dassStaaten, die sich nachhaltig weigern, Flüchtlinge aufzu-nehmen, eine Geldstrafe zahlen sollen . Das EuropäischeUnterstützungsbüro für Asylfragen, EASO, soll massivausgebaut werden, damit es notfalls viel wirkungsvollerund schneller eingreifen kann . Das ist der richtige Weg inEuropa; denn Europa muss sich als Wertegemeinschaftzeigen und nicht als Selbstbedienungsladen .Zentral für das Abkommen mit der Türkei ist die Zusa-ge der Türkei, Flüchtlinge, die irregulär nach Griechen-land reisen, zurückzunehmen . Im Gegenzug nimmt dieEuropäische Union Flüchtlinge aus der Türkei auf undunterstützt die Flüchtlingshilfe in der Türkei mit 6 Milli-arden Euro . Für Kurzaufenthalte von bis zu 90 Tagen solldie Visumpflicht für Türken aufgehoben werden.Auch wir wissen, dass das Abkommen Stärken undSchwächen hat . Es hat ein starkes Signal gesendet . DieFlüchtlingszahlen sind zurückgegangen . Die Zahl derÜberfahrten von Personen nach Griechenland ist bei-spielsweise in den letzten vier Wochen, also nach Ab-schluss des Abkommens, auf 7 800 zurückgegangen,während es noch im Oktober letzten Jahres 214 000 Men-schen waren, die nach Griechenland übergesetzt sind . Daszeigt also, dass wir mit diesem Mittel auch die Schleuser-kriminalität eindämmen können .Das Abkommen enthält aber auch Risiken, vor allembei der Visafreiheit . In meinem Wahlkreis, in Aschaffen-burg, lieferten sich am Ostersonntag Hunderte nationa-listische Türken und Kurden über Stunden hinweg ge-walttätige Ausschreitungen . Polizisten wurden verletztund Häuser bis in die Nacht hinein besetzt . Dieser Vorfallzeigt mir ganz deutlich, dass die freie Einreise von Kur-den und Türken nach Deutschland unter den aktuellenUmständen sehr wohl riskant ist .
Herr Erdogan darf seinen Konflikt mit den Kurden nichtnach Europa verschieben .Damit das Türkei-Abkommen dauerhaft Erfolg hat,sind drei Punkte entscheidend .Erstens . Bei der Visaliberalisierung darf es keinen Ra-batt geben . Tempo darf nicht vor Gründlichkeit gehen .Wir müssen uns wirklich darauf verständigen, dass alle72 Kriterien, die bereits im Dezember 2013 – und nichterst aktuell – vereinbart wurden, eingehalten werden .Das gilt auch für die Passsicherheit und für die Men-schenrechte .Frau Kollegin Roth, ich schätze Sie wirklich sehr,auch wenn wir oft unterschiedlicher Ansicht sind . AberIhre Unterstellung, dass es irgendeinem Mitglied desHauses oder auch der Bundesregierung egal ist, wennan der Grenze auf Kinder geschossen wird, und dass dieBundesregierung diesen Vorwürfen bzw . Behauptungennicht nachgehen will, hat mich – das muss ich ehrlichsagen – entsetzt,
zumal unser Parlamentarischer Staatssekretär OleSchröder gestern im Innenausschuss ganz deutlich gesagthat, dass man all diesen Berichten nachgehen wird, esaber noch keine aktuelleren Erkenntnisse gibt und dassdie entsprechenden Verbindungsleute bereits kontaktiertwurden . Es handelte sich um eine Meldung, die zweiLuise Amtsberg
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Tage alt war! Nicht alles, was in der Zeitung steht, istvon Haus aus richtig .
– Ich gehe nur auf den Vorwurf ein, dass an der Grenzeauf Kinder geschossen worden ist . – An solche Unterstel-lungen hier im Parlament kann ich mich nicht gewöhnen .Ich finde das einfach auch nicht in Ordnung.
Was geben wir denn für ein Bild nach außen ab – aufden anderen Vorwurf möchte ich gar nicht eingehen –,wenn die Menschen hören, dass wir so über Parlamen-tarier anderer Parteien sprechen? Ich muss sagen: Daranwill und werde ich mich auch nach drei Jahren nicht ge-wöhnen. Ich finde das ungeheuerlich.
Zweitens . Wir müssen die Visafreiheit schnell aus-setzen können . Ich bin sehr froh, dass die Kommissionplant, dass die bisherigen Verfahren massiv vereinfachtund beschleunigt werden sollen, damit dann, wenn es –das ist unsere Befürchtung – massenhafte Überziehungender Bleibefrist gibt oder unbegründete Asylanträge kom-men oder sich eine mangelnde Rücknahmebereitschaftdurch die Türkei abzeichnen sollte, die Visumpflicht au-tomatisch wieder in Kraft treten kann .Drittens müssen wir – da möchte ich Ihnen, HerrCastellucci, vollumfänglich zustimmen – noch mehr Mit-tel für die Hilfe vor Ort bereitstellen, damit wir schnellerhelfen können . Es darf auch nicht nur um die 3 MillionenFlüchtlinge in der Türkei gehen, die dort seit 2011 auf-genommen worden sind, sondern es muss auch um dieFlüchtlinge im Libanon und in Jordanien gehen .Zum Schluss: Europa darf sich bei den Verhandlungennicht kleiner machen, als es ist . Wir bekommen so oft ge-sagt: Die Türkei erpresst uns . – Nein, die Türkei brauchtEuropa auch . Sie braucht Europa im Kampf gegen denTerror und als Wirtschaftspartner . Das müssen wir An-kara auch deutlich zeigen; denn dort hält man eben nichtalle Trümpfe in der Hand . Mir ist wichtig – das wäre mei-ne Schlusssatz –: Wir dürfen uns nicht kleiner machenund müssen darauf bestehen, dass alle 72 Punkte erfülltwerden .Danke schön .
Das war nun ein sehr langer Schluss . – Als Nächstes
spricht die Kollegin Dr . Dorothee Schlegel, SPD-Frak-
tion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Gäste! Wir debattieren heute in dieser Aktuel-len Stunde das Thema „Aktuelle Entwicklungen beimEU-Türkei-Abkommen“ . Dieses Abkommen wurde ge-meinsam ausgehandelt, im November 2015 in Kraft ge-setzt, und im März 2016 wurde eine weitere Phase einge-leitet . Beide Seiten wussten, auf was sie sich einlassen .Beide Seiten kennen die Konditionen . Und beide Seitenwollten dieses Abkommen, wenn auch aus unterschiedli-chen Motiven . Die beiden Vertragspartner sind die Tür-kei zum einen und die EU mit ihren 28 Mitgliedstaatenzum anderen .Aktuellstes Thema dieses Abkommens ist die Be-schleunigung der Visaliberalisierung . 72 Kriterien müs-sen ja dafür erfüllt werden . So liegt es übrigens seit 2013als Roadmap klar auf den Tischen beider Seiten, alsonoch bevor es zu oben genanntem Abkommen kam undauch nicht erst jetzt „plötzlich“, wie Präsident Erdoganvor wenigen Minuten behauptet hat .Weit über 60 Kriterien erfüllt die Türkei, aber ebennoch nicht alle . Der Datenschutz ist ebenso eine harteNuss wie die Anpassung der sehr weit gefassten Antiter-rorgesetze an die EU-Standards . Erdogan hat gesagt, dassdie Änderung, die in diesem Punkt eingefordert wordenist, ein „Desaster“ wäre; ich sehe das anders . Für michsind umgekehrt die Eingriffe der Türkei in ihre eigenenGrundrechte das tatsächliche Desaster .Vor zwei Wochen habe ich in der letzten AktuellenStunde über die Türkei gesagt: Die Einschränkung vonGrundrechten und die Rechtsunsicherheiten durch die-ses Antiterrorgesetz gehen in der Türkei Hand in Handmit dem Verlust von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,Pressefreiheit, Säkularismus und Religionsfreiheit . Ichunterstreiche hier gerne noch einmal: Wir dürfen die Tür-kei und die dortigen demokratischen Kräfte nicht alleinelassen . Daher ist eine Fortsetzung eines sachlichen, kla-ren und kritischen Dialogs mit Regierung und Parlamentunabdingbar .Ich begrüße – es wurde schon erwähnt – die klareEntscheidung des Europäischen Parlaments, sich erstdann mit der Visafreiheit zu befassen, wenn alle Krite-rien erfüllt sind . Was ich allerdings nicht begrüße, sinddie vielen Vorbehalte gegenüber einer visafreien Einreisevon türkischen Staatsbürgern; denn wir werden auch beiVisafreiheit kontrollieren, wer aus der Türkei in die EUeinreist .Einreise ohne Visum bedeutet zudem keine unkontrol-lierte Einreise; denn sie wird mit einem Pass mit biomet-rischen Daten erfolgen .Visafreiheit bedeutet auch nicht, einfach nur über dieGrenze zu spazieren . Alle, die schon einmal visafrei indie USA eingereist sind, wissen das sehr wohl .Zudem – Kollegin Lindholz hat es gerade angespro-chen – wird es auch einen Schutzmechanismus geben,der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Umstände zumelden, die zu einer Aussetzung der Visafreiheit führenkönnen .Andrea Lindholz
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Meine Damen und Herren, Visaliberalisierung stärktdie Reisefreiheit . Sie fördert den interkulturellen undden zivilgesellschaftlichen Dialog . Sie erleichtert darü-ber hinaus die wissenschaftliche und wirtschaftliche Zu-sammenarbeit, den Schüler- und Studentenaustausch undVerwandtschaftsbesuche .Ein Letztes: Präsident Erdogan ist nicht die Türkei .Er ist von der Mehrheit der türkischen Bevölkerunggewählt, und seine Partei stellt die Regierung . Aber esgibt eben auch eine Opposition . Die CHP und weitereproeuropäische Kräfte stehen mir mit ihren Positionenpolitisch deutlich näher als Herr Erdogan . Wie wichtiguns eine parlamentarische Zusammenarbeit ist, könnenund müssen wir durch den engen Austausch mit unserentürkischen Kolleginnen und Kollegen intensiver denn jezeigen . Ich treffe mich nachher mit dem Fraktionsvorsit-zenden der CHP, Kemal Kilicdaroglu, und werde diesenDialog fortsetzen .Schließen möchte ich mit Worten des großen SPD-Au-ßenpolitikers Egon Bahr, die auch auf unsere momentaneSituation zutreffen – Zitat –:Wandel durch Annäherung . Ich bin fest davon über-zeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben kön-nen, um eine solche Politik ohne Illusionen zu ver-folgen . . . denn sonst müßten wir auf Wunder warten,und das ist keine Politik .So Egon Bahr .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes spricht Matern von
Marschall, CDU/CSU-Fraktion .
Verehrte Frau Präsidentin, vielen Dank . Vielen Dankauch dafür, dass Sie die Kollegin Dağdelen ausdrücklichgerügt haben für diese unsägliche Vorhaltung gegenüberder Bundesregierung .
Wenn die Linke im Zusammenhang mit der Vereinba-rung mit der Türkei mit Begrifflichkeiten – Herr Korteund Frau Dağdelen, Sie beide kann ich da zitieren – wie„schmutzig“, „dreckig“ und „schäbig“ hantiert – dieseVereinbarung bezeichnen Sie ja auch als „Deal“ –, dannfrage ich mich, was Sie davon halten, dass wir der Türkeifür ihre gute und wichtige Arbeit, die sie in ihrem Landgegenüber den Flüchtlingen aus Syrien leistet, 3 Milli-arden Euro und sukzessive bis zu 6 Milliarden Euro alsUnterstützung bei dieser wichtigen humanitären Aufgabeanbieten wollen . Dieses Geld geht nicht in das Säckelvon Herrn Erdogan,
sondern es kommt den Hilfsorganisationen zugute,
perspektivisch auch unserer GIZ, die dort eine wichtigeund herausragende Arbeit leistet; und dafür danke ich al-len sehr .
Wir haben heute Morgen über den weiteren Kontext,nämlich die Bekämpfung der Fluchtursachen, gespro-chen . Das ist von großer Bedeutung . Auch Kollegin Rothhat einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte geleistet .Ich denke, wenn wir nicht in der Lage sind, in guter Ko-operation mit der Türkei die Situation dort zu stabilisie-ren, und uns dies nicht auch in Nordafrika gelingt, dannhaben wir gar keine Chance, die dahinterliegenden Ursa-chen wirksam zu bekämpfen . Insofern ist diese Koope-ration, die der Stabilisierung der Situation in der Türkeidient, von ganz großer Bedeutung .Wenn wir auf die aktuelle Entwicklung schauen,muss uns natürlich beunruhigen, dass MinisterpräsidentDavutoglu zurückgetreten ist und damit jemand, derEuropa näher gestanden hat . Auch der bevorstehendeAKP-Parteitag muss uns beunruhigen . Besonders be-unruhigen muss uns – das ist bisher nicht angesprochenworden; deshalb will ich kurz darauf eingehen – die Situ-ation im türkischen Parlament, und zwar im Hinblick aufdas Risiko einer Immunitätsaufhebung .
Sie haben möglicherweise diese sehr unschönen Sze-nen in der Verfassungskommission im türkischen Parla-ment live gesehen . Es ging dabei um einen Antrag derAKP auf Verfassungsänderung, der angenommen wor-den ist . Die AKP betreibt damit durchsichtige taktischeManöver . Ziel ist dabei letzten Endes die Entfernung ei-ner ganzen Fraktion, nämlich der HDP, aus dem Parla-ment . Die AKP alleine verfügt nicht über die notwendigeverfassungsändernde Mehrheit im Parlament, doch leidermachen da auch noch die CHP und die MHP mit .
Ich würde mir sehr wünschen, Kollegin Schlegel – Siehaben ja gerade den Dialog, den Sie diesbezüglich füh-ren wollen, angesprochen –, dass Sie auf die Kollegen imtürkischen Parlament, mit denen Sie ein gutes Einverneh-men haben, einwirken, dass sie dieser Verfassungsände-rung nicht zustimmen .
Dr. Dorothee Schlegel
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Ich glaube, das ist auch für das türkische Parlamentselbst von großer Bedeutung . Jede Fraktion im türki-schen Parlament, die dem zustimmen will, scheint ih-ren Eigennutz daraus ziehen zu wollen . Aber es ist eineaußerordentlich riskante Entscheidung, die die anderenFraktionen, also nicht nur die AKP, da treffen; denn eswürde sukzessive zu einer Beschneidung der Stärke die-ses Parlaments führen .
Daher sollten wir auf sie einwirken und hier im Parla-ment nicht weiter eine Eskalation betreiben, sondern inguter Kooperation das Gespräch mit denjenigen dort, diewir als moderate und gute parlamentarische Kräfte anse-hen, suchen .Ich glaube, dass wir als Europäische Union immer denWeg der Kooperation und nicht den der Konfrontationgehen sollten . Insofern sollten wir auch sorgsam daraufachten, mit unserem eigenen parlamentarischen Gebarennicht etwa die nationalistischen Kräfte in der Türkei – siebefinden sich in vielen Fraktionen des Parlamentes –weiter zu stärken; denn sie würden sich im Zweifelsfallhinter Erdogan scharen . Das würde dann wahrscheinlichzu einer weiteren Verfassungsänderung, die das Präsidi-alsystem stärken könnte, führen . Das ist bestimmt keinkluger und richtiger Weg . Insofern würde ich mir wün-schen, dass wir alle bereit sind, mäßigend und im gutenSinne vermittelnd an der Kooperation mit der Türkei zuarbeiten . Ich hoffe, dass wir diesbezüglich unsere gutenKontakte ins türkische Parlament nutzen .Danke schön .
Vielen Dank . – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde
ist der Kollege Dr . Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Inzwischen beschäftigen uns die beiden Oppositions-fraktionen in diesem Hause abwechselnd fast im Wo-chenrhythmus mit Aktuellen Stunden zur Türkei . Es istüberhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn wir unsintensiv mit der Türkei befassen, ganz im Gegenteil . DieTürkei ist ein vielfältiges und spannendes Land . Sie istund bleibt für uns ein wichtiger Partner, nicht zuletzt auf-grund ihrer geostrategischen Lage . Angesichts von mehrals 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in un-serem Land zu Hause sind, ist die Türkei auch immer einwichtiger Teil deutscher Innenpolitik .Bei aller berechtigten kritischen Auseinandersetzungmit aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkeisollten wir dies stets mit der notwendigen Ernsthaftig-keit tun, jedenfalls nicht um der vordergründigen Effekt-hascherei willen oder gar zur Bedienung antitürkischerRessentiments .Ich will deshalb in Erinnerung rufen, worum es in demgemeinsamen EU-Türkei-Aktionsplan im Kern geht . DieTürkei hat seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges fast3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen . Über 1 MillionMenschen haben sich im vergangenen Jahr auf den ge-fährlichen Weg in die Mitte Europas gemacht . MeineDamen und Herren, es ist keine faire und humanitäreLösung, dass Menschen ihr Leben und das Leben ihrerKinder riskieren, sich Schleppern und Schiebern anver-trauen, um in unsicheren Booten die Ägäis zu überque-ren und sich auf den langen und beschwerlichen Weg derBalkanroute zu machen . Dieser Zustand muss beendetwerden, vor allem aus humanitären Gründen . Deshalbstehen von Anfang an drei Ziele gleichwertig im Mittel-punkt des gemeinsamen Aktionsplans, nämlich die Si-cherung der Außengrenze der EU, die Verbesserung derLebenssituation der Flüchtlinge in der Türkei und die Er-öffnung legaler Zugangsmöglichkeiten in die EU durchentsprechende Kontingente .Das Abkommen zwischen der EU und der Türkeiwirkt . Seit dem Stichtag am 20 . März ist die Zahl derFlüchtlinge, die auf den griechischen Inseln ankommen,stark gesunken . Im Januar und Februar waren es jedenTag 2 000, im April nur noch 115 Personen, im laufendenMonat waren es bisher 60 . Viel wichtiger ist: Währendim Januar noch 272 Menschen in der Ägäis ertranken,waren es im April noch 10 . Jedes verlorene Menschenle-ben ist immer noch eines zu viel . Aber ich frage schon inaller Deutlichkeit: Wie viel Zynismus und Menschenver-achtung muss man eigentlich mitbringen, um angesichtsder Rettung von Hunderten Menschenleben hier fortdau-ernd von einem „schmutzigen“ Deal zu reden?
Liebe Kollegen, die Visumspflicht für türkischeStaatsbürger wurde erst 1980, zu Zeiten der Militärre-gierung, wieder eingeführt . Bereits seit 2013 wird erneutüber eine Visaliberalisierung für die Türkei verhandelt .Reisefreiheit ist ein wichtiges Instrument zur Förderungdes zwischengesellschaftlichen Dialogs und zur Stär-kung der Zivilgesellschaft in dem betroffenen Land . Sieist auch keine Belohnung für den Präsidenten oder dieRegierung, sondern – Frau Kollegin Roth hat es vorhinangesprochen – eine wichtige Geste der Gegenseitigkeitund der Anerkennung für die Menschen in der Türkei .
Als Teil der EU-Türkei-Vereinbarung haben wir eineBeschleunigung des Verfahrens zur Visaliberalisierungverabredet. 65 der 72 von der EU definierten Vorausset-zungen wurden von der Türkei bereits vollständig umge-setzt; über biometrische Pässe ist schon gesprochen wor-den . Ich will noch auf einen Punkt hinweisen: Die Türkeigewährt zukünftig allen EU-Mitgliedstaaten Visumsfrei-heit; das betrifft auch Zypern . Das ist ein gewaltiger und,wie ich finde, viel zu wenig beachteter Fortschritt.Natürlich – Kollege von Marschall hat es angespro-chen – sind der aktuelle Wechsel im Amt des Minister-präsidenten und seine politischen Umstände alles andereals hilfreich . Ich rate uns allen in der momentanen Debat-te aber zu mehr Gelassenheit . Wir sollten nicht auf jedeMatern von Marschall
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rhetorische Provokation aus Ankara geradezu reflexartigreagieren .Einer der letzten politisch strittigen Punkte ist – nebendem Datenschutz – die Anpassung der sogenannten Anti-terrorgesetze der Türkei an europäische Standards . Insbe-sondere geht es hier um eine klarere Eingrenzung der De-finition des Begriffes „Terrorismus“. Man kann, wie derfrühere schwedische Außenminister Carl Bildt, durchausfragen, ob die Agenda zur Visaliberalisierung damit nichtüberfrachtet ist und ob diese wichtige Frage nicht besserals Teil des Beitrittsprozesses behandelt werden sollte .Denn im Zuge der vereinbarten Öffnung der Kapitel 23und 24 – das sollten wir nicht vergessen – werden dieseund andere Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtenund Sicherheit eine ganz zentrale Rolle spielen . Hier kannund wird die EU die Türkei umfassend fordern .In der Sache selbst sollten wir als Europäer weiter-hin klar und eindeutig Position beziehen . Wir solltenuns aber hier wie dort nicht von denen leiten lassen, diediese Fragen nur kurzfristig instrumentalisieren wollen,um den Prozess der Visaliberalisierung zu hintertreibenoder gar eine erneute Zuspitzung der Flüchtlingskrise inDeutschland herbeizuführen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Die Aktuelle Stunde ist beendet .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Weiterentwicklung des Behinderten-gleichstellungsrechtsDrucksache 18/7824Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/8428b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten KatrinWerner, Sigrid Hupach, Matthias W . Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEEine halb barrierefreie Gesellschaft reichtnicht aus – Privatwirtschaft zu Barriere-freiheit verpflichten– zu dem Antrag der Abgeordneten CorinnaRüffer, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBehindertengleichstellungsrecht mutig wei-terentwickelnDrucksachen 18/7874, 18/7877, 18/8428Ich begrüße zu diesem Diskussionspunkt ausdrück-lich die Beauftragte der Bundesregierung für die Belangebehinderter Menschen, die dieser Diskussion hier folgenmöchte .
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen einÄnderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünensowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linkevor . Über den Änderungsantrag und über den Entschlie-ßungsantrag werden wir später namentlich abstimmen .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Bundes-ministerin Andrea Nahles .
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und So-ziales:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Inklusion ist nicht abstrakt; sie umfasst eineFülle von konkreten Schritten zur Verbesserung der Lagevon Menschen mit Behinderungen . Mit diesen Wortenkann man am besten beschreiben, worum es in dem Ge-setzentwurf, den wir heute vorlegen, geht . Wir wollen dieLage für Menschen mit Behinderungen Schritt für Schrittbarrierefreier gestalten und zu mehr Inklusion kommen .Dabei ist es wichtig, dass wir in Bewegung sind und dierichtige Richtung eingeschlagen wird . Ich bin froh, sagenzu können: Ja, mit diesem Gesetz gehen wir voran . – Eswird nicht das einzige Gesetz bleiben, das die Inklusionin diesem Land voranbringt, schon bald werden weitereSchritte folgen .Sicher, manchem geht es nicht schnell genug; dasmag sein . Aber wenn man sich einmal anschaut, was wirbereits geschafft haben, dann merkt man auch, dass dieregelmäßigen Reformschritte nach vorn dieses Land be-reits gewaltig verändert haben . Ich gebe dazu ein kon-kretes Beispiel: Am Rande der Trauerfeier anlässlich desTodes von Hans-Dietrich Genscher war ich im Haus derGeschichte in Bonn . Ich kann mich gut daran erinnern,wie Museen früher aussahen: Es gab Treppen und jedeMenge Barrieren . Hier ist alles mit Rollstühlen erreich-bar, es gibt Fahrstühle und barrierefreie Toiletten . Bei derAusstellung wurde auch an Menschen mit Behinderunggedacht . Für Blinde gab es zum Ertasten von ObjektenHandschuhe, die man sich ausleihen konnte .Auch sonst: Kinder mit und ohne Behinderung besu-chen dieselbe Kita und Schule . Nicht überall läuft dasreibungslos, aber das ist mittlerweile das unbestritteneZiel . Sie treffen sich in Vereinen . Es gibt viele Broschü-ren in leichter Sprache, Gebärdendolmetscher bei Ver-anstaltungen und die nötige Assistenz im Job . Das allesleider noch nicht überall – aber es ist viel selbstverständ-Dr. Andreas Nick
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licher geworden, und es ist unser Ziel, das alles überallanbieten zu können .
Ich sage dies deshalb, weil wir viel bewegt haben inden letzten Jahrzehnten . Trotzdem muss man sich klar-machen: Inklusion ist ein Prozess . Wir müssen dranblei-ben und immer wieder fragen: Wo kann, wo muss esweitergehen? Seit der UN-Behindertenrechtskonventionbetrifft dies alle Lebensfelder und alle politischen Berei-che . In der Tat wurde hier vorher zu eng gedacht . Wirgehen mit dem Nationalen Aktionsplan, der jetzt in derRessortabstimmung ist, den nächsten Schritt, und mitdem Teilhabegesetz gehen wir einen weiteren .Auch das Behindertengleichstellungsgesetz, dasBGG, das wir heute beraten, symbolisiert einen echtenFortschritt . Seit 2002 regeln wir über das BGG die Barri-erefreiheit in den Bereichen Bau, Verkehr und Infrastruk-tur bringen die Verwendung der Gebärdensprache undder leichten Sprache voran . Auch hier geht es ganz kon-kret weiter . Mit der vorliegenden BGG-Änderung wollenwir immer noch bestehende bauliche Barrieren in allenBundesgebäuden endlich abbauen .
Das gilt auch für Barrieren innerhalb der Verwaltung .Mir selbst ist die Dimension erst in vielen Gesprächenklar geworden, nämlich dass interne Verwaltungsabläufe,zum Beispiel die Bearbeitung von elektronischen Akten,barrierefrei gestaltet werden müssen, damit wirklich alledaran mitarbeiten können . Dies ist Bestandteil dieserBGG-Novelle .Eine weitere wichtige Neuerung ist eine Schlichtungs-stelle bei der Behindertenbeauftragten Verena Bentele .Diese Schlichtungsstelle soll künftig bei Problemenrasch pragmatische Lösungen finden, wenn zum Beispieleine Gebärdendolmetscherin oder eine Rampe abgelehntwerden . Es ist auch ein Schritt in die richtige Richtung,wenn wir Verbände von Menschen mit Behinderung stär-ker fördern: 2016 mit einer halben Millionen Euro, da-nach mit 1 Million Euro jedes Jahr .Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2016 wird ein Jahrwesentlicher und wichtiger Fortschritte auf dem Weg zurInklusion: Weniger behindern, mehr möglich machen –das ist das Ziel .
Weil das so ist, ärgert mich die Fundamentalkritik nachdem Motto: Weil wir nicht alles erreicht haben, ist allesMist .
Was das vorliegende Gesetz angeht, sage ich ganz offen:Ja, auch mir fehlt im BGG der private Sektor . Den hätteich gern mit in das Gesetz einbezogen . Das ist nicht ge-lungen .
Aber es wird beim nächsten Mal gelingen .
Jetzt setze ich darauf, dass das neue BGG die priva-te Wirtschaft zum Mitmachen und Nachahmen anregt .Hier sind die Bundesbehörden Vorbild . Darum dürfenwir nicht gering schätzen, was wir jetzt hier erreichen .Von der Arbeitsagentur bis zum Zoll gibt es eine großeAnzahl an Bundesbehörden, die ab jetzt mit gutem Bei-spiel vorangehen werden und Vorbilder und Treiber sind .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn zum Beispiel dieBA bei der Barrierefreiheit vorangeht, dann kann ich mirkaum vorstellen, dass die kommunalen Jobcenter nichtfolgen werden .
Die Ressortabstimmung, die wir hatten, war geradedeswegen so schwierig und langwierig, weil so vieleBehörden betroffen waren und weil wir diese baulichenVerbesserungen nicht nur für Neubauten, sondern auchfür den Bestand erreichen konnten . Ich möchte allen Kol-leginnen und Kollegen hier im Haus danken, die sich inden letzten Wochen und Monaten engagiert und einge-setzt haben . Im Verfahren hier im Parlament ist es unsgelungen, wichtige Klarstellungen und Verbesserungenzu erreichen, die über den Gesetzentwurf hinausgehen .
Heute kann ich also sagen: Ich bin mit dem zufrieden,was erreicht worden ist – nicht, weil wir alle Wünscheund Erwartungen schon maximal umgesetzt haben, aberdeswegen, weil es voran geht . Das ist aber nun einmalein Stück weit Demokratie; das sage ich hier an dieserStelle auch .Das ist für mich aber kein Grund zum Ausruhen; esist keine Zeit für eine Pause . Das kommt nicht infrage .Wir müssen dranbleiben und den Prozess der Inklusionvorantreiben . Das Jahr 2016 wird uns ein gutes Stückweiterbringen – im Privaten, im Alltag und bei der Ar-beit . Deshalb möchte ich Sie bitten, der Novellierung desBehindertengleichstellungsgesetzes heute hier in diesemHause zuzustimmen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächste spricht die Kollegin
Katrin Werner, Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Eigentlich müssten wir diese Debatte nachdraußen verlegen . Gestern haben sich Aktivisten ausProtest gegen den hier vorgelegten Gesetzentwurf amReichstagsufer angekettet . Sie haben die ganze Nachtdort verbracht und protestieren mittlerweile seit über30 Stunden ohne Schlaf .Bundesministerin Andrea Nahles
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616750
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Da wir aber nicht nach draußen gehen können, möchteich jetzt stellvertretend zwei Vertreterinnen auf der Besu-chertribüne begrüßen, nämlich Nadine und Carola . Einevon ihnen ist Rollstuhlfahrerin, die andere ist eine gehör-lose Frau, die die Debatte leider nicht verfolgen kann,weil es an einer Gebärdendolmetschung fehlt .
– Gut, dann ist sie da . – Um kurz darauf einzugehen: Esgab – –
Wir werden immer barrierefreier, Frau Kollegin
Werner – Schritt für Schritt .
Frau Präsidentin, ich wollte mich gerade korrigierenund brauchte deshalb diesen Hinweis nicht . Ich habe siejetzt gesehen, weiß aber, dass der Vorsitzende des Allge-meinen Behindertenverbandes schon Anfragen gestellt,bis heute aber keine Antwort bekommen hat . Ihm wurdenicht mitgeteilt, dass dort oben eine Gebärdendolmet-schung stattfindet. Diesen Vorwurf nehme ich jetzt alsozurück . Ich gestehe ja auch ein, dass Sie in Ihrem Gesetz-entwurf ein paar gute Dinge geregelt haben, aber 90 Pro-zent regeln Sie eben nicht .
Ich möchte gleichzeitig die Aktivisten vor Ort grüßen,die die Debatte hier jetzt per Live-Übertragung mitver-folgen .
Sehr geehrte Damen und Herren, die Menschen sindwütend, und ich finde, aus gutem Grund. Vor gut einerWoche, am 4 . Mai 2016, sind in Berlin Tausende Men-schen auf die Straße gegangen und haben gegen Ausgren-zung und Diskriminierung demonstriert . Im Anschlussdaran haben sie das Bundesministerium für Arbeit undSoziales blockiert . Einer der Gründe für ihre Entrüstungund ihre Wut ist die Novellierung des Behindertengleich-stellungsgesetzes, über die wir gerade diskutieren undnachher abstimmen werden . Menschen mit Behinderun-gen werden durch den vorliegenden Gesetzentwurf wei-ter diskriminiert . Er geht – sorry, Frau Nahles – vollkom-men an der Lebensrealität der Menschen vorbei .
Ganz ehrlich: Ich wollte es nicht ansprechen, aber alsich Sie vorhin gehört habe, musste ich mich an Septem-ber 2013 erinnern . Damals waren Sie in der Opposition .Ich habe meiner Tochter das Lied nicht vorgesungen; da-her werde ich es jetzt auch nicht vorsingen . Sie habender Regierung damals nach einer längeren Passage desSelbstlobes gesagt, wir müssten den Menschen mehr hel-fen, und Sie haben ihr singenderweise vorgeworfen – Zi-tat aus Pippi Langstrumpf –, sie mache sich die Welt, wiesie ihr gefällt . Genau so kommt es mir hier teilweise auchwieder vor . Sie halten einfach schöne Sonntagsreden,aber die Verbesserungen durch diesen Gesetzentwurfbetreffen nur ungefähr 10 Prozent der Lebensrealität derMenschen, weil sich das Leben der Menschen nun ein-mal nicht in den Bundesbehörden und den Bundesämternabspielt,
sondern in den Arztpraxen, in den Läden, in den Thea-tern, in den Kinos und in ihren Wohnungen . Genau dieBarrierefreiheit dort regeln Sie nicht . Ganz ehrlich: Dasist ein Skandal .
Frau Nahles und Frau Lösekrug-Möller, beantwortenSie mir die Frage, warum Sie die Abstimmung darüberauf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben . Warumkönnen Sie das nicht heute und hier regeln? Wenn Siedie Barrierefreiheit in dieser Art nicht umsetzen können:Viele Selbstvertretungsorganisationen haben Ihnen Vor-schläge gemacht, darunter einen Schritt, der nicht Milli-onen kostet, nämlich ganz einfach: angemessene Vorkeh-rungen . Um angemessene Vorkehrungen geht es in demAntrag der Linken und auch in dem Antrag der Grünen .Gehen Sie doch diesen Schritt und stimmen Sie mit Ja .
Für diejenigen, die es nicht wissen: Der Begriff „an-gemessene Vorkehrung“ hört sich zwar sehr juristischan, aber es sind ganz einfach Maßnahmen, die geeignetund erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderunggleichberechtigt mit allen anderen Menschen am Lebenteilhaben und ihre Grundfreiheiten und Menschenrechtewahrnehmen können . Für diejenigen, die Angst haben,dass diese Maßnahmen teuer sein könnten, sage ich: Beiden angemessenen Vorkehrungen wird vorgeschrieben,dass Maßnahmen keine unverhältnismäßige oder unan-gemessene Belastung darstellen dürfen, also keine Milli-ardenbeträge kosten dürfen .Vielleicht ein einfaches Beispiel: eine Einkaufsstraßemit mehreren Läden mit Stufen . Wenn die Einzelhändlersich zusammenschließen und darauf verständigen wür-den, eine mobile Rampe oder Schiene zu kaufen –
– das können Sie auch so nennen –, dann könnten Roll-stuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer diese Läden errei-chen . Das betrifft ja nicht nur die Rollstuhlfahrerinnenund Rollstuhlfahrer . Das betrifft ältere Menschen mitRollator . Das betrifft die Mutter oder den Vater mit demKinderwagen . Wenn sich die Einzelhändler zusammen-Katrin Werner
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schließen, dann kostet die Anschaffung keine Tausendevon Euro . Kleine Empfehlung: Bei Google kann man diePreise finden.Wenn man das so machen kann, dann nehmen Sie die-se Regelung doch verpflichtend auf.
Ganz ehrlich, Herr Schummer: An die Kraft der Über-zeugung können Sie 14 Jahre nach Inkrafttreten des Be-hindertengleichstellungsgesetzes und 7 Jahre nach derUnterschrift unter die UN-Behindertenrechtskonventiondoch nicht allen Ernstes glauben . Das macht keiner frei-willig. Machen Sie es daher verpflichtend.Eine Bitte an die folgenden Rednerinnen und Red-ner – ich weiß, meine Zeit ist abgelaufen –:
Vielleicht gehen Sie in den nachfolgenden Reden nichtnur auf die 10 Prozent an schönen Dingen in Ihrem Ge-setzentwurf ein, sondern erklären den Menschen, warumSie nicht bereit sind, diesen kleinen Schritt zu gehen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächster erhält der Kollege Uwe
Schummer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Es ist deshalb so wichtig, auf die positiven Wirkungen
der jetzigen Novellierung zu verweisen, weil eben viele
Menschen auch sagen: Nein, das wollen wir nicht . – Das
könnte dazu führen, dass das, was zum Besseren verän-
dert werden könnte, nicht gemacht wird .
Wir sind dafür da, Bewegung zu erzeugen . Dass wir
aber die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
nicht alleine mit Rampen lösen werden, ist offenkundig .
Dass man eine Gesinnungs- und Zuständereform mitei-
nander verbinden muss, dass man dafür die Vorausset-
zungen und Kompetenzen zu schaffen hat, ist klar und
findet sich in dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung
des Behindertengleichstellungsrechts wieder .
Allein schon die neue Definition auf der Grundlage
der UN-Behindertenrechtskonvention, nämlich Behin-
derung als langfristige Beeinträchtigung zu sehen, die
in Wechselwirkung mit Barrieren in den Köpfen und in
der Umwelt Menschen an der gleichberechtigten gesell-
schaftlichen Teilhabe hindert, hat eine Strahlkraft, die
über das jetzige Gesetz hinausgeht .
Gestern waren Vertreter des Gehörlosenbundes bei
mir . Sie haben mit mir über viele Themen gesprochen,
auch über Gebärdensprache . Sie waren sich bewusst –
das wissen sie und haben mir das auch gesagt –, dass
das, was wir miteinander auf der Bundesebene verein-
baren, auf die Länderebene, beispielsweise in Berlin,
Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz, übertragen
werden muss . An dieser Stelle müssen Sie sich von der
Linkspartei mit dem Föderalismus arrangieren . Wir ha-
ben eben keine zentralistische Republik mit einer Steue-
rung aus Berlin, sondern wir sind föderal aufgebaut: über
die kommunale, die Landes- und Bundesebene sowie
auch die private Ebene .
Wenn wir diese miteinander verzahnen, dann haben wir
die Wechselwirkung, die Gesinnungs- und Zuständere-
form, die wir miteinander wollen und erreichen werden .
Das ist eben nicht allein ein Thema des Bundes, son-
dern auch ein Thema der Bundesländer, der Kommunen
und der Privaten . Wichtig ist aber, dass wir eines nicht
tun, Kollegin Werner, nämlich die Bundesbehörden ab-
zuwerten und so zu tun, als seien sie nicht wichtig .
Ist die Agentur für Arbeit für Arbeitsuchende nicht wich-
tig? Ist die Krankenkasse für jemanden, der Gesundheits-
versorgung sucht, nicht wichtig?
Ist die Bundespolizei mit ihren Einrichtungen nicht wich-
tig? Ist die Rentenversicherung mit der Alterssicherung
für die Menschen nicht wichtig?
Es sind also wichtige Schritte, die jetzt in den Bundes-
behörden gegangen werden, damit Barrierefreiheit in der
Kommunikation und auch baulich erreicht werden kann .
Herr Kollege .
Damit macht der Bund genau das, was in der moder-nen Pädagogik richtig ist . Uns geht es nicht um die Kraftdes Zwangs oder der Peitsche bzw . um Gebote und Ver-bote, sondern wir wollen überzeugen . Aber wir könnenauch von den Privaten erst dann etwas verlangen, wennder Bund mit seinen Einrichtungen vorangeht .Katrin Werner
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Jetzt müssten Sie eine kleine Pause machen, Herr Kol-
lege Schummer . Ich muss Sie nämlich fragen, ob Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Birkwald zulassen, bevor es
um eine ganz andere Thematik geht .
Und nichts ist überzeugender als das gute Vorbild des
Bundes . – Aber ich höre gerne Ihre Zwischenfrage .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . Vielen Dank, Herr
Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . – Herr
Kollege Schummer, Sie waren gestern Abend, wie ich se-
hen konnte – Sie saßen zwei Reihen vor mir –, beim Jah-
resempfang der Bundesbeauftragten für die Belange be-
hinderter Menschen, Frau Bentele . Dort haben Sie auch
die Rede von Ulrike Mascher gehört . Ulrike Mascher ist
Sprecherratsvorsitzende des Deutschen Behindertenrates
und Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland .
Sie hat sieben Punkte genannt, in denen der VdK und der
Behindertenrat mit dem Behindertengleichstellungsge-
setz überhaupt nicht einverstanden sind .
– Nein, es ging um die Inhalte .
Ich zitiere jetzt wörtlich, Frau Kollegin Griese, damit
Sie nicht fälschlicherweise behaupten, es gehe um etwas
anderes:
Es ist zwar richtig, dass der Bund seine eigenen In-
stitutionen und die Sozialleistungsträger zur Barri-
erefreiheit verpflichtet, aber die Menschen nutzen
nun einmal im Alltag private Geschäfte, Gaststätten,
Kinos und Arztpraxen viel häufiger als Bundesmi-
nisterien und -behörden .
Ich glaube, Frau Mascher hat recht . Die meisten Men-
schen gehen im Alltag viel häufiger in Restaurants oder
zur Arbeitsstätte statt zur Rentenversicherung, zur Agen-
tur für Arbeit etc . etc . Verbesserungen auf Behörden-
ebene können ein Anfang sein . Sie tun aber so, als ob das
die Lösung wäre . Das ist es aber nicht . Deswegen fordern
wir Sie auf: Tun Sie etwas für alle 7,5 Millionen Men-
schen mit schweren Behinderungen mit Blick auf ihren
Alltag und nicht nur mit Blick auf die Bundesbehörden!
Danke schön .
Ich möchte zum Kern Ihrer Frage zurückkehren . Ichhabe natürlich die Rede und die sieben Punkte sehr auf-merksam verfolgt . Diese sieben Punkte betrafen erstensdie Inklusion und zweitens das Bundesteilhabegesetz .Das Bundesteilhabegesetz werden wir im zweiten Halb-jahr im Plenum beraten . Dazu hat sich die Behinderten-beauftragte geäußert . Das können Sie gerne nachlesen .
Wichtig ist, dass die Kompetenzen für Barrierefrei-heit gestärkt werden und dass das Behindertengleichstel-lungsgesetz kein Inselgesetz ist . Wie Frau Bundesminis-terin eben dargestellt hat, haben wir bereits Vorleistungenerbracht, beispielsweise die Sonderförderung für Inte-grationsunternehmen . Wir haben beispielsweise füraltersgerechtes und behindertengerechtes Bauen auchKfW-Programme mit einem Volumen von weit über1 Milliarde Euro aufgelegt, um Barrierefreiheit finanziellzu unterstützen .Wir haben barrierefreie Innenstädte . Für die Städte-bauförderung werden jedes Jahr 700 Millionen Euromobilisiert . Wir haben das Konjunkturprogramm fürKommunen mit 3,5 Milliarden Euro aufgelegt, mit denenBarrierefreiheit finanziert werden kann.Wichtig ist aber, dass wir auch die Kompetenzen inBezug auf die Barrierefreiheit stärken . Wir haben – auchdas ist wichtig – eine Berichterstattung über die Bun-deseinrichtungen zur Barrierefreiheit auch in der Kom-munikation miteinander vereinbart und entsprechendeZielvereinbarungen getroffen . Dies werden wir auch vonden Privaten erwarten und fordern, wenn der Bund seineHausaufgaben erledigt hat .Es hat sich gezeigt, dass Zielvereinbarungen wirken .Ich habe Medienanstalten des öffentlich-rechtlichenRundfunks angeschrieben, mit denen 2011eine Zielver-einbarung mit den Behindertenverbänden zur kommuni-kativen Barrierefreiheit getroffen worden ist . Mir wurdemitgeteilt, dass aufgrund dieser Zielvereinbarung mittler-weile bei der ARD 95 Prozent und beim ZDF 71 Prozentder Sendungen entsprechend untertitelt sind und dass esauch eine akustische Bildbeschreibung gibt, und zwar je-weils bei 42 bzw . 44 Prozent der Sendungen .Aber es ist ein Fehler – deshalb habe ich heute dasBundestagspräsidium angeschrieben –, dass das Bun-destagsfernsehen nicht barrierefrei sendet . Wir braucheneine generelle Regelung, die vorsieht, dass auch Debat-ten nach der Kernzeit um 13 Uhr barrierefrei zu über-tragen sind . Das erwarte ich vom Deutschen Bundestag .Nichts ist überzeugender als das gute Beispiel .
Wir müssen eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheiteinrichten, damit sich Kommunen und Private informie-ren können, wenn sie ihre Zuwege barrierefrei ausbauenwollen . Diese Kompetenzstelle, die wir nun schaffen,wird es ermöglichen, europäische Konzepte und Modellezu transportieren, aufgrund derer wir unsere Kommunenund Privatunternehmen beraten können . Wir wollen miteinem weiteren Gesetz die Schwerbehindertenvertretun-gen im innerbetrieblichen und privaten Raum stärken .Sie sollen mehr Zeit und Freistellungen bekommen, da-mit sie die Barrierefreiheit in Unternehmen organisierenkönnen . Die arbeitsteilige Organisation der Unternehmenist ein weiterer Aspekt, den wir vorantreiben werden .
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Angesichts der Tatsache, dass 80 000 Menschen aufGebärdensprache angewiesen sind und dass es nur rund700 Gebärdendolmetscher gibt, brauchen wir die Zusam-menarbeit mit den Ländern . Beispielsweise muss Gebär-densprache als freiwilliges Wahlfach an Schulen, Hoch-schulen und Volkshochschulen angeboten werden, damitdas Interesse an dieser Grundsprache zunimmt .Aber nicht nur an den Schulen, sondern auch in denBetrieben müssen wir Kompetenzstellen schaffen . Wirwollen zudem komplizierte Bescheide der Bundesbehör-den in leichter Sprache erläutern . Das ist ein wichtigerAnsatz, und zwar nicht nur für lernbehinderte Menschenund Menschen mit seelischer und psychischer Beein-trächtigung . Vielmehr geht es in der Perspektive darum,die Behörden so kompetent zu machen, dass sie für alleBürger, die eine Anfrage haben, da sein können . Wir dür-fen nicht vergessen, dass es in Deutschland auch 7,5 Mil-lionen strukturelle Analphabeten gibt, die jahrzehntelan-ge nicht gelesen haben und für die Bescheide in leichterSprache hilfreich sind . Aber die entsprechende Kompe-tenz muss erst aufgebaut werden .Ich selber bin Landesvorsitzender der Lebenshilfe inNordrhein-Westfalen . Wir erhalten regelmäßig Anfra-gen, ob wir mit unserem Potenzial die leichte Spracheauf Kreisebene und kommunaler Ebene stärker unterstüt-zen können . Wir haben aber die entsprechenden Kom-petenzzentren nicht . Wir müssen sie erst schaffen . Wennwir sie aufgebaut haben, dann muss der nächste Schrittsein, die entsprechenden Kompetenzen verstärkt in denprivaten und den wirtschaftlichen Raum zu transportie-ren . Aber wir müssen die Kompetenzen mit der heutigenVerabschiedung des Gesetzentwurfs erst aufbauen, umden nächsten Schritt gehen zu können .Das Merkzeichen für Taubblinde, das endlich zwi-schen Bund und Ländern vereinbart wurde, ist ebenfallsein wichtiger Punkt, den wir nun umsetzen werden .Wir setzen Anreize durch Gelder und eine verbesserteKompetenz in der Barrierefreiheit . Wer das alles ablehnt,lehnt Verbesserungen für die betroffenen Menschen ab .Deshalb plädiere ich dafür, diesen Verbesserungen zuzu-stimmen und den nächsten Schritt zu gehen .
Bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventi-on kann man nicht einfach einen Kippschalter umlegen,und dann ist alles schön . Vielmehr handelt es sich umeinen Prozess, der zwar Jahre dauert, aber in die richtigeRichtung geht .
Vielen Dank . – Herr Kollege Schummer, das Präsidi-
um des Bundestages hat selbstverständlich entschieden,
dass wir generell barrierefrei werden . Wir haben schon
begonnen . Aber bei dem, was Sie angesprochen haben,
gibt es nach den europäischen Richtlinien ein großes
Ausschreibungsverfahren . So lange wollten wir aber
nicht warten . Wir wollten die Menschen zumindest in
einem kleinen Bereich, also während der Hauptdebatten-
zeiten, teilhaben lassen .
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist die Kollegin Corinna Rüffer .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Herr Schummer, Sie sa-gen immer so viele richtige und wichtige Sachen .
Aber ich frage mich, warum Sie es nicht tun . Sie habenhier im Bundestag rund 80 Prozent der Mandate hintersich . Dann machen Sie doch etwas, damit wir sehen, dassSie nicht nur Sonntagsreden halten, sondern Ihren Wor-ten auch Taten folgen lassen .
Seit einer Woche protestieren Menschen mit Behinde-rung zu Tausenden überall in Berlin: vor dem Kanzler-amt, vor dem Brandenburger Tor, vor dem Ministeriumfür Arbeit und Soziales sowie vor den Parteizentralen derUnion und der SPD .Seit gestern verharren ganz viele Menschen teilwei-se angekettet draußen vor den Grundgesetztafeln amReichstagsufer . Dazu kann man sagen, dass dieser Ortnicht zufällig ausgewählt wurde; vielmehr hat dieser OrtSymbolkraft . Vor 22 Jahren wurde der Satz „Niemanddarf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden .“in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen . Die Auf-nahme des Benachteiligungsverbotes musste damals harterstritten werden und gilt bis heute als größter Erfolg derdeutschen Behindertenbewegung . Das war wirklich eingroßer Erfolg .
Gestern hörte ich von Sigmar Gabriel beim Jahres-empfang von Verena Bentele folgende Worte . Sinngemäßsagte er zu Menschen mit Behinderung: Willkommen inder Realität . Ihr seid jetzt genauso im Verteilungskampfwie alle anderen . – Herzlichen Glückwunsch, wenn dasals Erfolg bezeichnet wird . Herr Gabriel macht einesdeutlich: Er macht deutlich, dass er leider keine Ahnungvom Thema hat; denn Menschen mit Behinderung habennoch nie irgendetwas in diesem Land geschenkt bekom-men, sondern sie haben sich alle Rechte, die sie heutehaben, hart erstritten, in harten Auseinandersetzungenerrungen .
Das hat sich leider auch nach der Ratifizierung derUN-Behindertenrechtskonvention – 2009 war das; seit-dem ist das auch geltendes Recht in Deutschland – über-haupt nicht verändert . Das BGG, das Sie, die Große Ko-alition, heute verabschieden wollen,
Uwe Schummer
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gilt unter Menschen mit Behinderung als Lackmustestfür ein noch größeres und vielleicht wichtigeres Vorha-ben, nämlich das Bundesteilhabegesetz .Das Versprechen steht nach wie vor im Raum, dass diesogenannte Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystemherausgelöst und in ein echtes, modernes Teilhaberechttransformiert werden soll . Der Referentenentwurf liegtmittlerweile vor, aber wir vermuten leider alle nichts Gu-tes. Wir werden in den nächsten Monaten noch häufigerdarauf zu sprechen kommen .
Als das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Men-schen im Jahr 2002 geschaffen wurde, setzte es Maßstäbebei der Umsetzung des Benachteiligungsverbots im öf-fentlich-rechtlichen Bereich . Viele Gebäude staatlicherEinrichtungen sind in den letzten Jahren barrierefreigebaut oder umgebaut worden . Die Bundesministerienund Behörden bemühen sich auch um Barrierefreiheit ih-rer Internetseiten . Das gilt auch für die Internetseite desBundestages . Die deutsche Gebärdensprache wird nachihrer staatlichen Anerkennung endlich zunehmend alsselbstverständliche Form der Kommunikation wahrge-nommen . Ich wollte das noch einmal deutlich machen .Aber wir haben jetzt 14 Jahre später . Sie hätten jetztdie Möglichkeit, einen neuen Meilenstein zu setzen, undSie müssten das auch tun . Stattdessen legen Sie ein Ge-setz vor, das absolut mutlos ist und von den Fachverbän-den – ich wiederhole das – wie folgt beurteilt wird . Siestellen fest – ich zitiere –:… dass durch den Einbau vieler Finanzierungsvor-behalte und unbestimmter Rechtsbegriffe, Soll-Vor-schriften und Einschränkungen das Gesetz eher eineAbsichtserklärung geworden ist als ein Gesetz, dasaus Sicht der Menschen mit Behinderung konkreteAnsprüche samt Rechtsfolgen schafft .Das ist peinlich . Daran ändern übrigens auch die Klei-nigkeiten nichts, die Sie uns seit unserem letzten Zusam-mentreffen hier vorgelegt haben . Schon die Mutlosigkeitim Bereich der öffentlichen Gewalt ist ziemlich ärger-lich, muss man sagen . Aber das größere Ärgernis, dasHauptärgernis, der Elefant im Raum, der dicke Hund,besteht weiterhin darin, dass Sie sich scheuen, die Privat-wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Barrierefreiheit istdoch tatsächlich kein Thema, das ernsthaft auf Einrich-tungen des Bundes beschränkt werden darf .
Die Leute verbringen eben nicht den größten Teil ihresLebens auf den Homepages irgendeines Bundesministe-riums oder der Bundesagentur für Arbeit; sie wollen wiejeder andere auch ganz normale Dinge tun, die man haltso macht: von A nach B gelangen, ohne immer wieder vorkaputten Aufzügen in irgendwelchen U- oder S-Bahnhö-fen zu stehen, sie wollen online shoppen gehen, danachwollen sie ins Kino oder was auch immer . Warum solltedas hierzulande nicht möglich sein, was in den USA oderin Österreich schon lange gang und gäbe ist?
Das ist in den USA seit 1973 der Fall . Wenn man mitLeuten aus den USA spricht, dann lachen die sich tot . Wirsind so rückständig, Jahrzehnte hinterher .Dabei haben wir doch alle ein Interesse daran, dassdie Infrastruktur das Leben erleichtert für Alte, Gehör-lose, Kinderwagen Schiebende, Rolli Fahrende, schwereTüten Schleppende, Liebhaber leichter Sprache, FahrradFahrende und auch Blinde .In einer Gesellschaft, in der die Menschen immer älterwerden, wird das natürlich auch immer wichtiger . Wir,die Linke und auch wir Grüne, machen einen realistischenVorschlag, wie man zukünftig auch private Anbieter zumehr Barrierefreiheit verpflichten kann. Barrierefreiheitwürde sehr vielen Menschen mehr Teilhabe ermöglichen,und zugleich – auch das sollte man sagen – wollen wirnatürlich auch kleine und mittlere Unternehmen nicht un-ter Druck setzen; aber das ist auch problemlos möglich .
Frau Kollegin Rüffer, denken Sie an die Zeit .
Ich komme zum Schluss .
Bitte geben Sie sich alle zusammen einen Ruck, und
machen Sie diesen Tag zu einem historischen für sehr
viele Menschen . Überraschen Sie uns . Das wäre eine
gute Nachricht .
Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Tack,
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich finde, heute ist ein guter Tag für die Men-schen mit Behinderung, die genau von dem profitieren,was wir heute für den Bereich des öffentlichen Rechts,also den Bereich in Zuständigkeit der Bundesbehördenund der Landesbehörden, die Bundesgesetz umsetzen,verabschieden .
Mitnichten ist das etwas für 10 Prozent der Menschenmit Behinderung .
Corinna Rüffer
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(D)
Ich weiß nicht, auf welches schmale Brett Sie da gekom-men sind . Ein Blick ins Gesetz würde Ihnen zeigen, dasswir die angemessenen Vorkehrungen neu in das Behin-dertengleichstellungsgesetz aufgenommen haben unddamit die UN-Behindertenrechtskonvention in deutschesRecht umsetzen .
Natürlich trifft das für den Bereich zu, für den dieses Ge-setz gilt: für die Bundesbehörden und für die Landesbe-hörden, die Bundesgesetz umsetzen . Das ist auch selbst-verständlich .
Jetzt legen Sie hier einen Antrag vor, in dem gefor-dert wird: Jetzt, wo wir es mit diesem Gesetzesvorhabenzu tun haben, sollen auch in anderen Gesetzen Neurege-lungen getroffen werden . – Wir möchten das Behinder-tengleichstellungsgesetz verändern, und zwar deutlichvorteilhaft .Das, was wir in diesen Gesetzentwurf hineingeschrie-ben haben, ist ein echter Fortschritt . Dass beispielsweiseErläuterungen von Bescheiden endlich in leichter Spra-che verfasst werden und entsprechend zugänglich sind,ist ein Riesenschritt .
Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum man sa-gen kann: Wir lehnen einen Gesetzentwurf ab, in demsteht, dass leichte Sprache für alle zugänglich wird . – Ichweiß nicht, warum man das ablehnt . Ich weiß auch nicht,warum man sagt: Angemessene Vorkehrungen finden wirblöd; das lehnen wir ab .
– Nein, ihr lehnt das nicht ab, aber die anderen . Ihr sagt:Wir haben dazu gar keine Meinung . Wir enthalten uns . –Das ist ja auch eine tolle Meinung .
Mit der ebenfalls neu eingeführten Schlichtungsstelleschaffen wir es, dass diejenigen, die sich benachteiligtund diskriminiert fühlen, nicht sofort den Gang zum Ge-richt antreten müssen, was ja für viele eine echte Hürdeist . Vielmehr bauen wir Barrieren ab, indem wir sagen:Die Schlichtungsstelle ist ein echter Gewinn für jeden,der der Meinung ist, dass er in den Bundesbehörden nochstärkere Unterstützung braucht und dass er seine ver-brieften Rechte nicht hat durchsetzen können .
Das ist gut so, und das ist richtig so . Wir freuen uns,dass wir damit auch die Funktion der Beauftragten derBundesregierung für die Belange behinderter Menschenstärken können; denn wir finden das richtig und wichtig.
Schlussendlich werden wir auch mit der Frage derFörderung der Partizipation für die Selbsthilfeorganisa-tion – –
– „Partizipation“ ist leichte Sprache . „Partizipation“ istauch in Kreisen der leichten Sprache durchaus nachvoll-ziehbar .
– Genau . Die Beteiligung auch an politischen Prozessenwird für ganz viele ein echter Fortschritt sein, weil sieendlich auch finanziell unterstützt werden, auch in derWahrnehmung ihrer eigenen Interessen .Zu den Privaten will ich sagen – auch die SPD und dieMinisterin haben es gesagt –: Natürlich wollen wir nichtnur Appelle an die Privaten richten, sie mögen sich dochbitte schön endlich barrierefreier aufstellen . Natürlich istdas nicht unsere Position, und natürlich sind wir der Mei-nung, dass man nach sehr langer Zeit der Vorstellungen,der Eigenverpflichtungen auch stärkere Klarheiten brin-gen muss . Deswegen – das haben wir auch in jeder un-serer Stellungnahmen immer wieder gesagt – halten wirdas Instrument des AGGs, in das das soll – das ist ja auchForderung des Antrags, der heute vorliegt –, für hilfreichund finden es wichtig, dies im Rahmen der Novellierungdes AGGs mit in den Mittelpunkt zu stellen .
Aber wir sind heute nicht beim AGG . Das AGG ist inder Evaluation .
Wir werden im Sommer dazu die Evaluationsergebnis-se haben, und dann beginnt der Prozess . Dort gehört dashinein .
Ich will sehr deutlich sagen: Wir haben schon die Er-wartungshaltung, dass wir im Zusammenhang mit die-sem Gesetz auch mit dem Koalitionspartner über genaudiese Frage reden können . Denn wir glauben, dass wirüber einen Zeitplan reden müssen, wann wir auch in derWirtschaft über Barrierefreiheit verfügen . Da brauchenwir in Deutschland, denke ich, dringend eine Regelung,die das auch vorsieht . Da sind wir gern dabei, wenn wirüber das Gesetz reden, in das wir das gern hineinverhan-deln möchten .Kerstin Tack
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Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
Kollegin Kerstin Tack hat ja eine sehr kräftige Stimme .
Aber denken Sie alle einmal daran, wie es ist, wenn Sie
der letzte Redner oder die letzte Rednerin vor einer na-
mentlichen Abstimmung sind: Alle müssen sich bewe-
gen, weil sie ihre Stimmkarten holen müssen . Dann wird
es im Saal halt etwas laut . Bitte versuchen Sie, das so ge-
räuschlos wie möglich zu machen, sodass auch die Kolle-
gin Dr . Astrid Freudenstein von der CDU/CSU-Fraktion
jetzt noch Ihre volle Aufmerksamkeit genießen kann .
Danke schön .
Vielen Dank, Frau Präsidentin, für den freundlichen
Appell . – Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wissen
Sie, Frau Rüffer, Frau Werner, hier beharrlich so zu tun,
als würde sich der Deutsche Bundestag aufteilen in jene,
die etwas für Menschen mit Behinderung tun wollen, und
jene, die nichts für Menschen mit Behinderung tun wol-
len, ist nicht in Ordnung .
Wir alle, die wir hier sitzen, haben ein gemeinsames
Ziel,
nämlich, dass unsere Gesellschaft barrierefreier und ir-
gendwann vielleicht barrierefrei wird .
– Oh, das wirkt aber klasse .
– Eine Barriere für mich tatsächlich weniger, wenn es
hier ruhiger ist .
Die Weiterentwicklung des Behindertengleichstel-
lungsrechts, die wir heute verabschieden werden, ist ein
guter, ein großer und ein wichtiger Schritt vorwärts – das
haben auch meine Vorrednerinnen und Vorredner schon
beschrieben –, weil wir als Bund mit gutem Beispiel vo-
rangehen . Das hat auch die Anhörung so gezeigt .
Wir wissen auch, dass viele Fachverbände noch nicht
ganz zufrieden sind . Die Forderungen, die manche von
ihnen aufstellen, sind Barrierefreiheit für alle, Barriere-
freiheit sofort und Barrierefreiheit für jeden . Wenn sie
dazu eine Umfrage starten würden, dann hätten sie ver-
mutlich eine Zustimmung von 90 Prozent .
Ich sage Ihnen aber auch, dass vermutlich 90 Pro-
zent nicht genau wüssten, was Barrierefreiheit so richtig
bedeutet . Es bedeutet nämlich eben nicht nur, dass ich
ebenerdig in ein Gebäude komme, es bedeutet auch, dass
sich sehbehinderte, gehörlose, geistig und seelisch be-
hinderte Menschen sämtliche Anlagen, Verkehrsmittel,
Medien ohne fremde Hilfe erschließen können . Das Ideal
der Barrierefreiheit ist ausgesprochen weitreichend .
So ist es denn auch kein Wunder, dass es in Bayern
gerade einmal zwei Arztpraxen gibt, die als barrierefrei
gelten . Das kann man kaum glauben, aber es stimmt .
Denn in einer völlig barrierefreien Arztpraxis würden
schon die Arzthelferinnen und nicht nur der Arzt die
leichte Sprache beherrschen, da würde die Klingel an der
Eingangstür sprechen können, es würde auf die Befind-
lichkeit psychisch Behinderter schon bei der Begrüßung
Rücksicht genommen werden, es würde die Umgebung
in kontrastreichen Farben gestaltet sein, und es würde
Hebevorrichtungen geben, damit der körperlich Behin-
derte auf die Liege kommt und wieder zurück . Das wäre
barrierefrei .
Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Kurth?
Ja, bitte .
Danke, Frau Präsidentin, und vor allem FrauFreudenstein, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . – Siehaben gerade eindrucksvoll geschildert, dass in Bayernnur zwei Arztpraxen barrierefrei sind . In anderen Bun-desländern dürfte das nicht besser sein . Da frage ichmich allerdings: Warum stimmen Sie dann unseren Än-derungsanträgen nicht zu?
Vor allen Dingen: Inwiefern ist Ihres Erachtens die Si-tuation hier denn anders als in den USA? In den USA istes seit den 70er-Jahren für die Privatwirtschaft verbind-lich, angemessene Vorkehrungen für Zugänglichkeit undBarrierefreiheit zu schaffen . Dort ist die Wirtschaft nichtzugrunde gegangen; im Gegenteil .Wissen Sie, warum in den USA Barrierefreiheit undZugänglichkeit so wichtig sind? Weil in den USA argu-mentiert wird: Auch für Menschen mit Beeinträchtigun-gen muss der Marktzugang, der Zugang zu allen Rechts-geschäften, zu allen öffentlichen Geschäften, möglichsein . – Das ist die Argumentation in den USA, und dortwird die Wirtschaft nicht überfordert .Ich frage Sie gerade angesichts dieses drastischenBeispiels aus der Gesundheitswirtschaft, die nicht bar-rierefrei ist: Warum nutzen Sie gleich mutmaßlich nichtdie Gelegenheit, hier an einer Stelle den Knoten durchzu-schlagen und unseren Anträgen zuzustimmen?
Kerstin Tack
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(D)
Herr Kollege Kurth, vielen Dank für Ihre Frage . – Siehaben ein bisschen Pech . Ich kenne die USA auch ganzgut .Wenn Sie meinen, dass die Barrierefreiheit in denUSA daher rührt, dass es dort schon früh ein Bewusstseinfür Inklusion gegeben hat, das es so bei uns nicht gibt,muss ich Ihnen sagen: Das ist nicht der Fall .
Die Barrierefreiheit in den USA rührt maßgeblich daher,dass man sich dort sehr stark um Kriegsveteranen küm-mert, und zwar seit Jahrzehnten, und sie ausgesprochenfürsorglich behandelt – aus einer gewissen Verehrungvon Militär und Kriegern in den USA heraus .
Ich weiß nicht, ob das für die Herangehensweise ganzgrundsätzlich ist, aber es gibt in den USA keine mittelal-terlichen Städte, und es war schon immer genug Platz da .Ich kann Ihnen eines sagen: Bauliche Barrierefreiheit
führt zumindest in den USA nicht dazu, dass auch dieInklusion in den Köpfen weitergeht . In den USA sinddeutlich mehr Menschen mit Behinderung erwerbslos alsin Deutschland .Es ist zweitens so, dass die USA zumindest beweisen,dass man die UN-Behindertenrechtskonvention, die manhier für alles und jedes um die Ohren gehauen bekommt,nicht braucht, um die Inklusion voranzutreiben . Die USAhaben die UN-Behindertenrechtskonvention bis heutenicht ratifiziert. – Danke schön.
Behinderung ist nicht gleich Behinderung . Das machtdas Thema der Barrierefreiheit so schwierig . Wo einRollstuhlfahrer vielleicht einen leichten Zugang hat, tutsich ein Sehbehinderter schwer . Wo ein Gehörloser ganzgut zurechtkommt, ist es vielleicht für einen psychischBehinderten mühsam . Die Barrierefreiheit, so wie sie inFachkreisen definiert wird, ist fast schon ein Ideal, daswohl kaum in greifbarer Nähe ist .Aus dieser Einsicht kann man zwei Schlüsse ziehen .Entweder beklagt man den miserablen Zustand in un-serem Land, geißelt sich selbst und beklagt beharrlich,dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft allgemein untä-tig und offenbar nicht willens sind, etwas für Menschenmit Behinderungen zu tun, oder man nähert sich, wie esvon der Frau Ministerin schon beschrieben wurde, die-sem Ideal Schritt für Schritt an . Das tun wir heute mitder Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungs-gesetzes .
Der Bund wird mit gutem Beispiel vorangehen . Erwird zeigen, wie es geht . Wir werden so nach und nachdie überzeugen, die nicht verpflichtet sind.Ich weiß, dass es auch Kritiker auf den Plan ruft . VomForum behinderter Juristinnen und Juristen heißt es zumBeispiel – ich zitiere wörtlich –:…immer treffen sie– gemeint sind behinderte Menschen –auf Barrieren, die von den Eigentümern oder Be-treibern der Einrichtungen geschaffen wurden, fürdie sie häufig aber rechtlich nicht verantwortlich ge-macht werden können .Juristen mag man diese Formulierung verzeihen . Ichsage Ihnen aber auch, dass eine solche Argumentationeine sachliche Diskussion schwierig macht . Sie glaubendoch nicht wirklich, dass irgendwo in Deutschland Men-schen sitzen, die nichts anderes im Kopf haben, als vorCafés und Friseurläden Barrieren aufzubauen oder sichden lieben langen Tag zu überlegen, wie sie Menschenmit Behinderungen drangsalieren . Das Gegenteil ist derFall .Wenn ein Metzger sein Geschäft so umbaut, dass manebenerdig hineinkommt, aber die Tür sich immer nochnicht automatisch öffnet, dann ist das trotzdem ein Fort-schritt . Wenn im Museum eine Führung in leichter Spra-che angeboten wird, dann ist das ein Fortschritt, auchwenn das Museum in einem mittelalterlichen Gebäudeist und ein Gehbehinderter sich schwertut .
Ich meine, dass wir dahin kommen müssen, die Fort-schritte zu sehen und anzuerkennen, dass die Menschensich durchaus bemühen, statt beharrlich die Defizite zubetonen .Ich lehne eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit für diePrivatwirtschaft ausdrücklich ab, weil sie nicht greifbarist, nicht machbar ist, eben nicht realitätsnah ist . Ich willauch keine Strafen und keine rechtliche Verantwortungfür den Bäcker, der seinen Laden in der Altstadt betreibt,obwohl der Zugang zum Gebäude nicht barrierefrei ist,
und ich sehe auch keinen Anlass, einen Hauseigentümerzu belangen, weil er seine Klingelanlage nicht mit einemSprachmodus ausgestattet hat .
Ich glaube, dass wir heute einen großen Schritt voran-gehen . Ich glaube, dass dieses Gesetz vielen Menschenhelfen wird . Deswegen ist es, glaube ich, ein gutes Ge-setz, dem wir zustimmen sollten .Ich danke Ihnen .
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(C)
(D)
Vielen Dank . – Wir sind damit am Ende der Ausspra-
che .
Ich rufe jetzt die Abstimmungen zu Tagesordnungs-
punkt 6 a auf . Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt eine
ganze Reihe persönlicher Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vor .1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Wei-
terentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts .
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/8428, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/7824 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen . Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8432 vor,
über den wir zuerst abstimmen .
Wir stimmen nun über den Änderungsantrag auf Ver-
langen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich
ab . Eine weitere namentliche Abstimmung folgt dann
einige Minuten später nach einer kurzen Unterbrechung
und dann zwei einfache Abstimmungen . Ich bitte jetzt
die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze ein-
zunehmen . – Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das
ist der Fall . Dann eröffne ich die Abstimmung über den
Änderungsantrag .
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgeben hat? – Dann bitte ich, die
Stimmkarte schnell abzugeben .
1) Anlagen 2 bis 4
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen . Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentli-
chen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung .
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet .Bevor ich jetzt das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung bekannt gebe, mache ich Sie darauf auf-merksam, dass wir vor der nächsten namentlichen Ab-stimmung über den Gesetzentwurf abstimmen . Nachständiger Übung tun wir das zumindest bei der drittenLesung, indem wir uns entsprechend unserem Votumerheben. Bei der derzeitigen Anordnung hier bezweifleich, dass das Präsidium nachher das Abstimmungsver-halten zum Gesetzentwurf zweifelsfrei feststellen kann .Ich bitte Sie also, sich in die Reihen Ihrer Fraktionen zubegeben . – Ich bitte die Fraktionen, diese Botschaft zuübermitteln . Wir werden über den Gesetzentwurf nurdann abstimmen können, wenn das Präsidium das Ergeb-nis der Abstimmung über den Gesetzentwurf in dritterLesung zweifelsfrei feststellen kann .In der Zwischenzeit gebe ich Ihnen das von denSchriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der ersten namentlichen Abstimmung bekannt: ab-gegebene Stimmen 573 . Mit Ja haben 121 Kolleginnenund Kollegen gestimmt, mit Nein stimmten 451 Kolle-ginnen und Kollegen, und 1 Kollege oder 1 Kollegin hatsich enthalten . Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 573;davonja: 121nein: 451enthalten: 1JaDIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteKersten SteinkeDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian Kindler
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Maria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr . Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr . Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr . Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr . Maria BöhmerNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachAxel E . Fischer
Klaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinDr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr . Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckDr . Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbAnette HübingerErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr . Franz Josef JungAndreas JungXaver JungDr . Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeJens KoeppenMarkus KoobKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr . Karl A . LamersDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr . h .c . Hans MichelbachDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr . Philipp MurmannDr . Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim Ostermann
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Henning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr . Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Andreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederDr . Ole SchröderDr . Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerArmin Schuster
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr . Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G . WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr . Matthias BartkeSören BartolUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerMarco BülowMartin BurkertDr . Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarElvira Drobinski-WeißMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuDr . Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr . Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr . Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian Post
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Achim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiAnnette SawadeDr . Hans-Joachim Schabe-dothAxel Schäfer
Dr . Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerEnthaltenCDU/CSUHubert HüppeIch bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 18/7824 in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen .Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen?
– Ja, wir haben dieses Phänomen quer durch alle Frakti-onen . Es haben auch Mitglieder der Fraktion Die Linkegerade dem Gesetzentwurf durch Stehen zugestimmt .
Also werden wir hier gleich ein sehr differenziertesAbstimmungsergebnis feststellen . Das gilt auch für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .Um hier keine Verwirrung aufkommen zu lassen, bitteich Sie, Platz zu nehmen . Ich will nicht dafür verantwort-lich sein, dass es Sondersitzungen in allen Fraktionen desHauses gibt .Ich wiederhole die Abstimmung und bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu er-heben . – Jetzt bitte ich diejenigen, die in dritter Lesunggegen den Gesetzentwurf stimmen wollen, sich zu erhe-ben . – Nun bitte ich diejenigen, die sich enthalten wol-len, sich zu erheben . – Der Gesetzentwurf ist mit denStimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktiongegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen, wo-bei wir hier im Präsidium festgestellt haben, dass sich zujedem dieser Voten einzelne Abgeordnete aus den Frak-tionen anders verhalten haben . Aber die Mehrheiten sindim Präsidium unstrittig .Damit kommen wir zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 18/8433 . Die Fraktion Die Linke verlangt na-mentliche Abstimmung . Ich bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, die Plätze einzunehmen . – Sind alleSchriftführerinnen und Schriftführer am Platz? – Das istder Fall . Ich eröffne die Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag .Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-me noch nicht abgeben konnte? – Ich schließe die Ab-stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, mit der Auszählung zu beginnen . Das Ergebnisder Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben .1)Ich bitte Sie, zügig Ihre Plätze einzunehmen . Wir fah-ren nämlich gleich mit weiteren Abstimmungen zu die-sem Tagesordnungspunkt fort .Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Druck-sache 18/8428 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7874mit dem Titel „Eine halb barrierefreie Gesellschaft reichtnicht aus – Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflich-ten“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 18/7877 mit dem Titel „Behinder-tengleichstellungsrecht mutig weiterentwickeln“ . Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und1) Ergebnis Seite 16765 C
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der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineLeidig, Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEDrohende Streckenstilllegungen verhindern – Keine Kürzung bei Regionalisierungsmittelnin OstdeutschlandDrucksache 18/8392Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Haushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur zu dem Antrag derAbgeordneten Sabine Leidig, Ralph Lenkert,Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEDrohende Streckenstilllegungen verhindern –Regionalisierungsmittel erhöhenDrucksachen 18/8074, 18/8362 Über die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürVerkehr und digitale Infrastruktur werden wir später na-mentlich abstimmen .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die KolleginCaren Lay für die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In vielen ostdeutschen Ländern sind die Men-schen beunruhigt . Sie fürchten die Stilllegung, die Ab-bestellung ihrer Bahnstrecken oder zumindest die Aus-dünnung des Bahnverkehrs; denn angesichts zu wenigin Aussicht gestellter Fördergelder, insbesondere fürdie ostdeutschen Länder, warnt zum Beispiel der Ver-kehrsverbund Oberlausitz-Niederschlesien vor einemStreckenkahlschlag in Sachsen . Allein dort sind fünfwichtige Strecken von der Stilllegung bedroht: von Dö-beln nach Meißen, von Pirna nach Sebnitz, von Chemnitznach Elsterwerda usw . usf . Auch in anderen ostdeutschenLändern gibt es diese Befürchtung . In Mecklenburg-Vor-pommern beispielsweise ist die Strecke von Güstrownach Pasewalk zwischen Malchow und Waren im Ge-spräch .An mancher Stelle wird es dann regelrecht absurd . DieStrecke von Cottbus über Hoyerswerda nach Görlitz –Experten als Niederschlesische Magistrale bekannt – solllaut Bundesverkehrswegeplan nach allen Regeln derKunst ausgebaut werden, und zwar zweigleisig, elektri-fiziert und mit komplettem Lärmschutz, aber nur für denGüterverkehr . Dem Personenverkehr auf der gleichenStrecke droht das Aus . Da fassen sich die Leute in mei-nem Wahlkreis an den Kopf, und das zu Recht .
Selbst in den ostdeutschen Metropolregionen sindStrecken nicht mehr sicher . In Dresden beispielsweisewird befürchtet, dass der langjährig geplante 15-Minu-ten-Takt für die S-Bahn in Gefahr ist . Das ist unsinnigund inakzeptabel . Eine weitere Ausdünnung des Schie-nennetzes darf es nicht geben .
Ein gutes Schienennetz ist nicht nur wichtig für dieFahrgäste und für die Umwelt, sondern auch für die ge-samte Region . Wenn eine Strecke nicht mehr befahrenwird, wissen die Leute nicht mehr, wie sie zur Arbeit,zum Einkaufen oder zu den Ämtern kommen . Aber auchviele, die die Bahn nicht regelmäßig nutzen, sind sehrerzürnt über diese Pläne; denn sie haben das Gefühl:Wenn die Bahn nicht mehr fährt, dann wird meine Re-gion komplett abgehängt . Das ist die Befürchtung vielerMenschen . Leider haben sie recht . Deswegen sagen wirals Linke ganz klar: Das Schienennetz gehört zur öffent-lichen Infrastruktur und zur sozialen Daseinsfürsorge .Strukturschwache Regionen dürfen nicht noch weiterabgehängt werden .
Am Ende ist es doch ein Teufelskreis: Weniger Bahn-strecken machen eine Region noch weniger attraktiv .Das Bahnfahren wird weniger attraktiv . Mehr Menschensteigen auf das Auto um . Am Ende gibt es dann weni-ger Fahrgäste, und das wird dann wieder als Argumentgenommen, um eine Strecke auszudünnen oder stillzu-legen . Diesen absurden Teufelskreis müssen wir endlichdurchbrechen .
Der Grund für alle diese Befürchtungen ist die Ver-einbarung zur Neuverteilung der sogenannten Regiona-lisierungsmittel, durch die der Bund den Nahverkehr aufden Schienen mitfinanziert. Pikant und interessant sinddie Umstände dieser Vereinbarung . Verhandelt wurde sienämlich außerhalb der Tagesordnung am Rande des so-genannten Flüchtlingsgipfels im September . Die Länderbrauchten dringend finanzielle Hilfen. Da überrumpeltedie Bundesregierung die Landesvertreter und machtemit wenigen Ministerpräsidenten im Hinterzimmer nochein paar Nebenabsprachen . Insgesamt sollten die Länderdann nicht die 8,5 Milliarden Euro bekommen, die siegefordert hatten, sondern nur 8 Milliarden Euro, und –das ist das Entscheidende – es soll eine Neuverteilungder Gelder geben, die am Ende zulasten der ostdeutschenLänder geht, also zulasten der Länder, die die geringsteFinanzkraft haben . Das kann nun wirklich nicht sein .
Der Bund überrumpelt die Länder . Jetzt sagt er: DieLänder sollen sich untereinander einigen. Wir finden,dass wir nicht zulassen dürfen, dass hier die Länder mitVizepräsidentin Petra Pau
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all ihren berechtigten Interessen gegeneinander ausge-spielt werden .
Ich bin übrigens froh, dass ein Bundesland diesem ge-samten Paket, weder dem Asylpaket noch den damit ver-bundenen Finanzfragen, nicht zugestimmt hat . Das warThüringen mit Bodo Ramelow . Es macht wirklich einenUnterschied, wenn die Linke regiert .
– Im besten Sinne . – Ihre Ministerpräsidenten – Geläch-ter von der CDU/CSU –, auch die aus den ostdeutschenLändern, haben zugestimmt . Sie haben heute nicht nurdie Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung, diesenFehler Ihrer Parteifreunde an dieser Stelle zu korrigie-ren. Der Fehler ist korrigierbar. Ich finde, das müssen wirheute tun .
Mehr Geld für die Schiene, ja, das ist teuer . Wir redenhier über 500 Millionen Euro mehr. Ich finde, an diesemGeld kann und darf es am Ende nicht scheitern . Wir ha-ben erhebliche Steuermehreinnahmen . An dieser Stellewären die Gelder gut und sinnvoll eingesetzt .
Meine Fraktion hat dies übrigens schon in den Haus-haltsverhandlungen gefordert . Damals ist es an IhrerZustimmung gescheitert . Hätten Sie damals dem Antragder Linken zugestimmt, dann hätten Sie dafür gesorgt,dass jetzt nicht so viele Menschen und Verkehrsverbündebeunruhigt sind . Sie hätten sich auch jede Menge Ärgererspart . Das war wirklich ein großer Fehler Ihrerseits .
Meine Damen und Herren, zu guter Letzt: Wenn wirden Weg, den wir heute vorschlagen, nicht gehen – eswäre allerdings am einfachsten und elegantesten, dieMittel so zu erhöhen, dass die ostdeutschen Ländernicht weniger bekommen, aber beispielsweise Nord-rhein-Westfalen und andere westdeutsche Länder den ge-planten Ausbau finanzieren können –, dann müssten wiruns darauf einigen – das wäre die zweitbeste Lösung –,dass die Länder zumindest nicht weniger bekommen alsbisher . Das würde dann aber tatsächlich bedeuten, dass esbeispielsweise mit dem in NRW geplanten Ausbau vonStrecken nicht so schnell wie geplant vorangehen kann .Das wäre sehr schade . Insofern erhoffe ich mir heutenicht nur von den ostdeutschen Abgeordneten, sondernauch von den westdeutschen Abgeordneten Zustimmungzu unserem Antrag .
Kollegin Lay, achten Sie bitte auf die Zeit .
Das werde ich tun, Frau Präsidentin . – Wir müssen al-
les daransetzen, dass keine weiteren Strecken stillgelegt
oder ausgedünnt werden, nicht in Ostdeutschland und
nicht in anderen Ländern und strukturschwachen Regio-
nen . Bitte stimmen Sie für unseren Antrag .
Das Wort hat der Kollege Michael Donth für die Frak-
tion der CDU/CSU .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe mir die
Protokolle und Verläufe der Sitzungen, die mit den heu-
tigen Anträgen der Linken im Zusammenhang stehen, im
Vorfeld angeschaut . Da kann man sich nur wundern .
Es gab im vergangenen Herbst eine Einigung zwi-
schen dem Bund und den Ländern, in welcher Höhe und
mit welcher jährlichen Dynamisierungsrate die Regio-
nalisierungsmittel ab dem Jahr 2016 fortgeführt werden
sollen . Zur Verteilung der Mittel auf die Länder gab es al-
lerdings unterschiedliche Ansichten; diese sollte in einer
gesonderten Verordnung des Bundes mit Zustimmung
der Länder geregelt werden . Dann: Stille .
Jetzt, ein halbes Jahr später, taucht die Linke mit die-
sem Antrag und vor allem mit einer Art Legendenbildung
auf; wir haben es gerade nochmals gehört . Nach Ihrer
Erzählung sollen die Ministerpräsidenten am Abend
des 24 . September 2015 am Rande der Beratungen zum
Asylpaket von der Bundesregierung mit dem Kompro-
missvorschlag zu den Regionalisierungsmitteln, wie Sie
schreiben und auch gesagt haben, überrumpelt worden
sein .
Bei diesem vermeintlichen Coup sollen nur vier Mi-
nisterpräsidenten anwesend gewesen sein, die dann –
völlig überrascht – auch noch zugestimmt hätten . Oder in
Ihrer Lesart – ich sage es einmal so –: Die Ministerpräsi-
denten wussten nicht, was sie tun .
Ich war nicht dabei; Frau Lay, ich nehme an, Sie auch
nicht . Deshalb ist das alles ein Stück weit Spekulation .
Protokolliert ist dieser behauptete Hergang der Einigung
jedenfalls so nicht . Protokolliert ist aber, dass sich am
16 . Oktober 2015, drei Wochen später, der Bundesrat der
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses an-
geschlossen hat, der gleichlautend mit besagter Einigung
vom 24 . September 2015 war .
Kollege Donth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-kung der Kollegin Leidig?Caren Lay
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Nein, jetzt nicht; danke .
Warum? Haben die etwa schon wieder nicht aufge-
passt? Nein, die wussten genau, was sie taten. Ich finde,
ein Kompromiss in Höhe von 8 Milliarden Euro bei einer
Forderung von 8,5 Milliarden Euro seitens der Länder
und einem Status quo von 7,3 Milliarden Euro seitens des
Bundes war ein großer Verhandlungserfolg der Länder,
ebenso die Erhöhung der jährlichen Dynamisierungsrate
auf 1,8 Prozent bei einer Forderung von 2 Prozent und
einem Status quo von 1,5 Prozent . Denn bei einem Kom-
promiss geht normalerweise keine Seite mit 100 Prozent
Erfolg als Sieger aus den Verhandlungen hervor . Das
weiß jede schwäbische Hausfrau, und das wird Ihnen
auch jeder Gewerkschaftsfunktionär aus seiner Erfah-
rung bestätigen .
Darum haben wir Ihren ersten Antrag, der heute als
TOP 8 b ansteht und in dem eine Aufkündigung des
Kompromisses gefordert wird, bereits im Verkehrsaus-
schuss abgelehnt . Offensichtlich sind Sie als Fraktion
Die Linke von unseren Argumenten überzeugt worden .
Deshalb haben Sie einen zweiten Antrag nachgereicht –
Tagesordnungspunkt 8 a –, der besagt, dass jetzt nur noch
der Verteilschlüssel angegriffen oder neu geregelt wer-
den soll .
Die Verteilung der Regionalisierungsmittel soll in ei-
ner Verordnung des Bundes mit Zustimmung der Länder
geregelt werden . Das haben wir hier im Gesetz übrigens
ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Linken so
beschlossen . Daher macht es nur Sinn, dass sich die Län-
der auch untereinander auf einen Verteilmechanismus ei-
nigen, dem sie auch zustimmen können, bevor man ihn in
einen Verordnungsentwurf gießt . Ebenso haben sie den
eigentlich sehr praktikablen Kieler Schlüssel ganz ohne
Mitarbeit des Bundes entwickelt . Nur leider können sich
die Länder seit einem halben Jahr offensichtlich nicht da-
rauf einigen .
Dieser einstimmig beschlossene Kieler Schlüssel hat
nämlich die geniale Struktur, dass die Länder, die nach
dem alten Schlüssel unbestritten viel zu geringe Mittel
erhalten haben, deutlich mehr bekommen, die Länder,
die bislang überproportional bedient wurden, aber nicht
weniger . Diese Rechnung geht allerdings nur auf, wenn
die Länder dem Bund kräftig in die Tasche greifen und
die Mittel auf mindestens 8,5 Milliarden Euro pro Jahr
erhöht werden .
Nachdem sich nun aber Bund und Länder auf 8 Milli-
arden Euro geeinigt haben, liegt nach meiner Auffassung
der Ball eindeutig im Feld der Länder .
Die Linke hält dazu allerdings die Bundesländer und
ihre Regierungen offenbar nicht für fähig . In einem ers-
ten Antrag unterstellen Sie den Ministerpräsidenten, sie
wüssten nicht, was sie beschließen . Im zweiten Antrag
unterstellen Sie, die Länder seien unfähig, die Situation
zu lösen und zu einer Einigung über die Verteilung zu
kommen . Deshalb soll nach Ihrem Antrag der Bund den
Ländern noch einmal sagen, wo es langgeht . Sehen so
Föderalismus und Subsidiarität aus? In meinen Augen
nicht .
Man braucht auch nicht im Kaffeesatz zu lesen, um
im Voraus zu ahnen, dass die Länder keinem Bundesvor-
schlag zustimmen werden, auf den sie sich seither selbst
schon nicht geeinigt haben . Aber dann stünde natürlich
politisch betrachtet ganz klar fest, wer daran schuld ist,
dass es zu keiner Einigung kommt, nämlich der Bund .
Und diesen schwarzen Peter lassen wir uns nicht zuschie-
ben .
Wir in der CDU/CSU-Fraktion halten die Länder für
fähig – selbst die mit einer Regierungsbeteiligung der
Linken –, eine Einigung zum Verteilmechanismus her-
beizuführen .
Zusammengefasst: Erstens . Wir wollen den ÖPNV
weiter stärken und ausbauen . Deshalb gibt der Bund
auch in Zukunft fast eine Dreiviertelmilliarde Euro im
Jahr mehr für diesen Zweck an die Länder . Zweitens .
Wir fordern die Länder auf, im Interesse der Nutzer von
Bussen und Bahnen bald zu einer Einigung zu kommen .
Und drittens halten wir auch diesen erneuten Antrag der
Linken für überflüssigen Heckmeck.
Vielen Dank .
Bevor ich das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen
Abstimmung bekannt gebe, gebe ich der Kollegin Sabine
Leidig das Wort zu einer Kurzintervention .
Ich sehe mich aus drei Gründen zu dieser Kurzinter-
vention veranlasst .
Erstens möchte ich feststellen: Die Länder haben sich
geeinigt, und zwar darauf, dass mit 8,5 Milliarden Euro
und ihrer sinnvollen Verteilung der regionale Schienen-
verkehr für alle Bürgerinnen und Bürger vernünftig orga-
nisiert werden kann . Das ist eine gute und richtige Positi-
on, die wir teilen und die wir auch mit eigenen Anträgen
unterstützt haben .
Zweitens . Es ist zynisch, wenn Sie behaupten, dass
die Länder sich mit diesem Deal sozusagen einverstan-
den erklärt hätten . Das möchte ich Ihnen jetzt vorwerfen .
Wir haben in der Ausschusssitzung gehört, dass der Par-
la
Die Länder,die eine gemeinsame Position gegen diese Bundesfern-straßengesellschaft erarbeitet haben, werden schon um-
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fallen; denn der Bund wird in den nächsten Bund-Län-der-Verhandlungen ein entsprechendes Druckmittel inder Hand haben . Da geht es nämlich wieder darum, dassmehr Geld für die Integration von Flüchtlingen gebrauchtwird .Ich übersetze das einmal: Die Länder können sagen,was sie wollen, es mag noch so vernünftig sein: Letztlichhat der Bund die Daumenschraube, sie zum Umfallenzu zwingen . Sich dann hinzustellen und zu sagen: „DieLänder waren einverstanden“, ist an Zynismus wirklichkaum zu überbieten .
Drittens . Sie reden davon, dass die Länder dem Bundin die Tasche greifen . Ich bitte Sie! Es geht hier um Steu-ergeld, das von der Gesellschaft aufgebracht wird . Die-ses Steuergeld muss so eingesetzt werden, dass es derGesellschaft zugutekommt . Dabei ist es letztlich völligwurscht, ob der Bund den öffentlichen Nahverkehr be-zahlt oder die Länder .
Wichtig ist, dass der öffentliche Nahverkehr finanziertwird und für die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügungsteht – auf der Schiene und überall dort, wo es notwendigist .
Möchten Sie erwidern? – Bitte, Kollege Donth .
Frau Leidig, ich möchte auf zwei Punkte eingehen .
Erstens . Natürlich haben sich die Länder auf den Kie-
ler Schlüssel geeinigt . Sie haben gesagt: Wenn der Bund
1,2 Milliarden Euro mehr gibt, dann funktioniert auch
die Verteilung . Aber – ich habe es Ihnen ja vorhin ge-
sagt – es war ein Kompromiss, den Bund und Länder in
diesen Verhandlungen miteinander erreicht haben . Wenn
die Länder das vorher miteinander hinbekommen haben,
dann sollten sie das auch jetzt hinbekommen .
Zweitens . Herr Albig steht ja nicht unbedingt im
Verdacht, der CDU zu nahezustehen . Er hat im Bundes-
rat klar gesagt und noch einmal bestätigt, dass sich die
Regierungschefinnen und -chefs der Länder zusammen
mit der Bundeskanzlerin am 24 . September 2015 darauf
geeinigt haben . Ich kann also darin nicht den Zynismus,
den Sie jetzt unterstellt haben, erkennen .
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnendas von den Schriftführerinnen und Schriftführern er-mittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstim-mung bekannt: abgegebene Stimmen 568 . Mit Ja haben120 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 448,Enthaltungen gab es keine . Der Entschließungsantrag istdamit abgelehnt .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 568;davonja: 120nein: 448enthalten: 0JaDIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Martina RennerDr . Petra SitteKersten SteinkeDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSabine Leidig
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Steffi LemkeDr . Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr . Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr . Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr . Maria BöhmerNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachAxel E . Fischer
Klaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinMichael FrieserDr . Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckDr . Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr . Franz Josef JungAndreas JungXaver JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeJens KoeppenMarkus KoobKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr . Karl A . LamersDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtReiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr . h .c . Hans MichelbachDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd Müller
Stefan Müller
Dr . Philipp MurmannDr . Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander Radwan
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 2016 16767
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Alois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr . Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Andreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederDr . Ole SchröderDr . Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerArmin Schuster
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr . Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G . WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr . Matthias BartkeSören BartolUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerMarco BülowMartin BurkertDr . Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarElvira Drobinski-WeißMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuDr . Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannDirk HeidenblutMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr . Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr . Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616768
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Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiJohann SaathoffAnnette SawadeDr . Hans-Joachim Schabe-dothAxel Schäfer
Dr . Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerWir fahren in der Debatte fort . Das Wort hat der Kol-lege Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen .Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Egal wie der Abend des 24 . September2015 verlaufen ist: Ich finde, es ist schon bezeichnend,dass auf einem Flüchtlingsgipfel unter dem Punkt „Ver-schiedenes“ kurz vor Mitternacht über eine so wichtigeFrage wie die Nahverkehrsfinanzierung gesprochen wird.Es ist auch schwer verständlich, warum einerseits denBundesländern in den nächsten 15 Jahren rund 12 Mil-liarden Euro zusätzlich für den Nahverkehr zur Verfü-gung stehen werden, während den ostdeutschen Bun-desländern andererseits eine Abwärtsspirale droht . Einattraktiver Nahverkehr leistet einen elementaren Beitragzur Daseinsvorsorge in allen Regionen, in der gesamtenRepublik . Der Nahverkehr braucht deshalb eine solideFinanzierung, und zwar in Nord und Süd, aber genausoin West und Ost .
Darüber waren sich die Verkehrsminister der Län-der auch einig . Sie haben sich auf einen neuen Vertei-lerschlüssel für die Regionalisierungsmittel verständigt .Länder wie Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Ba-den-Württemberg, deren Nahverkehrszüge im Berufs-verkehr zunehmend Sardinenbüchsen ähneln, sollten zu-künftig einen höheren Mittelanteil erhalten .
Gleichzeitig aber bestand unter den Verkehrsministernauch der Konsens, dass es keine Einschnitte in Bestands-verkehre, also keine Kürzungen im Nahverkehrsange-bot, geben darf . Eine sogenannte Sperrklinke in Formeiner jährlichen Mindestdynamisierung der Mittel von1,25 Prozent hat darum Eingang in die Beschlüsse derVerkehrsministerkonferenz gefunden .Nachdem nun die Verständigung über die Höhe derRegionalisierungsmittel im Vermittlungsausschuss vonBundestag und Bundesrat stattgefunden hat, ist von derEinigkeit in dieser Frage allerdings nur wenig übrig ge-blieben . So wird nun vorgerechnet, dass der Osten proKopf mehr Geld für den Nahverkehr erhält . Dabei wirdgeflissentlich übersehen, dass der finanzielle Aufwandnatürlich geringer ist, wenn man den Nahverkehr in ei-nem dicht besiedelten Ballungsraum organisiert, alswenn man dies in einem dünn besiedelten Land tut .Es wird behauptet, dass durch sinkende Bevölke-rungszahlen auch die Nachfrage zurückgeht . Das istfalsch . Die Fahrgastzahlen belegen: Trotz eines Bevölke-rungsrückgangs steigt die Nachfrage erfreulicherweise .Gern wird auch vergessen, dass im Osten der Republikein massiver Rückzug des Fernverkehrs in der Flächestattgefunden hat . Die Stadt Chemnitz mit 250 000 Ein-wohnern und die Region Südwestsachsen mit über 1 Mil-lion Einwohnern sind vom Fernverkehr komplett abge-hängt . Es gibt keine andere Region in Deutschland, inder die Situation so ist . Heute verkehren durchgehendeNahverkehrszüge – in Anführungszeichen – zwischender Ostseeküste und der sächsischen Landesgrenze oderzwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder . Das Problemist, dass aus Geldern für den Nahverkehr flächendeckendFernverkehrsersatz in Ostdeutschland finanziert wird.Ich möchte an dieser Stelle an die rechtliche Definiti-on von Nahverkehr erinnern . Dort heißt es nämlich: Nah-verkehr sind Verkehre bis zu 50 Kilometern Entfernungund Verkehre von maximal einer Stunde Fahrzeit .Der schwelende Streit über die Verteilung der Regio-nalisierungsmittel zwischen den Ländern sorgt vor allenDingen jetzt für fehlende Planungssicherheit . So könnendie einen keine neuen Züge bestellen und Verkehre aufdie Schiene bringen, andere müssen Streichpläne entwer-fen . Das kann aber auch nicht im Interesse des Bundessein . Es wäre eine Verschwendung von Steuergeldern,meine Damen und Herren, wenn erst in die Infrastrukturinvestiert würde, dann aber gar kein Geld da wäre, fürdiese Infrastruktur Verkehr zu bestellen .Das Beispiel mit der S-Bahn in Dresden ist genanntworden . Im Dresdner Elbtal wurde sehr viel öffentlichesGeld investiert, um zusätzliche Gleise zu bauen, damitFern- und Nahverkehr getrennt sind, damit dann dieS-Bahn im 15-Minuten-Takt fahren kann . Jetzt aber istkein Geld da, um den entsprechenden Verkehr zu bestel-
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len . Es ist doch ökologisch und ökonomisch völliger Un-sinn, so zu investieren, meine Damen und Herren .
Jetzt an die Adresse des Bundesministers . Statt weiterinteressiert zuzuschauen, wie sich die Länder unterei-nander fetzen, muss sich der Bund als Moderator aktivum eine einvernehmliche Lösung kümmern . Verkehrsmi-nister Dobrindt steht hier klar in der Verantwortung . DieZeit drängt: Die Hängepartie geht auf Kosten der Fahr-gäste und auch auf Kosten der Wirtschaft .Im Vermittlungsausschuss – das muss ich hier in Er-innerung rufen – hat Verkehrsminister Dobrindt denAuftrag bekommen, eine Rechtsverordnung vorzulegen,welche die Verteilung der Mittel unter den Ländern ab-schließend regelt . Doch passiert ist seit einem halben Jahrnichts . Herr Dobrindt, legen Sie endlich eine Verordnungvor, mit der sichergestellt wird, dass die Erfolgsgeschich-te des Nahverkehrs fortgeschrieben werden kann, undzwar im ganzen Land .Danke .
Das Wort hat der Minister für Bauen, Wohnen, Stadt-
entwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfa-
len, Michael Groschek .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Abgeordnete! Ich will mit einer Vorbemerkungstarten: Wir sollten uns davor hüten, eine Diskussion zuden Regionalisierungsmitteln zu einem Ost-West-Kon-flikt zu machen.
Wer das Problem der Regionalisierungsmittel zu ei-nem Ost-West-Gegensatz konstruiert, will mit dieserKonstruktion nicht Probleme lösen, sondern er will siefür andere politische Zwecke instrumentalisieren . Dasdient niemandem, weder den Menschen in Ost und Westnoch den Verkehren, über die wir heute reden .
Deshalb bringt es nichts, vergossene Milch noch ein-mal zu präsentieren . Natürlich waren sich die Länder da-rüber einig: 8,5 Milliarden Euro an Regionalisierungs-mitteln und keinen Euro weniger . Natürlich waren auchandere Randbedingungen bei den Ländern selbstver-ständlich, und es war darüber sofort Einvernehmen zuerzielen: Es galt, gegenüber Bahn und Bund eine Ver-handlungsposition aufzubauen und sich mit berechtigtenInteressen möglichst durchzusetzen . Die 8 MilliardenEuro waren in der Tat ein belastbarer Kompromiss .Herr Kühn hat recht: Das eigentliche Defizit liegtwoanders . Nicht das, was hier von anderen beschworenwurde, ist defizitär, sondern das, was Sie, Herr Kühn,sehr genau beschrieben haben: Das erste Defizit liegt da-rin, dass viele Bundesländer gezwungen sind, angesichtseiner völlig unzureichenden Fernverkehrserschließungdiese Verkehre, mit zweckentfremdeten Regionalisie-rungsmitteln, zu kaufen . Dieser Zukauf muss proble-matisiert werden, weil er als strukturelles Problem dieDiskussion um die Regionalisierungsmittel belastet .Nicht die Regionalisierungsmittel sind ungleich verteilt,sondern das Problem der Verteilung besteht darin, dassdas Fernverkehrsnetz der DB national ungleich verteiltist und die einen auskömmlich strukturiert sind, währenddie anderen mit Mitteln zukaufen müssen, die dafür nichtvorgesehen sind .
Deshalb muss das Problem dort gelöst werden, wo es ur-sächlich vorhanden ist, statt dort, wo es am besten zurpolitischen Semantik passt .Dann sind wir bei der Frage: Wo bleibt denn die Ver-ordnung? Denn ein Teil des Kompromisses aller Länderbzw . der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten wardie Absprache: Statt auf eine lange Reise zu gehen undauf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu schielen, lasst unsschnell Nägel mit Köpfen machen . Wir brauchen Pla-nungssicherheit in allen Bundesländern, und wir brau-chen schnelle Entscheidungen .Deshalb ist es gut, dass das Bundesverkehrsministe-rium eine Entscheidung getroffen hat . Schlecht ist, dassdiese Entscheidung offensichtlich nicht tragfähig genugist, um das Kanzleramt zu passieren . Deshalb ist derBundestag aufgefordert, die Bundesregierung zu fragen,wann die Bundesregierung als Kollektivorgan dazu inder Lage ist, eine schon längst durchdeklinierte Verord-nung endlich in Kraft zu setzen . Das Problem ist keineOst-West-Konstruktion, sondern ein Vollzugsdefizit.
Dieses Vollzugsdefizit müssen wir beklagen, und das tunwir . Deshalb hoffe ich sehr, dass diese Diskussion dazubeiträgt, beschleunigt voranzukommen und eine Ent-scheidung zu treffen .Jetzt noch einmal zum Thema Solidarität . Wir müs-sen niemandem Vorhaltungen machen . Das Prinzip „Öl-sardine in Bimmelbahn“ hatten Sie angesprochen, HerrKühn . In der Tat: Kommen Sie nach Nordrhein-Westfa-len . Sie werden erleben, dass in der größten westeuro-päischen Großstadt, in der Region zwischen Köln undDortmund, Berufspendler tausendfach jeden Morgenund jeden Abend gezwungen sind, wie Ölsardinen in derBimmelbahn zu fahren, sofern der völlig überfüllte Zugüberhaupt noch an jedem Bahnhof hält . Dort ist tagtäg-lich eine Bedarfssituation zu besichtigen .Eine vergleichbar schwierige Situation tritt in weitenBereichen östlicher Bundesländer ein, weil es die Fern-verkehrslücke gibt und weil Eurocity-Verkehre und In-tercity-Verkehre – auch im internationalen Maßstab vonStephan Kühn
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Stralsund über Berlin nach Prag oder weiter – im Grun-de S-Bahn-gleich an jeder Station halten . Offenbar wirddamit, dass Fernverkehre nicht auskömmlich finanziertsind . Bei diesem Finanzierungsproblem müssen wir an-setzen .
Was müssen wir machen? Wir müssen jetzt die eineKuh vom Eis kriegen: Wir müssen endlich die Regio-nalisierungsmittel im Rahmen der Verordnung sichern .Dann müssen wir überlegen, wie noch vorhandene struk-turelle Defizite beseitigt werden können. Es gibt dochspannende, sehr konstruktive Vorschläge der DB . Es gibtÜberlegungen zu einem neuen Fernverkehrsnetz . Es gibtÜberlegungen, wie wir mit der politischen Lebenslügeder Verkehrspolitik aufräumen, endlich mehr Güter vonder Straße auf die Schiene zu bringen .Warum haben wir nicht gemeinsam, Bund-Län-der-übergreifend, den Mut, die verkehrspolitischen Pro-bleme der Republik endlich da zu lösen, wo sie zu lösensind, nämlich an der Wurzel statt in der politischen Se-mantik?
Kalendersprüche können noch so sehr aufgeblasen wer-den: Es wird kein politisches Konzept daraus, wenn esnicht problemadäquat angepackt wird .Deshalb freue ich mich sehr, dass ich Gelegenheithabe, für die Länder hier zu sprechen und deutlich zumachen, dass wir uns nicht in ein Gegeneinander undnicht einmal in ein Nebeneinander hetzen lassen . Viel-mehr stehen wir gemeinsam und erinnern den Bund anseine grundgesetzliche Alimentations- und Unterhalts-pflicht, der er über Jahre nicht nachgekommen ist. Dasbelegen viele Gutachten von Verfassungsrechtlern . Dieseliegen vor, weil vor dem Vermittlungsergebnis juristischeAuseinandersetzungen vorbereitet worden waren . Daszeigt, dass die grundgesetzliche Verpflichtung des Bun-des nicht beliebig zu interpretieren ist . Darüber kann mansich zwar amüsieren, aber letztendlich ist diese Grund-gesetzgegenwart in einer Rechtsverordnung abzubilden .Lange Rede, kurzer Sinn: Die Länder in Ost und Westwie in Nord und Süd warten darauf, dass die Verordnungendlich in Kraft gesetzt wird . Eine anstehende Landtags-wahl kann kein hinreichendes Argument dafür sein, imregionalen Schienenverkehr nicht verkehrspolitischeVernunft walten zu lassen . Darum bitte ich herzlich, undich bitte um Unterstützung des gesamten Hohen Hausesdabei, der Regierung ein bisschen Beine zu machen .Vielen Dank .
Der Kollege Karl Holmeier hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Sehr verehrter Herr Minister, die verkehrspolitischenThemen liegen – Sie haben die Probleme angesprochen –bei unserer Bundesregierung und insbesondere bei unse-rem Bundesminister in den besten Händen .
Ich darf nur den Finanzhochlauf von 10,4 Milliarden auf14,4 Milliarden Euro ansprechen . Unser Verkehrsminis-terium leistet also beste Arbeit .
Wenn in den Ländern Defizite bestehen, kann man sienicht dem Bundesminister bzw . der Bundesregierung an-lasten .
Der Schienenpersonennahverkehr hat sich seit derBahnreform in Deutschland eigentlich positiv entwi-ckelt; darüber sind wir uns alle im Grunde einig . Einigsind wir uns nicht; das zeigt der wiederholt gestellte An-trag der Linken
auf Erhöhung der Regionalisierungsmittel . Der erste An-trag der Linken wurde kürzlich bereits abgelehnt . Nurweil ein Antrag zweimal gestellt wird, wird er nicht bes-ser . Wir bleiben bei unserer Ablehnung .Ein gut ausgebauter öffentlicher Personennahverkehrist eine der Grundlagen für eine hohe Lebensqualität inden Städten und auch im ländlichen Raum . Der Nahver-kehr ist in Deutschland so gut ausgebaut wie in keinemanderen Land . Jeden Tag nutzen 30 Millionen Menschenden ÖPNV, und die Fahrgastzahlen sind in den vergange-nen Jahren stetig angestiegen . Deswegen gilt es natürlichauch in Zukunft, die gute Qualität des ÖPNV und desSchienenpersonennahverkehrs zu halten bzw . mögli-cherweise noch zu steigern . Die Regionalisierungsmittelspielen hier eine zentrale Rolle, die auch vom Bund un-terstützt wird . Deshalb hat sich der Bund mit den Län-dern – das wurde schon angesprochen – am 24 . Septem-ber letzten Jahres auf eine Erhöhung und Dynamisierungder Mittel verständigt . Sie als Linke tun jetzt so, als wür-de der Bund den Nahverkehr links liegen lassen .
Das ist schlichtweg falsch .Der Beschluss vom vergangenen Jahr zeigt dochganz klar: Die Mittel des Bundes werden erhöht . DerNahverkehr wird gestärkt . Die Regionalisierungsmittelwurden 2016 von 7,4 Milliarden auf 8 Milliarden Euroerhöht . Das ist ein Plus von 600 Millionen Euro . Zudemsollen die Mittel bis einschließlich 2031 jedes Jahr umMinister Michael Groschek
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1,8 Prozent steigen . Das ist im nächsten Jahr ein Plus von144 Millionen Euro .
Das ist eine deutliche Steigerung und zeigt die Wert-schätzung für den Nahverkehr . Diesem Ausbau der För-derung haben alle zugestimmt: die Regierungschefinnenund Regierungschefs der Länder, der Deutsche Bundes-tag und der Bundesrat . Ich möchte besonders betonen:Die Länder haben sowohl bei der Besprechung mit derBundeskanzlerin im September 2015 als auch am 16 . Ok-tober 2015 im Bundesrat dem Kompromiss als Emp-fehlung des Vermittlungsausschusses zugestimmt . Dasbeinhaltet sowohl die Erhöhung um 600 Millionen auf8 Milliarden Euro und die Dynamisierung der Mittel alsauch die Verteilung der Mittel nach dem Kieler Schlüssel .Es kann daher nicht sein, dass Sie jetzt daherkommen,sich hierhinstellen und den Kompromiss kurz nach derZustimmung wieder infrage stellen und kippen wollen .Wenn die Linke jetzt mehr Mittel fordert, wird sie der Sa-che nicht gerecht . Ich erwarte ganz klar, dass die Ländernun zügig zu einer einvernehmlichen Einigung kommen,auf deren Basis die Mittel durch eine Rechtsverordnungverteilt werden können . Der vorliegende Kompromiss istein wichtiger Schritt hin zur Stärkung des Nahverkehrs .An einem weiteren Schritt arbeiten wir zurzeit . Mor-gen diskutieren wir im Plenum in erster Lesung über denEntwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbsim Eisenbahnbereich; denn neben der Erhöhung derRegionalisierungsmittel müssen wir vor allem für mehrWettbewerb und Effizienz im Eisenbahnsektor sorgen.Dazu gehören unter anderem der diskriminierungsfreieZugang zur Eisenbahninfrastruktur für alle Eisenbahn-verkehrsunternehmen und die Neugestaltung der Entre-gulierung für die Nutzung der Schienenwege . So könnenInfrastrukturkosten und Trassenentgelte gesenkt werden .Zusammen sorgen diese Regelungen dafür, dass unserNahverkehr auch langfristig hervorragend ausgebautwird und qualitativ hochwertig bleibt .Ihre Anträge, sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen von den Linken, greifen dagegen viel zu kurz . IhreForderungen tragen schlichtweg nicht allen Aspekten desSachverhalts Rechnung . Deshalb schließen wir uns derEmpfehlung des Verkehrsausschusses an und lehnen Ih-ren Antrag ab .Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Sebastian Hartmann für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Siemich namens der SPD-Fraktion zunächst mit dem Wich-tigsten anfangen: Wir werden bei der Diskussion über dieFinanzierung des Nahverkehrs – eine Erfolgsgeschichtein unserem Land – keine Spaltung des Landes in Ost undWest zulassen, auch wenn Sie von den Linken versuchen,einen Gegensatz zu konstruieren .
Das Thema des Nahverkehrs ist viel zu wichtig und zuzentral für einen funktionierenden Industriestaat, als dassman ihn zu einer Heckmeckgeschichte machen könnte,um sich kurzfristig zu profilieren. Sie haben vorher denVorschlägen zugestimmt, und wir haben gemeinsam dasErgebnis des Vermittlungsausschusses bestätigt . Das istdie Ausgangslage . Nichts anderes ist der Fall .Darüber hinaus: Die SPD-Fraktion kann sich auf dasberufen, was sie getan hat . Wir haben 2013 einen Koali-tionsvertrag mit unseren Partnerinnen und Partnern vonder CDU/CSU ausgehandelt und gesagt, dass wir 2014die Revision der Regionalisierungsmittel vornehmen undsie im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehungenneu ordnen wollen . Als das nicht zustande kam, sind wirweitergegangen und haben gesagt: Wir brauchen einezügige Revision der Regionalisierungsmittel, um schnellPlanungssicherheit für alle Teile unseres Landes herzu-stellen – Nord, Süd, Ost und West . Wir wollen kein Ge-geneinander .Danach haben wir das beschlossen . Wir haben ge-wusst, dass dann, wenn ein Beschluss über 7,7 Milliar-den Euro aufseiten des Bundes und ein Beschluss über8,5 Milliarden Euro aufseiten der Länder vorliegt, mansich irgendwo verständigen muss . Wir sind froh, dasswir ein deutliches Signal setzen konnten . Deswegen darfman aus der Erfolgsgeschichte des Nahverkehrs keinenMisserfolg machen .Das ist eine Steigerung um 10 Prozent, aber man mussauch die Probleme, die benannt worden sind, zur Kennt-nis nehmen . Wenn wir die Ausweitung des Nahverkehrswollen, um die Mehrbedarfe abzubilden, dann darf es ananderer Stelle in unseren Bundesländern nicht zu Kür-zungen oder Streckenstilllegungen kommen . Deswegenist auch der Titel Ihres Antrages vollkommen irrefüh-rend; denn erst wenn es zu einer negativen Verteilungkommen würde, würde es überhaupt zu Abbestellungenund Streckenstilllegungen kommen . Um das zu vermei-den, können wir als Bundestag und als Koalition ein kla-res Signal setzen .Ja, der Verkehrsminister hat einen Verordnungsvor-schlag gemacht, der von den Ländern verlangt wordenist, aber dieser ist angehalten worden, und zwar imKanzleramt . Deswegen müssen wir als Verantwortungs-träger aufseiten des Bundes gemeinsam den Schritt ge-hen, dass jetzt ein Vorschlag gemacht wird, der beideserreicht: die Mehrbedarfe in den Ländern, wo sie auf-grund von Gutachten nachgewiesen sind, abzubildenund zu vermeiden, dass die Mittel unter das absinken,was man in den vorherigen Haushaltsjahren in den Bun-Karl Holmeier
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616772
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desländern geschafft hat . Das ist verantwortliche Politikfür alle Teile des Landes .
Dann wird sich die Geschichte des schienengebunde-nen Nahverkehrs in diesem Land auch weiterhin als Er-folgsgeschichte erweisen; denn wir wollen nicht wenigerVerkehr, sondern wir wollen mehr Verkehr von der Stra-ße auf die Schiene verlagern . Das ist die einzige Antwort,die wir in den Metropolräumen unseres Landes brau-chen, aber auch in den weniger gut strukturierten Räu-men; denn es gehört zur Teilhabe an Mobilität, dass manauch im ländlich strukturierten Raum mobil sein kann .
Alle Mitglieder dieses Hohen Hauses haben eine ge-meinsame Verantwortung . Wir haben uns mit den Län-dern 1994 und 1996 verständigt, diese Aufgabe zu regio-nalisieren . Wir haben uns gleichzeitig immer wieder aufdie Schulter geklopft und gesagt, dass von allen drei Ver-kehrssparten – Güterverkehr, Fernverkehr und Nahver-kehr – der Nahverkehr die erfolgreichste Verkehrssparteseit der Regionalisierung der Aufgabe ist . Deswegen willich an dieser Stelle sagen: Die Länder haben ihre Aufga-be verantwortungsvoll wahrgenommen .Wir aber stehen in der Pflicht, für eine auskömm-liche Finanzierung zu sorgen . Das ist im Grundgesetzeindeutig geregelt . Diese Finanzierung endet nicht anBundesländergrenzen . Wir gehen davon aus, dass dasKanzleramt zügig eine Regelung entlang der von mir fürdie SPD-Fraktion skizzierten Punkte findet, die deutlichmacht: keine Streckenstilllegungen, keine Abbestellun-gen, nichts weniger als das, was zugesagt ist, damit mehrBedarfe abgebildet werden und keine Verkehre im ländli-chen Raum verschwinden . Dafür stehen wir ein .
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manchmal ist es ganz hilfreich, zunächst einmal die Ver-antwortlichkeiten klarzustellen . Der Bund gibt nach demRegionalisierungsgesetz finanzielle Mittel an die Länder,die diese dann inhaltlich umsetzen . Es ist von dem Kol-legen Donth schon darauf hingewiesen worden, dass derBund hier zu seinen Zusagen gestanden hat und dass fürdie Länder über 700 Millionen Euro mehr, die im Haus-halt fest verankert sind, zur Verfügung stehen . Das ist imHaushaltsgesetz festgelegt .Nur ist es schlichtweg nicht zur Anwendung gekom-men . Für den Bereich Schienenpersonennahverkehr kön-nen diese Mittel nicht genutzt werden, weil die Ländernicht zu einer Einigung über deren Verteilung kommen .Wir reden über zusätzliche Mittel in Höhe von 700 Milli-onen Euro . Wenn die Länder meinen: „Wir kommen mitdem Geld nicht aus“, dann ist das nichts anderes als einVertrag zulasten Dritter, mit dem man seine eigenen Ziel-vorstellungen formuliert und gesagt hat: Andere sollen esbezahlen . – Das macht der Bund jetzt nicht . Die Länderwerden sich nicht einig darüber, wie die 700 MillionenEuro mehr aufgeteilt werden sollen .Jetzt meldet sich ein Teil der Länder im Kanzleramtund sagt: Wir sind nicht verstanden worden . Wir könnenden Kompromiss nicht mitmachen . – Es war ganz prak-tisch, den Bund zu beauftragen, eine Rechtsverordnungzu erlassen . Aber der Bund kann eine solche Rechtsver-ordnung nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen –das hat man sicherheitshalber so geregelt –, und dieseZustimmung erhalten wir nicht . Deswegen ist es wohl-feil, dem Bund und hier dem Bundesverkehrsminister dieSchuld zuzuschieben; denn der ist – fast hätte ich gesagt:Tag und Nacht –
bemüht, eine solche Vereinbarung der Länder zustandezu bringen . Auch der Bund schafft es nicht . Das Problemsind die Länder, die sich nicht einigen können .
Wo liegt eigentlich das inhaltliche Problem? Ich hörehier Debattenbeiträge über Streckenstilllegungen .
– So sieht es aus . Dafür mag es unterschiedliche Gründegeben .Wenn man diesen Gründen nachgehen und sich fragenwill: „Warum könnte das Geld überhaupt knapp sein?“,dann kann man ja einmal in ein völlig unverdächtigesWerk schauen, nämlich in das Gutachten, das die Län-der in Auftrag gegeben haben zur, wie Herr Groschek soschön sagte, Begründung der Anhebung der Mittel für sieauf 8,5 Milliarden Euro . Auf Seite 39 dieses Gutachtenskann man nachlesen, dass Hessen und Baden-Württem-berg mittlerweile die einzigen Länder sind, die ihre Re-gionalisierungsmittel ausschließlich für den Betrieb desSchienenpersonennahverkehrs ausgeben . Kein anderesLand, auch Nordrhein-Westfalen nicht, Herr Groschek,tut dies . Die Mittel, die für den Betrieb des Schienen-personennahverkehrs vorgesehen sind, werden von fastallen Ländern dafür nicht genutzt . Dies ist ein Mangel .
Dass wir das nicht einmal kontrollieren können, findenwir schlimm . Wir müssen uns auch noch vorwerfen las-sen, dass die Länder die Mittel zweckentfremdet verwen-den . Wofür verwenden die Länder die Mittel? Wie auchin diesem Gutachten nachzulesen ist – die entsprechen-den Länder sind dort alle namentlich benannt –, werdendamit Bahnhöfe verschönert, werden Busse bestellt, weilsich der Schienenverkehr nicht mehr rechnet, wird da-mit die Infrastruktur ausgebaut, obwohl die Länder dafürvom Bund ebenfalls Geld bekommen: Über das GVFGSebastian Hartmann
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und über die Entflechtungsmittel wird diese Infrastrukturnoch einmal bezahlt . Nur werden die Mittel dafür nichtzweckentsprechend eingesetzt . Deswegen machen dieLänder sich das Leben selber schwer .Dann zu kommen und zu sagen: „Weil wir unsereMittel nicht zweckentsprechend verwendet haben, musstdu, Bund, zahlen, und zwar noch mehr als bisher“, dasist eine unlautere Politik . Das hat mit der Wahrheit über-haupt nichts mehr zu tun .
So ist es ja auch inhaltlich . Es gibt einige Länder –ich kann das politisch verstehen –, die ihren Schienen-personennahverkehr noch attraktiver machen wollen .Der schleswig-holsteinische Verkehrsminister bedauertöffentlich, dass es noch keine Einigung über die Höhegibt, weil auch der Kompromiss der Ministerpräsiden-ten – egal ob man diesen gut oder schlecht findet – dazuführt, dass das Land Schleswig-Holstein Schienenstre-cken wiederbeleben und in den öffentlichen Personen-nahverkehr integrieren könnte . Das heißt, die Mittel sindschon so gestrickt, dass damit auch für die Zukunft öf-fentlicher Personennahverkehr auf der Schiene finanziertwerden kann . Lassen Sie uns hier also keine Nebelkerzenwerfen. Der Bund hat seine Pflicht übererfüllt. Die Län-der sollten jetzt keine Kesselflickerei betreiben und allesschlechtreden, sondern die Züge auf den Schienen fahrenlassen . Das wäre ein gutes Werk .Danke schön .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8392 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Drohende Stre-
ckenstilllegungen verhindern – Regionalisierungsmittel
erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/8362, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8074 abzulehnen .
Mir liegen zahlreiche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor . Entsprechend unseren Regeln neh-
men wir diese zu Protokoll .1)
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf
Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab . Ich bit-
te die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgese-
henen Plätze einzunehmen . – Sind die Schriftführerinnen
und Schriftführer an ihrem Platz? – Ich werte die Zeichen
so, dass die Schriftführerinnen und Schriftführer an ih-
rem Platz sind . Ich eröffne die Abstimmung .
1) Anlagen 5 und 6
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgeben konnte? – Ein kleiner Hinweis:
Hier vorne sind die Zugänge zur Urne völlig frei .
Ich frage noch einmal: Ist ein Mitglied des Hauses an-
wesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? –
Das ist nicht der Fall . Ich schließe die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen . Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben .2)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Modernisierung des Besteue-
rungsverfahrens
Drucksache 18/7457
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/8434
Drucksache 18/8435
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Dr . Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formu-lare . – Dieser Spottreim wird dank des nun im Entwurfvorliegenden Gesetzes bald weniger zutreffen; denn mitdem heutigen Durchgang schließt der Deutsche Bundes-tag die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes der Bun-desregierung zur Modernisierung des Besteuerungsver-fahrens nach ausführlicher Diskussion ab . Der Titel desGesetzes ist sicher ein sehr hoher Anspruch – das willich gern zugeben –, und doch macht dieses Gesetz denWeg für ein ganzes Bündel von Maßnahmen frei, dieSteuerbürger, aber auch Unternehmen und Finanzver-waltung in vielfältiger Hinsicht entlasten werden, nichtwas die Höhe der Steuern anbetrifft – das wäre auch zuschön –, wohl aber was den Aufwand, die Administra-tion, anbetrifft . Der Erfüllungsaufwand für die Bürgersinkt um 2,1 Millionen Stunden . Die Bürokratiekostenfür die Wirtschaft verringern sich um jährlich 28 Millio-nen Euro, so festgestellt .Mit dem Gesetz werden drei Schwerpunkte gesetzt:Erstens werden die Wirtschaftlichkeit und die Effizi-enz des Besteuerungsverfahrens durch einen verstärkten2) Ergebnis Seite 16775 CNorbert Brackmann
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Automatisationseinsatz sichtbar erhöht, zum Beispieldurch den Ausbau von Risikomanagementsystemen inder Finanzverwaltung .Zweitens wird die Handhabbarkeit des Besteuerungs-verfahrens nachhaltig vereinfacht . Dies wird zum Bei-spiel durch die Verlängerung der Abgabefristen und denWegfall von Belegvorlagepflichten erreicht.
Drittens erfolgt eine Neugestaltung der rechtlichenGrundlagen, insbesondere bei der Abgabenordnung, etwadurch die Anpassung des Amtsermittlungsgrundsatzesoder durch Veränderungen beim Verspätungszuschlag .Dabei bleibt das „One in, one out“-Prinzip der Bundes-regierung erhalten, sodass es zu keinem Aufwuchs derBürokratie kommen wird .Meine Damen und Herren, das ist heute ein guter Tag .Es ist ein gutes Gesetz für Steuerbürger und Finanzver-waltung .
Wer kennt sie nicht, die Klage des normalen Steuer-bürgers, wenn es darum geht, die Steuererklärung fer-tigzustellen? Auch die steuerberatenden Berufe klagenimmer wieder darüber, dass unterschiedliche Fristen zubeachten sind . Natürlich haben wir in der Vergangenheitschon manches vereinfacht . Vieles in diesem Bereich derSteuerpolitik ist aber noch zu vereinfachen .Ich will an dieser Stelle die elektronische Steuerer-klärung nennen, die von manchen anfangs skeptisch be-äugt wurde und inzwischen längst ein Renner ist . Aberwir müssen selbstkritisch einräumen, dass das Besteue-rungsverfahren nicht mit der rasanten Entwicklung derMöglichkeiten im IT-Zeitalter Schritt gehalten hat . Dasist weder gut für die Bürger noch gut für die Unterneh-men oder die Finanzverwaltung . Deshalb war es an derZeit, den Modernisierungsrückstand aufzuholen und denBlick nach vorne zu richten . Das tun wir heute mit die-sem Gesetz .
Den Blick nach vorne zu richten, heißt vor allem auch,den Einsatz medienbruchfreier automatisierter Verfahrenin der Steuerverwaltung zu verstärken . Das macht dieBerechnungsverfahren schneller und verhilft den Steuer-bürgern rascher zu ihrem Geld, wenn sie Anspruch aufSteuerrückzahlungen haben .Die Gesetzesänderung bringt für die Bürger eineganze Reihe von Vorteilen: Zum Ersten werden sie vonunnötigem Bürokratieaufwand entlastet, zum Zweitenverlängert sich die Abgabefrist für die Steuererklärungum immerhin zwei Monate, und zum Dritten müssen siezukünftig weniger Belege an das Finanzamt übersenden .Zuwendungsbescheinigungen, Bescheinigungen überKapitalertragsteuer oder die Feststellung über den Gradder Behinderung müssen durch die Steuerpflichtigen nurnoch vorgehalten und nicht mehr als Einzelbelege über-sandt werden .Aber auch für die Wirtschaft ist manches einfachergeworden . Für die Unternehmen sinken die Bürokratie-kosten . Das handelsrechtliche Aktivierungswahlrecht fürKosten der allgemeinen Verwaltung sowie für Aufwen-dungen für soziale Einrichtungen des Betriebs gilt künf-tig auch für die Steuerbilanz . Das ist ein wesentlicherVorteil . Die Doppelerfassungen in Handels- und Steu-erbilanz entfallen, und das ist ein echter Vorteil für dieUnternehmensbilanz .
Ein Vorteil für die mittelständische Wirtschaft ist auchdie bessere Planbarkeit der Steuerforderungen, weil wirdas Instrument der verbindlichen Auskunft stärken . Soerhalten Steuerpflichtige schneller Rechtssicherheit beider steuerlichen Beurteilung komplexer Einzelfälle . DieFinanzämter sollen zukünftig über einen Antrag auf ver-bindliche Auskunft grundsätzlich innerhalb von sechsMonaten entscheiden . Damit ist eine gewisse Sicherheitfür den Steuerbürger, für das Unternehmen gegeben; ins-besondere ist eine Planbarkeit der Liquidität in den Un-ternehmen besser möglich . Auch das ist ein großer Vor-teil unseres Gesetzes .
Eines möchte ich noch anfügen: In der Öffentlichkeithat es heftige Debatten um den im Gesetz verankertenVerspätungszuschlag gegeben, der erhoben wird, wenndie Abgabefrist für eine Steuererklärung überschrittenwird . Meine Damen und Herren, ein Verspätungszu-schlag ist nichts Neues . Es gibt ihn schon lange . Er wirdaber bislang durch die Bearbeiter im Finanzamt nachindividuellem Ermessen festgesetzt . Das erscheint mirweder ein gerechtes noch ein vom Aufwand her zu recht-fertigendes Verfahren zu sein . Deshalb wird der Verspä-tungszuschlag künftig im automatisierten Verfahren er-hoben . Außerdem wird er von 50 auf 25 Euro gesenkt .Auch das ist ein wesentlicher Vorteil .Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Eine Gerechtig-keitslücke für unsere Steuerzahler bleibt leider noch zuschließen .
Angesichts der Niedrigzinsphase hätte ich mir ge-wünscht, dass wir bei der Vollverzinsung eine Senkungvornehmen . Doch leider kam es aufgrund fehlenderWirtschaftsfreundlichkeit zu keiner befristeten Absen-kung des Zinssatzes von 0,5 auf 0,4 Prozent für Steuer-erstattungen und Steuernachzahlungen . Wir müssen uns,auch um die Glaubwürdigkeit des Staates als Fiskus zuverbessern, dafür einsetzen, solche Gerechtigkeitslückennicht zuzulassen .
Es kann nicht sein, dass wir eine Niedrigzinssituationhaben und sich der Staat mit großem Profit bei den Steu-Dr. h. c. Hans Michelbach
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erzahlern in diesem Bereich schadlos hält, meine Damenund Herren . Deswegen müssen wir darauf bestehen, dassdas mit einer nächsten Gesetzesänderung angegangenwird . Dies ist ein gutes Gesetz; aber wir sind noch nichtam Ende der Fahnenstange .Vielen Dank .
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnendas von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt:abgegebene Stimmen 575 . Mit Ja haben 457 Kolleginnenund Kollegen gestimmt, mit Nein 116; 2 Kolleginnenund Kollegen haben sich enthalten . Die Beschlussemp-fehlung ist damit angenommen .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 572;davonja: 453nein: 117enthalten: 2JaCDU/CSUKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeDr . Helge BraunRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
Klaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinDr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr . Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckDr . Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr . Franz Josef JungAndreas JungXaver JungDr . Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeJens KoeppenMarkus KoobKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr . Karl A . LamersDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr . h .c . Hans MichelbachDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd Müller
Stefan Müller
Dr . Philipp MurmannMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannHenning OtteDr. h. c. Hans Michelbach
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Ingrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr . Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Andreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederDr . Ole Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackDr . Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr . Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G . WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr . Matthias BartkeSören BartolUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr . Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuElke FernerDr . Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Marcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr . Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr . Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian Post
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Achim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeDr . Simone RaatzMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiJohann SaathoffAnnette SawadeDr . Hans-Joachim Schabe-dothAxel Schäfer
Dr . Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalDirk Wiese
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerNeinDIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteKersten SteinkeDr . Kirsten TackmannFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr . Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Streng-mann-KuhnHans-Christian StröbeleDr . Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr . Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsEnthaltenSPDThomas JurkDetlef Müller
Wir fahren in der Debatte zum Entwurf eines Geset-zes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens fort .Das Wort hat der Kollege Dr . Axel Troost für die FraktionDie Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Seit Jahren wissen wir von massiven Defiziten im Steu-ervollzug . In der Finanzverwaltung fehlen laut den Be-darfsberechnungen der Länder bis zu 16 000 Beschäftig-
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te . Durch Personalmangel und schlechte Ausstattung wirdvielerorts nur schlecht oder zeitweise gar nicht geprüft .Vor allem Gutverdiener und gewinnstarke kleinere undmittlere Unternehmen haben dadurch gute Chancen, beiihren Steuererklärungen zu tricksen und durch schlechteKontrollen zu wenig Steuern zu zahlen .
Anscheinend nehmen gerade die reichen Bundesländerdies gerne in Kauf, um im Steuerwettbewerb mit anderenBundesländern besonders attraktiv für Reiche und Unter-nehmen dazustehen .
Das ist nicht nur unfair gegenüber denjenigen, die ehr-lich ihre Steuern zahlen, sondern auch schlecht für dasGemeinwesen, weil Geld fehlt und die Steuermoral un-tergraben wird .
Ich weiß natürlich, dass in erster Linie die Länder fürden Steuervollzug zuständig sind und nicht der Bund .Deswegen lassen sich die genannten Probleme auch nichtdurch ein Bundesgesetz beheben .
Wir müssen sie aber trotzdem zu einem zentralen Aspektder Verhandlungen bei den Bund-Länder-Finanzbezie-hungen machen .Eine gute Lösung – dabei bleiben wir – wäre eine Bun-dessteuerverwaltung; ein guter erster Schritt wären aberschon einheitliche Standards bei der Personalausstattung .
Wenn die Bundesregierung in den Verhandlungen stattauf einen einheitlichen und gerechten Steuervollzug aberlieber auf mehr Kompetenzen beim Bau von Autobahnensetzt, dann zeigt das, was ihr wichtig und was ihr nichtso wichtig ist .
Die Bundesregierung verfolgt mit diesem Gesetz dasZiel, die unzureichende Personalausstattung durch denverstärkten Einsatz von Computerprogrammen zu kom-pensieren .
– Wir kommen schon noch dazu .
– Hören die doch einmal zu! Sie verstehen doch garnichts davon .
Das bisher geltende Prinzip der Gleichmäßigkeit derBesteuerung wird nun ergänzt um die Prinzipien derWirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit .
Dadurch wird der Vollzug der Steuergesetze noch stärkerabhängig vom vorhandenen Personalbestand: Habe ichzu wenig Personal, kann ich nicht mehr eine Gleichmä-ßigkeit der Besteuerung durchsetzen . Unter Wirtschaft-lichkeits- und Zweckmäßigkeitsaspekten nehme ich jetztmehr Computer, habe aber keinerlei Gelegenheit mehr,das mit Personal entsprechend zu begleiten .
Die Linke hält den Grundansatz des Gesetzentwurfesfür verfehlt . Ein gleichmäßiger und gesetzmäßiger Steu-ervollzug ist nur durch den verstärkten Einsatz von Com-putertechnologie und durch mehr Personal zu erreichen .
Wir haben heute also keinen guten, sondern einenschlechten Tag, weil mit diesem Gesetz nur der verstärk-te Computereinsatz und die Unterausstattung des Perso-nals in der Steuerverwaltung zementiert werden sollen .
Zu kurz kommt auch die Kontrolle . Die Risikopara-meter, die hier eingeführt werden, sind nicht einsehbar,sind sozusagen geheim . Wir als Gesetzgeber und dieÖffentlichkeit können nicht beurteilen, wie gut und wieschnell Steuerfälle wirklich bearbeitet werden . Selbst beider Festlegung von Mindeststandards bleibt der Bundes-tag außen vor . Deswegen glauben wir, dass ein Großteildes automatisch vollzogenen Steuervollzugs zu einerBlackbox wird, und das ist ein unhaltbarer Zustand .
Aus unserer Sicht ein weiterer Grund, den Gesetz-entwurf abzulehnen: Zukünftig soll bei verspätet abge-gebenen Steuererklärungen ein verpflichtender Zuschlagerhoben werden; Herr Michelbach hat das angesprochen .Zum Glück hat es eine Absenkung um die Hälfte gege-ben . Aber mit 25 Euro pro Monat ist der Säumniszu-schlag immer noch viel zu hoch, da er vor allen DingenSteuerpflichtige mit niedrigen und mittleren Einkommentreffen wird .Aus diesen Gründen werden wir den Gesetzentwurf –wir haben uns das lange überlegt – komplett ablehnen .Es gibt sicherlich auch positive Aspekte, beispielsweise,dass sich der Bund stärker in die Modellierung der Steu-ererhebung einbringen kann . Aber letztlich ist der zu-nehmende Computereinsatz ohne Personaleinsatz nichtzielführend und wird dazu führen, dass es um die Steuer-gerechtigkeit in unserem Land noch schlechter steht undder Steuervollzug nicht verbessert wird .Danke schön .
Dr. Axel Troost
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Das Wort hat der Kollege Frank Junge für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! HerrDr . Troost, Sie werden verstehen, dass ich das natürlichan vielen Stellen ganz anders sehe . Für mich ist das Steu-ermodernisierungsgesetz, das wir heute zu beschließenhaben, eine Möglichkeit, den Umgang mit dem Besteu-erungsverfahren endlich im 21 . Jahrhundert ankommenzu lassen .
Das sollten wir erst einmal zur Kenntnis nehmen .Um nicht mehr oder weniger geht es bei dem Gesetz,über das wir heute zu entscheiden haben . Wir schaffendamit die rechtliche Grundlage, die Voraussetzungenfür das vollelektronische Massenverfahren neben derherkömmlichen Bearbeitung der Steuererklärung in Pa-pierform . Wir bereiten den Weg dafür, dass durch ziel-gerichteten und umfassenden IT-Einsatz – das kam hierschon zur Sprache – die Automatisierungsquote von ak-tuell 3 Prozent auf circa 50 Prozent innerhalb von fünfJahren angehoben werden kann . Auf der einen Seite wer-den davon die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler profi-tieren, die bald weniger Aufwand haben, ihren steuerli-chen Pflichten nachzukommen, und ihren Steuerbescheidzukünftig viel schneller in der Hand halten werden . Aufder anderen Seite entlasten wir die Finanzverwaltungenvon Routineaufgaben . Das, Herr Dr . Troost, wird dazuführen, dass die gewonnene Kapazität in den Finanzäm-tern dafür genutzt werden kann, sich um komplexere undschwierigere Fälle zu kümmern . Das halte ich für einenZugewinn .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit das gelingt, istein automationsgestütztes Risikomanagement erforder-lich; das wurde hier schon angesprochen . Aber es ist auchnötig, dass die automationsgestützten Risikomanage-mentsysteme um eine automatische Bearbeitung ergänztwerden . Dazu passen wir die Amtsermittlungsgrundsätzean, die bisher aus Gleichmäßigkeit, Verhältnismäßigkeitund Gesetzmäßigkeit der Besteuerung bestehen . Wir er-gänzen sie um die sekundären Aspekte der Wirtschaft-lichkeit und Zweckmäßigkeit . Aus dem Zusammenspieldieser Grundsätze wird am Ende die Effizienzsteigerungerwachsen, von der wir uns viel versprechen .Allerdings muss ich anführen, dass die neu einzufüh-renden unbestimmten Rechtsbegriffe „Wirtschaftlich-keit“ und „Zweckmäßigkeit“ nach Ansicht meiner Frak-tion nur nachgeordnete Bedeutung haben dürfen
und sich nur auf die Verifikation der Angaben des Steuer-pflichtigen beziehen können. Die Berücksichtigung vonWirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit darf nicht dazuführen, dass die Ermittlung von steuerlich relevantenSachverhalten vernachlässigt wird
oder auf die Überprüfung der Einhaltung von steuer-rechtlichen Vorschriften verzichtet wird .
Herr Dr . Troost, vor diesem Hintergrund sind wir nachder ziemlich kontroversen Debatte in der Expertenanhö-rung in unserer Fraktion zu der Auffassung gekommen,dass der vorliegende Gesetzentwurf trotz der stärkerenBeachtung der Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte keineAbstriche an den rechtsstaatlichen Prinzipien nach sichzieht . Wir sehen uns in unserer Auffassung dadurch be-stärkt, dass das Bundesministerium der Justiz und fürVerbraucherschutz und das Bundesministerium des In-nern die gleiche Ansicht vertreten .
Mit diesem Gesetz räumen wir den Finanzämtern derLänder weitreichende Kompetenzen ein; dessen sindwir uns in der Fraktion bewusst . Meine Fraktion ist sichaber auch im Klaren darüber, dass die Finanzverwaltungdiese Handlungsspielräume braucht, um zukunftsfähigzu sein und ein serviceorientierter Partner für die Bür-gerinnen und Bürger zu sein, die hohe Ansprüche an dieFinanzverwaltung stellen . In diesem Verhältnis hat dieSPD-Fraktion im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrensinsbesondere dafür gesorgt, dass auch die Belange derSteuerpflichtigen nicht zu kurz kommen. So wurde aufunser Betreiben die Frist zur Abgabe der Steuererklärungfür alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verlängert .Ab 2017 werden – das war unser Bestreben – nicht nurdie beratenen Steuerpflichtigen, sondern ausnahmslosalle Bürgerinnen und Bürger zwei Monate mehr Zeit fürihre Steuererklärung haben .
Von dieser Fristverlängerung wird die Personengruppe,die ihre Steuererklärung selbst erstellt – sie umfasst circa11 Millionen Menschen –, profitieren.Bei einem weiteren Punkt konnte sich meine Frak-tion durchsetzen . Der nun im Gesetz verankerte auto-matische Verspätungszuschlag wird abgesenkt – HerrDr . Michelbach hatte darauf hingewiesen –; denn ichhabe schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfshier angemerkt, dass uns der Betrag von 50 Euro pro Mo-nat unverhältnismäßig hoch erscheint . Wir sind deshalb
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froh, dass wir uns darauf einigen konnten, den Betrag umdie Hälfte abzusenken und auf 25 Euro festzusetzen .
Lassen Sie mich noch einige Sätze zum Verspätungs-zuschlag sagen; ich beziehe mich da auf die derzeitigeöffentliche Berichterstattung . Es ist in der Tat so, dass derVerspätungszuschlag zukünftig zwingend für diejenigenfällig wird, die sich von einem Steuerberater oder einemLohnsteuerhilfeverein beraten lassen . Wenn jedoch keineSteuer festgesetzt wird oder wenn der Steuerpflichtigeeine Erstattung zu erwarten hat, dann muss bei verspä-teter Abgabe auch zukünftig kein Verspätungszuschlagerhoben werden .
Somit gibt es für die meisten Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer keinen Pflichtverspätungszuschlag. Glei-ches gilt für die Menschen, die nicht wussten, dass sieeine Steuererklärung hätten abgeben müssen . Hier habeich insbesondere die Rentner vor Augen, die durch eineRentenanpassung nach oben möglicherweise in die Steu-erpflicht rutschen.
Mit Blick auf die ziemlich verkürzte und stellenweisefalsche öffentliche Berichterstattung wollte ich auf diesePunkte noch einmal hinweisen .Zum Schluss will ich dir, liebe Margaret, und den Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesfinanzminis-teriums herzlich für die gute Zusammenarbeit danken .Sie war sehr konstruktiv . Am Ende sind aufgrund dieserZusammenarbeit insgesamt 24 Umdrucke mit Bereini-gungen, Vereinfachungen, Präzisierungen und Verbes-serungen entstanden, die in den Entwurf geflossen sind.
Sie machen den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zu ei-nem ausgewogenen Kompromiss zwischen den Interes-sen der Bürgerinnen und Bürger, der Finanzverwaltung,der Wirtschaft und der Branche der steuerberatenden Be-rufe . Aus diesem Grund bitte ich Sie um Zustimmung .
Das Wort hat der Kollege Dr . Thomas Gambke für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Rängen und mög-licherweise – bei einem solchen Thema vielleicht nichtallzu viele – draußen an den Fernsehschirmen! Herr Kol-lege Troost, Sie haben es vielleicht nicht so gemeint, aberes kam so rüber: Die Automatisierung von Verfahren unddie softwaregestützte Auswertung von Daten sind heuteunabdingbar
und dürfen nicht ausgespielt werden gegen die mangeln-de Personalausstattung, die Sie zu Recht kritisiert haben,und die fehlende Bundessteuerverwaltung . Wir brauchenzunehmend automatisierte Verfahren, weil wir sonst dieMenge an Daten, die auf uns zukommt, gar nicht bear-beiten können .
Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf hatte –Sie haben es gesagt – einen langen Vorlauf . Das merktman dem Gesetzentwurf an . Er enthält in der Tat eineReihe von guten Regelungen, auch Nachsteuerungen .Ja, es ist wirklich überfällig, dass Steuerverwaltung undSteuererklärung im digitalen Zeitalter ankommen .
Dass mit diesem Gesetzentwurf auch die Vernetzung von16 Landessteuerverwaltungen möglich wird, begrüßenwir ausdrücklich . Lassen Sie es mich also deutlich sagen:Dies ist ein wirklich wichtiger Schritt in Richtung Büro-kratievereinfachung durch digitale Technologien . WennSie das Gutachten des Normenkontrollrats vom letztenNovember noch im Kopf haben, erinnern Sie sich, dasser ausgeführt hat, dass der bürokratische Aufwand derBürgerinnen und Bürger und der Verwaltungen im digi-talen Zeitalter um ein Drittel verringert werden kann, undangesichts dessen muss man sagen: Dies ist nur ein ersterSchritt, aber ein wichtiger .Ich habe gerade auf die Chancen der digitalen Techno-logien hingewiesen . In diesem Zusammenhang muss ichauch klar sagen, dass wir dabei verantwortungsbewusstvorgehen müssen . An dieser Stelle, Herr Junge, müssenwir scharfe Kritik üben: Wieder einmal wurden bezüglicheines Gesetzentwurfs erhebliche verfassungsrechtlicheBedenken vorgetragen . Diese führen uns dazu, dass wirdiesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen können . Ichwill das ausführen: Herr Junge, Sie hatten gestern ebensowie ich und einige andere Kollegen die Gelegenheit, dieDiskussion im Finanzausschuss zu verfolgen . Man warsich dort unsicher, wie sich der Bundesjustizminister unddas Verbraucherministerium wirklich verbindlich geäu-ßert haben . Diese verbindliche Äußerung konnte in derSitzung nicht festgestellt werden . Angesichts dessen ver-stehe ich nicht, wie Sie einem Gesetzentwurf zustimmenkönnen, gegen den vorher doch erhebliche verfassungs-rechtliche Bedenken artikuliert wurden .
Worum geht es? Mit diesem Gesetzentwurf ergänzenSie in § 88 der Abgabenordnung die bisher einzuhalten-den Grundsätze – Gesetzmäßigkeit, Gleichmäßigkeit undVerhältnismäßigkeit des Steuervollzugs – um die Begrif-fe „Wirtschaftlichkeit“ und „Zweckmäßigkeit“ . Ich habedas heute noch einmal nachgelesen – ich habe mich erstheute wieder mit diesem Thema befasst, weil eigentlichFrank Junge
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Lisa Paus hier hätte stehen sollen, was ihr aus privatenGründen aber nicht möglich ist –: Der BFH-Richter Pro-fessor Brandt hat festgestellt, dass diese wenig präzisenBegriffe zu einem relativ großen Spielraum für die Exe-kutive führen und die Verfassungsfestigkeit des Gesetzesdeshalb möglicherweise nicht gegeben sein wird . SeinKollege Schmittberg vom Bund Deutscher Finanzrich-terinnen und Finanzrichter warnte vor der Gefahr einerverfassungswidrigen Verlagerung von Aufgaben des Ge-setzgebers auf die Verwaltung als Exekutive . Unisonounterstrichen die Experten, wie hochproblematisch dieEinführung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe ist, undempfehlen schlicht die Streichung .Wenn mit diesen Begriffen das Selbstverständlichegemeint ist – Verwaltungen sollen effizient arbeiten –,dann brauchen Sie das nicht explizit ins Gesetz zuschreiben . Wenn damit aber etwas anderes gemeint ist,dann muss das konkretisiert werden; denn sonst öffnendiese Begriffe die Tür für eine willkürliche und kreativeAuslegung durch die Exekutive . Bestenfalls würde dieKonkretisierung in den kommenden Jahren mühsam perEinzelentscheidungen durch die Gerichte vorgenommenwerden . Die Konkretisierung ist aber die Aufgabe desGesetzgebers . Das ist unsere Aufgabe .
Deshalb müssen wir das konkretisieren oder streichen .Sie bestehen darauf . Vermutlich liegt das an Ihrem man-gelnden Zutrauen in die Qualität der Risikomanagement-systeme .Leider ist meine Redezeit fast abgelaufen, aber ichmöchte doch noch sagen: Gerade die Punkte Softwareund Kontrolle der Software – wir haben das im Aus-schuss thematisiert – werden nach unserer Auffassungnur unzureichend abgebildet . Wir können das nicht derExekutive überlassen . Ich denke, dass wir an dieser Stel-le einen Mangel haben, der uns im digitalen Zeitalterweiter beschäftigen wird . Wir müssen uns das, was auto-matisiert abläuft, sehr genau anschauen und notwendigeFestlegungen vornehmen . Als Parlamentarier dürfen wiruns nicht zurückziehen und sagen: Das macht jetzt dieExekutive . – Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab .Vielen Dank, meine Damen und Herren, fürs Zuhören .
Das Wort hat die Kollegin Margaret Horb für die Frak-
tion der CDU/CSU .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für michals Christdemokratin gibt es drei wichtige Bücher: dasGrundgesetz, die Bibel und den Koalitionsvertrag,
und zwar in dieser Reihenfolge . Die ersten beiden ent-halten für uns Finanzpolitiker leider wenig Konkretes,anders hingegen der Koalitionsvertrag . Dort heißt es:Steuervereinfachung ist eine Daueraufgabe . Es istein wichtiges politisches Ziel, hier Schritt für Schrittvoranzukommen und dabei insbesondere auch dietechnischen Möglichkeiten der modernen Datenver-arbeitung zu nutzen .Genau das setzen wir heute um .Dieser Satz lenkt die Aufmerksamkeit genau auf einenAspekt, der häufig vernachlässigt wird: Vereinfachungfängt beim Verfahren an . Es sind vor allem bürokratischeund langwierige Verwaltungsabläufe, die für die Bürgerund für die Unternehmen ein Problem darstellen . WirSteuerpolitiker wissen das und gehen genau dieses Pro-blem heute an . Vereinfachung heißt nicht Vereinfachungnur für die Verwaltung, sondern Vereinfachung für alle .Steuervereinfachung für alle – das heißt zunächst ein-mal Vereinfachung für den ganz normalen Bürger . Sie er-halten nun zwei Monate länger Zeit, ihre Steuererklärungabzugeben . Bisher sah der Gesetzentwurf dies nur für diesteuerberatenden Berufe vor . Wir haben dies erweitert .Künftig haben zum Beispiel Ehepaare mit den Lohnsteu-erklassen III und V nicht nur bis zum 31 . Mai Zeit, ihreSteuererklärung abzugeben, sondern bis zum 31 . Juli .Wir regeln auch ganz klar, dass jeder Steuerpflichtigeweiterhin die Möglichkeit hat, seine Steuererklärung voneinem Finanzbeamten prüfen zu lassen . Wenn ein Steu-erpflichtiger also keine automatische Bearbeitung will,dann kann er auch weiterhin auf eine personelle Prüfungbestehen .Einen automatischen Verspätungszuschlag wird es nurunter sehr engen Voraussetzungen geben . Nur für denje-nigen, der zwingend eine Steuererklärung abgeben muss,zugleich länger als 14 Monate zur Erstellung seiner Steu-ererklärung braucht, zugleich keine Fristverlängerungbeantragt hat und zugleich Steuern nachzahlen muss,gibt es den automatischen Verspätungszuschlag . Für die-jenigen, die Steuern erstattet bekommen, bleibt es beider bisherigen Rechtslage . Für Rentner, die nicht wissen,dass sie abgabepflichtig sind, haben wir eine Billigkeits-regelung eingeführt .Vereinfachung für alle – das heißt auch Vereinfachungfür die steuerberatenden Berufe . Denn ohne diese würdeunser Steuersystem nicht funktionieren . Die Abgabefristfür vorab angeforderte Steuererklärungen haben wir da-her im Verfahren von drei auf vier Monate verlängert . DieFreizeichnung von Steuererklärungen haben wir deutlichentbürokratisiert . Die steuerberatenden Berufe erhaltenein Wahlrecht, ob sie ihren Mandaten die Daten vor odernach Übermittlung zum Finanzamt zur Verfügung stel-len . Zukünftig können Lohnsteuerhilfevereine und land-wirtschaftliche Buchstellen nicht mehr vom Finanzamtzurückgewiesen werden . Bisher galt diese Ausnahmere-Dr. Thomas Gambke
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gelung nur für die Steuerberater . Wir erkennen hiermitganz besonders auch die wertvolle und wichtige Arbeitder Lohnsteuerhilfevereine und der landwirtschaftlichenBuchstellen an .
Vereinfachung für alle heißt natürlich auch Verein-fachung für die Unternehmen . Wir geben ein klaresBekenntnis zur verbindlichen Auskunft ab . Wir wollen,dass die Unternehmen dieses Instrument effektiv nutzenkönnen, um vom Finanzamt schneller Rechtssicherheitund Planungssicherheit zu bekommen . In Zukunft gilt:Verbindliche Auskünfte sollen innerhalb von sechs Mo-naten bearbeitet werden . Ist die Finanzverwaltung nichtdazu in der Lage, müssen Gründe vorgelegt werden .Weiterhin haben wir eine unbürokratische Ermittlungvon Herstellungskosten eingeführt . Diese verankern wirrechtssicher in der Abgabenordnung .Die Grenze für die Kleinbetragsrechnungen erhöhenwir von 150 auf 200 Euro . Wir als CDU/CSU-Fraktionhatten 400 Euro im Blick, aber leider – das haben mirdie Kollegen der SPD wirklich glaubhaft versichert –liegt die Schmerzgrenze unseres Koalitionspartners bei200 Euro .Weitere Erleichterungen gibt es bei den verschiedenar-tigen Bezügen, bei der Anzeigepflicht nach dem Grund-erwerbsteuergesetz, bei dem Versand von Kapitalertrag-steuerbescheinigungen, bei den Bekanntgabefristen vonSteuerverwaltungsakten und bei der Rechtsbereinigungim Einkommensteuergesetz . Nicht einigen konnten wiruns mit der SPD leider auf die Absenkung der steuerli-chen Vollverzinsung . Damit müssen wir leben . Aber ichsage es einmal so: Herr Draghi macht auf mich nicht denEindruck, als wolle er die Niedrigzinsphase alsbald be-enden . Ich respektiere natürlich die Unabhängigkeit derEZB . Aber ich will nicht verhehlen, dass ich dies fürbrandgefährlich erachte . Auf jeden Fall stellt es uns po-litisch vor enorme Herausforderungen . Im Handelsrecht,im Steuerrecht, im Bereich der Altersvorsorge, überallholen uns die niedrigen Zinsen ein . Wenn der Marktzinsbei null liegt und die steuerliche Verzinsung, unter ande-rem auch die Vollverzinsung, bei 6 Prozent liegt, dannkann das auf Dauer nicht funktionieren . Ich sage uns vo-raus: Wir werden uns mit dieser Thematik beschäftigenmüssen, ob wir wollen oder nicht .Jetzt noch ein paar Klarstellungen zur Verfassungsmä-ßigkeit. Das federführende Bundesfinanzministerium hatden Gesetzentwurf juristisch geprüft . Das Bundesjustiz-ministerium hat den Gesetzentwurf verfassungsrechtlichgeprüft . Wir in der Koalition haben uns in einem Bericht-erstattergespräch nur mit dieser Frage beschäftigt, übri-gens unter intensiver Beteiligung von Steuerrechtlern .Das Ergebnis ist: Es gibt keinen Zweifel an der Ver-fassungskonformität des vorliegenden Gesetzentwurfes .Wir übernehmen zwei Begriffe – „Wirtschaftlichkeit“und „Zweckmäßigkeit“ – in die Abgabenordnung . DieseBegriffe sind in juristischen Kommentaren und anderenGesetzen bereits vollkommen üblich und etabliert . DerVersuch, mit minimalem Verwaltungsaufwand maxima-len fiskalischen Ertrag zu erzielen, ist rechtlich unzuläs-sig . Das bleibt auch weiterhin so .Selbstverständlich können die Grundzüge des Ri-sikomanagementsystems veröffentlicht werden, wenndadurch das Besteuerungsverfahren nicht beeinträchtigtwird . Die technische Prüfung von Steuererklärungenuntergräbt nicht die gleichmäßige und gesetzmäßigeBesteuerung . Das Gegenteil ist der Fall: Risikomanage-mentsysteme zeigen dem Bearbeiter, auch dem Finanzbe-amten, genau, wo er prüfen muss und wo es Ungereimt-heiten gibt . Sie sind deshalb eine wichtige Unterstützungim Hinblick auf ein gerechtes und gleichmäßiges Steuer-system in ganz Deutschland . Sie dienen nicht dem Perso-nalabbau; sie unterstützen das Personal .All das kann man wissen, wenn man mit Praktikernspricht . Ich habe in den letzten Monaten zahlreiche Ge-spräche geführt: mit Steuerberatern, Lohnsteuerhilfever-einen, landwirtschaftlichen Buchstellen, Unternehmenund auch mit Finanzbeamten . Zum Schluss war ich in denFinanzämtern Karlsruhe-Durlach, Heilbronn und Mann-heim . Alle sind sich einig, dass ein verstärkter IT-Einsatzim Besteuerungsverfahren sinnvoll und notwendig ist .Der Gesetzentwurf geht also in die richtige Richtung .Ich möchte mich ausdrücklich bei unserem Koali-tionspartner bedanken, ganz besonders bei dir, lieberFrank Junge . Zig Gespräche haben wir geführt, wir ha-ben es wirklich durchgeboxt, und es drang nichts nachaußen . Das ist wirklich eine Besonderheit . Dafür ganzherzlichen Dank!Mein Dank geht auch an das Bundesfinanzministeri-um, das uns in unzähligen Sitzungen und Einschätzun-gen mit seinem großen Sachverstand zur Seite gestandenhat . Herr Staatssekretär Spahn, ich möchte Sie bitten, dieherzlichsten Grüße und mein Dankeschön an Dr . Meisterund das ganze Haus zu übermitteln .Schlussendlich möchte ich auch meinen Mitarbeiternund den wissenschaftlichen Mitarbeitern insgesamt dan-ken, stellvertretend Herrn Sebastian Wüste und HerrnStephan Rochow .Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Ge-setzentwurf ist die größte Reform des Steuerverfahrensseit 40 Jahren . Wir haben zusätzlich spürbare Vereinfa-chungen für Bürger, Unternehmen und Berater durchge-setzt. Dieses Gesetz macht unser Steuerverfahren effizi-enter, schneller und serviceorientierter, und zwar für alle .Kurz vor Beginn der Fußballeuropameisterschaft sageich es einmal so: Wir haben den Ländern eine wunderba-re Vorlage geliefert; sie müssen den Ball im Steuervoll-zug jetzt nur noch ins Tor schießen .Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Jens Zimmermann fürdie SPD-Fraktion .
Margaret Horb
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-
ren! Ich glaube, an der Rede von Frau Kollegin Horb und
auch an der von meinem Kollegen Frank Junge hat man
gesehen, dass wirklich viel Arbeit und viel Herzblut in
diesem Gesetz stecken, auch wenn man dies, wenn man
vom Steuermodernisierungsgesetz hört, erst einmal nicht
glauben mag . Vielen, vielen Dank . Ich glaube, wir vom
Finanzausschuss wissen alle, dass wir häufig mit sperri-
gen und technischen Gesetzesnamen umgehen müssen;
aber – das ist in den vorangegangenen Reden schon deut-
lich geworden – wir reden hier über ein Gesetz, das fast
jeden in unserem Land betrifft, denn es geht zu einem
großen Teil um die Steuererklärungen .
Ich will eines sagen: Selbst bei mir zu Hause war die-
ses Gesetz am Wochenende am Frühstückstisch Thema,
und ich habe es nicht angesprochen . Es wurden Befürch-
tungen laut: Oje, ich muss mich mit meiner Steuererklä-
rung beeilen, sonst muss ich 50 Euro Säumniszuschlag
zahlen . Daraufhin habe ich gesagt: Nein, die SPD hat
durchgesetzt, dass es nur 25 Euro sein müssen .
Da habe ich am Wochenende schon einmal gute Karten
zu Hause gehabt . Das hat aber nicht lange geholfen . Ich
konnte dann aber noch nachlegen und sagen: Außerdem
gibt es noch eine Verlängerung um zwei Monate .
Aber Spaß beiseite . Wir haben es in der Debatte schon
deutlich gemacht: Das betrifft einen kleinen Teil der
Menschen, und es sorgt für mehr Klarheit . Bisher war in
vielen Fällen nicht sicher, ob ein Säumniszuschlag ge-
zahlt werden muss . Die Antwort auf die Frage, ob ja oder
nein, lag in der Macht des Finanzamtes . Jetzt haben wir
eine klare und transparente Regelung, die für alle glei-
chermaßen gilt . Ich glaube, hier haben wir eine vernünf-
tige Regelung gefunden .
Da wir uns im Ausschuss Digitale Agenda kürzlich mit
dem Vorsitzenden des Normenkontrollrates getroffen ha-
ben, will ich hier noch einmal Folgendes feststellen . Der
Normenkontrollrat hat sich intensiv mit dem Gesetzent-
wurf beschäftigt und kommt zu folgender Einschätzung:
Der Normenkontrollrat begrüßt den Abbau rechtlicher
Hindernisse für elektronische Verfahren und die Verbes-
serung einer medienbruchfreien elektronischen Kommu-
nikation . Durch den Abbau von Schriftformerfordernis-
sen im Verwaltungsverfahren wird beispielsweise die
medienbruchfreie Abwicklung von Verwaltungsprozes-
sen unterstützt, und der Einsatz von E-Government wird
attraktiver .
Ich finde, das ist an dieser Stelle hervorzuheben; denn
auch der Normenkontrollrat setzt sich immer sehr kri-
tisch mit den Gesetzesvorhaben auseinander . Deswegen
ist dieses Lob aus diesem Munde wirklich etwas, das wir
uns auf die Fahne schreiben können .
Zum Abschluss will ich feststellen: Es ist einfach
wichtig, dass wir im Verwaltungsbereich und auch im
Steuerbereich im 21 . Jahrhundert ankommen . Es ist
einfach nicht verständlich, dass heutzutage jemand, der
beispielsweise seine Steuererklärung seit vielen Jahren
am Computer, zum Beispiel mit Elster, macht, noch al-
les ausdrucken und unterschreiben muss . Dann müssen
noch alle Belege zusammengesucht werden . Hier sind
wir auf dem richtigen Weg, dass all dies endgültig elek-
tronisch ablaufen kann . Ich glaube, das ist wirklich eine
gute Nachricht . Deswegen ist das auch ein gutes Gesetz .
Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurModernisierung des Besteuerungsverfahrens . Der Fi-nanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/8434, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf Drucksache 18/7457 in der Ausschussfas-sung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen angenommen .Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen .Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/8436 . Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen abgelehnt .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung soldatenbeteiligungs- und personalver-tretungsrechtlicher VorschriftenDrucksache 18/8298Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
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Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Bundes-ministerin der Verteidigung, Dr . Ursula von der Leyen .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesungden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung soldatenbetei-ligungs- und personalvertretungsrechtlicher Vorschriften .Wir alle wissen, dass die Bundeswehr, wie alle Armeen,auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam basiert . Aberunsere Soldatinnen und Soldaten sind selbstverständ-lich nicht nur einfache, gehorsame Befehlsempfänger,sondern durch das Prinzip der Inneren Führung werdenunsere Soldatinnen und Soldaten zugleich auch zu Teil-habern und Akteuren in den demokratischen Prozesseninnerhalb der Bundeswehr gemacht, und uns ist sehr da-ran gelegen, die Soldatinnen und Soldaten als Staatsbür-ger in Uniform auch dazu anzuregen, den Truppenalltagganz aktiv mitzubestimmen .Heute geht es um den gesetzlichen Rahmen der Mit-bestimmung. Ich finde, es lohnt sich immer wieder, sichfür einen Moment noch einmal vor Augen zu führen, wasfür ein zentraler Baustein unseres Landes die Mitbestim-mung ist . Sie ist der prägende Baustein für die Erfolgs-geschichte der Bundesrepublik Deutschland, nämlichprägend für die soziale Marktwirtschaft. Ich finde, manmerkt, dass die soziale Marktwirtschaft insbesonderedurch die Mitbestimmung ihre besondere Nuance oderFarbe bekommen hat; denn dadurch ist es in unseremLand möglich, unterhalb des dann doch relativ grobenKeils der Gesetzgebung eine filigrane, verfeinerte Ab-stimmung bis herunter auf die Betriebsebene zu ermög-lichen, wodurch beide Interessen in Ausgleich gebrachtwerden können, weshalb man meistens einen sehr vielbesseren Konsens erreicht, der sehr viel näher an denMenschen dran ist, als das jemals durch ein Gesetz mög-lich wäre .Hier bei uns geht es heute deshalb darum, die Mitbe-stimmung gesetzlich neu zu fassen . Gerade bei Organisa-tionen wie der Bundeswehr, die sich innerhalb der letzten25 Jahre enorm verändert hat und von deren Angehörigenein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilitätverlangt wird, ist es für uns wichtig, die Rahmenbedin-gungen für ein solches Mitbestimmungsgesetz modernzu halten . Deshalb ist im Koalitionsvertrag verankert,dass das Soldatenbeteiligungsgesetz – immerhin von1991, zuletzt 1997 novelliert – grundlegend neu gefasstund an die Realitäten des 21 . Jahrhunderts angepasstwerden soll .Sie kennen die Themen, die enorme Veränderungs-prozesse mit sich gebracht haben: das Aussetzen derWehrpflicht – wir haben heute eine Armee von Freiwilli-gen –, die Selbstverständlichkeit, mit der wir inzwischenAuslandseinsätze diskutieren, und natürlich die vielenReformen der Bundeswehr . Das alles hat dazu geführt,dass wir die rechtlichen Strukturen der Beteiligung undMitbestimmung jetzt dringend renovieren müssen .Uns war bei der Bearbeitung des Gesetzentwurfes, derMitbestimmung als Kern hat, natürlich die Beteiligungder Akteure enorm wichtig . Deshalb waren in der zustän-digen Arbeitsgruppe Angehörige aller Personalvertretun-gen im Geschäftsbereich des Verteidigungsministeriumsselbstverständlich mit vertreten . Uns war es vor allemwichtig, die Erfahrungen, aber auch die Erwartungen derVertrauenspersonen – das ist etwas ganz Besonderes inder Bundeswehr – mit in den Gesetzentwurf einfließenzu lassen . Denn das sorgt für die nötige Praxisnähe . DieVertrauenspersonen haben gewissermaßen permanent ih-ren Finger am Puls der Truppe .Was sind die zentralen und wichtigsten Punkte desGesetzentwurfes? Wir stärken die Position der Vertrau-enspersonen . Wir verlängern ihre Amtszeit von zwei aufvier Jahre . Das fördert die Kontinuität . Wir verbesserndie Ausstattung. Ich finde, wenn man gute Arbeit leistenmöchte, dann muss auch das Material, mit dem man seineArbeit verrichtet, gut sein . Wir führen eine Aufwandsent-schädigung für freigestellte Mitglieder der Vertrauens-personenausschüsse und Sprecher der Versammlungenneu ein . Der Versetzungsschutz wird weiterentwickelt .Es gibt auch die Möglichkeit, neben Sprechstunden inZukunft auch Versammlungen abzuhalten und – das findeich enorm wichtig – sich weiterzubilden . Die Vertrauens-personen sind genau die Scharniere zwischen Truppe undDienstherr und müssen dementsprechend immer à joursein .Ein weiterer großer Punkt: Wir erweitern und schaf-fen eine Vielzahl von Beteiligungstatbeständen . Künftigbesteht ein Recht auf Mitbestimmung bei der Festlegungder regelmäßigen Arbeitszeit, bei Maßnahmen, die derFörderung von Dienst und Familie dienen, und bei Maß-nahmen der Berufsförderung . Es wird darüber hinaus einRecht auf Anhörung geben, etwa bei der Gestaltung derdienstlichen Unterkünfte oder bei Themen wie der Ge-nehmigung von Telearbeit . Ich kenne aus dem Alltag dieSperrigkeit von Verwaltung und weiß, wie wichtig solcheRechte der Anhörung sind, um Bewegung und Flexibili-tät in den Alltag zu bekommen .Meine Damen und Herren, ein modernes Beteili-gungsrecht, das wir Ihnen heute zur Beratung vorlegen,kennzeichnet nicht zuletzt den Dienstherrn als modernenund attraktiven Arbeitgeber . Insofern bitten wir um wohl-wollende Beratung .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die
Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau vonder Leyen, es ist mir wichtig, ganz zu Beginn zu sagen:Hier geht es nicht um die Agenda Attraktivität, sondernVizepräsidentin Petra Pau
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hier geht es um die Rechte der Soldatinnen und Soldaten .Diese müssen gestärkt werden .
Der Bundesrat hat den Entwurf einer Neufassungdes Soldatenbeteiligungsgesetzes an den Bundestag zurBeratung weitergeleitet . Worum geht es? Das Soldaten-beteiligungsgesetz, das die Mitbestimmung der Bundes-wehr seit 1991 regelt, erfüllt die Anforderungen nichtmehr, weil die Bundeswehr zu einer Armee im Einsatzumgebaut wurde und weil die Einsätze selbst neue An-forderungen geschaffen haben . Wir Linke lehnen dieseAusrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze ab .
– Es ist gut, dass Sie sich das gemerkt haben . – Dass Sol-datinnen und Soldaten als Beschäftigte eine Interessen-vertretung brauchen, haben wir als Linke hingegen im-mer unterstützt und werden wir auch weiter unterstützen .
Wir unterstützen es beispielsweise, wenn sich der oderdie Einzelne gegen die Willkür von Vorgesetzten zurWehr setzt, genauso wie wir die Möglichkeiten der Be-fehlsverweigerung aus Gewissensgründen der einzelnenSoldatinnen und Soldaten immer unterstützen .Zahlreiche Fälle, gerade aus den beweglichen Ein-heiten der Bundeswehr, führen uns immer wieder vorAugen, wie sehr die Struktur der Personalvertretung inder Bundeswehr für den oder die Einzelne bitter nötigist . Fälle von Missbrauch der Befehlsgewalt durch Vor-gesetzte, Mobbing – man muss nur den Jahresbericht desWehrbeauftragten lesen – sind viel zu oft gang und gäbe .
Uns selbst sind Fälle bekannt, in denen Vertrauens-personen eingeschaltet wurden und auch erfolgreichwaren, beispielsweise um berechtigte Urlaubsansprüchedurchzusetzen . Aber es gibt auch Bereiche, in denen dieVertrauenspersonen, zum Beispiel im Konflikt um Beur-teilungen, die dann die Grundlage für die Eingruppierungund auch die Beförderung sind, nicht erfolgreich interve-nieren konnten . Das heißt, die Frage ist: Wie weit wer-den die Rechte der Vertrauenspersonen im Konfliktfallgehen?Wir sind, wie gesagt, für die Verbesserung der Mitbe-stimmung . Die gesetzliche Verankerung der Vertrauens-personenausschüsse scheint hierfür ein richtiger Schrittzu sein, ebenso die nunmehr garantierte Anwesenheitvon Gewerkschaftsvertretern in einer Dienststelle . Aberwir sind mit der jetzt gegebenen Möglichkeit nicht ein-verstanden, dass Vertrauenspersonen unter Umständenversetzt werden können . Denn dadurch bekäme der Vor-gesetzte wieder ein Druckmittel in die Hand, was demauch im Gesetzentwurf niedergelegten Schutz der Ver-trauensperson widerspricht .In diesem Sinne teilen wir die Anforderungen vonVerdi an das Gesetz . Verdi mahnt, sich bei den Vertrau-enspersonen an den Beteiligungsrechten, wie sie auch inden Personalräten gelten, zu orientieren . Diese Rechtesind nämlich weiter gehend .Verdi fordert ein, die Beteiligungsrechte von Soldatenzu verbessern, ohne dabei direkt oder indirekt die Rech-te der zivilen Beschäftigten zu beschneiden, und Verdimahnt an, dass bei der Größe und Zusammensetzung derGremien die Zahl der Soldaten auf die Zahl der stärkstenzivilen Gruppe gedeckelt wird .Lassen Sie mich zum Schluss noch eine grundsätz-liche Frage stellen . Karsten Mauersberger, der Referentim Führungsstab der Streitkräfte, Referat „Innere undsoziale Lage der Streitkräfte“, ist, schreibt, dass die Be-teiligungsrechte auch bisher nicht immer vorbehaltlosangewendet wurden und Partizipation von einigen alsunmilitärisch abgetan wurde . Die Frage ist also, wie einKlima zu schaffen ist, in dem diese Rechte unmissver-ständlich wahrgenommen werden können .Die zweite Frage ist: Wie wollen Sie verhindern, dassdie dazugewonnenen Rechte im Einsatz mit dem Verweisauf den Vorrang der Auftragserfüllung abgewimmeltwerden? In § 53 des Gesetzentwurfs heißt es:Die Ausübung von Beteiligungsrechten in besonde-ren Verwendungen im Ausland erfolgt unter Beach-tung des Vorrangs der Auftragserfüllung der Streit-kräfte und … der Sicherheit der Soldatinnen undSoldaten nach Maßgabe dieses Gesetzes .Wir befürchten, dass dieser Paragraf im Ernstfall einBlankoscheck für die Aushebelung von Beteiligungs-rechten werden kann .
Wir sind der Meinung, dass die Rechte der Beschäf-tigten gestärkt werden müssen . Wir werden uns an demProzess der weiteren Ausarbeitung selbstverständlich be-teiligen . Wir werden auch weitere Betroffene nach ihrerMeinung fragen, und wir werden auch sicherstellen, dassdieses Gesetz tatsächlich die Rechte der Beschäftigtenwahrnimmt, statt im Rahmen der Rekrutierungsoffen-siven für die Bundeswehr instrumentalisiert zu werden .Die lehnen wir nämlich ab .Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Gabi Weber
von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Verteidigungsministerin, alsChristine Buchholz
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Sie eben Ihre Rede begonnen haben, habe ich gedacht:Willkommen bei uns in der SPD! Denn so wie Sie dieErrungenschaften der Mitbestimmung für die sozialeMarktwirtschaft geschildert haben, können wir nur un-terschreiben, was das für einen Stellenwert hat .Ich wollte meine Rede eigentlich damit beginnen,dass beinahe jeder im Saal bereits mit dem Betriebs-verfassungsgesetz oder dem PersonalvertretungsgesetzKontakt hatte, weil diese Gesetze selbstverständlicherBestandteil unseres Wirtschaftslebens und unseres Ar-beitslebens geworden sind
und von daher auch für uns als Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer – auch ich war früher eine ganz normaleArbeitnehmerin –, wie wir uns auch mit unserem jeweili-gen Arbeitgeber auseinandergesetzt haben .
Angesichts der Tatsache, dass mit diesen Gesetzen dasVerhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmernmit ganz bestimmten Möglichkeiten versehen wird unddass es möglich ist, konkrete Mitbestimmungstatbestän-de in Form von Betriebsvereinbarungen festzulegen undVorschläge aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer zu machen, die zu Verbesserungen im Arbeitspro-zess führen, war es überfällig, dass wir das Soldatenbe-teiligungsgesetz endlich an die Möglichkeiten anpassen,die die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in derprivaten Wirtschaft bereits haben . Das war überfällig .
Gestatten Sie mir noch einen Hinweis . Die Krise 2008im Wirtschaftsleben dieser Republik ist zum großen Teildeshalb glimpflich und ohne Arbeitsplatzverluste imgrößeren Stil verlaufen, weil es das Vorschlagsrecht derBetriebsräte gab, die als Komanager daran mitgearbeitethaben, dass wir heute in dieser Republik wirtschaftlichso gut dastehen .
– Das wurde aber auch von den Menschen erreicht, die inden Betrieben ganz stark um ihre Arbeitsplätze gekämpfthaben .
Jetzt sollen die Soldatinnen und Soldaten ebenfallsstarke neue Mitwirkungsrechte bekommen .Wenn wir uns die Verhältnisse in der Bundeswehrgenau anschauen und zurückblicken, dann stellen wirfest: Im militärischen Dienstverhältnis stehen die de-mokratisch verbrieften staatsbürgerlichen Rechte jedesEinzelnen dem generellen Prinzip von Befehl und Ge-horsam gegenüber; das darf man nicht vergessen . Hierschlagen sich die Weisungen und Vorgaben des Arbeit-gebers noch deutlich stärker nieder . Um die richtige Ba-lance zu gewährleisten, also die individuellen Rechte sowenig wie möglich durch die Zwänge einer militärischenOrganisation einzuschränken, regelt das Soldatengesetzdie Rechtsstellung der Soldaten und Soldatinnen und be-stimmt die Rechte und Pflichten. § 35 dieses Gesetzesbestimmt, dass Soldaten und Soldatinnen schon jetzt beiDienstentscheidungen zu beteiligen sind . Konkret wurdedas aber tatsächlich erst umgesetzt mit dem ersten Solda-tenbeteiligungsgesetz 1991 . Es ist spannend, nachzuvoll-ziehen, was passiert ist, als sich damals der Bundestagdamit befasst hat . Es lohnt sich manchmal, zurückzubli-cken .Dem Bundestag war klar, dass die Soldatinnen undSoldaten „die gesellschaftliche Werteordnung, die sie zuverteidigen haben, auch im täglichen Dienst erleben“ sol-len . Weiter heißt es:Dazu gehört die Möglichkeit, Beteiligungsrechtewahrzunehmen . Diese entsprechen in den Streit-kräften gegenwärtig– also am Ende der Blockkonfrontation –nicht mehr dem allgemeinen Stand der Entwicklungin der Gesellschaft .Bis zu diesem Zeitpunkt war eine Vertretung und Mit-sprache der Soldaten durch gewählte Vertrauenspersonenunmöglich . Das ist für mich als Gewerkschafterin, dieselbst über 30 Jahre für stärkere Beteiligungsrechte vonArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gekämpft hat,kaum nachvollziehbar . Immerhin zählen die Prinzipiender Inneren Führung und des Bürgers in Uniform zu denGrundlagen der Bundeswehr seit ihrer Gründung 1956 .Da ist es gut und selbstverständlich, allen Bürgern undBürgerinnen – ob in Uniform oder ohne Uniform – dieWahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen .Mit der Neufassung von April 1997 wurden – die Mi-nisterin hat vorhin darauf hingewiesen, dass es schonzwei Schritte gegeben hat – die Stellung der Vertrau-enspersonen sowie ihre qualitativen und quantitativenBeteiligungsmöglichkeiten besonders in Personalangele-genheiten gestärkt . Wichtig war damals zudem, dass dieVertreter der Soldaten und Soldatinnen in den Personalrä-ten mit den Vertretern der zivilen Beschäftigten gleichge-stellt wurden und damit ihre Mitwirkungsmöglichkeitenin diese demokratischen Gremien hineingetragen wur-den . Die Ausgewogenheit zwischen den Anforderungendes militärischen Dienstes und der Verwirklichung derGrundsätze der Inneren Führung wurde damit gewähr-leistet .Mit dem nun eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur erneuten Anpassung des Soldatenbeteiligungsgeset-zes werden wir ein Vorhaben unseres Koalitionsvertra-ges erfüllen . Seit der letzten Novellierung – darauf habenschon zwei Redner hingewiesen – haben sich die Struk-turen der Bundeswehr und ihre Aufgaben deutlich verän-dert. Die Wehrpflicht wurde mittlerweile ausgesetzt, unddie Aufgaben der Bundeswehr wurden vielfältiger . Mili-tärisches und ziviles Personal arbeiten enger zusammendenn je . Das macht an manchen Stellen neue Regelungennotwendig . Der Einsatzbezug hat sich deutlich verstärkt .Besonders aber durch die Auslagerung von Aufgabenund damit auch von Personal in die Kommandos der mi-Gabi Weber
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litärischen Organisationsbereiche hat sich ein deutlicherBedarf an erneuter Gesetzesanpassung ergeben .Nun ein paar Beispiele, die deutlich machen, was sichdurch dieses Gesetz verändern wird . Es gibt nun einenAbschnitt – das ist ab § 19 –, der die Mitbestimmungregelt . Diese Regelungen orientieren sich stark am Be-triebsverfassungsgesetz und am Bundespersonalvertre-tungsgesetz . Das wird zum Beispiel dadurch deutlich,dass die Vertrauensperson „zur verantwortungsvollenZusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Untergebe-nen sowie zur Festigung des kameradschaftlichen Ver-trauens“ und zu einer vernünftigen Arbeitsorganisationbeitragen soll . Weiter heißt es:Vertrauensperson und Disziplinarvorgesetzte oderDisziplinarvorgesetzter arbeiten im Interesse derSoldatinnen und Soldaten des Wahlbereiches undzur Erfüllung des Auftrages der Streitkräfte mit demZiel der Verständigung eng zusammen .Dann kommt das, was mir besonders am Herzen liegt:Die Vertrauensperson hat folgende allgemeine Auf-gaben:1 . Maßnahmen zu beantragen, die der Dienststelleund ihren Soldatinnen und Soldaten dienen,2 . darüber zu wachen, dass die zugunsten der Sol-datinnen und Soldaten geltenden Gesetzes, Verord-nungen und Vorschriften durchgeführt werden . . .– dieser Punkt ist mir besonders wichtig –4 . sich dafür einzusetzen, dass die Vereinbarkeit vonFamilie und Dienst gefördert wird und5 . auf die Verwirklichung der Ziele des Soldatinnen-und Soldatengleichbehandlungsgesetzes sowie desSoldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetzeshinzuwirken .Frau Buchholz, ich glaube schon, dass sich die Attrakti-vitätsagenda der Bundeswehr auch in diesem Gesetz undin solchen Formulierungen niederschlägt .
Ich glaube durchaus, dass mit solchen Möglichkeitenein Meilenstein auch für Frauen in der Bundeswehr ge-setzt worden ist; denn in dem Moment, in dem man ge-zwungen ist, darauf wirklich stärker zu achten, und manauch die gesetzliche Vorgabe hat, haben diejenigen, dieVertrauenspersonen sind, eine andere Handhabe .
Das Gleiche gilt für den Punkt, in dem die Mitspra-cherechte bei Versetzungen wesentlich gestärkt werden .Auch das ist ein Beitrag zur Erhöhung der Attraktivitätder Bundeswehr . Ich denke, dass ein Arbeitgeber, derseinen Angestellten, auch den militärischen, eine ent-scheidende Mitsprache über grundsätzliche persönlicheLebensentscheidungen einräumt, sicher als attraktiverArbeitgeber wahrgenommen wird .Der vorliegende Entwurf ist von der Aufteilung herklarer gefasst als vorher . So werden nun bereits zuvoruntergesetzlich vorgenommene Änderungen in Geset-zesform gegossen . Den vorliegenden Entwurf werdenwir gern in die Ausschüsse mitnehmen . Für die guteVorbereitung durch das Verteidigungsministerium unddie beteiligten Ressorts sowie die konstruktive Zusam-menarbeit im Vorfeld bedanke ich mich . Ich bin trotzdemsicher, dass dieses Gesetz auch nach unserer Beratungnoch an einigen Stellen verändert werden wird – wie, daswerden wir dann gemeinsam erarbeiten .Lassen Sie uns deshalb im Ausschuss kollegial undkonstruktiv an der Verbesserung des Soldatinnen- undSoldatenbeteiligungsgesetzes arbeiten – im Sinne unsererSoldaten und Soldatinnen, aber auch mit Rücksicht aufihre zivilen Kolleginnen und Kollegen; denn mittlerweilehaben wir beispielsweise allein im Verteidigungsministe-rium ein Verhältnis von etwa 560 Soldaten zu 516 zivilenBeschäftigten . Da ist Sorgfalt und Fingerspitzengefühlim Umgang mit dem Personal absolut notwendig . DiesesGesetz kann dazu einen Beitrag leisten .Danke .
Als nächste Rednerin hat Doris Wagner von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Mi-nisterin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es wird oftbehauptet, die Opposition kritisiere nur um des Kritisie-rens willen .
Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der Fall . Gesetze,die dazu beitragen, unsere Gesellschaft demokratischer,gerechter und moderner zu machen, finden immer unse-re Zustimmung . So ist auch die vorgeschlagene Neufas-sung des Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetzesgrundsätzlich sehr zu begrüßen .Wie jeder andere Arbeitgeber profitiert auch die Bun-deswehr davon, wenn das Personal mitbestimmen darf .Aus der Organisationsforschung wissen wir: Wenn Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter an einer Entscheidung mit-wirken, kommt meist ein besseres Ergebnis zustande, alswenn der Chef den Alleinherrscher gibt . Für die Bundes-wehr hat die Beteiligung der Soldatinnen und Soldatennoch eine weitere, ganz besondere Bedeutung . Sie machtnämlich das Prinzip der Inneren Führung im Dienstalltagganz konkret erlebbar .
Die Soldatinnen und Soldaten sollen eben keine reinenBefehlsempfänger sein, sie sollen ihren Verstand nichtam Kasernentor abgeben . Sich als Vertrauensperson fürdie Belange der Kolleginnen und Kollegen einzusetzen,ist eine wichtige Möglichkeit, der Bundeswehr einen kri-tischen Spiegel vorzuhalten . Deshalb ist es richtig, dassdie Stellung, die Aufgaben und die Rechte der Vertrau-Gabi Weber
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enspersonen in dem neuen Gesetz deutlich gestärkt wer-den .Zwei dieser gesetzlichen Neuerungen halte ich für be-sonders wichtig .Zum ersten Mal seit Gründung der Bundeswehr sollendie Vertrauenspersonen ausdrücklich die aktive Wach-und Kontrollfunktion einnehmen . Wir hätten damit demVorgesetzten gegenüber endlich einen umfassenden An-spruch auf Information und Unterrichtung . Das ist einwirklicher Fortschritt .Zum Zweiten: Die Regelungen, denen die Vertrauens-personen zustimmen müssen, bevor sie in Kraft treten,werden deutlich ausgeweitet, beispielsweise Regelungenzur Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage oderauch zur Berufsförderung . So kann die Vertrauenspersonwirksam dafür sorgen, dass die Interessen der Soldatin-nen und Soldaten angemessen berücksichtigt werden .Dadurch wird die Bundeswehr demokratischer und ge-rechter, und das ist auch gut so .Doch den Mut zu einer weitergehenden Soldatinnen-und Soldatenbeteiligung hat die Bundesregierung dannoffenbar leider nicht mehr gehabt . Stattdessen verle-gen Sie sich in Ihrem Gesetzentwurf dann noch auf einpaar Halbheiten . Frau Ministerin, ich teile Ihre Meinungnicht, dass die Verlängerung der Amtszeit der Vertrau-ensperson von zwei auf vier Jahre ein guter Vorschlagist . Solch eine lange Amtszeit widerspricht doch völligden Realitäten des Dienstes, der ja geprägt ist von kurzenStandzeiten und ständigen Versetzungen .
Unverständlich ist mir auch, warum der Vertrauens-personenausschuss beim Kommando Heer von bisher 17auf nun 11 Mitglieder verkleinert werden soll . Auf deranderen Seite werden die neuen Ausschüsse auf Ebeneder Großverbände personell unnötig aufgeblasen . Wes-halb soll die Vertrauensperson künftig erst dann in einSchadensersatzverfahren gegen eine Soldatin oder einenSoldaten einbezogen werden, wenn der Schaden einenWert von 500 Euro übersteigt? Für einen einfachen Ma-trosen oder Panzergrenadier sind schon 150 Euro einStreitwert, bei dem die Unterstützung der Vertrauensper-son hochwillkommen ist . Offenbar haben die gutbezahl-ten Herren und Damen im Verteidigungsministerium hierschon etwas den Bezug zur Realität verloren .
Da werden wir im Ausschuss noch einiges zu klären ha-ben, Herr Kollege Gädechens .Abschließend, werte Kolleginnen und Kollegen, istmir noch eines ganz besonders wichtig: Das beste Ge-setz bringt nichts, wenn es nicht umgesetzt wird . DieseErkenntnis ist wahrlich nicht neu; aber leider steht zubefürchten, dass zu einer echten Stärkung der Soldatin-nen- und Soldatenbeteiligung mehr nötig wird als nurein Papier mit neuen Paragrafen, siehe die Soldaten-arbeitszeitverordnung . Das Verteidigungsministeriumselbst hat uns erst im Herbst ein Beispiel dafür geliefert,wie die Beteiligungsrechte der Soldatinnen und Solda-ten missachtet werden . Erst vor kurzem sagte mir eineVertrauensperson, ob die Mitbestimmung in der Praxiswirklich gut funktioniere, hänge völlig von der oder demjeweiligen Vorgesetzten ab . Deshalb müssen Sie, FrauMinisterin, in meinen Augen dafür sorgen, dass künftigalle Disziplinarvorgesetzten eine intensive Schulung zurSoldatinnen- und Soldatenbeteiligung am Zentrum Inne-re Führung absolvieren .
Machen Sie diesen Kurs in Soldatinnen- und Soldatenbe-teiligung doch einfach zum Pflichttor. Damit zeigen Sieallen Angehörigen der Bundeswehr, dass Innere Führungfür Sie mehr als nur eine wohlklingende Floskel ist .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Ingo
Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn mandie Diskussion hier so verfolgt, dann bekommen die In-sider den Eindruck, dass das Soldatenbeteiligungsgesetzder Kernpunkt unserer Diskussion im Verteidigungsaus-schuss in den vergangenen Wochen und Monaten war .Die Wahrheit ist, dass die Schlagzeilen anders geprägtwaren . Ich habe keine Schlagzeile wie „Wir wollen einneues Soldatenbeteiligungsgesetz“ gelesen . Vielmehrwar die Rede davon, dass wir eine Trendwende herbei-geführt haben, dass die Bundesverteidigungsministerindie Bundeswehr aufstocken will . Ich darf sagen, dass dieCDU/CSU-Fraktion das nicht nur für richtig, sondernauch für ausgesprochen wichtig hält . Angesichts der Ein-satzszenarien der Bundeswehr und der Sicherheitssitua-tion, in der sich die Welt befindet, ist das eine zwingendnotwendige Maßnahme .
Aber es geht nicht nur darum, neue Menschen dafürzu begeistern, ihren Dienst in der Bundeswehr zu leis-ten, sondern es geht auch darum, dass wir uns um dieMenschen kümmern, die bereits heute ihren Dienst in derBundeswehr und damit ganz automatisch einen Dienstfür unsere Demokratie leisten . Es geht um Wertschät-zung, und es geht darum, dass wir die in der Bundeswehrdienstleistenden Soldatinnen und Soldaten ernst nehmen .Mitbestimmung ist gerade in einer soldatischen Weltmanchmal mühsam . Glauben Sie mir, ich weiß als einer,der lange in dieser Bundeswehr gedient hat, wovon ichrede . Mitbestimmung ist aber keine Schwäche, sondernsie kann, richtig angewandt, zu einer besonderen Stärkewerden . Dies gilt umso mehr, da die Bundeswehr nichtnur eine Armee von Befehl und Gehorsam ist; vielmehrgenießt das Prinzip der Inneren Führung eine heraus-ragende Bedeutung . Unsere Soldatinnen und SoldatenDoris Wagner
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schützen unsere äußere Sicherheit und damit wie selbst-verständlich unsere Interessen und das freie Leben in die-sem Staat . Als solches haben sie ein verbrieftes Anrechtauf eine moderne Vertretung ihrer eigenen Interessendurch ein faires und einheitliches Verfahren der Mitbe-stimmung .Seit 1956 gibt es in der Bundeswehr Personalräte undVertrauenspersonen . Richtig – das hörten wir bereits –,die damaligen Strukturen waren auf eine Wehrpflichti-genarmee ausgerichtet, die es heute – das wissen wir – sonicht mehr gibt .Auch das hörten wir: Seit 1991 gibt es das Soldaten-beteiligungsgesetz, das in seiner jetzigen Form ebenfallsden Anforderungen einer veränderten Bundeswehr undeines veränderten Aufgabenspektrums der Streitkräf-te nicht mehr gerecht wird . So ist es heute nicht mehrbegründbar, warum die personellen, dienstlichen odersozialen Belange der Soldaten weniger wert sein sol-len als die von Beamten oder Arbeitnehmern an ein unddemselben Dienstort, in einer gemeinsamen Dienststelle .Es ist deshalb richtig und wichtig, dass wir die Beteili-gungsrechte der Soldatinnen und Soldaten in dem hiervorgelegten Gesetz von Grund auf neu aufgesetzt haben .Im Sinne eines gemeinsamen Selbstverständnisses istes deshalb sehr wichtig, dass sich die Angehörigen derBundeswehr gleichberechtigt in den Vertretungsgremienmit einheitlichen Beteiligungsverfahren wiederfinden.
Es ist darüber hinaus sinnvoll, dass klare Regeln die Mit-bestimmung im Einsatz sicherstellen und für alle gelten,ohne dass es zu einer Beeinträchtigung der militärischenAuftragserfüllung kommt .Ich bin davon überzeugt, dass mit dem hier vorge-legten Soldatenbeteiligungsgesetz die demokratischenGrundrechte des Staatsbürgers in Uniform nicht nur ge-wahrt, sondern auch im Kern gestärkt werden . Das SBGpräzisiert die Interessenwahrnehmung zwischen Ver-trauenspersonen und Personalräten . Details haben meineVorredner schon ausgeführt .Die bei den Kommandos der militärischen Organisati-onsbereiche eingerichteten Vertrauenspersonenausschüs-se werden gesetzlich verankert . Durch die Erweiterungder Beteiligungstatbestände wird die Rolle der Vertrau-enspersonen deutlich gestärkt . Ich denke, der hier vor-liegende Gesetzentwurf wird dem formulierten Ziel, eineeffiziente, funktionale und vernetzte soldatische Interes-senvertretung auf allen Ebenen zu gewährleisten, mehrals gerecht .Frau Ministerin, natürlich gilt der Dank immer derSpitze des Hauses . Aber in diesem besonderen Fallmöchte ich dem Staatssekretär Hoofe danken . Es ist jaauch nicht üblich in diesem Haus, dass einem beamte-ten Staatssekretär einmal Lob ausgesprochen wird . Erhat mit der Gründung der Arbeitsgruppe seit 2014 hiereine wirkliche Kärrnerarbeit im Team mit allen Beteilig-ten geleistet, und er hat hier einen Entwurf vorgelegt, derunserer Zielrichtung, der auch den langen Diskussionenim Verteidigungsausschuss gerecht wird .Ich danke nicht nur dem Staatssekretär in Ihrem Hau-se, Frau Ministerin, sondern bedanke mich auch bei allenGewerkschaften und Verbänden, insbesondere einmalmehr beim Deutschen Bundeswehrverband, der auch indiesem Prozess aktiv mitgearbeitet hat . Ich freue michauf die weitergehenden Beratungen und dann auf die Be-schlussfassung über dieses neue Soldatenbeteiligungsge-setz .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Debatte hat
Florian Hahn, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das
Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Thema „Soldatenbeteiligung und Perso-nalvertretung in der Bundeswehr“ erscheint auf den ers-ten Blick vielleicht ein bisschen trocken, technisch undhoch speziell . Da hat es auf den ersten Blick vielleichtauch mehr Attraktivität, an der fraktionsoffenen Sitzung„Effektive Einsätze gegen Fluchtursachen“, die parallelgerade stattfindet, teilzunehmen. Das ist übrigens derGrund, warum unsere Fraktion nicht ganz so dicht wiesonst besetzt ist; die sind alle dort .
Aber der zweite Blick lässt erkennen – die Kollegenhaben natürlich zu Recht schon darauf hingewiesen –,dass Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens zwar einespezielle Materie ist, dass sich darin aber ganz Funda-mentales verbirgt . Es geht um Demokratie, es geht umTeilhabe, es geht um Offenheit, und es geht um Moder-nität .Die Soldatenbeteiligung ist der deutsche Versuch, alldies in einem Bereich zu verwirklichen, der lange Zeiteher durch strikten Befehl und Gehorsam, durch Abge-schlossenheit und Tradition geprägt war . Die Schwie-rigkeit einer Soldatenbeteiligung liegt nun gerade darin,dass vor allem Befehl und Gehorsam ein notwendigesPrinzip des Militärs bleiben und eine klassische Mit-bestimmung nicht vollumfänglich zu verwirklichen ist .Trotzdem glauben wir an die wichtige Rolle demokra-tischer Elemente auch in den Streitkräften . Die Solda-tenbeteiligung ermöglicht die Wahrnehmung demokra-tischer Rechte, ohne die militärische Hierarchie infragezu stellen . Auch im Truppenalltag muss das demokrati-sche Prinzip für Soldatinnen und Soldaten erfahrbar sein;schließlich müssen sie für die Demokratie unter Umstän-den bewaffnet eintreten und die Demokratie mit ihremLeben verteidigen .Beteiligung ist zugleich aber auch ein militärischerFührungsgrundsatz . Die Vorredner haben schon auf dasKonzept der Inneren Führung Bezug genommen . Es be-ruht auf einem Leitbild, das vor allem zur Rechtfertigungder Wehrpflicht immer prominent zitiert wurde, das aberIngo Gädechens
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auch in Zeiten einer Freiwilligenarmee richtig bleibt: DerStaatsbürger in Uniform, die Soldatin/der Soldat, bleibtBürger, auch wenn er in den Streitkräften dient . – Dabeibeinhaltet dieses Leitbild des Bürgers, das gerade heutevon erstaunlicher Aktualität ist, die Elemente der Frei-heit, der Mündigkeit und der Aktivität .Was haben wir bisher schon erreicht? Wie wird dieSoldatenbeteiligung bisher umgesetzt? Der Titel des Ge-setzentwurfs weist schon auf die zweigleisige Interessen-wahrnehmung hin . In sogenannten personalratsfähigenDienststellen wählen Soldatinnen und Soldaten einenPersonalrat mit; in beweglichen Einheiten – vereinfacht:alles, was kämpft, fliegt oder schwimmt – wählen sieVertrauenspersonen .Was ist Aufgabe der Vertrauenspersonen? Sie sollenzur verantwortungsvollen Zusammenarbeit zwischenVorgesetzten und Untergebenen sowie zur Festigungdes kameradschaftlichen Vertrauens innerhalb des Be-reichs beitragen, für den sie gewählt sind . Das Ziel derSoldatenbeteiligung allgemein bleibt die wirkungsvolleDienstgestaltung und die fürsorgliche Berücksichtigungder Belange der Soldatinnen und Soldaten . In diesemSinne sollen Vertrauenspersonen Maßnahmen beantra-gen, die den Soldatinnen und Soldaten dienen, darüberwachen, dass zugunsten der Soldaten geltende Gesetzeund Vorschriften durchgeführt und eingehalten werden,und sie sollen Anregungen und Beanstandungen von Sol-daten entgegennehmen und sie gegebenenfalls mit demVorgesetzten erörtern . – Dies war auch meine Aufgabe,als ich 1995 während meiner Wehrpflichtigenzeit Ver-trauensperson für die Mannschaften war .Heute soll auch die Vereinbarkeit von Familie undDienst gefördert werden und die Verwirklichung vonGleichstellung und Gleichbehandlung von Soldatinnenund Soldaten unterstützt werden .Die Vertrauensperson hat umfangreiche Anhörungs-,Vorschlags- und Mitbestimmungsrechte in Personalan-gelegenheiten, bei der Gestaltung des Dienstbetriebs, beiBeschwerden, auf die ich jetzt im Einzelnen nicht mehreingehen möchte .Was bringt das Gesetz Neues? Das neue Gesetz istein Beleg dafür, wie die Soldatenbeteiligung hilft, dieBundeswehr flexibel, offen und modern zu halten. Dreidringende Anpassungen sind aktuell zu leisten: Durchdie Neuausrichtung und die damit verbundene Neuor-ganisation entstandene Beteiligungslücken müssen ge-schlossen werden . Die Soldatenbeteiligung muss auchin den zahlreichen Auslandseinsätzen der Bundeswehrfunktionieren . Aufgaben und Befugnisse der Vertrauens-person müssen an die Ziele der Bundeswehr als moderneFreiwilligenarmee angepasst werden .Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind wir auf ei-nem guten Weg zu einer Modernisierung der Soldaten-beteiligung . Wir stärken die Stellung der Vertrauensper-sonen durch erstens eine Verlängerung der Amtszeit vonzwei Jahren auf vier Jahre, zweitens die Erweiterung undFortentwicklung der Beteiligungstatbestände und Mitbe-stimmungsrechte und drittens die Verbesserung auch derentsprechenden Ausstattung der Vertrauenspersonen .Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Solda-tenbeteiligung, die Elemente der Offenheit, der Diskus-sionskultur und der Mitverantwortlichkeit für das Ganzein die Organisation der Bundeswehr einbringt, kann ver-hindern, dass das System Bundeswehr mit den notwendi-gen Pfeilern von Befehl und Gehorsam und militärischerHierarchie zu starr und unflexibel wird. Sie hilft, einemoderne Organisation zu schaffen, die damit zugleich ef-fektiver und schlagkräftiger ihren Auftrag erfüllen kann .Der Gesetzentwurf ist in diesem Sinne aus meiner Sichtein guter erster Aufschlag .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Ich schließe die Debatte .Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/8298 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .Dann ist die Überweisung so beschlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaMöhring, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKEZukunft der Hebammen und Entbindungs-pfleger sichern – Finanzielle Sicherheit undein neues Berufsbild schaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten ElisabethScharfenberg, Kordula Schulz-Asche, UlleSchauws, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGeburtshilfe heute und in Zukunft si-chern – Haftpflichtproblematik bei Heb-ammen und anderen Gesundheitsberufenentschlossen anpackenDrucksachen 18/1483, 18/850, 18/8426Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazukeinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Als Erstes in dieser Debat-te hat keine Rednerin, sondern Herr Dr . Kühne von derCDU/CSU-Fraktion das Wort .
Ich wollte Sie jetzt nicht überraschen oder überrum-peln .Florian Hahn
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Das war jetzt ein bisschen überraschend .
– Quotenmann? Na ja .Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Heb-ammen und Entbindungspfleger in Deutschland leistenmit ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit einen immen-sen gesellschaftlichen Beitrag . Ihre Zuwendung und ihreLeistungen in der Vorsorge und in der Wochenbettbetreu-ung sind für Schwangere und junge Eltern von besonde-rer Bedeutung . Das Betreuungsangebot der Hebammenträgt also in erheblichem Maße zu einem positiven Ver-lauf der Schwangerschaft bei . Das kann ich als zweifa-cher Vater nur betonen und darf mich auch heute nocheinmal ausdrücklich bei den Hebammen dafür bedanken .
Dieses habe ich vor ungefähr zwei Jahren auch an die-ser Stelle zur Situation der Hebammen gesagt und damitdie Position der CDU/CSU deutlich gemacht . Sowohl andem Inhalt meiner damaligen Ausführungen als auch ander Position meiner Partei und der Koalition hat sich seit-her nichts verändert .
Wir setzen uns für eine Verbesserung der Situation derHebammen und Entbindungspfleger in Deutschland ein.Was sich allerdings in den letzten zwei Jahren veränderthat, sind die Rahmenbedingungen – das wissen auch Sie,Frau Kollegin – für die Geburtshilfe in Deutschland, undzwar zum Positiven . Das wurde mir auch mehrmals inGesprächen mit Hebammen gespiegelt . Das gilt sichernicht für alle; das wissen wir . Aber dafür gibt es ja Grün-de; auch das wissen wir . Dafür danke ich dem Minister –heute nicht anwesend –, aber zumindest seinem Haus undder Koalition .
Dadurch, dass wir Entscheidungen getroffen haben undentsprechende Regelungen erlassen haben, haben wir re-agiert . Wir haben notwendige Schritte eingeleitet, um dieSituation der Geburtshilfe in Deutschland zu verbessern .Wir alle waren und sind uns darüber einig, dass die Si-tuation angegangen werden musste . Darüber gab es auchgar keine Diskussion .Ich stelle deshalb an dieser Stelle gerne noch einmalfest, welche Maßnahmen wir für die Geburtshilfe schonwährend der schwarz-gelben Koalition eingeleitet undjetzt in der aktuellen Koalition weiter ausgebaut haben .Bereits 2012 haben wir im GKV-VSG geregelt, dassdie gesetzlichen Krankenkassen die steigenden Versi-cherungsprämien bei den Vergütungsverhandlungen be-rücksichtigen müssen . Dies hat zu einer ersten spürbarenVergütungserhöhung geführt .Damit die Prämiensteigerungen noch schneller ausge-glichen werden konnten, mussten die Krankenkassen seitdem 1 . Juli 2014 weiteres Geld bereitstellen . Mit demSicherstellungszuschlag haben wir erreicht, dass selbstHebammen mit nur wenigen Geburten, nämlich einer proQuartal, also vier Geburten im Jahr, nicht finanziell über-lastet werden . Das ist ein wichtiger Aspekt . Je nach Höheder Prämie trägt die GKV somit aktuell Kosten von 4 000bis über 6 500 Euro pro Hebamme .Als Voraussetzung für diese Zahlung wurden Quali-tätsanforderungen für Hausgeburten – ich betone ganzbewusst: für Hausgeburten – analog zu den Geburtshäu-sern definiert. In einem Schiedsverfahren wurden dieseQualitätskriterien festgelegt, meine Damen und Herren;und das ist wichtig . Die Qualitätsanforderungen für Ge-burtshäuser haben wir übrigens bereits 2008 definiert.Das war also ein längst überfälliger Schritt . Für uns istdies ein besonders wichtiger Aspekt; denn die Qualitätder Versorgung hat im Gesundheitswesen höchste Prio-rität, und diese müssen wir logischerweise in allen Be-reichen einfordern. Qualität zu sichern heißt Definitiontransparenter Kriterien, um Sicherheit zu gewährleisten,Sicherheit und auch Vertrauen der Patientinnen und Pati-enten in unsere Politik, Sicherheit in einer Phase, wo soviel entschieden wird . Es geht um das Kind, es geht umdie Gesellschaft, es geht um die Eltern . Das sind keineFragen, die wir einfach so beantworten sollten . Vielmehrsollten wir Merkmale definieren und festlegen, was wireigentlich wollen .Bei aller Diskussion, meine Damen und Herren: Ichdenke, dass werdende Väter und Mütter ein Recht daraufhaben, zu wissen, was während dieser wichtigen Phasepassiert . Wie ist was geregelt? Wann kann und sollte et-was sein, und was darf nicht sein? Das dürfen wir bei derganzen Diskussion nicht aus den Augen verlieren .Mit dem Sicherstellungszuschlag können wir alsojetzt die Hebammen dauerhaft entlasten und somit aucheine flächendeckende Versorgung anregen.Natürlich wollen wir auch den Anstieg der Haft-pflichtprämie begrenzen. Mit dem Regressverzicht derKrankenkassen und Pflegekassen haben wir auch diesenProzess eingeleitet . Jetzt müssen wir abwarten, wie sichdieser Prozess langfristig auf den Anstieg der Prämienauswirkt . Hier kann ich nur sagen: Politik ist ein ler-nender Prozess . Wir werden es beobachten und werdenreagieren . Gleichzeitig stellen wir aber sicher, dass Fa-milien nach Behandlungsfehlern nach wie vor eine an-gemessene Hilfe, eine gute Unterstützung und Betreuungerhalten . Keiner wird alleingelassen; das ist das obersteKriterium .Die Große Koalition hat gezeigt, dass sie die Situationder Hebammen in Deutschland ernst nimmt, die Sacheanpackt, wichtige Anpassungen zuwege bringt und esschafft, Maßnahmen zu ergreifen, die sich positiv aus-wirken, die Vertrauen schaffen . Deshalb lehnen wir heutedie Anträge der Linken und der Grünen ab .
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Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Cornelia
Möhring von der Fraktion Die Linke das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kühne, ich habe den Eindruck, Sie
leben in irgendeinem Paralleluniversum, aber es kann
mit der Realität in der Geburtshilfe wahrlich nicht viel
zu tun haben .
Um die Geburtshilfe in unserem Land ist es nämlich
wahrlich sehr schlecht bestellt, und das seit Jahren .
Der Hebammenberuf ist in großer Gefahr . Ihre Bundes-
regierung hat mitnichten irgendetwas angeschoben, was
diese Situation wirklich nachhaltig verbessert .
Ich denke, die Tausenden von Petitionen, die mittler-
weile beim Bundestag eingehen, wo sich die Bevölke-
rung aufmacht und Gegenwehr gegen diese Politik des
Aussitzens zeigt, machen deutlich, wie sehr dieses The-
ma die Bürgerinnen und Bürger bewegt . Wir haben rund
21 000 Hebammen in Deutschland, und nur noch 2 500
von ihnen bieten freiberufliche Geburtshilfe an. Freibe-
rufliche Hebammen müssen sich faktisch auf die Ge-
burtsvorbereitung und die Wochenbettpflege beschrän-
ken . Ein wesentliches Kernstück, die Geburtshilfe, fällt
fast völlig heraus, weil sich die Hebammen die hohen
Haftpflichtprämien schlicht nicht mehr leisten können.
Das waren Zahlen vom Hebammenverband, falls Sie da-
nach suchen .
Wir reden tatsächlich nicht über Peanuts, wenn wir
über Haftpflichtprämien reden. Die Versicherungsbei-
träge sind extrem gestiegen . Sie lagen 1998 noch bei
394 Euro . Jetzt, ab Juli 2016, werden sie trotz Ihrer Man-
gel-Maßnahmen auf 6 843 Euro ansteigen . Ich meine,
so stark sind die Vergütungen nicht gestiegen, dass eine
Hebamme bei vier Geburten im Jahr dann tatsächlich
überlebensfähig ist . Den hohen Versicherungsbeiträgen
steht nämlich ein sehr geringes Einkommen gegenüber .
Der durchschnittliche Jahresumsatz einer freiberuflichen
Hebamme liegt bei rund 24 000 Euro brutto . Der durch-
schnittliche Stundenlohn, wenn man es einmal herunter-
rechnet, liegt für den gesamten Aufwand gerade einmal
zwischen 7,50 Euro und 8,50 Euro .
In den Kliniken sieht es auch nicht wirklich gut aus .
Die in den Krankenhäusern beschäftigten Hebammen ar-
beiten mittlerweile zu über 70 Prozent in Teilzeit . Es gibt
viel zu wenig Personal . Oft müssen gleichzeitig mehrere
Geburten zur selben Zeit betreut werden . Das ist unge-
heuer stressig, und das Risiko für Mutter und Kind steigt
natürlich . Berufsethisch ist es auch schwierig, weil die
Hebammen einen ganz anderen Anspruch an ihren wich-
tigen Beruf haben . Auch deswegen hängen mittlerweile
viele Hebammen ihren Beruf an den Nagel . Mittlerweile
werden immer mehr Geburtsstationen in den Kranken-
häusern dichtgemacht . Die Wege für die Schwangeren
werden länger, und im ländlichen Raum ist eine wohn-
ortnahe Versorgung überhaupt nicht mehr möglich .
Als Schleswig-Holsteinerin erlauben Sie mir, auch
etwas zur Situation auf den Inseln zu sagen . Gebürtige
Helgoländerinnen, Amrumer, Sylterinnen sind mittler-
weile Vergangenheit . Inselgeburten gibt es nicht mehr .
Eine Schwangere, die auf den Inseln lebt, muss min-
destens zwei Wochen vor der Geburt in ein sogenanntes
Boarding-House auf dem Festland . Das ist alles andere
als ein entspanntes Warten auf die Geburt . Es bedeutet
Trennung von den anderen Kindern, vom Partner, von
der gewohnten Umgebung und von der Hebamme, mit
der sich die Frau auf die Geburt vorbereitet hatte . Hin-
zu kommt die Unsicherheit, ob der Partner es überhaupt
rechtzeitig schafft, bei der Geburt beizustehen . So, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wünscht sich wirklich keine
Frau die sogenannte Niederkunft .
Frau Möhring, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Kühne zu?
Selbstverständlich .
Sehr geehrte Kollegin, Sie zitieren Zahlen, und wir
alle wissen, dass Statistiken häufig problematisch zu
sehen sind . Ich habe eine ganz konkrete Frage: Können
Sie mir Zahlen nennen, wie viele Hebammen weniger es
momentan in Deutschland gibt, wie viele Geburtshäuser
seitdem geschlossen haben, wie viele Geburtshäuser seit-
dem eröffnet wurden und welche Anzahl an Mangelge-
bieten im Hinblick auf die geburtstechnische Versorgung
wir derzeit in Deutschland haben?
Genau darüber rede ich ja .
Die Hebammenzahlen sind zurückgegangen . Zumindestist die Zahl der freiberuflichen Hebammen, die noch Ge-burtshilfe leisten, stark gesunken: Es waren vor zwei Jah-ren noch weit über 3 000; es sind jetzt nach Angaben desHebammenverbandes 2 500 .Dr. Roy Kühne
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Ich habe ja gerade von Schleswig-Holstein gespro-chen . Die Inselversorgung ist nicht mehr gesichert . Imländlichen Raum sieht es ähnlich aus . Krankenhäuser le-gen ganze Geburtsstationen still, weil diese einfach nichtmehr wirtschaftlich sind .In Notfällen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird esdann vollständig gruselig . Neulich musste zum Beispieleine junge Frau aus Amrum, deren Baby zu früh kam, mitdem Seenotrettungskreuzer von Amrum nach Dagebüll,von Dagebüll weiter mit dem Krankenwagen nach Flens-burg; Letzteres – das dauerte eine gute Stunde – ohneHebammenunterstützung . Das ist doch wirklich irre .Falls jetzt jemand von Ihnen denkt: „Na ja, selberschuld . Wenn man auf einer Insel wohnt, hat man es haltnicht besser“, dem entgegne ich: Nein, für alle Frauen,egal ob sie auf einer Nordseeinsel, in einer Großstadtoder auf dem Dorf wohnen, gilt das Recht auf Selbst-bestimmung . Dazu gehört, dass Frauen selber über sichund ihren Körper bestimmen . Dazu gehört auch die freieEntscheidung darüber, wo Frauen ihre Kinder zur Weltbringen .
Bei den Frauen auf Helgoland, Amrum oder anderen In-seln wird dieses Recht bereits mit Füßen getreten . Solltekeine Lösung gefunden werden, ist das Selbstbestim-mungsrecht von Frauen im ganzen Land in Gefahr . Bei-des dürfen wir nicht zulassen .
Es muss jetzt aus unserer Sicht schnell gehandelt wer-den; denn die Situation ist wirklich kritisch genug . Mei-ne Fraktion fordert anstatt der Abhängigkeit von privatenVersicherungen mit hohen Versicherungsbeiträgen, diearm machen, einen Fonds zur Haftung bei Behandlungs-fehlern, in den alle Leistungserbringer einzahlen . Wirmeinen, die Versorgung mit Hebammenleistungen gehörtzur Grundversorgung der Bevölkerung . Sie muss wohn-ortnah erfolgen, zum Beispiel über Versorgungszentren,Hebammenstützpunkte, Kooperationen . Wir wollen denHebammenberuf nicht nur erhalten, sondern aufwerten .Hebammen sollen, wie in den Niederlanden, erste undwichtigste Ansprechpartnerinnen für Schwangere sein .
Die Bedingungen sollen eine Eins-zu-eins-Betreuung inder Schwangerschaft, bei der Geburt und im Wochenbettgewährleisten . Die Vergütung der Hebammen muss sichselbstverständlich daran orientieren, also höher sein .Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist alles mach-bar, wenn der politische Wille da ist . Den Weg, um diesenpolitischen Willen umzusetzen, zeigen wir in unseremAntrag auf . Stimmen Sie dem Antrag einfach zu .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Bettina
Müller von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf der Galerie! Am letzten Donnerstag, am5 . Mai, war der Internationale Hebammentag – ein Tag,an dem uns vor Augen geführt wurde, dass die Geburts-hilfe in vielen Ländern der Erde immer noch im Argenliegt und es dort noch sehr große Gefahren für Mutterund Kind gibt . Das sollten wir uns stets vor Augen halten,wenn wir über die Situation der Geburtshilfe in Deutsch-land reden, wo die Versorgung auf einem qualitativ hohenNiveau stattfindet, und zwar flächendeckend. Ich möchtedas zu Beginn ausdrücklich betonen; denn wenn man dieAnträge der Opposition liest, könnte man durchaus einengegenteiligen Eindruck bekommen .
Beide Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen, stam-men aus dem Frühjahr 2014, als die steigenden Beiträgezur Berufshaftpflicht der freiberuflich tätigen Hebammenwieder neue Höchststände erreichten und die letzten Ver-sicherer drohten, den Markt zu verlassen . Aber – es istschon angeklungen – der Gesetzgeber ist nicht untätiggeblieben: Schon seit 2012 werden ja die Aufwendungender Hebammen für ihre Berufshaftpflicht gemäß § 134 aSGB V in den Verhandlungen über die Vergütungen be-sonders berücksichtigt . 2013 hatten wir dann eine in-terministerielle Arbeitsgruppe, die sich mit dem Themabeschäftigt hat, im Übrigen im Dialog mit den Hebam-menverbänden, die an den Diskussionen beteiligt waren .Dort sind Handlungsempfehlungen erarbeitet worden .Mit dem GKV-FQWG wurde 2014 ein Sicherstel-lungszuschlag für den Ausgleich der Haftpflichtprämi-en beschlossen, der insbesondere den Hebammen mitwenigen Geburten – wir haben das Problem durchausauch gesehen – zugutekommen soll . Bis dieser neue Si-cherstellungszuschlag den langen Weg durch die Müh-len der Selbstverwaltung geschafft hatte, wurde für eineÜbergangszeit bis 2015 ein pauschaler Zuschlag für dieHebammen – das waren circa 130 Euro pro Geburt – ein-geführt .Mit dem 2015 verabschiedeten GKV-Versorgungs-stärkungsgesetz haben wir dann auch noch den Regress-verzicht installiert . Den gesetzlichen Krankenkassenoder besser gesagt den Beitragszahlern wird seitdem dieÜbernahme der Folgekosten von Geburtsschäden aufer-legt . Meine Damen und Herren, die Koalition hat alsodurchaus geliefert und die Forderungen der Opposition,wie ich meine, weitgehend abgeräumt .
Ich will hier aus Sicht der SPD-Fraktion deutlich ma-chen, dass wir damit den Hebammen bei der Lösung derHaftpflichtproblematik wirklich sehr weit entgegenge-kommen sind; denn insbesondere mit dem Regressver-zicht haben wir unter größten Bauchschmerzen, liebeCornelia Möhring
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Kolleginnen und Kollegen, einem Systembruch zuge-stimmt; dadurch wird nämlich den Mitgliedern der ge-setzlichen Krankenkassen eine Übernahme der Kostenzugemutet .Folgekosten von Behandlungsfehlern sind eigent-lich Sache der Berufshaftpflicht, dafür ist sie da. Oderman muss sich überlegen, ob man eine gesamtstaatlicheAufgabe daraus macht . Oder man muss sich andere Mo-dalitäten überlegen; ich werde noch darauf zu sprechenkommen . Innerhalb des GKV-Systems sind solche Haf-tungsübernahmen jedenfalls völlig versicherungsfremd .
Aber: Im Sinne einer schnellen Lösung und um sicher-zustellen, dass zum Juli 2016 überhaupt ein Anschluss-vertrag vorliegt, hat die SPD diesem Systembruch zu-gestimmt . Das hat dazu beigetragen, dass, entgegen derSchwarzmalerei der Opposition, eine Lösung geschaffenworden ist .Fakt ist nämlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Esgibt einen neuen Versicherungsvertrag . Die Prämienstei-gerung fällt mit 10 Prozent jährlich erheblich moderateraus als in den letzten Jahren; da waren es immer 20 Pro-zent . Der Vertrag läuft über zwei Jahre . Ich denke, da-durch besteht ein hohes Maß an Planungssicherheit fürdie Beteiligten .
Wir müssen uns aber selbstverständlich Gedankendarüber machen, wie wir diese ewige Preisspirale nachoben und das Abhängigkeitsverhältnis von einem Mono-polversicherer beenden können . Ob die vorgeschlagenenLösungen, wie auf die gesetzliche Unfallversicherungauszuweichen oder einen Haftungsfonds aufzulegen –darüber will ich ganz sachlich diskutieren, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der Opposition –, tragfähigsind, ist ja bereits in der genannten interministeriellenArbeitsgruppe zusammen mit den Hebammen untersuchtworden . Das entsprechende Rechtsgutachten kennen Siesicher auch . Es haben sich sehr viele versicherungsrecht-liche und verfassungsrechtliche Probleme aufgetan . Eswurde eigentlich keine große Hoffnung gemacht, dassdas eine Lösung sein kann .Wir müssen aber nach bezahlbaren Lösungen suchen;das sehe ich auch so . Ich will Ihnen ein paar Zahlen nen-nen . Wir haben etwa 3 000 Versicherungsverträge miteiner Jahresprämie von circa 7 000 Euro . Das ergibt einGesamtvolumen von ungefähr 21 Millionen Euro . Diewerden aber zur eigentlichen Schadensregulierung garnicht gebraucht. 4 Millionen Euro fließen als Versiche-rungsteuer an den Bundesfinanzminister, weitere 5 Mil-lionen Euro bleiben als Provisionen und Gewinnanteilbeim Versicherungsmakler, beim Hebammenverbandund bei einem Versicherungskonsortium hängen . In dieeigentliche Regulierung der Geburtsschäden fließen net-to deswegen nur 12 Millionen Euro jährlich . Das ist ei-gentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein überschau-barer Betrag, den die Hebammen, die GKV, der Bundund die Länder durchaus aufbringen können . Ich denke,hier liegt unsere eigentliche Aufgabe: Wir müssen eineRechtsform finden, die das ermöglicht.
Mit dem Sicherstellungszuschlag liegt nunmehr jeden-falls ein Ausgleichsmechanismus vor, der die Hebammenfast vollständig entlastet . Er wird seit Beginn 2016 rück-wirkend ausgezahlt . Er ist viel zielgenauer als die alte Lö-sung, die in nicht wenigen Fällen ja sogar zu Überkom-pensationen geführt hat . Die Regelung sieht vor, dass dieHebammen statt am Jahresende mehrmals im Jahr denAusgleich beantragen können – das ist für die Hebam-men günstig im Sinne einer zeitnahen Bezahlung –, unddie gezahlte Haftpflichtprämie wird dabei fast vollstän-dig erstattet . Lediglich der Anteil für Privatversicherte,die sachfremden Bestandteile wie beispielsweise eineHundehaftpflichtversicherung, die Privathaftpflicht undder Prämienanteil für nichtgeburtliche Leistungen wer-den abgezogen . Außerdem gibt es eine Art Eigenanteil inHöhe von 1 000 Euro, der in etwa dem Stand der Prämievon 2010 entspricht . Sie wissen: Fast alle Selbstständi-gen sind auf eine Haftpflichtversicherung angewiesen,und ein Eigenanteil ist hier, denke ich, auch vertretbar .Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sageganz deutlich: Es wäre schön gewesen, wenn wir diesesinnvolle Neuregelung nicht erst durch einen Schieds-spruch hätten bestätigen lassen müssen . Es wurde einepraktikable und transparente Regelung geschaffen, diefür die freiberuflichen Hebammen eine echte Entlastungdarstellt . Darum hat zum Beispiel – das hat der Kolle-ge Kühne ja schon angesprochen – der Bund der frei-beruflichen Hebammen Deutschlands, BfHD, diese Re-gelung ausdrücklich begrüßt . Der BfHD hat zu diesemPunkt nicht die Schiedsstelle angerufen, hat auch nichtvor dem Landessozialgericht Berlin gegen den Schieds-spruch geklagt . Meine Damen und Herren, wenn schonein Verband, der die freiberuflichen Hebammen origi-när vertritt – im BfHD sind ja gerade die freiberuflichenHebammen organisiert –, mit der ausgehandelten Rege-lung einverstanden ist, dann kann sie so falsch nicht ge-wesen sein .
Für mich ist es daher unverständlich, warum der Deut-sche Hebammenverband weiter dagegen klagt. Ich finde,das schürt nur die Verunsicherung bei den Hebammenund blockiert auch jede politische Aktivität . Dem DHVmuss doch klar sein: Solange das Landessozialgerichtbzw . das Bundessozialgericht, wenn eine weitere Instanzin Anspruch genommen wird, noch keine Entscheidunggefällt hat, ist der gesetzgeberische Handlungsspielraumnicht besonders groß .Fakt ist auch, dass sich die Versorgungslage – das istauch schon angeklungen – nicht wesentlich verschlech-tert hat . Das kann man auch objektiv mit Zahlen belegen .Zum einen liegt uns ein Bericht des übrigens von einerLinken geführten Sozialministeriums Thüringen vor, ausdem hervorgeht, dass sich die Versorgungslage nicht ver-schlechtert hat . Auch aus den aktuellen GKV-Zahlen, dieich mir habe vorlegen lassen, geht das hervor . Es ist ebennicht so, dass die Hebammen scharenweise aus dem Be-Bettina Müller
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ruf ausgestiegen sind . Laut GKV-Zahlen ist die Zahl derfreiberuflichen Hebammen 2015 im Vergleich zu 2014sogar leicht angestiegen . Hier lässt sich also überhauptkein deutlicher Einbruch feststellen . Das gilt im Übrigenauch für die Geburtsmodule, für die Hebammen mit Ge-burtshilfe .Zu den unverständlichen Aspekten gehört für michauch die Aussage, dass die getroffenen Regelungen dieWahlfreiheit der Frauen einschränken und angeblich dieHausgeburten künftig unmöglich machen würden . Grundseien die sogenannten Ausschlusskriterien für Hausge-burten, die seit 2015, seit der Qualitätsvereinbarung, dieim Rahmen der Vergütungsvereinbarung mitverhandeltwurde, gelten . Tatsache ist jedoch, dass genau diese Aus-schlusskriterien für Geburtshäuser schon seit 2008 gel-ten .Bezüglich der Terminüberschreitungen – das ist einimmer wieder genannter Punkt –, wenn es also einenoder mehr Tage über den ausgerechneten Geburtsterminhinausgeht, waren die Vorgaben für die Geburtshäusersogar noch rigider . Bei den Geburtshäusern ist quasi jedeArt von Überschreitung ein Anlass, um sich mit dem Arztrückzukoppeln . Bei den Hausgeburten gilt das ab demdritten Tag nach dem Termin und nicht schon ab dem ers-ten Tag . Diese drei Tage – das muss man immer wiederbetonen – sind auch kein absolutes Ausschlusskriterium,sondern nur ein relatives Ausschlusskriterium . Das heißt,wenn man sich mit dem Arzt rückkoppelt und der seinPlazet gibt, also keine Probleme sieht, kann die Hausge-burt wie geplant stattfinden.
Diese Ausschlusskriterien stehen im Übrigen auch in denmedizinischen Leitlinien . Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, warum sollte eine Regelung, die für Geburtshäuser,die ein umfangreiches medizinisches Back-up haben,gilt, ausgerechnet bei Hausgeburten keine Gültigkeit ha-ben, obwohl das entsprechende medizinische Equipment,die entsprechende Ausstattung da gar nicht vorhandenist?Abschließend noch ein Wort zum Thema Wahlfrei-heit – das ist ein ganz wichtiger Aspekt –: Weit über98 Prozent der Frauen wählen das Krankenhaus als Ortder Entbindung . Das ist eine Abstimmung mit den Füßen .Die Quote der außerklinischen Geburten liegt seit Jahr-zehnten konstant bei deutlich unter 2 Prozent . Die Quoteder reinen Hausgeburten liegt mit 0,5 Prozent sogar imPromillebereich .
– Das kommt auch noch . – Insofern begrüße ich es sehr,dass auch der Deutsche Hebammenverband anstelle derHausgeburt jetzt endlich verstärkt das Thema Kranken-haus in den Fokus rückt .Hier haben wir mit Aspekten wie steigenden Kaiser-schnittraten – da gibt es eine Steigerung um 30 Prozent;
damit bin ich überhaupt nicht zufrieden; das ist, denkeich, auch nicht fachgerecht –, Abbau von Standorten,Personalbemessung, Bezahlung und Arbeitszeiten jedeMenge Themen, denen wir uns politisch widmen müs-sen und von denen – ich sage es noch einmal – mit über98 Prozent weitaus die Mehrzahl der Frauen auch betrof-fen ist . Für mich liegt hier der eigentliche Schlüssel fürdie flächendeckende Versorgung mit Geburtshilfe auf ho-hem Qualitätsniveau . Krankenhaus heißt ja schon längstnicht mehr Fließbandgeburt in gekachelten Räumen .Krankenhaus kann beispielsweise auch hebammengelei-teter Kreißsaal bedeuten . Hier gibt es ganz neue Konzep-te .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen . Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten .
Okay . – Wir müssen also davon wegkommen, einer-
seits die Hausgeburt zu idealisieren und andererseits die
stationäre Geburt zu dämonisieren . Wir müssen unseren
Fokus auch auf die Situation der Hebammen im Kran-
kenhaus richten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treffen dieses
Jahr noch eine Entscheidung über die regelhafte Aka-
demisierung . Da wird es auch darum gehen, dass wir
zusätzliche Ausbildungsinhalte für die Hebammen be-
schließen und über die Übernahme weiterer Leistungen
und Aufgaben durch die Hebammen reden .
Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen .
Wir sollten das zum Anlass nehmen, –
Nein, jetzt ist gut . Jetzt ist es vorbei .
– konstruktiv für die Hebammen zusammen etwas zuerreichen
und keine Schaufensteranträge zu stellen . Gemeinsamwerden wir das bestimmt gut hinkriegen .Vielen Dank .
Bettina Müller
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Als nächste Rednerin hat Elisabeth Scharfenberg vonder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wenn meine Kollegin von der SPD mit grundstän-dig elf Minuten Redezeit noch überzieht, dann kann ichja ganz entspannt in meine Rede gehen und muss michgar nicht so abhetzen und beeilen .
Ich werde jetzt also einfach all das sagen, was ich sagenmöchte, und ich werde mir auch die Zeit dafür nehmen .Einen guten Start ins Leben, das wünschen sich dochalle Eltern für ihre Kinder . Dazu gehört natürlich aucheine gute Betreuung und Beratung vor, nach und wäh-rend der Geburt . Eltern wollen doch wissen, was dasBeste für ihr Kind ist . Eltern brauchen Vertrauen in sich,brauchen Vertrauen in die Hebamme, um ganz in Ruheihre Entscheidungen treffen zu können . Sie brauchenVertrauen in sich für die Zeit der Schwangerschaft, fürdie Geburt und auch für die Zeit nach der Geburt . DieZeit der Schwangerschaft bringt Ängste mit sich, bringtUnsicherheit mit sich: Was erwartet mich denn bei derGeburt? Was kommt an Schmerzen auf mich zu? Kriegeich das alles überhaupt hin? Schaffe ich das? Und dazubraucht es Vertrauen .Vertrauen entsteht nicht in stressigen Situationen:Stress, weil keine Hebamme für die Vorsorge zu findenist, Stress, weil die Geburtsabteilung in der nächsten Kli-nik geschlossen hat – die Anfahrtswege gerade im ländli-chen Raum werden immer länger; man stellt sich irgend-wann die Frage, ob man die Klinik überhaupt rechtzeitigzur Geburt erreicht –, Stress, weil man nicht weiß, obin der Klinik vielleicht die eigenen Wünsche gar nichtrespektiert werden, ob genug Zeit für einen da ist, Stress,weil man von viel zu vielen Kaiserschnitten hört .Entscheiden sich Eltern dann auch noch dafür, dass siedas Kind in einem Geburtshaus oder zu Hause bekom-men wollen, dann wird es noch schwieriger. Oft findensie gar kein Geburtshaus oder eben auch keine Hausge-burtshebamme . Warum ist das so?Hebammen geben auf, weil ihre Haftpflichtprämienjährlich steigen, aber ihre Gehälter nicht . Das betrifftganz besonders diejenigen Hebammen, die Geburtshilfeleisten. Derzeit liegt die Haftpflichtprämie bei jährlich6 300 Euro, im Juli wird sie auf 6 850 Euro steigen undim nächsten Juli, im Jahr 2017, auf 7 640 Euro; das heißtinnerhalb eines Jahres noch einmal plus 800 Euro .Hebammen geben auf, weil sie in Krankenhäusernviel zu viele Geburten parallel zu betreuen haben undeine verantwortungsvolle Betreuung dann einfach nichtmehr möglich ist .Wir dachten, dass die Bundesregierung die Problemeerkannt hat . 2014 wurde der Bericht der interministeri-ellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Hebammenhilfe“vorgelegt . Gesetze wurden auf den Weg gebracht, aber,wie wir sehen, reicht das nicht . Da braucht es etwas mehrals bisher .
Für Familien und Hebammen hat sich dadurch nichtsEntscheidendes geändert . Der Regressverzicht sollte dieHaftpflichtprämien senken. Unter bestimmten Bedingun-gen sollten die Kranken- und Pflegekassen die Kostenfür Kinder mit Geburtsschäden tragen und eben nicht dieHaftpflichtversicherer. Doch die Regelungen wurden soausgestaltet, dass diese Fälle selten sind, und die Prämiensteigen weiter . Ich habe Ihnen gerade die Zahlen vorge-legt . Der Sicherstellungszuschlag soll es auch Hebam-men mit wenigen Geburten ermöglichen, die hohe Haft-pflichtprämie zu zahlen. Aber die Hebammen bleibenauf Eigenanteilen sitzen, und diese liegen bei schlappen2 000 Euro .Darüber hinaus wurde der Sicherstellungszuschlagmit Ausschlusskriterien für Hausgeburten gekoppelt .Künftig zahlen die Kassen eine Hausgeburt nicht mehr,wenn der errechnete Geburtstermin um drei Tage über-schritten ist . Ich frage Sie hier im Publikum – die Mütter,die selbst ein Kind geboren haben, und die Väter, die hiersitzen –: Wie viele Ihrer Kinder sind genau am errechne-ten Geburtstermin oder innerhalb der nächsten drei Tagegeboren worden?
– Das sind aber ganz wenige . – Es gilt in diesem Zusam-menhang sogar als Risikogeburt, wenn der errechneteGeburtstermin um drei Tage überschritten ist. Ich finde,das ist absurd .
Das schränkt die Kompetenz der Hebammen und dieKompetenz der Eltern ein . Kein Arzt dieser Welt kannden Geburtstag exakt errechnen . Diese Regelung ist alsokomplett widersinnig .
Wir brauchen starke Hebammen für starke Familien .Wir alle wissen, dass Hebammen ihren Beruf gerne aus-üben . Dafür sollten wir – ganz ehrlich – dankbar sein .
Wir haben schon in unserem Antrag von vor gut zweiJahren einige Vorschläge dazu gemacht . Es ist fatal, dassdieser Antrag immer noch topaktuell ist .
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Lösen Sie die Haftpflichtfrage endlich dauerhaft undfür alle Gesundheitsberufe! Alle, die in diesem Bereichtätig sind, sind von ständig steigenden Haftpflichtprämi-en betroffen . Schauen Sie sich an, in welchen GebietenFrauen keine Hebamme finden! Nehmen Sie regelmäßigeine Bestandsaufnahme vor! Die Frage, die der KollegeKühne vorhin gestellt hat, war gar nicht so absurd . Wirwissen im Grunde genommen gar nicht, wie die Lage imHinblick auf die Versorgung ist . Wo herrscht eigentlichein Mangel? Hier muss genau hingesehen werden . Dort,wo wirklich ein Mangel herrscht, müssen Anreize gesetztwerden, damit Hebammen auch in unterversorgten Regi-onen tätig werden können . Bei den Ärzten geht es dochauch .
Sorgen Sie dafür, dass genug Hebammen in denKreißsälen sind! Dazu muss aber erst einmal ganz genauermittelt werden, wie viele Hebammen man für eine guteGeburtsbetreuung braucht . Das Ergebnis muss dann auchumgesetzt werden, zum Beispiel durch Anwendung ei-nes verbindlichen Personalbemessungsinstruments . Nurwenn wir so mutig voranschreiten und all das tun, wer-den wir den Rückgang der Zahl der Hebammen stoppen .Das ist für uns alle und für die gesamte deutsche Gesell-schaft wichtig .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Emmi
Zeulner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Um eines ganz deutlich zu machen: Die Unionsteht an der Seite der Hebammen in Deutschland .
Der Eindruck, der hier erweckt wird – er wird aber nichtnur hier erweckt, sondern manchmal auch in den Medi-en, in der Presse und auf Podiumsdiskussionen –, stimmteinfach nicht .
Das unionsgeführte Gesundheitsministerium hat schonentscheidende Regelungen auf den Weg gebracht .
Wir haben im Koalitionsvertrag gemeinsam mit derSPD ein ganz klares Bekenntnis abgegeben: Wir möch-ten die Probleme der Hebammenversorgung, die es janicht erst seit gestern gibt, lösen .
Das haben wir versprochen, und dieses Versprechen ha-ben wir gehalten .Grundsätzlich gibt es zwei Probleme, die es zu lösengilt:Erstens hatten wir ein Problem mit den Versicherern .Ein Versicherungskonsortium wollte Hebammen nichtmehr versichern . Es kam immer wieder zu einer Ver-längerung, und Jahr um Jahr ging es weiter . Wir haben,auch dank des Einsatzes des Gesundheitsministers unddes Gesundheitsministeriums, zumindest für die nächs-ten zwei Jahre die Zusage bekommen, dass das Versiche-rungskonsortium steht .Zweitens haben wir die massiv gestiegenen Haft-pflichtprämien für Hebammen als Problem erkannt. Mitdem Einkommen von Hebammen ist es nicht möglich,diese Summe tatsächlich aufzubringen . Der Anstieg derHaftpflichtprämien – auch das muss man ganz deutlichsagen – kam aber nicht deshalb zustande, weil die Heb-ammen mehr Fehler gemacht haben . Vielmehr ist es zumGlück so, dass wir in unserem Gesundheitssystem einegute Versorgung gewährleisten können und dass Kinder,die von einem Schaden betroffen sind, länger leben alsfrüher . Das hat natürlich automatisch zur Folge, dassauch mehr Geld zur Verfügung stehen muss . Es gibt alsomehr Möglichkeiten für betroffene Kinder und Familien;damit sind allerdings automatisch auch höhere Kostenverbunden. Auch deswegen sind die Haftpflichtprämiengestiegen .Schon in der letzten Legislaturperiode wurde einSchritt unternommen, um eine Lösung für dieses Pro-blem zu finden. Denn wir haben bei den Gebührenpo-sitionen für eine Geburt einen Aufschlag erhoben . Dasheißt, man hat versucht, die gestiegenen Kosten dadurchauszugleichen, dass man gesagt hat: Für eine Leistungbekommt man einen Ausgleich von 100 Prozent . Jetztwird noch etwas obendrauf geschlagen . Mit diesem zu-sätzlichen Geld kann man versuchen, seine Haftpflicht-prämie zu bezahlen .Es war natürlich so, dass dies keine Lösung für denländlichen Raum war, in dem viele Hebammen prakti-zieren, die nur wenige Geburten begleiten . Es habenvielmehr vor allem die Hebammen profitiert, die vieleGeburten begleitet haben . Dies ist nur für eine begrenzteZeit eine gute Lösung gewesen . Deswegen haben wir indieser Legislaturperiode gesagt: Wir müssen dieses Sys-tem neu aufstellen .Wir haben jetzt nach entsprechenden Verhandlungeneinen Sicherstellungszuschlag im Gesetz festgeschrie-ben . Das heißt: Wer als Hebamme im Jahr vier Gebur-ten begleitet, also pro Quartal eine, der kann von derKrankenkasse einen Ausgleich einfordern . Damit ist derallergrößte Teil der Kosten für die Haftpflichtprämie ge-deckt . Es ist nämlich so, dass es auch im Falle von Kos-tensteigerungen bei der Haftpflichtprämie, die es in denElisabeth Scharfenberg
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nächsten Jahren wohl geben wird, einen Ausgleich gibt,der natürlich immer entsprechend angepasst wird . Her-ausgerechnet wurde zum Beispiel der Fall, dass jemandprivat versichert ist; auch andere Bereiche wurden ausder Gesamtsumme herausgerechnet . Aber ein Kostenaus-gleich findet statt.Nun kann man darüber streiten, aus welchem Topfdas Geld genommen werden soll . Sollen die Versicher-ten dies durch ihre Beitragszahlungen leisten, oder solldies steuerfinanziert werden? Darüber kann man natür-lich diskutieren . Aber es lohnt sich jetzt wieder – auchfür wenige Geburten, und dies betrifft auch die Hausge-burten –, Geburtshilfe anzubieten . Deswegen ist dies derentscheidende und wichtige Punkt .Es wurden schon verschiedene Statistiken bemüht .Laut GKV-Spitzenverband gibt es 18 000 freiberuflicheHebammen . Davon machen lediglich 5 000 Geburtshil-fe . Das heißt, wir haben ein Potenzial von 13 000 Heb-ammen, die keine Geburtshilfe mehr anbieten . Der Grunddafür liegt bei einem großen Teil von ihnen darin, dassdie Haftpflichtprämie so massiv gestiegen ist.
Jetzt können wir ganz klar anbieten: Passt auf, ihrmüsst im Jahr vier Geburten begleiten . Dann bekommtihr einen Ausgleich für die Versicherung . – Das ist dochein gutes Angebot . Deswegen wird unsere Aufgabe sein,genau hinzugucken, wie viele Hebammen sich jetzt tat-sächlich wieder bereit erklären, in die Geburtshilfe zugehen . Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich die eine oderandere Hebamme wieder dazu bereit erklärt, weil siesagt: Ich habe mehr Sicherheit, was meine Haftpflicht-prämie angeht .
Wir wollten damit eine nachhaltige Lösung anstreben .Um es noch einmal deutlich zu machen: Wenn wir in dennächsten Jahren einen Anstieg der Versicherungsprämiezu verzeichnen haben werden, dann wird dieser abgefe-dert; das Problem wird also nicht auf dem Rücken derHebammen ausgetragen . Deswegen ist es auch so, dassIhre Anträge absolut überholt sind .Die Grünen schreiben in ihrem Antrag – wir habengestern schon im Ausschuss miteinander darüber ge-sprochen –, dass immer mehr Geburtshäuser schließenwürden . Das ist nicht der Fall, das stimmt einfach nicht .Natürlich schließt das eine oder andere Geburtshaus .Dafür macht aber auch das eine oder andere wieder auf .So ist es . Es sind konstant 130 Häuser . Da sind wir unsdoch einig . Es ist einfach falsch, was Sie in Ihrem Antragschreiben .Aber Sie haben in folgendem Punkt recht: Die Da-tengrundlage ist schwierig . Deshalb müssen wir daran-gehen . Ich freue mich, wenn die Grünen sich damit ein-verstanden erklären, dass anonymisierte Daten an denGKV-Spitzenverband gegeben werden .
Frau Kollegin, lassen Sie noch eine Zwischenfrage
zu? Ihre Redezeit ist sonst abgelaufen bzw . sogar über-
schritten . Insofern haben Sie noch die Chance, länger zu
reden .
Ja .
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Zwi-
schenfrage noch zulassen . – Frau Kollegin, der Deut-
sche Hebammenverband mit seinen 19 000 Mitgliedern
und 16 Landesverbänden hat in seiner Pressemitteilung
ausdrücklich auf den heutigen Tag verwiesen und ge-
sagt: Die Anträge der Grünen und der Linken und ganz
besonders der gemeinsame Haftungsfonds für alle Ge-
sundheitsberufe könnten eine tragfähige Lösung für die
Zukunft sein . – Meine Frage ist: Haben Sie das gelesen?
Würden Sie das bitte auch einmal zur Kenntnis nehmen?
Uns geht es dabei gar nicht nur – und das trifft auch
auf den Deutschen Hebammenverband zu – um die nie-
dergelassenen Hebammen . Wir wollen nicht die eine ge-
gen die andere Gruppe ausspielen, sondern es geht uns
um den Berufsstand als Ganzes, dass er abgesichert wird
und die Haftpflichtprämien in den Krankenhäusern nicht
ins Unermessliche steigen .
Natürlich nehmen wir die wertvolle Arbeit der Ver-bände auch zur Kenntnis . Für uns war es deswegen wirk-lich eine Herzensangelegenheit, eine nachhaltige Lösungfür die freiberuflich tätigen Hebammen zu finden, indemdie Mehrkosten von der Gemeinschaft getragen werden .Fakt ist aber auch: Am Ende des Tages wird irgendje-mand zahlen müssen . Das heißt, egal wie wir herumrech-nen oder welchen Topf wir nehmen: Am Ende des Tageswerden aufgrund des medizinischen Fortschritts die Kos-ten auch zukünftig steigen, wenn eine Schädigung – beiden betroffenen Kindern oder Müttern – eingetreten ist .
Wir schätzen also die wertvolle Arbeit . Aber in den An-trägen sind viele Punkte enthalten, die einfach schon ab-gearbeitet sind .
Es ist doch eine Tatsache, dass das Problem im Mo-ment nicht nachhaltiger gelöst werden kann, als wir esjetzt getan haben .
Die Hebammen werden entlastet und müssen nicht mehrdie hohen Prämien zahlen, und das war unser Ziel .
Was wir bei der Datengrundlage natürlich – –Emmi Zeulner
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Ich möchte Sie einfach bitten, zum Schluss zu kom-
men, weil Ihre Redezeit vorhin schon überschritten war .
Gut, dann komme ich zum Schluss . – Sie sind ja auch
an verschiedenen Landesregierungen beteiligt . In Bay-
ern wurde von der Staatsministerin Huml eine Studie in
Auftrag gegeben . Wir werden dabei genau hingucken,
wie es mit den Hebammenschulen, mit den Strukturen
und mit der Verteilung der Hebammen ausschaut, weil
unser Bekenntnis zu unseren Hebammen nicht einfach
nur ein Lippenbekenntnis ist . Deshalb steht im Gesetz-
entwurf auch, dass es zwingend notwendig ist, dass eine
Hebamme bei der Geburt dabei ist, aber nicht unbedingt
ein Arzt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt muss ich doch
eingreifen .
Danke .
Es geht einfach nicht, dass man die Redezeit um mehr
als eine Minute überschreitet . Ich bitte wirklich, auf die
Redezeit zu achten . Mehrere Redner haben jetzt überzo-
gen . Das ist nicht akzeptabel .
Wir müssen heute noch viele Anträge beraten, und ich
bitte wirklich darum, das zu berücksichtigen . Das ist kei-
ne böse Intervention der Präsidentin, sondern ich habe
hier auch die Aufgabe, darauf zu achten, dass wir einiger-
maßen im Zeitplan bleiben . Das gelingt nicht, wenn jeder
die Redezeit nicht einigermaßen einhält .
Frau Bertram, Sie haben jetzt das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren oben auf denTribünen! Als wir vor rund zwei Jahren mit der Situationkonfrontiert wurden, dass die Haftpflichtversicherer dieVersicherungen der Hebammen gekündigt hatten, warenwir alle in Sorge . Es ging damals vor allen Dingen darum,diesen Berufsstand für die Zukunft sicher zu machen . Vordiesem zeitlichen Hintergrund müssen die jetzigen An-träge der Linken und der Grünen gesehen werden .Ich muss ganz ehrlich sagen: Bei dem Szenario, dasich von Frau Möhring und auch von Frau Scharfenberggehört habe, wundere ich mich wirklich, dass überhauptnoch Kinder geboren werden, dass sich also junge Frauenund Männer dazu entschließen, Kinder in die Welt zu set-zen . Das Szenario, das Sie hier aufgemalt haben, stimmteinfach nicht .
Wir als Gesetzgeber, die Bundesregierung und diePartner im Gesundheitssystem sind in diesen zwei Jahrenkeineswegs untätig geblieben . Schon 2012, also schonvor vier Jahren, wurde gesetzlich klargestellt, dass dieKrankenkassen steigende Haftpflichtprämien bei derVergütung der Hebammen berücksichtigen müssen . Heb-ammen, die aufgrund weniger betreuter Geburten diePrämie für die Berufshaftpflichtversicherung nicht auf-bringen können, erhalten seit dem letzten Herbst einenSicherstellungszuschlag für die Geburten . Damit wirdeine wichtige Voraussetzung für den Erhalt einer flächen-deckenden Versorgung mit Hebammenhilfe erfüllt .Die GKV gleicht Kostensteigerungen der Berufshaft-pflichtversicherung aus, die direkt mit der Berufsaus-übung der Hebammen zulasten der GKV zusammenhän-gen . Pro Jahr übernimmt die GKV damit zwischen 4 000und bis zu 6 500 Euro pro Hebamme, je nach Höhe dergezahlten Prämie . Mit der jetzigen Regelung wird nun,wie vom Gesetzgeber gewollt, ein individueller Haft-pflichtkostenausgleich für Geburtshebammen erreicht.Ja, ich weiß, der Vertrag über die Versorgung mit Heb-ammenhilfe musste von der Schiedsstelle entschiedenwerden, weil sich die Partner nicht einig geworden sind .Ich weiß auch, dass der Deutsche Hebammenverband da-gegen Klage erhoben hat, weil dieser Beschluss seinerAuffassung nach rechtswidrig ist . Warten wir also daslaufende Verfahren ab .Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz haben wirauch klargestellt, dass die Kranken- und Pflegekassen aufRegressforderungen gegenüber freiberuflichen Hebam-men verzichten, mit Ausnahme von Vorsatz oder groberFahrlässigkeit . Damit trägt der Bund dazu bei, die Versi-cherungsprämien langfristig zu stabilisieren . Gleichzei-tig bleibt sichergestellt, dass ein geschädigtes Kind undseine Familie weiterhin die erforderliche Hilfe erhalten,wenn es zu einem Behandlungsfehler gekommen ist .Die Anträge der Linken und der Grünen gehen darü-ber hinaus . So fordern die Grünen, eine Neuordnung derBerufshaftpflichtversicherung für alle Gesundheitsberufenach dem Vorbild der Unfallversicherung zu prüfen .
Die Linke vermeidet zwar den Begriff der Unfallversi-cherung, fordert aber die Schaffung eines gemeinsamenHaftungsfonds für Behandlungsfehler zugunsten allerLeistungserbringer nach dem SGB V .
Dazu gibt es rechtliche Bedenken wie die Frage derGleichbehandlung mit Leistungserbringern außerhalbder GKV und die Frage der Bundeszuständigkeit bei der
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Verpflichtung zum Abschluss einer Berufshaftpflichtver-sicherung .Für mich stellen sich in diesem Zusammenhang be-sonders folgende Fragen: Was bedeutet dies für die Pa-tienten? Gibt es kein Verschulden mehr? Gibt es keineindividuellen Fehler mehr, für die jemand einzustehenhat? Wird jeder Verstoß gegen die anerkannten Regelnder Heilkunst zum Unfall oder zum Quasiunfall erklärt?Soll das die Patientensicherheit wirklich erhöhen? Ichfürchte, genau das Gegenteil wäre das Ergebnis .Ich denke, wir tun gut daran, die Anträge der Grünenund der Linken abzulehnen .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Ich schließe die Debatte .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksa-
che 18/8426. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1483 mit dem
Titel „Zukunft der Hebammen und Entbindungspfleger
sichern – Finanzielle Sicherheit und ein neues Berufsbild
schaffen“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die-
se Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen
worden .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/850
mit dem Titel „Geburtshilfe heute und in Zukunft si-
chern – Haftpflichtproblematik bei Hebammen und an-
deren Gesundheitsberufen entschlossen anpacken“ . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist auch diese Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
– Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesre-
gierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Militärmis-
sion der Europäischen Union als Beitrag
zur Ausbildung der malischen Streitkräfte
auf Grundlage des Ersuchens
der Regierung von Mali an die EU sowie der
Beschlüsse des Rates der EU 2013/87/GASP
vom 18. Februar 2013, zuletzt geändert mit
dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/
GASP vom 23. März 2016 in Verbindung
mit den Resolutionen des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen 2071 vom
12. Oktober 2012 und folgender Resolutio-
nen, zuletzt 2227 vom 29. Juni 2015
Drucksachen 18/8090, 18/8284
Drucksache 18/8285
Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner hat
Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich wieder-hole einmal das Thema des Antrages, über den wir heuteabstimmen, weil auf der elektronischen Anzeigetafel nurlapidar „Bundeswehreinsatz in Mali“ zu lesen ist . Ichnenne es noch einmal so, wie es im Titel des Antragessteht: EUTM Mali, ins Deutsche übersetzt: Ausbildungs-mission der Europäischen Union in Mali .Ich sage das ganz bewusst zu Beginn meiner Rede,weil die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten, die beidieser Mission eingesetzt werden, auf maximal 300 be-grenzt ist . Ich wiederhole: 300 . Ich weiß, dass an dieserStelle immer wieder über Militarisierung und die Aus-weitung von Mandaten und anderen Dingen gesprochenwird. Ich finde, die Entsendung von 300 Soldatinnen undSoldaten nach Mali zur Ausbildung ist ein eher beschei-dener Beitrag zur Stabilisierung eines Landes, das nichtnur für uns, sondern auch für die Region und ihre Men-schen von absolut hoher Bedeutung ist .
Ich würde mir – wie ganz sicher alle in diesem HohenHause – wünschen, dass wir über solche Mandate nichtmehr abzustimmen bräuchten . Aber wir wissen, dass dieSituation in und um Mali nicht so ist, dass man sagenkann: Dort ist alles in Ordnung .Vor knapp einem Jahr, am 20 . Juni 2015, ist in Bama-ko mit großem Trara ein Friedensvertrag verabschiedetworden, von dem einer der Beteiligten gesagt hat – ichzitiere –: „Das ist ein Friedensvertrag, wie es ihn im Zu-sammenhang mit bewaffneten Konflikten in Afrika nochnicht gegeben hat .“Von Anfang an war klar, dass dieses Abkommen vonhoher Fragilität ist, um es vorsichtig auszudrücken . Eshat zu diesem Zeitpunkt viel Kritik gegeben . Aber es istimmerhin etwas entstanden, was viele Beobachter nichtUte Bertram
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geglaubt haben . Nach einem seit 2012 eskalierendenKrieg insbesondere im Norden des Landes, wo eine mi-litante Tuareg-Gruppe einen eigenständigen Staat grün-den wollte, hat es in der Tat geklappt, dass sich die dreigroßen Gruppen an einen Tisch gesetzt und gesagt ha-ben: Wir versuchen es mit einer Verfassung und einemdemokratischen Staat . – Das alleine verdient nicht nurRespekt, sondern auch Unterstützung . Ich glaube, EUTMMali ist ein Teil dieses Respekts und dieser Unterstüt-zung, die wir den Menschen in der Region und den Ver-suchen schulden, die Region zu stabilisieren .
Wir alle wissen – diese Erfahrung ist, glaube ich, nichtganz frisch; sie ist historisch begründet –, dass alleine mitmilitärischen Mitteln Frieden, Stabilität und die Durch-setzung von Menschenrechten nicht gewährleistet wer-den können . Aber es gibt auch Situationen – darüber ha-ben wir in diesem Hause schon oft diskutiert –, in denenes eben nicht ohne einen solchen Einsatz geht . Es wirdleider nicht funktionieren, wegzuschauen und nur mit zi-vilen Mitteln, mit Mitteln der humanitären Hilfe und derEntwicklungszusammenarbeit Unterstützung zu leisten .Das ist, glaube ich, auch eine historische Erfahrung, mitder wir umzugehen haben. Deshalb finde ich es nach wievor richtig und wichtig, dass Deutschland dieses Mandatweiterhin unterstützt .
Ich glaube – das ist mir ganz wichtig –, dass wir auchin dieser Debatte nicht nur über den militärischen Teil derUnterstützung und der Zusammenarbeit mit Mali und derSahelregion insgesamt reden, sondern auch über die an-deren Bereiche, die für alles, was intern in den Länderngeschieht, sehr viel bedeutsamer sind . Das darf man nichtvergessen; denn der Deutsche Bundestag berät zwar ver-pflichtend über die Mandatierung von Auslandseinsätzender Bundeswehr – das ist natürlich gut –, aber wir disku-tieren die anderen Bereiche, die die Frage betreffen, waswir ansonsten tun und was in dieser Region beispiels-weise im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit not-wendig ist, nicht regelmäßig im Bundestag. Das finde ichmanchmal etwas schade . Deshalb möchte ich genau die-sen Punkt noch einmal ansprechen .
Im Moment wissen leider viele der betroffenen Men-schen in Mali noch nicht so richtig, was im Friedens-vertrag steht . Die Friedensdividende ist noch nicht inder Region angekommen . Viele Menschen stellen sichFragen: Wie geht es weiter? Was bringt uns eigentlichdie Verfassung? Profitieren wir als Bürgerinnen und Bür-ger des Landes Mali eigentlich davon? Bei vielen sindalso die positiven Wirkungen des Friedensvertrages nochnicht richtig angekommen .Die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet seit Jahrzehntenan der Basis in Mali und führt jedes Jahr einen sogenann-ten Mali Maître, eine Meinungsumfrage, unter den Bür-gerinnen und Bürgern durch . Danach sagen viele: Wirhaben relativ wenig von der Friedensdividende, die inden letzten Jahren verteilt wurde . Die Bürger haben abernoch etwas Bemerkenswertes gesagt . Im Dezember 2015hat die Umfrage ergeben, dass unter all den Prozessen,um die es dort geht, die Entwicklung der malischen Si-cherheitskräfte positiv bewertet wird . Ich glaube, diesesErgebnis ist auf die Arbeit von EUTM vor Ort und diewichtige Form der Entwicklungszusammenarbeit vonEuropa und insbesondere von Deutschland zurückzufüh-ren .Deutschland ist der viertgrößte bilaterale Geber im Be-reich der Entwicklungszusammenarbeit . Wir kümmernuns um den Staatsaufbau, die Versorgung mit Grundnah-rungsmitteln, Wasserprojekte usw . Nicht isoliert, sondernnur im Kontext mit anderen politischen Maßnahmen istder Einsatz EUTM Mali für uns zielführend . Deshalbwerbe ich um Zustimmung . Die SPD-Bundestagsfrakti-on wird jedenfalls zustimmen .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Christine
Buchholz von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr alsdrei Jahre sind deutsche Truppen nun schon in Mali . DerEinsatz von Militärausbildern im Rahmen des EU-Man-dats EUTM Mali, über das wir heute beschließen, findet,Herr Strässer, in enger Abstimmung mit der Blauhelm-mission MINUSMA und der französischen Kampfope-ration Barkhane statt . Das alles ist nicht voneinander zutrennen .
Seit Jahren befinden sich in diesem Land mehr aus-ländische als einheimische Soldaten . Doch ein Ende derEinsätze ist nicht in Sicht . Vielmehr will die Bundesre-gierung das Einsatzgebiet der Militärausbilder noch aus-weiten auf Städte wie Timbuktu und Gao im gefährlichenNorden des Landes . Warum ist das so? Der Bundesregie-rung geht es darum, Seite an Seite mit der ehemaligenKolonialmacht Frankreich, die schon lange in Westafrikainvolviert ist – nicht zuletzt aus wirtschaftlichem Interes-se an den Rohstoffen –, eine deutsche militärische Dau-erpräsenz in der Sahelzone aufzubauen .
Die Linke sagt: Wir brauchen in Mali keinen Endlosein-satz wie in Afghanistan .
Um den Einsatz der Bundeswehr zu rechtfertigen,behaupten Außenminister Steinmeier und Verteidigungs-ministerin von der Leyen in einem Brief an die Fraktio-nen, Sicherheit und humanitäre Lage hätten sich in MaliChristoph Strässer
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„verbessert“ . Das hat mit einer realistischen Lageein-schätzung nichts zu tun . Die Lage im Norden Malis istunverändert angespannt . Gerade gestern erreichte uns dieNachricht, dass der stellvertretende malische Komman-deur des Militärbezirks Gao in einem Hinterhalt getötetwurde .Aber auch die Lage im Süden des Landes, der immersicherer war, hat sich im Laufe der drei Jahre verschlech-tert . Es gab einen schrecklichen Anschlag auf ein Hotelin Bamako im letzten November . Selbst das Hauptquar-tier der EU-Militärmission mit ihren 30 Bundeswehrsol-daten wurde im März angegriffen . Fakt ist: Weder diefranzösische Kampfoperation noch die Bundeswehrein-sätze haben Mali sicherer gemacht .Im Rahmen der EU-Ausbildungsmission soll nun diemalische Armee gestärkt werden . Doch die malische Ar-mee ist selbst Teil des Problems . Das zeigt neben vielenvorherigen Vorfällen, die wir aufgezeigt haben, ihr Vor-gehen im neuesten Krisenherd im Zentrum des Landes .Dort ist vor dem Hintergrund langjähriger sozialer Pro-bleme, aber auch als Reaktion auf die Präsenz ausländi-scher Truppen im Land nun auch unter dem Stamm derFulbe eine aufständische Miliz entstanden . Die malischeArmee reagiert darauf mit brutaler Gewalt . Der Men-schenrechtsaktivist Oumar Aldjana sagte dazu im fran-zösischen Fernsehsender TV5 Monde, dass Armee undBamako-treue Milizen keinen Unterschied zwischenKämpfern und Zivilisten machten . Alle Fulbe würdenverdächtigt . Im Laufe des Aprils wurden so von der Ar-mee und ihren Verbündeten mehr als 15 Zivilisten getö-tet . Wohlgemerkt: Es handelt sich um dieselbe Armee,die unter dem vorliegenden Mandat ausgebildet wird .EUTM Mali ist also kein Projekt, das zum Aufbau desLandes beiträgt; es ist eine Mission, die die malische Ar-mee selbst zur Kriegsführung befähigen soll .Der Frieden wird auch nicht durch ausländische Trup-pen ins Land kommen . Das haben die Ereignisse des ver-gangenen Monats verdeutlicht . Am 18 . April kam es inder von Tuareg kontrollierten Wüstenstadt Kidal zu De-monstrationen gegen willkürliche Verhaftungen, die diefranzösische Armee dort durchführte . 30 Frauen besetz-ten die Landebahn des Flugplatzes, um ihre verhaftetenMänner freizubekommen . Es kam zur Konfrontation mitden Soldaten der UN-Truppe MINUSMA – auch daranist Deutschland beteiligt –, Jugendliche eilten den Frau-en zu Hilfe . Die UN-Blauhelme eröffneten daraufhin dasFeuer auf die Demonstranten . Mindestens zwei Tuaregstarben . Ich frage die Bundesregierung: Wo ist der Frie-den, den diese Blauhelme erhalten sollen?
Die Linke ist überzeugt, dass auch in Mali Frieden nurvon innen wachsen kann . Ansätze dazu gibt es .
Im März rief die ehemals aufständische Tuareg-Koaliti-on CMA in Kidal zu einer Versöhnungskonferenz . DieRegierung entsandte übrigens keine Vertreter . Dafür kamaus dem Süden mit Oumar Mariko ein bekannter Vertre-ter der malischen Linken . Er sagte, Tuareg und andereVolksgruppen dürften sich nicht gegeneinander ausspie-len lassen . Die wahren Feinde seien jene Eliten, die mitden westlichen Truppen kooperierten, welche das Landnur als Sprungbrett für ihre wirtschaftlichen Interessenund für den Aufbau einer dauerhaften Militärpräsenzbenutzten . Ich sage Ihnen, auch Ihnen von den Grünen:Oumar Mariko hat recht .
Die Linke will nicht, dass die Bundeswehr Schritt fürSchritt zu einer Konfliktpartei nun auch in der Sahelzonewird . Deshalb werden wir auch dieses Mandat ablehnen .Vielen Dank .
Als nächster Redner hat Henning Otte von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Man muss sich schon sehr über die Worte meiner Vor-rednerin wundern, die mit einer Baukastenrede, die vonideologischer, rhetorischer Kampfkunst geprägt ist, be-stimmte Inhalte zu vermitteln versucht .
Da muss ich sagen: Wie wohltuend war doch die Redevon Herrn Strässer, der ausgewogen und umfassend dar-gestellt hat, um was es geht . Dafür danke ich ihm .
Viel schlimmer aber war etwas anderes, FrauBuchholz . Wir hatten die Möglichkeit, mit einer Dele-gation des Deutschen Bundestages in Begleitung unsererVerteidigungsministerin nach Mali zu fahren, um uns vorOrt einen Einblick in die Lage zu verschaffen . Kurzfris-tig hat die Vertreterin Ihrer Fraktion abgesagt .
Man merkt hier ganz genau, dass Ihre Rede nicht vonKenntnis, sondern von Ideologie geprägt ist .
Sie nehmen die Sorgen und das Leid der Menschen nichternst. Das ist das Verwerfliche an Ihrer Rede.
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Die Sicherheit Malis ist auch unsere Sicherheit . Des-halb verlängern wir heute das EUTM-Mandat . KonkretesZiel ist es nämlich, die malische Armee in die Lage zuversetzen, selbst im Land für Sicherheit zu sorgen; dennSicherheit ist nun einmal die wichtigste Voraussetzungfür eine zivile Entwicklung, für die Errichtung von In-frastruktur und für Bildung und damit für Stabilität nachinnen und nach außen .Die Mission, die seit 2013 besteht, ist erfolgreich .Acht malische Gefechtsverbände – das sind fast zweiDrittel der malischen Landstreitkräfte – wurden ausge-bildet . Sie wurden zum Bau von behelfsmäßigen Brü-cken ausgebildet, zum Erkennen von Sprengfallen, dievon IS-Kämpfern angebracht werden, sie wurden zur Ab-wehr von Beschussangriffen und zur Sicherstellung derErsten Hilfe ausgebildet . Sie wurden in Koulikoro, in derNähe der Hauptstadt Malis, auch von der Bundeswehrausgebildet . Das ist der Garant für eine sicherheitspoliti-sche Gesamtstrategie . Dazu leistet die Bundeswehr einenBeitrag, und dafür danken wir ganz herzlich .
Diese Gesamtstrategie – GSVP – setzt sich aus vierwesentlichen Bausteinen zusammen, nämlich einmal derBekämpfung terroristischer Kräfte durch französischeEinheiten, aber eben auch durch eine zivile Mission,nämlich EUCAP Sahel, außerdem durch die Mandatie-rung von MINUSMA, einem Mandat der Vereinten Na-tionen, zu dem auch Deutschland einen Beitrag leistet .Hinzu kommt EUTM Mali .Seit 2013 sind wiederholt Gefechtsverbände ausge-bildet worden . Auch das zeigt den Nachhaltigkeitseffektdieses Auftrages . Gemeinsam leisten wir dies in der Völ-kergemeinschaft mit unseren Partnern für mehr Stabilitätund Sicherheit, und das ist richtig und notwendig .Warum eigentlich Mali? Weil Mali Teil eines Ringesist von Syrien über Jemen, Somalia, den Sudan und denTschad, der akut vom Terror bedroht ist . Dabei dürfenwir auch Libyen nicht aus den Augen verlieren, nämlichum zu verhindern, dass sich der IS-Terror dort weitereinnistet . Hier ist Mali eben ganz besonders gefährdet,unterwandert zu werden . Immer wieder ist dieses Landvom IS-Terror angegriffen worden, von einem Terror,der über Staatsgrenzen hinweg brutal mordend gegenAndersgläubige vorgeht, der Mütter und Väter tötet undKinder verschleppt .
Ganze Regionen sind dadurch destabilisiert worden . Dasist auch eine Gefahr für Europa und für Deutschland .Daher nochmals: Die Sicherheit Malis ist auch die Si-cherheit Deutschlands . Deswegen ist diese Mandatierungnotwendig .
Wir haben erkannt, dass wir dort helfen müssen, woKrisen entstehen, damit sie nicht zu wandern beginnen .Je stabiler die Region Mali ist, desto besser werden wirdie Ursachen für illegale Migration beseitigen . Wenn esuns mit dem Frieden, der Stabilität, der Sicherheit, derBekämpfung von Fluchtursachen,
der Reduzierung von Flüchtlingsbewegungen und derWahrung von Menschenrechten ernst ist, dann ist Malider richtige Ort, um zu helfen .
Dieses Vorgehen im Rahmen der Ertüchtigungsstrategieder Bundesregierung hilft, Stabilitätsanker zu setzen,ganz nach dem Motto: Gib den Menschen keine Fische,sondern lehre sie, zu angeln . – Mali ist hierfür ein Bei-spiel; beispielgebend für die afrikanische Region, fürTunesien und Nigeria, für Jordanien – –
– Wie bitte?
– Ich meine das, was Sie danach gesagt haben .
Ich will nur sagen: Wir lassen das Leid der Menschennicht aus den Augen . Wir helfen ihnen, und deswegenhandeln wir entsprechend der Ertüchtigungsstrategien inAfrika, im Nahen Osten, etwa in Jordanien und im Irak,zum Beispiel, um den Menschen bei der Minenräumungoder beim taktischen Vorgehen gegen Aggressoren zuhelfen . Wir liefern auch Ausrüstungsmaterial und leistenAusbildungshilfe . Meine Damen und Herren, dort woKriminalität, Terrorismus und Leid gedeihen, da gibt eskeine Staatlichkeit .In dies immer eingebunden sein müssen Diplomatieund zivile Entwicklung . Da ist die Bundeswehr gefor-dert . Die Sicherheitslage hat sich – das ist nun einmalso – grundlegend geändert . Die Bundeswehr leistet einenEinsatz in der Krisenbewältigung, in der Bündnisvertei-digung . Sie hilft bei Ebolaeinsätzen oder auch bei der Re-gistrierung von Flüchtlingen und deren Unterbringung .Dafür braucht sie auch die notwendige personelle, finan-zielle und materielle Ausrüstung .Abschließend möchte ich auch einmal unserer Ver-teidigungsministerin dafür Dank sagen, dass wir eineTrendwende hinbekommen haben, dass wir die Bundes-wehr so ausstatten, dass sie diese Aufgaben auch erfüllenkann . Ich verweise auf die aktuellen HerausforderungenHenning Otte
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in Mali . Ich danke den Männern und Frauen der Bundes-wehr und allen anderen Beteiligten, die zu dieser Stabili-sierung, zur Erlangung dieser Sicherheit und dieses Frie-dens beitragen, damit wir hier in Deutschland in Friedenund Freiheit leben können . Deswegen bitten wir um dieZustimmung zu diesem Mandat .Herzlichen Dank .
An die Adresse des Kollegen Wunderlich: Zu den par-lamentarischen Gepflogenheiten gehört es, dass man sichmit Argumenten auseinandersetzt .
Wenn man mit Argumenten nicht einverstanden ist, kannman Gegenargumente äußern . Es gibt unterschiedlicheMöglichkeiten, Gegenargumente hier vorzubringen .Zwischenfragen, Kurzinterventionen; das ist alles mög-lich. Ich bitte, die parlamentarischen Gepflogenheiten zubeachten und sich auseinanderzusetzen, aber eben argu-mentativ .
Herr Schmidt hat das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Fraktion ist mit großer Mehrheit derAuffassung, dass es richtig war und ist, dass die inter-nationale Gemeinschaft in Mali nach dem Zusammen-bruch der malischen Armee und dem Zurückschlagen derislamistischen Angreifer durch französisches Militär inmehrfacher Hinsicht Verantwortung in Mali übernom-men hat:
die UN-Blauhelme schwerpunktmäßig im Norden, umden mühsam ausgehandelten Friedensprozess im Tua-reg-Gebiet jetzt abzusichern, und die Europäische Unionmit ihrer Ausbildungsmission für die malische Armee imSüden . 27 Länder unterstützen diese Ausbildungsmissi-on .Wir begrüßen auch, dass diese beiden Missionen engzusammenarbeiten – Deutschland beteiligt sich ja auchan beiden Missionen – und eng aufeinander abgestimmtwerden . Das ist sinnvoll und richtig . Darum halten wirauch die Ausdehnung der Ausbildungsmission auf denNorden, die das neue Mandat ja jetzt vorsieht, für sinn-voll und vertretbar .
Wir tun das, obwohl klar ist, dass diese Mission vonnun an auch in einem sehr gefährlichen Umfeld statt-findet, nämlich im Operationsraum der UN-Truppen imNorden . MINUSMA gilt gegenwärtig zu Recht als diegefährlichste UN-Mission mit über 68 toten Blauhelm-soldaten in den letzten zwei Jahren. Es ist unsere Pflicht,das hier auch ganz klar zu sagen .Immer wieder kommt es zu Kämpfen zwischen derZentralregierung und den Rebellen bzw . zwischen ver-schiedenen Rebellengruppen, und immer wieder geratenMINUSMA-Soldaten zwischen die Fronten . Menschenflüchten vor diesen Kämpfen, und die überwiesenenHilfsgelder reichen gegenwärtig wieder einmal nicht aus,um alle hilfsbedürftigen Menschen zu erreichen . Da gibtes nichts schönzureden .Aber trotz dieser Schwierigkeiten und Rückschlägehat es die UNO geschafft, den Friedensprozess weitervoranzutreiben, zwar nur langsam – Kollege Strässer hatdas auch erklärt –, Schritt für Schritt, aber es bewegt sichetwas . Die UNO und die Europäische Union brauchenund verdienen dabei auch weiterhin unsere Unterstüt-zung .
Es gibt in dem neuen Mandat, das uns zur Beschluss-fassung vorliegt, eine zweite Veränderung, die wir alsproblematisch ansehen und die Fragen aufwirft, die wirhier wirklich gründlich diskutieren sollten . In die Aus-bildung sollen nun auch Militärs aus den sogenanntenG-5-Sahelstaaten einbezogen werden . Das sind nebenMali Mauretanien, Niger, Tschad und Burkina Faso .Es bleibt unklar, wie die Auswahl dieser Soldatenstattfindet, wie viele es sein werden, welche Ausbil-dungsziele und späteren Aufgaben vorgesehen sind . Fastalles scheint hier sowohl konzeptionell als auch konkretweitgehend ungeklärt zu sein . Gerade eine grenzüber-schreitende Kooperation im Sahelgebiet ist politischhochsensibel . Das gilt auch für die weitgehend unklareZusammenarbeit mit der französischen Operation Bark-hane . Über deren Aktionen wird offensichtlich auch dieFührung der Bundeswehr nur – sage ich einmal vor-sichtig – fragmentarisch informiert . Diese neuen Aus-bildungsmöglichkeiten für Soldaten von vier weiterenArmeen zu schaffen, ohne eine konkrete Planung dazuvorzulegen, das ist politisch nicht wirklich plausibel .
Die Informationen, die die Bundesregierung dazugibt – auch in den Ausschussberatungen –, sind äußerstvage und bisher sehr unbefriedigend . Unter diesen Um-ständen ist es uns auch besonders wichtig, dass das Man-dat eine Einsatzbegleitung durch deutsche Ausbildernicht vorsieht . Wir werden den Einsatz in dieser Hinsichtsehr kritisch begleiten .Aber trotz dieser Bedenken wird die große Mehrheitmeiner Fraktion diesem Einsatz erneut zustimmen .
Denn es gilt, die Chance auf einen erfolgreichen Frie-densprozess in Mali zu nutzen . Eine erfolgreiche undHenning Otte
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stabile Entwicklung in Mali ist entscheidend für die po-litische Zukunft der ganzen Sahelzone . Deshalb ist dasEngagement Deutschlands wichtig und richtig, und es istgut, wenn wir es hier in diesem Hause breit tragen .Danke schön .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Thomas
Hitschler von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Kennen Sie den Ausspruch: „Dann geh dochnach Timbuktu!“? Das hat man früher Leuten empfohlen,die man möglichst weit weg haben wollte . Um es gleichvorweg zu sagen: Das ist nicht der Grund, warum wir dieBundeswehr nach Mali schicken; sonst würde am Endevielleicht noch die Linkspartei dem Mandat zustimmen .Warum aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, schi-cken wir deutsche Soldatinnen und Soldaten nach Mali?Auch wenn wir heute nur über die EU-Trainingsmissionentscheiden, muss man diese Debatte etwas weiter fas-sen . Deutschland ist nicht nur der größte Truppenstellerbei EUTM Mali, sondern auch mit über 70 MillionenEuro in der Entwicklungshilfe, im Rahmen von EUCAPbei der Ausbildung der Polizei sowie in der UN-Frie-densmission MINUSMA engagiert . Mali ist eines dergefährlichsten Einsatzgebiete der Welt, Kolleginnen undKollegen; auch darüber muss man kritisch diskutieren .Im vergangenen Jahr fielen dort 29 Blauhelmsolda-ten der UN; 80 wurden verletzt . Im Dezember fandendie letzten Raketenangriffe auf das Camp Castor statt, indem auch deutsche Soldaten untergebracht sind . Im Märzwurde ein Al-Qaida-Angriff auf das Hotel in der mali-schen Hauptstadt Bamako abgewehrt, in dem sich dasEUTM-Hauptquartier befindet. Im April fielen drei fran-zösische Soldaten durch die Explosion einer Mine . Wirsind in Gedanken auch bei ihnen, wenn wir über diesenEinsatz heute entscheiden, Kolleginnen und Kollegen .Die Einsätze der Bundeswehr in Mali sind keineKampfeinsätze . Trotzdem stehen dort auch deutsche Sol-datinnen und Soldaten im Fadenkreuz der Dschihadisten .Mit der Ausweitung der Mission an den Niger-Bogenvon Timbuktu bis Gao rücken sie noch näher an die Ope-rationsgebiete der örtlichen Ableger von al-Qaida undvon dem sogenannten „Islamischen Staat“ . Gerade weilwir unsere Truppe einem solchen Risiko aussetzen, müs-sen wir diesen Einsatz außerordentlich gut begründen .Das schulden wir unseren Bürgerinnen und Bürgern; dasschulden wir als Parlamentarier aber auch unserer Parla-mentsarmee .Bamako, Brüssel, Jakarta, Mogadischu, Kairo, Anka-ra, Stawropol, Kabul und Essen – eine jetzt schon zu lan-ge, aber nicht einmal komplette Liste dschihadistischerAttentate allein in diesem jungen Jahr 2016; in vielenFällen mit al-Qaida oder dem IS verbunden .Der Dschihadismus, Kolleginnen und Kollegen, ge-deiht überall dort, wo er sich dank fragiler oder gänz-lich fehlender Staatlichkeit ungehindert ausbreiten kann:Somalia, Libyen, Syrien, Nordirak oder Nordmali . Hierrekrutiert der Dschihadismus seine Kämpfer . Besonderserfolgreich wirbt er bei jungen Menschen ohne echte Per-spektive . Die Hälfte der Bevölkerung in Mali ist jüngerals 15 Jahre . Die Hälfte der Bevölkerung lebt in absoluterArmut . Über die Hälfte der Bevölkerung kann weder le-sen noch schreiben .
Hier schmuggelt der Dschihadismus seine Waffen .Mit den Waffen aus Gaddafis Arsenalen überrannten dieRebellen 2012 den Norden Malis .Hier zieht sich der Dschihadismus allerdings auchzurück . Al-Qaida-Gruppen nutzen Mali als Ausgangs-station neuer Angriffe in der gesamten Region und zumRückzug . Auch der IS hat seinen Fuß in genau dieser Tür .Hier bleibt der Dschihadismus aber nicht . Seine An-griffsziele erstrecken sich über die gesamte Welt, auchüber Europa, auch über Deutschland . Europäische Si-cherheit wird auch in Timbuktu verteidigt; da hat derKollege Otte völlig recht . Ein stabiler Staat schützt unsalle, weil er weniger Nährboden für Terroristen bietet .Ein stabiler Staat Mali entspricht deshalb unserem urei-genen sicherheitspolitischen Interesse in Deutschland .
Bereits 8 000 Soldaten, Kolleginnen und Kollegen,wurden durch EUTM Mali ausgebildet – zwei Drittel derkompletten malischen Streitkräfte . Ohne einen gut aus-gebildeten Sicherheitsapparat lässt sich ein stabiler Staatkaum machen .Es gibt Fortschritte; Christoph Strässer hat es vorhinbetont . Es gibt einen Friedensvertrag und einen Waffen-stillstand . Es gibt aktive Versöhnungsarbeit, Reintegra-tionsmaßnahmen und politische Dezentralisierung . Esgibt aber auch Hindernisse und Rückschläge; das gehörtdazu . Frank-Walter Steinmeier hat diese Probleme beiseiner Mali-Reise deutlich angesprochen . Es ist ein stei-niger Weg, Kolleginnen und Kollegen, aber man kanndarauf laufen .Der Mali-Beauftragte der Afrikanischen Union, PierreBuyoya, sagte vor wenigen Tagen: Die Terroristen bedro-hen nicht nur Mali, sondern die gesamte Region . Nord-mali ist zum Stützpunkt geworden, um Burkina Faso, dieElfenbeinküste und womöglich weitere Länder anzugrei-fen . – Der Terrorismus in der Sahelzone bedroht dabeiauch deutsche Sicherheitsinteressen .Von den Flüchtlingen, die 2016 bereits in Italien ange-kommen sind, sind fast zwei Drittel aus dem NordwestenAfrikas. Geografisch liegt Mali dort ähnlich zentral wieDeutschland in Europa . Mali und das Nachbarland Nigergelten als Drehscheibe der afrikanischen Flüchtlingsbe-wegungen .Dr. Frithjof Schmidt
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Die massenhafte Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sy-rien hat uns in Deutschland und Europa vor enorme He-rausforderungen gestellt . Ein weiterer Zerfall Malis wärenicht nur für die gesamte Region katastrophal . Auch inDeutschland würden wir die Folgen spüren . Deshalb istWegschauen definitiv keine Alternative, Kolleginnen undKollegen .
Wir schicken die Bundeswehr nicht nach Timbuktu,weil wir sie möglichst weit weg von uns haben wollen .Timbuktu war in früheren Zeiten vielleicht sehr weitweg . In heutigen Zeiten ist es sehr nah . Was dort passiert,betrifft auch unsere eigene Sicherheit . Deshalb schickenwir die Bundeswehr auch nach Timbuktu, und deshalbbitte ich Sie um Unterstützung für die Verlängerung desMandats .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Dagmar
Wöhrl das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mali ist ein Schwerpunkt unseres sicherheitspolitischenund entwicklungspolitischen Engagements . Wie wirauch schon von den Vorrednerinnen und Vorrednern ge-hört haben, ist die EUTM-Mission in Mali ohne Zweifeleiner der anspruchsvollsten und wichtigsten Einsätze derBundeswehr . Die Verlängerung und die Ausweitung desMandats sind richtig und wichtig, aber auch gefährlich .Ich glaube, das müssen wir erwähnen . Vorhin wurdeschon die Vergangenheit, wurden die Attentate, die Gei-selnahme im Hotel „Radisson Blu“, dem Hauptquartiervon EUTM Mali, und vieles mehr angesprochen .Bis 2012 interessierten sich in der Weltgemeinschaftnur sehr wenige für die Wüstenregion Mali . Das hat sichdann durch den Militärputsch 2012 geändert . Inzwischenhaben wir seit 2015 ein Friedensabkommen zwischen dermalischen Regierung und den separatistischen Rebellen-organisationen . Der Waffenstillstand hält . 80 Prozent derBevölkerung konnten inzwischen zurück in ihre Heimat-dörfer, aber immer noch befinden sich 130 000 Flücht-linge in den Nachbarländern . Immer wieder wird vonislamistischen Gruppierungen versucht, diesen Versöh-nungsprozess mit Anschlägen gegen Sicherheitskräfteund auch gegen die Bevölkerung zu untergraben . Dasheißt: Mali ist immer noch fragil, befindet sich immernoch in einer fragilen Stabilisierungsphase .Mali ist aber noch etwas anderes: Mali ist das Schlüs-selland für die gesamte Sahelregion . Das heißt, Terroris-mus, der sich in Mali festsetzt, ist ohne Weiteres über-tragbar auf die Sahelregion und kann verhindern, dass dieSahelregion eine friedliche Entwicklung nimmt . Deshalbist es konsequent, dass die Ausbildung auch auf die Si-cherheitskräfte der Nachbarländer ausgeweitet wird . Esist richtig, wie mein Vorredner auch erwähnt hat, dassman hier hinsichtlich der Ausgestaltung bestimmt nochdas eine oder andere überdenken und in die Überlegun-gen einbeziehen muss . Aber nichtsdestoweniger ist eseine richtige Entscheidung . Mali darf nicht zu einem Ter-rorcamp Afrikas werden und auch nicht zum Rückzugs-gebiet für organisierte Kriminalität .Schon heute ist es so, dass Mali die Drehscheibe desglobalen Drogenhandels auch mit Südamerika ist, schonheute ist es so, dass in Mali Menschenhandel in erschre-ckendem Ausmaß stattfindet, und schon heute ist es so,dass hier der Kreuzungspunkt des weltweiten Waffen-handels ist .Der Terror bedroht nicht nur die Sahelregion . Der Ter-ror bedroht auch uns . Der Terror bedroht auch Europa .Wir wissen, dass Mali ein Transitland für Migration ist .Das heißt, für uns ist es wichtig, Terrorismus zu bekämp-fen, die Kriminalität zu bekämpfen und auch die Verar-mung zu bekämpfen . Das ist keine einfache Aufgabe .Das ist eine schwierige Aufgabe . Aber ich glaube, wirsind schon ein gutes Stück auf diesem Weg vorangekom-men .Wir müssen Mali in die Lage versetzen, dass es selbstfür seine Sicherheit, für seine Stabilität und für seine ei-gene Bevölkerung sorgen kann . Wir müssen auch dafürsorgen, dass es sein Territorium selbst kontrollieren kann .Wir haben in der Entwicklungszusammenarbeit und beiunserer humanitären Hilfe heute noch die Schwierigkeit,dass wir nicht in jedes Gebiet in Mali kommen, wo dieMenschen unsere Hilfe nötig haben – vielleicht dringen-der als anderswo . Deswegen ist es wichtig, dass wir die-sen ungehinderten Zugang schaffen, dass wir alles tun,um diesen ungehinderten Zugang in alle Regionen Maliszu bekommen – für unsere Entwicklungszusammenar-beit und auch für unsere humanitäre Hilfe .
Entwicklungszusammenarbeit ist zwingend auf Sta-bilität, auf Sicherheit und gefestigte staatliche Struktu-ren angewiesen . Mali ist ein Paradebeispiel dafür, dasses ohne Sicherheit keine Entwicklung geben kann, undein Paradebeispiel dafür, dass es ohne Entwicklung keineSicherheit gibt .Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt . Das wis-sen wir . 13 Prozent der Bevölkerung sind mangelernährt .Es gibt 90 000 Binnenflüchtlinge. 227 Schulen habenaufgrund der Sicherheitslage immer noch nicht geöffnet .Die Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeitliegen bei der Ernährungssicherung, Wasser, Entwässe-rung, Sanitärversorgung und vielem anderen mehr . Aberein Schlüssel – das ist ein wichtiger Punkt – ist die De-zentralisierung . Das ist einer unserer Schwerpunkte . Daswird manchmal unterschätzt, liebe Kolleginnen und Kol-legen . Wenn der Norden, der immer noch instabil ist undimmer noch keine rechtsstaatlichen Strukturen hat, keinVertrauen in seine Zentralregierung erlangt, werden wirin dieser Region nie Frieden bekommen . Hier müssenwir auch in Zukunft noch einen viel stärkeren Appell anThomas Hitschler
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die Zentralregierung richten, die Reformfortschritte, diesehr langsam sind und nicht ausreichend vorankommen,zu beschleunigen .
Der Norden wird immer noch vernachlässigt . Das istleider so . Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wirddadurch nicht weniger . Die Unzufriedenheit in der Be-völkerung wächst . Es ist leider so, dass es inzwischenwieder einen Auftrieb für die terroristischen GruppenAnsar al-Din und al-Qaida in Mali gibt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, sagenzu können: Wir wünschen uns alle ein friedliches Mali .Wir wünschen uns ein demokratisches Mali . Wir sindauf einem guten Weg . Wir sind aber noch nicht am Ende .EUTM Mali ist ein wichtiger Beitrag, damit wir diesesZiel erreichen können .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Debatte
hat Michael Vietz das Wort . Ich bitte die Kolleginnen und
Kollegen, ihm die Möglichkeit zu geben, seine Rede zu
halten, ohne dass wir den Ton zu laut aufdrehen müssen .
Der Lärmpegel möge also bitte auf einem erträglichen
Niveau bleiben .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Vergleich zu der einen oder anderen Rede, die ich
schon kurz vor einer namentlichen Abstimmung halten
durfte, ist es heute geradezu still . Ich hoffe, es bleibt auch
so .
Herr Vietz, Sie können jetzt nicht meine Bemühun-
gen, Ihnen einen guten Auftritt zu ermöglichen, wieder
zunichtemachen . Was ist denn das?
An Herausforderungen wächst man ja bekanntlich .
Muss unsere Beteiligung an der europäischen Ausbil-
dungsmission in Mali um ein weiteres Jahr verlängert
werden? Eindeutig ja .
Wie die meisten meiner Vorredner ausgeführt haben,
bleibt dieser Einsatz weiterhin richtig und wichtig .
Sicherheit, Stabilität, Frieden – wir brauchen diesen
Dreiklang in der Region, damit humanitäre Hilfe an-
kommt, damit Entwicklungszusammenarbeit gelingt
und eine funktionierende Zivilgesellschaft aufgebaut
werden kann . Noch ist das Land nicht in der Lage, die-
sen Dreiklang aus eigener Kraft zu gewährleisten . Wir,
Deutschland, sind weiterhin bereit, Mali auf seinem Weg
hin zu Sicherheit, Stabilität und Frieden gemeinsam mit
unseren Partnern zu begleiten . Wir stehen zu unserer in-
ternationalen Verantwortung, auch aus eigenem Interes-
se .
Trotz wesentlicher Fortschritte steht die Republik
Mali weiterhin vor einer Herkulesaufgabe . Mit Beginn
des internationalen Engagements hat sich die humanitäre
Situation verbessert . Sie ist noch lange nicht top, aber
sie ist deutlich besser als am Anfang . Ein verlässlicher
Zugang für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusam-
menarbeit ist aber noch nicht in allen Regionen gegeben .
80 Prozent der Binnenflüchtlinge – wir haben es ge-
hört – sind bislang in ihre jeweiligen Heimatgemeinden
zurückgekehrt . Über 130 000 Flüchtlinge harren aber im-
mer noch in den Nachbarstaaten aus . Der Versöhnungs-
prozess wird von Anschlägen überschattet . Islamistische
Terroristen versuchen weiterhin, den Konflikt mit aller
Gewalt wieder anzufachen . Auch darum bleibt es richtig
und wichtig, dass wir uns weiter engagieren .
Die Sicherheitslage ist fest verknüpft mit der schwie-
rigen Gemengelage der Region: fragile Staatlichkeit,
internationale Terrornetzwerke und organisierte Krimi-
nalität . Sie destabilisieren die gesamte Region und hem-
men jegliche Entwicklung . Der Schmuggel von Drogen,
Waffen und Menschen ist allgegenwärtig . Mittelfristig
hat dies auch erhebliche Auswirkungen auf Deutschland
und Europa . Auch darum bleibt es richtig und wichtig,
dass wir Flagge zeigen .
Machen wir uns nichts vor: Menschen streben nach
Frieden, nach Stabilität, nach Sicherheit, nach Perspekti-
ven . Wir müssen unsere Partner südlich der Sahara weiter
dabei unterstützen, Perspektiven für ihre Bevölkerung zu
schaffen . Nur so kann der Dreiklang aus Frieden, Stabili-
tät und Sicherheit letztendlich auch bei uns im Takt blei-
ben . Auch daher bleibt der Einsatz richtig und wichtig .
Herr Kollege Vietz, darf ich ganz kurz unterbre-
chen? – Die Kolleginnen und Kollegen – wir kennen das
ja – haben natürlich Gesprächsbedarf . Das ist durchaus in
Ordnung . Aber ich bitte, den Gesprächsbedarf doch jetzt
möglichst nicht hier im Plenum zu decken, sondern dem
Kollegen Vietz zuzuhören . Er hat nämlich noch einige
Minuten an Redezeit .
Danke, Herr Präsident .Konkret sprechen wir über drei wesentliche Punkte,die den Kern von EUTM Mali ausmachen:Erstens: den Ausbilder ausbilden, Weiterentwicklungvon Ausbildung und Beratung der Sicherheitskräfte . Wirunterstützen den Aufbau der dezentralen Ausbildung derStreitkräfte .Dagmar G. Wöhrl
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Zweitens: die grenzübergreifende Handlungsfähig-keit, im Übrigen auch die Ausbildung der Streitkräfte derübrigen G-5-Sahelstaaten – auch wenn man da sicherlichnoch die eine oder andere Frage stellen kann .
Drittens: Schutz und Unterstützung im Sanitäts-dienst, aber auch Unterstützung der Einsatzkräfte vonMINUSMA im Norden Malis .Festhalten möchte ich noch einmal, dass es weiterhinkeine Kampfeinsätze der Bundeswehr und keine Unter-stützung der malischen Streitkräfte bei Kampfeinsätzengeben wird .Bei unserem Engagement in Mali greifen wir zu un-terschiedlichen Instrumenten . Die bi- und multilateralenMissionen sind an die Situation vor Ort genauso ange-passt wie an die Fähigkeiten der Akteure . Wichtig sindvor allem Verlässlichkeit und Kontinuität . Durch dieVerlängerung des Mandats senden wir ein starkes Sig-nal an unsere europäischen Partner, vor allem aber an diegesamte Region und an Afrika .Deutschland bleibt in dieser Mission einer der größtenTruppensteller . Vor kurzem habe ich 38 Panzerpioniereaus meinem Wahlkreis, vom Standort Holzminden, nachMali verabschiedet . Sie verstärken dort turnusgemäß un-sere Kräfte . Ich bin zutiefst dankbar für den Einsatz, denalle unsere Streitkräfte in Mali leisten .
Meine besondere Anerkennung gilt auch ihren An-gehörigen, die jeden dieser Einsätze mittragen und diemanchmal nicht weniger Belastungen zu ertragen ha-ben . Gleiches gilt für die zivilen Einsatzkräfte und diePolizisten im Rahmen von EUCAP Sahel Mali, die dortunter anderem Nationalgarde, Gendarmerie und Polizeiausbilden, sowie für unsere Einsatzkräfte im Rahmen derUN-Mission MINUSMA .Wir verfolgen einen vernetzten Ansatz, auch mit bi-lateralen Abkommen . Projekte der zivilen Krisenpräven-tion kombinieren wir mit Entwicklungszusammenarbeit .Wir leisten einen ausgewogenen Beitrag zur langfristigenErtüchtigung Malis .Unser Engagement in Mali ist gut abgestimmt . Ichbin der festen Überzeugung, dass Frieden, Stabilität undSicherheit nur im Zusammenspiel aller Instrumente undPartner möglich sind .Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damenund Herren, diese Ausbildungsmission ist weiterhin rich-tig und wichtig . Ich bitte daher um Ihre Zustimmung . DieUnion und die SPD werden zustimmen, die Grünen auch;bei der Linken gebe ich die Hoffnung auf .Schönen Tag noch .
Herzlichen Dank . – Damit schließe ich die Ausspra-che .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zudem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an derMilitärmission der Europäischen Union als Beitrag zurAusbildung der malischen Streitkräfte, EUTM Mali .Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/8284, den Antrag auf Drucksa-che 18/8090 anzunehmen . Wir stimmen über diese Be-schlussempfehlung namentlich ab .Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen . – Darf ich an denAbstimmungsurnen um ein Zeichen bitten, ob die je-weiligen Schriftführerinnen und Schriftführer dort auchanwesend sind? – An allen Abstimmungsurnen sind dienotwendigen Schriftführerinnen und Schriftführer an-wesend . Dann eröffne ich die namentliche Abstimmungüber die Beschlussempfehlung .Gibt es Mitglieder dieses Hauses, die ihre Stimmkartenicht abgegeben haben? – Ich sehe, dass das nicht derFall ist . Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählungzu beginnen . Das Ergebnis der namentlichen Abstim-mung wird Ihnen später bekannt gegeben .1)Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Matthias W . Birkwald, Roland Claus, SabineZimmermann , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKE sowie derAbgeordneten Markus Kurth, Corinna Rüffer,Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENDDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersied-ler sowie DDR-Flüchtlinge vor Rentenminde-rungen schützen – Gesetzliche Regelung imSGB VI verankernDrucksachen 18/7699, 18/8429Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruchhöre ich keinen . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort alserstem Redner dem Kollegen Matthias Ilgen für die SPD .
– Dann habe ich hier wohl eine nicht ganz richtige Red-nerliste .1) Ergebnis Seite 16810 CMichael Vietz
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Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Daniela Kolbefür die SPD . Sie haben das Wort und beginnen die Aus-sprache .
Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist sehr freundlich,dass Sie hier keinen Redner spontan nach vorne rufen .Ich glaube, es wäre eine gewisse Überforderung, zu die-sem Thema spontan und frei eine Rede halten zu müssen .Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dies ist einsehr spannendes Thema . Insofern freue ich mich über einbisschen Aufmerksamkeit . – Es geht jetzt in zweiter Le-sung um einen Antrag, der sich mit DDR-Altübersiedlernund DDR-Flüchtlingen befasst . Es reden genau die glei-chen Rednerinnen und Redner wie bei der ersten Lesung .Man könnte jetzt sagen, dass das alles nur ein Ritual ist,dass das Gleiche noch einmal aufgeführt wird . Dazumuss ich ganz klar sagen: Nein, das ist nicht der Fall .Wir von der SPD-Fraktion haben intern sehr intensiv dis-kutiert . Wir haben mit Betroffenen gesprochen, und wirhaben auch gestern im Ausschuss äußerst intensiv undtiefgründig über dieses komplizierte Thema gesprochen .Ich finde, das war dem Anlass, dem Thema angemessen.Ich finde es sehr gut, dass wir das so gemacht haben.
Als erste Rednerin zu diesem Tagesordnungspunktwill ich versuchen, Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zu-schauer, die Sie vielleicht zufällig gerade dieser Debattezuhören, in wenigen Sätzen zu erklären, um was es geht:Das ist eigentlich ein Thema, das extrem viele Menschenbetrifft, nämlich diejenigen, die vor dem Fall der Mauerdie DDR als Flüchtlinge verlassen haben, die freigekauftworden sind oder geflohen sind. Denen ist in der BRDversprochen worden: Liebe Leute, wir behandeln euchrentenrechtlich so, als hättet ihr euer Arbeitsleben in derBRD verbracht . Das dazugehörige Recht ist das Fremd-rentenrecht . Dann kam die Wiedervereinigung – wirwaren froh und glücklich –, und seitdem werden dieseMenschen hinsichtlich der Zeit, während der sie in derDDR gelebt haben, so behandelt wie andere ehemaligeDDR-Bürgerinnen und -Bürger auch . Es wird also ge-guckt: Was haben sie real einbezahlt? Das wird hoch-gewertet, und dann haben sie ihre Rentenpunkte . Realbedeutet das, dass viele Einbußen hinnehmen mussten –viele, aber nicht alle .Seit der ersten Lesung haben wir aus meiner Sicht ei-nige Punkte hinsichtlich dieser schwierigen Lage klärenkönnen . Es war ja lange unklar – viele Betroffene sagendas mittlerweile auch –, wann das Gesetz geändert wor-den ist und ob die Regelung, dass DDR-Übersiedler nachSGB VI behandelt werden, überhaupt geltendes Rechtist . Wir haben in die historischen Bücher geschaut undfestgestellt: Natürlich hat das stattgefunden . Mit demRentenüberleitungsgesetz wurde 1992 der Bezug zumSGB VI hergestellt . In § 256 a SGB VI – Entschuldi-gung, dass das so technisch ist – wurde beschrieben, wieRentenanwartschaften für Beitragszeiten im Beitritts-gebiet, also in der DDR, zu behandeln sind . Damit galtdieses Recht auch für die DDR-Flüchtlinge und für dieÜbersiedlerinnen und Übersiedler, zumal zeitgleich auchdas Fremdrentengesetz geändert und die entsprechendeGruppe dort gestrichen worden ist. Es finden sich auchein paar Zitate zu diesem Vorgang in den Ausschusspro-tokollen . Man muss aber wirklich kramen und suchen .Es zeigt sich also erstens: Ja, das Gesetz gilt so, wiewir hier darüber diskutieren . Ich denke, das sollte dieGrundlage der Debatte sein . Es zeigt sich zweitens aberauch, dass wir hier über etwas reden, was schwerlich alsGlanzstunde des Parlamentarismus bezeichnet werdenkann; denn hier ist eine sehr weitreichende Änderung füreine große Menschengruppe vorgenommen worden, unddie betroffenen Menschen sind im Rentenüberleitungs-gesetz quasi als blinde Passagiere mitgereist . Es wurdenicht intensiv darüber gesprochen und diskutiert . VielenBetroffenen ist erst sehr viel später bewusst geworden,was hier passiert ist .
Aus meiner Sicht war das also keine Glanzstunde desParlamentarismus, und womöglich – das muss man rück-blickend sagen – ist dabei auch eine falsche Entschei-dung getroffen worden .
Wir als SPD-Fraktion haben uns damit auseinanderge-setzt und den Antrag eingebracht, den Sie uns jetzt – copyand paste – wieder vorlegen . Wir haben zwischenzeitlichsehr intensiv darüber diskutiert und geschaut, wie maneine solche Regelung wiedergutmachen könnte . Wir sindzu der Feststellung gekommen, dass ein Zurückdrehendes Rentenrechts an dieser Stelle nicht funktioniert . Wirsind zu keiner Lösung gekommen, mit der wir einerseitsder Gruppe Genüge tun und andererseits nicht sehr vieleUngerechtigkeiten neu aufmachen . Ich habe das hier inmeiner Rede in der ersten Lesung intensiv ausgeführt .Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der in der ers-ten Lesung ein bisschen zu kurz gekommen ist . Das istdas Thema „Benachteiligung von Frauen im Fremdren-tengesetz“ . Ich möchte ein Beispiel nennen . Viele von unshaben die Petition einer Frau bekommen, die vor 1937geboren ist . Für diese Gruppe – es gibt im Rentenrecht jaunzählige Ausnahmen – gilt nun gerade noch übergangs-weise das Fremdrentenrecht . Sie ist in den 80er-Jahrenübergesiedelt und schreibt uns, dass sie gerade nicht nachFremdrentenrecht behandelt werden möchte – danachwird sie gerade behandelt –, weil sie nach dem SGB VI,also dem normalem Rentenrecht, 17 Prozent mehr Rentebeziehen würde . Das macht noch einmal deutlich: DasFremdrentenrecht benachteiligt Frauen im Vergleich zumSGB VI ganz deutlich, weil es unterstellt, die Menschenhätten ihr Erwerbsleben in der BRD verbracht . In derBRD haben Frauen deutlich weniger verdient als in derDDR, wo gleicher Lohn Realität war .Das hat auch der Ausschussdienst 2010 festgestellt .Ich zitiere: Bei Facharbeiterinnen und ungelernten land-wirtschaftlichen Hilfskräften ist das geltende Recht teil-Vizepräsident Johannes Singhammer
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weise günstiger als die Anwendung des Fremdrenten-rechts . – Für die Gruppe der vor 1937 Geborenen ist dieGünstigerprüfung nicht vorgesehen – in dem Antrag stehtdas nicht so –, und die Günstigerprüfung für nach 1937Geborene würde in allererster Linie Männer begünstigen .Das schlagendste Argument bleibt aber die Frage derSpätaussiedler, für die weiterhin das Fremdrentenrechtgilt . Also für Deutsche aus der Sowjetunion oder aus Sie-benbürgen, die später gekommen sind, gilt das Fremd-rentenrecht weiter . Hier wurde aber mittlerweile auf60 Prozent der Listenwerte abgesenkt .
Wenn man sich aus Sicht eines Spätaussiedlers anschaut,dass DDR-Übersiedler wieder nach Fremdrentenrechtmit 100 Prozent bewertet würden, wird klar, dass sehrviele dieser deutschen Staatsangehörigen dies zu Rechtals eine Riesenungerechtigkeit empfinden würden. Dasist einer der Hauptgründe, warum wir sagen, dass derAntrag, wie er vorliegt, jedenfalls nicht zu gesamtgesell-schaftlicher Gerechtigkeit führt,
sodass wir bei aller Sympathie für die Gruppe und beiallem Mitempfinden für das entstandene Leid der Per-sonen, insbesondere für diejenigen, die damals lange inHaft waren und dann freigekauft wurden oder geflohensind, diesem Antrag nicht zustimmen können; denn wirsehen darin keine gesamtgesellschaftliche Lösung desProblems . Deshalb werden wir Ihren Antrag nach inten-siver und emotionaler Debatte ablehnen .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Frau Kollegin Kolbe .Ich gebe jetzt das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-rung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der Militärmission der Europäischen Uni-on als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte
auf Grundlage des Ersuchens der Regie-
rung von Mali an die EU sowie der Beschlüsse des Ratesder EU 2013/87/GASP vom 18 . Februar 2013, zuletztgeändert mit dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom 23 . März 2016 in Verbindung mit den Re-solutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen2071 vom 12 . Oktober 2012 und folgender Reso-lutionen, zuletzt 2227 vom 29 . Juni 2015“ auf denDrucksachen 18/8090 und 18/8284 bekannt: abgegebeneStimmen 565 . Mit Ja haben gestimmt 496, mit Nein ha-ben gestimmt 67, Enthaltungen 2 . Die Beschlussempfeh-lung ist damit angenommen .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 565;davonja: 496nein: 67enthalten: 2JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachAxel E . Fischer
Klaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinDr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekDaniela Kolbe
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Sylvia JörrißenDr . Franz Josef JungAndreas JungXaver JungDr . Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeJens KoeppenMarkus KoobKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr . Karl A . LamersDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr . h .c . Hans MichelbachDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd MüllerCarsten Müller
Dr . Philipp MurmannDr . Andreas NickMichaela NollHelmut NowakJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr . Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Karl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederBernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerArmin Schuster
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr . Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G . WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettDr . Matthias BartkeSören BartolUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr . Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika Glöckner
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616812
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Ulrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelDr . Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr . Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Markus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeDr . Simone RaatzMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiJohann SaathoffAnnette SawadeDr . Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr . Nina ScheerMarianne SchiederDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr . Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr . Tobias LindnerIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Elisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Strengmann-KuhnDr . Harald TerpeMarkus TresselDr . Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsNeinSPDKlaus BarthelDr . Ute Finckh-KrämerCansel KiziltepeWaltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid Hupach
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 2016 16813
(C)
(D)
Ulla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMonika LazarPeter MeiwaldCorinna RüfferHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDMarco BülowPetra Hinz
Wir fahren fort mit der Aussprache zum Rentenrecht .Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Matthias W .Birkwald für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Zunächst begrüße ich auf der Besuchertribüne HerrnDr. Holdefleiß, Herrn Dietrich und Herrn Ulrich von derInteressengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlingee . V . Meine Herren, seien Sie herzlich willkommen!
Sie streiten seit vielen Jahren gegen die Kürzung ihrereinmal versprochenen Renten . Vor dem Mauerfall wa-ren sich CDU/CSU und SPD ihrer besonderen Verant-wortung für aus der DDR geflohene und übergesiedelteMenschen bewusst, für Menschen, die alles hinter sichließen, für Menschen, deren komplette Rentenansprüchevon der DDR gestrichen wurden, und für Menschen, de-nen die Bundesregierung deswegen schwarz auf weiß einVersprechen gab .Ich habe Ihnen den Wegweiser für Flüchtlinge undÜbersiedler aus der DDR mitgebracht . Er wurde vomBundesinnenminister, vom Verfassungsminister, he-rausgegeben, und er ist mit dem Bundesadler, dem Bun-deswappen der Bundesrepublik Deutschland, versehen .Er war das erste bundesdeutsche Dokument, das vieleDDR-Flüchtlinge im Aufnahmelager in die Hand ge-drückt bekamen . Darin versprach der Bundesinnenmi-nister – ich zitiere –: . . . Übersiedler . . . werden in der gesetzlichen Ren-tenversicherung grundsätzlich so behandelt, als obsie ihr gesamtes Arbeitsleben in der BundesrepublikDeutschland zurückgelegt hätten .Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,wir debattieren heute dieses Versprechen des demokrati-schen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland .
Wir diskutieren darüber, weil dieses Versprechen von Ih-nen gebrochen wurde .
Nach der Verabschiedung der Rentenüberleitungsgeset-ze von 1991 und 1993 wurden aus der DDR geflüchteteMenschen nämlich plötzlich nicht mehr so behandelt, alshätten sie ihr ganzes Arbeitsleben im Westen verbracht .Nein, sie wurden wieder so behandelt, als wären sie nieBundesbürger geworden, sondern immer DDR-Bürgerin-nen und -Bürger geblieben . Die Deutsche Rentenversi-cherung bewertete die Rentenanwartschaften von vielenBetroffenen neu . Auf Deutsch: Die Rentenversicherunghat vielen DDR-Flüchtlingen die versprochene Rente ge-kürzt, zum Teil um mehrere 100 Euro .Frau Kollegin Kolbe von der SPD und Herr KollegeWeiß von der CDU, Sie wissen das, und Sie bedauerndas . Das habe ich gestern in der Ausschussdebatte durch-aus so wahrgenommen, und ich respektiere das . Aber Sieverweigern sich, daraus irgendeine Konsequenz zu zie-hen . Sie verstecken sich hinter seitenweisen Ausführun-gen von Beamtinnen und Beamten aus dem Bundesar-beitsministerium, die immer nur erklären, warum etwasnicht geht . So nicht! Probleme sind zum Lösen da .
Liebe Koalition, im Petitionsausschuss haben Unionund SPD mehrere Petitionen zur Lösung dieses Pro-blems abgelehnt, unter anderem mit der Begründung,dass die von uns vorgeschlagene Günstigerprüfung oderVergleichsbewertung, Frau Kolbe, im Rentenrecht nichtvorgesehen sei .
Das ist schlicht falsch . Schauen Sie sich alle bitte einmalden § 73 SGB VI an; hier geht es um die Erwerbsminde-rungsrente . Da steht das Wort „Vergleichsbewertung“ inder Überschrift . Nebenbei bemerkt – es ist auch schongesagt worden –: Der Antrag von uns Linken und denGrünen ist nahezu wortgleich mit dem SPD-Antrag aus
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der vorigen Legislaturperiode . Da war die SPD noch inder Opposition .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union undSPD, Sie sagen, wenn die DDR-Flüchtlinge wieder ihre100-prozentige Fremdrente erhielten, dann würden zumBeispiel Spätaussiedler aus der Sowjetunion, deren Ren-ten gekürzt wurden, und politisch Verfolgte in der DDRgegenüber den DDR-Flüchtlingen benachteiligt . Anstattdas Vertrauen der DDR-Flüchtlinge, denen vom Rechts-staat Unrecht angetan wurde, wiederherzustellen, spielenSie höchst unterschiedliche Personengruppen, ja sogarOpfergruppen gegeneinander aus . Das, meine Damenund Herren, ist ein absolutes No-Go .
Im Übrigen hatten wir im Petitionsausschuss schon2013 einen vollständigen überparteilichen Konsens .Es gab das Gutachten von Professor Heinz-Dietrich Steinmeyer aus dem Jahr 2014; es wurde auf meineInitiative hin im Auftrag des Petitionsausschusses fürdas Sozialministerium erstellt . Das Fazit von ProfessorSteinmeyer ist eindeutig – Zitat –: Es ist gezeigt worden,dass eine Lösung möglich ist, wenn bestimmte Rahmen-bedingungen beachtet werden .Genau das erwarte ich von Ihnen, und genau das er-warte ich vom Ministerium für Arbeit und Soziales .Handeln Sie, wägen Sie ab, drücken Sie sich nicht, undsorgen Sie dafür, dass Herr Dr. Holdefleiß, Herr Dietrich,Herr Ulrich und alle anderen 300 000 DDR-Flüchtlingeendlich die ihnen versprochenen Renten erhalten .Vielen Dank .
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Peter Weiß .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine persönliche Sympathie, ich glaube, die Sympathi-en aller Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion und – Frau Kollegin Kolbe hat dies,glaube ich, deutlich gemacht – die Sympathien aller Kol-leginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gel-ten den Menschen, die den Unrechtsstaat DDR unter vie-len Entbehrungen und Gefährdungen und zum Teil nachGefängnisaufenthalten, der Wegnahme ihres Eigentumsund allem, was noch in diesem Unrechtsstaat gesche-hen ist, verlassen haben . Deswegen will ich als Erstesunabhängig von allen rechtlichen Regelungen festhalten:Es war der Unrechtsstaat DDR, den diese Menschen zu-gunsten eines demokratischen und freiheitlichen Rechts-staats verlassen haben . Hierfür gelten ihnen auch heuteunsere Hochachtung und – ich sage es ausdrücklich – un-sere Sympathien .
Nun ist bei allen Sympathien aber nicht wegzudis-kutieren, dass ich nicht jemandem aufgrund von Sym-pathien eine Rente zusprechen kann und jemandem auf-grund von weniger sympathischem Verhalten eine Renteabsprechen kann . Das haben wir übrigens bitterlich er-fahren . Nach meiner persönlichen Auffassung wäre esgerechtfertigt, dass denjenigen, die dem UnrechtsstaatDDR gedient haben und auch noch auf unmenschlicheWeise das Unrecht exekutiert haben, die Rente gekürztwird .
Aber das lässt unser Rentenrecht nicht zu .
Was ist Recht? Für jeden von uns, für jeden Bürgergilt, dass das zu dem Zeitpunkt, an dem er zu arbeitenbeginnt, geltende Rentenrecht durch den Gesetzgeber imLaufe der Jahre und Jahrzehnte verändert werden kann .Es ist selbstverständlich, dass an dem Tag, an dem ichin Rente gehe und Rente beziehe, für mich das aktuel-le Recht gilt . Das hat Herr Birkwald offensichtlich nichtkapiert . Es gilt immer das aktuelle Recht, und zwar füralle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger . Das ist einRechtsstaat .
Nachdem wir gestern all das in der Ausschusssitzungnoch einmal rauf und runter besprochen haben, wundereich mich über die Rede von Herrn Birkwald . Offensicht-lich gilt für Abgeordnete der Linken: Erörterungen imAusschuss sind Ihnen schnurzegal . Sie wollen und Siekönnen nichts dazulernen .
Was ist das Problem?
Als diese Damen und Herren, denen meine volle Sympa-thie galt, den Unrechtsstaat DDR verlassen haben, hättees folgende Möglichkeit gegeben: Da sie aus der DDRja nichts mitbringen konnten, auch keine Rentenanwart-schaften, hätte man sie mit Sozialhilfe bedienen können .Gott sei Dank haben wir das Fremdrentengesetz geschaf-fen . Es hat Folgendes beinhaltet: Man hat eine Fiktionaufgestellt und gefragt: Wie würde die Rentenbiografiedieses Menschen mit seiner Ausbildung und seiner Tä-Matthias W. Birkwald
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tigkeit konkret aussehen, wenn er die ganze Zeit hier imWesten gearbeitet hätte? Das ist Anwendung des Fremd-rentenrechts . Gleiches gilt für die Deutschstämmigen,die aus der Sowjetunion zu uns gekommen sind .Nun komme ich zum Mauerfall, einem historischenEreignis, das Deutschland und Europa verändert hat .Der Eiserne Vorhang ist weg, die kommunistischen Dik-taturen sind in sich zusammengefallen . Wir können inDeutschland endlich wiedervereinigt leben, und wir kön-nen endlich jeden entsprechend seiner Rentenbiografiebehandeln und müssen keine Fiktion mehr aufstellen .Das ist das historische Ereignis .Jetzt ist durch eine Gesetzesänderung festgelegt wor-den, dass ab 1992 die echten Rentenentgeltpunkte, dieauch der Erwerbsbiografie zugrunde liegen, angewandtwerden und nicht mehr das Fremdrentenrecht . So weitder Vorgang .Nun kommt der Wunsch auf, wir mögen es doch re-geln, dass die Betroffenen wählen können, ob sie ihreRente nach dem alten Fremdrentenrecht, das vor derWiedervereinigung galt, ausbezahlt bekommen möchtenoder nach dem neuen Recht . Es ist schon ein hoher An-spruch, ein Wahlrecht zu haben und sich für ein Systementscheiden zu können – je nachdem, welches Systemgerade besser für einen ist .Das Problem ist, dass es dieses alte Fremdrentenrechtnicht mehr gibt . Frau Kollegin Kolbe hat ausgeführt, dassdas Fremdrentenrecht in den 90er-Jahren zweimal durchden Deutschen Bundestag neu geregelt worden ist
und dass die Werte nur noch bei 60 Prozent gegenüberfrüher liegen . Das möchten aber diejenigen, die aus derdamaligen DDR geflohen sind, auch nicht haben, son-dern sie möchten das alte Fremdrentenrecht mit 100 Pro-zent, das früher galt, angewandt wissen .
Daran sieht man: Das passt nicht zusammen . Wie sol-len wir gegenüber den anderen Bürgerinnen und Bürgern,die kein Wahlrecht haben und für die selbstverständlichdas aktuelle Rentenrecht angewandt wird, begründenkönnen, dass wir für eine bestimmte Personengruppe einnicht mehr existierendes altes Recht anwenden?
Ich will kurzum sagen: Wir kommen in Teufels Küche,wenn wir einzelne Ausnahmen für bestimmte Personen-gruppen machen .
Ich würde diese Ausnahme aus Sympathie, aus demHerzen heraus, gerne machen,
aber der Deutsche Bundestag muss gegenüber seinenBürgerinnen und Bürgern im Sinne der Rechtsklarheitmanchmal leider sagen: Das, wofür wir Sympathie emp-finden, können wir nicht tun, weil wir damit gegenüberden anderen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine massi-ve Ungerechtigkeit begehen würden .
Deswegen: Nach aller Prüfung des Für und Widerkommen wir zu dem Schluss, dass wir dem, was hier alsAntrag vorgelegt worden ist, leider nicht entsprechenkönnen .
Herr Kollege Weiß, auch bei großzügiger Auslegung
der Redezeit: Sie ist bereits abgelaufen .
Danke schön . – Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, nach großzügiger Auslegung der Redezeit durch den
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist gut, dass
wir ein gemeinsames deutsches Rentenrecht haben . Das
ist der eigentliche große Fortschritt, und ich bitte dieje-
nigen, die sich betroffen fühlen, weil sie einmal über ein
anderes, altes Recht informiert worden sind, das zu ak-
zeptieren,
so schwer es auch ist . Es muss für alle in Deutschland
das gleiche Rentenrecht gelten . Das ist das, was wir mit-
einander vertreten .
Vielen Dank .
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Re-
dezeiten keine Richtwerte sind, sondern zwischen den
Fraktionen vereinbart wurden . – Jetzt erteile ich dem
Kollegen Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte Sie auf eine Zeitreise mitnehmen . Versetzen Siesich mit mir genau 27 Jahre zurück, zum 12 . Mai 1989 .
Fünf Tage zuvor, am 7 . Mai 1989, fanden in der DDRKommunalwahlen statt . Wenn man so will, war das auchdie Geburtsstunde der Bürgerbewegung, die zum ers-ten Mal Wahlfälschung öffentlich anprangerte . Fast aufPeter Weiß
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den Tag genau drei Monate zuvor starb wenige Hun-dert Meter von hier Chris Gueffroy durch Schüsse vonDDR-Grenzpolizisten beim Versuch, die Berliner Mauerzu überwinden . Später wird man sagen: Er war das letzteMaueropfer, das durch Schusswaffen gestorben ist .In dieser Situation war es völlig klar und eindeutig,dass diejenigen, die aus den Gefängnissen freigekauftworden sind, die unter Lebensgefahr die Grenze über-wunden haben oder die nach jahrelangen Schikanen, weilsie Ausreiseanträge gestellt hatten, schließlich ausreisenkonnten, rentenrechtlich wie Bürger der Bundesrepu-blik Deutschland behandelt wurden . Das war felsenfes-ter Konsens . Wenn man so will, war es Bestandteil derStaatsräson, dass die DDR-Bürger, die immer als Bürgerim Sinne des Grundgesetzes verstanden wurden, nichtnur nominal im Westen ihren Platz finden, sondern natür-lich auch sozialrechtlich und rentenrechtlich voll gleich-gestellt werden . Das war quasi staatspolitische Räsonund gegenüber der DDR auch außerordentlich wichtig .Jetzt stellen Sie sich vor, in diesem Jahr 1989 hätteim damaligen Deutschen Bundestag in Bonn die Frakti-on Die Grünen – Bündnis 90/Die Grünen gab es damalsnoch nicht – den Antrag gestellt, diese aus der DDR Ge-flüchteten nicht mehr nach dem Westrecht, sondern nachihrer DDR-Erwerbsbiografie zu behandeln und derenRenten neu zu berechnen . Was meinen Sie, was da losgewesen wäre? Sie von der CDU/CSU hätten doch so-fort gefordert, uns vom Verfassungsschutz beobachten zulassen, hätten uns als vaterlandslose Gesellen beschimpftund vieles mehr .
Zurück ins Heute . Genau das, was ich eben beschrie-ben habe, tun Sie . Es ist quasi eine Ironie der Geschichte,dass ausgerechnet wir Grünen und Abgeordnete der zu-mindest in Teilen Nachfolgepartei der SED, die Linke,die alte Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland vor1990 hochhalten
und erklären: Diese politischen Zusagen, die denDDR-Geflüchteten gegeben wurden, sind einzuhalten.
Das ist der politische Kern der Debatte . Alle anderenPunkte, Stichtagsregelung, Vergleichsgrößen zu Aussied-lern, die eigentlich sachfremd sind, weil die Aussiedlerkeine DDR-Bürger waren, sind technische Fragen, vondenen ich sicher glaube, dass wir sie klären können unddie den politischen Kern, dass dies damals Staatsräsonwar, nicht verstellen dürfen .
Diese politische Zusage, meine Damen und Herren,wiegt schwerer als andere rentenrechtliche Zusagen zuAusbildungszeiten und vielem anderem mehr . Sie hatteein viel, viel größeres Gewicht . Darum ist auch damalsim Einigungsvertrag kein Mensch auf die Idee gekom-men, die rentenrechtlichen Ansprüche abzuerkennen .Wer dafür war – Herr Schäuble war ja Verhandlungsfüh-rer –, soll sich bitte hier nach vorne begeben und dazuStellung beziehen. Da werden wir niemanden finden.Meine Fraktion und ich fordern nicht mehr und nichtweniger, als dass wir zu dem, was im EinigungsvertragGeschäftsgrundlage war, zurückkehren . Ich glaube, daskönnen wir auch .
Natürlich wird dieser Antrag jetzt abgelehnt werden .Aber wir als Deutscher Bundestag haben uns schon öf-ters für bestimmte Gruppen, denen Unrecht widerfahrenwar oder denen gegenüber in der Vergangenheit Fehlergemacht wurden, zusammengerauft und gesagt: Das kor-rigieren wir nachträglich . – Ich nenne als Beispiel dieContergangeschädigten . Das ist ein etwas anderer und si-cherlich sehr ernster Fall . Aber da hat sich der DeutscheBundestag nach Jahrzehnten gemeinsam entschlossen:Wir korrigieren damalige Fehler . – Das sollte uns auchjetzt möglich sein .Danke schön .
Herr Kollege Rosemann, Sie wollten eine Zwischen-
frage stellen . Aber die Redezeit des Kollegen Kurth ist
schon abgelaufen . Sie hätten natürlich noch die Möglich-
keit, eine Kurzintervention zu machen . Aber das muss
auch nicht sein .
Herr Präsident, vielen Dank . – Wir wollen ja lebendi-ge Debatten . Deswegen nutze ich die Gelegenheit .Herr Kurth, Sie haben uns auf eine Zeitreise mitge-nommen . Zeitreisen sind immer etwas Schönes . Vie-les von dem, was Sie sagen – das hat vorhin auch FrauKolbe ausgeführt –, ist gar nicht falsch . Wenn wir unsins Jahr 1992 zurückbeamen und diese Entscheidungneu fällen würden, dann könnte man sie sicherlich sooder anders treffen . Aber wir sind jetzt eben nicht imJahr 1992, sondern wir sind im Jahr 2016 . Wir haben jetztim Jahr 2016 zu entscheiden .Dabei geht es doch darum, ob Sie denn heute ernsthaft,im Jahr 2016, ein Recht, ein altes Recht, das FRG, dasFremdrentenrecht von damals, für eine Personengrup-pe wieder neu einführen wollen . Da müssen Sie – dashaben Sie meines Erachtens im Ausschuss nicht getan,das haben Sie auch heute nicht getan – die Frage beant-worten, wie Sie denn damit umgehen, dass Sie auf dereinen Seite einer Personengruppe Fremdrentenrecht vonMarkus Kurth
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damals zu 100 Prozent gewähren wollen, während aufder anderen Seite eine andere Personengruppe, die auchaus Ländern mit Unrechtsregimen und ohne Demokratiestammte, also aus einer ähnlichen Situation in die Bun-desrepublik Deutschland gekommen ist, nur 60 Prozentder Rente bekommt .
Ein weiterer Punkt ist: Erklären Sie doch einmal, wieSie heute, im Jahr 2016, ein Recht, das 1992 bestand,wieder einführen wollen, ein Recht, in dem Frauen ge-genüber Männern systematisch benachteiligt werden .Denn die FRG-Tabellenentgelte diskriminieren Frauensystematisch gegenüber Männern . Das mag eine Praxissein, die in den 50er- und 60er-Jahren in der alten Bun-desrepublik – Sie haben das in Ihrer Zeitreise beschrie-ben – akzeptiert worden ist . Aus heutiger Sicht ist diesePraxis auf keinen Fall akzeptabel . Erklären Sie doch ein-mal, wie Sie das lösen wollen .
Herr Kollege Kurth, Sie haben die Möglichkeit der
Erwiderung .
Herr Rosemann, ich stelle zunächst einmal fest, dass
es schlimm genug ist, dass wir jetzt das Jahr 2016 schrei-
ben und die damals gemachten Zusagen immer noch
nicht eingelöst werden .
Ihre Kurzintervention war geradezu ein Paradebei-
spiel dafür, wie Sie mit formalistischen Argumenten bis
hin zur Ungleichbehandlung von Männern und Frauen
im Fremdrentenrecht, was mit der Sache gar nichts zu
tun hat, versuchen, den politischen Kern zu vernebeln .
Diesen politischen Kern habe ich gerade dargestellt .
Wir sind gerne bereit, mit Ihnen darüber zu reden, wie
wir das Fremdrentenrecht konkret regeln können . Aber
zu einem Punkt kann ich Ihnen sofort etwas sagen, näm-
lich zu Ihrem ständigen Vergleich der deutschstämmigen
Aussiedler aus Russland, Rumänien und anderen Län-
dern mit den DDR-Flüchtlingen . Natürlich lässt sich die
unterschiedliche Behandlung unter anderem dadurch be-
gründen, dass Menschen, die in der DDR lebten, Staats-
bürger im Sinne des Grundgesetzes waren .
Der Fall liegt anders bei sogenannten Deutschstämmi-
gen, die vor ein, zwei oder weiter zurückliegenden Gene-
rationen deutsche Vorfahren hatten .
Mein Anliegen war es nicht, innerhalb von vier Mi-
nuten Redezeit und den wenigen Sekunden, die ich im
Rahmen dieser Entgegnung wahrscheinlich nur noch
habe, mich in technischen Details zu verlieren, über die
wir gerne diskutieren können und über die wir gestern
im Ausschuss über eine Stunde lang geredet haben . Mein
Anliegen war es vielmehr, den politischen Kern heraus-
zuarbeiten und an Sie zu appellieren, dass wir auch nach
einer zu erwartenden Ablehnung dieses Antrags ernsthaft
lösungsorientiert miteinander reden und dann hoffentlich
einen Weg dazu finden, was wir tun können.
Danke .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat die Kollegin
Jana Schimke für die CDU/CSU das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute nicht nurüber das Fremdrentengesetz, ein Gesetz, das einst ge-schaffen wurde, um allen Menschen eine Altersvorsorgezu sichern, die in die Bundesrepublik übergesiedelt bzw .geflohen sind. Wir diskutieren heute vor allen Dingenauch, ob die politischen Entscheidungen der Wende- undNachwendezeit gerecht waren .Man sollte dabei zunächst wissen, dass unser her-kömmliches Rentenrecht einem völlig anderen Selbst-verständnis unterliegt als das Fremdrentenrecht . Wir re-den über zwei grundverschiedene Dinge .Die gesetzliche Rente ist zunächst einmal am Lohnorientiert, und sie wird über Beiträge finanziert. Die Ren-te ist Ausdruck dessen, wie lange und wie viel wir imLeben gearbeitet haben, aber auch, welchen Beruf wirausgeübt haben .Beim Fremdrentengesetz ist das komplett anders . Esregelt, unter welchen Voraussetzungen DDR-Übersied-ler, aber auch andere Gruppen wie Spätaussiedler undVertriebene eine Rente für ihre im Ausland erbrachtenArbeitszeiten erhalten .
Deutschland war damals in zwei Staaten geteilt, unddie Bundesrepublik hatte keinen Zugriff auf in die Sozi-alversicherung der DDR eingezahlte Beiträge . Einer spä-teren Rente in der BRD standen also keine Rentenbeiträ-ge aus Zeiten der DDR gegenüber . Deshalb wurde eineRegelung fernab unseres lohn- und beitragsfinanziertenRentensystems geschaffen – mit dem Fremdrentenge-Dr. Martin Rosemann
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setz . Man hat – mein Kollege Peter Weiß hat es schonsehr ausführlich geschildert – fiktive Tabellenwerte ge-schaffen und dem Ganzen sozusagen eine fiktive Er-werbsbiografie zugrunde gelegt, und in der jährlichenRenteninformation konnten die betroffenen Personen ab-lesen, auf welchen Betrag sich ihre spätere Rente einmalbelaufen wird .
Nun diskutieren wir regelmäßig, welche Veränderun-gen der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung fürOst und West mit sich brachten . Aus individueller undpersönlicher Sicht – ich denke, darin sind wir uns alleeinig – sind viele Forderungen nachvollziehbar, auch beider Rente . Man hat unter schwierigsten Bedingungensein Land verlassen. Man ist geflohen und hat vieles hin-ter sich gelassen . Man hat sein Leben aufs Spiel gesetzt .Man hat dann letztendlich viele Jahre in der Bundesre-publik gelebt und sich auch eingelebt . Man hat natürlichauch die jährliche Renteninformation erhalten, aus derdie Information hervorgeht, auf die man später setzte .Doch es muss auch klar sein, dass die Zusammenführungzweier Staaten auch eine Einheit im Recht nach sichzieht . Wir machen nicht Politik für besondere Gruppenbzw . für einzelne Personen . Wir versuchen, bestmöglichePolitik für alle zu machen und das auch in der Gesetz-gebung abzubilden . Es war deshalb richtig, Regelungenzu schaffen, nach denen das höchstmögliche Maß anGleichbehandlung erreicht wurde .Ich möchte hier sowohl auf den Reformbedarf bei derRente im Allgemeinen als auch beim Fremdrentengesetzim Besonderen hinweisen . Alle im Fremdrentengesetzdefinierten Gruppen waren durch die Reformen, die da-mals durchgeführt wurden, erfasst . Hier eine Rückkehrzum alten Fremdrentenrecht, wie gefordert, vorzuneh-men, beispielsweise zu den 100 Prozent bei den Tabellen-entgelten, schafft neue Ungerechtigkeiten .
Es wäre eine Besserstellung gegenüber jenen, die da-mals als bundesdeutsche Einheimische in die gesetzlicheRentenversicherung einzahlten . Es wäre auch gegenüberallen im Fremdrentenrecht erfassten Personengruppeneine deutliche Bevorzugung, die heutzutage lediglichvon 60 Prozent der Tabellenentgelte profitieren. Der Ge-setzgeber schuf also mit der Rentenreform der frühen90er-Jahre eine gute und vor allem eine einheitliche Al-terssicherung für alle Menschen in Deutschland .Vor diesem Hintergrund sind die im diskutierten An-trag formulierten Punkte nicht überzeugend . So galt diejährliche Renteninformation als Information . Aus ihr er-wuchs kein tatsächlicher Leistungsanspruch . GeschützteAnwartschaften entstehen nur durch Beitragszahlungen .Das ist beim Fremdrentengesetz nicht der Fall . Entschei-dend und rechtlich bindend ist einzig und allein der Ren-tenbescheid . Außerdem wurden die Menschen nicht, wieoft behauptet wird, zu Bürgern der DDR gemacht; durchein einheitliches Rentensystem wurde niemand zumDDR-Bürger gemacht .
Niemand wünscht sich den Unrechtsstaat DDR zurück .Wir sind seit der Wiedervereinigung glücklicherweiseeine Nation .
Abschließend muss deshalb festgehalten werden, dasswir uns in vielen Beratungen intensiv mit dieser Proble-matik genauso wie mit vielen anderem im Rentenrechtauseinandersetzen und auseinandergesetzt haben . Wirund unser Koalitionspartner sehen in der bestehendenRechtslage die bestmögliche und gerechteste Lösung füralle . Änderungen in jedweder Form würden neue Unge-rechtigkeiten schaffen . Aus diesem Grunde werden wirdiesen Antrag ablehnen .Vielen Dank .
Danke schön . – Damit schließe ich die Aussprache .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit undSoziales zu dem Antrag der Fraktionen Die Linke undBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „DDR-Altüber-siedlerinnen und -Altübersiedler sowie DDR-Flüchtlingevor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Rege-lung im SGB VI verankern“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8429,den Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7699 abzulehnen . Werfür diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich umdas Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPDgegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen .Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung unddes Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesre-
gierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der durch die Eu-ropäische Union geführten Operation EUNAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Pi-raterie vor der Küste Somalias auf Grund-lage des Seerechtsübereinkommens derVereinten Nationen von 1982 und derResolutionen 1814 vom 15. Mai 2008und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246Jana Schimke
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vom 10. November 2015 und nach-
folgender Resolutionen des Sicherheitsratesder VN in Verbindung mit der Gemeinsa-men Aktion 2008/851/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 10. Novem-ber 2008, dem Beschluss 2009/907/GASPdes Rates der EU vom 8. Dezember 2009und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem Be-schluss 2014/827/GASP vom 21. November2014Drucksachen 18/8091, 18/8286
Drucksache 18/8287Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor . Über die Beschlussempfeh-lung werden wir später namentlich abstimmen .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Dagegen er-hebt sich kein Widerspruch . Dann ist das somit beschlos-sen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstemRedner dem vor kurzem schon angekündigten KollegenMatthias Ilgen das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist gut, wenn man doppelt angekündigt wird . So habensich umso mehr Kollegen zu später Stunde hier im Hauseversammeln können, wie ich sehe .Seit nunmehr 2008 engagiert sich die BundesrepublikDeutschland auch am Horn von Afrika . Derzeit sind vorOrt die Fregatte „Bayern“ und unsere Seeaufklärer imEinsatz . Das Ziel dieses Einsatzes ist der Begleitschutzfür Schiffe des UN World Food Programme und derKampf gegen die dort grassierende Piraterie .Ich sage Ihnen klar und offen: Wir stehen vor einerEntscheidung für die Zukunft . Ist der Einsatz in dieserForm noch sinnvoll? Es gilt, für die Zukunft abzuwägen;denn Piratenangriffe sind seit 2008 nicht nur zurückge-gangen, sondern sie sind seit nunmehr zwei Jahren prak-tisch bei null . Der Einsatz ist also ein Erfolg, nicht nurim Kampf gegen die Piraten an sich, sondern auch gegenden Terror der al-Schabab an Land; denn durch den Weg-fall von Lösegeldern für Schiffe und Geiseln fehlt denTerroristen eine wichtige Einnahmequelle .Sicherheit auf dem Wasser und Sicherheit an Landhängen auf diese Weise durchaus zusammen, aber mansollte sich nicht der Illusion hingeben, dass man durchAtalanta dem Terror an Land nachhaltig und ausschließ-lich beikommen kann . Jeder hier weiß, dass es damitnicht getan ist . Die Piraterie ist ein Symptom . Deshalb istes gut, dass wir durch EUTM Somalia dem Land helfen,eigene Sicherheitsstrukturen wieder aufzubauen, unddass die EU die Afrikanische Union finanziell bei ihrerAMISOM-Mission vor Ort unterstützt .Nun könnte man sagen: Wenn die Marineschiffe weg-fallen, dann kommen die Piraten wieder . Aber nicht nurdie Marineeinheiten haben einen Anteil an diesem Er-folg, sondern auch die unter den Reedern gängige Praxis,bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord mitzuführen . Standheute ist: Somalische Piraten haben noch kein einzigesSchiff geentert, auf dem bewaffnete Sicherheitskräfte anBord gewesen sind .Wie entscheidend das ist, sieht man unter anderem ander Küste Westafrikas, vor Nigeria . Dort ist die Anwe-senheit bewaffneter Sicherheitskräfte innerhalb der Ho-heitsgewässer Nigerias nicht gestattet, und die Piraterieist dort ein anhaltendes Problem . Besorgniserregend istlediglich, dass die Reedereien inzwischen begonnen ha-ben, aus Kostengründen die Zahl der Sicherheitsleute zureduzieren . Wie dem auch sei: Die Atalanta-Mission hatWirkung gezeigt .Missionen dieser Art sind auch weiterhin richtig undwichtig; denn als eine der führenden Handelsnationendieser Welt ist es auch im ureigensten Interesse der Bun-desrepublik Deutschland, die Seewege sicher zu halten .Dieses Interesse gilt es zu vertreten .Generell wird man also über das Jahr 2016 hinaus da-mit beginnen müssen, abzuwägen, ob man den Einsatznoch weiter herunterfährt, als es aktuell ohnehin schonder Fall ist, oder nicht; denn insbesondere wir, Deutsch-land, müssen uns die Frage stellen: Wie viele Einsätzekönnen wir der Deutschen Marine eigentlich zumuten?Als kleinste Teilstreitkraft mit gerade einmal um die16 000 Soldaten ist die Marine diejenige, die durch dieinternationalen Krisen derzeit am meisten gefordert ist .Man könnte sagen: Unsere Marine pfeift auf dem letztenLoch, personell wie materiell . Ich gehe sogar noch einenSchritt weiter und sage: Ich glaube, dass die Grenze derBelastbarkeit inzwischen überschritten ist: EUNAVFORMED, EU NAVFOR Atalanta, SNMG 2 in der Ägäis,UNIFIL vor der libanesischen Küste, Active Endea-vour – da melden wir nur ein Schiff an, wenn es ohne-hin durch das Mittelmeer fährt –, und darüber hinaus istunsere Präsenz im Ostseeraum zu erwähnen . Die Marineleistet vieles, und es ist schwierig, das so beizubehalten .Die Einsätze binden prozentual eine Menge Personalund Material, und wir sehen uns Einsätzen gegenüber,die wir während der Zeit der Umstrukturierung so über-haupt noch nicht absehen konnten . Kein Wunder, dassda ein Marineelektroniker, Rang Obermaat, auf ungefähr300 Arbeitstage im Jahr kommt, davon mittlerweile satte260 auf See . Da beißt sich die Katze in den Schwanz . DasPersonal, das die Marine so dringend bräuchte, findet aufdem Arbeitsmarkt mittlerweile bei vergleichbarer Be-zahlung wesentlich attraktivere Arbeitsplätze . Die Nach-wuchsprobleme der Marine, denen wir uns gegenüberse-hen, sind vorprogrammiert, und deswegen begrüßen wirals SPD-Fraktion alle Initiativen, die an dieser Stelle inRichtung Attraktivitätssteigerung gehen .
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Auch bei den Plattformen haben wir die Marine inden letzten zehn Jahren stark verschlankt . Mit einigenKollegen zusammen habe ich am Montag beim Besuchdes Korvettengeschwaders in Warnemünde die letztenbeiden Schnellboote mit verabschiedet, die nun außerDienst gestellt werden . Die einstigen Schnellboote derGepard-Klasse sollten ursprünglich zehn K-130-Korvet-ten folgen . Am Ende waren es nur fünf . Selbst wenn mansich für ein zweites Los entschiede: Es fehlt schlicht anPersonal, um diese Schiffe zu besetzen .Kurzum, die SPD-Bundestagsfraktion fordert mehrPersonal für die Marine . Die Ministerin hat glücklicher-weise angekündigt, das in Angriff nehmen zu wollen .Wir hoffen, dass den Ankündigungen Taten folgen . Wirwollen auch einen Blick auf die schwimmenden Plattfor-men und auf die Ausstattung der bestehenden Einsätzewerfen . Dieses Dreiklangs an Herausforderungen gilt essich in der Koalition gemeinsam anzunehmen .Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg, den wirmit der Atalanta-Mission beschreiten, ist der richtige . Ichmöchte abschließend die Gelegenheit nutzen, allen Sol-datinnen und Soldaten, die an diesem Einsatz beteiligtsind und waren, meinen und auch den Dank meiner Frak-tion auszusprechen .
Sie alle leisten unserem Land damit einen wichtigenDienst .
Deshalb gilt für die SPD-Fraktion heute erst einmal:Atalanta verlängern – ja . Ganz im Sinne des neuen Man-dats: Dann evaluieren, wie der Einsatz in Zukunft ausse-hen soll .Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für
die Fraktion Die Linke .
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Oft wird in der Politik das Argument vorgebracht:Dafür fehlt uns das Geld . Leider fehlt uns das Geld fürdie Einrichtung von Kitas, die Renovierung von Schulenoder auch insgesamt für den Bereich der sozialen Sicher-heit .
Wofür bei dieser Bundesregierung immer Geld da zusein scheint, sind die Auslandseinsätze der Bundeswehr .Der Einsatz, über den wir heute hier abstimmen, zu demdie SPD hier die Frage stellt, ob er überhaupt noch sinn-voll ist,
dieser Einsatz, die Marinemission im Indischen Ozeanvor den Küsten Somalias und des Jemen mit dem Namen„Atalanta“, wird bis Juni 2017 über 53 Millionen Eurokosten . Kosten von über 53 Millionen Euro pro Jahr, undda fragen Sie, ob dieser Einsatz noch sinnvoll ist .
Da sage ich: Er war weder sinnvoll, noch ist er sinnvoll .Mit diesem Geld kann man noch viel sinnvollere Sachenmachen .
Offiziell soll die Mission der Piratenbekämpfung die-nen . Nehmen wir einmal an, die Bundesregierung hättemit dieser Behauptung recht . Dann frage ich mich aber,warum bei jeder Mandatsverlängerung das Einsatzgebietausgeweitet wird, sodass inzwischen der halbe IndischeOzean von diesem Einsatz betroffen ist . Ich frage mich,warum Sie das Einsatzgebiet dieses Mal sogar auf dieLandküste Somalias ausdehnen .
Ich frage mich, warum dieses Mal zum Beispiel eineenge Verzahnung mit der EU-Ausbildungsmission fürsomalische Sicherheitskräfte, die ja für den Bürgerkrieg,der in diesem Land tobt, fitgemacht werden sollen, vor-gesehen ist . All dies spricht dafür, dass die Piratenbe-kämpfung hier nur ein Vorwand ist:
Sie ist ein Vorwand, permanent und dynamisch die deut-sche Kriegsmarine in der Region
zu geopolitischen Zwecken zu stationieren .
– Ganz ruhig .Ich frage mich: Was hat der deutsche Bürger davon,wenn Sie jetzt auch noch Dschibuti zu einem Militär-stützpunkt der deutschen Kriegsmarine ausbauen wol-len?
Nichts hat der deutsche Bürger davon, dass Dschibutijetzt auch noch ein Militärstützpunkt sein soll .
Matthias Ilgen
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Deshalb sollte dieser Einsatz beendet werden .
Die Mission Atalanta kooperiert zudem mit derKriegsflotte der saudischen Kopf-ab-Diktatur und desGolf-Kooperationsrats bei der Blockade des Jemen . Inso-fern greifen Sie mit der Mission Atalanta in den jemeni-tischen Bürgerkrieg ein .
Ich finde das moralisch und politisch zutiefst verwerflich,meine Damen und Herren .
Es ist keine zukunftsfähige Politik, jetzt auch noch dorteinzugreifen . Die Bundesregierung unterstützt mit dieserMission – auch noch an Land – im somalischen Bürger-krieg jetzt auch noch eine islamistische Administration,die wie ihre Gegner, die Al-Schabab-Milizen, Grund-rechte mit Füßen tritt und Andersdenkende verfolgt; dasweiß Herr Kauder sehr genau . Sie werden wahrschein-lich sagen, dass die über 50 Millionen Euro hier sinnvollangelegt sind . Wir Linken sagen das nicht . Wir fordernSie auf, endlich die zivilen Alternativen zu diesem Bun-deswehreinsatz zu stärken .
Wir fragen uns schon: Warum wird die illegale Fi-scherei westlicher Fischereifabriken, die ein Grund fürdie Entstehung der Piraterie ist – durch die Zerstörungder somalischen Fischerei –, von Ihnen weiterhin ledig-lich beobachtet? Wie lange wollen Sie denn beobachten?Warum unternimmt die Bundesregierung keinerlei Initia-tive zur politischen Lösung der Konflikte in Somalia undim Jemen? Warum kooperieren Sie auch im IndischenOzean aufs Engste mit den Golf-Diktaturen? Wir Linkenfinden, es braucht zivile Lösungen statt einer immer aus-greifenderen militärischen Geopolitik, die in der Regionzu immer mehr Konflikten führen wird. Deshalb werdenwir diesen Einsatz ablehnen, meine Damen und Herren .
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kol-
lege Jürgen Hardt .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion wird der Verlängerungdes Atalanta-Mandats heute zustimmen . Wir werdenauch zustimmen, dass das Mandat mit der Obergrenzevon 950 Soldaten auf 600 abgesenkt wird . Diese Absen-kung der Mandatsobergrenze ist verantwortbar, weil dereuropäische Einsatz Atalanta eine der erfolgreichstenMilitärmissionen gewesen ist, die wir in den letzten Jah-ren vollzogen haben . Der Kollege Ilgen hat darauf hinge-wiesen: Wir haben seit vier Jahren keinen erfolgreichenAngriff mehr von Piraten auf ein Handelsschiff in diesemGebiet . Seit zwei Jahren gibt es auch gar keinen Versuchmehr, weil wir diese Piraterie sehr erfolgreich verhindernkonnten .
Die wesentlichen Gründe dafür, warum das gelingenkonnte, waren zum einen die gute Führung und die Ein-satzbereitschaft dieses Verbandes – im Augenblick ist diedeutsche Fregatte „Bayern“ das Flaggschiff dieses Ver-bandes –, zum anderen aber auch der Verbund mit denanderen Aktivitäten in Somalia . Wir konzentrieren unseben nicht auf den Schutz der Seegebiete vor Somalia,sondern bilden auch somalische Sicherheitskräfte aus .Wir haben mit EUCAP NESTOR eine weitere Operati-on der Europäischen Union in Somalia laufen, und wirleisten auch verstärkt Mittel für die Entwicklungszusam-menarbeit, um den langsamen Wiederaufbau dieses jahr-zehntelang geschundenen Landes zu ermöglichen . Insge-samt ist es gelungen, ein sehr gutes Lagebild von diesemSeegebiet zu entwerfen, sodass wir sicherstellen können,dass Piraterie dort erfolgreich verhindert wird .Der Kollege Ilgen hat etwas begonnen, was ich sinn-gemäß gerne fortsetzen möchte . Wesentlicher Träger derBelastungen sind die Soldaten der Deutschen Marine unddie Einheiten der Deutschen Marine . Wir haben gegen-wärtig mit der „Bayern“ und dem Seefernaufklärer P-3C„Orion“, bei EUNAVFOR MED Sophia mit der Fregatte„Karlsruhe“ und dem Einsatzgruppenversorger „Frank-furt am Main“ sowie mit dem Einsatzgruppenversorger„Bonn“ als Flaggschiff der Ägäis-NATO-Operation undmit der Korvette „Erfurt“ bei UNIFIL sowie mit Minen-such- und Minenabwehrverbänden in der Ostsee jedeMenge maritime Einheiten in See stehen . Wir kommenda wirklich an die Grenzen . Ich kann der Bundesvertei-digungsministerin zusagen, dass die Außenpolitiker derUnion Bemühungen unterstützen werden, die insbeson-dere durch Investitionen in neue Ausrüstungen und inPersonal geeignet sind, die Marine besser in die Lage zuversetzen, die heutigen und zukünftigen Belastungen zutragen, damit wir da vorankommen .Ich möchte eines ganz konkret ansprechen . Wir planengegenwärtig die Beschaffung neuer Schiffe . Weil dieseneuen Schiffe mit kleineren Besatzungsstärken auskom-men, weil sie zwischen den jeweiligen Werftliegezeitenlänger in See stehen können und weil wir diese Schif-fe nach dem Mehrbesatzungsprinzip mit wechselnden,mit rotierenden Besatzungen fahren können, werden siedeutlich besser geeignet sein, Operationen fernab derHeimat durchzuführen, Operationen wie Atalanta oderdas, was im Mittelmeer stattfindet. Ich glaube, wir tunder Deutschen Marine, unserer deutschen Außenpolitikund der deutschen Verteidigungsfähigkeit einen großenGefallen, wenn wir darangehen, diese Projekte ganz kon-Sevim Dağdelen
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kret voranzubringen und dafür auch die notwendigen fi-nanziellen Mittel bereitzustellen . Damit wird die Marineauch attraktiver für die Soldatinnen und Soldaten, die anBord der Schiffe Dienst tun .
An dieser Stelle möchte ich noch anmerken: Wir redenüber viele Bundeswehreinsätze . Wir reden insbesondereüber diejenigen lange und ausgiebig, die mit Schwierig-keiten verbunden sind, die auf den ersten Blick vielleichtnicht die Erwartungen erfüllen, bei denen Soldatinnenund Soldaten Schwierigkeiten zu überwinden haben .Wir reden zu wenig über die erfolgreichen, gelungenenAuslandseinsätze der Bundeswehr, bei denen wir mitden Entscheidungen, die wir getroffen haben, goldrichtiglagen. Dazu gehört, wie ich finde, der Einsatz Atalanta;dazu gehört aber auch das, was wir im Kosovo leisten,und auch das, was wir in Bosnien-Herzegowina gemachthaben . Als der letzte deutsche Soldat aus dem Einsatzdort nach Hause kommen konnte, war das den meistenPresseorganen keine Zeile wert .
Ich glaube, dass wir deswegen auch über den Erfolg vonAtalanta reden sollten und dass wir unseren Soldatinnenund Soldaten, die gegenwärtig dort im Einsatz sind, allesSoldatenglück, eine gute und glückliche Heimkehr wün-schen sollten – im Namen, so denke ich, aller Mitgliederdes Deutschen Bundestages .Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Atalantaist eine erfolgreiche Mission . Sie ist Symptombekämp-fung, nicht mehr, aber auch nicht weniger . Die Tatsache,dass die Zahl der Piratenangriffe in den letzten Jahrenzurückgegangen ist, hat sehr viel damit zu tun, dass dieReeder mittlerweile sehr viel Verantwortung übernom-men haben . Aber Fakt ist, dass die Sicherung internatio-naler Gewässer in erster Linie eine Aufgabe der internati-onalen Staatengemeinschaft ist . Auf einer UN-Grundlageund im Rahmen einer internationalen Mission helfen un-sere Soldatinnen und Soldaten dabei . Dafür ein herzli-cher Dank!
Die Linke hat in den letzten Jahren immer wieder völ-lig zu Recht darauf hingewiesen, dass Atalanta Symp-tombekämpfung ist und dass Piraterie militärisch nichtzu besiegen ist . Das ist auch völlig richtig . Ich fürchtenur, dass eine Sache dabei immer wieder ein bisschenvergessen wird: Gerade im Falle von Somalia reden wirüber ein Land, das über Jahrzehnte fragmentiert wurde .Das heißt, wir haben nur einen sehr beschränkten Ein-fluss auf viele politische Faktoren in diesem Land, unddas führt dazu, dass die Symptombekämpfung umso not-wendiger wird .Ich teile, ehrlich gesagt, so manche Kritik, die Sie vonder Linken nicht nur in diesem Fall haben – viele Kritik-punkte, die die Linke bei Auslandseinsätzen äußert, kannich sehr gut nachvollziehen –; aber die Art und Weise, inder bei UN-Missionen, die manchmal wirklich Nothilfesind, ein grundsätzliches Nein formuliert wird, erinnertein bisschen an folgende Situation: Jemand ertrinkt, undeiner steht dabei und sagt: Es ist aber besser, wenn duselbst schwimmen kannst . – Das stimmt . Es wäre besser,wenn er selbst schwimmen könnte; aber es ist manchmalso, dass man für Schwimmunterricht einfach keine Zeithat .
Ja, Sie haben völlig recht: Die Raubfischerei ist einRiesenproblem, wenn auch bei weitem nicht das einzigeProblem . Es gibt kriminelle Strukturen, die Geschäfts-modelle aufgebaut haben, die weit über Raubfischerei hi-nausgehen . Und ja, es ist richtig: Wenn man die Ursachenbekämpfen will, dann muss und kann man das deutlichbesser machen, als es die Bundesregierung macht . DieUN sagen: Die Raubfischerei ist ein riesengroßes Pro-blem, weil viele Fischer dadurch in ihrer Existenz be-droht sind und für die Geschäftsmodelle der Kriminellenanfällig werden. Die EU sagt: Die Raubfischerei ist einriesengroßes Problem . Wir haben vor Wochen die Bun-desregierung gefragt, was sie denn eigentlich dagegentun wird . Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregie-rung:Ein aktives Vorgehen gegen illegale Fischereiak-tivitäten ist … nicht Bestandteil des Mandats vonATALANTA und kann nur durch die somalischenBehörden selbst erfolgen .Die somalischen Behörden selbst werden im Übrigen inEU-Berichten als diejenigen deklariert, die durch massi-ve Korruption einen Riesenbeitrag dazu leisten, dass esdie Raubfischerei gibt.
Das heißt, hier gibt es eine aktive Ignoranz der Bundes-regierung ebenso wie bei der Bekämpfung der Raubfi-scherei .
Weiter heißt es da:Eine mögliche Ausweitung der Befugnisse der Ope-ration in diesem Bereich … steht aktuell nicht an .Wenn man über die Symptombekämpfung hinauswill,dann muss man das ändern .
Jürgen Hardt
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Es ist grundsätzlich richtig, dass es die Symptom-bekämpfung gibt . Es ist gut, dass es Anpassungsplänegibt, und es ist gut, dass die Mandatsobergrenze gesenktwird . Manche in meiner Fraktion werden diesem Einsatzzustimmen, auch aufgrund des veränderten Sicherheits-umfeldes im Jemen und der Dürre in Ostafrika . Aber diegroße Mehrheit meiner Fraktion kann dem nicht folgen,und das seit 2012, weil die Landoption für uns eine rie-sige Eskalationsgefahr birgt . Wegen dieser Landoption,die immer noch Bestandteil ist, hat die Sozialdemokratieim Übrigen dieses Mandat in den Jahren 2012 und 2013abgelehnt . Die Mehrheit meiner Fraktion kommt in derAbwägung dazu, diesem Mandat nicht zustimmen zukönnen .Ich bitte die Bundesregierung: Verhandeln Sie weiter!Legen Sie ein besseres Mandat vor! Es ist gut und not-wendig, gerade den Soldatinnen und Soldaten gegenüber,wenn es ein breites Votum im Deutschen Bundestag füreinen solchen Einsatz gibt . Sie würden viel Gutes tun,wenn Sie diese Landkomponente herausnähmen . Dannhätten Sie auch eine breitere Zustimmung für Atalantaim Hohen Hause .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Julia Obermeier für die CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man vor acht Jahren die Zeitung auf-
schlug und nach Somalia suchte, fand man Meldungen
über ein bitterarmes und krisengebeuteltes Land, aber
vor allem auch Berichte über Piratenangriffe, Entfüh-
rungen und Lösegeldforderungen . Heute lesen wir zwar
immer noch von der Gewalt im Land, doch es wird auch
über erste Lichtblicke und kleine Fortschritte berichtet,
und die Meldungen über die Piraten sind verschwun-
den . Das Zurückdrängen der Piraterie ist der Erfolg der
EU-Mission Atalanta, und die militärische Präsenz im
Seegebiet vor Somalia hat der Piraterie ein Ende bereitet .
Wie der Kollege Jürgen Hardt bereits sagte: Die letzte er-
folgreiche Entführung fand 2012 statt, und im vergange-
nen Jahr gab es nicht einmal mehr einen Angriffsversuch .
Der EU-Einsatz kann also mit Fug und Recht als Erfolgs-
geschichte bezeichnet werden . Diese Erfolgsgeschichte
wollen wir fortsetzen .
Der Atalanta-Verband steht derzeit unter deutscher
Führung und schützt sowohl die Schiffe des Welternäh-
rungsprogramms als auch die große Zahl an Handels-
schiffen . Mit 20 000 Handelsschiffen pro Jahr sind die
Seewege am Horn von Afrika eine wichtige Lebensader
des Welthandels und somit für die Exportnation Deutsch-
land von grundlegender Bedeutung . Mit den Seewegen
schützen wir auch unsere Wirtschaft, die Arbeitsplätze
und den Wohlstand in Deutschland .
Die Mission leistet aber auch einen wichtigen Beitrag,
um Somalia, eines der ärmsten Länder der Welt, zu sta-
bilisieren und die notleidende Bevölkerung zu versorgen .
Das kann die Operation Atalanta nicht alleine leisten .
Deshalb ist Atalanta nur ein Baustein in einem breiten,
vernetzten Ansatz . In Somalia müssen rechtsstaatliche
Strukturen geschaffen und einsatzfähige Sicherheitskräf-
te aufgebaut werden . Genau hierzu sind die zwei Ausbil-
dungs- und Beratungsmissionen der EU weitere wichtige
Bausteine . Im Rahmen von EUTM Somalia werden so-
malische Sicherheitskräfte ausgebildet, und bei EUCAP
NESTOR werden eigene Küstenpolizeikräfte aufgebaut .
Zudem beteiligt sich Deutschland auch an der politischen
Mission UNSOM .
Die Bevölkerung braucht darüber hinaus auch huma-
nitäre Unterstützung . Auch hier ist Deutschland tätig .
Fast 95 Millionen Euro stehen für die Entwicklungszu-
sammenarbeit in Somalia bereit. Das Geld fließt in Pro-
jekte, die Trinkwasser, Nahrungsmittel und Medikamente
für die Menschen bereitstellen, aber auch in Projekte, die
dem Ausbau der ländlichen Infrastruktur dienen . Doch
kann diese Hilfe nur ankommen, wenn es die Sicherheits-
lage auch zulässt, und zwar zu Land wie zur See . Des-
halb werden unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten
weiterhin in Somalia gebraucht . Ihr Engagement ist ein
Stabilitätsanker in der Region . An dieser Stelle möchte
ich allen Bundeswehrangehörigen, die in den vergange-
nen acht Jahren am Horn von Afrika im Einsatz waren,
für ihre hervorragend geleistete Arbeit danken .
Als Abgeordnete der CSU schicke ich einen ganz beson-
deren Gruß an die Besatzung der Fregatte „Bayern“, die
derzeit den EU-Verbund anführt .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Atalanta
leistet einen unverzichtbaren Beitrag, um einerseits die
Seewege am Horn von Afrika zu sichern und anderer-
seits mehr Stabilität in Somalia zu schaffen, nicht zuletzt
durch die Absicherung der Hilfslieferungen des Welter-
nährungsprogramms . Somalia braucht weiterhin unsere
Unterstützung . Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung
für die Fortsetzung dieser erfolgreichen Mission . Nur
wenn wir einen langen Atem haben, werden die Zeitun-
gen auch zukünftig nicht wieder über neue Piratenangrif-
fe, sondern über weitere Fortschritte am Horn von Afrika
berichten können .
Vielen Dank .
Danke schön . – Damit schließe ich die Aussprache .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zuOmid Nouripour
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dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an derdurch die Europäische Union geführten Operation EUNAVFOR Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor derKüste Somalias . Dazu liegen mir mehrere Erklärungennach § 31 unserer Geschäftsordnung vor .1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/8286, den Antrag der Bundes-regierung auf Drucksache 18/8091 anzunehmen . Wirstimmen über diese Beschlussempfehlung namentlichab . Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen . – Sind jetzt an allenAbstimmungsurnen Schriftführerinnen und Schriftführeranwesend? – Das ist der Fall . Dann eröffne ich die Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung .Ich darf mir noch den Hinweis erlauben, dass nicht nurdie Urne im Nordosten des Plenarsaals geeignet ist, son-dern es an anderen Abstimmungsurnen möglicherweiseschneller geht .Ist noch ein Mitglied des Deutschen Bundestages an-wesend, das seine Stimme abgeben möchte, dies abernoch nicht getan hat? Ich bitte um ein Handzeichen . –Das ist nicht der Fall . Es haben also alle, die abstimmenwollten, auch abgestimmt . Dann schließe ich hiermitdie Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen undSchriftführer, mit der Auszählung zu beginnen . Das Er-gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-geben .2)Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/8424 . Wer für diesen Entschließungs-antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-ßungsantrag ist damit mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD sowie der Fraktion Die Linke gegen die Stim-men von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt .Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldEbner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVorsorgeprinzip ernst nehmen – Keine erneu-te Genehmigung für GlyphosatDrucksache 18/8395Ich darf darauf hinweisen, dass mit aller Wahrschein-lichkeit zum Ende dieser Debatte eine streitige Abstim-mung stattfinden wird – keine namentliche, aber einestreitige .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Widerspruchsehe und höre ich keinen . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Harald Ebner für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort .1) Anlage 72) Ergebnis Seite 16826 D
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Was haben wir hier in diesem Haus nicht schonrauf und runter über Glyphosat debattiert! Es kommtIhnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,doch sicherlich schon aus den Ohren heraus .
– Das dachte ich mir doch . – Auch viele andere Parla-mente in der EU haben in den letzten Wochen über Gly-phosat diskutiert, und das aus gutem Grund: Glyphosatist schon seit Jahren umstritten; vor einem Jahr wurdees von den WHO-Experten als „wahrscheinlich krebser-regend“ klassifiziert. Trotzdem wollen Minister Schmidtund die EU-Kommission es jetzt wieder neu zulassen .Das ist unverantwortlich, werte Kolleginnen und Kolle-gen .
Nächste Woche findet die finale Abstimmung in Brüs-sel über die Wiederzulassung statt, und die deutsche Stim-me spielt da eine Rolle . Der letzte Abstimmungsversuchin Brüssel ist aus Sicht der Europäischen Kommissionkomplett schiefgegangen . Das war auch eine waschechteKlatsche für das Bundesinstitut für Risikobewertung –und das, obwohl unsere Bundesregierung, werter HerrMinister Schmidt, immer betont hatte, dass alle Mitglied-staaten hinter der deutschen Bewertung stünden .Die französische Umweltministerin Royal hat jetzterklärt, dass Frankreich die Wiederzulassung ablehnenwird, weil Glyphosat wahrscheinlich krebserregendist . Ich freue mich, dass nun endlich auch MinisterinHendricks, Minister Gabriel und andere SPD-Ministerdas so sehen . Ich wünsche mir das auch vom federfüh-renden Minister Schmidt .
Verhindern Sie die Zulassung dieses Pflanzenkillers,Herr Minister! Die massiven Bedenken gegen Glyphosatim Zuge der Risikobewertung werden ja nicht kleiner,sondern täglich größer . Inzwischen wurde sogar schonStrafanzeige gegen das BfR, die EFSA und die GlyphosatTask Force erstattet . Der Wissenschaftsstreit über Krebs-und Umweltgefahren tobt doch weiter . Die Fragen zu denoffensichtlichen Fehlern bei der Auswertung der Herstel-lerstudien, zum Aussortieren von unabhängigen Studi-en, zu fehlenden statistischen Tests usw . usf . sind nichtbeantwortet . Erst im nächsten Jahr wird die EuropäischeChemikalienagentur, die ECHA, ihre Einschätzung vor-legen . Trotzdem soll jetzt eine Zulassung erfolgen? Dasist unverantwortlich und aus unserer Sicht nicht tragbar .
So lange soll wohl in Kauf genommen werden, dassder Stoff weiterhin ohne nennenswerte Einschränkungangewandt wird und in die Umwelt gelangt . Das hat mitVorsorge nichts zu tun . Wer das Vorsorgeprinzip für Ge-Vizepräsident Johannes Singhammer
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sundheit und Verbraucherschutz ernst nimmt, der kannGlyphosat jetzt nicht ernsthaft neu zulassen .
Deshalb ist es auch gut, dass die SPD-Ministerinnen und-Minister nun erklärt haben, dass sie der Wiederzulas-sung wegen der Gesundheitsbedenken nicht zustimmenkönnen . Das war ein echter Paukenschlag, Kompliment,Frau Hendricks! Sie ist nicht da, aber Herr Pronold ver-tritt sie . Jetzt muss sich das aber auch im Abstimmungs-verhalten Deutschlands in Brüssel niederschlagen .
Es kann doch nicht sein, dass sechs Tage vor der Ab-stimmung kein Mensch in diesem Haus, in diesem Landweiß, wie Deutschland sich in dieser Frage verhaltenwird . Sorgen Sie für Klärung!
Ich frage mich umso mehr, warum Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von der SPD, heute nicht auch persönlichIhre Stimme gegen die Zulassung von Glyphosat abge-ben wollen . Auch im Hinblick auf Fragen der Biodiversi-tät wäre das notwendig .
Ich kann ja verstehen, dass bei den Glyphosat-Herstel-lern momentan die Alarmglocken schrillen . Die Umsät-ze bei Monsanto sind wegen der Debatte um ein Dritteleingebrochen . Ich kann aber nicht verstehen, dass dasBMEL nach wie vor stur auf seiner Zustimmung zur Zu-lassung von Glyphosat beharrt . Werte Kolleginnen undKollegen, heute ist die letzte Chance, als Bundestag füreinen effektiven Gesundheits- und Umweltschutz in derEuropäischen Union zu stimmen, indem wir uns gegeneine weitere Zulassung von Glyphosat aussprechen . Un-ser Antrag besteht aus einem kurzen Satz, den Sie ganzschnell lesen und ganz schnell verstehen können . Beken-nen Sie Farbe! Sagen Sie klipp und klar Ja oder Nein;
aber verstecken Sie sich nicht hinter Formalitäten .Danke schön .
Der Kollege Hermann Färber spricht jetzt für die
CDU/CSU .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Grünen wollen mit ihrem vorliegenden Antragerreichen, dass es in der EU keine Mehrheit für eineweitere Zulassung von Glyphosat gibt; das hat KollegeEbner gerade ausgeführt . Das Ergebnis wäre, dass abdem 1 . Juli dieses Jahres Glyphosat in allen europäischenLändern verboten wäre .
Was wären denn die Folgen? Das wäre nicht nur ein Pro-blem für die Landwirtschaft . Das wäre auch ein großerNachteil für die Umwelt und die Verbraucher .
Das Julius-Kühn-Institut hat in seiner Studie, die in derletzten Sitzung des Ausschusses für Ernährung und Land-wirtschaft vorgestellt wurde, sehr deutlich gemacht: Einsofortiges Verbot von Glyphosat würde bedeuten, dasswieder mehr gepflügt werden muss, mit allen negativenFolgen für Bodenleben und Bodenerosion .
Außerdem würde das natürlich zu massiven Problemenbeim Resistenzmanagement führen . Entgegen allen Hor-rormeldungen gibt es nämlich bis heute in Deutschlandkeine Resistenzen gegen Glyphosat . Das liegt ganz ein-fach daran, dass dieser Wirkstoff ganz anders und vielzurückhaltender eingesetzt wird, als das etwa in Nord-oder Südamerika der Fall ist . Deshalb sind alle Verglei-che mit diesen Ländern, mit diesen Regionen, die alsBegründung herhalten sollen, nicht nur sachlich falsch,sondern sind ganz einfach fehl am Platz .
Nach unseren Anwendungsbedingungen, unter denender Einsatz nur zugelassen werden kann, besteht beimEinsatz von Glyphosat kein größeres Risiko . Es ist nichtschädlicher als das Pflügen. Die einzige Auswirkung aufdie Biodiversität besteht darin, dass die Pflanze, die durchGlyphosat abgetötet wird, nicht mehr als Lebensraum fürdie Mikroorganismen zur Verfügung steht .
Das ist beim Pflügen genauso, nur dass dabei hundertmalso viel Diesel verbraucht wird .
Ein Verbot des Wirkstoffes würde auch für den Ge-sundheitsschutz nichts bringen . Alle europäischen Be-wertungsbehörden haben nämlich festgestellt, dass Gly-phosat in der zugelassenen Anwendung kein Krebsrisikodarstellt . Das IARC vertritt mit seiner Einstufung in dieKategorie „wahrscheinlich krebserregend“ eine reineMinderheitenposition .
Was das IARC hingegen als „mit Sicherheit krebserre-gend“ einstuft, das sind die Dieselabgase, die, wie schonHarald Ebner
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erwähnt, bei einem Verbot von Glyphosat hundertfachstärker ausgestoßen würden .
Ich finde es schon typisch, dass sich von den Verbots-befürwortern für diese Abwägung niemand auch nur imGeringsten interessiert .
Meine Damen und Herren, zugelassen wird ein Wirk-stoff in der EU nur dann, wenn die Anwendung nicht zuGesundheitsschäden führt, wenn er sich nicht im Bodenoder im Körper anreichert,
wenn er zielgenau wirkt, wenn er nicht das Grundwassergefährdet und wenn er auch nicht schädlich für Bienenist . All das müssen die antragstellenden Unternehmen inumfangreichen Studien nachweisen .
Diese Studien werden dann von den nationalen oder auchden europäischen Bewertungsbehörden geprüft und be-wertet .
Dieses Verfahren läuft bei Glyphosat mittlerweileseit vier Jahren . Die zuständigen wissenschaftlichen Be-hörden sind europaweit eindeutig und einmütig zu demSchluss gekommen, dass der Wirkstoff zulassungsfähigist .
Wenn diese Bewertungsbehörden zu einem späterenZeitpunkt zu einem anderen Ergebnis kommen, so wieSie das gesagt haben, wenn also beispielsweise in an-derthalb Jahren eine andere Erkenntnis vorliegen würde,dann kann diese Zulassung jederzeit nachträglich ein-geschränkt oder sogar aufgehoben werden . Auch das istTeil des Zulassungsverfahrens .
Dieser wissenschaftsbasierte Zulassungsprozess solljetzt nach dem Willen der Grünen abgelöst werden
durch politische Willkürentscheidungen . Das ist mit unsnicht zu machen;
denn es geht ja hier gar nicht um Glyphosat allein . Esgeht auch um den Zulassungsprozess als solchen, und dasehen wir schon eine große Gefahr .
Wenn die Anforderungen bei Zulassungsverfahren fürdie antragstellenden Unternehmen in keiner Weise mehrberechenbar sind, dann laufen wir Gefahr, dass in Zu-kunft auch keine Forschung an neuen Wirkstoffen mehrbetrieben wird .
Damit würden wir uns aber auch die Chance für nochumweltschonendere und noch gesundheitsverträglichereWirkstoffe nehmen . Das wäre kein Nachteil für die Un-ternehmen; nein, das wäre ein großer Nachteil für unsereGesellschaft, für die Verbraucher und auch für die Um-welt .In den letzten Jahren ist in Sachen umweltschonenderund gesundheitsverträglicher Pflanzenschutz schon vielerreicht worden . Während vor wenigen Jahren noch mehrals 1 000 Wirkstoffe zugelassen waren, sind es heute ge-rade einmal noch rund 400 . Im Nationalen AktionsplanPflanzenschutz haben wir viele Maßnahmen festgelegt,um eine flächendeckende Minimierung zu erreichen. Dasreicht von der Forschungsförderung über die Förderungvon integriertem Pflanzenschutz bis hin zu Demonstrati-onsbetrieben . Das ist der richtige Weg .Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bei ih-rer Entscheidung in Sachen Glyphosat den wissenschaft-lichen Sachverstand der Bewertungsbehörden gebührendzu berücksichtigen
und gemäß deren Einschätzung der Zulassungsverlänge-rung für Glyphosat zuzustimmen .Herr Ebner, noch ein letzter Satz .
Herr Kollege Färber, Sie denken an die vereinbarte
Redezeit?
Herr Präsident, ich höre Ihre Worte . – Laut Ihrem An-
trag, Herr Ebner, können Sie sich eine Zulassung für drei
Jahre vorstellen . Das will ich Ihnen einfach einmal lo-
bend zugestehen . Ich glaube, wir liegen da gar nicht so
weit auseinander .
Herzlichen Dank .
Zwischenzeitlich liegt mir das von den Schriftführe-rinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na-mentlichen Abstimmung über die Beschlussempfeh-lung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag derHermann Färber
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Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaff-neter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäi-sche Union geführten Operation EU NAVFOR Atalantazur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias“,Drucksachen 18/8091 und 18/8286, vor: abgegebeneStimmen 563 . Mit Ja haben gestimmt 456, mit Nein ha-ben gestimmt 72, Enthaltungen 35 . Die Beschlussemp-fehlung ist damit angenommen .Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 563;davonja: 456nein: 72enthalten: 35JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzIris EberlJutta EckenbachDr . Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachAxel E . Fischer
Klaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinDr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr . Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingDr . Heribert HirteChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr . Franz Josef JungAndreas JungXaver JungDr . Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeJens KoeppenMarkus KoobKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneUwe LagoskyDr . Karl A . LamersDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr . h .c . Hans MichelbachDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd Müller
Dr . Philipp MurmannDr . Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenVizepräsident Johannes Singhammer
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616828
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Josef RiefDr . Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr . Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Karl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederBernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe SchummerArmin Schuster
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G . WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettDr . Matthias BartkeSören BartolUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr . Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelDr . Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr . Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeDr . Simone RaatzMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelSarah RyglewskiJohann SaathoffAnnette SawadeDr . Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr . Nina Scheer
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Marianne SchiederDr . Dorothee SchlegelMatthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Elfi Scho-AntwerpesUrsula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Dr . Franziska BrantnerEkin DeligözDr . Thomas GambkeAnja HajdukDieter JanecekTom KoenigsDr . Tobias LindnerOmid NouripourCem ÖzdemirBrigitte PothmerTabea RößnerKordula Schulz-AscheMarkus TresselDoris WagnerDr . Valerie WilmsNeinSPDKlaus BarthelMarco BülowDr . Ute Finckh-KrämerCansel KiziltepeHilde MattheisWaltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSylvia Kotting-UhlChristian Kühn
Monika LazarPeter MeiwaldBeate Müller-GemmekeLisa PausCorinna RüfferHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDPetra Hinz
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergVolker Beck
Agnieszka BruggerKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkOliver KrischerStephan Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeIrene MihalicÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzFriedrich OstendorffClaudia Roth
Elisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtDr . Wolfgang Strengmann-KuhnDr . Harald TerpeDr . Julia VerlindenBeate Walter-RosenheimerNächste Rednerin ist die Kollegin Dr . KirstenTackmann für die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-be Gäste! Vorweg noch ein anderes Thema: Ertrinkendedavon zu überzeugen, dass sie Schwimmunterricht neh-men sollen – dieses Bild gab es vorhin schon einmal inder Debatte –, ist absurd, erst recht, wenn man eigentlichnur das Wasser aus dem Pool ablassen müsste, um dieErtrinkenden zu retten . So ähnlich fühlen sich vielleichtauch manchmal die Landwirtinnen und Landwirte, wennmit ihnen über die Agrarwende diskutiert wird, währendsie gegen die Übermacht von Handelskonzernen, Mol-kereien und Schlachthöfen um das Überleben kämpfen .
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Deshalb sagt die Linke ganz klar: Dieser Missbrauch vonMarktmacht muss beendet werden,
die spekulativen Käufe von Boden und ganzen Betriebenauch . Ich glaube, dass unter solch einem Schutzschirmmanche Debatte über die Agrarwende oder andere Ände-rungen viel leichter wäre .
Das gilt zum Beispiel auch für die Debatte über Gly-phosat . Auch hier geht es doch längst nicht mehr nur umeinen Unkrautvernichter unter Krebsverdacht . Glypho-sat ist doch längst zu einem Symbol geworden, zu ei-nem Symbol für eine Politik, die nicht handelt, zu einemSymbol für eine Politik, für die das Vorsorgeprinzip nichtmehr unumstößlich ist . Das sage nicht nur ich, sonderndas sagen auch die Menschen um einen herum, wennman sie fragt, was ihnen spontan zum Thema Glyphosateinfällt . Ja, auch bei mir ist heute mit der Debatte die täg-lich empfohlene Dosis des Problems deutlich überschrit-ten . Ja, gerade als Wissenschaftlerin und Tierärztin kannich es nur noch schwer ertragen, wie viele Zweifel an derUnbedenklichkeitserklärung durch deutsche und europä-ische Behörden einfach weggewischt werden .
Die Union fordert ja immer eine wissenschaftlicheBasis für die Entscheidung, aber die Frage ist doch ei-gentlich: Welche wissenschaftliche Position ist dierichtige? Die deutsche Behörde hält Glyphosat für un-bedenklich, auch weil Menschen in Europa kaum Kon-takt zu diesem Wirkstoff hätten, aber die Experten derWHO-Krebsforschungsagentur sehen das anders . Was isteigentlich, wenn die recht behalten, weil zum Beispieldoch erbgutverändernde Wirkmechanismen vorliegen?Das wäre ein K .-o .-Kriterium für die Zulassung . 100 in-ternationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerhaben in einem offenen Brief heftige Kritik sowohl amPrüfverfahren als auch an der Bewertung einiger Studienvorgetragen . Sind das alles Verschwörungstheoretiker?Was ist eigentlich, wenn die Studien recht haben, dieviel häufigeren Kontakt mit Glyphosat voraussetzen,weil sie nämlich schon in kleinen Stichproben erstaun-lich oft Glyphosat im Urin bei Menschen nachweisen?Dies war zuletzt auch im Umweltbundesamt der Fall . Inder vorläufigen Auswertung einer kleinen Studie wurdein immerhin 40 bis 60 Prozent der Urinproben Glyphosatgefunden . Nachweise von Glyphosatspuren in verschie-denen Lebensmitteln würden das auch erklären . Viel-leicht summiert sich das Glyphosat ja mit dem täglichBrot und dem täglich Bier .
Vielleicht gibt es ja auch noch andere unberücksichtigteKontaktquellen wie zum Beispiel Kleidung oder Hygie-neartikel aus gentechnisch veränderter Baumwolle . Dassind doch alles wichtige Fragen .
Deswegen habe ich die Bundesregierung nach Studienzur Kontakthäufigkeit, zu Risikofaktoren, zur Belastungvon Lebensmitteln und Kleidung gefragt . Die ernüch-ternde Antwort kam vorgestern: Sie sieht keinen Hand-lungsbedarf. Ich finde, das ist fahrlässiges Wegducken.Das ist nicht akzeptabel .
Die Liste der ignorierten Wissenslücken ist ja nochviel länger . Ein paar Beispiele: Trotz der weltweit in-tensiven Nutzung gibt es nur wenige Studien über Vor-kommen von Glyphosat in der Umwelt . Auch in unseremLand ist die Umweltmedizin unterdessen zum Stiefkindgeworden – zum Leid ganz vieler Menschen . Wirkme-chanismen wie oxidativer Stress werden ausgeblendet .Epidemiologische Studien werden systematisch geringgeschätzt . Wir wissen wenig über verstärkende Wir-kungen durch andere Stoffe oder andere Risiken, überchronische Wirkungen von niedrigen Dosierungen überlängere Zeiträume oder über die Grenzwerte von Wirk-stoffmischungen .Auch als Wissenschaftlerin und Abgeordnete muss ichausdrücklich sagen: Ich maße mir kein Urteil und keineEntscheidung über diesen wissenschaftlichen Streit an .Aber solange die Zweifel nicht beseitigt und die Wis-senslücken nicht geschlossen sind, gibt es für uns Linkenur einen einzigen Entscheidungsmaßstab: im Zweifelfür die Verbraucherinnen und Verbraucher .
Eine Entscheidung jetzt für die nächsten 10 oder 15 Jah-re ist aus unserer Sicht unverantwortlich und nutzt nurMonsanto . Da machen wir Linken nicht mit .
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Rita Hagl-Kehl .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bevölkerung ist verunsichert . Unter-schiedliche Meldungen kursieren . Auf der einen Seitesagt die Weltgesundheitsorganisation – besser gesagt:ihre Untergruppierung, das Krebsforschungsinstitut –:Glyphosat ist wahrscheinlich krebsergebend . – Auf deranderen Seite sagen deutsche Behörden wie das BfR,also das Bundesinstitut für Risikobewertung, das sichja auch damit befassen muss: Es ist unbedenklich . – DieEFSA folgte diesem Urteil . Die Wissenschaft ist uneins .Dr. Kirsten Tackmann
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Die SPD nimmt die Besorgnis der Bevölkerung trotzdemernst, auch wenn Uneinigkeit besteht .
Ich möchte zunächst auf die Forderungen der SPD ein-gehen, die wir schon vor Wochen dargelegt und schrift-lich verfasst haben . Wir sind eindeutig dafür, dass wir einVerbot für private Anwender bekommen, und zwar auchfür den kommunalen Bereich . Es kann nicht sein, dassKinderspielplätze und Schulhöfe mit Glyphosat gespritztwerden . Wir wollen auch, dass die Bahn dieses Mittel in-nerorts nicht mehr verwendet . Diese Möglichkeiten – dasist das Einzige, was ich an ihm wirklich schätzen muss –bietet der Entwurf der Kommission . Sollte sich dieserEntwurf in Europa durchsetzen, dann werden wir daraufdrängen, diese Möglichkeit zu nutzen, um ein Verbot beiuns in Deutschland durchzusetzen .
Gleichzeitig wollen wir ein stärkeres Engagement fürdie Biodiversität . Wir haben eine Verringerung des Ein-satzes in der Landwirtschaft bis hin zum Ausstieg gefor-dert . Das Julius-Kühn-Institut wurde vorhin schon einmalzitiert . Auch wir haben die Studie des Julius-Kühn-Insti-tuts zur Kenntnis genommen . Wir haben darin aber auchgelesen, dass die Landwirtschaft den Einsatz von Gly-phosat sehr viel deutlicher reduzieren könnte, ohne dasses zu finanziellen Einbußen kommt.
Die überflüssige Stoppelbehandlung könnte abge-schafft werden . Die Bodenbearbeitung mit Geräten – ja,Herr Färber kritisiert sie; aber sie wäre eine Möglich-keit – würde viel Glyphosat einsparen . Am Schlimms-ten ist, dass die Sikkation, also die Vorerntebehandlung,durch die es ja wahrscheinlich ins Brot und ins Getreidekommt, zumeist unnötig ist .Wir haben die Resolution des EU-Parlaments, dieGenehmigung zunächst nur für sieben Jahre zu erteilen,begrüßt . Wichtig sind auch die strikten Beschränkun-gen bei der Vorernteanwendung und die Beachtung derArtenvielfalt . Aber diese Punkte wurden von der Kom-mission nicht aufgegriffen . Der einzige Aspekt, der auf-gegriffen wurde, ist das Verbot von Tallowaminen; aberdiese Beimischungen haben wir in Deutschland sowiesoschon verboten .Im Kommissionsentwurf steht aber auch, dass die Zu-lassung jederzeit zurückzuziehen ist, falls wissenschaft-lich nachgewiesen wird, dass es krebserregend ist, unddaran wird weiter geforscht . Ich möchte an dieser Stelledarauf verweisen, dass wir dann, wenn sich das heraus-stellt, sofort handeln müssen .
Mein Dank geht an die SPD-Ministerinnen und -Mi-nister .
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höhn?
Wo ist sie? – Ach, da . Entschuldigung .
Und des Kollegen Ostendorff? – Wer möchte sich jetzt
melden? – Die Kollegin Höhn, wenn Sie gestatten?
Ja .
Frau Kollegin, Sie haben jetzt sehr viele Forderungen
aufgestellt, die zum Teil auch die SPD bei Glyphosat auf-
gestellt hat, so eine Einschränkung des Anwenderkreises .
Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Ministerin, die für Um-
weltpolitik zuständig ist und die heute noch einmal sehr
deutlich die Position des UBA vertreten hat, die besagt,
dass Glyphosat massiv der Artenvielfalt schadet, verhal-
ten? Wie wird sich die Ministerin in der nächsten Woche
gegenüber dem Landwirtschaftsminister durchsetzen?
Was bedeutet dies eigentlich für die Abstimmung der
Bundesregierung?
Dazu wäre ich jetzt gleich gekommen, danke, dass Sie
das vorwegnehmen . Die Ministerin und die SPD-Minis-
ter im Allgemeinen haben sich dafür entschieden, dage-
genzustimmen .
Wenn die SPD-Minister dagegenstimmen, dann wird es
wahrscheinlich, wenn der Landwirtschaftsminister und
andere Minister der Koalition nicht einlenken, zu einer
Enthaltung kommen, was eigentlich schade ist . Mir ist
eine Enthaltung in Brüssel immer noch lieber als eine
Zustimmung Deutschlands .
Es wurde schon vorweggenommen: Ich wollte mich
gerade bei unseren Ministerinnen und Ministern, allen
voran natürlich bei Barbara Hendricks bedanken, die hier
wirklich hart geblieben ist,
und ich hoffe wirklich, dass Einsicht vielleicht noch bei
unserem Landwirtschaftsminister aufkommt .
Danke schön .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Pahlmann fürdie CDU/CSU .
Rita Hagl-Kehl
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Der Wahlkampf naht, kann ich
nur sagen . Heute gibt es mal wieder eine Abstimmung
über die Zulassung von Glyphosat .
Wenn man die Auflagen bei der Zulassung und An-
wendung von Pflanzenschutzmitteln und deren Rück-
stände in Lebensmitteln betrachtet, so sind unsere Mess-
methoden mittlerweile so präzise geworden, dass man im
Prinzip alles nachweisen kann . So hat zum Beispiel eine
Prise Estragon so viel krebserregendes Potenzial wie der
Rauch einer täglich konsumierten Zigarette . Es scheint
eigentlich nur so von Giften in unseren Nahrungsmitteln
zu wimmeln . Ich muss Ihnen aber sagen: Das stimmt
nicht . Unsere Nahrungsmittel sind so sicher wie nie zu-
vor .
Wir müssen endlich davon wegkommen, dass wir Mess-
werte mit Gefährdung gleichsetzen . Die gesetzlichen
Grenzwerte haben Vorsorgecharakter und ein Erreichen
keine unmittelbare toxische Wirkung .
Ganz oben auf der Liste der Ernährungsrisiken stehen
nicht die Rückstände in den Nahrungsmitteln, sondern
der Umgang mit ebendiesen Nahrungsmitteln . Fehlende
Kenntnis über Zubereitungsmethoden und mangelnde
Küchenhygiene sind echte Risiken für die Gesundheit:
Denken wir an Salmonellen, Mycotoxine, Krebsgefähr-
dung durch übermäßig gebräuntes Grillgut, Bratkartof-
feln, die beliebten Pommes Frites und Chips .
Unkenntnis beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln
kann man hingegen den Landwirten nun wirklich nicht
vorwerfen .
Der Einsatz im privaten Gartenbereich ist da deutlich
kritischer zu sehen . Landwirte handeln nach guter fach-
licher Praxis, sie sind gut ausgebildet im Umgang mit
Pflanzenschutzmitteln und der dazugehörigen Technik
und unterliegen einer strengen Überwachung .
Sie selbst unterstützen strenge Maßstäbe für Zulassung
und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, erwarten
aber, dass diese Maßstäbe wissenschaftlich fundiert und
nicht von unbegründeten Ängsten gesteuert festgelegt
werden .
Was momentan am Beispiel der Zulassungsverlänge-
rung bei Glyphosat geschieht, ist eine Missachtung von
Wissenschaft und eine gezielte, emotional gesteuerte
Verunsicherung der Bevölkerung .
Ich erinnere zuerst an den Fund von Glyphosat in der
Muttermilch, erreicht durch eine nicht wissenschaftlich
belegte Untersuchung eines Labors unter Anwendung
von Tests, die sich nicht für fetthaltige Flüssigkeiten eig-
nen . Die Überprüfung durch geeignete Methoden ergab,
dass kein Glyphosat in Muttermilch nachweisbar ist .
Tausende Mütter wurden aber verunsichert, und die beste
Ernährungsmethode für Babys wurde unbegründet infra-
ge gestellt . Ich kann nur sagen: Das, was da passiert ist,
ist absolut unverantwortlich .
Frau Kollegin Pahlmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ebner?
Nein, ich denke, das führt zu nichts . Ich mache weiter .
Warum braucht die Landwirtschaft Glyphosat?
– Herr Ostendorff, auch Ihnen lasse ich sie nicht zu .
Ich darf noch einmal nachfragen: Gestatten Sie die
Zwischenfrage des Kollegen Ostendoff?
Nein, die gestatte ich auch nicht . Ich mache jetzt wei-ter .
Also: Warum braucht die Landwirtschaft Glyphosat?Der gesunde Ackerboden ist das höchste Gut, das dieBauern haben, und die pfluglose oder reduzierte Boden-bearbeitung ist ein wichtiger Beitrag zur nachhaltigenLandwirtschaft .
Pflügen kann die Bodenfruchtbarkeit eben auf langeSicht reduzieren, Frau Hagl-Kehl . Nehmen Sie das zurKenntnis!
Bodenorganismen leben in verschiedenen Bodentiefenund können durch das Umpflügen beeinträchtigt odersogar zerstört werden . Zudem ist ein gelockerter Bo-den der Winderosion ausgesetzt und kann nach starkenRegenfällen abgeschwemmt werden . Gleichzeitig wirdbeim Pflügen aber auch gespeicherter Kohlenstoff frei-
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gesetzt, der dann als klimarelevantes Kohlendioxid dieAtmosphäre belastet . Wir sollen etwas für den Klima-schutz tun. Durch das pfluglose Anbauverfahren unterZuhilfenahme von Glyphosat lässt sich der CO2-Ausstoßim Kulturpflanzenanbau halbieren. Auch das müssen Siezur Kenntnis nehmen .
Dies alles wissen die Landwirte, und deshalb wägensie ab, wann sie pflügen und in welchen Fällen sie mitMulchverfahren arbeiten .Neben den Vorteilen für die Bodengesundheit und denKlimaschutz würden bei einem Verzicht auf Glyphosatauch massive Ernteausfälle durch die Konkurrenz vonUnkräutern drohen . Der Wirkstoff steht somit auch fürein hohes Maß an Versorgungssicherheit und hilft, dieAbhängigkeit von Importen zu begrenzen .Seien wir doch einmal ganz ehrlich: Die Anwendungvon Glyphosat in Deutschland ist gar nicht das Problem .Das Problem liegt vielmehr in der ungebremsten Anwen-dung in genveränderten Kulturen in Nord- und Südame-rika. Dort wird großflächig und zum Teil unter Einsatzvon Flugzeugen gespritzt . Es werden Mengen ausge-bracht, die auch ich für absolut bedenklich halte .
Es gibt zurzeit keine Alternative zu Glyphosat . Ande-re Mittel, die alternativ eingesetzt werden könnten, sindschlechter abbaubar und belasten die Böden und Gewäs-ser weitaus mehr als Glyphosat .
Das heißt nicht, dass man nicht weiter kritisch For-schung betreiben, die Frage der begleitenden Netzmittel,also Zusatzstoffe, beantworten und Alternativen entwi-ckeln muss . Aber bitte zurück zur Sachlich- und Fach-lichkeit! Keine polemische, pseudowissenschaftlicheDiskussion,
die die Menschen nur beunruhigt und niemandem hilft!
Die Bewertung des Wirkstoffs durch die zuständigenBehörden aller Mitgliedstaaten der EU und der EFSA er-gab, dass der Wiedergenehmigung von Glyphosat keinewissenschaftlichen Gründe entgegenstehen .Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, ichhabe absolut kein Verständnis für Ihre unklare Haltungin dieser Frage .
Dem augenscheinlich öffentlichen Mainstream unreflek-tiert zu folgen, wird Ihre Umfrageergebnisse nicht in dieHöhe treiben . Auch Ihre Umweltministerin hat zeitweisezugegeben, dass es keine wissenschaftlichen Gründe fürdie Verweigerung gibt, und auch die deutsche Forderungnach stärkerer Berücksichtigung der Artenvielfalt hat dieEU-Kommission in den Entwurf aufgenommen .Wir haben hier im Haus die Verantwortung, fachlichesund wissenschaftliches Wissen nach vorne zu stellen undnicht reißerischen Schlagzeilen in der Presse hinterher-zulaufen .Ich bitte Sie um Zustimmung .
Der Kollege Ebner hat jetzt die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention .
Werte Kollegin Pahlmann, Sie haben davon gespro-chen, dass unsere Nahrungsmittel sicher seien und dassmit bestimmten Messmethoden alles messbar wäre . Die-se Debatte haben wir ganz oft . Regelmäßig bleiben unsdie Wissenschaftler und die Risikoprüfungs- und -bewer-tungsbehörden die Antwort darauf schuldig, wie wir mitMehrfachrückständen verschiedener Wirkstoffe, die inmindestens der Hälfte der Lebensmittel vorkommen, indenen überhaupt Rückstände nachgewiesen werden, um-zugehen haben . Dafür gibt es keine Risikobewertung undkeine Grenzwerte . Deshalb können Sie nicht sagen, dassmit bestimmten Messmethoden alles messbar und dassalles ungefährlich wäre .Sie haben auch davon gesprochen, es würde um Wis-senschaft versus Ideologie gehen; das hat auch der Kolle-ge Färber so gesagt . Ich möchte Sie nur darauf hinweisen,worum es eigentlich geht . Nur weil Sie und das BfR sichan die Herstellerwissenschaft klammern, werden die wis-senschaftlichen Bewertungen der Internationalen Agen-tur für Krebsforschung mit ihren renommierten Expertin-nen und Experten nicht plötzlich nicht wissenschaftlich .Das ist eine interessenungeleitete Wissenschaft .Wir fordern nichts anderes als die Berücksichtigungdieser wissenschaftlichen Sichtweise und die Einhaltungwesentlicher europäischer Grundsätze .
Grundsatz Nummer eins ist die Pflanzenschutzrichtlinieaus 2009, die nämlich eine Zulassung von Wirkstoffen,die krebsgefährlich oder gentoxisch sind, ausschließt .Grundsatz Nummer zwei ist das Vorsorgeprinzip . Dasbitte ich Sie zu berücksichtigen .Danke schön .
Ingrid Pahlmann
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Frau Kollegin Pahlmann, Sie haben die Möglichkeit,
darauf zu erwidern .
Das werde ich gern tun . – Herr Ebner, mögen Sie
stehen bleiben? – Erst einmal müssen wir zur Kenntnis
nehmen, dass es durchaus Untersuchungen zu Mehrfach-
rückständen in den Pflanzenschutzmitteln gibt. Sie haben
das BfR angesprochen . Das ist eine Behörde, die sogar
auf Ihre Intervention hin eingerichtet wurde . Jetzt ziehen
Sie alle Ergebnisse dieser Behörde in Zweifel .
Das ist für mich keine wissenschaftliche Arbeit .
Sie verteufeln Lebensmittel .
Sie schüren in der Bevölkerung eine Angst, die unbe-
gründet ist . Ich habe ein Beispiel in meiner Rede nicht
erwähnt, das mit dem Bier . Morgens stand es in der Pres-
se; komisch, dass das genau an dem Tag war, als wieder
einmal über Glyphosat diskutiert wurde . Es hieß, Rück-
stände von Glyphosat seien im Bier gefunden worden;
das sei alles ganz furchtbar und schrecklich . Was war der
Fakt? Man muss 1 000 Liter Bier am Tag und ein Leben
lang trinken, um überhaupt etwas Messbares zu haben .
Da gibt es Dinge mit viel schlimmeren Auswirkungen als
dieses Beispiel .
Nehmen Sie einfach einmal zur Kenntnis, dass Bewer-
tungen dazu vorliegen und dass diese Aussagen belegen:
Unsere Lebensmittel sind im europäischen Vergleich su-
persicher . Wir stehen ganz vorne . – Unsere Verbraucher
werden durch Ihre Aussagen verunsichert . Das ist das
Schlimmste, was Sie tun können .
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte gerne zur Sachlichkeit zurückkehren . Ich glaube,das ist bitter nötig .
Herr Färber, Sie täuschen sich: Die Verbraucherinnenund Verbraucher wollen eben kein Glyphosat und keinePestizide in ihren Lebensmitteln. Ich finde es richtig,dass wir uns damit heute auseinandersetzen .
Als die Meldung über Rückstände von Glyphosat imBier Schlagzeilen machte, wurden die geäußerten Beden-ken gerne mit dem Hinweis vom Tisch gefegt, ein Er-wachsener müsse 1 000 Liter Bier trinken, um auf dieMenge von Glyphosat zu kommen, die für seine Gesund-heit schädlich sein könnte . Fakt ist aber, dass Glypho-sat eben nicht nur im Bier zu finden ist, sondern auchin Obst, in Gemüse, in Brot, in Mehl, in Haferflocken.Kurz gesagt: In der gesamten Lebensmittelkette findenwir Glyphosat .
Ich will es nicht als Normalität hinnehmen, dass Gly-phosat im Urin von Kindern und Erwachsenen nachzu-weisen ist, jedenfalls so lange nicht, bis eindeutig geklärtist, ob der Wirkstoff nun tatsächlich ungefährlich ist odereben doch krebserregend .
Das Vorsorgeprinzip ist ein hohes Gut . Wir tun gut da-ran, an diesem Prinzip festzuhalten; denn manche Schä-den lassen sich auch mit noch so viel Geld nicht wiedergutmachen .
Der Einzelhandel sieht sich inzwischen genötigt,selbst die Reißleine zu ziehen . Viele Baumärkte habenPflanzenschutzmittel mit Glyphosat aus ihrem Sortimentgenommen .
Warum? Weil die Kunden verstanden haben, worauf esankommt .
Gerade bei der Pflege von Gärten, öffentlichen Parkanla-gen und Spielplätzen steht der Nutzen von Glyphosat inkeinem Verhältnis zum potenziellen Risiko .
Die SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sichmit Nachdruck für ein Verbot von Glyphosat für den pri-vaten Gebrauch
und im kommunalen Bereich eingesetzt . Im Vorschlagder Kommission ist davon keine Rede . Deshalb freue ichmich sehr – auch meine Kollegin Rita Hagl-Kehl hat dasschon formuliert –, dass sich heute die Bundesumwelt-ministerin Barbara Hendricks dazu entschieden hat, dererneuten Zulassung nicht bedingungslos zuzustimmen .
Ohne verschärfte Auflagen, wie sie auch vom Europäi-schen Parlament gefordert wurden, ist eine Wiederzulas-
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(D)
sung unverantwortlich und widerspricht dem Vorsorge-prinzip .
– Nein, Herr Kollege Auernhammer, ich habe keine Lustauf eine Zwischenfrage .
Frau Kollegin, stopp . Es gibt zwei Wortmeldungen .
Wollen Sie sie zulassen oder nicht?
Nein . – Ich hoffe nun, dass die Nutzer und Herstel-
ler die Zeichen der Zeit erkennen und die Enthaltung
Deutschlands – noch besser wäre ein Nein – als deutli-
ches Signal zu verstehen ist .
Wir müssen die Forschung nach Alternativen verstär-
ken, um künftig auch ertragreiche Ernten ohne Glyphosat
zu ermöglichen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin . – Entschuldigen Sie, aber
ich habe es wirklich akustisch nicht gehört, weil es so
lebendig ist um diese Uhrzeit .
Jetzt hat das Wort zur Geschäftsordnung die Kollegin
Britta Haßelmann .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte hat eindrücklich gezeigt, dass eszwischen Union und SPD sowohl im Parlament als auchauf der Regierungsbank keine klare Haltung dazu gibt,wie die Entscheidung am 18 ./19 . Mai in Brüssel getrof-fen wird .
Deshalb ist unser Vorschlag, heute eine Sofortabstim-mung zu unserem Antrag durchzuführen . Ich lese ihnkurz vor:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, aus Gründen des vorsorgenden Gesund-heits- und Umweltschutzes eine erneute Genehmi-gung des Pestizidwirkstoffs Glyphosat zum jetzigenZeitpunkt abzulehnen .
Warum wollen wir heute sofort darüber abstimmen?Weil am 18 . bzw . 19 . Mai der Ständige Ausschuss inBrüssel darüber entscheiden wird, ob es für Glyphosateine Zulassungsverlängerung um sieben bis neun Jahregeben wird . Wir wollen, dass dieses Parlament der Bun-desregierung deutlich macht, wie das Parlament dazusteht . Deshalb wollen wir heute ein klares Signal als Par-lament aussenden, statt diese Entscheidung dem Kabinettzu überlassen . Denn wir sind das Parlament, meine Da-men und Herren .
Ich kann einfach nicht verstehen, dass dieses Parla-ment so wenig Selbstbewusstsein hat,
dass Sie heute einen Vertagungsantrag stellen .
Der Antrag soll an die Ausschüsse überwiesen werden,um ihn dort klammheimlich zu versenken, damit nichtauffällt, dass es dazu keine Auffassung gibt .Meine Damen und Herren, haben Sie noch nicht ge-merkt, dass die Entscheidung am 18 . Mai getroffen wird?Vorher gibt es keine Ausschusssitzung mehr .
Heute ist der vorletzte Sitzungstag vor der Sitzung desStändigen Ausschusses .Ihr Manöver ist völlig durchschaubar: Sie wollen denAntrag heute an den Ausschuss überweisen, um ihn dortzu versenken und sich als Fraktionen der SPD und derCDU/CSU nicht im Bundestag zu positionieren . Daswollen wir Ihnen nicht durchgehen lassen .
Denn nach den Erklärungen, die Sie gerade abgege-ben haben, kann sich jeder denken – wir können ja jetztein bisschen würfeln –, wie die Bundesregierung am 18 .bzw . 19 . Mai entscheiden wird . Herr Minister Schmidtwill mit Ja stimmen . Frau Hendricks und die SPD-Minis-terinnen und -Minister wollen, was wir gut finden, nichtzustimmen . Offen bleibt: Ist das eine Enthaltung odereine Ablehnung? Egal, sie wollen nicht zustimmen .Was bedeutet das denn für das Kabinett? Am 18 . Maifährt ein Kabinettsmitglied nach Brüssel und wird seineHand heben entweder für Ja oder für Nein oder für Ent-haltung .
Wir wissen nach der heutigen Debatte nicht, wie die Bun-desregierung entscheiden wird . Das weiß niemand . Dasbleibt im Verborgenen . Das ist nicht korrekt .
Zeigen Sie gefälligst Flagge! Verhalten Sie sich doch, da-mit man damit umgehen kann . Wir sind hier doch nichtim Koalitionsausschuss . Sagen Sie uns heute: Wird dasElvira Drobinski-Weiß
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616836
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Thema im Kabinett noch einmal aufgerufen und danndarüber mit Mehrheit entschieden, ob mit Ja, Nein oderEnthaltung gestimmt wird, oder wie läuft das nun? Ent-scheidet am Ende die Kanzlerin?
Das alles bleibt heute unklar . Wir wissen nur, dass dieSPD sagt: Wir wollen nicht zustimmen . – Das geht sonicht .
Deshalb fordern wir heute, dass sich das Parlament klarablehnend positioniert .
Vielen Dank, Kollegin Haßelmann . – Das Wort eben-
falls zur Geschäftsordnung hat Christine Lambrecht für
die SPD .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Kollegin Haßelmann, meistens bekomme
ich, wenn ich hier stehe, den Vorwurf zu hören, dass wir
irgendetwas im Schweinsgalopp durchjagten und dass
wir uns nicht genug Zeit nehmen würden, um über die
Themen ausreichend zu diskutieren .
Heute werde ich aufgefordert: Jetzt, hier und sofort, heu-
te und ohne Wenn und Aber!
Diesem Vorschlag, auch wenn er noch so engagiert vor-
getragen wird, können wir nicht folgen . Wir wollen uns
Zeit nehmen .
Die Positionen sind klar und sind ausführlich ausge-
tauscht worden . Die SPD-Ministerinnen und -Minister
können der Verlängerung so nicht zustimmen; das ist
deutlich geworden .
Das ist auch richtig so, weil wir nicht wollen, dass etwas,
bei dem wir nicht absehen können, welche Gesundheits-
risiken davon ausgehen, über Jahre hinweg verlängert
wird . Das macht deutlich, dass wir Beratungsbedarf ha-
ben . Deswegen wird es an den Ausschuss überwiesen;
dahin gehört es . So sieht es die Geschäftsordnung vor .
Das ist kein Trick, sondern es geht darum, in einer so
wesentlichen Frage sachgerecht zu diskutieren, sich aus-
zutauschen und dann eine klare Ansage an die Bundesre-
gierung zu machen; denn diese muss sich verhalten und
nicht das Parlament .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen . – HerrKauder, wollen Sie reden?
– Herr Kauder will das Wort zur Geschäftsordnung ge-nauso wenig wie die Linke .
Dann kommen wir zum Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8395 . Die Frakti-on Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in derSache .
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Über-weisung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz . Wir stimmen jetzt nachständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschuss-überweisung ab . Deswegen frage ich: Wer stimmt für diebeantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist die Überweisung so beschlossenbei Zustimmung von CDU/CSU und SPD bei Gegen-stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken .
– Hören Sie einmal zu, Herr Kauder! Zuhören! HerrKauder, ich rede mit Ihnen . Jetzt ist Ruhe, und ich sage,wie die Abstimmung ausgegangen ist .
Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD . Dagegengestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen, die Linke undeine Kollegin von der CDU/CSU . Damit stimmen wirheute über den Antrag auf Drucksache 18/8395 nicht inder Sache ab .
Britta Haßelmann
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 2016 16837
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sowieZusatzpunkt 6 auf:15 . a) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Birgit Wöllert, HubertusZdebel, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKohleausstieg einleiten – Strukturwandel so-zial absichernDrucksache 18/8131Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Haushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Birgit Wöllert, Caren Lay, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFortsetzung der Braunkohlesanierung in denLändern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-An-halt und Thüringen nach dem Jahr 2017Drucksache 18/8112Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheitZP 6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnalena Baerbock, Stephan Kühn ,Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBraunkohlesanierung durch die Lausitzerund Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsge-sellschaft mbH fortsetzenDrucksache 18/8396Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich bitte die Kollegen, Platz zu nehmen, damit dieRednerinnen und Redner in Ruhe debattieren können .Das gilt für alle Fraktionen .Ich gebe das Wort Eva Bulling-Schröter für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn am Wochenende viele Menschen in die Lausitzfahren, um gegen Braunkohle und die Abbaggerung derDörfer zu demonstrieren, werden auch viele Bundestags-abgeordnete der Linken dabei sein .
– Ja . – Wir wollen die Menschen vor Ort unterstützen,die seit Jahren gegen das rücksichtslose Geschäft mit derKohle, gegen Abbaggerung und gegen die unvorstellbareVerwüstung großer Landschaften angehen .
Wir werden auch als parlamentarische Beobachterinnenund Beobachter vor Ort sein .Wir protestieren am Wochenende in der Lausitz abernicht gegen die Beschäftigten, die von der Kohle leben;
wir von der Linken wollen gerade, dass es für sie und fürdie Regionen eine geregelte Zukunft gibt .
Das heißt aber, den Kohleausstieg einzuleiten, und zwarjetzt und schrittweise .
2035 muss Schluss sein . Bis dahin brauchen wir einenfesten, kalkulierbaren Fahrplan für den Ausstieg . Wirbrauchen Verlässlichkeit, gerade für die Beschäftigten .
Ich habe großes Verständnis für die Ängste vor Ortvor den Unsicherheiten, gerade weil der Osten seit einemVierteljahrhundert von Strukturwandel geplagt ist, dernicht so verlaufen ist, wie wir von der Linken es uns ge-wünscht hätten und wie es im Übrigen auch versprochenwurde . Gerade deshalb müssen wir jetzt handeln und dür-fen nicht abwarten .
Ich war letzte Woche in Cottbus und habe zusammenmit meiner Kollegin Birgit Wöllert eine Veranstaltungzu den Schäden und Folgelasten des Braunkohleabbausauch schon aus DDR-Zeiten abgehalten . Ich sage Ihnen:Das Erbe des Kohleabbaus ist verheerend und bedroh-lich für Generationen nach uns . Dieses Erbe bezeugt aberauch, um welchen Preis hier spätestens nach der Wendejahrzehntelang Profite gemacht wurden. „Nach uns dieSintflut“, haben die Kohlekonzerne lange gesagt.Der Grundwasseranstieg muss bis zum Sankt-Nim-merleins-Tag bewältigt werden, genauso wie die enor-men Belastungen der Spree mit Sulfat und Verockerungdurch Eiseneintrag .
– Ich finde das überhaupt nicht lächerlich, muss ich sa-gen . Der Bund möchte sich hier der Verantwortung ent-ziehen .
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Ich sage Ihnen: Das dürfen wir nicht zulassen .
Unser Antrag hierzu soll die Zukunft der Braunkoh-lesanierung ab 2018 sichern, und zwar so, wie es auchbislang der Fall war . Wir dürfen nicht zulassen, dassSchäubles schwarze Null die Existenz der Menschen inden Braunkohleregionen zum Spielball macht .Wenn wir über die Folgen des Kohleabbaus sprechen,muss ich Ihnen sagen, dass wir den Verkauf von Vatten-falls Braunkohlesparte an das tschechische UnternehmenEPH mit Skepsis beobachten .
Unser Vorschlag ist ein Stresstest für alle Braunkohleun-ternehmen .
Denn wenn jemand auf ein Scheitern der Energiewendewettet, dann müssen wir dem schon einmal in die Bücherschauen dürfen .
Anders als noch vor zehn Jahren ist heute vielen klar,dass es so mit der Kohle nicht weitergeht . Gerade für dieBeschäftigten und die von der Kohle Abhängigen ist eswichtig, sofort mit dem Ausstieg zu beginnen, damit derProzess nicht chaotisch abläuft .
Das sagen alle, die solche Umbrüche bereits erlebthaben, im Osten wie im Westen . Ich denke, wir wollenjährlich 250 Millionen Euro für einen Fonds . Das istbekannt; das kann man alles nachlesen . Wir wollen denUm- und Ausstieg aktiv und verlässlich gestalten . Stattblinder Haushaltssanierung brauchen wir eine intelligen-te Braunkohlesanierung .Jetzt vielleicht noch ein Satz zu den Grünen: Wir wis-sen, dass es in den Ländern ziemlich schwierig ist . – Dabrauchen Sie nicht zu lachen . In Baden-Württembergwurde jetzt beschlossen, den Kohleausstieg bis 2050 zuvollziehen . Ich sage Ihnen: Es ist schwierig . Wir solltengemeinsam soziale Lösungen finden, dass das Ganze we-sentlich schneller geht .Danke .
Danke, Frau Kollegin Bulling-Schröter . – Der nächste
Redner: Dr . Klaus-Peter Schulze für die CDU/CSU-Frak-
tion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lie-
be Kollegen von den Linken, ich hätte zumindest erwar-
tet, wenn Sie hier als Erste reden dürfen und erwähnen,
dass Sie am Wochenende in der Lausitz sind – wenn ich
da wäre, würde ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen –,
dass Sie sagen, dass „Ende Gelände“ dort nicht nur fried-
liche Proteste machen will, sondern am 4 . April 2016 im
Netz aufgerufen hat, die Autos der Mitarbeiter von Vat-
tenfall abzufackeln bzw . zu ihnen nach Hause zu gehen .
– Das können Sie nachlesen .
Ich hätte erwartet, dass Sie sich ähnlich wie Axel
Vogel, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag
Brandenburg, klar dazu bekennen, dass man so etwas
nicht machen kann . Diese Aussage hätte ich auch hier
erwartet .
Herr Schulze, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwi-
schenfrage von Frau Bulling-Schröter?
Ja .
Sie haben hier behauptet, dass ich im Netz aufgerufen
hätte, –
Das habe ich nicht gesagt .
– Reifen zu zerstechen . Ich möchte das dementieren .
Ich möchte Sie wirklich fragen, woher Sie das haben,
wir hätten im Netz dazu aufgerufen und ich hätte das un-
terstützt . Ich muss Ihnen sagen: Ich halte nichts von ge-
walttätigen Auseinandersetzungen . Natürlich distanziere
ich mich gemeinsam mit meiner Fraktion davon .
Dann haben Sie mich falsch verstanden . Ich habegesagt: Ich hätte erwartet, dass man sich von diesemAufruf, der am 4 . April 2016 im Netz nachzulesen war,genauso distanziert, wie es Axel Vogel von den Grünengemacht hat .
Eva Bulling-Schröter
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So habe ich das gemeint, und ich habe es nicht auf Sie alsPerson bezogen .
– Natürlich .
– Auch persönlich .
In Ihrer Vorlage geht es unter anderem darum, dass Siemit dem Kohleausstieg einen anderen fossilen Energie-träger als Ersatz anbieten . Es sollen zusätzliche Gaskraft-werke gebaut werden . Das wird gefordert, ohne zu sagen,dass ein Gaskraftwerk natürlich wesentlich höhere Kos-ten als ein Kohlekraftwerk hat . Gestern hat das Energie-wirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln festge-stellt, dass die Mehrkosten in den nächsten 25 Jahren biszum Jahr 2045 etwa 72 Milliarden Euro betragen werden .Wo kommt denn das Gas her? 90 Prozent importie-ren wir zurzeit . Wenn wir jetzt die Kapazitäten ausbauen,müssen etwa 25 Prozent mehr Gasimporte angestrengtwerden . Diese Importe kommen mit Sicherheit nichtmehr aus Holland, weil die Gasreserven dort langsamdem Ende entgegengehen . Die Gasimporte werden ausWestsibirien kommen, und man wird möglicherweise imSchelfgebiet in Norwegen neue Felder erschließen müs-sen .Ich erinnere mich an Ihren Antrag von Mai 2015, indem Sie schrieben: Wir wollen keine Bodenschätze mehrim Meer gewinnen . – Sie denken auch nicht an das, waspassiert, wenn das Gas, über 5 000 oder 6 000 Kilometermit 28 Verdichterstationen angetrieben, hier bei uns inDeutschland ankommt . Auch dann gibt es Emissionen .Ich bin der Auffassung – das habe ich hier bei Gelegen-heit, ich glaube, schon vor einem Jahr, gesagt –: Wirsollten uns darum bemühen, alle fossilen Energieträgerzu reduzieren und sie jetzt nicht nur auf einen zu subsu-mieren; denn auch die anderen Energieträger enthaltenKohlenstoff . Methan ist ein wesentlich schlimmerer Kli-makiller als CO2 .Aber es geht natürlich auch um die Menschen im Re-vier . Ich komme aus solch einem Revier, und dort sind in25 Jahren mehr als 80 000 Industriearbeitsplätze wegge-fallen . Es sind viele Anstrengungen vom Bund, aber auchvom Land unternommen worden, dort neue Arbeitsplät-ze zu implementieren . Das gelang im Brandenburger Teilmit einer Papierfabrik, die 500 Arbeitsplätze bringt, undmit einem Windflügelhersteller in Lauchhammer, derauch noch einmal etwa 600 Arbeitsplätze vorhält . Dasist das, was neu an Industriearbeitsplätzen gekommenist, und das muss man meiner Meinung nach alles mitberücksichtigen .Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist: Wieist denn die Einkommensstruktur? Es wird ja immergesagt, wir könnten zum Beispiel im TourismusbereichErsatz schaffen . In Brandenburg liegt das Durchschnitts-einkommen im Tourismusbereich bei 16 000 Euro unddas in der Kohle- und Energiewirtschaft bei 45 000 Euro .Mit einem Strukturwandelfonds, wie Sie ihn dort vor-schlagen, ohne zu sagen, wie er letztlich finanziert wer-den soll, werden wir diesen Wandel, so denke ich, nichtschaffen .Wir müssen auch über andere Dinge nachdenken, zumBeispiel über eine Veränderung der Struktur der EU-För-derung oder über eine Investpauschale, die in den erstenzehn Jahren nach der politischen Wende dazu geführt hat,dass der eine oder andere Industriearbeitsplatz geschaf-fen wurde .Dann sind aus meiner Sicht der Netzausbau und dieSpeicher ganz wichtig . Solange wir nicht ausreichendSpeicher haben, um die Dunkelflaute zu überbrücken, solange können wir keinen gleichzeitigen Ausstieg aus derKohleverstromung und aus der Atomverstromung ma-chen . Der Atomenergieausstieg ist besiegelt, und Koh-leenergie werden wir noch so lange brauchen, bis wirausreichend Speicherkapazitäten haben .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Dr . Schulze . – Die nächste Rednerin fürBündnis 90/Die Grünen: Annalena Baerbock .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland kann nicht Energiewendeland sein undKohleland bleiben . Diese Tatsache – so schien es – hattenrund um die Klimakonferenz in Paris hier in Deutschlandim Parlament alle verstanden . Der Verkauf der Kohle-sparte von Vattenfall hat das noch einmal unterstrichen .Denn lange Zeit schien es so, als gäbe es gar keinen Käu-fer . Jetzt gibt es einen, und der kriegt auch noch Gelddafür, dass er die Kohlesparte übernimmt .
– Doch, Herr Freese .
Die Tatsache, dass Deutschland nicht Energiewende-land sein und Kohleland bleiben kann, macht aber eini-gen – auch Ihnen, Herr Freese – offensichtlich so vielAngst,
dass Ihre Regierungsfraktion bzw . Ihre Regierung heuteAbend nicht etwa darüber verhandelt, wie man im Lichtevon Paris den Kohleausstieg einleiten kann, sondern wieman das Energiewendeland Deutschland kaputtmachenkann . Und das ist wirklich eine Schande, sehr verehrteDamen und Herren .
Dr. Klaus-Peter Schulze
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Sie wollen den Windausbau halbieren, Sie wollen denAusbau der Erneuerbaren auf 45 Prozent deckeln . Undwann? Im Jahr 2025 . Wir erinnern uns noch einmal andie Verpflichtung von Paris. Da heißt es: Wir müssen he-raus aus den Fossilen .Was bedeutet es denn, wenn wir den Ausbau der Er-neuerbaren auf 45 Prozent deckeln? Das bedeutet, dasswir im Jahr 2025 55 Prozent Fossile im Netz haben . Unddas ist Ihre Antwort auf Paris? Das kann einfach nichtsein, meine sehr verehrten Damen und Herren .
Vielleicht ist deswegen die Bundeskanzlerin ja auchgar nicht erst nach New York gefahren, um diesen Ver-trag zu unterschreiben; denn sie hätte ihn nämlich dannmit einer Pinocchio-Nase unterschreiben müssen . Statt-dessen ist Frau Hendricks gefahren, und ich frage wirk-lich – ich sage das, auch wenn sie jetzt nicht anwesendist, aber Sie, Herr Pronold, sind hier – Sie, Herr Pronold,wo ist der Aufschrei Ihres Hauses am heutigen Abend,wenn der Energiewende die Beine abgehackt werdenkönnen?Es kann nicht sein, dass Ihr Haus fordert, der Koh-leausstieg müsse kommen – das steht in Ihrem Klima-plan –, und gleichzeitig sagen Sie am heutigen Tag nichtsdazu . Das geht einfach nicht .
Deswegen ist der Antrag absolut richtig, den Kohleaus-stieg einzuleiten .Aber, liebe Eva Bulling-Schröter, wenn das hier schonso explizit angesprochen wird, was man denn in Bran-denburg alles macht, und dann auch noch eine Veranstal-tung zum Kohleausstieg in Cottbus macht, aber nichts zudem Verkauf Vattenfall an EPH sagt – –
– Ach ja . Und die Landesregierung? Was hat die denndazu gesagt? Warum gibt es denn dann keine Auflage,dass der neue Käufer keine neuen Tagebaue erschließenkann? Warum gibt es die nicht? Bei den Verlängerungender Betriebsgenehmigungen könnte man das machen . –Gut, Sie kamen mit dem Beispiel Baden-Württemberg,aber wir reden hier über Braunkohle . Man sollte das alsovielleicht mit NRW vergleichen . Da haben sich die Grü-nen und der Minister dafür eingesetzt, dass es nicht neueTagebaue gibt, sondern eine Reduzierung .
Also, man kann auch als kleiner Koalitionspartneretwas erreichen; aber man muss den Mund aufmachenund darf nicht agieren wie Ihr Fraktionsvorsitzender imBrandenburger Landtag auf einen Antrag von uns hin, indem wir gefordert haben, die Rückstellung für die Tage-bausanierung, die wir brauchen – das haben Sie ja selbergesagt –, über § 56 des Bundesberggesetzes sicherzustel-len . Wir wissen ja von den Atomrückstellungen, dass sol-che Rückstellungen nicht einfach irgendwo lagern undanwachsen . Zu unserem Antrag dazu sagte Ihr Fraktions-vorsitzender im Brandenburger Landtag, das sei nichtnötig; man gehe nicht davon aus, dass der neue Investorirgendwann pleitegeht, und deswegen brauche man hiergar nichts zu regeln . Das ist keine verantwortungsvolleRegierungspolitik . So ist es nun mal, meine sehr verehr-ten Damen und Herren .
Ich erwähne das hier, weil dieser Punkt wahnsinnigwichtig wird, wenn wir über den zweiten Antrag reden,nämlich den zur Tagebausanierung . Diesen Antrag un-terstützen wir . Da geht es darum, dass die Altlasten derDDR-Tagebaue gesichert werden müssen . Nach 2017will das Finanzministerium kein Geld mehr bereitstel-len; das Bundesumweltministerium, so hören wir, will estun . Aber es macht doch nur Sinn, dass der Bund undder Steuerzahler für Altlasten zahlen, wenn man unter-scheiden kann: Sind das Altlasten der DDR, oder sind dasBraunkohleschäden der neuen Tagebaue?Das heißt, die Bedingung für eine solche Finanzierungmuss sein, dass Sie sicherstellen, dass es keine neuen Ta-gebaue mehr gibt; denn sonst kommt es zu einer Vermi-schung, wie wir sie in Briesen haben . Da sagt jetzt näm-lich die LMBV, also die öffentliche Hand:
Wir können hier leider keine Maßnahmen gegen dieVerockerung der Spree finanzieren; das ist alles Schuldder aktiven Tagebaue von Vattenfall . – Vattenfall sagt:Das ist alles Schuld der DDR-Tagebaue . – Am Ende stehtdas Wasserwerk da, das demnächst eine Warnung heraus-gibt: Liebe Frankfurterinnen und Frankfurter, es tut unsleid; die Sulfatbelastung Ihres Trinkwassers ist so hoch,dass Sie es Säuglingen nicht mehr geben können . – Da-her geht das nicht .Unser Antrag zur Finanzierung der Sanierung derBraunkohleschäden aus der DDR-Zeit beinhaltet dieForderungen: keine neuen Tagebaue und Sicherung derRückstellung . – Vielleicht kommen wir in der Debattehier noch zusammen . Das würde mich sehr freuen .Herzlichen Dank .
Lieber Herr Vaatz, machen Sie sich mal keine Ge-danken . Hier wird mit der Redezeit sehr gerecht umge-gangen . Ich kann Ihnen einige Ihrer Kollegen nennen,die deutlich überzogen haben . Keine Sorge! Wir passenschon auf, dass es gerecht zugeht . – So .Nächster Redner: Thomas Jurk von der SPD .
Vorsicht!Annalena Baerbock
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 2016 16841
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Muss ich jetzt vor Ihnen Angst haben? Frau Roth, also
wirklich!
Nein, Herr Jurk .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Es ist kaum drei Wochen her, dass
bekannt wurde, dass die Braunkohlesparte von Vattenfall
wahrscheinlich an den tschechischen Energiekonzern
EPH – zusammen mit einem Finanzinvestor namens
PPF – gehen wird . Ich sage Ihnen ganz ehrlich: In der
Region hat damit eine Hängepartie von etwa zwei Jahren
ein Ende gefunden . Die Menschen sind sehr unsicher . Sie
sind von der Energiepolitik sicherlich auch nicht immer
begeistert gewesen . Ich merke das bei Einwohnerver-
sammlungen . Deshalb ist es wichtig, dass man mit dem
anstehenden Verkauf und mit Blick auf den Erwerber
Hoffnungen, Erwartungen und auch Forderungen ver-
bindet; das tue ich übrigens . Wir müssen wissen, welche
Absichten EPH verfolgt und was auf uns zukommt . An-
dererseits kennen wir EPH bereits aus dem mitteldeut-
schen Revier, von der MIBRAG . Insofern kann man sich
da schon bestimmte Vorstellungen machen .
– Ich schaue da ganz genau hin . Ich mache das schon seit
zweieinhalb Jahrzehnten, Frau Kollegin .
Mit Blick auf das, was sich möglicherweise an De-
monstrationen am Wochenende abspielen wird, bitte ich
alle, die in die Lausitz kommen und dort nicht zu Hause
sind, ganz herzlich: Gehen Sie einmal von Gehöft zu Ge-
höft . Reden Sie mit den Leuten . Sprechen Sie beispiels-
weise mit den 230 Einwohnern des Ortsteils Mühlrose
der Gemeinde Trebendorf . Ich habe die vor acht Wochen
gefragt, was ihr sehnlichstes Ziel ist . Sie wollen weg . Sie
wollen ihren Heimatort verlassen . Das ist die Wahrheit .
Und: Sie wollen Planungssicherheit . Ich verbinde mit
der anstehenden Übertragung der Braunkohlesparte in
der Lausitz die Hoffnung, dass die Menschen tatsächlich
in die Orte umgesiedelt werden, die seit etwa zehn Jahren
angepeilt sind; es gibt nämlich Umsiedlungsstandorte .
Was die Zukunft der Braunkohle anbetrifft, so erleben
wir – das muss ich Ihnen ehrlich sagen – einen schmerz-
haften Prozess, auch mit Blick auf Arbeitsplätze, natür-
lich . Wir haben das 1990 und in den Folgejahren erlebt,
und wir nehmen heute zur Kenntnis, dass der Ausstiegs-
pfad geebnet zu sein scheint . Wenn man in den Entwurf
des Strommarktgesetzes schaut, dann stellt man fest,
welche Kraftwerksblöcke sukzessive in die Sicherheits-
bereitschaft überführt werden . Das heißt, wir kommen
zum Braunkohleausstieg .
Es ist aber dennoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass
wir gerade auch für unser Energiesystem Versorgungssi-
cherheit und Systemstabilität brauchen .
Ich hielte es, Frau Kollegin Baerbock, weil Sie ja reinru-
fen, für einen Rückgriff auf das Sankt-Florians-Prinzip,
wenn wir in den Zeiten, wo kein Wind weht und keine
Sonne scheint – –
– Entschuldigung, aber es ist doch die Wahrheit . Das ist
keine alte Leier .
Wollen Sie dann Strom aus Kernkraft aus Frankreich und
Tschechien importieren oder Kohlestrom aus Polen? Das
ist doch die Realität .
– Sie rufen rein . Danke, dass Sie das bestätigen . Genau
das ist Ihre Absicht, und das finde ich eine unredliche
Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren .
Herr Jurk, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich gestatte heute keine Zwischenfrage .
Gut .
Ich habe keine Angst vor der Debatte . Die kann ja imAusschuss geführt werden . Ich kann ja gerne mit dazu-kommen .
– Wir können auch öffentlich diskutieren . Wissen Sie,Sie können öffentlich mit den Menschen in der Region
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 170 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 12 . Mai 201616842
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darüber reden, und dann können Sie die Meinung aus-tauschen .
Ein Wort ist mir dennoch wichtig, weil Sie einenwichtigen Punkt angesprochen haben .
– Können Sie mal zuhören?
Es geht um die Zukunft der Braunkohlesanierung in Ost-deutschland . Meine sehr verehrten Damen und Herren,das war teuer, aber es war dringend notwendig – nachBundesberggesetz und seit 1992 im Verwaltungsabkom-men zwischen Bund und Ländern geregelt . Wir habenüber 10 Milliarden Euro für dringend notwendige Zwe-cke eingesetzt . Mein herzlicher Wunsch ist – daran ar-beiten wir in der Koalition –, dass die bewährte Partner-schaft zwischen Bund, ehemals Bergbautreibenden undnoch aktiv Bergbautreibenden beibehalten wird, auchhinsichtlich alter und künftiger Finanzierungsschlüssel .Die Aufgabenstellung, die die Kolleginnen von derOpposition hier benannt haben, ist völlig richtig . Wirmüssen die Verockerung und die Sulfatbelastung derSpree zur Kenntnis nehmen . Wir haben das Thema vonRutschungen und natürlich auch des Grundwasseranstie-ges . Wir haben sinnvolle Instrumente entwickelt . Da bitteich ganz herzlich, dass wir das fortführen . Ich denke, dassind wir den Menschen in der Region schuldig, den Men-schen übrigens, die bleiben und nicht bloß zu Pfingstenda sein werden . Manch andere, die heute kommen, wer-den wieder gehen . Da bitte ich ganz einfach: Sie sollenalle mit den Menschen sprechen und erfahren, wie dieSituation in der Region ist .Ich wünsche Ihnen ein herzliches Glückauf!
Vielen Dank, Kollege Jurk . – Das Wort zu einer Kurz-
intervention hat die Kollegin Baerbock – für eine Kurz-
intervention .
Vielen Dank, Herr Jurk . – Da Sie ja betont haben, wir
sollen keine Ängste schüren, möchte ich auch Sie bitten,
keine Ängste zu schüren . Jetzt kam ja wieder das Argu-
ment des Blackouts . Ist Ihnen bewusst, dass Deutschland
Strom exportiert, dass wir abregeln müssen, weil wir zu
viel Strom im Netz haben? Das heißt, die Debatte darü-
ber, dass es zu wenig Strom gäbe, ist definitiv vorbei.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir ein Exportland von
Strom sind?
Meine zweite Frage ist: Wenn Sie sich so sorgen, dass
wir zu wenig Strom in Deutschland erzeugen, wie stehen
Sie dann dazu, dass die Bundesregierung die 4 Gigawatt
Zubau pro Jahr bei der Windenergie halbieren will? Wie
stehen Sie zu der Deckelung bei den erneuerbaren Ener-
gien, wenn Ihre Sorge ist, dass wir zu wenig Strom in
Deutschland erzeugen würden?
Herr Jurk, Sie haben natürlich das Wort .
Sehr verehrte Frau Kollegin, die Sache mit dem
Blackout ist ja nicht so dahergeredet . Sie sprechen da-
von, dass wir ein Exportland sind . Das sind wir nicht zu
jeder Zeit . Wir müssen auch an die Zeiten denken, in de-
nen wir das gerade nicht sind .
Der zweite wichtige Punkt ist: Ich glaube, unter Rot-
Grün hat die Erfolgsgeschichte des Ausbaus der erneuer-
baren Energien begonnen .
Wir sind mittlerweile bei einem Anteil von 33 Prozent .
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass der
Strompreis enorm angestiegen ist, auch ohne Berück-
sichtigung der Einspeisevergütung . Ich meine, das war ja
auch der Sinn dieser Maßnahme
– Der Rohstrompreis fällt .
Herr Jurk hat jetzt das Wort .
Aber dank EEG-Umlage, dank staatlicher Abgaben
und Steuern steigt der Strompreis . Das müssen wir zur
Kenntnis nehmen . Deshalb müssen wir die Ausstiegs-
phase so gestalten, dass das alles noch bezahlbar bleibt,
dass wir alle noch wettbewerbsfähig sind . Das müssten
auch Sie verstehen .
Jetzt hat Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Frak-tion das Wort .
Thomas Jurk
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist erschreckend, wie Linkspartei und Grüne
bei dieser Debatte volkswirtschaftliche Vernunft, Inte-
resse der Menschen, Notwendigkeiten, die aus Technik
und Naturwissenschaften kommen, unterbuttern und ihre
eigene Ideologie über alles stellen .
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz verursacht derzeit
Kosten von jährlich 24 Milliarden Euro,
ein Wohlstandsverbrauch, der jedes Jahr auf dem Rücken
der Verbraucher und der kleinen Leute ausgetragen wird .
Jeder weiß, wenn wir jetzt aus der Braunkohle ausstei-
gen, so wie es in den Anträgen steht, über die wir jetzt
hier beraten,
wird diese Summe sofort auf 30 Milliarden Euro pro Jahr
steigen und das für mindestens 20 Jahre, meine Damen
und Herren .
Das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität
zu Köln hat ausgerechnet: Der Ausstieg aus der Braun-
kohle kostet 70 Milliarden Euro . Ich glaube, diese Zahl
reicht bei weitem nicht, sie wird doppelt so hoch sein .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Später . – Deswegen ist es eine Frage der Vernunft undder Redlichkeit, wenn wir über das Thema Braunkoh-le so reden, wie es gemäß Technik und Volkswirtschaftnotwendig ist . Wir brauchen diesen heimischen Energie-träger, damit die Energiekosten nicht durch die Deckegehen .
Und wir brauchen den Ausbau der Erneuerbaren nur indem Maße, wie der so produzierte Strom auch vom Ver-braucher verbraucht werden kann . Diese Produktion aufTeufel komm raus muss endlich ein Ende haben, meineDamen und Herren .
Auf die Frage, wie es sich auf die Menschen in derLausitz und im mitteldeutschen Revier auswirkt, mussman ganz klar sagen: Die Leute in Trebendorf, in Schlei-fe, in Rohne wollen als allerletztes diesen Demotouris-mus, der für dieses Wochenende angekündigt worden ist .
Jeder, der dort hinfährt und sagt: „Wir beobachten das“,der soll ganz genau beobachten, ob diejenigen, die kom-men, sich anständig verhalten, ob sie sich an Recht undGesetz halten oder ob sie Gewalt gegen Sachen undMenschen anwenden, so wie das häufiger bei solchenDemonstrationen der Fall ist . Wenn im Internet dazu auf-gefordert wird – das kann man dort lesen –, gegen Vat-tenfall-Mitarbeiter vorzugehen, auch privat, ihre Autosanzugreifen, sich zu merken, wo die Leute wohnen, dannist das nicht anständig . Wenn man sich in einem Antragzu dieser Demonstration bekennt und sagt: „Da fahrenwir hin“, dann ist es das Mindeste, dass man diesen Punktganz klar und dezidiert benennt .
Ich sage Ihnen deutlich: Diejenigen, die zu uns in dieLausitz kommen, um dort Menschen anzugreifen oderDinge zu beschädigen, sollen sich auf einen längerenAufenthalt in der Oberlausitz einrichten .
Die Letzten, die vor drei Wochen dort waren, sitzen nochjetzt in der Justizvollzugsanstalt .
Ich finde das genau richtig. Bei uns wird mit aller Här-te des Gesetzes gegen solche Kriminellen vorgegangen,meine Damen und Herren .
In einem der vorliegenden Anträge geht es auch da-rum, die Braunkohlesanierung durch die Lausitzer undMitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft, alsoLMBV, fortzusetzen . Es geht um die Frage: Wie gehtman mit der zukünftigen Renaturierung und dem Struk-turwandel um? Hier sind zwei Sachen ganz wichtig .Wer über Strukturwandel redet, dem muss die Größeder Aufgabe klar sein .
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Das steht in den Anträgen aber an keiner Stelle geschrie-ben .
700 Millionen Euro gibt Vattenfall jedes Jahr an Kauf-kraft in die Lausitz .
Damit sind nicht die Zahlungen an die Mitarbeiter ge-meint, die im Kraftwerk oder in der Grube arbeiten,sondern damit sind Aufträge in die Region gemeint . WerStrukturwandel will, der muss einen Ersatz für 700 Mil-lionen Euro Kaufkraft schaffen,
die jetzt beim Bäcker, beim Fleischer, in der Kfz-Werk-statt und anderswo ankommt .
Wenn wir wollen, dass diese Region wirklich eineChance hat, dann geht es um 700 Millionen Euro proJahr . Es ist klar, wenn man diese Zahl nennt, dass dasnicht von heute auf morgen geschieht, dass es mindestens30, 40 Jahre braucht,
wenn diese Region nicht vor die Hunde gehen soll . Des-wegen ist unser Ziel eine Planungssicherheit für den In-vestor, aber vor allen Dingen für die Menschen in derOberlausitz und in Brandenburg,
damit sie sich auf diesen Strukturwandel einstellen kön-nen . Wir stehen dafür . Deswegen setzen wir uns dafürein .Wir setzen uns auch für das sechste Verwaltungsab-kommen für die Braunkohlerenaturierung ein . Die Ver-wüstung, von der hier die Rede war, meine Damen undHerren, ist in der DDR passiert,
und zwar in einer unmöglichen Art und Weise . Die DDRhat Raubbau an der Natur betrieben, wie es nicht schlim-mer sein könnte .
Das, was wir heute erleben, ist ein Landschaftsverbrauch,der anstrengend ist . Er ist, wenn man ihn sieht, auch nichtschön, aber er wird von den Menschen in der Region ge-tragen, weil sie wissen, dass sie etwas für dieses Landleisten
und er notwendig ist, damit es in dieser Region auchwirtschaftlich weitergehen kann .Deswegen sage ich deutlich: Hören Sie auf, zu pola-risieren! Stellen Sie sich den wirtschaftlichen, aber auchden ökologischen Notwendigkeiten, und betreiben Siekeine Politik im Wolkenkuckucksheim!
Herr Kretschmer, gestatten Sie jetzt eine Zwischen-
frage?
Vielen Dank .
Gut, keine Zwischenfrage mehr . – Danke schön, Herr
Kollege Kretschmer .
Letzter Redner in dieser lebendigen Debatte: Ulrich
Freese für die SPD .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist für jemanden wie mich eine doch etwas schwererträgliche Diskussion .
Seit 26 Jahren und 25 Tagen stecke ich mittendrin imStrukturwandel – im Strukturwandel der Bergbau- undEnergiewirtschaft, der Glasindustrie, der Textilindustrieund der chemischen Industrie in Ostdeutschland . WennSie einen Strukturwandel im Bergbau anmahnen, dannvergessen Sie, dass wir seit 26 Jahren Strukturwandel ha-ben . 26 Jahre Strukturwandel!
Ich kann Ihnen jeden einzelnen Tagebau nennen, derstillgelegt worden ist . Ich kann Ihnen jedes KraftwerkMichael Kretschmer
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nennen, das stillgelegt oder durch ein neues Kraftwerkersetzt worden ist .
Ich kann Ihnen 49 Brikettfabriken nennen . Ich kann Ih-nen aber auch Zehntausende Menschen nennen, die ihreArbeit verloren haben, die ihre berufliche Perspektiveverloren haben und in der Region keine Zukunftsper-spektive mehr finden konnten. 300 000 Bürgerinnen undBürger haben wegen dieses Strukturwandels, der tiefeStrukturbrüche hinterlassen hat, die Lausitz verlassenmüssen . Die Städte sind kleiner geworden, haben großeInfrastrukturen, müssen zurückgebaut werden und kön-nen heute kaum geradeaus gucken und einigermaßen or-dentlich überleben .
Wir Sozialdemokraten stehen zu unserem Koalitions-vertrag . In diesem Koalitionsvertrag haben wir uns zuVersorgungssicherheit, Preisstabilität und Umweltver-träglichkeit bekannt . Dementsprechend haben wir auchdie Energiepfade geordnet und die Energieversorgungauf vernünftige Beine gestellt .
Wir bekennen uns auch klar und deutlich zum Ausbau re-generativer Energien . Die Ziele sind klar: 2025 haben wir40 bis 45 Prozent, 2035 50 bis 60 Prozent, 2050 80 Pro-zent regenerative Energien . Das heißt, dass wir nach undnach Kohle, Gas und Öl aus der Verstromung nehmenwerden .
Deswegen ist die Diskussion um einen Kohleausstieg,die Sie heute hier führen wollen, eine Phantomdiskus-sion; denn wir betreiben den Strukturwandel seit 26 Jah-ren .
Ich will einmal die Dimension aufzeigen, die hinterIhrem Antrag steckt – wenn Sie, Frau Präsidentin, mir einbisschen Zeit lassen .
30 Sekunden .
Sie fordern, dass alle Kohlekraftwerke bis 2035 still-
gelegt werden sollen .
Das heißt, 67 Standorte – 35 davon Standorte mit
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen – mit insgesamt
51 000 MW elektrischer Leistung und 14 000 MW ther-
mischer Leistung wollen Sie stilllegen, und Sie wissen
gar nicht, wie Sie dann Versorgungssicherheit, Preissta-
bilität usw . garantieren könnten .
Sie würden in erheblichem Maße dazu beitragen, dass
unsere Abhängigkeit von Rohstoffimporten zunimmt.
Wir sind jetzt schon in hohem Maße von Importen ab-
hängig – Steinkohle importieren wir zu 87 Prozent, Gas
zu 90 Prozent, wir importieren Öl und Kernbrennstoffe .
Herr Freese, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Herr Krischer, Sie haben ein Problem:
Sie sind ideologisch verklemmt und wollen nicht mit
Menschen zusammenarbeiten,
die rational und vernünftig den Industriestandort in eine
neue Zukunft hineinführen wollen .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Herr Freese, damit lassen Sie also keine Zwischenfra-
ge zu?
Nein, die Redezeit ist doch abgelaufen .
Ich hätte aber eine Zwischenfrage zugelassen, wennSie es gewollt hätten . Sie wollten aber nicht . Gut . Alsokeine Zwischenfrage .Damit schließe ich jetzt diese Aussprache .Ulrich Freese
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/8131, 18/8112 und 18/8396 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen . – Sie sind damit einverstanden . Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen .Es gibt noch einen weiteren Tagesordnungspunkt, denich aufrufe, wenn die Kolleginnen und Kollegen, diediesen Tagesordnungspunkt bestreiten, Platz genommenhaben . – Gut .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEWilly-Brandt-Korps für eine solidarische hu-manitäre HilfeDrucksache 18/8390Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss InnenausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch, sehe auch keinen . Dann ist das so be-schlossen .Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Redne-rin Inge Höger für die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gesternwurde die aktuelle Zahl der Binnenflüchtlinge veröffent-licht . Fast 41 Millionen Menschen – so viel wie nochnie – sind innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht .Zusätzlich suchen 20 Millionen Menschen jenseits ihrerLandesgrenzen Zuflucht. Die weltweite humanitäre Not-lage ist unübersehbar. Die Menschen fliehen vor Krieg,Armut und Hunger . Die Kriege und Bürgerkriege imIrak, in Syrien, im Jemen und in Afghanistan sind aucheine Konsequenz der Interventionspolitik, der Bündnis-politik und der Rüstungsexporte der Industrienationen .
Auch der Klimawandel, das Produkt einer rücksichtslo-sen Industriepolitik der Wirtschaftsmächte – wir hattenja gerade das Thema –, zwingt immer mehr Menschenzur Flucht vor Dürre und Fluten . Schon allein diese Tat-sachen sollten rechtzeitige und umfassende Hilfe für diebetroffenen Menschen zur Selbstverständlichkeit ma-chen .
Es ist deshalb gut, dass die humanitäre Hilfe nunAnlass eines Weltgipfels ist . Allerdings ist der Austra-gungsort Istanbul ein Problem . An der türkisch-syrischenGrenze wird auf fliehende Kinder geschossen, in den kur-dischen Gebieten der Türkei herrscht Bürgerkrieg, undKritikerinnen und Kritiker des türkischen Regierungs-kurses sind massiver Repression ausgesetzt . Ich kannmich deshalb nur aus vollem Herzen dem offenen Briefvon Noam Chomsky und anderen anschließen . Sie for-dern UN-Generalsekretär Ban Ki-moon auf, den Gipfelan einem anderen Austragungsort stattfinden zu lassen.Die Türkei ist unter den jetzigen politischen Bedingun-gen ein denkbar unpassender Gastgeber .
Leider sieht es so aus, dass die Fragen von Hilfen fürMenschen in Not in Istanbul nicht wirklich konsequentverfolgt werden . Das jedenfalls befürchtet die Hilfsorga-nisation Ärzte ohne Grenzen . Sie hat deshalb ihre Teil-nahme abgesagt . Sie verweisen zu Recht darauf, dass hu-manitäre Hilfe unparteilich und unabhängig sein muss .Deswegen verbietet sich jegliche Instrumentalisierung .
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Been-digung zivil-militärischer Zusammenarbeit zum Schutzvon Hilfe und Helfern . Deswegen schlägt die Linke vor,logistische Hilfe zukünftig nicht mehr durch die Bundes-wehr, sondern durch eine unabhängige Instanz zu orga-nisieren. Transportflugzeuge, Hubschrauber und Schiffesowie Logistikzentren und weitere Infrastruktur sind not-wendige Voraussetzungen, um in Katastrophengebietenschnell helfen zu können. Häufig stehen diese und andereGerätschaften nur Militärs zur Verfügung . Das wollenwir ändern,
und zwar durch die Aufstellung eines zivilen Willy-Brandt-Korps für internationale Katastrophenhilfe .Humanitäre Hilfe ist kein Almosen . Die Staaten, diesich in Istanbul treffen, haben internationale Konven-tionen unterzeichnet, die die Wahrung der Rechte vonFlüchtlingen und die Gewährung von ausreichenderhumanitärer Hilfe zur Pflicht machen. Deswegen mussan dieser Stelle auch gesagt werden, dass die Deals zwi-schen der EU und der Türkei zur Abschottung gegenFlüchtlinge einen Verstoß gegen universelle Menschen-rechte und das Völkerrecht darstellen . Der absolute Man-gel an Menschlichkeit, der sich in diesen Deals zeigt, istunerträglich .
Auch die zahlreichen Angriffe auf Krankenhäuser undmedizinisches Personal sind eine Verletzung fundamen-taler Regeln des Völkerrechts . Im letzten Jahr wurden al-lein 75 Krankenhäuser bombardiert, die von Ärzte ohneGrenzen betrieben oder unterstützt wurden . Ob in Afgha-nistan, im Jemen oder in Syrien: Die Angreifer werdennicht ernsthaft aufgeklärt . Die internationale Fact-Fin-ding-Kommission, die in solchen Fällen ermitteln soll,wird nur von der Schweiz unterstützt .Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Antrag eine gan-ze Reihe von konkreten Maßnahmen aufgelistet, diedazu beitragen können, die humanitäre Hilfe deutlichzu stärken. Dazu gehört eine deutlich bessere finanziel-le Ausstattung von internationalen Hilfsorganisationenwie dem Welternährungsprogramm ebenso wie die um-Vizepräsidentin Claudia Roth
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fassende Unterstützung von lokalen Organisationen . Wirwerden den Ausgang des Weltgipfels daran messen, obkonkrete Schritte zu einer wirklichen Verbesserung derhumanitären Hilfe gemacht werden .Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Höger . – Nächster Redner in
der Debatte: Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Siemich zu Beginn meiner Rede kurz die ersten Sätze desAntrags der Linken vorlesen:Der erste Humanitäre Weltgipfel . . .– Sie haben gerade darauf hingewiesen, Frau Höger –im Mai 2016 in Istanbul findet vor dem Hintergrundgroßer Herausforderungen an die internationale hu-manitäre Hilfe statt . In den Jahren 2012 bis 2015 hatsich der Bedarf der humanitären Hilfe auf 20 Milli-arden US-Dollar verdoppelt und auch die Anforde-rungen an die Ausgestaltung der humanitären Hilfesind gewachsen .Es folgen dann einige Zahlen zum Thema Flucht .Sie als Fraktion heben damit ein Thema auf die Tages-ordnung, das uns in den letzten Jahren immer wichtigergeworden ist, je länger wir uns damit beschäftigt haben .Unter unserem Ausschussvorsitzenden Michael Brandund unter Ermutigung des Kollegen Strässer, als er nochMenschenrechtsbeauftragter war, und unter Mithilfeder Grünen ist die humanitäre Hilfe im Ausschuss – daswerden Sie sicher bestätigen – ein Stück weit aus ihremSchattendasein herausgetreten und zum Schwerpunkt-thema geworden . Zwei Anhörungen in dieser Legisla-turperiode mit hochrangigen Experten haben deutlichgezeigt, dass humanitäre Hilfe auch neu gedacht werdenmuss . Die Verantwortung der Weltgemeinschaft für dieBeseitigung von Fluchtursachen mit einer entsprechen-den finanziellen Ausstattung wurde betont. Auch wurdegefordert, das Ineinandergreifen unterschiedlicher In-strumente, etwa der humanitären Hilfe auf der einen undder Entwicklungszusammenarbeit auf der anderen Seite,zu stärken . Da haben wir noch eine Menge vor uns .In diesem Sinne wäre auch Ihr Antrag, der eine Reihesinnvoller einzelner Forderungen enthält, durchaus be-grüßenswert – Komma –, wenn, ja wenn da nicht dieseHidden Agenda wäre, wenn nicht jeder Ihrer Fäden letzt-lich durch das gleiche Nadelöhr geführt würde . So bleibtmir und meiner Fraktion bei allem guten Willen nichtsanderes übrig, als Ihren Antrag abzulehnen .
Wovon rede ich? Es entbehrt nicht einer gewissen Iro-nie, dass die Fraktion Die Linke im März dieses Jahresin diesem Haus gefordert hat, den 8 . Mai in der Termino-logie des verstorbenen Altbundespräsidenten Weizsäckerals „Tag der Befreiung“ zu einem gesetzlichen Gedenk-und Feiertag zu machen – das ist übrigens eine durchausnachdenkenswerte Idee –, und die gleiche Fraktion nunin dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung dazuauffordert – das steht gleich im ersten Punkt –,die internationale Verantwortung Deutschlands aus-schließlich mit zivilen Mitteln wahrzunehmen .
Lassen wir das einen Moment wirken; ein Freund vonmir würde sagen: auf der Festplatte zergehen lassen .Hier wird nicht gefordert, zuerst alle diplomatischenund zivilgesellschaftlichen Instrumente zu nutzen . Hierwird auch nicht betont, dass bundesdeutsche Institutio-nen, staatliche und nichtstaatliche, besser auszustattensind . Nein, das kleine Adjektiv „ausschließlich“ besagtganz deutlich: Die internationale Verantwortung derBundesrepublik soll zukünftig ohne die Bundeswehrwahrgenommen werden; jedes militärische Eingreifenwird ausgeschlossen .
Meine sehr geehrten Kollegen, bei Widersprüchlernhelfen Argumente kaum . Wir feiern am 8 . Mai einenmilitärischen Sieg der Alliierten über Nazideutschland,machen daraus möglicherweise sogar einen gesetzlichenFeiertag und verweigern zugleich den Menschen, dieOpfer bewaffneter Rebellengruppen werden, unsere Hil-fe? Wir verschließen unsere Augen vor ethnischen Säu-berungen? Wir sollen zusehen, wenn Diktatoren ihrenNachbarstaaten den Krieg erklären?
Das ist meines Erachtens absurd, widersinnig und ent-behrt jedes aufrichtigen politischen Willens, wirklicheVerantwortung menschenrechtlich und völkerrechtlichtragen zu wollen .
So ist der eigentlich sehr charmante Gedanke eines hu-manitären Korps hinfällig; denn Ihnen geht es hier in ers-ter Linie offensichtlich nicht um humanitäre Hilfe . Durchdie Hintertür kommt es vielmehr, was ich vollkommenablehne, zu einer unzulässigen Diskreditierung unsererBundeswehr . Dafür steht meine Fraktion nicht zur Verfü-gung, auch ich selber nicht . Selbst die Namensanleihe beiWilly Brandt kann wohl nicht dafür sorgen, dass die SPDdeshalb möglicherweise Ihren Antrag mit unterzeichnet .Im Gegenteil: Der Bundeswehr und ihren Soldatinnenund Soldaten, die unter sehr hohen persönlichen RisikenVerantwortung für unsere Sicherheit in Deutschland unddie Friedenssicherung in der Welt übernehmen, gehörthöchste Anerkennung .Inge Höger
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Wenn Sie nur einmal einen schnellen Blick – ich habees heute getan – in das Onlinelexikon Wikipedia werfen,werden Sie im Zusammenhang mit dem Stichwort „Aus-landseinsätze der Bundeswehr seit 1960“ immer wiederBegriffe wie Hilfeleistung, Erdbebenhilfe, Katastrophen-hilfe, Versorgung und medizinische Betreuung, um nureinige zu nennen, finden. Bundeswehrsoldaten sind beiMissionen in Europa, Asien, Afrika, im Mittelmeer undam Horn von Afrika im Einsatz . Das geschieht stets imengen Schulterschluss mit den EU-Partnern, den Verbün-deten der NATO und natürlich begründet durch Mandateder Vereinten Nationen .Gerade die Bundeswehr hat durch ihre gut ausgebil-dete Truppe und ihre logistischen Möglichkeiten einenentscheidenden Anteil an der humanitären Hilfe, die dieBundesrepublik international geleistet hat und immerwieder leistet, immer Hand in Hand mit Organisationenwie dem Technischen Hilfswerk und Partnern der Zivil-gesellschaft . Ganz nebenbei: Auch im Inland ist unsereTruppe mehr als aktiv . Denken wir an die mehrmaligeHochwasserhilfe in den letzten Jahren und die logistischeHilfe bei der Unterbringung von Flüchtlingen .So bitter das ist, jeder politische Realist muss letztlichzugeben: Um die internationale Verantwortung wahrzu-nehmen, reichen zivile Mittel am Schluss alleine nichtaus . Natürlich muss gelten: Eine militärische Interventi-on kann nur und – das sage ich auch – muss immer dieletzte Möglichkeit sein, die sogenannte Ultima Ratio po-litischen Handelns .
Jedes diplomatische Mittel muss ausgeschöpft werden,jeder Sanktionskatalog vollständig abgearbeitet sein . Erstdann kann und – noch einmal – muss dann auch eine mi-litärische Option erwogen werden, und zwar gemeinsammit den Partnern der Weltgemeinschaft . Die militärischeOption gänzlich auszuschließen, kann zu Katastrophenführen .
Die Geschichte hat uns das brutal vor Augen geführt .Denken wir an den Völkermord der Türken an den Ar-meniern 1915 . Dazu gehört auch, dass wir im Rückblickbeschämt feststellen müssen, dass wir als Deutschlandzugeschaut haben .
Die Berichte von Augenzeugen wurden ignoriert . DasMassenmorden nahm seinen Lauf .Oder denken wir an die nähere Vergangenheit . 1994 inRuanda: je nach Schätzung zwischen 500 000 und etwasmehr als 1 Million Opfer infolge des Völkermordes derHutu an den Tutsi . In nur 100 Tagen vollzog sich einerder grausamsten Massenmorde der Weltgeschichte, undwir, die Weltgemeinschaft, haben zugeschaut . Das darfso nicht wieder passieren .Diese Erinnerungen und die uns Deutschen ureigeneErfahrung der Befreiung von der Nazidiktatur durch dieAlliierten machen deutlich: Eine militärische Option istals politische Ultima Ratio unabdingbar . Glauben Siemir, ich spreche jetzt nicht als einer, der konservativerParteiräson unterworfen ist . Ich sage das als jemand,der als junger Mann zu Zeiten des Kalten Krieges denKriegsdienst verweigert hat . Ich sage als überzeugter Pa-zifist auch: Manchmal können am Ende nur die Waffenden Frieden sichern oder schaffen .Nicht von ungefähr war es die rot-grüne Bundesregie-rung unter Kanzler Schröder und Außenminister Fischer,die sich 1999 entschieden hat, sich erstmals in der Ge-schichte der Bundesrepublik an einem Kriegseinsatz zubeteiligen, und zwar im Kosovo-Krieg .
Wir konnten fünf Jahre nach Ruanda nicht erneut die Au-gen vor ethnischen Säuberungen – was für ein scheußli-cher Begriff! – verschließen, noch dazu vor der eigenenHaustür .Ich nenne zwei weitere Beispiele für die Notwendig-keit solcher internationaler Missionen, an denen die Bun-deswehr beteiligt war .Das erste Beispiel ist die KFOR-Mission, die sich zumSchutz der Bevölkerung im Kosovo und der im Land tä-tigen NGOs durch die Resolution 1244 des UN-Sicher-heitsrates an den Kosovo-Krieg anschloss .Zum Zweiten ist gerade der umstrittene – ja, ich nennees so – Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu wür-digen . 13 Jahre lang hat ISAF, die International SecurityAssistance Force, ihren Beitrag zur Sicherheit in Afgha-nistan geleistet .
Zum Abschluss dazu vielleicht ein persönliches Erlebnis .Die AG Menschenrechte unserer Fraktion hat im Rahmeneiner Klausurtagung afghanische Vertreter aus Politik undZivilgesellschaft eingeladen . Ich werde die bewegendenWorte nicht vergessen, mit denen sich der Vorsitzendeeiner NGO bei uns bedankt hat . Sinngemäß sagte er Fol-gendes: Wir mussten erleben, dass Heckenschützen derTaliban unsere Mädchen von den Fahrrädern geschossenhaben, wenn sie auf dem Weg zur Schule oder zum Frau-enarzt waren . Seit die deutschen Schutztruppen für Si-cherheit sorgen, können unsere Töchter ungehindert Bil-dungsangebote und Gesundheitsvorsorge wahrnehmen .
Damit komme ich zum Schluss . Lassen Sie mich zu-sammenfassen:Erstens . Humanitäre Hilfe muss stärker in den Fokusder internationalen Politik rücken – deshalb: prima The-ma! – und neu gedacht werden .
Frank Heinrich
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Zweitens . Jedes Mittel der zivilen und politischenVerantwortung muss genutzt werden, bevor es zu einermilitärischen Intervention kommt .Drittens . Dann aber, wenn die Ultima Ratio eintritt,ist die militärische Option eine politische Notwendig-keit . Jeder Versuch, die Bundeswehr direkt oder indirektin Misskredit zu bringen, zeugt, wie wir finden und wieich finde, von politischer Kurzsichtigkeit und Verantwor-tungslosigkeit .Danke schön .
Vielen Dank, Kollege Heinrich . – Nächster Redner:
Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag ist zutiefst unernst . Das sehen Sie
zuallererst an dem Namen „Willy-Brandt-Korps“ .
Lafontaine hat einmal gesagt: „Ab heute gehört er uns .“
Sie wollen ihn für eine nationale Organisation der huma-
nitären Hilfe reklamieren . Was hat er denn verbrochen,
dass Sie seinen Namen nehmen wollen?
Schafft England dann das Winston-Churchill-Korps,
Frankreich das Charles-de-Gaulle-Korps und Spanien
das Santiago-Carrillo-Korps? Und immer nationale Ein-
heiten? Das ist doch das, was Ihr Antrag atmet .
Haben Sie eigentlich einmal die Familie von Willy
Brandt gefragt? Haben Sie einmal Matthias Brandt bei
Polizeiruf 110 angerufen? Da kriegen Sie wahrschein-
lich zu hören: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ oder
„Smoke on the Water“ .
Das ist doch nicht Ihr Ernst . Sie sagen, Sie wollen
eine deutsche zivile und humanitäre Dachstruktur . Eben
haben Sie noch gesagt: eine unabhängige Instanz . Sie
wollen das nationalisieren . Haben Sie einmal mit den
Hilfsorganisationen geredet – machen Sie doch mal eine
Anhörung – und sie gefragt, was sie dazu sagen,
wenn Sie plötzlich, während sich alle internationalisie-
ren, eine deutsche Struktur schaffen wollen?
Es gibt einen Hintergrund: Sie wollen die Bundeswehr
abschaffen, Sie wollen die NATO abschaffen, Sie wol-
len keinerlei Peacekeeping Operations, Sie wollen die
100 000 Blauhelme, die vor Ort tätig sind, nicht . Sie wol-
len all das ohne deutsche Beteiligung . Alle sollen abge-
zogen werden . Aber durch Ihren ganzen Antrag weht ein
Wind von Renationalisierung der humanitären Hilfe und
nicht von kosmopolitischer Internationalisierung .
Ja, das richtet sich an andere Länder; aber es soll gut
deutsch sein . „Willy Brandt“ – ganz deutsch . Da kom-
men Sie nicht auf „Peace Brigades International“ oder
irgend so etwas,
sondern Sie wollen eine nationale Organisation; das sa-
gen Sie auch immer wieder .
Bei dieser Renationalisierung treffen Sie sich ja auch
mit Rechtsaußen . Ich werde Ihnen das immer wieder vor-
halten . Denn wenn Sie sich auf Lafontaine beziehen, sage
ich Ihnen: Der hat solche Tendenzen auch immer wieder
gehabt . Da treffen sich ganz links und ganz rechts .
Da werden wir immer dagegen sein . Wenn es in Anträgen
auch nur den Hauch dieser Stimmung gibt, werden wir
immer dagegen sein . Das universalistische Konzept der
humanitären Hilfe muss betont werden . Das ist der Inhalt
der humanitären Hilfe, und daran müssen wir arbeiten .
Genau daran arbeitet auch der Kongress in Istanbul;
das ist das Thema . Übrigens werden wir am nächsten
Freitag Gelegenheit haben, wieder darüber zu diskutie-
ren, und nach dem internationalen Kongress auch . Dann
können wir uns darüber austauschen . Aber tun Sie das
doch dem armen Willy Brandt nicht an, dass er dafür
herhalten muss, dass Sie ein Willy-Brandt-Korps haben
wollen . Da kann ich nur sagen: Willy-Brandt-Korps – die
Augen links!
Vielen Dank, Tom Koenigs . – Letzte Rednerin in der
Debatte: Dr . Ute Finckh-Krämer für die SPD .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerin-nen und Zuhörer auf der Tribüne! Liebe Präsidentin! DerAntrag der Linken vermischt das schon fünf Jahre alteProjekt von Oskar Lafontaine, das Technische Hilfswerkneu zu erfinden, mit der aktuellen Diskussion über denweltweit dramatisch angestiegenen Bedarf an humanitä-rer Hilfe . Einen solchen Missbrauch seines Namens hatWilly Brandt nicht verdient; denn das Technische Hilfs-werk verbindet auf vorbildliche Weise das Engagementim Katastrophenschutz im Inland mit verlässlicher tech-Frank Heinrich
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nischer und logistischer Unterstützung humanitärer Hilfeim Ausland . Die Kapazitäten dafür wurden in den letztenJahren ausgebaut .Das Technische Hilfswerk muss also nicht durch einKonversionsprogramm „Soldaten zu humanitären Hel-fern“ und „Rüstungsgüter zu Katastrophenschutzgütern“ersetzt werden . Bevor wir Soldaten zu humanitären Hel-fern umschulen und pannenanfällige Militärtechnik inTechnik für humanitäre Hilfe umwidmen, sollten wiruns ansehen, welche Strukturen die humanitäre Hilfe inDeutschland derzeit hat .Humanitäre Hilfe – das ist zu Recht gesagt wor-den – ist den vier humanitären Prinzipien verpflichtet:Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unab-hängigkeit . Das unterscheidet sie von der Entwicklungs-zusammenarbeit, die anhand politischer oder ökonomi-scher Kriterien parteilich sein darf und es oft auch ist .Organisationen, die in beiden Bereichen tätig sind, ord-nen aus gutem Grund ihre Projekte möglichst eindeutigdem einen oder anderen Bereich zu .Was haben wir also aktuell für Strukturen in der hu-manitären Hilfe in Deutschland? Wir haben die zivilge-sellschaftlichen Organisationen, die größtenteils sowohlim Katastrophenschutz im Inland als auch in der inter-nationalen humanitären Hilfe tätig sind . Sie sind oft zu-sätzlich Wohlfahrtsorganisationen wie die Johanniter, dieMalteser, die Diakonie Katastrophenhilfe, Caritas Inter-national und der Arbeiter-Samariter-Bund .Wir haben die deutschen Sektionen zivilgesellschaft-licher Organisationen, die auf humanitäre Hilfe spe-zialisiert sind, wie Ärzte ohne Grenzen, die manchmaleine sehr eigene Sicht auf die Dinge haben, was gut undnotwendig ist . Schließlich haben wir die deutschen oderinternationalen Organisationen, die sowohl im Bereichder humanitären Hilfe als auch im Bereich der Entwick-lungszusammenarbeit tätig sind .Diese drei Gruppen zusammengenommen sind größ-tenteils Mitglieder im Verband Entwicklungspolitik undHumanitäre Hilfe, VENRO . Dazu kommt das DeutscheRote Kreuz als Teil der internationalen Rotes Kreuz/Roter Halbmond-Strukturen, die über das InternationaleKomitee vom Roten Kreuz koordiniert werden . Das RoteKreuz hat drei weitere Prinzipien, die auch wichtig sind:Freiwilligkeit, Einheit und Universalität .Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk wird übri-gens aus dem Etat des BMI finanziert, und sie erhält fürihre Auslandseinsätze Projektgelder vom AuswärtigenAmt oder aus internationalen Quellen . Das TechnischeHilfswerk taucht bezeichnenderweise in dem Antragnicht auf; denn sonst würde deutlich, was da für Dopp-lungen vorkommen .
Schließlich gibt es – das sage ich der Vollständigkeithalber – noch Firmen und Organisationen, die auf hu-manitäres Minenräumen spezialisiert sind . Auch das istkeine Aufgabe, die die Bundeswehr oder andere Militärsin der Regel wahrnehmen .Ein Großteil all dieser Organisationen trifft sich min-destens viermal im Jahr zum KoordinierungsausschussHumanitäre Hilfe, der vom Referat für Humanitäre Hilfeim Auswärtigen Amt koordiniert wird . Der Koordinie-rungsausschuss arbeitet ausgesprochen effektiv, ergeb-nisorientiert und mit hoher fachlicher Kompetenz . DieLeitung teilen sich das Auswärtige Amt und ein Vertreteraus dem NGO-Bereich . Warum er durch ein neues Ge-meinschaftswerk oder eine Kooperationsgesellschaft,was immer die Antragsteller darunter verstehen, ersetztwerden soll, erschließt sich mir nicht .Generell gilt: Hilfe von außen ist nur notwendig, wenndie eigenen Kapazitäten eines Landes zur Bewältigungeiner Katastrophe oder zum Umgang mit einer sehr gro-ßen Anzahl von Flüchtlingen oder Binnenvertriebenennicht ausreichen . Der Aufbau eigener Fähigkeiten unddie Unterstützung von Vorsorgemaßnahmen in Gebieten,in denen zum Beispiel das Risiko schwerer Erdbeben,von Stürmen und Hochwasser etc . hoch ist, werden daherein wichtiges Thema des Humanitären Weltgipfels sein .In Istanbul findet jetzt im Mai ein Humanitärer Welt-gipfel statt, und im September findet in New York – unddas wird im Antrag weder erwähnt noch diskutiert – einWeltgipfel zum Thema Flüchtlinge statt . Deswegen kön-nen und müssen wir nicht alles, was sich mit dem ThemaFlucht und Flüchtlinge befasst, in die Diskussion um denHumanitären Weltgipfel hineinpacken . Ein Stück weitwird das Argument, dass Istanbul ein sehr schlechter Ortist, um über Flüchtlinge und den Umgang mit ihnen zudiskutieren, auch dadurch relativiert, dass der Flücht-lingsweltgipfel in New York stattfinden wird.Ich sehe auch keinen Grund dafür, die humanitäre Hil-fe vollständig ins BMZ zu verlagern . Die Zuständigkeitfür die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationenund damit auch die Federführung für Geberkonferenzenoder Veranstaltungen wie den Humanitären Weltgip-fel oder den Flüchtlingsgipfel liegt in jedem Fall beimAuswärtigen Amt . Die Zusammenarbeit auf Fachebenezwischen den Referaten, die im BMZ für die entwick-lungsorientierte Übergangshilfe und die Entwicklungs-zusammenarbeit zuständig sind, und denen, die im Aus-wärtigen Amt für die humanitäre Hilfe Verantwortungtragen und die Mittel dafür verwalten, funktioniert nachAnsicht vieler Vertreterinnen und Vertreter der Hilfsorga-nisationen sehr gut . Aus gutem Grund wird von den Zu-ständigen daher von Verzahnung oder Komplementaritätund nicht von einer „Zusammenlegung der Instrumente“gesprochen, wie es der Antrag formuliert;
denn damit würde es sehr schwierig, wenn nicht unmög-lich, die humanitären Prinzipien und die entwicklungspo-litischen Ziele auseinanderzuhalten .Ich möchte mit einem Zitat aus der Süddeutschen Zei-tung vom 7. Oktober 2011 schließen: „Als Pazifistin seheich das Willy-Brandt-Korps skeptisch“ . Das habe nichtDr. Ute Finckh-Krämer
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ich gesagt, das hat Katja Kipping gesagt, und dieser Ein-schätzung schließe ich mich voll an .
Vielen Dank, Dr . Finckh-Krämer . – Damit schließe ich
die späte Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8390 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . – Sie sind damit ein-
verstanden . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung
angelangt .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 13 . Mai 2016, 9 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
noch einen schönen Restabend .