Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen; ichbegrüße Sie herzlich.Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, müssenwir noch zwei Wahlen durchführen.Die SPD-Fraktion schlägt vor, den Kollegen FlorianPost als Nachfolger des ausgeschiedenen KollegenWolfgang Tiefensee als persönliches stellvertretendesMitglied in den Beirat der Bundesnetzagentur fürElektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Ei-senbahnen zu wählen. Können Sie dem zustimmen? –Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Postals stellvertretendes Mitglied in diesen Beirat gewählt.Darüber hinaus müssen wir noch eine Schriftführer-wahl durchführen. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor,die Kollegin Ronja Schmitt als Nachfol-gerin für die Kollegin Nina Warken als Schriftführerinzu wählen. – Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Dann ist das so vereinbart und die Kollegin RonjaSchmitt als Schriftführerin gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Ta-gesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführtenPunkte zu erweitern.ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und SPD:Auswirkung der Ermordung des russischenPolitikers Boris Nemzow auf die Politik Russ-lands
ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-sprache
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführungeines StrafverfahrensDrucksache 18/4181ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionDIE LINKE:Beschäftigungssituation von FrauenZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Perspektiven für Klimaschutz und Energieef-fizienz nach Absage der Bundesregierung aneinen Steuerbonus für eine energetische Ge-bäudesanierungDabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn derBeratung, soweit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 17 – hier geht es um dieStellungnahme gemäß Artikel 23 Grundgesetz zur Eig-nung des internationalen Regelungswerkes IPSAS fürdie Rechnungslegung in den Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union – soll ohne Debatte zusammen mit demTagesordnungspunkt 23 aufgerufen werden.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 26. Februar 2015 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Wirtschaft und Energie zurMitberatung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Verkehr-steueränderungsgesetzes
Drucksache 18/3991Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Das ist der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 dauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Versorgung in der gesetzlichen
Drucksache 18/4095Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKEPrivate Krankenversicherung als Vollversi-cherung abschaffen – Hochwertige und effi-ziente Versorgung für alleDrucksache 18/4099Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialesc) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitWöllert, Sabine Zimmermann , MatthiasW. Birkwald, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEWohnortnahe Gesundheitsversorgung durchbedarfsorientierte Planung sichernDrucksache 18/4187Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Innenausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HaraldTerpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGesundheitsversorgung umfassend verbes-sern – Patienten und Kommunen stärken,Strukturdefizite beheben, QualitätsanreizeausbauenDrucksache 18/4153Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derParlamentarischen Staatssekretärin Widmann-Mauz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gerade wenn eine Grippewelle unser Land inAtem hält, spüren wir – und das oft sogar am eigenenLeib –, wie notwendig und hilfreich eine gute und wohn-ortnahe medizinische Versorgung ist. Auch Bundesge-sundheitsminister Hermann Gröhe macht aktuell dieseErfahrung; deshalb kann er heute nicht hier sein. Ichwünsche ihm von dieser Stelle aus gute Besserung undbaldige Genesung.
Die Bundesregierung und die Große Koalition habendas gemeinsame Ziel, die gute medizinische Versorgungin diesem Land auch weiterhin sicherzustellen: gut er-reichbar in der Stadt und auf dem Land, qualitativ hoch-wertig in der einzelnen Praxis, im Krankenhaus, beimHaus- und beim Facharzt. Das unterstelle ich übrigensauch der niedergelassenen Ärzteschaft in Deutschlandund, an ihrer organisierten Spitze, der KassenärztlichenBundesvereinigung. Insoweit bringt es die KBV in die-sen Tagen auf den Punkt, wenn sie in ihren Zeitungsan-zeigen schreibt:Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt und er istnicht mehr da.Genau das, meine Damen und Herren, ist das Problem,und das gehen wir mit diesem GKV-Versorgungsstär-kungsgesetz an. Unbestritten: Wir verfügen in unseremLand über eine breite medizinische Versorgung auf ho-hem Niveau. Aber wir müssen jetzt handeln, damit dasauch in Zukunft so bleibt.Die demografische Entwicklung, die unterschiedlicheSituation bei der Versorgung in Ballungszentren, instrukturschwachen und in ländlichen Regionen und dieMöglichkeiten der Behandlung stellen uns vor neue He-rausforderungen. Wir haben das ehrgeizige Ziel, die me-dizinische Versorgung in Deutschland zukunftsfest zumachen. Nähe, meine Damen und Herren, soll dabei zukeinem Fremdwort werden. Das setzt voraus, dass wirgenügend niedergelassene Ärzte haben und dass sie dortpraktizieren, wo sie auch gebraucht werden. Das erfor-dert eine passgenaue Verteilung.In ländlichen Räumen bereitet uns vielerorts nicht erstdie Facharzt-, sondern schon die HausarztversorgungSorgen. Nicht wenige ältere Hausärzte haben Mühe, einePraxisnachfolge zu finden. Ich sage ganz deutlich: Wirkönnen hier nicht zusehen und weiter abwarten, sondernhier muss gehandelt werden, und zwar schon bevor eineUnterversorgung eingetreten ist.
Wir wollen deshalb die Anreize für Ärztinnen undÄrzte zur Niederlassung verstärken und weiter ver-bessern, indem wir zukünftig den KassenärztlichenVereinigungen die Möglichkeit geben, mit vielfältigenMaßnahmen vom Stipendium über die Weiterbildungsfi-nanzierung bis hin zur Niederlassungshilfe einen Beitragdazu zu leisten, dass Unterversorgung erst gar nicht ent-steht und auch im ländlichen Raum gute, angemessene
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Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
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Verhältnisse im Hinblick auf die Niederlassung geschaf-fen und gestärkt werden. Dazu können sie zukünftig mit-hilfe von zusätzlichen Mitteln der Kassen in eigener Re-gie in ihrer Region Strukturfonds einrichten. Außerdemkönnen sie Ärzten Zuschläge für ganz konkrete Leistun-gen bezahlen, etwa für Hausbesuche.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der niedergelas-sene freiberufliche Arzt ist das Rückgrat unserer ambu-lanten Versorgung.
Hausärzte und Fachärzte sind wichtige Lebensbegleiterganzer Familien, nicht selten über Generationen hinweg.Aber eine gute Versorgung gerade im ländlichen Raumund die sich ändernden Krankheitsbilder in einer älterwerdenden Gesellschaft verlangen, dass ambulante undstationäre Versorgung besser miteinander verzahnt sind.Gute Rahmenbedingungen für die Einzelpraxis müssenauch einhergehen mit einer verbesserten Möglichkeit ge-meinschaftlicher Berufsausübung, der verstärkten För-derung von Praxisnetzen und erweiterten Möglichkeitenvon medizinischen Versorgungszentren. Das ist keineAbkehr von der niedergelassenen Praxis, keine „Medi-zinindustrie“ oder gar eine Absage an den freien Arztbe-ruf. Im Gegenteil: Das entspricht in immer stärkeremMaße den Wünschen junger Mediziner und vor allemjunger Medizinerinnen an die Berufsausübung. Das istfür die Versorgung der Patienten oftmals sehr hilfreich,weil Wege gespart und Befunde schneller abgeklärt wer-den.
Meine Damen, meine Herren, ich weiß, dass solcheGedanken in bestimmten ärztlichen Kreisen Sorgen aus-lösen und bei manchem Funktionär zu reflexartigen Re-aktionen führen. Aber nicht hohe Hürden zwischen denBerufsgruppen und den Sektoren, sondern die gemein-same Verantwortung für die Patienten sollte doch imMittelpunkt der Debatte stehen. Deshalb dürfen wir dieAugen auch nicht vor der Tatsache existierender Über-versorgung verschließen. Es ist ja gerade die paradoxeSituation, dass es auch die zuhauf gibt. Manche Kassen-ärztliche Vereinigung hat uns vorgezählt, wie viele Pra-xen durch das neue Gesetz angeblich dichtmachen müss-ten; 25 000 nennt die KBV für ganz Deutschland. Das istblanker Unsinn.
Denn es geht nicht um die Schließung von Arztpraxen,sondern es geht darum, ob ein Kassenarztsitz nachbe-setzt wird, wenn der bisherige Praxisinhaber zum Bei-spiel aus Altersgründen ausscheidet. Auch in überver-sorgten Gebieten wird es dann aber immer von derkonkreten Versorgungs- und Bewerberlage abhängen, obeine Praxis nachbesetzt wird oder nicht.Konkret heißt das: Wenn es zum Beispiel in einemGebiet in der gesamten Arztgruppe der Fachinternisteneine Überversorgung gibt, darunter nur zwei mitSchwerpunkt Rheumabehandlung, und einer dieser bei-den aus Altersgründen ausscheidet, dann muss diese Pra-xis für die Versorgung der Patienten natürlich nachbe-setzt werden. Wenn aber zum Beispiel in einer großendeutschen Stadt in bester Lage fußläufig acht bis zehnKardiologen ihre Praxis haben und einer aus Altersgrün-den ausscheidet, dann mag das Bild durchaus ein ande-res sein. Aber darüber muss vor Ort entschieden werden,und das, liebe Kassenärztliche Vereinigungen, liegt inIhrer Verantwortung; denn die Ärzte selbst legen zusam-men mit den Kassen in den Zulassungsausschüssen vorOrt fest, wann eine Praxis nachbesetzt wird und wannnicht.
Wenn es nicht nur ein PR-Gag sein soll, dass sie „für IhrLeben gern“ arbeiten, dann bedeutet das auch, dass siezumindest dort arbeiten, wo die Patienten leben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ähnliches gilt fürdie Einrichtung der Terminservicestellen zur Vergabevon Facharztterminen. Bereits nach geltendem Rechtsind die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet,eine angemessene und zeitnahe fachärztliche Versorgungzu gewährleisten. Trotzdem berichten gesetzlich versi-cherte Patienten leider immer wieder über teilweiselange Wartezeiten auf einen Facharzttermin. Künftig sol-len sich Versicherte darauf verlassen können, dass sienach Überweisung durch den Hausarzt die fachärztlicheBehandlung innerhalb von vier Wochen erhalten, sei esbeim niedergelassenen Facharzt oder schließlich in einemKrankenhaus. Damit auch hier keine Legenden entstehen:Die Regelung gilt nicht bei planbaren oder verschiebba-ren Routineuntersuchungen oder gar bei Bagatellerkran-kungen, und es bleibt bei der freien Arztwahl. Denn esgeht darum, dass jeder, der eine ärztliche Untersuchungbzw. Behandlung wirklich braucht, diese auch schnellbekommt. Die Terminservicestelle vermittelt einenFacharzt in zumutbarer Entfernung, kann aber nicht denTermin beim Wunscharzt garantieren. Doch in Fällen, indenen eine diagnostische Abklärung oder Behandlungdringend erforderlich ist, überwiegt meist der Wunsch,überhaupt einen Arzt zu sehen. Unter Wahlfreiheit ver-stehen wir auch, dass der Patient diese Möglichkeit hat.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt vieleweitere wichtige Aspekte in diesem GKV-Versorgungs-stärkungsgesetz, unter anderem einen Innovationsfonds,bei dem wir viel Geld in die Hand nehmen, damit das zu-kunftsfähige Gesundheitswesen in unserem Land auchweiterhin Bestand hat.
Wie in der Wirtschaft gilt auch im Gesundheitswesen:Das Bessere ist der Feind des Guten. Wir wollen, dassdieses Gesundheitswesen zukunftsfest bleibt. Dabeibauen wir auf Ihre Unterstützung, und wir freuen uns aufdie parlamentarische Diskussion zu diesem wichtigenGesetz für die Patienten in unserem Land.
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Für die Fraktion Die Linke erhält nun der Kollege
Harald Weinberg das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! 280 Seiten Versorgungsstär-kungsgesetz mit sehr vielen Vorschlägen: Ich kann invier Minuten mit Sicherheit nicht alle würdigen. Ichhalte mich da eher an den Tagesspiegel, der vorgesternschrieb:Es ist auch seine– Minister Gröhes –Antwort auf zwei der drängendsten Systempro-bleme: den immer bedenklicher werdenden Ärz-temangel in strukturschwachen Regionen und dieBenachteiligung von gesetzlich Versicherten gegen-über Privatpatienten, die sich in überlangen Warte-zeiten manifestiert.Mit diesem Gesetzentwurf ist die Koalition also ange-treten, die Zweiklassenmedizin in den Wartezimmern zubeseitigen. Ich wäre froh, wenn ich Sie heute kritisierenkönnte, dass Sie hierbei auf halber Strecke stehen geblie-ben sind. Bei der Hälfte des Weges sind Sie aber längstnicht angekommen; denn Sie beschäftigen sich in demGesetzentwurf ausschließlich mit den gesetzlich Versi-cherten. Die Hauptursache für die Zweiklassenmedizinist aber die Privatversicherung. Mit der beschäftigt sichder Gesetzentwurf aber überhaupt nicht.
Minister Gröhe, dem auch ich von hier aus noch guteBesserung wünschen möchte, sagt selbst – sehr zur Be-ruhigung der privaten Versicherungswirtschaft –:Ich gehe nicht davon aus, dass die Verbesserungenfür Kassenpatienten zu Lasten der Privatversicher-ten gehen.Die Terminservicestellen sind ja eine nette Idee, abersie werden nicht das Problem lösen, das sie vorgeben lö-sen zu wollen. Solange die Ärzteschaft für dieselbe Leis-tung bei Privatversicherten doppelt und dreimal so vielabrechnen kann wie bei gesetzlich Versicherten, so langewird es eine Zweiklassenbehandlung in der Arztpraxisgeben. Das ist klar, und das sagen auch die Ärztinnenund Ärzte. Wer die Wartezeiten für gesetzlich Versi-cherte verringern will, muss die Zweiklassenmedizin be-seitigen und an die private Krankenversicherung heran.
Es heißt dann, das ginge nicht, weil in der GroßenKoalition das Thema Bürgerversicherung im Koalitions-vertrag ausgeklammert werden musste. Das sehe ich an-ders. Wenn man es sozusagen zurückverfolgt, sieht man:Herr Spahn hat seine Bedenken gegen die Geschäfts-praktiken der PKV ja schon 2012 öffentlich zum Aus-druck gebracht und die Branche ermahnt, sich selber zureformieren, wozu sie allerdings nicht in der Lage ist.Bei der SPD, den Grünen und bei der Linken gibt es indieser Frage zwar im Detail Unterschiede, aber ansons-ten eine gemeinsame ablehnende Haltung. Die einzigehundertprozentige Lobbyorganisation der PKV, die FDP,ist nicht mehr im Bundestag vertreten.
Gleichzeitig nimmt die Akzeptanz und Attraktivitätder privaten Krankenversicherung in der Bevölkerungoffensichtlich ab. 2013 wanderten rund 37 000 Personenmehr in die gesetzliche ab als umgekehrt von der gesetz-lichen in die private. Immer mehr Versicherte wissen,dass die in jungen Jahren oft geringen Beiträge in derPKV mit hohen Beitragssteigerungen im Alter erkauftwerden. Ebenso hat es sich herumgesprochen, dass esauch Lücken in den Leistungsversprechen der privatenKrankenversicherung gibt und dass man im Falle vonEinkommensverlusten mit der Privatversicherung sehrschlecht dasteht. Viele Beamte und kleine Selbstständigesind mehr oder weniger unfreiwillig in der privatenKrankenversicherung und verfügen über keine hohenEinkommen. Sie drückt die Beitragsentwicklung beson-ders. Kurz: Es hat sich herumgesprochen, dass die Pri-vatversicherung nicht die erste Wahl ist. Dies ist eigent-lich ein günstiges Umfeld, diese Frage wieder auf dieTagesordnung zu setzen und damit tatsächlich einen gro-ßen Schritt gegen eine Mehrklassenmedizin zu tun.
Nun kommt immer wieder das Argument, das sei ver-fassungsrechtlich gar nicht möglich und entsprechendausgestaltbar.
Da empfehle ich Ihnen: Lesen Sie unseren Antrag ein-mal genau! Wir gehen auf diese Bedenken durchaus ein.Im Übrigen sind diese Bedenken hinsichtlich der verfas-sungsrechtlichen Problematik nicht ganz nachvollzieh-bar, wenn Sie bei anderen Gesetzesvorhaben diesesRisiko der Verfassungstauglichkeit ziemlich vorsätzlichignorieren.
Heute Mittag beraten wir beispielsweise über das Gesetzzur Tarifeinheit, das ein sehr schönes Beispiel dafür ist.Es gibt zwei Gutachten, die sehr starke verfassungs-rechtliche Bedenken formulieren. Es gibt auch Unions-abgeordnete, die in einer anderen Eigenschaft dagegenklagen werden. Ich erinnere auch an das Bundeswahlge-setz und die Hartz-IV-Regelsätze. Beides wurde gegenBedenken durchgesetzt und vom Bundesverfassungsge-richt kassiert. Das geht mehrmals im Jahr so.
Ich nehme Ihnen also nicht ab, Sie würden Anträgedeshalb nicht unterstützen, weil verfassungsrechtlicheBedenken bestehen; denn da haben Sie wenig Skrupel.Wenn es Ihnen also nicht um Lobbyinteressen für dieprivate Krankenversicherung geht, dann sollten wir jetzt
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8583
Harald Weinberg
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die Chance nutzen, dieses international einmalige undabsurde Nebeneinander von zwei Krankenversiche-rungssystemen zu beenden.
Das ginge auch unterhalb oder außerhalb eines Modellseiner Bürgerversicherung. Dazu haben wir den Antragvorgelegt. Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen.
Karl Lauterbach erhält nun das Wort für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal darf ich auch im Namen unse-rer Fraktion Minister Gröhe eine gute Besserung wün-schen.
Ich hoffe, dass er sich rasch erholt. Ich kann bezeugen,dass er schon stark kränkelnd noch bis Dienstagmorgenan diesem Gesetzentwurf gearbeitet hat. Er hat sozusa-gen seine letzte gesunde Sitzung mit uns verbracht. Da-für an dieser Stelle vielen Dank.Wir werden bei diesem GKV-Versorgungsstärkungs-gesetz folgende Philosophie beachten: Das deutsche Ge-sundheitssystem hat sehr viele Stärken. Sehr vieles hatsich bewährt. Wir wollen das Bewährte besser machen.Wir wollen nicht die Grundsätze des Systems infragestellen. Von daher ist es ein System, welches ständig re-formiert wird, welches wächst, welches international be-achtet wird und mittlerweile ein Vorbild für die Refor-men von Gesundheitssystemen in aller Welt gewordenist. Aber wir haben in diesem System Probleme. Wirwollen diese Probleme pragmatisch, unbürokratisch undkonkret angehen. Das ist der Grund, weshalb ich glaube,dass dieses Gesetz seinen Namen verdient. Es ist einechtes GKV-Versorgungsstärkungsgesetz.
Die drei Probleme, auf die wir eingehen, sind wiefolgt zu beschreiben:Erstens. Wir haben in Deutschland im Vergleich zurZahl der Fachärzte relativ wenige Hausärzte. Die Zahlder Fachärzte steigt, die Zahl der Hausärzte sinkt etwas.Das erste Problem ist also eine Fehlverteilung zwischenHausärzten und Fachärzten.Das zweite Problem ist: Wir haben eine ausgespro-chen ungleiche Arztverteilung. Die Ärzte sind oft dortgeballt zu finden, wo die Lebensqualität aus der Sichtvon Patienten und Ärzten als höher empfunden wird: inden Großstädten, insbesondere in den wohlhabendenTeilen der Großstädte. Wir haben eine zunehmende Un-terversorgung in ländlichen Gebieten und in den Vor-städten. Wir haben eine im europäischen Vergleich be-sonders hohe Arztdichte – es gibt nur ein europäischesLand, das eine noch höhere Arztdichte hat als Deutsch-land –, gleichzeitig aber eine Unterversorgung in ländli-chen Gebieten und in den Vorstädten. Das ist das zweiteProblem, welches wir angehen.Das dritte Problem ist: Wir haben an der Schnittstellezwischen ambulanter und stationärer Versorgung sehrviele Übergangsprobleme.Diese drei Probleme wollen wir mit über 20 konkre-ten Maßnahmen angehen. Wegen der Kürze der Zeitkonzentriere ich mich nur auf ein paar wichtige, um dasSystem zu illustrieren.Ich fange mit der Kritik von Herrn Weinberg an. HerrWeinberg sagte, das Hauptproblem sei die große Zahlvon Privatversicherten in Deutschland, die im Altermehr bezahlen müssten, als erwartet worden sei. Das istnicht ganz falsch. Aber falsch ist, dass wir dagegennichts tun. Derzeit ist es so, dass viele Arztsitze in über-versorgten Gebieten dort nur wegen der hohen Zahl vonPrivatpatienten weiterverkauft werden; denn mit weni-gen Privatpatienten kann man in einer überversorgtenRegion in kürzerer Arbeitszeit zum Teil mehr Gewinnmachen als in einer Versorgerpraxis in der Vorstadt. Wastun wir dagegen? Wir sorgen dafür, dass ein solcherArztsitz demnächst von den Kassenärztlichen Vereini-gungen zurückgekauft werden muss, um dann in derVorstadt eröffnet zu werden. Das ist schon eine Lösungdieses Problems. Es ist dann unmöglich, sich dort nie-derzulassen, wo es – auch weil es dort viele Privatpatien-ten gibt – schon zu viele Ärzte gibt. Ein solcher Arztsitzwird dann in eine unterversorgte Region in der Vorstadtoder auf dem Land verlagert. Das ist doch eine sinnvolleMaßnahme, meine sehr verehrten Damen und Herren.Das ist der einzige Weg, die Ärzte unbürokratisch undkurzfristig besser im Land zu verteilen.
Eine weitere Maßnahme ist die Einrichtung der Ter-minservicestellen. Jeder in Deutschland hat demnächstdie Möglichkeit, innerhalb von vier Wochen einen Fach-arzttermin zu bekommen. Es gibt eine Nummer, die mananruft. Dort wird dann ein Termin bei einem niedergelas-senen Facharzt vermittelt. Kann ein solcher Termin nichtvermittelt werden, dann bekommt man einen Termin ineiner Klinik und kann dort in die Ambulanz gehen. Manhat somit die Sicherheit, innerhalb von vier Wochen ei-nen Facharzttermin zu bekommen. Das ist etwas, waswir benötigen. Das ist etwas, was wir angesichts der ho-hen Facharztdichte, die wir in Deutschland in den Klini-ken und bei den niedergelassenen Ärzten haben, darstel-len können. Wir sorgen also für eine unbürokratischeVerbesserung des Zugangs der Patienten, die einen Fach-arzttermin benötigen, und zwar innerhalb von vier Wo-chen.
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8584 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Karl Lauterbach
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Eine weitere sehr wichtige Maßnahme, die wir durch-führen, ist: Wir verbessern den Zugang zu unserenHochschulkliniken. Wir haben in Deutschland sehr leis-tungsfähige Hochschulkliniken. Sie versorgen einen gro-ßen Teil der ambulanten Fälle, insbesondere der komple-xen, der komplizierten Fälle. Sie werden dafür aberunterbezahlt. Sie machen mit jedem dieser Patienten imDurchschnitt einen Verlust; das ist natürlich nicht hinzu-nehmen. Dieser Verlust wird durch die stationären Ein-nahmen kompensiert. Wir vergüten die Hochschulklini-ken jetzt in einer Art und Weise, dass sie kostendeckendarbeiten. Wir vereinfachen auch dort den Zugang. Wirvereinfachen die Ermächtigungen dieser Kliniken. Wirvereinfachen im Prinzip die Nutzung unserer Hochschul-medizin, und zwar bei Qualität und Quantität. Auch dasist für viele Patienten eine deutliche Verbesserung desAngebotes. Das, was wir hier gemacht haben, war über-fällig und wird von den Patienten, aber auch von denÄrzten gewünscht.
Wir werden die Organisation im Hinblick auf chro-nisch Kranke, die an Depressionen oder Rückenleidenerkrankt sind, was zu massiven Beeinträchtigungen derLebensqualität und zu hohen volkswirtschaftlichen Ver-lusten führt, verbessern. Für sie führen wir die bewähr-ten Chronikerprogramme, die wir schon für Zucker-kranke und für Herzkranke anbieten, ein. Auch das isteine unbürokratische Verbesserung der Versorgung. Wirwerden ferner die Regelungen für qualitätsorientierte Se-lektivverträge verbessern.Ich komme zum Schluss. Zusammengefasst ist daseine Reform nicht gegen Ärzte, sondern das ist eine Re-form für Ärzte und für Patienten.
Wir verbessern die Möglichkeiten für Ärzte, sich dortniederzulassen und dort zu arbeiten, wo sie unter denheutigen Bedingungen gerne arbeiten und wo ihre Ar-beitszeiten ihren Lebensvorstellungen angepasst werdenkönnen. Außerdem verbessern wir den Zugang zu Quali-tät und zur Erreichbarkeit in unserem System. Insofernist das aus meiner Sicht ein Gesetz, das seinen Namenverdient: eine GKV-Versorgungsstärkung.
Harald Terpe ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich schließe mich natürlich den gutenWünschen für den Minister an, obwohl ich das nicht als„kränkeln“ bezeichnen würde, Karl, denn „kränkeln“ istein Begriff, der fast nichtmedizinisch ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass dieKoalition mit ihrem Gesetzentwurf den zentralen He-rausforderungen des Gesundheitssystems der kommen-den Jahre ausweicht. Es liegt ein seitenstarker Gesetz-entwurf voller kleinteiliger ministerialer Routine vor.Der Gesetzentwurf spiegelt aber auch den kleinmütigengesundheitspolitischen Gestaltungsanspruch der GroßenKoalition wider.
Hier und da werden kleine Verbesserungen vorge-schlagen, die zu begrüßen sind. Ich werde darauf einge-hen. Hier und da werden aber auch unzulängliche Kor-rekturen vergangener eigener Fehler vorgenommen.Auch darauf werde ich eingehen. Die notwendigen Re-formen der Versorgungsstruktur werden insgesamt je-doch auf die lange Bank geschoben.
So fehlen dringend benötigte Regelungen zu einer breitgetragenen regionalen Verantwortung zur Stärkung derVersorgung, insbesondere in ländlichen Räumen und insozial benachteiligten Stadtteilen. An dieser Stelle seimir eine kurze Anmerkung gegönnt. Es gibt den Sicher-stellungsauftrag der KBV. Das genannte Problem istaber nie gelöst worden. Ich glaube, wir lösen das Pro-blem nur, wenn wir die Verantwortung regional breiteraufstellen.
Das Gleiche gilt für das prekäre fortgesetzte Scheiternbei der Reform der Bedarfsplanung. Im Falle der Arzt-sitze zum Beispiel werden damit sogar Ihre eigenenZiele torpediert. Kollege Lauterbach hat schon etwas zurArztsitzverteilung gesagt. Es ist nun einmal so, dass dieBedarfsplanung auf völlig veralteten Zahlen und nichtauf der realen Krankenlast beruht. Dies führt zu Un-gleichgewichten bei der Arztsitzverteilung.Ich glaube, es ist vielleicht doch zu positiv gedacht,dass man einfach sagt: Wir vertrauen wieder auf die glei-che KBV, die den Sicherstellungsauftrag hat, die aberder Bedarfsplanung nicht nachgekommen ist, um dieseungleiche Arztverteilung zu beseitigen.Nun aber zu den sinnvollen Regelungen. Ich will einpaar Beispiele nennen. Natürlich werden wir Grüne ei-ner Nutzenbewertung beispielsweise von Medizinpro-dukten der hohen Risikoklassen zustimmen. Das ist imÜbrigen eine Sache, die in den vergangenen Jahren ins-besondere von der Union immer wieder torpediert wor-den ist. Wir haben in der vergangenen LegislaturperiodeVorschläge hierzu gemacht. Insofern freue ich mich,dass wir das jetzt gemeinsam durchsetzen können. Na-türlich ist die Förderung der Weiterbildung für Hausärzteeine wichtige Sache. Die Aufstockung auf 7 500 Stellenbegrüßen wir ausdrücklich. Es wird Zeit, dass wir bei derWeiterbildung der Hausärzte vorankommen.
Sie haben Ihre zentralen Projekte genannt. Sie habenzum Beispiel auf den Innovationsfonds abgehoben. Dasist auch nur die Korrektur eines vergangenen Fehlers.Bis 2008 gab es in Bezug auf die Anschubfinanzierungfür die integrierte Versorgung nämlich Vergleichbares.Sie legen jetzt einen Innovationsfonds auf, der mit we-
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Dr. Harald Terpe
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sentlich geringeren Mitteln ausgestattet ist und wiede-rum nicht die Evaluation der ehemaligen integriertenVersorgung berücksichtigt. Damit sorgen Sie wieder fürdie gleiche Situation: Es können Anträge gestelltwerden. Aber das, was eigentlich nötig wäre, dass manbeispielsweise Modellregionen für eine populations-orientierte integrierte Versorgung schafft, auch für be-nachteiligte Gruppen, lassen Sie vermissen.
Nun zu der Frage, wer hier Antragsteller sein darf. Ichdenke, in Zukunft sollten Regionen und Kommunen An-tragsteller sein; das ist eine Herausforderung. Abergerade das wird vernachlässigt. Stattdessen gibt es Hin-weise darauf, dass Pharmaunternehmen und Medizin-produktunternehmen Anträge stellen können. Das deutetdarauf hin, dass es in Ihrem Gesetzentwurf zwar auchum Innovationen geht, aber nicht um die Innovationen,die man für eine vernünftige Versorgungsstrukturbraucht.
Ein paar kurze Ausführungen zum Zweitmeinungs-verfahren. Sie sehen hier eine Regelung vor, die sichvordergründig an ökonomischen Kriterien orientiert. Wirsagen: Man muss überdenken, ob das ethisch so vertret-bar ist. Bei Zweitmeinungsverfahren muss es nämlichprimär um die Frage gehen: Was ist gut für den Patien-ten?
Deshalb muss man das als allgemeinen Anspruch bzw.Patientenrecht gestalten. Das macht auch Sinn im Hin-blick auf die ökonomische Gestaltung der Versorgungs-struktur. Darüber können wir uns in der parlamentari-schen Diskussion gerne auseinandersetzen.Zur Versorgung von Menschen mit Behinderung. Siemachen hier einige Vorschläge, die sinnvoll sind. AlsBeispiele nenne ich die Mitaufnahme in Hausarztver-träge, die Barrierefreiheit von Krankenhäusern und Re-gelungen zur Zahnprophylaxe. Es fehlt hier aber ein um-fassender Ansatz. Ich erinnere an das Trauerspiel in derparlamentarischen Diskussion, als es um unseren Antragging, und denke hier insbesondere an die Kollegen derUnionsfraktion. Ich denke, wir sollten in der parlamenta-rischen Anhörung zu unserem Antrag versuchen, Vor-schläge zu finden, die wir in dem Entwurf eines Versor-gungsstrukturgesetz berücksichtigen können.
Zur Wartezeitenregelung. Es ist völlig richtig, dassder Anlass für die Diskussion um Wartezeiten nicht dieFrage war, ob Kassenpatienten hier und da lange warten,sondern die Tatsache, dass sie im Durchschnitt längerwarten als die Privatpatienten. Dieses Problem wird mitder Wartezeitenregelung überhaupt nicht gelöst.
Ich glaube, auch ansonsten haben Sie zu viel Hoffnung;denn Sie gehen den Ursachen dieser Wartezeiten nichtauf den Grund. Hier haben wir noch einen erheblichenNachholbedarf.Damit bin ich wieder bei dem, was Sie mit diesemVersorgungsstrukturgesetz überhaupt nicht erreichen,nämlich eine Verbesserung bzw. Reform der Bedarfspla-nung.
Natürlich gibt es bei bestimmten FacharztprofessionenEngpässe, und Sie werden mit keiner Serviceterminstelledagegen ankommen. Ich frage mich in Bezug auf dieServiceterminstellen auch: Werden diejenigen, die sicham besten artikulieren können, einen Termin zulastenderer bekommen, die sich nicht so gut artikulieren kön-nen? Das ist eine Frage, die wir zumindest stellen müs-sen und die auch beantwortet werden muss.
Wir legen Ihnen zu diesem Gesetzentwurf einen eige-nen Antrag vor. In diesem konzentrieren wir uns auf diewesentlichen Punkte. Einige habe ich schon genannt: dieReform der Bedarfsplanung – das ist sehr wichtig –, dieOrganisation der sektorenübergreifenden Versorgungund Verbesserungen bei dem von Ihnen richtigerweisevorgeschlagenen Innovationsfonds. Das, was Sie hierleisten, kann noch nicht alles sein. In diesem Sinne freueich mich auf die parlamentarische Diskussion und hoffe,dass wir noch eine ganze Reihe Verbesserungsvor-schläge unterbringen können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wennder Redner der größten Oppositionsfraktion hier nichtsanderes macht, als die alte Kampflinie zwischen privaterund gesetzlicher Krankenversicherung erneut zu ziehen,also gar nicht zum Thema spricht,
lässt das nur einen Schluss zu: Der vorliegende Gesetz-entwurf muss gut sein.
Sie haben auch etwas Richtiges gesagt, HerrWeinberg, nämlich dass wir uns in einer bemerkenswertguten Finanzsituation befinden. Die Finanzreserven imGesundheitsfonds betragen 12 Milliarden Euro und dieReserven der Krankenkassen etwa 16 Milliarden Euro.
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8586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Georg Nüßlein
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Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Sie würdedas veranlassen, die Ausgabendisziplin aufzukündigen.Wir nutzen die Chance, über Verbesserungen der Versor-gung zu diskutieren und dazu etwas auf den Tisch zu le-gen.Nun hat Herr Terpe die Kleinteiligkeit in diesem Ge-setzentwurf gerügt. Er hat diesen Entwurf erfreulicher-weise aber auch gelobt. Natürlich wird mit diesem Ge-setzentwurf an vielen Stellen eingegriffen. Der KollegeLauterbach hat recht, wenn er sagt: Wir haben eine aus-gesprochen gute Versorgung. Wer das nicht glaubt, kanndas an der sicheren Rückführung aus dem Ausland imKrankheitsfall ablesen. Denn wenn jemand im Auslandkrank wird, hat er nur noch einen Gedanken: Wiekomme ich zurück nach Deutschland?
– Schreien Sie doch nicht so laut! Hören Sie zu; daswäre nicht falsch. Vielleicht lernen Sie tatsächlich nochetwas.
– Sie ist aber wahr. – Es geht darum, dafür Sorge zu tra-gen, dass es auf dem Land wieder mehr Ärzte gibt unddass Kinderärzte dahin kommen, wo die Versorgungnicht ganz so gut ist. Dazu haben wir einen umfassendenKatalog von Anreizen und finanzieller Unterstützungentwickelt.Anders als momentan in der Öffentlichkeit der Ein-druck erweckt wird, geht es uns um die Stärkung derfreiberuflich tätigen, niedergelassenen Ärzte. DiesesModell hat sich seit vielen Jahrzehnten bewährt und hatdazu beigetragen, dass die Patienten in Deutschland freieArztwahl und freien Zugang zur ambulanten medizini-schen Versorgung haben. Es gibt überhaupt keinen An-lass, dies aufzugeben und etwa die ambulante fachärztli-che Versorgung in die Krankenhäuser zu verlagern; dasmöchte ich ganz ausdrücklich sagen, damit hier nicht et-was anderes behauptet wird.Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dassdie Bereitschaft der jungen Ärzte, sich niederzulassen,zurückgeht, weil sie eine andere Vorstellung von demhaben, was man Work-Life-Balance nennt. Da hat sichetwas getan. Auch das berücksichtigen wir in diesemGesetzentwurf. Wir haben schon vorher die ErrichtungMedizinischer Versorgungszentren oder von Einrichtun-gen der Kassenärztlichen Vereinigungen erleichtert. Jetztgehen wir weiter und geben auch den Kommunen dieChance, Ärzte anzustellen. Wir sind nämlich der festenÜberzeugung, dass die Kommunalpolitiker vor Ort dieVersorgungsprobleme am besten kennen und die größteMotivation haben, die Probleme zu lösen. Deswegenwerden wir ihnen dazu die Möglichkeit geben.
Das löst das Problem allerdings nur dann, wenn auch einArzt gefunden wird, der hier mitmacht. Deshalb versu-chen wir, junge Ärzte für bestimmte Bereiche, in denenUnterversorgung besteht, zu gewinnen.Es gibt aber – auch das muss man zugeben – einiges,was man nicht gesetzlich regeln kann, zum Beispiel dieEinstellung gegenüber einer Arbeit auf dem Land unddie verbreitete falsche Erwartung, dass die Stadt angeb-lich mehr an Lebensqualität zu bieten hätte. Das kannman nicht gesetzlich regeln. Aber wir können die Vo-raussetzungen für eine Arbeit auf dem Land verbessernund dafür sorgen, dass eine ärztliche Tätigkeit im ländli-chen Raum auch ökonomisch wieder interessant wird.Wir haben das ganz zu Beginn der Legislaturperiode da-durch gemacht, dass wir die gesetzlichen Grundlagen fürdie Hausarztverträge neu geregelt haben, damit derHausarztberuf für den potenziellen Nachwuchs wiederattraktiv wird, und das wirkt auch tatsächlich.
Nun geht es darum, die Hausarztversorgung wohnort-nah zu sichern. Der ärztliche Versorgungsbedarf lässtsich aber nicht alleine mit Verhältniszahlen messen, son-dern er hängt auch von den Bedürfnissen und der Wahr-nehmung der Patienten ab.
Dabei spielen Aspekte wie die Erreichbarkeit unter an-derem mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Wartezeitenbei bestimmten Arztterminen eine entscheidende Rolle.Die derzeit geltende Bedarfsplanung ist in Teilen zuschematisch und berücksichtigt die regionalen Anforde-rungen nur unzureichend.
– Freuen Sie sich doch, wenn ich Ihnen recht gebe, HerrTerpe. –
Deswegen müssen wir uns im Fortgang unserer Politiknoch einmal damit befassen, wie wir damit umgehen.Auch die Kritik, die wir bei der Regelung zum Auf-kauf von Arztpraxen erfahren haben, hängt damit zu-sammen. Aber wir haben keine Mussbestimmung ge-schaffen, wie der Kollege Lauterbach behauptet hat,sondern es ist eine Sollregelung. Das hängt also auchvon der Zustimmung der Ärzteschaft ab; daran wollenwir nichts ändern.Wir werden im parlamentarischen Verfahren nocheinmal darüber diskutieren müssen, ab wann ein Gebietüberversorgt ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8587
Dr. Georg Nüßlein
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Das müssen wir noch einmal entsprechend debattieren,und ich glaube, dass wir zu den richtigen Lösungenkommen werden.
Herr Kollege Nüßlein, lassen Sie kurz vor Schluss Ih-
rer Rede noch eine Zwischenfrage oder -bemerkung zu?
Von wem denn?
Von Frau Klein-Schmeink.
Okay.
Bitte schön.
Danke schön. – Herr Nüßlein, Sie haben auf die Pro-
blematik der Versorgungsplanung hingewiesen. Sie ha-
ben in Ihrem Gesetzentwurf eine sehr deutliche Rege-
lung vorgesehen, nämlich dass Praxissitze nicht wieder
besetzt werden können, wenn die Unterversorgungsfest-
stellung überschritten wird.
Sie haben die Probleme schon angeführt. Es liegen in
der Tat keine wissenschaftlichen Studien dazu vor, wie
sich die Versorgung in den Regionen abbildet. Wir haben
vielmehr einen historischen Aushandlungsstand. Das
wird beispielsweise im Bereich der Psychotherapeuten
sehr deutlich, wo man einfach die Versorgung an einem
bestimmten Stichtag als Hundertprozentversorgung defi-
niert und das danach nicht weiterverfolgt hat.
Wie wollen Sie jetzt damit umgehen – Sie haben eine
Diskussion darüber angekündigt, um zu einer sachge-
rechteren Lösung zu kommen –, wenn Sie sich gar nicht
darum bemühen, ein anderes Kriterium für die Versor-
gungsplanung auf den Weg zu bringen? Davon ist in Ih-
rem Gesetzentwurf nämlich nicht die Rede; Sie haben
vielmehr eine Sollregelung geschaffen, nach der Praxis-
sitze nicht wieder besetzt werden können. Sie haben aber
keine Regelung vorgesehen, derzufolge Sie sich um bes-
sere Versorgungswerte bemühen, indem Sie die Krank-
heitslast in einer Region erfassen und die demografi-
schen Anforderungen berücksichtigen.
Haben Sie vor, das in dem Gesetz zu regeln? Das
würde uns freuen. Es würde uns auch sehr freuen, wenn
Sie insbesondere die Frage der psychotherapeutischen
Versorgung aus diesem Kontext ausklammern würden.
Denn das, was derzeit dazu im Gesetzentwurf vorgese-
hen ist, ist geradezu aberwitzig.
Frau Kollegin, zum einen eröffnen wir heute das par-lamentarische Verfahren. Das heißt, es wird genau dieseDiskussion geben, die Sie angesprochen haben. Zum an-deren sind wir nun an dem Punkt, an dem wir regelnkönnen, dass nicht 110 Prozent Überversorgung alsMaßstab zugrunde gelegt werden, sondern dass wir,wenn die Basis nicht ganz exakt ist, das meinetwegenauf 150 Prozent ausweiten.
– Das ist nur ein Beispiel. – Wir können es auf 150 Pro-zent ausweiten, um einen entsprechenden Abstand zuhaben.
– Ich verstehe Sie nicht.Ich möchte noch einmal betonen: Es handelt sich umeine Einzelfallregelung, die genau die Aspekte berück-sichtigt, die Sie gerade angesprochen haben. Wir gehendavon aus, dass die damals angenommenen 100 Prozentnicht mehr zutreffen, wenn beispielsweise Patienten ausdem Nachbarlandkreis in eine Praxis kommen. SolcheFaktoren wird man selbstverständlich berücksichtigen.Insofern meine ich, dass das Vorhaben zwar gut ausge-staltet ist, dass wir aber insbesondere dieses Problemkurzfristig dadurch lösen können, dass wir die Überver-sorgung anders definieren als bisher im Gesetzentwurf.
Diese Vorschläge jedenfalls werden wir prüfen.Was die Terminservicestellen angeht, möchte ichdeutlich unterstreichen, dass diese das Thema sind, dasdie Leute draußen am meisten bewegt. Da werden wiram Erfolg gemessen. Deshalb sollten wir alles daranset-zen, dass diese tatsächlich Wirkung entfalten. Aber wirsollten uns im parlamentarischen Verfahren noch einmalGedanken machen, wie man in dieses System das ein-baut, was in verschiedenen Regionen inzwischen schonfunktioniert.Ich glaube, dass wir beim Innovationsfonds mittler-weile eine gute Lösung gefunden haben. Wir werden dasso austarieren, dass wir nicht nur jährlich 300 MillionenEuro zur Verfügung stellen, sondern dass am Schlussauch etwas dabei herauskommt, dass die Projekte richtigausgewählt werden und dass ein Expertengremium ein-gesetzt wird, das das Notwendige tut. Wir sind auch daauf einem guten Weg. Ich freue mich auf die Beratungenüber ein ausgesprochen gutes Gesetz, das die Versor-gung in Deutschland ein ganzes Stück voranbringenwird.Vielen herzlichen Dank.
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8588 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
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Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Wöllert für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe
Zuschauerinnen und Zuschauer, ich denke vor allem für
Sie – so habe ich die Frau Staatssekretärin verstanden –
und für Ihre bessere Versorgung sollte dieses Gesetz ge-
macht werden. Bei Ihrer Rede, Kollege Nüßlein, habe
ich angefangen, daran zu zweifeln. Denn Sie haben fast
wörtlich gesagt: Worum es uns bei diesem Gesetz geht,
ist die Stärkung der freiberuflich niedergelassenen Ärzte. –
Ich glaube, Ihre Betonung lag da noch auf dem Wort
„niedergelassen“; denn das Wort „freiberuflich“ – das
sollte man noch einmal sagen; das wird immer so kriti-
siert – meint auch die Diagnose- und Therapiefreiheit.
Die gewähren auch angestellte Ärzte. Das sollten wir
vielleicht ganz deutlich machen.
Auch von mir noch einmal gute Wünsche an den Ge-
sundheitsminister und gute Besserung. Für diesen Ge-
setzentwurf wünsche ich mir auf dem Weg zum Gesetz
noch viele Verbesserungen; sie sind einfach dringend
notwendig.
Zunächst einige Schlagzeilen der letzten Wochen. Am
18. Februar 2015 schreibt die Ärztezeitung:
Ärztemangel erreicht die Städte. Die Stadt Wolfs-
burg lockt mit 50 000 Euro für neue ärztliche Nie-
derlassungen. Ein großes Hindernis: Es gibt doch
dort fast nur noch gesetzlich Versicherte.
Am 10. Februar 2015 meldet die Frankfurter Rund-
schau für Darmstadt-Dieburg: 35 Medizinerinnen und
Mediziner hören in diesem Jahr auf; schon jetzt fehlen
14 Hausärztinnen und Hausärzte. Der dortige Landrat
hat ein Konzept entwickelt: Alle Aufgaben – Haus- und
Fachärztemangel, defizitäre Kliniken im Wettbewerb
und die sich wandelnde Pflege im Alter – sollen mitei-
nander verknüpft betrachtet werden. – Vorbildlich! Das
wäre ein Beispiel für die Bundesregierung.
Am 15. Februar 2015 schreibt die Zeitung Am Sonn-
tag:
Horror-Szenario Ärztemangel.
Der durchschnittliche Hausarzt in Bayern ist …
54,3 Jahre alt und männlich. Im Raum Pocking und
Vilshofen liegt der Schnitt sogar bei ziemlich genau
59 Jahren.
Warum nenne ich diese Beispiele? Nicht aus Panik-
mache, sondern weil das Problem schon längst nicht
mehr nur ein ostdeutsches ist. Es hat sogar die reichen
Länder Bayern, Hessen und auch Niedersachsen er-
reicht.
Bei mir in Brandenburg ist dieses Thema seit neun
Jahren spruchreif. Seit dieser Zeit reden wir darüber. In
meinem Bundesland Brandenburg sind von den 46 Mit-
telbereichen – das ist die Planungsgröße für die Haus-
ärzte – 13 Bereiche bereits von Unterversorgung betrof-
fen oder bedroht. Es gibt insgesamt 30 Bereiche, die
offene Stellen für Hausärztinnen und Hausärzte haben.
In meinem Landkreis Spree-Neiße ist es noch prekärer.
Da gibt es überhaupt keinen Bereich mehr mit einer 100-
prozentigen Versorgung. Ähnlich sieht es bei den Fach-
ärztinnen und Fachärzten aus. Ich nenne als Beispiel die
Augenheilkunde. Nach der regionalen Planungskennzif-
fer ist ein Augenarzt für 20 349 Einwohner vorgesehen.
Vorgeschrieben sind sieben Fachärzte für Augenheil-
kunde, um eine 100-prozentige Versorgung zu gewähr-
leisten; fünf haben wir nur. Nun wissen Sie, wo die Pro-
bleme liegen.
Der Landrat in Hessen, den ich vorhin zitierte, hat
also ein mutiges Konzept entwickelt. Das würde ich der
Bundesregierung sehr gerne noch einmal ans Herz legen.
Denn 2012 wurde zwar das Landärztegesetz verabschie-
det, dies hat uns aber nicht mehr Landärzte beschert.
Deshalb brauchen wir jetzt auch kein Versorgungsstär-
kungsgesetz, das uns keine tatsächliche Stärkung der
Versorgung bringt. Da haben wir einfach noch viel zu
tun.
Es gibt ein paar Dinge, die auszubauen sind. Ich hoffe
sehr, dass der Fonds, den wir dann haben, tatsächlich für
Versorgungsforschung genutzt wird. Ich glaube, wir ha-
ben in unserem Antrag zur Bedarfsplanung gute Vor-
schläge gemacht. Es gibt genauso gute Vorschläge im
Antrag der Grünen. Sollte das alles in unsere Diskussion
einfließen und dann am Ende auch noch mit Ergebnissen
verziert werden, könnte doch noch ein gutes Versor-
gungsstärkungsgesetz zustande kommen.
Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Sabine
Dittmar das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-gen! Das Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, hat zum Ziel,die medizinische Versorgung auf hohem Niveau zu si-chern. Dabei sind mir drei grundsätzliche Aspekte be-sonders wichtig:Erstens. Die medizinische Versorgung in Deutschlandmuss flächendeckend, bedarfsgerecht und gut erreichbarsein. Das gestaltet sich in ländlichen Regionen immerschwerer.Zweitens. Die medizinische Versorgung muss quali-tätsorientiert, evidenzbasiert und leitliniengerecht sein.Die Patientinnen und Patienten müssen sich darauf ver-lassen können, dass Diagnostik und Therapie nur dem
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Sabine Dittmar
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gesundheitlichen Wohl dienen und nicht ökonomisch be-gründet sind.Drittens. Wir müssen dem Wunsch der Patienten nacheiner vernetzten, nach einer koordinierten Behandlungohne Versorgungsbrüche gerecht werden. Auch das wirdangesichts des spezialisierten Behandlungsangebotesimmer schwieriger.Deshalb ist es legitim und auch notwendig, wenn wiruns der bedarfsgerechten Verteilung der Ärztinnen undÄrzte annehmen. Wenn ich in meine Heimatregionschaue, dann muss ich feststellen, dass es der Kassen-ärztlichen Vereinigung immer schwerer fällt, dem Gan-zen gerecht zu werden; das haben uns schon Vorrednerbestätigt. Bei mir zu Hause, in Schweinfurt-Nord, gibt esseit über einem Jahr eine dokumentierte anhaltende Un-terversorgung; zehn Hausarztsitze sind nicht besetzt, ste-hen also zur Verfügung. Nebenan, im PlanungsbereichSchweinfurt-Süd, gibt es nicht nur eine Regelversor-gung, sondern sogar eine Überversorgung. Deshalb,denke ich, ist es notwendig, dass wir uns mit einergleichmäßigen Verteilung beschäftigen, dass wir uns derUnterversorgung und der Überversorgung widmen.Gegen die Unterversorgung haben wir in der Vergan-genheit schon einiges getan. Ich nenne hier folgendePunkte: Flexibilisierung der vertragsärztlichen Tätigkeit,Einrichtung eines Strukturfonds, Aufhebung der Resi-denzpflicht, Aufhebung von Budgetgrenzen. Auch durchdie Verabschiedung des vorgelegten Gesetzentwurfswerden die Einsatzmöglichkeiten erweitert. Das gehtvon einer Erweiterung des Strukturfonds bis hin zur De-legation. Wir geben den Kassenärztlichen Vereinigungenalso Werkzeuge an die Hand. Aber wir erwarten von die-sen auch, dass sie diese Werkzeuge zum gezielten Abbauvon Überversorgung einsetzen. Aus diesem Grund wer-den wir sie in die Verantwortung nehmen.Wir werden darauf Wert legen, dass man sich in Pla-nungsbereichen, die zu über 110 Prozent versorgt sind,bei einer Nachbesetzung intensiv mit der Versorgungs-situation vor Ort auseinandersetzt, dass man genauhinschaut, welchen Versorgungsauftrag eine Praxiswahrnimmt, wie die Patientenströme aus anderen Pla-nungsbereichen sind, welche spezielle Qualifikationman braucht; die Staatssekretärin hat die Rheumatologenschon angesprochen. Danach wird entschieden. Brauchtman eine Praxis aus Versorgungsgründen, dann wird sienachbesetzt. Braucht man eine Praxis aus Versorgungs-gründen nicht, dann wird sie aufgekauft. Das ist keinAutomatismus, das ist auch keine Rasenmähermethode,die bei einem Versorgungsgrad von 110 Prozent die ärzt-liche Versorgung plattmacht, sondern das ist die Über-nahme von Verantwortung zur Gewährleistung eines ge-rechten Zugangs zur ärztlichen Versorgung.
Deshalb verstehe ich – lassen Sie mich das in allerDeutlichkeit sagen – den kollektiven Aufschrei aus derverfassten Ärzteschaft nicht. Ich halte ihn für nicht ange-bracht. Er verunsichert Patienten und Ärzte gleicherma-ßen.
Die Debatte um Über- und Unterversorgung hat ge-zeigt, dass die Bedarfsplanungsrichtlinie nicht dentatsächlichen Versorgungsbedarf widerspiegelt. Ichschließe mich da dem Sachverständigenrat an, der eineempirische Studie zur Bedarfsermittlung einfordert, da-mit wir neben Demografie Morbidität, sozioökonomi-sche Faktoren, Infrastruktur sowie konkrete Versor-gungsleistungen berücksichtigen können.
Ich muss hier sagen, dass ich dem Bundesrat für sei-nen Antrag zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanungdankbar bin. Auch begrüße ich es, dass die Bundesregie-rung zugesagt hat, diesen zu prüfen. Die Aussagen desKollegen Nüßlein hier am Pult geben mir ein bisschenHoffnung, dass wir vielleicht auch ohne Vereinbarungim Koalitionsvertrag bei diesem Punkt weiterkommenwerden.
Die ganze Planung bringt uns aber nichts, wenn esuns nicht gelingt, auch die jungen Mediziner für die am-bulante Tätigkeit zu begeistern. Die klassische Einzel-kämpferpraxis hat an Attraktivität verloren. Die jungenKolleginnen und Kollegen möchten im Team arbeiten.Sie möchten geregelte Arbeitszeiten, und sie achten aufihre Work-Life-Balance. Genau deshalb werden wirnicht nur neue, innovative, sektorenübergreifende Ver-sorgungsformen fördern, sondern auch kooperative Ver-sorgungsformen wie MVZ, Medizinische Versorgungs-zentren, sowie Ärztenetze entbürokratisieren undflexibilisieren.Lassen Sie mich auf einen weiteren wichtigenSchwerpunkt dieses Gesetzes eingehen, nämlich auf dieFörderung der Allgemeinmedizin. Wir gestalten sie nichtnur verlässlicher, rechtssicherer, sondern wir entwickelnsie weiter. Es ist schon erwähnt worden, dass wir dieZahl der zu fördernden Stellen auf 7 500 erhöhen wer-den. Auch werden wir festlegen, dass die Vergütung desWeiterbildungsassistenten einer tarifvertraglichen Ver-gütung im Krankenhaus zu entsprechen hat. Auch das isteine wichtige Maßnahme. Ich möchte hier aber in allerDeutlichkeit sagen: Es muss uns dann auch gelingen,diese 7 500 Stellen mit weiterbildungswilligen Medizi-nern zu besetzen. Das Interesse an Weiterbildung wirdbereits im Studium geweckt. Deshalb sehe ich hier demStart der Arbeitsgruppe „Masterplan Medizinstudium2020“ mit einer gewissen Ungeduld entgegen.
Das Gesetz regelt noch eine ganze Menge mehr, zumBeispiel den Zugang zur Versorgung und die Leistungs-ausweitung. Darauf wird meine Kollegin Hilde Mattheisanschließend noch eingehen.
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8590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Sabine Dittmar
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Abschließend stelle ich fest: Wir haben einen Gesetz-entwurf vorgelegt, welcher der Dynamik, der Verbesse-rung und der Stärkung der Versorgung gerecht wird. Inder parlamentarischen Debatte wird sicherlich an der ei-nen oder anderen Stelle noch zu diskutieren sein, wieman manches praxistauglicher oder auch bürokratieär-mer gestalten kann. Auf diese Debatte freue ich mich.Danke für die Aufmerksamkeit.
Jens Spahn erhält nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasVersorgungsstärkungsgesetz, über dessen Entwurf wirheute in erster Lesung beraten, fügt sich in eine Reihevon gesetzlichen Veränderungen ein, die wir in den letz-ten Jahren begonnen haben, um die ärztliche bzw. diemedizinische Versorgung insgesamt im ländlichen Raumund in anderen Gebieten – durchaus auch in bestimmtenStadtteilen; es ist nicht nur ein Problem des ländlichenRaums – zu verbessern und dafür zu sorgen, dass sie inZukunft auf hohem Niveau bleibt.Dabei müssen wir feststellen, dass Geld allein – mankönnte sagen: dann zahlt doch mehr auf dem Land – dasProblem nicht löst. Ein Hausarzt zum Beispiel in Meck-lenburg-Vorpommern kann heute in ländlichen Regionenrichtig gut verdienen. Trotzdem ist es schwierig, jeman-den zu finden, der sagt: Ich will deine Arztpraxis über-nehmen. – Warum? Weil es offensichtlich nicht nur da-rum geht, viel Geld zu verdienen, sondern auch darum,unter welchen Bedingungen Geld verdient wird: Wie ofthabe ich am Wochenende Notdienst? Wie weit muss ichfahren, wenn ein Hausbesuch ansteht? Sind es 30 oder40 Kilometer? Bin ich der einzige Arzt weit und breit,der praktisch rund um die Uhr im Einsatz ist? – Deswe-gen reicht es nicht, nur über Geld zu reden, sondern wirbrauchen ein Bündel von Maßnahmen. Es gibt nicht deneinen Hebel, mit dem das Problem behoben werdenkann. Genau da gehen wir mit diesem Gesetz heran.Herr Weinberg und Herr Terpe, Sie werfen uns vor,dass das Gesetz ein Bündel an Maßnahmen beinhaltet.Dazu muss ich sagen: Wenn das ein Vorwurf sein soll,dann haben Sie das Problem nicht verstanden. Es gibtnicht die eine Lösung, sondern wir brauchen breit ange-legt viele verschiedene Maßnahmen, um die Tätigkeit imländlichen Raum wieder attraktiv zu machen. Wenn Sieuns das vorwerfen, haben Sie schlicht und ergreifend dasProblem nicht verstanden.
Wir gehen eine ganze Reihe von Themen an:Die Notdienste: Wir wollen durch klarere Abspracheneine bessere Kooperation mit den Notfallambulanzen derKrankenhäuser und dem Apothekennotdienst erreichen.Die Hausbesuche: Wir wollen es möglich machen,dass nicht nur in unterversorgten Regionen, sondern inallen Regionen entsprechend ausgebildete Pflegekräftezu Routinehausbesuchen geschickt werden, zum Bei-spiel wenn es um die Messung von Blutdruckwertenoder das Wechseln eines Verbandes geht.Wir machen es möglich, auch in anderen Bereichenangestellt tätig zu sein; denn viele der jungen Ärztinnenund Ärzte wollen nicht auch in betriebswirtschaftlicherHinsicht selbstständig und für die Praxis verantwortlichsein. Deswegen erleichtern wir den Kommunen das Be-treiben von Medizinischen Versorgungszentren, obwohl– auch das will ich an dieser Stelle sagen – es für uns ei-nen hohen Wert hat, dass es selbstständig tätige Haus-wie Fachärzte gibt. Das ist ein Beleg für die Qualitätund das Engagement im Bereich der ambulanten Versor-gung. Das ist ein Qualitätsmerkmal der Versorgung inDeutschland.
Herr Weinberg, die Menschen beschäftigt diesesThema. Ich komme aus einem Dorf mit 3 700 Einwoh-nern. Dort gibt es den Arzt, den Apotheker, den Pastor,den Kaufmann und den Lehrer, die das gesellschaftlicheLeben und die Infrastruktur im Dorf mitbestimmen.
– Sie können darüber Witze machen; aber damit zeigenSie nur, dass Sie das dörfliche Leben nicht kennen. Obman im Dorf zum Hausarzt gehen kann, ob man vor Ortdie Dinge des täglichen Lebens einkaufen kann und obes eine Grundschule gibt, das sind Fragen, die die Men-schen beschäftigen.
Sie haben nicht ein Wort dazu gesagt. Sie haben hierminutenlang über die Tagesordnung des heutigen Tages,über Hartz IV und über das Verfassungsgericht geredet.Aber zu der Versorgung im ländlichen Raum, zu demThema, das die Menschen beschäftigt, haben Sie keinWort gesagt.
Das zeigt einmal mehr, dass Sie danebenliegen, wenn esum die wirklichen Probleme geht.
Das gilt auch für Ihre Äußerungen zur privaten Kran-kenversicherung. Dabei ist wieder Ihre Vorstellung vonGleichheit deutlich geworden.
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Jens Spahn
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Das ist Sozialismus: Wenn alle gleich lang warten undgleich wenig da ist, dann ist es am besten und am ge-rechtesten. Das entspricht nicht unserer Vorstellung vonguter Versorgung. Wir wollen nicht, dass es überallgleich schlecht ist.
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir in manchenBereichen lange Wartezeiten für gesetzlich Versichertehaben, weil 10 Prozent der Bevölkerung privat versi-chert sind! Glauben Sie ernsthaft, dass das das eigentli-che Problem ist?
Das zeigt doch nur, dass Sie in ideologischen Schubla-den denken.
Wir müssen am Ende schauen: Wie können wir dieSituation für gesetzlich Versicherte verbessern? Wo liegtdas Problem? In bestimmten Regionen ist das Problem,dass es in manchen Bereichen objektiv zu wenige Fach-ärzte gibt. Bei uns im Münsterland fehlen zum BeispielNeurologen. Da hilft es nichts, wenn man die Bürgerver-sicherung einführt. Da hilft es, wenn man Krankenhäu-ser, die angestellte Neurologen haben, öffnet, sodassdiese Neurologen die Patienten behandeln können. DiePatienten wollen einen Arzt sehen. Ihnen ist es egal, ober beim Krankenhaus angestellt ist oder in einer Praxistätig ist. Solche Instrumente müssen wir in den Blicknehmen.
Wir gehen auch das größte Aufregerthema im deut-schen Gesundheitswesen an. Es geht um die Frage: Wielange warte ich auf einen Facharzttermin? Natürlichweiß ich, dass Sie einem Deutschen dazu sagen können:Wenn du in Schweden oder in den Niederlanden lebenwürdest, müsstest du deutlich länger warten; dort wür-dest du fünf oder sechs Monate warten. Darauf antwortetderjenige aber: Ich vergleiche mich nicht mit den Men-schen in Schweden oder in den Niederlanden, sondernmit meinem Nachbarn; der ist Beamter und hat übermor-gen einen Termin. – Und damit hat er recht.
Das Problem lösen Sie aber nicht, indem Sie den Be-amten auch vier Wochen warten lassen.
Das Problem lösen Sie, indem Sie dem gesetzlich Versi-cherten helfen, schneller einen Termin zu bekommen.Deswegen richten wir Terminservicestellen ein, an dieman sich wenden kann.
Hier müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen mithel-fen, damit man zeitnah einen Termin in der Region be-kommt. Wir sorgen außerdem für eine größere Flexibili-tät zwischen dem niedergelassenen und dem stationärenBereich.Abschließend möchte ich auf einen Punkt eingehen,den die Kollegin Dittmar gerade angesprochen hat. Ichglaube, in dem ganzen Bündel von Maßnahmen, die wirin den letzten Jahren auf den Weg gebracht haben und inZukunft noch auf den Weg bringen werden, fehlt bisherein entscheidender Punkt. Dabei geht es um das Stu-dium: Wer studiert mit welchem Ziel Medizin? Ich finde,bei dem teuersten Studium, das wir auf Steuerzahlerkos-ten finanzieren – das ist das Medizinstudium –, könnenwir fragen: Kommt am Ende das heraus, was diese Ge-sellschaft braucht?
Wir müssen gemeinsam mit den Wissenschaftsminis-tern der Länder – weil wir als Bund das nicht alleine re-geln können – darüber reden, ob die Abiturnote das allei-nige Kriterium für das Studieren sein kann. Wir finden:Nein, wir müssen auch schauen, ob jemand vorher bei-spielsweise in einem Pflegeberuf oder als Rettungssani-täter gezeigt hat, dass er sich um Menschen kümmernmöchte. Es geht um die Frage: Wie viel Praxisbezug gibtes während des Studiums? Sieht man während des Stu-diums oder während der Weiterbildung etwas anderes alsdie Uniklinik? Kann man aktiv erleben, dass die Arbeitals Hausarzt oder in einer kleinen Klinik etwas Gutes, et-was Erfüllendes ist? Das Thema Studium ist also nochein entscheidender Punkt; da fehlt noch etwas. Deswe-gen ist es gut, dass wir uns mit den Ländern darauf geei-nigt haben, in diesem Jahr auch darüber zu reden.Sie sehen also: Während Sie hier große ideologischeReden halten, gehen wir die Themen an, die die Men-schen beschäftigen. Das tun wir genau mit diesem Ge-setz.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,wir machen dieses Gesetz für Patientinnen und Patien-ten. Wir machen es für die Menschen, die Angst haben,im Alter nicht ordentlich versorgt zu sein, die Angst ha-ben, die Versorgungsstrukturen nicht ordentlich in An-spruch nehmen zu können, weil sie in einem kleinerenDorf leben und der Bus unregelmäßig oder überhauptnicht mehr fährt. Das ist ein wichtiger Baustein unseresVersorgungsstärkungsgesetzes.
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8592 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Hilde Mattheis
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Wenn Sie den Koalitionsvertrag gelesen haben – ichbin überzeugt, dass ihn alle gelesen und auswendig ge-lernt haben –, dann wissen Sie: Wir gehen nicht nur dieReform des Medizinstudiums an; wir werden auch be-züglich der Krankenhausfinanzierung einiges regeln,was wichtig ist und diese Versorgungsstrukturen sichertund ausbaut.
All das soll dazu führen, dass wir nicht nur den Zu-gang zur Versorgung, sondern auch die Erreichbarkeitder Versorgung, die weitergehende Flexibilität der Ange-bote und natürlich auch die Verteilung der Versorgungs-kapazitäten neu regeln. Die Menschen bekommen haut-nah mit, dass wir all das sicherstellen; denn neben demBereich „Arbeit und Beschäftigung“ ist die Zukunftsangst,dass wir die Gesundheitsversorgung in einem Zwei- oderDreiklassensystem manifestieren. Das werden wir nichtzulassen.
Wir wollen, egal wo jemand wohnt, welchen Alters eroder sie ist und zu welcher Einkommenskategorie je-mand gehört, alle Zugänge möglichst barrierefrei. Wirgehen dieses Ziel in diesem Versorgungsstärkungsgesetzmit wichtigen Punkten an. Ich will auf einiges eingehen,was meine Vorrednerinnen und Vorredner schon genannthaben, zum Beispiel die sektorenübergreifenden Dinge:MVZ, Praxisnetze, Ausbau von Praxiskliniken, Öffnungder Krankenhäuser für ambulante Versorgung, der Inno-vationsfonds, den wir als SPD entfristen wollen, weil eswichtig ist. Innovation darf nicht zeitlich limitiert sein,sondern es muss klar sein: Wir wollen mit diesem Ver-sorgungskonzept die klare Botschaft setzen, dass wir mitunserem Innovationsfonds auch die Möglichkeit der Ent-wicklung geben. Alles das ist ein wichtiger Anreiz.Lassen Sie mich auf einige Punkte, die meine Kolle-gin Sabine Dittmar angekündigt hat, eingehen. Ja, wirwerden auch die Erstversorgung psychisch Kranker an-gehen. Der G-BA bekommt den Auftrag zur Überarbei-tung der Psychotherapie-Richtlinie. Wir wollen dieZugänge zur psychotherapeutischen Behandlung für Pa-tientinnen und Patienten vor allen Dingen bei der Erst-versorgung verbessern. Ist denn das gar nichts? Das warin der letzten Zeit immer ein Kritikpunkt. In der GroßenKoalition werden wir dieses angehen. Weitere Maßnah-men folgen.Wir werden als Zweites flächendeckend die Möglich-keit der Delegation ärztlicher Leistung beschließen. Ja,„Schwester AGnES“ ist ein Erfolgsmodell.
– Ja. – Wir wollen diesen Einsatz flächendeckend er-möglichen, nicht gebunden an irgendwelche Bedingun-gen. Das wertet auch nichtärztliche Gesundheitsberufeauf. Das ist ein wichtiger Baustein.Wir wollen drittens – das habe ich gerade schon ge-sagt – die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulanteVersorgung. Dazu gehören auch der Ausbau und dieStärkung der Hochschulambulanzen. Auch das ist einPunkt in unserem Gesetzentwurf.Ich will überhaupt nicht die pflegerische Übergangs-versorgung vergessen – ein wichtiger Punkt. Die pflege-rische Übergangsversorgung konnten wir zwar nicht imKoalitionsvertrag verankern, aber uns als SPD ist das einganz wichtiges Anliegen. Es ist klar, dass wir da keineVersorgungslücke akzeptieren wollen.
Das ist im Interesse der Patientinnen und Patienten.Ein nächster Punkt. Wir wollen natürlich das Entlass-management der Krankenhäuser optimieren. Es kanndoch nicht sein, dass jemand, der freitags entlassen wird,über das Wochenende, über die Tage danach nicht or-dentlich versorgt ist, sondern Probleme hat, ein Rezepteinzulösen oder Heilmittel und Hilfsmittel zu organisie-ren. Das geht nicht; das wollen wir jetzt verbessern.Es ist schon angesprochen worden – wir haben esletzte Woche angekündigt –: die Verbesserung der Ver-sorgung von Menschen mit Behinderungen. Ja, es wirdeinen Ausbau der Versorgungszentren nach dem Prinzipder Versorgung von Kindern mit Behinderungen geben.Ich finde, das ist ein wichtiger Baustein zur besserenVersorgung von Menschen mit Behinderungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte dieseBeispiele fortsetzen. Einer der Oppositionskollegen hatgesagt, der Gesetzentwurf sei „kleinteilig“. Ich muss Ih-nen sagen: Wenn diese Kleinteiligkeit dafür sorgt, dasssich Menschen in diesem Land besser versorgt fühlen,egal woher sie kommen, egal wie alt, egal welchen Ge-schlechts sie sind, dann haben wir viel erreicht. Sie soll-ten uns dabei unterstützen.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ich will nicht verhehlen, dass wir als SPD die Verant-
wortung haben, zu sagen: Ja, wir wollen, dass die Mehr-
ausgaben, zu denen es kommt, solidarisch und paritä-
tisch finanziert werden.
Das ist und bleibt unser Ziel.
Vielen Dank.
Karin Maag ist die letzte Rednerin zu diesem Tages-ordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8593
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es wurde jetzt schon vielRichtiges zu diesem Gesetz gesagt. Vor allem geht esuns darum, den Versorgungsalltag der Patientinnen undPatienten zu verbessern. Kollegin Mattheis hat exempla-risch auf das Entlassmanagement im Krankenhaus hin-gewiesen. Selbstverständlich soll niemand mehr freitag-mittags ohne seine Medikamente nach Hause gehen. Daswerden wir ebenso in Angriff nehmen wie zum Beispiel– das liegt mir persönlich sehr am Herzen – die Verbes-serungen für pflegebedürftige Menschen sowie Men-schen mit Behinderungen und eingeschränkter Alltags-kompetenz. Kinder und Jugendliche werden bereitsheute in den sozialpädiatrischen Zentren behandelt. Wirgewähren jetzt den Erwachsenen einen vernünftigen An-schluss.
Da gibt es eine Vielzahl an vernünftigen, guten Maßnah-men. Es wurde schon gesagt: Es ist ein Paket; nur dieeine zentrale Maßnahme zu ergreifen, wäre sicher zukurz gesprungen.Ich will mich an dieser Stelle auf die ärztliche Versor-gung konzentrieren. Wir haben eine zunehmende Be-handlungsintensität in einer alternden Gesellschaft, denmedizinischen Fortschritt – das wissen Sie –, eine zu-nehmende Spezialisierung, aber auch eine Besinnungder Ärztinnen und Ärzte auf die eigene Work-Life-Ba-lance. Den Mediziner, der 16 Stunden am Tag behandelt,den Landarzt wird es künftig nicht mehr geben. Deswe-gen sind wir auf den Nachwuchs angewiesen. Es wurdevorhin schon davon gesprochen: Gute Versorgung darfkeine Frage des Wohnorts sein; wir müssen sie überall inDeutschland gewährleisten.
Beim Versorgungsstärkungsgesetz geht es uns jetztvor allem auch darum, an das anzuknüpfen, was wir be-reits 2012 geregelt haben, also die Rahmenbedingungenfür die Ärzte weiter zu flexibilisieren und dafür zu sor-gen, dass eine flächendeckende Versorgung möglich ist.Wenn wir die Situation der Patientinnen und Patiententatsächlich verbessern wollen – das ist mir ganz wichtig –,dann brauchen wir vor allem motivierte Ärzte. Ich binmir sicher – das ist jetzt die Conclusio –, dass wir mitunserem Paket die Lebenswirklichkeit der Ärzte, insbe-sondere der jüngeren Ärztinnen und Ärzte und der nichtverfassten Ärzteschaft, deutlich besser widerspiegeln alsbisher.Wir fördern zum Beispiel die Allgemeinmedizin. Diejungen Ärztinnen und Ärzte sollen sich in der Praxis vorOrt ein Bild machen können. Deswegen erhöhen wirnicht nur die Zahl der geförderten Stellen von 5 000 auf7 500 – das sind 50 Prozent mehr –, sondern wir strebenauch eine höhere Vergütung für den Praxisassistenten an.Er muss sich also nicht überlegen: Wenn ich meine Wei-terbildung im Krankenhaus mache, dann werde ich bes-ser bezahlt und habe somit mehr Geld zur Verfügung,um meine Miete zu zahlen. – Wir setzen auf die Praxis.Mit dem Strukturfonds erhalten die KVen zusätzlicheMittel, um den Ärzten die Niederlassung auf dem Landdurch eine höhere Vergütung schmackhaft zu machen.Die Angst vor Regressen – das Thema hat uns in denletzten Jahren heftig beschäftigt – hält sich hartnäckig,obwohl zum Beispiel bei mir in Baden-Württemberg inden letzten Jahren lediglich 0,2 Prozent der Ärzte in Re-gress genommen worden sind. Eine solche unbegründeteAngst verhindert, dass junge Menschen den Beruf desniedergelassenen Arztes wählen. Deswegen heben wirdie bundeseinheitlichen Vorgaben für die Wirtschaftlich-keitsprüfung von ärztlich verordneten Leistungen aufund ersetzen diese durch regionale Vereinbarungen. Dasist ein ganz zentraler Punkt.Wir gehen sogar noch weiter. Wir müssen auch nicht-ärztliche Leistungen, also delegierte Leistungen, vergü-ten. Das betrifft nicht nur die unterversorgten Gebieteund nicht nur die häusliche Versorgung von Patienten.Wir ermöglichen es, dass die Fachassistentin, der Fachas-sistent in der niedergelassenen Praxis Leistungen erbrin-gen kann, die der Arzt nachher abrechnen kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, einer fehlerhaftenRessourcenallokation kann man mit Anreizen begegnen.Wenn das nicht funktioniert, dann muss eine Regulie-rung erfolgen. Mit der Bedarfsplanungs-Richtlinie 2013des G-BA wird der tatsächliche Bedarf bei der regiona-len ärztlichen Versorgung zumindest deutlich besser alszuvor abgebildet, Frau Klein-Schmeink.
Jetzt haben die KVen tatsächlich Maßnahmen gegendie drohende Unterversorgung ergriffen; Maßnahmengegen Überversorgung – und das ärgert mich – spielenbislang aber keine Rolle. Wir wollen eine Umsteuerung– ärztliche Ressourcen weg von Gebieten, die ohnehinüberversorgt sind, hin zu Gebieten, die unterversorgtsind –, und das braucht Zeit. Da bisher nicht die nötigenSchritte eingeleitet wurden, sind wir als Gesetzgeberzum Eingreifen gezwungen. Das heißt, dort, wo tatsäch-lich Überversorgung herrscht und – ganz wichtig – woÄrzte ihre Praxen aus eigenem Entschluss aufgeben wol-len – wir nehmen niemandem irgendetwas weg –, sollnicht mehr nachbesetzt werden. In diesem Zusammen-hang sind uns drei Dinge wichtig. Erstens. Keine beste-hende Praxis wird vom Netz genommen. Zweitens. Beibesonderem Versorgungsbedarf wird nachbesetzt. Drit-tens. Das letzte Wort hat der Zulassungsausschuss, alsoauch die Ärzte.Die Kritik an den von mir genannten Maßnahmen istschrill. An die KBV gerichtet sage ich: Sie müssen auf-passen, dass Sie – ähnlich wie beim Thema Regress –nicht noch den letzten gutwilligen jungen Arzt, der über-legt, ob er in die Niederlassung geht, abschrecken.
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8594 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Karin Maag
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Es ist die ureigene Aufgabe der KVen, die Versorgungsicherzustellen. Wenn sich nun der Vorsitzende der KBV,gefragt nach eigenen Ideen, die er vielleicht habenkönnte,
zitieren lässt mit den Worten: „Alle sollten sich ‚einge-stehen, dass nicht mehr jedes Dorf seinen Hausarzt ha-ben wird‘“, dann ist das eine standespolitische Geister-fahrt. Das ist eine persönliche Bankrotterklärung. Damithat er sich als Ansprechpartner, für mich jedenfalls, völ-lig disqualifiziert.
Ich finde das deshalb schade, weil wir uns mit vielenLandes-KVen und vielen Verbänden in guten Gesprä-chen darüber befinden, wie wir den Versorgungsbedarfvielleicht noch sachgerechter abbilden können und wiewir eine zeitnahe Terminvergabe gemeinsam mit denÄrzten besser hinbekommen können. Es gibt hierzu aufregionaler Ebene viele gute Ideen.
Frau Kollegin.
Ich bin auch schon am Ende, Herr Präsident. – Ich
freue mich auf die Anhörung. Wir haben heute vieles
von Ihnen gehört. Wir können aus dem vorliegenden Ge-
setzentwurf sicher ein noch runderes Werk basteln.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4095, 18/4099, 18/4187 und
18/4153 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
und 4 b:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Dämpfung des Mietanstiegs auf ange-
spannten Wohnungsmärkten und zur Stär-
kung des Bestellerprinzips bei der Wohnungs-
Drucksachen 18/3121, 18/3250
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz
Drucksache 18/4220
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,
Caren Lay, Halina Wawzyniak, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mietenanstieg stoppen, soziale Wohnungs-
wirtschaft entwickeln und dauerhaft sichern
Drucksachen 18/504, 18/4219
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie zwei
Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die beiden
Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch; also können wir so verfah-
ren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Mietpreisbremse, die wir heute hier be-schließen, ist ein zentrales Vorhaben dieser Koalition.Wir haben sie im Koalitionsvertrag vereinbart.
Heute setzen wir den Gesetzentwurf von Heiko Maasohne Abstriche um.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist heute ein gu-ter Tag für Mieterinnen und Mieter; denn bisher gibt esbei neuen Mietverträgen keine wirksame Grenze nachoben. Vermieter können verlangen, was der Markt her-gibt: 30 bis 40 Prozent Aufschlag sind in boomendenStädten an der Tagesordnung – und das allzu oft ohnejegliche Verbesserung an der Wohnung.In Zukunft verhindern wir solche exzessiven Miet-steigerungen: Die neue Miete darf in angespanntenWohnungsmärkten nicht mehr als 10 Prozent über derortsüblichen Vergleichsmiete liegen; das gilt ohne Ein-schränkungen auch für Staffelmietverträge.
Bisher zahlen die Mieter in der Regel eine Courtagevon bis zu zwei Monatsmieten, auch dann, wenn derWohnungseigentümer den Makler beauftragt hat. In Zu-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8595
Sören Bartol
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kunft gilt ausnahmslos das klare marktwirtschaftlichePrinzip „Wer bestellt, der bezahlt“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon jetzt gilt invielen Bundesländern die abgesenkte Kappungsgrenzefür bestehende Mietverträge. Die Länder wissen, wo derDruck auf dem Wohnungsmarkt am größten ist. Deswe-gen bin ich sicher, dass sie die Mietpreisbremse schnellund zielgerichtet dort umsetzen werden.
Klar ist aber auch: Wachsende Städte brauchen Neu-bau. Deswegen haben wir Neubauten und die erste Ver-mietung grundlegend modernisierter Wohnungen vonder Mietpreisbremse ausgenommen. Liebe Kolleginnenund Kollegen von der Linken, wir wollen nicht wie Sieden Mietwohnungsmarkt außer Kraft setzen und nurnoch einen Inflationsausgleich zulassen. Den notwendi-gen Neubau und einen energieeffizienten, altersgerech-ten Umbau der Bestände gibt es nur, wenn private Woh-nungswirtschaft, öffentliche und genossenschaftlicheWohnungsunternehmen zu Investitionen bereit sind undBund, Länder und Kommunen gute Rahmenbedingun-gen und auch Anreize für den Neubau von Mietwohnun-gen und sozial gebundenen Wohnungen schaffen.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, uns gleich wieder die Urheberschaft für dieMietpreisbremse
streitig machen und uns erklären wollen, wie überhauptalles besser geht, dann sage ich Ihnen: Die SPD war es,die die Mietpreisbremse gefordert hat,
und wir sind es, die dafür sorgen, dass sie in dieser Ko-alition auch umgesetzt wird.
Klar ist auch: Die Mietpreisbremse ist kein Allheil-mittel gegen den Wohnungsmangel – wir haben das auchnie behauptet –; sie ist ein kurzfristig wirksames Instru-ment zum Schutz der Mieterinnen und Mieter, nichtmehr, aber auch nicht weniger. Die Mietpreisbremse istTeil unseres Gesamtpaketes „Gutes und bezahlbaresWohnen“, das wir jetzt Schritt für Schritt umsetzen.Dazu gehört die Erhöhung der Mittel für die Städte-bauförderung mit dem Leitprogramm „Soziale Stadt“genauso wie die Wohngeldnovelle, die – vorbereitet vonBarbara Hendricks – in den nächsten Monaten in die par-lamentarische Beratung gehen wird.Dazu gehört aber auch das zweite Paket der Miet-rechtsreform, das wir jetzt angehen. Wir wollen klarstel-len, dass bei der Berechnung von Miete und Nebenkos-ten die tatsächliche Wohnfläche zugrunde gelegt werdenmuss. Wir wollen die Belastung der Mieter durch Mo-dernisierungskosten begrenzen. Wir wollen gemeinsamden Mietspiegel auf eine breitere Basis stellen.
Die Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfrak-tion haben während der Beratungen zur Mietpreisbremsezu Recht darauf hingewiesen, dass qualifizierte Miet-spiegel für Mieter und Vermieter die größte Transparenzbieten.
Wir wollen deshalb dafür sorgen, dass mehr Städte alsbisher einen qualifizierten Mietspiegel erstellen, der inZukunft möglichst auch zum Beispiel die energetischeQualität von Wohnungen berücksichtigt.Unser Ziel sind sozial ausgewogene Städte, in denenqualitativ gutes Wohnen für alle bezahlbar ist. Wenn wirheute die Mietpreisbremse und das Bestellerprinzip be-schließen, dann sind das entscheidende Schritte dahin.Vielen Dank.
Caren Lay ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Bartol, ich muss sagen: Es hätteheute ein guter Tag für die Mieterinnen und Mieter wer-den können.
Stattdessen erleben wir heute wieder einen Tag der ver-passten Chancen. Das ist doch die Wahrheit.
Eine Mietpreisbremse ist eine gute Idee, die wir alsLinke natürlich unterstützen. Aber dieser Gesetzentwurfist nun einmal ausgehöhlt wie ein Schweizer Käse undwird am Ende kaum eine Wirkung entfalten.
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8596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Caren Lay
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Es wimmelt in diesem Gesetzentwurf von Bedingungenund Ausnahmen, sodass von einer wirkungsvollen Miet-preisbremse leider keine Rede mehr sein kann.Beispielsweise ist sie begrenzt auf Gebiete mit ange-spanntem Wohnungsmarkt.
Ich fürchte, dass die meisten Mieterinnen und Mieter au-ßerhalb dieser Gebiete wohnen.
Deswegen sagen wir Linke: Die Mietpreisbremse wirktnur dann, wenn sie auch flächendeckend gilt.
Ich finde es schlimm genug, dass wir über die Miet-preisbremse nun schon seit mehreren Jahren diskutieren.Aber warum räumen wir jetzt, wo die Mietpreisbremseendlich kommt, den Ländern zumindest theoretisch soviele Jahre für deren Umsetzung ein? Fünf Jahre lang ha-ben die Länder prinzipiell Zeit, diesen Gesetzentwurfumzusetzen. Das heißt übersetzt, liebe Mieterinnen undMieter: Freuen Sie sich nicht zu früh auf die schnelleWirkung dieser Mietpreisbremse! Die Koalition räumtIhrem Vermieter noch fünf Jahre ein, die Mieten so weitzu erhöhen, wie es nur irgendwie geht. – Wir sagen: Esist doch völlig absurd und kontraproduktiv, so viel Zeitfür die Umsetzung zu lassen.
Ist die Mietpreisbremse dann endlich eingeführt, dannsoll sie nach fünf Jahren auch schon wieder außer Krafttreten. Damit rühmt sich ja die CDU/CSU; das ist einerder Punkte, den sie durchgesetzt hat.
Das heißt für die Mieter im Klartext: Kaum setzt dieWirkung der Mietpreisbremse ein, wird sie auch schonwieder abgeschafft.
Da hatten Sie ja wohl Angst vor der eigenen Courage,genau nach dem Motto: Wir hatten vier, fünf gute Jahrein zukünftig bester Lage.
Eine Mietpreisbremse, die ihren Namen verdient, mussauch dauerhaft gelten.
Das Schlimmste ist, dass die Vermieter, die jetzt nochschnell die Miete erhöhen, am Ende vom Gesetzgeberdafür auch noch belohnt werden; denn wenn die Vor-miete schon höher war, wenn das Gesetz in dem jeweili-gen Bundesland endlich in Kraft tritt, dann darf sie auchso hoch bleiben.
Das ist doch wirklich völlig absurd.
Meine Damen und Herren, einen Deckel von 10 Pro-zent über der ortsüblichen Vergleichsmiete sehen wir da-rüber hinaus als nicht wirkungsvoll an. Im Gegenteil:Damit werden überdurchschnittliche Mieten auch nochgesetzlich festgelegt. Ein wirkungsvoller Mietpreisde-ckel muss anders aussehen.
Es gibt viele weitere Ausnahmen, die die Wirkung derMietpreisbremse deutlich minimieren. Nehmen wir bei-spielsweise den Vorschlag, der heute auf dem Tisch liegt,dass die Mietpreisbremse dann nicht zur Wirkung kom-men soll, wenn die Wohnung modernisiert wird. Ichmeine, Luxusmodernisierungen sind doch schon jetzteine der Hauptursachen dafür, dass die Mieterinnen undMieter aus ihren Wohnungen, aus ihren Stadtteilen ver-trieben werden.
Deswegen müssen wir schnellstmöglich an die Moderni-sierungsumlage heran, wenn wir hier von einer wir-kungsvollen Mietpreisbremse reden wollen.
Die nächste Ausnahme betrifft die Neubauten.
Die Mietpreisbremse setzt hier nicht nur einen Anreizfür den Neubau von teuren Wohnungen, sondern führtnach der jetzigen Berechnung im Ergebnis auch dazu,dass die Mieten im Umfeld ansteigen werden, was sichwiederum auf den Mietspiegel auswirkt. Das ist keineMietpreisbremse, sondern eine Einladung zur Luxusmo-dernisierung und zum Bau von neuen Lofthouses.
Das lehnen wir in dieser Konsequenz ab. Das könnenwir so nicht unterstützen.
Liebe Mieterinnen und Mieter, Sie hören richtig: DieWahrscheinlichkeit, dass Sie von dieser Mietpreisbremseprofitieren, ist ziemlich gering. Der Deutsche Mieter-bund schätzt, dass gerade einmal 2,5 Prozent aller Mie-terinnen und Mieter überhaupt von dieser Mietpreis-bremse profitieren würden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8597
Caren Lay
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Deswegen sagen wir: Mietpreisbremse ist eine irrefüh-rende Bezeichnung für diesen Gesetzentwurf; denn he-rausgekommen ist gerade einmal eine kleine Hand-bremse.
Ich komme zum Schluss. Die SPD kann einem heutewirklich leidtun. Sie haben es ja gut gemeint, aber leiderhat Ihr Koalitionspartner alles darangesetzt, diesen Ge-setzentwurf im Interesse der Vermieter und der Immobi-lienlobby auszuhöhlen.
Mietpreisbremschen, Frauenquötchen: Jede noch sokleine Pflanze des sozialen Fortschritts wird von dieserUnion auf ein Bonsaiformat zurückgestutzt. Das findenwir ganz schön schade.
Das Wort erhält nun der Kollege Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Die Mietpreisbremse kommt. Frau Lay,ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Kritik daran ist völlig un-angebracht. Wir haben hier ein Gesetz vorgelegt, dasWirkung entfalten wird. Das werden die Menschen inunserem Land auch merken.
Ich will hier noch einmal betonen: Die Union hält da-mit Wort. Wir haben bereits im Wahlkampf gesagt, dasswir nicht wollen, dass Menschen – gerade junge Fami-lien – aus ihren angestammten Wohnvierteln verdrängtwerden, weil sie sich die dortigen Mieten nicht mehrleisten können. Die Union hat deshalb ganz glasklar zuden Koalitionsvereinbarungen gestanden. Die Mietpreis-bremse hat in bestimmten Gebieten, da, wo es wirklichWohnungsknappheit gibt, natürlich ihre Berechtigung,weil den Menschen damit kurzfristig geholfen werdenkann. Das war, wenn ich das sagen darf, gerade mir alsBerliner ganz besonders wichtig, da wir hier ebenfallseine solche Situation haben.Aber – deswegen hat das Gesetzgebungsverfahren et-was länger gedauert – für uns als Union war immerwichtig, dass wir nicht nur an den Symptomen herum-doktern, sondern dass wir auch die Ursachen der steigen-den Mieten nachhaltig bekämpfen. In diesem Zusam-menhang gilt ganz klar der Satz: Das beste Mittel gegensteigende Mieten ist immer noch der Bau von neuenWohnungen.
Vor diesem Hintergrund haben wir immer ganz klarden Satz formuliert: Diese Mietpreisbremse darf keineInvestitionsbremse werden. Deswegen war es für unsganz wichtig, in den Beratungen, die wir gemeinsam ge-habt haben, bestimmte Punkte durchzusetzen. Wir habengegenüber dem Referentenentwurf sehr viele fundamen-tale Änderungen und, wie ich finde, auch Verbesserun-gen durchgesetzt. Das betrifft natürlich die Ausnahmeder Neubauten. Das ist ein ganz wichtiges Signal fürmehr Neubau. Für all diejenigen, die Geld in die Handnehmen wollen, die in neue Wohnungen investieren wol-len, ist es ganz wichtig, dass sich das hinterher auchwirtschaftlich trägt, dass sich der Wohnungsneubau ren-tiert. Insofern ist es wichtig, dass wir die Neubauten aus-genommen haben.
Das Gleiche gilt auch für die Ausnahmen bei umfas-senden Modernisierungen. Es geht uns ja nicht nur da-rum, Neubau zu fördern, sondern es geht natürlich auchum den Bestand. Wir leben in einer älter werdenden Ge-sellschaft. Die Bundesregierung hat sich ehrgeizige Kli-maschutzziele gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist esganz wichtig, dass wir Anreize setzen, den Bestand ener-getisch zu modernisieren und altersgerecht umzubauen.Das macht jemand aber nur, wenn sich das wirtschaftlichträgt und er das hinterher refinanzieren kann. Es war unswichtig, bei der umfassenden Modernisierung auch Aus-nahmen zuzulassen, weil sonst beim Bestand überhauptnichts mehr passiert wäre.
Für uns war es an dieser Stelle auch wichtig, die Län-der ein Stück weit in die Pflicht zu nehmen, damit sienicht mehr ganz freihändig entscheiden können, wo dieMietpreisbremse denn gelten soll. Deswegen haben wirin den Gesetzentwurf objektive Kriterien hineinverhan-delt, wann denn tatsächlich eine solche Wohnungs-knappheit vorliegt. Ich glaube, man muss sehen, dass dasauch mit Blick auf die Rechte der Eigentümer wichtigwar. Das ist ein starker Eingriff in Artikel 14 des Grund-gesetzes und in die Vertragsfreiheit. Deswegen mussman prüfen, ob ein solcher Eingriff verfassungsrechtlichgerechtfertigt ist. Er ist gerechtfertigt in den Gebieten, indenen Wohnungsknappheit herrscht; aber das muss danneben auch verfassungsrechtlich sauber begründet wer-den. Insofern ist es gut, dass diese objektiven Kriterienjetzt im Gesetzentwurf stehen.Ein weiterer Punkt, der für uns wichtig war, ist dieklare zeitliche Befristung. Denn – noch einmal –: DiePlanungs- und Investitionssicherheit ist das entschei-dende Kriterium, das wir brauchen, wenn wir privatesKapital generieren wollen, das dann in Wohnungsneubauund in die Modernisierung von Wohnungen fließt. Daskönnen wir als Staat nicht alleine leisten. Wir können garnicht so viele Programme auflegen, wie dafür notwendigwären. Wir brauchen privates Kapital. Das bekommenwir nur, wenn wir an dieser Stelle Planungs- und Investi-tionssicherheit haben.
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8598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Jan-Marco Luczak
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Wir haben die Länder an einer weiteren Stelle in diePflicht genommen; damit komme ich wieder zum ThemaNeubau. Es geht nicht nur darum, dass die Länder inten-siv begründen, in welchen Gebieten Wohnungsknappheitherrscht, sondern sie müssen zukünftig auch sagen, wassie tun wollen, um gegen die Wohnungsknappheit vorzu-gehen. Sie müssen einen Maßnahmenplan vorlegen. Wirhaben die Pflicht für eine qualifizierte Begründung insGesetz geschrieben. Wenn sie per Rechtsverordnung dieGebiete bestimmen, in denen die Mietpreisbremse geltensoll, dann müssen sie auch ganz genau sagen, was sie tunwollen, beispielsweise wie sie ihre Liegenschaftspolitikändern wollen, wie sie ihre bauordnungsrechtlichen Vor-schriften anpassen wollen und viele Dinge mehr. Das istnotwendig. Die Länder dürfen sich an dieser Stelle nichtihrer Pflicht entziehen. Sie tragen auch die Verantwor-tung dafür, dass mehr im Bereich des Neubaus ge-schieht, indem sie den rechtlichen Rahmen entsprechendanpassen.
Ich habe jetzt viel Licht dargestellt. Bei einem sol-chen Gesetzentwurf gibt es natürlich auch ein paarPunkte, bei denen man sich als Fachpolitiker noch Ände-rungen im Detail gewünscht hätte. Wir haben hier imDeutschen Bundestag eine Expertenanhörung durchge-führt. Es gab viele gute Punkte,
bei denen ich sage: Darüber hätte man in der Tat nach-denken können. Ich denke zum Beispiel an die Praxis-tauglichkeit dieser Mietpreisbremse. Ich denke an dieFrage – der Kollege Sören Bartol hat es eben schon an-gesprochen –, wie wir eigentlich mit qualifizierten Miet-spiegeln umgehen. Auf ihnen basiert die Bestimmungder ortsüblichen Vergleichsmiete, und sie bilden fürbeide Parteien, für Vermieter wie auch für Mieter, dierechtssichere Grundlage. Das müssen wir uns genau an-schauen. Auch der Deutsche Mieterbund sagt ja, dasswir mehr qualifizierte Mietspiegel brauchen.Wir müssen jetzt schauen, wie sich das in der Praxisauswirkt, ob es da große Rechtsunsicherheiten gibt. Dasmüssen wir dann bei der weiteren Diskussion beachten.Wir werden noch über weitere Punkte im Mietrecht mit-einander sprechen. Man kann dann überlegen, ob manden Kommunen ab einer bestimmten Größenordnung dieAufgabe gibt, solche qualifizierten Mietspiegel zu erstel-len. Viele von den Punkten hätten wir damit abgeräumt.Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen möchte,ist das Bestellerprinzip, über das sehr intensiv debattiertworden ist. Ich möchte ganz klar sagen: Wir haben imKoalitionsvertrag vereinbart, dass wir das Bestellerprin-zip wollen, weil es ein marktwirtschaftliches Prinzip ist.Wer bestellt, der zahlt. Für uns war immer ganz wichtig,dass wir Umgehungen dabei ausschließen. Es war in derTat in den Verhandlungen schwierig, eine Regelung zufinden, um Umgehungen auszuschließen. Der Bundesrathat sich dazu geäußert und viele Kritikpunkte angespro-chen. Es war dann letztlich in den Verhandlungen nichtmehr möglich, es wirklich in Gesetzesform zu gießen.Das ist manchmal so.Mir ist an dieser Stelle ein Punkt wichtig: Wir müssenetwas tun, damit die schwarzen Schafe, die es unter denMaklern gibt, aus dem Markt gedrängt werden.
Wir müssen mehr für Qualität und Verbraucherschutzauf diesem Markt tun. Deswegen ist ein zentralesThema, mit dem wir uns jetzt auseinandersetzen müssen,der Sach- und Fachkundenachweis für Makler. Dafürsind nicht die Rechtspolitiker zuständig, sondern dasBundeswirtschaftsministerium. Ich würde mich sehrfreuen, wenn wir bald einen Vorschlag haben, um aufdem Gebiet der Makler mehr für den Verbraucherschutzzu erreichen.Über all diese Details haben wir innerhalb der Koali-tion intensiv diskutiert. Wir haben darum gerungen,manchmal haben wir auch gestritten. Lieber Herr Minis-ter, Herr Staatssekretär Kelber, meine Kolleginnen undKollegen von der SPD, ich finde, dieses zähe Ringen,das für beide Seiten nicht immer einfach war, hat sichgelohnt. Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf vorliegen,der sich nicht gegen vermietende Eigentümer richtet, dernicht allein nur den Mieter in den Blick nimmt, sondernunter dem Strich ausgewogen ist. Den Mietern wird mitdieser Mietpreisbremse kurzfristig geholfen. Die Rechtevon Eigentümern werden gewahrt, und Investitionenwerden nicht abgewürgt. Insofern finde ich, dass es einGesetzentwurf ist, dem wir mit großer Mehrheit undauch mit gutem Gewissen zustimmen können.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Nächste Rednerin ist die Kollegen Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das warjetzt wohl die Märchenstunde der Großen Koalition.
– Ja, ich kann wahrscheinlich sagen, was ich will, eskommt immer ein „Oh!“, ein Aufstöhnen. Machen Siedas ruhig. – Ich muss wirklich sagen: Was hier erzähltwurde, entspricht nicht dem Gesetzentwurf, der vorliegt.
Herr Luczak zum Beispiel hat gestern im Ausschussund auch hier eigentlich nur über Investitionssicherheitund über das Kapital geredet, um sich dann fast in denSatz zu versteigen, das sei jetzt ein guter Tag für dieMieterinnen und Mieter.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8599
Renate Künast
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Sie haben außerdem erzählt, nur durch Neubau könnedas Problem gelöst werden.
– Ja, natürlich. Ich höre Ihnen immer zu,
damit ich das, was Sie sagen, hinterher bewerten kann.Ich sage Ihnen Folgendes: Neubau ist ein wichtigerFaktor, wenn es darum geht, für bezahlbaren Wohnraumzu sorgen. Dieser Wohnraum ist allerdings so zu gestal-ten, dass Otto Normalverbraucher die Mieten nachherbezahlen kann.
Wie Sie das gewährleisten wollen, haben Sie hier nichtdargelegt. Wo sind denn Ihre Vorgaben und die entspre-chenden Kriterien, zum Beispiel beim Verkauf derBImA-Häuser in der Großgörschenstraße und der Katz-lerstraße?
Hier hat sich der Berliner Senat erst in die Büsche ge-schlagen, und dann ist er zu spät aufgestanden. WollenSie die BImA vielleicht noch auffordern, die Mieten zuerhöhen, bevor verkauft wird? Nein, irgendwann müssenSie sagen, wie Sie das, was Sie hier erzählen, umsetzenwollen, meine Damen und Herren.
Ich sage Ihnen: Verglichen mit einem Schweizer Käse istdieses Gesetz mehr Loch als Käse.
Deshalb spreche ich lieber von der sogenannten Miet-preisbremse.Was kritisiere ich? Der gesamte Vorgang und die vonIhnen als produktiv bezeichneten Diskussionen habenviel zu lange gedauert. Zwar hat diese Koalition von Be-ginn an gesagt – man dachte, es gilt schon –, man wollefür bezahlbare Mieten sorgen, ab sofort, demnächst oderin 100 Tagen. Aber bis heute gilt diese Regelung nochimmer nicht.Was ist passiert? Viele Vermieter haben die Mietennach bisherigem Recht sicherheitshalber schon einmalkräftig erhöht. Zu Ihrer sogenannten Mietpreisbremsesagen der Deutsche Mieterbund und die Mietervereineerstens, dass Sie damit aufgrund des Zeitverlusts das Ge-genteil erreicht haben, und zweitens, dass diese soge-nannte Bremse kaum eine Wirkung hat; manchmal hießes in der Anhörung im Ausschuss sogar, sie habe garkeine Wirkung. Auf die Veränderungsvorschläge dieserVerbände sind Sie überhaupt nicht eingegangen. Sie ha-ben immer nur pro Kapital argumentiert, meine Damenund Herren. Aber unser Grundgesetz besteht nicht alleinaus Artikel 14. Zu unserem Grundgesetz gehören auchalle anderen Artikel, zum Beispiel das Sozialstaatsprin-zip. Zwischen den verschiedenen Zielen ist nicht hinrei-chend abgewogen worden.
Ich muss der Koalition sagen: Sie haben keine robusteMietpreisbremse vorgelegt. Ich denke, die Befristungsollte, damit sie eine Wirkung entfaltet, für mindestenszehn Jahre gelten. Sie wollen, dass die Mietpreisbremsefür Wohnungen, in denen umfassende Modernisierungs-arbeiten durchgeführt werden, deren Kosten 30 Prozentvergleichbarer Neubaukosten betragen, nicht gilt. Ange-sichts all der Tricks, die Vermieter bei der Modernisie-rung anwenden können – einschließlich des Vermischensund des Hin- und Herschiebens von Sanierungs- und In-standsetzungskosten –,
sage ich Ihnen: Diese Regelung wird einige Mieter harttreffen.Erstvermietete Neubauwohnungen haben Sie grund-sätzlich ausgenommen,
statt für sie eine Detailregelung zu treffen. Außerdemhaben Sie Kriterien zur Einführung von Mietpreisbrem-sen in den Ländern entwickelt. Ich sage Ihnen: Was diequalifizierte Begründungspflicht angeht, sollten Sie sicheinmal fragen, wie denn Ihre qualifizierte Begründunglautet, warum sich zum Beispiel bei der BImA nichts än-dert.
Der BImA könnten Sie andere Regeln auferlegen, undzwar solche, durch die sich der Umgang mit Stadtent-wicklung und sozialen Fragen verändert. Herr Luczak,schönen Dank, dass Sie immer wieder Briefe schreibenund Ankündigungen machen. Aber geliefert haben Siean dieser Stelle noch nie.
Ich sage Ihnen: Ihre sogenannte Mietpreisbremse istallenfalls ein Bremschen. Sie haben nicht einmal ein Pa-ket geschnürt, das auch Regelungen zum qualifiziertenMietspiegel, zum sozialen Wohnungsbau und zu einemBImA-Gesetz enthält. Außerdem würden wir es be-grüßen, wenn die Modernisierungsumlage nur 9 statt11 Prozent betragen würde; auch die IHK meint, daswürde für Investoren reichen. Sie haben noch nicht ein-mal die Einschränkung eingeführt, dass Modernisierun-gen nur dann zu dulden sind, wenn sie der Barrierefrei-heit und der Energieeffizienz zugutekommen.
Metadaten/Kopzeile:
8600 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Renate Künast
(C)
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Meine Damen und Herren, ich habe die Freude, zwi-schen Herrn Luczak und Herrn Maas zu reden. Ich weiß,beide werden dieses Gesetz gutreden; das ist ihre Strate-gie.
Aber aus Verbrauchersicht sage ich Ihnen: Was drauf-steht, muss auch drin sein. Dieses Gesetz ist eine Mogel-packung; denn es beinhaltet keine wirkliche Bremse,sondern allenfalls ein Bremschen. Insgesamt haben SieIhre Hausaufgaben nicht gemacht. Darauf warten wir.
Das Wort erhält nun der Bundesminister Heiko Maas.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich habe die Debatte sehr aufmerk-sam verfolgt, vor allen Dingen die Beiträge der Redne-rinnen der Opposition. Ich muss Ihnen ehrlich sagen,dass ich mich dabei an meine eigene Zeit als Parlamenta-rier in der Opposition erinnert habe.
Das Frustrierendste in dieser Zeit war, wenn man zu Ge-setzentwürfen der Regierung lediglich noch die Bemer-kungen beitragen konnte, man hätte das früher machenkönnen, man hätte noch mehr machen können und derGesetzentwurf beinhalte zu viele Ausnahmen. Tief inseinem Inneren weiß man aber, dass man es selbst nichtviel anders gemacht hätte. Genau in dieser Situation be-finden Sie sich.
Das wird auch deutlich an den Dingen, die Sie hierkritisieren. Sie kritisieren zum Beispiel, dass die Miet-preisbremse nur in Ballungsgebieten gilt. Ja, aber nur dabraucht man sie auch.
Ich brauche keine Mietpreisbremse in Landstrichen, indenen das Problem nicht die davongaloppierenden Miet-preise sind, sondern in denen das Problem ist, dass Ver-mieter keine Mieter mehr finden. Deshalb ist es richtig,die Regelung auf die Bereiche zu begrenzen, in denendas notwendig ist.
Sie haben zum wiederholten Mal kritisiert, dass Neu-bauten von der Mietpreisbremse ausgenommen sind. Esist schon darauf hingewiesen worden: Wenn man denNeubau fördern will, dann muss man denjenigen, dieGeld investieren, auch die Möglichkeit geben, einenÜberschuss zu erwirtschaften.
Vielleicht hilft es ja, wenn ich Ihnen folgende Zahlennenne: Wir haben in Deutschland etwa 20 Millionen Be-standswohnungen. Jedes Jahr kommen etwa 200 000 neueWohnungen hinzu. Davon wird etwa die Hälfte vermietet.Das heißt, die Ausnahmeregelung für Neubauten betrifft0,5 Prozent der Wohnungen, über die wir insgesamt re-den. Wir gehen davon aus, dass die Mietpreisbremse inDeutschland für 5 Millionen Wohnungen greifen kannund über 400 000 Mieterinnen und Mieter pro Jahr inden Genuss der Mietpreisbremse kommen können. Ichfinde, das ist ein großer Fortschritt. Deshalb ist der heu-tige Tag ein verdammt guter Tag für Mieterinnen undMieter in Deutschland.
Das wirklich schrägste Argument, das ich immer wie-der höre, ist – ganz besonders schräg ist es, wenn es vonParlamentariern in den Raum gestellt wird –, dass mandie Mietpreisbremse ja umgehen könne. Liebe Parla-mentarierinnen und Parlamentarier, wenn ich das Argu-ment in Gänze gelten lasse, dann kann ich auch das kom-plette Steuerrecht oder auch das Strafrecht abschaffen;denn geklaut wird immer.Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf räumen wir den Mieterinnen und MieternRechte ein, die sie durchsetzen können, wie zum Bei-spiel Auskunftsrechte. Es werden Ordnungsgelder ver-hängt, wenn gegen das Gesetz verstoßen wird. Deshalbhilft die Mietpreisbremse nicht nur bei einem Problem,das wir haben. Vielmehr ist das Recht, das wir schaffen,auch durchsetzbar für die Mieterinnen und Mieter. Auchdas wird mit diesem Gesetz gewährleistet.
Meine Damen und Herren, wir reden immer über Ber-lin, Hamburg, München, Düsseldorf, Köln und viele an-dere Städte. Es gibt aber auch Städte, die nicht so großsind, aber zu Ballungsräumen gehören, beispielsweiseStädte im Rhein-Main-Gebiet. In Regensburg zum Bei-spiel gibt es bei Wiedervermietung mittlerweile Miet-preissteigerungen von 33 Prozent. In Frankfurt sind es20 Prozent, und in München sind es 25 Prozent.
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Bundesminister Heiko Maas
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Wenn wir in das Gesetz hineinschreiben, dass genauin diesen Regionen die Mietpreisbremse anwendbar seinwird, dann wird das dazu führen, dass junge Paare, dieKinder bekommen und daher mehr Platz brauchen, nichtmit einer Mietpreiserhöhung von 33 Prozent konfrontiertwerden, wenn sie eine neue Wohnung in ihrem Quartiersuchen. Die Miete für die neue und größere Wohnungliegt nur in einem vertretbaren Rahmen höher.Das hat positive Auswirkungen auf die Stadtentwick-lung. Wir wollen nicht, dass noch mehr, als das ohnehinschon der Fall ist, gilt, dass nur Wohlhabende in derStadtmitte wohnen, während diejenigen, die nicht so vielGeld haben, und die Normalverdiener, um die es hierauch geht, immer weiter an den Stadtrand verdrängt wer-den. Das ist nämlich ganz schlecht für die Stadtentwick-lung. Die Mietpreisbremse trägt dazu bei, diese fehler-hafte Entwicklung zu korrigieren.
Meine Damen und Herren, die Mietpreisbremse unddas Bestellerprinzip werden den Mieterinnen und Mie-tern helfen. Zudem wird es möglich sein, dass diese ihreRechte durchsetzen können.Zum Wohnungsbau: Wir gehen davon aus – auch da-rauf ist hingewiesen worden –, dass es beim Wohnungs-neubau in diesem Jahr ein Plus von 3 Prozent gebenwird. Das alles sind doch positive Rahmendaten. Wenndie Mietpreisbremse wirkt und die Mieten nicht mehr sodavongaloppieren, dann wird sich das natürlich auch aufden Mietspiegel auswirken. Das wird im Ergebnis allenMieterinnen und Mietern zugutekommen – auch denje-nigen, die die Mietpreisbremse für sich gar nicht in An-spruch nehmen müssten oder können.Deshalb ist das heute wirklich ein guter Tag für dieMieterinnen und Mieter. Wir legen heute einen Gesetz-entwurf vor, der vor allen Dingen etwas ganz Grundsätz-liches zum Kern hat: Wir wollen, dass in die Wohnungs-wirtschaft investiert wird, aber wir wollen auch, dassdiejenigen, die in die Wohnungswirtschaft investieren,nicht glauben, dass sie solche Renditen wie früher aufden Finanzmärkten erwirtschaften können. Wir sindnämlich der Auffassung: Wohnungen sind keine Ware,sondern das Zuhause von Menschen.
Deshalb sollten Wohnungen nicht wie Aktien an derBörse gehandelt werden. Auch dazu trägt dieser Gesetz-entwurf bei.Schönen Dank.
Die Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die
Linke ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Ja, die Mietpreisbremse – oder das, was Sie sonennen – ist besser als nichts. Wenn man sich aber mit„Besser als nichts“ zufriedengibt, dann kann man eigent-lich auch nach Hause gehen.
Hier ist noch Luft nach oben. Das Problem ist: DieUnion hat sich den Titel „Bremserin“ an dieser Stelleredlich verdient.
Das ist kein Ruhmesblatt.Was besser gewesen wäre, steht in unserem Ände-rungsantrag. Ich will hier nur einmal einen Punkt heraus-greifen: Sie haben § 5 Wirtschaftsstrafgesetzbuch ein-fach nicht geändert. Unangemessen hohe Entgelte, diestrafbar sind, sollten normalerweise alle Entgelte sein,die über der Mietpreisbremse liegen, und nicht nur da-rüber hinausgehende Aufschläge um einige Prozent. Dasist ein Umgehungstatbestand. Hier hätten Sie tätig wer-den können.
Ich will Ihnen hier im Detail einmal ein paar Vor-schläge für das zweite Paket machen. Wir alle gemein-sam müssen nämlich dafür sorgen, dass es nicht zu einerVerdrängung von Mieterinnen und Mietern kommt.Ich fange einmal mit einem ganz einfachen Punkt an,nämlich mit dem Mindestlohn. Hier geht auch noch vielmehr. Der Mindestlohn muss bei den Leuten ankommen.Sorgen Sie also dafür, dass die Arbeitgeberinnen und Ar-beitgeber keine Tricks mehr für die Umgehung des Min-destlohns anwenden können.
Der zweite Punkt, bei dem wir aktiv werden müssen:Die Kosten der Unterkunft für Transferleistungsempfan-gende, zum Beispiel Hartz-IV-Empfangende, müssender Realität angepasst werden. Ich weiß, das ist Länder-sache, aber wir alle sind in Ländern aktiv. Lassen Sie unsdoch dafür sorgen, dass die Kosten der Unterkunft fürHartz-IV-Empfangende tatsächlich der Realität entspre-chen und nicht permanent Umzüge stattfinden müssen.
Frau Künast hat es angesprochen: Der Verkauf bun-deseigener Immobilien durch die BImA zum Höchstge-bot muss endlich aufhören. Hier müssen den Wortenendlich auch Taten folgen.
Die ortsübliche Vergleichsmiete wird derzeit anhandder Mieten der vergangenen vier Jahre gebildet. Ich
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Halina Wawzyniak
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glaube, die SPD hat einmal neun Jahre gefordert. Daswäre ein Anfang. Wir sind bereit, mit Ihnen darüber zureden. An diesen Punkt müssen wir ran. Darüber müssenwir jetzt reden.
Wir müssen aber auch über Eigenbedarfskündigungenund Kündigungen wegen Hinderung der angemessenenwirtschaftlichen Verwertung reden. Es ist aus meinerSicht zwingend erforderlich, dass eine Kündigung we-gen beabsichtigter wirtschaftlicher Verwertung ausge-schlossen wird, wenn diese für die Mieterinnen und Mie-ter eine unzumutbare soziale Härte bedeuten würde.
Wir haben derzeit nämlich das Problem, dass mit einerKündigung wegen wirtschaftlicher Verwertung gedrohtwird und damit die Mieterinnen und Mieter zur Zahlunghöherer Mietpreise erpresst werden. Hier müssen wirran.
Wir müssen auch an die konkreten Anforderungen aneine Eigenbedarfskündigung ran. Diese müssen genauerformuliert werden. Der BGH hat kürzlich entschieden,dass eine Eigenbedarfskündigung für die Tochter einesWohnungseigentümers, die ein berufsbegleitendes Stu-dium in Mannheim aufnehmen will, rechtmäßig ist, ob-wohl der Arbeitsplatz in Frankfurt am Main ist und derMieter noch keine zwei Jahre in der Wohnung wohnt.
Das ist doch alles absurdes Zeug!Der Kündigungsschutz nach Umwandlung in Eigen-tumswohnungen muss bundesgesetzlich angepasst wer-den. Hier gibt es nach dem BGB eine Frist von drei Jah-ren. In einigen Ländern ist das mehr. Ich glaube, auchhier müssen wir ran, weil Artikel 14 Grundgesetz auchnoch einen Absatz 2 hat, in dem steht:Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleichdem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Auch an die fristlose Kündigung wegen Zahlungs-rückstand müssen wir ran. Der BGH hat gerade entschie-den – das ist wirklich absurd –, dass eine fristlose Kündi-gung auch dann möglich ist, wenn ein Mieter, der aufSozialleistung angewiesen ist, die Miete nicht bezahlenkann, weil diese Leistung zu spät kommt, obwohl er sierechtzeitig beantragt hat. Auch da kann fristlos gekün-digt werden. Das ist absurd. Da müssen wir gesetzlicheVorkehrungen treffen.
Letzter Punkt. Den in der letzten Legislatur geschaf-fenen Unsinn der Räumung im einstweiligen Verfahrennach § 940 a ZPO, wenn also ein Mieter eine Sicher-heitsleistung nicht hinterlegen kann, müssen wir bitteschnellstmöglich wieder abschaffen.
Ich glaube, das sind total konstruktive Vorschläge füreine weitere Debatte zum Mietrecht. Sie können einmaldarüber nachdenken. Vielleicht nehmen Sie von derUnion dann den Fuß von der Bremse und benutzen statt-dessen das Gaspedal.
Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker ist die
nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
Liebes Präsidium! Liebe Kollegen! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Wir bringen heute endlichdie Mietpreisbremse unter Dach und Fach, ein Projekt,das von beiden Seiten der Großen Koalition in den je-weiligen Wahlprogrammen angekündigt wurde, das imKoalitionsvertrag stand und das wir jetzt umsetzen, umdamit dieses Versprechen zu erfüllen.
Die Mietpreisbremse soll galoppierende Mieten, wiewir sie in einigen Regionen, vor allem in den Großstäd-ten und Ballungsräumen, vorfinden, stoppen, und daskann sie auch. Entweder haben wir das Problem, dassMieten um 30 Prozent steigen, oder wir haben es nicht.Aber da, wo das bisher der Fall ist, geben wir das Mittelan die Hand, diese Erhöhung der Mieten auf 10 Prozentüber der ortsüblichen Vergleichsmiete zu begrenzen.
Der Befund – das ist hier schon ausgeführt worden –ist, dass wir eine sehr unterschiedliche, differenzierte Si-tuation in Deutschland haben – auch in meinem Wahl-kreis ist das so –: von den ländlichen Regionen bis hinzu den Ballungszentren. In attraktiven Ballungszentren,in die viele Menschen ziehen, wo Hochschulen gegrün-det werden und Studenten eine Wohnung suchen, wo einbisher normales Viertel plötzlich zum Szeneviertel wird,gibt es die Entwicklung, dass Mieten exzessiv erhöhtwerden, ohne dass der Eigentümer diese Erhöhungrechtfertigen kann. Das stellt dann diejenigen, die ausberuflichen oder aus privaten Gründen eine neue Woh-nung suchen, vor Probleme.Genau da setzt die Mietpreisbremse wirkungsvoll an:Für die Dauer von fünf Jahren kann bei neuen Mietver-trägen durch eine Verordnung des Landes die neue Mieteauf eine Höhe von 10 Prozent über der ortsüblichen Ver-
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
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gleichsmiete begrenzt werden. Das ist deshalb gut, weildie Wohnung kein Renditeobjekt ist, sondern weil sieder Lebensmittelpunkt der Menschen ist, der Ausgangs-punkt für ihre Kontakte, für ihre Freundschaften, für ihrsoziales Umfeld. Die Wohnung ist ganz einfach ein Zu-hause; das dürfen wir bei der ganzen Diskussion umsMietrecht nicht vergessen.Die Länder müssen nun tätig werden und Rechtsver-ordnungen in Kraft setzen. Dabei sind sie nicht völligfrei. Das ergibt sich aus der Verfassung; denn die Miet-preisbremse ist ein Eingriff in das Eigentum. Deshalb istdie Umsetzung an gewisse Hürden gebunden. Wir habendafür gesorgt, dass diese Hürden unter bestimmten Vo-raussetzungen genommen werden können. Aber dasmuss begründet und genauer untersucht werden.Wir wissen auch, dass die Mietpreisbremse nur dieSymptome kuriert. Letztendlich kann man weder Schul-den abwählen, noch durch eine Mietpreisbremse denMarktmechanismus aushebeln. Deshalb kann sie nureine begrenzte Wirkung haben; das ist uns bewusst. Abersie wird diese begrenzte Wirkung entfalten. Gleichzeitigdarf sie die Ursachen nicht verschlimmern. Es ist bereitsausgeführt worden: Das, was den Mietern letztendlichwirklich hilft, ist ein breiteres Angebot an Wohnungen.Dann haben sie die Möglichkeit, zu wählen, und dannsind sie angesichts einer angedrohten Mieterhöhung sei-tens des Vermieters nicht erpressbar.Deshalb war es so wichtig, dass wir die Mietpreis-bremse nicht als Investitionsbremse ausgestaltet haben.Das haben wir durch die Aufnahme einer Ausnahmere-gelung für Neubauten und durch die Aufnahme einerweitgehenden Ausnahmeregelung bei umfassenden Re-novierungen geschafft. An diesen Stellen haben wir dieursprünglichen Vorschläge aus dem Justizministeriumentscheidend verbessert.
Auch an anderer Stellen haben wir Verbesserungenerzielt, unter anderem bei dem schon angesprochenen§ 5 Wirtschaftsstrafgesetz, den der Justizminister ausdem Gesetzbuch streichen wollte. Unserer Meinungnach war es nicht Sinn der Sache, eine begrenzte Miet-preisbremse einzuführen und gleichzeitig den allgemeinund unabhängig von weiteren Vorgaben geltenden § 5Wirtschaftsstrafgesetz zu streichen. Das war einer derPunkte, die wir von Anfang an vertreten haben, und dashat sich im Gesetzentwurf entsprechend niedergeschla-gen.Es ist jetzt Sache der Länder – am besten zusammenmit den Kommunen –, zu überlegen, wie sie die im Ge-setzentwurf vorgesehenen fünf Jahre nutzen können, umdie Situation für die Mieter zu verbessern. Dabei geht esum Maßnahmen wie die Erleichterung von Stellplatzan-forderungen, die Erhöhung der Wohnungsbauförderung,die verstärkte Ausweisung von Bauland und teilweiseauch die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, damiteventuell auch weiter außerhalb liegende Wohngebietean Attraktivität gewinnen und dadurch die Ballungs-räume entlastet werden.Der Gesetzentwurf ist aber wie jedes Gesetzesvorha-ben in einer Großen Koalition ein Kompromiss. Uns tutes leid, dass die Mietpreisbremse nicht genutzt wurde,um Mietspiegel verbindlich vorzuschreiben. Gerade aufangespannten Wohnungsmärkten wäre das ein großerVorteil. Denn wir stellen jetzt in jedem Fall eines neuenMietvertrages Mieter und Vermieter vor die Frage, wiehoch die ortsübliche Vergleichsmiete ist, auf die maxi-mal 10 Prozent aufgeschlagen werden dürfen. Das kannextrem streitanfällig sein, und es treibt die Menschen inteure Gerichtsprozesse. Ich habe selber als RichterinMietprozesse geführt und weiß von daher, wie schwieriges ist, dabei zu einer verlässlichen Vergleichsgrundlagezu kommen.Deshalb hätte es uns am Herzen gelegen, zu verbind-lichen Mietspiegeln zu kommen. Wir wären auch zu dennotwendigen Übergangsfristen bereit gewesen. Hier isteine Chance vertan worden. Trotzdem appelliere ich andie Kommunen, sich dort, wo es möglich ist, um aktuelleMietspiegel zu bemühen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habennoch einige weitere Vorhaben im Mietrecht im Koali-tionsvertrag vereinbart. Insofern ist mein nachdrückli-cher Appell, dass wir das im Blick behalten und dieInvestitionsanreize erhalten. Wer eigenes Geld in denWohnungsneubau oder die Sanierung des alten Bestan-des investieren soll, der hat ein legitimes Interesse daran,dass dieses Geld irgendwann eine Rendite abwirft. Esgibt noch genügend andere Möglichkeiten, sein Geld zuinvestieren. Es gibt dabei eine Korrelation: Bei hohenRenditen nimmt man ein höheres Risiko in Kauf; beiniedrigen Renditen nimmt man ungern ein Risiko inKauf. Wenn das dann auch noch mit einem hohen Auf-wand verbunden ist, ist das nicht gut. Eine besonders un-günstige Kombination ist, wenn ein hoher Aufwand undein hohes Risiko auf eine niedrige Rendite treffen. Des-wegen müssen wir darauf achten, dass genau das beimWohnungsmarkt nicht der Fall ist.
Wenn wir die weiteren Vorhaben im Koalitionsvertragangehen, dann müssen wir das vermeiden. Ich denkezum Beispiel an die Amortisationsgrenze bei der energe-tischen Sanierung. Wir fordern die Menschen auf, in die-sen Bereich zu investieren, aber verdienen sollen sienicht daran. Ich weiß nicht, ob das funktioniert. Damitsollten wir uns vielleicht noch einmal befassen.
Ich komme noch kurz zum Bestellerprinzip. Wir sor-gen damit für mehr Fairness in dem Dreipersonenver-hältnis von Vermieter, Mieter und Makler. Wir alle ken-nen die Situation – wer sie nicht selbst erlebt hat, kenntsie vielleicht aus der Werbung –: Eine Wohnung wird alsRingeltäubchen angeboten. 20 bis 30 Interessenten ste-hen Schlange, aber derjenige, der das große Los gezogen
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
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hat, kriegt die Wohnung nur dann, wenn er mit demMakler, den er vorher noch nie gesehen hat, einen Ver-trag abschließt. Das wollen wir ändern, und das schaffenwir auch mit der Neuregelung des Bestellerprinzips.Ein bisschen schade ist, dass das auch dann gilt, wenndie Lage nicht so eindeutig ist, und dort kann es einehemmende Wirkung haben. Wir hätten die berechtigtenund einstimmigen Hinweise des Bundesrates dazu auf-greifen und uns um eine kreative Lösung bemühen sol-len. Leider gab es in diesem Punkt auch beim Koali-tionspartner wenig Bewegung.
Stichwort „kreativ“: ein kurzer Blick auf die Uhr,
bitte.
Deshalb schließen wir mit der Mietpreisbremse heute
ein Projekt ab, das das soziale Mietrecht stärkt, ohne
Investitionsbremse zu sein. Wir schaffen damit den Rah-
men. Die Länder müssen das jetzt mit Augenmaß und
Vernunft umsetzen.
Ich danke Ihnen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-ordneten Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tri-büne! Als ich diesen Referentenentwurf vor über einemJahr zu Gesicht bekommen habe, hätte ich mir niemalsvorstellen können, dass er so lange im Verfahren steckt,so lange blockiert wird. Es sind mehr als 500 Tage ver-gangen, seit Angela Merkel die Mietpreisbremse ver-sprochen hat. Diese Mietpreisbremse hätte nach demKoalitionsvertrag ein Sofortprogramm in den ersten 100Tagen sein sollen. Ich finde, diese Mietpreisbremse istdas langsamste Sofortprogramm, das dieser Bundestagseit langer Zeit gesehen hat. Die Große Koalition bewegtsich in der Wohnungspolitik im Schneckentempo.
Sie bringen heute ein Gesetz auf den Weg, aber eskommt viel zu spät. Die Mieten sind in den letzten500 Tagen – das haben wir Grüne in einer Studie nach-gewiesen – rasant gestiegen, und gleichzeitig haben Siedie Mietpreisbremse im Deutschen Bundestag verzögertund blockiert. Das ist ein Skandal. Am Ende zahlen fürdiese absurde Geschichte die Mieterinnen und Mieter inDeutschland, egal ob in Berlin, Tübingen oder München,die Zeche.Aber es geht noch viel weiter; denn es wird dauern,bis die Mietpreisbremse vor Ort wirklich Wirkung ent-faltet. Sie haben sehr viele Hürden in dieses Gesetz ein-gebaut. Ich glaube, dass jetzt die Länder und die Kom-munen Ihre Hausaufgaben machen sollen. Das istirgendwie absurd. Ich glaube, dass mindestens ein biszwei Jahre benötigt werden, um dieses Gesetz, dieseMietpreisbremse vor Ort umzusetzen.
Ich sage Ihnen: Eine Mietpreisbremse, die nur im Ge-setzblatt steht, wirkt vor Ort noch nicht. Sie von derUnion haben viel dafür getan, dass diese Mietpreis-bremse nicht schnell umgesetzt werden kann.
Die Mietpreisbremse kommt zu spät, sie ist aber auchverdammt schlecht gemacht. Sie enthält Hürden, und– das ist schon beschrieben worden – sie ist löchrig wieein Sieb. Ich möchte ein paar Löcher benennen, die dieseMietpreisbremse hat, also Möglichkeiten, die es erlau-ben, dass die Mitpreisbremse umgangen wird.Erstens. Herr Maas, Sie haben von einem guten Tagfür die Mieterinnen und Mieter und von einem Schritt inRichtung mehr Mieterfreundlichkeit gesprochen. DieRügepflicht ist dem Mietrecht bis jetzt fremd. Das wis-sen auch Sie als Justizminister. Ich kann nicht verstehen,dass Sie diese Rechtskonstruktion in das Mietrecht hi-neinschreiben. Das ist mieterinnen- und mieterfeindlich.Das ist nichts anderes als eine Strategie zur Umgehungder Mietpreisbremse.
Zweitens. Die umfassende Modernisierung, die Sieals Ausnahme im Gesetz stehen haben, ist am Endenichts anderes als ein Anreiz für hochpreisige Moderni-sierung. Hochpreisige Modernisierung heißt Luxusmo-dernisierung, ist also eine Strategie zur Umgehung derMietpreisbremse. Ich finde, dass Berlin, Frankfurt, Stutt-gart oder München nicht mehr Luxuswohnungen brau-chen, sondern mehr bezahlbaren Wohnraum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wirGrüne kennen uns mit Blockieren aus. Wir haben Sym-pathie für Blockaden, zum Beispiel in Dresden gegenNazis. Aber dass Sie die Mietpreisbremse und sozialesMietrecht nun über viele Tage hier im parlamentarischenVerfahren blockiert haben, halten wir für falsch. Da kannich Ihnen nur sagen: Hören Sie damit auf, und beendenSie endlich Ihren Sitzstreik in Sachen soziales Mietrecht.
Ich kann Ihnen sagen, wozu dieser Sitzstreik führenwird. Er wird dazu führen, dass Sie Wahlergebnisse von16 Prozent wie in Hamburg bekommen. Das zeigt ganzklar: Sie haben keine Antworten auf die Probleme der
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Christian Kühn
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Menschen in den Großstädten und Ballungsräumen.Deswegen haben Sie dort zu Recht eine Klatsche be-kommen. Sie verstehen die Großstädte nicht, aber auchdie Großstädte verstehen Sie nicht mehr – und das zuRecht.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nachder Mietpreisbremse ist vor der Mietrechtsreform; dashaben Sie hier ja auch ausgeführt. Sie haben angekün-digt, jetzt noch eine große Mietrechtsreform durchzufüh-ren. Wann soll der Mietspiegel denn reformiert werden?Wann soll das „Heraussanieren“ von Menschen aus ih-ren Wohnungen beendet werden? Wenn Sie dafür ge-nauso lange wie für die Mietpreisbremse brauchen, wer-den wir diese Reform in dieser Legislaturperiode nichtmehr erleben; denn dann ist Wahlkampf, und dann gehtpolitisch eben nichts mehr. Ich habe den Eindruck: BeiIhnen in der Großen Koalition, da geht schon eine Weilenichts mehr.Danke.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dennis Rohde, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Allen Unkenrufen zum Trotz: Heute ist einguter Tag für die Mieterinnen und Mieter in diesemLand.
Nach Schätzungen des Justizministeriums werden dieMieter in diesem Land durch das Bestellerprinzip unddurch die Mietpreisbremse jährlich um 850 MillionenEuro entlastet. Ich finde, das kann man nicht kleinreden.Das ist ein Erfolg der Großen Koalition.
Ich sage auch ganz selbstbewusst: Die Verabschie-dung dieses Gesetzentwurfs heute ist auch ein Erfolg derSPD. Das gilt gerade, wenn man weiß, welche Forderun-gen auf uns eingeprasselt sind.
Da sollten pauschal alle Städte ohne Mietspiegel von derMietpreisbremse ausgenommen werden. Da sollte derAnwendungsbereich nicht nur örtlich beschränkt wer-den; vielmehr sollten innerhalb der örtlichen Beschrän-kung auch noch sachliche Beschränkungen, zum Bei-spiel auf kleine Ein- und Zweizimmerwohnungen,vorgenommen werden. Da sollten umfassende Moderni-sierungen dauerhaft ausgenommen werden. Da sollte dasBestellerprinzip derart aufgeweicht werden, dass derUmgehung Tür und Tor geöffnet worden wäre. Ich sage:Es ist gut, dass das alles es nicht in den Gesetzentwurfgeschafft hat.
Denn wir brauchen dieses Gesetz. Es ist nicht unserAnspruch an eine moderne Wohnungspolitik, denjeni-gen, die in Innenstädten wohnen und sich das Wohnendort nicht mehr leisten können, zu sagen: Wenn du es dirnicht leisten kannst, dann zieh doch aufs Land, dann ziehdoch an den Stadtrand. – Das kann doch nicht unser An-spruch sein. Natürlich wissen wir: Es gibt kein gesetzli-ches Recht darauf, in der Innenstadt zu leben.
Aber ich sage: Innenstädte dürfen nicht zu Luxuswohn-gebieten für die finanzielle Elite in diesem Land werden.Unsere Städte leben davon, dass sie bunt sind.
Unsere Städte leben von ihrer Vielfältigkeit. UnsereStädte leben davon, dass verschiedenste Menschen Türan Tür wohnen. Diese Vielfalt sicherzustellen, das istund das bleibt ein gesellschaftlicher Mehrwert, und dasist und das bleibt eine politische Herausforderung.
Uns ist vollkommen bewusst, dass wir dafür auch inden Markt werden eingreifen müssen. Ich möchte alldenjenigen zurufen, die in den letzten Tagen, Wochenund Monaten immer wieder mit der Eigentumsfreiheitargumentiert haben, die immer wieder Artikel 14 Grund-gesetz hochgehalten haben. Lesen Sie doch auch einmalAbsatz 2 dieses Artikels.
Da steht – ich zitiere –:Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleichdem Wohle der Allgemeinheit dienen.Meine Damen und Herren, wir leben in einer sozialenMarktwirtschaft und nicht, wie der eine oder andere esgerne hätte, in einer radikalen Marktwirtschaft.
Daher kündige ich an: Wir werden uns auch in Zukunftdas Recht herausnehmen, ordnungspolitische Eingriffevorzunehmen im Sinne der Mehrheit der Menschen inunserem Land.Auch ein Wort in Richtung Opposition. Sie haben unsin Ihren Redebeiträgen zaghaft kritisiert.
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Dennis Rohde
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Ich möchte Ihnen an dieser Stelle sagen: Vorsicht an derBahnsteigkante! Heute können Sie uns kritisieren; abermorgen müssen Sie zeigen, wie ernst es Ihnen wirklichmit dem Schutz der Mieterinnen und Mieter ist.
Ich sage Ihnen: Wir werden ganz genau darauf achten,was Sie dort mit der Mietpreisbremse machen, wo Sieregieren.
Wir werden zum Beispiel ganz genau darauf achten, wasSchwarz-Grün in Hessen mit der Mietpreisbremsemacht. Achten Sie lieber darauf, dass Ihre Kritik vonheute Morgen nicht zum Bumerang wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein guterTag für die Mieterinnen und Mieter in Deutschland. Abmorgen beginnt die Arbeit am zweiten Mietpaket; eswurde angekündigt. Ab morgen arbeiten wir an der Um-setzung des zweiten Paketes im Sinne des Koalitionsver-trages. Ab morgen arbeiten wir an einem zweiten gutenTag für die Mieterinnen und Mieter in diesem Land.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Das, worüber wir heute abstimmen, istein gutes Ergebnis für die Mieterinnen und Mieter inDeutschland;
denn mit der Mietpreisbremse dämpfen wir stark stei-gende Mieten in angespannten Wohnungsmärkten undUniversitätsstädten.Wir haben die Mietpreisbremse klug ausgestaltet. Sieist keine Investitionsbremse – Neubauten sind ausge-nommen –, und sie greift gezielt dort, wo sie wirklichgebraucht wird. Mit diesem Gesamtpaket setzen wir alsCDU/CSU unser Wahlversprechen um. Wir wollen dieMietpreisbremse; denn Menschen sollen in ihren ange-stammten Wohnvierteln wohnen bleiben können undnicht verdrängt werden – egal ob sie auf dem Dorf inFranken oder im Münchener Stadtteil Schwabing lebenwollen. Außerdem wollen wir, dass Studierende in denUniversitätsstädten bezahlbaren Wohnraum finden.Die Wohnungsmärkte in Deutschland funktionieren inweiten Teilen, in manchen aber eben auch nicht. Geradein Groß- und Universitätsstädten sind die Wohnungs-märkte angespannt. Die Studierendenzahlen steigen an.Teilweise werden Höchstwerte verzeichnet. Des Weite-ren nimmt die Anzahl der Singlehaushalte zu. Fast40 Prozent aller Haushalte sind derzeit Singlehaushalte.Durch diese und andere Entwicklungen ist dasGleichgewicht der Wohnungsmärkte aus den Fugen ge-raten. Ich möchte Ihnen ein Beispiel erzählen: Eine Stu-dentin aus Bamberg hat mir vor kurzem erzählt, dass siefür eine 24-Quadratmeter-Wohnung knapp 400 Euro be-zahlt. Das kann nicht sein! Wir bremsen mit dem heuti-gen Beschluss den weiteren Anstieg der Mieten für dieZukunft aus. Und das ist gut so, meine Damen und Her-ren!
Die Mietpreisbremse greift aber gezielt genau dorträumlich und zeitlich begrenzt, wo sie notwendig ist.Würde es so kommen, wie es die Fraktion Die Linkewill, würden keine neuen Wohnungen mehr gebaut.
Was will die Linke? Eine flächendeckende und unbefris-tete Mietpreisbremse in ganz Deutschland? Mieterhö-hungen nur noch in Höhe des Inflationsausgleichs? –Wer würde da noch investieren, wenn das so käme?
Dann würde die Ursache des Problems – der mangelndeWohnraum – nicht behoben. Das wäre dann großer Käse,verehrte Frau Lay und Frau Künast!
Das beste Mittel gegen steigende Mieten ist doch,ausreichend Wohnraum zu schaffen. Ein größeres Ange-bot dämpft letztendlich automatisch die steigenden Miet-preise. Wir alle kennen das volkswirtschaftliche Prinzipgut, nach dem Angebot und Nachfrage den Preis regeln.Bei der Linken und bei dem, was Frau Künast vorhin ge-sagt hat, wäre ich mir da allerdings nicht so sicher,meine Damen und Herren.
Damit neuer Wohnraum geschaffen wird, müssenauch wir aufseiten der Politik die richtigen Anreize bzw.die richtigen Rahmenbedingungen setzen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8607
Dr. Anja Weisgerber
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Mit diesem Gesetz sorgen wir dafür, dass auch die Ursa-chen angegangen werden. Deshalb ist es richtig, dass dieNeubauten ausgenommen sind. Damit bleibt der Anreizerhalten, neue Wohnungen zu bauen. Das haben wir inden Verhandlungen erfolgreich durchgesetzt, und daraufsind wir auch stolz.
Es ist auch richtig, verehrter Herr Kühn, dass umfas-send modernisierte Wohnungen bei Erstvermietungenausgenommen sind. Ich möchte nicht verschweigen,dass ich mir die komplette Ausnahme auch bei weiterenVermietungen gewünscht hätte, und zwar auch aus Kli-maschutzgründen. Wir brauchen einen Anreiz für dieDurchführung von Modernisierungsmaßnahmen, auchvon energetischen Sanierungen. Wir als Klimapolitikerwissen, dass im Gebäudebereich ein erhebliches Ein-sparpotenzial vorhanden ist. Das müssen wir nutzen, umunsere Klimaziele zu erreichen. Deswegen ist es auchrichtig, dass die umfassend modernisierten Wohnungenvon der Mietpreisbremse ausgenommen sind, meine Da-men und Herren.
Die genaue Ausgestaltung, ab wann und wo die Miet-preisbremse wirklich greift, obliegt jetzt nicht demBund, sondern den Ländern. Das ist auch richtig so;denn dort muss jetzt vor Ort gezielt etwas passieren. DieLänder müssen zunächst die Gebiete bestimmen, in de-nen die Mietpreisbremse greifen soll. Sie können ein-zelne Städte und Gemeinden oder auch nur bestimmteStadtteile zu „angespannten Wohnungsmärkten“ erklä-ren. Es ist auch wichtig und richtig, dass die Länder fürdiese Gebiete jetzt konkrete Maßnahmenpläne vorlegen,wie sie den Wohnungsmangel gezielt bekämpfen und er-reichen wollen, dass dort auch wieder Wohnungen ge-baut werden. Durch die Mietpreisbremse allein entste-hen nämlich keine neuen Wohnungen. Wir müssen auchdie Ursachen und nicht nur die Symptome bekämpfen.
– So, wie das ausgestaltet wurde, verzögert das die Miet-preisbremse nicht. Das ist richtig ausgestaltet worden,und die Länder werden das in diesem Sinne umsetzen.Auch die soziale Wohnraumförderung kann helfen,vor Ort mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Daherappelliere ich heute erneut an alle Länder, die halbe Mil-liarde Euro, mit der der Bund sie jährlich unterstützt,endlich konsequent und zielgerichtet für den sozialenWohnungsbau zu verwenden. Dass das gelingen kann,zeigt Bayern. In Berlin ist das unter Rot-Rot nicht gelun-gen, Frau Lay.
Die Mietpreisbremse ist nur ein Bestandteil unsererWohnungsbaupolitik. Wir wollen in ganz Deutschlandbezahlbaren Wohnraum schaffen. Wir übernehmen Ver-antwortung für die gesamte Wohnungspolitik. Im Rah-men des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauendiskutieren Vertreter von Bund, Ländern, Kommunenund anderen gesellschaftlich relevanten Akteuren, wiewir das gemeinsame Ziel, die wohnungspolitischenHerausforderungen zu meistern, erreichen können. ImRahmen dieses Bündnisses untersucht die Bausenkungs-kommission auch, wie kostentreibende Vorschriften imBauwesen verringert werden können, welche Vereinfa-chungsmöglichkeiten bestehen.Mit diesem Gesamtpaket, mit dem Bündnis für be-zahlbares Wohnen und Bauen und der Mietpreisbremse,sind wir auf dem richtigen Weg. Wir unternehmen heuteeinen wichtigen Schritt, indem wir die Mietpreisbremsein der uns vorliegenden Form verabschieden.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Metin Hakverdi, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Heute ist ein guter Tag für Millionen Miete-rinnen und Mieter in Deutschland. Menschen in Bal-lungsgebieten wie Hamburg, München, Berlin, aberauch Düsseldorf und Frankfurt können heute aufatmen:Die Mietpreisbremse kommt, und sie kommt ohne Ab-striche. Sie kommt mit dem Bestellerprinzip bei derMaklercourtage. Sie kommt, wie die SPD sie im Koali-tionsvertrag durchgesetzt hat.Für uns Sozialdemokraten gehört die Mietpreis-bremse neben dem Mindestlohn zu den wichtigsten ord-nungspolitischen Interventionen, die wir durch unsereRegierungsbeteiligung erreicht haben. In den beidenwichtigen Lebensbereichen Wohnen und Arbeit darf dieEntwicklung der Lebensverhältnisse nicht marktradika-len Anschauungen überlassen werden.
Der Anstieg der Mietpreise hat Ursachen. Menschenziehen wieder vermehrt in die Ballungsgebiete. Das hatdamit zu tun, dass die Ballungsgebiete oft über eine bes-sere Infrastruktur verfügen als die ländlichen Räume.Ältere Menschen ziehen in die Städte, weil sie dort einebessere medizinische Versorgung vorfinden. Familienbleiben eher in den Städten, weil sie dort eine gute Ver-sorgung mit Hort, Kindertagesstätten und Schulen vor-
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8608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Metin Hakverdi
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finden. Auf diese Entwicklung haben sowohl die Politikals auch der freie Markt nicht reagiert. Dies ist ein Fallvon Marktversagen. Es wurden nicht genug Wohnungenangeboten; denn es wurden nicht genug Wohnungen ge-baut. Die Mietpreise stiegen an. Die Menschen in Ham-burg, zum Beispiel die Menschen in meinem Wahlkreis,in Bergedorf, Harburg und Wilhelmsburg, beobachtendiese Entwicklung mit Sorge. Sie fragen sich, ob sieauch in Zukunft noch in ihrem Quartier leben können.Sie fragen sich, ob sie auch im Alter die Miete in ihremQuartier bezahlen können. Deshalb ist die Mietpreis-bremse eine richtige und wichtige ordnungspolitischeMaßnahme.Machen wir uns aber nichts vor: Allein mit der Miet-preisbremse werden wir das Problem nicht gelöst be-kommen. Es bedarf eines umfassenderen Ansatzes.
Neben der Mietpreisbremse wird es auch darauf ankom-men, bezahlbaren Wohnraum neu zu schaffen. Dafürmuss aber aktiv Wohnungsbau betrieben werden. Ham-burg hat mit unserem Ersten Bürgermeister Olaf Scholzvorgemacht, wie man das Ruder herumreißen kann.
Jedes Jahr wurde der Neubau von über 6 000 Wohnein-heiten genehmigt. Das ist eine wichtige wohnungsbau-politische Maßnahme, und allmählich greift diese auch.Der Anstieg der Mieten in Hamburg flacht langsam ab.Die Politik muss helfen, bezahlbaren Wohnraum zuschaffen. Auch in Zukunft gilt für uns Sozialdemokra-ten, dass Wohnen und Arbeiten wichtig sind: Erstens.Von Arbeit muss man leben können. Zweitens. Wohn-raum muss bezahlbar sein.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Yvonne Magwas, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! Ich möchte den Vorrednern aus meiner Frak-tion danken, die bereits das Wesentliche herausgearbeitethaben. Heute setzen wir wieder eines unserer Vorhabenaus dem Koalitionsvertrag um. Ich begrüße es sehr, dasses uns gelungen ist, einen stimmigen und ausgewogenenGesetzentwurf vorzulegen.
Wie man weiß, gab es anfangs einige Unklarheitenüber die Reichweite der Vereinbarung im Koalitionsver-trag. Ich sehe daher mit Zufriedenheit, dass wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Lösungsfindung mit unse-rem Eckpunktepapier bereits in einem frühen Stadiumunterstützen und umsetzen konnten.
Der heute zu beschließende Gesetzentwurf vereint da-her auch zwei wesentliche wohnungspolitische Grund-sätze. Zum einen geht es darum, die Bezahlbarkeit desWohnens zu sichern und eine Antwort zu geben aufüberzogene Mieten in angespannten Wohnungsmärkten.Zum anderen wissen wir aber auch, dass das wirksamsteMittel gegen hohe Mieten der Wohnungsneubau ist. InAnbetracht dessen und auch vor dem Hintergrund desArtikels 14 Grundgesetz ist es richtig, eine zeitliche Be-fristung vorzunehmen, aber auch eine definierte räumli-che Begrenzung.
Ebenso ist es richtig, die Mietpreisbremse an konkreteMaßnahmen zur Behebung der Wohnungsnot zu kop-peln; denn die Lösung des Kernproblems heißt: bauen,bauen, bauen.
Die Mietpreisbremse verschafft uns nun die notwen-dige Zeit, um den partiellen Wohnungsmangel zielfüh-rend anzugehen. Hierfür soll das Bündnis für bezahlba-res Wohnen und Bauen ein zentraler Baustein sein. DieZeit drängt. Somit ist es wichtig, dass wir den Zeitplaneinhalten und die Ergebnisse des Bündnisses einfordern.Meine Damen und Herren, meine Heimat, das Vogt-land, gehört zu den Gebieten, in denen die Mietpreis-bremse keine große Bedeutung hat. Dennoch verknüpfenauch die Menschen dort Hoffnungen mit dem Bündnisfür bezahlbares Wohnen und Bauen. Das Stichwort hierheißt „demografischer Wandel“; denn die Bevölkerungschrumpft, und die Menschen werden immer älter. Bei-des hat Auswirkungen auf die Lebensqualität im ländli-chen Raum. Notwendig sind hier Gesundschrumpfungs-prozesse von kleinen Städten und Gemeinden, ohnenatürlich die Attraktivität außer Acht zu lassen. Und eswerden zunehmend Wohnräume benötigt, die barriere-frei und energieeffizient sind. Jetzt schon müssen wiruns darauf einstellen, dass der Bedarf diesbezüglichmassiv ansteigen wird. Wir halten auch deshalb an dervereinbarten steuerlichen Förderung fest und freuen unsüber die Aussagen der KfW, die Zuschüsse für die ener-getische Sanierung und den altersgerechten Umbau zuerhöhen.Meine Damen und Herren, bezahlbares Wohnen wirdauch durch sozialen Wohnungsbau sichergestellt. Leiderwerden die Mittel, die der Bund dafür an die Ländergibt, nicht von allen Ländern dazu genutzt. Das Negativ-beispiel Brandenburg habe ich bereits in der letzten De-batte angeführt. Ich plädiere dafür, dass sich die Länderverbindlich verpflichten, die Bundesmittel fortan zweck-gebunden für den sozialen Wohnungsbau zu verwenden
und vor allem aussagekräftig darüber zu informieren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8609
Yvonne Magwas
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Wie gesagt, die Länder sind nun gefordert, die Miet-preisbremse umzusetzen und den Wohnungsneubau an-zuschieben. Das scheinen aber nicht alle zu wollen. Dielinke Infrastrukturministerin aus Thüringen hat bereits inder Thüringer Allgemeinen Zeitung vom 26. Februar an-gekündigt, nicht an eine schnelle Einführung einer Miet-preisbremse zu denken, sondern lieber abzuwarten.
Dabei sieht der Thüringer Mieterbund gerade in den Bal-lungsräumen Erfurt, Weimar und Jena großen Bedarf.Thüringen scheint also wieder einmal eine Chance zuverpassen.Abschließend bleibt zu hoffen, dass Thüringen eineAusnahme bleibt. Wir werden die Mietpreisbremseheute beschließen und setzen damit auf bezahlbaresWohnen und vor allem auf Bauen, Bauen, Bauen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Miet-
rechtsnovellierungsgesetzes. Der Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/4220, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/3121 und
18/3250 anzunehmen. Hierzu liegen drei Änderungsan-
träge vor, über die wir zuerst abstimmen: ein Änderungs-
antrag der Fraktion Die Linke und zwei Änderungsan-
träge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die beiden
Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
werden wir in namentlicher Abstimmung behandeln.
Danach müssen wir die Sitzung unterbrechen, um das
Ergebnis der Abstimmungen über die Änderungsanträge
auszuzählen.
Anschließend kommen wir zur dritten Lesung. Zum
Schluss werden wir über einen Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. – Das sind
also die Abstimmungen, vor denen wir jetzt stehen.
Bevor wir zu den namentlichen Abstimmungen kom-
men, stimmen wir über den Änderungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/4223 ab. Wer für den
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/4223 stimmt, den bitte ich um sein Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-
Fraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung der Frak-
tion Die Linke abgelehnt.
Nun stimmen wir über zwei Änderungsanträge der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, zu denen namentli-
che Abstimmung verlangt wurde.
Abstimmung über den Änderungsantrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4224. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze an den Abstimmungsurnen einzunehmen. – Sind
jetzt alle Urnen ordnungsgemäß besetzt? – Das ist der
Fall. Ich eröffne die namentliche Abstimmung über den
Änderungsantrag auf Drucksache 18/4224.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4225. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, wieder die Plätze an den Urnen ein-
zunehmen. – Ich eröffne die zweite namentliche Ab-
stimmung über den Änderungsantrag auf Drucksache
18/4225.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine
Stimme jetzt bei der zweiten namentlichen Abstimmung
noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentli-
chen Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung.
Die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich bitte die Kollegin-nen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen.Protokoll des von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelten Ergebnisses der namentlichen Ab-stimmung über den Änderungsantrag der AbgeordnetenRenate Künast, Christian Kühn, Luise Amtsberg sowieweiterer Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs derBundesregierung zur Dämpfung des Mietanstiegs aufangespannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung desBestellerprinzips bei der Wohnungsvermittlung – Miet-rechtsnovellierungsgesetz –, Drucksachen 18/3121,18/3250, 18/4220 und 18/4224: abgegebene Stimmen587. Mit Ja haben gestimmt 113, mit Nein haben ge-stimmt 474, kein Kollege und keine Kollegin haben sichenthalten. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 587;davonja: 113nein: 474JaDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André Hahn
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8610 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
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Heike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerCorinna RüfferUlle SchauwsDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von Marschall
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8611
Vizepräsident Peter Hintze
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Hans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Elisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterAngelika GlöcknerKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannDirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené Röspel
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8612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
Dr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesWir kommen nun zu dem von den Schriftführerinnenund Schriftführern ermittelten Ergebnis der zweitennamentlichen Abstimmung, Drucksachen 18/3121,18/3250, 18/4220 und 18/4225, ebenfalls das Miet-rechtsnovellierungsgesetz betreffend: abgegebene Stim-men 583. Mit Ja haben gestimmt 114, mit Nein habengestimmt 469, Enthaltungen keine. Der Änderungsan-trag ist damit abgelehnt.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 582;davonja: 113nein: 469JaDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerCorinna RüfferUlle SchauwsDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8613
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Elisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel Bas
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8614 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Dirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterAngelika GlöcknerKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannDirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesIch darf darauf hinweisen, dass vier Erklärungen zurAbstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor-liegen.1)Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf derBundesregierung auf den Drucksachen 18/3121 und18/3250 zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Ge-setzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktionund der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke mit Ge-genstimme eines Abgeordneten aus der CDU/CSU-Frak-tion in zweiter Beratung so angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzenzu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen1) Anlage 4der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Ent-haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen sowie einer Gegenstimme aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/4226. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-tion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der FraktionDie Linke und Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4 b. Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „Mietenanstieg stop-pen, soziale Wohnungswirtschaft entwickeln und dauer-haft sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8615
Vizepräsident Peter Hintze
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schlussempfehlung auf Drucksache 18/4219, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/504 abzuleh-nen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-tion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der FraktionDie Linke angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausErnst, Jutta Krellmann, Susanna Karawanskij,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEMindestlohn sichern – Umgehungen verhin-dernDrucksache 18/4183Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Gibt es dazuWiderspruch? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann istso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteileich das Wort dem Abgeordneten Klaus Ernst, FraktionDie Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dass sich gerade einige von der CDU vomAcker machen, ist symptomatisch für dieses Thema. Ichhabe den Eindruck: Das gilt auch für das, was Sie selbstim Parlament beschlossen haben. Es war ein unheimli-ches Gewürge, bis dieser Mindestlohn zustande kam. Eshat fast ein Jahrzehnt gedauert, ein Jahrzehnt, in dem Siefür die niedrigsten Löhne in dieser Republik mitverant-wortlich waren. Jetzt haben Sie ein Gesetz gemacht. Ichsage Ihnen: Getraut habe ich Ihnen bei diesem Themanie. Aber was wir jetzt erleben, ist schon ein seltenerVorgang. Sie haben all dem zugestimmt, was jetzt Ge-setz ist, sabotieren aber nun den Mindestlohn und de-montieren die Ministerin, die dafür verantwortlich ist.Das ist ein unglaublicher Vorgang.
Mit Ihnen als Koalitionspartner braucht man wirklichkeine Feinde mehr. Sie behaupten, das sei ein bürokrati-sches Monster, weil Arbeitszeiten erfasst werden müs-sen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen:Weil Arbeitszeiten erfasst werden, handelt es sich hier-bei um ein bürokratisches Monster. Wie soll denn eineAbrechnung auf Stundenlohnbasis überhaupt sinnvollstattfinden, wenn die Arbeitszeit nicht erfasst wird? Wiesoll das gehen? Wenn die Aufzeichnungspflicht im Zu-sammenhang mit Arbeitszeiten nicht eingehalten wird,ist ein Mindestlohn nicht kontrollierbar. Offensichtlichist das Ihr Interesse. Das soll natürlich nur bei Löhnengelten.Stellen Sie sich einmal vor, Sie fahren mit dem Autozur Tankstelle, aber es wird nicht erfasst, wie viele LiterSie in den Tank hineinschütten. Jeder wird sagen: Das istblanker Unsinn. – Zu meinen bayerischen Freunden:Wenn Sie im Biergarten ein paar Maß Bier trinken, aberdie Kellnerin nicht erfasst, wie viel Bier Sie getrunkenhaben, ist eine Abrechnung nicht möglich.
Ich habe den Eindruck: Ihre Kampagne gegen den Min-destlohn haben Sie nach fünf Maß Bier gemacht, so einUnfug ist das.
Zum Thema Bürokratiemonster: Die Deutsche Zoll-und Finanzgewerkschaft – ich weiß nicht, ob Sie wissen,wer das ist; das sind die, die kontrollieren sollen, waswir hier an Gesetzen machen – sagt: Ausnahmeregelun-gen erzeugen die Bürokratie. – Ich möchte gleich nochaus dem Magazin dieser Gewerkschaft zitieren. Ihr Vor-sitzender Dewes hatte bei der Anhörung zum Mindest-lohn im Jahre 2014 gesagt, je mehr Ausnahmen das Min-destlohngesetz vorsehe, desto aufwendiger werde dieKontrolle. Wenn Sie jetzt bürokratischen Unfug kritisie-ren, dann müssten Sie Ihre Ausnahmeregelungen kriti-sieren. Sie sind für die schwierige Kontrolle bei diesemThema verantwortlich.
Für die Kontrolleure sind die Ausnahmeregelungennicht nachvollziehbar. Ich möchte aus dem Magazin desBDZ zitieren:Für den BDZ war und ist es dabei nicht nachvoll-ziehbar, warum für mobile Tätigkeiten ohne sachli-che Begründung Ausnahmetatbestände geschaffenwurden. Besonders in den für Schwarzarbeit anfäl-ligen Branchen wie dem Transport- oder Taxige-werbe ist es für wirksame Kontrollen entscheidend,Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeitfestzuhalten.So weit die Kontrolleure.Wenn Sie diese Dokumentationspflichten aufweichenwollen, dann stellen Sie sich vor diejenigen, die an die-sem Gesetz nicht interessiert sind und sich auch nicht umdie Einhaltung dieses Gesetzes kümmern. Sie stellensich vor diejenigen, die in dieser Frage ein höchstes Maßan krimineller Energie haben.
Im Übrigen wissen Sie selber, dass eine Reihe dessen,was Sie kritisieren, schon lange gilt. Arbeitszeiten müs-sen in vielen Bereichen schon immer erfasst werden.Wie wollen Sie überhaupt Überstunden erfassen, wennSie nicht wissen, was die Regelarbeitszeit ist? Wie wol-len Sie das machen? Das ist vollkommener Unsinn.Der zweite Akt der Sabotage ist das, was Sie mit demPersonal machen. Die Zuständigen sagen: Wir brauchen
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8616 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Klaus Ernst
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2 500 zusätzliche Personalstellen. – Sie machen in dieserFrage viel zu wenig. Wir wissen, dass in diesem Bereichviel Personal fehlt. Am deutlichsten wird Ihre Haltungam Beispiel des sehr geschätzten Michael Fuchs; er istleider heute nicht da. Es tut mir wirklich leid, dass erjetzt nicht mitkriegt, wie ich zitiere, was er selber gesagthat. Wissen Sie, was Herr Fuchs gesagt hat? Ich habe eskaum glauben können. Er hat gesagt:Überall fehlen Polizisten. Aber wir stellen jetzt1 600 Zöllner ein, um den Unternehmen … auf dieFinger zu schauen. Das versteht doch kein Mensch!Was glauben Sie eigentlich, was die in der Finanzkon-trolle Schwarzarbeit Tätigen über so etwas denken? Dasist ihre Arbeit. Sie haben doch den Eindruck, dass diePolitik überhaupt nicht daran interessiert ist, dass kon-trolliert wird, wenn solche Aussagen von einem stellver-tretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion kom-men. Er sollte sich schämen und sich bei den Damen undHerren für den Unsinn, den er erzählt hat, entschuldigen.
Es geht hier nicht um ein Bürokratiemonster, sondernes geht um die Existenzgrundlage von Menschen, dievon diesem Lohn leben müssen. Notwendig sind nichtweniger Kontrollen, sondern mehr Überprüfung und we-niger Ausnahmeregelungen, so wie wir es in unseremAntrag fordern.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Professor Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hoff-nung des letzten Sommers, dass wir uns parlamentarischzum letzten Mal mit dem Mindestlohn beschäftigenmüssen, hat offensichtlich getrogen.
Zumindest kann man den Antrag der Linken jetzt zumAnlass nehmen, auf das eine oder andere hinzuweisen,das in der Debatte der letzten Wochen und Monate eineRolle gespielt hat. Ich will das in zehn Punkten tun.Erster Punkt. Der Mindestlohn gilt seit dem 1. Januar2015. Das ist auch gut so. Wir hören gleichzeitig, dasssich der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt weiterfortsetzt.
Das hatten einige Ökonomen anders vorhergesagt undvon bis zu 1,2 Millionen mehr Arbeitslosen gesprochen.Ich weiß nicht, ob das schlechte Ökonomie oder nur be-sonderes Pech beim Nachdenken war.
Aber es fällt schon auf: Das kommt immer aus der glei-chen Ecke.Zweiter Punkt. Es hat in den letzten Wochen einigeDebatten über die Verordnung der Ministerin gegeben.Das eine oder andere kann man an dieser Stelle vielleichtrichtigstellen. Der Mindestlohn ist ja mit überwältigendgroßer Mehrheit hier im Deutschen Bundestag angenom-men worden.
Die Verordnung der Ministerin schränkt den Geltungsbe-reich des Mindestlohns ein, sie weitet ihn nicht aus;
ich finde, das kann man an dieser Stelle richtigstellen.Man kann die Verordnung streichen. Aber dann würdesich die Überprüfung als problematisch erweisen, weilsehr viel mehr Arbeitsverhältnisse von einer Überprü-fung betroffen wären. Wir wollen aber die Problemberei-che in den Fokus nehmen. Das leistet zunächst einmaldie Verordnung der Ministerin.Dritter Punkt. Man hört, das Mindestlohngesetz seiein Bürokratiemonster.
Richtig ist: Beginn, Ende und Dauer der täglichen Ar-beitszeit müssen erfasst werden. Das ist pragmatisch,schnell und unproblematisch.
Monster, meine Damen und Herren, sehen anders aus.
Oder – um es deutlich zu sagen –: Um ein solches Mons-ter zu erlegen, braucht man keinen Wolf Biermann. Esreicht schon der kleine Bruder des heiligen Georg.
Ich glaube, durch die permanente Verwendung von Su-perlativen verdirbt man sich die Preise.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8617
Dr. Matthias Zimmer
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Vierter Punkt. Ich höre, es ist die Summe der Vor-schriften, die die Wirtschaft belastet. Das mag sein. DerChef der Arbeitsagentur Weise hat darauf hingewiesen– ich zitiere –:Bürokratisch heißt auch rechtsstaatlich. …
Es ist für die Wettbewerbsfähigkeit von Unterneh-men sehr wichtig, dass man klare Regeln hat.Ich glaube, im Wettbewerb ist ein zusätzliches Stück Be-rechenbarkeit entstanden. Das finde ich in Ordnung.Fünfter Punkt. Wir wissen um die Befindlichkeit vonkleinen und mittelständischen Unternehmen. Sie sindauch durch die dauernden Mahnungen des DGB, dassbis zu 500 000 Euro Bußgeld verhängt werden können,aufgeschreckt worden. Das ist bei groben Verstößendurchaus gerechtfertigt. Aber man muss auch deutlichsagen: Die Unternehmen sind weder zu doof noch zu kri-minell.
Ich glaube, viele sind durch unterschiedliche, zum Teildubiose Auskünfte von berufener oder unberufener Seiteeher verunsichert. Deswegen ist es gut, dass sich der Zollzunächst einmal auch als Unterstützer dieser Unterneh-men versteht, dass er diese Unternehmen berät und wirnicht sofort mit der Keule der Strafe vorgehen, wennnoch Rechtsunsicherheit herrscht. Ich glaube, das istauch im Sinne dieses Gesetzes.
Sechster Punkt. Wir haben immer gesagt, der Min-destlohn soll praxistauglich sein. Er soll auch zielscharfsein. Ich begrüße ausdrücklich die Initiative des Parla-mentskreises Mittelstand – wir haben sie übernommen –,dass man durchaus noch einmal darüber nachdenkensollte, ob man die Dokumentation der täglichen Arbeits-zeiten – das ist der einzige Punkt, in dem ich Ihnen wirk-lich recht gebe, Herr Kollege Ernst; er ist natürlich wich-tig – nicht anders leisten kann, und zwar entwederdadurch, dass sie vertraglich festgelegt sind und man le-diglich Abweichungen notiert, wie es heute schon üblichist, oder dadurch, dass es Einsatzpläne gibt, aus denenganz genau hervorgeht, wie die Arbeitszeit gestaltet ist.Ich glaube, für die Kontrollzwecke des Zolls reicht dasvöllig aus. Daher sollte es auch für unsere Zwecke imHinblick auf den Mindestlohn genügen.
Siebter Punkt. An der einen oder anderen Stelle gibtes sicherlich Abgrenzungsprobleme. Wir haben im Aus-schussbericht festgehalten: Wir wollen, dass der Min-destlohn für Sport und Ehrenamt nicht gilt, nämlich dort,wo nicht der Gelderwerb im Mittelpunkt steht, sonderndas Ehrenamt. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Minis-terin an dieser Stelle mit dem Deutschen Fußballbundund dem Deutschen Olympischen Sportbund zu einerRegelung gekommen ist. Ich glaube, wir müssen an dereinen oder anderen Stelle noch einmal überlegen, wiewir eine trennscharfe Abgrenzung zum Ehrenamt hinbe-kommen können. Denn eines wollen wir ja nicht: Wirwollen mit dem Mindestlohn nicht das Ehrenamt kaputt-machen. Ich glaube, das liegt in niemandes Interesse.Achter Punkt. Wir wollen bei alldem natürlich Achtgeben, dass der Mindestlohn und die zugrundeliegendeIntention nicht unterlaufen werden. Wir wollen einen ro-busten Mindestlohn. Wir wollen auch einen Mindest-lohn, der den wirtschaftlichen Gepflogenheiten und derwirtschaftlichen Realität Rechnung trägt.Deswegen hat es mich, ehrlich gesagt, schon ein biss-chen erstaunt, dass der Vorsitzende der Mindestlohn-kommission gesagt hat: Den Mindestlohn legen wirnachlaufend zu Tarifentwicklungen fest. – Das habenwir ausdrücklich so nicht gewollt. Ich denke, daraufmuss man Herrn Voscherau in aller Deutlichkeit hinwei-sen.
Neunter Punkt. Heribert Prantl hat gesagt, der Min-destlohn zähle zu den größten sozialpolitischen Errun-genschaften in der Nachkriegszeit. Eine so große Münzewürde ich vielleicht nicht nehmen.
– Ich finde es schön, dass Sie sich damit schon zufriedengeben.
Ich könnte einige größere sozialpolitische Errungen-schaften nennen, die alle von der Union initiiert wurden.Aber gut.Der Mindestlohn ist ein lernendes System. Wir habennie gesagt, dass all das, was wir jetzt in das Gesetzhineingeschrieben haben, in Stein gemeißelt ist, oderdass die Verordnung in Stein gemeißelt ist und die Rege-lungen somit für alle Ewigkeiten gelten.
Deswegen ist es gut, dass wir uns das eine oder anderenach Ostern noch einmal genauer anschauen und auf diePraxistauglichkeit hin untersuchen.Damit komme ich zum zehnten Punkt. Wenn wir sa-gen, dass wir das auf die Praxistauglichkeit hin untersu-chen wollen, ist damit der Grund angegeben, lieber Kol-lege Ernst, warum wir Ihren Antrag ablehnen wollen undwerden. Ihr Antrag entwirft nämlich ein Bild von einemrigiden, starren und wenig praktikablen Mindestlohn. Ichbin froh, dass diese Koalition das nicht so gemacht hat,sich stattdessen an den Lebensumständen orientiert unddie Prinzipien nicht über die Lebenswirklichkeit stellt.Herzlichen Dank.
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8618 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Brigitte Pothmer, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberHerr Zimmer, das war jetzt eine Rede an Ihre eigeneFraktion.
In den letzten Wochen habe ich nicht den Eindruck ge-wonnen, dass Ihre Kollegen, die vor den Mikrofonenauftreten, mit Argumenten zu überzeugen sind. Dabeigeht es in dieser Auseinandersetzung doch gar nicht umdie Frage, ob man bei einem Projekt dieser Größenord-nung vielleicht an der einen oder anderen Stelle auchnachbessern muss. Nur, ich kann Ihnen sagen: Ihr Ar-beitgeberflügel hat die Rolle des ehrlichen Sachwaltersbei dieser Aufgabe vollkommen verspielt.
Wer sich mit Schlag Neujahr, noch bevor das Silves-terfeuerwerk verdampft ist, hinstellt und schon sagt, dieAufzeichnungspflicht sei ein bürokratisches Monsterund müsse weg, der ist nicht seriös.Dann frage ich im Übrigen auch: Wie kommt das ei-gentlich? Sie haben das doch selbst beschlossen. DasRegelwerk zu diesem Mindestlohn ist Ihr Regelwerk,und zwar inklusive der Dokumentationspflicht.Ich will Ihnen mal was sagen: Das, was Sie hier auf-führen, ist wirklich ein durchsichtiges Schmierentheater.Hier im Parlament reden die weichgespülten Sozialpoli-tiker, und vor den Mikrofonen treten die Falken auf undvertreten ihre Position. Warum spricht heute nicht HerrLinnemann? Herr Linnemann, melden Sie sich zu Wort!
Wo ist Herr von Stetten? Wo ist Herr Fuchs? Kämp-fen Sie doch einmal mit offenem Visier, und lesen nichtnebenbei den Pressespiegel, während hier die Auseinan-dersetzung läuft!
Ihnen geht es um etwas ganz anderes: Sie instrumen-talisieren die Dokumentationspflicht, um den Mindest-lohn auszuhebeln. Sie gehen vor nach dem Motto: Wennwir schon einen Stundenlohn von 8,50 Euro akzeptierenmussten, dann werden wir bestimmen, wie lange eineStunde dauert. – Nur, dann ist das kein Mindestlohnmehr. So geht das gar nicht.
Der Versuch, die Minijobs komplett aus der Doku-mentationspflicht herauszunehmen, führt tatsächlichdazu, dass Sie die Minijobs zur mindestlohnfreien Zonemachen. Das ist genau der Bereich, von dem wir genauwissen, dass dort ganz schön „gechincht“ wird und Ar-beitnehmerrechte nicht durchgesetzt werden.
Wenn Sie die Minijobs von der Dokumentationspflichtausnehmen, dann können Sie den Mindestlohn in diesemBereich gleich einkassieren.Ich will es hier ganz deutlich sagen: Ich will gar nichtalle Arbeitgeber unter Generalverdacht stellen,
aber Sie müssen schon einmal zugeben, dass die Fanta-sie der Arbeitgeber in Sachen Umgehung des Mindest-lohns wirklich kaum Grenzen findet.Es ist schon so weit gekommen, dass Mitarbeiter inder Fleischindustrie Messergeld zahlen müssen, dassMitarbeiterinnen in Sonnenstudios so viele Gutscheineals Lohnersatzleistung bekommen, dass das auf keineKuhhaut mehr geht, und dass die Zeitvorgaben sehr un-realistisch sind. Dadurch wird der Mindestlohn ausgehe-belt. Herr Linnemann, wieso sprechen Sie nicht einmalmit diesen Arbeitgebern und kümmern sich darum?
Im Übrigen überzeugen die Argumente, die Sie vor-tragen, offensichtlich nicht einmal Ihre eigenen Leute,und ich spreche jetzt übrigens nicht von Herrn Zimmer,sondern von den Arbeitsministerinnen und Arbeitsminis-tern der Länder – auch der Union und auch in Bayern.Die haben in ihren Forderungen nämlich ein weit um-fänglicheres Kontrollvorhaben vorgesehen. Sie wolleneine Dokumentationspflicht für alle Tätigkeiten und vonallen Arbeitgebern und gehen deutlich weiter als das Ge-setz und das Regelungsinstrument der Bundesregierung.Ich schlage vor: Sprechen Sie einfach mal mit Ihren ei-genen Experten. Oder fürchten Sie, dass Ihre ideologi-schen Vorurteile dem nicht standhalten?
Noch mal: Ein Gesetz in dieser Größenordnungbraucht Korrekturen. Aber bevor wir für Korrekturensorgen, brauchen wir eine seriöse Analyse. Das, was Siewollen, ist die Durchlöcherung des Mindestlohns: DieAufzeichnungspflicht soll weg. Die Kontrollen sollenweg. Die Generalunternehmerhaftung soll weg. Ich sageIhnen: Wenn Sie so weitermachen, kassieren Sie denMindestlohn in der Praxis ein.Der Mindestlohn ist nur dann ein wirklicher sozial-politischer Fortschritt, wenn er bei allen Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern ankommt. Dafür brauchtes Regeln und Kontrollen. Ansonsten haben nämlichauch die ehrlichen Unternehmen das Nachsehen, und das
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8619
Brigitte Pothmer
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könnte eigentlich auch der Arbeitgeberflügel der Unionnicht wollen.Ich danke Ihnen.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Katja Mast, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Kollegin Pothmer, ich kann Ihneneines versichern: Weichgespült sind die Sozialpolitikerder Union nicht. Es waren nämlich harte Verhandlungenum den Mindestlohn.
Das will ich für meine Kolleginnen und Kollegen zu-rückweisen.Heribert Prantl hat gesagt:Der Mindestlohn gehört zu den größten sozialpoliti-schen Errungenschaften der Nachkriegszeit.
Er hat von einer „Großtat“ gesprochen, und ich finde, erhat recht.
Das Mindestlohngesetz ist heute seit 64 Tagen gültig.Um es in Monaten und Tagen zu sagen: Es ist seit zweiMonaten und fünf Tagen in Kraft. Aus meiner Sicht istes noch etwas früh, um Bilanz zu ziehen. Die Bilanz ei-nes Gesetzes nach so kurzer Zeit zu ziehen, ist ungefährso, als ob man heiratet und sich am Tag nach der Hoch-zeit überlegt, ob man sich wieder scheiden lässt.
In der Regel überlegt man vorher und nicht hinterher, obman heiratet,
und man stellt die Frage nach dem Sinn meistens aucherst im verflixten siebten Jahr und nicht nach zwei Mo-naten und fünf Tagen. Ich glaube deshalb, es ist wichtig,dass wir uns in der öffentlichen Debatte noch einmal an-schauen: Was ist Aufregung, und was ist sachlicher In-halt?Ich finde es richtig, dass wir über die Mindestlohnge-setzgebung diskutieren, weil ich und die SPD-Fraktionein fundamentales Interesse daran haben, dass der Min-destlohn für fast 4 Millionen Beschäftigte gilt und bei ih-nen auch ankommt. Wenn der Mindestlohn nicht wirktund bei den Menschen nicht ankommt, dann ist er nichtswert. Wir machen keine Gesetze, um Gesetze zu ma-chen, sondern wir machen Gesetze, damit die Bürgerin-nen und Bürger davon profitieren.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat diese Wocheeine Studie veröffentlicht. In einer repräsentativen Um-frage wurde die Frage gestellt: Haben Sie Erfahrungendamit gemacht, dass Arbeitgeber beim Mindestlohntricksen wollen? Fast jeder Fünfte hat gesagt: Ja, dieseErfahrung habe ich gemacht. – Das zeigt: Wir müssenhier darüber diskutieren, was da los ist. Deshalb ist esgut, dass wir heute diskutieren können.Wir hören von Umgehungsstrategien von Arbeitge-bern, zum Beispiel indem das Trinkgeld beim Bedieneneinbehalten und auf den Lohn angerechnet wird, indemMetzgern und Fleischern Messergeld auf den Mindest-lohn angerechnet wird, indem bei Zeitungsausträgern dievereinbarten Arbeitszeiten nicht ausreichen, die Zeitun-gen auszutragen, indem Bereitschaftszeiten nicht auf dieArbeitszeiten angerechnet werden, indem Lkw-Fahrerngesagt wird: „Solange du fährst, arbeitest du. Aber wenndu deinen Lkw be- und entlädst, arbeitest du nicht“ undnoch viele weitere Dinge. Alles, was ich gerade aufge-zählt habe, ist Missbrauch. Das ist alles nicht in Ord-nung. Letztendlich ist das Betrug bzw. Beihilfe zum Be-trug, wenn man dabei mitmacht. Dafür braucht es keinerechtlichen und sachlichen Klarstellungen. Es ist mirwichtig, das an dieser Stelle zu sagen.
Wer nicht genau weiß, ob ein gegebener Sachverhaltrichtig oder falsch ist, dem oder der empfehle ich dieHomepage des Zolls. Nach der Eingabe von „Zoll“ und„Mindestlohn“ in irgendeine Suchmaschine im Internetkommt man sehr schnell auf die Seite des Zolls mit derÜberschrift: „Mindestlohn nach dem Mindestlohnge-setz“ mit einer sehr guten Ausführung darüber, was aufArbeitszeiten legal angerechnet werden kann und wasnicht. Diese Debatte dient auch dazu, sachliche Argu-mente von Aufregung zu trennen. Insofern ist es gut,wenn wir solche Themen einbringen.Jedem Bürger, der mit Tricksereien beim Mindestlohnin Berührung kommt – das sagt ja jeder Fünfte –, emp-fehle ich: Rufen Sie bei der Mindestlohn-Hotline desBundesarbeitsministeriums an. Dort können Sie auch an-onym Punkte ansprechen; denn oft ist es ja so, dass dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Angst um ihr Be-schäftigungsverhältnis haben. Auch anonymen Hinwei-sen wird dort nachgegangen. Auch der Deutsche Ge-werkschaftsbund hat eine Hotline zum Mindestlohn mit300 bis 400 Anrufen pro Tag. Das zeigt: Es gibt einengroßen Beratungsbedarf.Ich habe gesagt: Wir müssen Aufregung von sachli-chen Inhalten trennen. Angesichts der intensiven Dis-kussion darüber, ob man Arbeitszeiten dokumentierenmuss oder nicht, ist es mir wichtig, zu sagen: Natürlich
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8620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Katja Mast
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werden Arbeitszeiten dokumentiert. Die meisten Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer machen das übrigens je-den Tag. Die müssen also nichts zusätzlich machen, son-dern haben das auch vorher schon gemacht. Aber für alldiejenigen, die das noch nicht tun, habe ich einen Stun-denzettel mitgebracht. Das ist der Stundenzettel des Ar-beitsministeriums, der auf der Homepage „www.der-mindestlohn-gilt“ eingestellt ist.
Er ist ganz einfach auszufüllen. Wenn Sie ihn nicht fin-den, können Sie auch ein weißes Blatt Papier nehmen.Darauf müssen Sie nur Datum, Beginn und Ende undDauer der Arbeitszeit eintragen. Dafür braucht man30 Sekunden pro Tag. Das ist auf jeden Fall die Zeit, diemeine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen. Dasist kein bürokratisches Monster, und das ist kein über-bordender bürokratischer Aufwand.
Damit wird nicht nur dafür gesorgt, dass Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer den Lohn bekommen, fürden sie arbeiten, sondern damit wird vor allen Dingenauch dafür gesorgt, dass am Ende ehrliche Arbeitgebernicht die Dummen sind.
Wir haben mit dem Mindestlohngesetz auch den Dum-pingwettbewerb beendet. Wir schützen die Arbeitgeberübrigens auch davor, dass Mitarbeiter nach einem Jahroder auch nach zwei oder drei Jahren sagen: Du hast mirgar keinen Lohn bezahlt. – Bei einer Dokumentation derArbeitszeit lässt sich alles belegen. Das ist mir ein wich-tiger Punkt.Durch die Umfrage des Deutschen Gewerkschafts-bundes wurde noch mehr herausgefunden. Dadurchwurde auch herausgefunden, dass die Zustimmung zumMindestlohn in der Bevölkerung nach wie vor bei86 Prozent liegt. Das Gesetz genießt also eine hohe Ak-zeptanz. Wer für den Mindestlohn ist, sagt auch: Fürmich ist es in Ordnung, dass die Einführung des Min-destlohns mit Teuerungen verbunden ist und dass an dereinen oder anderen Stelle die Preise steigen. – Sie hatauch herausgefunden, dass 77 Prozent der Bevölkerunges gut finden, dass für viele Beschäftigte, die Vollzeit ar-beiten, endlich Schluss ist mit der Aufstockung ihresEinkommens.
Frau Kollegin, „Schluss“ ist das Stichwort. Die Rede-
zeit ist schon ziemlich dramatisch überzogen.
Ich sage noch einen Satz; dann bin ich fertig, Herr
Präsident. – Ich bin dem Deutschen Gewerkschaftsbund
dafür dankbar.
Der DGB ist aber für die Zeitüberziehung nicht ver-
antwortlich. Das muss ich kurz klarstellen.
Das stimmt, Herr Präsident. – Ich danke Ihnen für die
Debatte, die wir heute führen. Diese Debatte werden wir
auch in Zukunft führen. Vergessen Sie nicht: Der Min-
destlohn gilt, und er soll für alle 4 Millionen Beschäf-
tigte gelten.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-rade einmal acht Wochen – ich habe es nicht so genaunachgerechnet wie die Kollegin Mast – ist der Mindest-lohn in Kraft, und schon liegt uns ein Antrag von Ihnen,Kollegen der Fraktion Die Linke, vor, der allen Arbeit-gebern in unserem Land per se unterstellt, Lücken zu su-chen, um den Mindestlohn zu umgehen. Sie stellen da-mit jeden Arbeitgeber unter Generalverdacht. Gegensolche Äußerungen verwahre ich mich auch im Namenunserer vielen familiengeführten Unternehmen undHandwerksbetriebe aufs Schärfste.
Das Mindestlohngesetz verstehe ich wie jedes Gesetz,das hier verabschiedet wird, als lernendes System, beiwelchem man dort, wo die Praxis es erfordert, nachbes-sert.
Wenn das Mindestlohngesetz mit seinen Dokumenta-tionspflichten in der Praxis nachweislich Hemmnisseschafft, dann sind wir Fachpolitiker gefordert, Abhilfezu schaffen.
Nichts anderes ist im Bereich Sport/Ehrenamt gesche-hen. Deshalb empfinde ich den in Ihrem Antrag gemach-ten Vorwurf von Verwerfungen im Ehrenamt als unver-schämt und als wirklichkeitsfremde Unterstellung. Siediskreditieren damit jeden, der freiwillig bereit ist, sichunentgeltlich für unsere Gesellschaft einzubringen unddamit etwas für unsere Gesellschaft zu leisten.
Sie unterstellen diesen Menschen, eine ehrenamtlicheTätigkeit aufzunehmen – so ist es doch in Ihrem Antrag
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8621
Christel Voßbeck-Kayser
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formuliert –, bloß damit der Arbeitgeber seinen Reibachmachen kann und sich den Mindestlohn spart. Was istdas für eine abstruse Aussage? Dies ist einfach empö-rend. Die vielen Ehrenamtlichen in unserem Land, ob imSport oder im kulturellen Bereich und auch in den vielensozialen Hilfsorganisationen, wissen jetzt, wie Sie, dieFraktion Die Linke, über das Ehrenamt und über ehren-amtliches Engagement denken.
Allein die Begriffe „Missbrauch“ und „Ehrenamt“ ineinem Atemzug zu nennen, ist ein Schlag in das Gesichtder vielen ehrenamtlich Tätigen, die zum Zusammenhaltin unserer Gesellschaft beitragen. Ich finde, so eine Aus-sage gehört sich nicht.
Zu Ihrer Aussage „Bürokratie-Debatte ist Sabotageam Mindestlohn“, Herr Ernst – auch wenn Sie das nichtgerne hören –: Wir in der CDU/CSU werden im Inte-resse der Betroffenen diese Debatte führen. Das gehörtzu unserem demokratischen Verständnis.
Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zulassen, oder mögen Sie weiterspre-
chen?
Ich möchte gerne weitersprechen.
– Hören Sie sich doch erst einmal an, was ich zu sagenhabe!
Ich habe Ihnen ja auch zugehört.Mein Fraktionsvorsitzender sagt immer treffend: Poli-tik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit sieht so aus: Ich habe keinen einzi-gen Brief und keine einzige E-Mail von Unternehmernaus dem Mittelstand aus meinem Wahlkreis bekommen,die Beschwerden über die Zahlung des Mindestlohnesenthielten, sondern es ging immer um die damit verbun-denen Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten.Man ist bemüht, dem nachzukommen und die Pflichtenzu erfüllen. Denn Mittelständler kennen keine Probleme;sie sprechen immer von Herausforderungen.
Aber es ist doch wohl auch unsere Aufgabe, auf dieVerhältnismäßigkeit zu achten, und darauf, dass wirnicht zu viel Bürokratie aufbauen. Was in den Schreibenund in den Anfragen auch immer wieder deutlich wurde:Es besteht noch Rechtsunsicherheit bei den Arbeitgebernoder auch bei Auftraggebern. Hierauf müssen wir einge-hen. Es ist unsere Aufgabe, Antworten auf immer wie-derkehrende Fragen zur Anwendung des Gesetzes zu ge-ben.Die Kollegin Mast hat es gesagt: Es gibt auf der Inter-netseite des BMAS eine Rubrik zu Fragen und Antwor-ten zum Mindestlohn. Diese Seite wird ständig aktuali-siert. Sie ist in einer verständlichen Sprache gehalten,und sie wird in Anspruch genommen. Dies alles machtdoch deutlich, dass diese Fragen wahrlich nichts damitzu tun haben, dass der Mindestlohn nicht gezahlt werdensoll. Deshalb sind auch Ihre immer wiederkehrende Aus-sage über Verwerfungen und Ihre Einstellung, Unterneh-mer unter Generalverdacht zu stellen, nicht haltbar.
Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat, indem Recht und Gesetz gelten. Einzelne schwarze Schafein gewissen Branchen sind in der Vergangenheit iden-tifiziert worden und werden auch in der Zukunft iden-tifiziert. Was, glauben Sie, hat die FinanzkontrolleSchwarzarbeit beim Zoll in den letzten Jahren getan? Esist so wie bei jedem Gesetz: Wenn es Verstöße gibt, hatman die Möglichkeit in unserem Rechtsstaat, diese zumelden; diese werden geahndet, entweder mit Auflagenoder mit Strafen. Die Mindestlohnhotline hat die Kolle-gin Mast schon angesprochen. Auch beim Zoll gibt eseine solche Auskunftsstelle. Diese Stellen werden in An-spruch genommen.Wenn es Lücken geben sollte, dann müssen wirschauen, dass wir diese identifizieren und unter Beach-tung der Verhältnismäßigkeit schließen. Deshalb istunser Weg in dieser Diskussion, eine Bestandsaufnahmealler Probleme bei den Mindestlohnregelungen zu erstel-len, diese zu bewerten und festzuhalten, an welchen Stel-len es möglicherweise noch Nachbesserungsbedarf gibt.Hier werden selbstverständlich auch die gewonnenen Er-kenntnisse der Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zolleinfließen. Wir haben jetzt März, es ist der erste Prüfmo-nat. Ein bisschen Zeit braucht man schon, bis man sieht,wie das Gesetz wirkt.
Ich finde, es ist unsere Aufgabe als gewählte Volks-vertreter, die Anliegen der Bürger aus den Bereichen desLebens aufzunehmen, die mit dem Mindestlohngesetz zutun haben. So erledigen wir in unserer Fraktion als ge-wählte Volksvertreter konstruktiv politische Arbeit, nichtmit Generalverdächtigungen. Deshalb lehnen wir IhrenAntrag heute ab.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordne-
ten Klaus Ernst das Wort.
Danke für die Möglichkeit einer Kurzintervention. –
Erstens. Ich möchte Folgendes klar zurückweisen: Wir
stellen niemanden unter Generalverdacht, im Gegenteil.
Mit dieser Argumentation müssten Sie auch sämtliche
Alkoholkontrollen von Autofahrern verbieten, weil Sie
auch diese unter Generalverdacht stellen, wenn es Kon-
trollen gibt.
Sie würden im Übrigen auch alle Steuerzahler unter den
Generalverdacht der Steuerhinterziehung stellen, weil
wir Kontrolleure haben – Gott sei Dank; allerdings viel
zu wenige –, die die Steuerzahlungen auf Richtigkeit
überprüfen. Ich würde mir überlegen, ob das das richtige
Argument ist.
Zweitens. Wie bewerten Sie denn die Aussagen derer,
die die Kontrollen durchführen müssen? Ich will Sie mit
zwei dieser Aussagen konfrontieren:
Die Dokumentationspflicht von Arbeitszeiten ist
die Grundlage für wirksame Kontrollen, da pau-
schale Arbeitszeitangaben weder effektiv kontrol-
liert noch nachgewiesen werden können.
Das ist keine Aussage der Linken, sondern derer, die
kontrollieren. Wie bewerten Sie diese Aussage? Haben
die recht, haben die unrecht?
Eine weitere Aussage, die ich Sie zu bewerten bitte,
auch von Mitgliedern der Zollgewerkschaft, die zustän-
dig für die Kontrollen sind:
Mit derart geringen Personalzuwächsen lässt sich
eine effektive Kontrolle des Mindestlohns nur zu
Lasten von anderen Aufgaben erledigen.
Das ist der Zustand. Das ist das, was wir bemängeln.
Drittens. Ich möchte Ihnen einen eindeutigen Hinweis
geben. Wir haben diese Debatte nicht begonnen. Die
kam aus den Reihen des Bundesverbands der Deutschen
Industrie, die kam aus dem Unternehmerlager Ihrer Par-
tei. Nicht wir sind auf die Idee gekommen, einen Tag
nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eine solche Debatte
vom Zaun zu brechen; das waren nicht wir, das waren
andere.
Ich möchte Sie bitten, in Ihrer Partei dafür zu sorgen,
dass dieser Unfug und diese Sabotage des Gesetzes un-
terbleiben. Dann können wir uns solche Debatten sparen.
Dann erteile ich als nächster Rednerin das Wort der
Abgeordneten Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich hätte niemals geglaubt, dass ich in die Si-tuation komme, als Linke das Gesetz zum Mindestlohnverteidigen zu müssen.
Klar ist: Der Mindestlohn ist eingeführt. Basta! Man hatden Eindruck, dass das so manchem Vertreter der Wirt-schaft und des Handwerks, aber insbesondere auch man-chem Abgeordneten von CDU/CSU erst jetzt so richtigklar wird. Der Mindestlohn ist ein Meilenstein. Obwohler zu niedrig ist, ist er eine echte Verbesserung für vieleMenschen in diesem Land.
Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von denKoalitionsfraktionen, müsste jetzt Party sein. Sie müss-ten die Stimmung nach vorne bringen. Sie müssten sa-gen: Klasse, was wir da gemacht haben. – Und, was ist?Nichts ist passiert. Ständig hört man vonseiten der Bun-desregierung nur Jammern und Klagen. Jeden Tag wirdeine neue Sau durchs Dorf getrieben, aber, FrauVoßbeck-Kayser, nicht von uns. Nicht wir sind die Mie-sepeter, sondern Sie sind die Miesepeter in diesem Zu-sammenhang.
Daran sind Sie selbst schuld. Die Koalitionsfraktio-nen haben es sich von Anfang an richtig schwer ge-macht. Bei den Koalitionsgesprächen hat die SPD das Jazur CDU von der Einführung des Mindestlohns abhän-gig gemacht. Okay! Dafür musste sie die gesetzliche Ta-rifeinheit mittragen und sich dazu bekennen. Dass derwichtige Mindestlohn für ein so faules Tauschgeschäftherhalten musste, ist mir unbegreiflich. Leider hat dieSPD dann zugelassen, dass der Mindestlohn nicht füralle gilt. Die Zahl der Menschen, die vom Mindestlohnprofitieren, wurde Stück für Stück kleiner. Jugendlicheunter 18 – raus, Praktikanten – raus, Langzeitarbeits-lose – raus, von anfangs 5 Millionen Menschen, die da-von profitieren sollten, sind jetzt noch 3,7 MillionenMenschen übrig geblieben. Das darf nicht so bleiben.Das war ein echter Fehler.
Die Debatte über die festgelegte Pflicht zur Doku-mentation der Arbeitszeit setzt dem Ganzen noch dieKrone auf. Arbeitgeberverbände, die teilweise nieman-den im Mindestlohn beschäftigt haben und bei denen dasüberhaupt kein Problem ist, weil sie das schon über
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Jutta Krellmann
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Jahre hinweg gemacht haben, schreien jetzt Zeter undMordio und reden die Sache schlecht. Wieder ist es dieCDU, die dieses Gezeter aufgreift und Änderungen amMindestlohngesetz einfordert. Keine zehn Wochen ist esher, dass dieses Gesetz in Kraft getreten ist. Das ist keinideologischer Reflex mehr; das hat Methode.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, seienSie einmal ehrlich: Man bekommt den Eindruck, Siewollten den Mindestlohn eigentlich gar nicht. Meine Da-men und Herren von der SPD, es bringt Ihnen keinenProzentpunkt in den Umfragen mehr, wenn Sie bei einerso wichtigen Sache wie dem Mindestlohn einknicken.Den Menschen draußen nutzt ein schlecht gemachterMindestlohn nichts. Die Beschäftigten brauchen ein Ge-setz, das Rechtssicherheit schafft und sie bei der Durch-setzung ihrer Ansprüche unterstützt. Der Mindestlohn istviel zu wichtig, um immer wieder als Verhandlungs-masse herzuhalten.Die guten Vorschläge der Linken sind: eine klare De-finition, was zum Mindestlohn gehört und was nicht– das ist superwichtig –; Mindestlohn ist Stundenlohnohne Zuschläge; keine Verrechnung von Urlaubs- undWeihnachtsgeld, keine Verrechnung von Sachleistungen,Provisionen, Boni oder Ähnlichem;
klare Definition von ehrenamtlicher Tätigkeit; denn auchdas könnte ein Einfallstor sein.Das hat sich die Linke zur Aufgabe gemacht, und da-ran werden wir weiterarbeiten – und wenn wir nochzehnmal hierüber reden müssen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Markus Paschke, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!„Mindestlohn sichern – Umgehungen verhindern“ – dasist ein guter Titel, kann ich nur sagen. Genau dieses Zielverfolgen wir als Sozialdemokraten.
– Natürlich auch große Teile der CDU/CSU-Fraktion.
Mich ärgert, ehrlich gesagt, was wir in den letztenWochen erlebt haben. Die Lobbyisten sind, was die Um-gehung des Mindestlohnes anbelangt, äußerst aktiv. DasGesetz ist heute auf den Tag genau 64 Tage in Kraft.Vom ersten Tag an wurden Änderungen und Ausnahmengefordert – ohne verlässliche Erfahrungswerte, ohnefundierte Prüfung und ohne die Absicht, sich überhaupternsthaft auf den Mindestlohn einzulassen.Wenn es Fragen oder Unklarheiten gibt, werden wirdiese klären; das gehört zu einem großen Gesetzespaket.Dafür haben wir immer ein offenes Ohr. In diesem Zu-sammenhang muss ich Andrea Nahles und ihrem Minis-terium ein ganz besonderes Lob aussprechen, die sichwirklich um jeden Einzelfall kümmern.
Wir werden aber nicht denjenigen die Tür öffnen, dieden Mindestlohn aushebeln wollen.
Manchmal ist es hilfreich, die Realität zur Kenntnis zunehmen. Es geht hier nicht um einen Generalverdacht,sondern darum, die schwarzen Schafe auszusortieren,die nicht nur ihre Beschäftigten bescheißen, sondernauch ihren Konkurrenten schaden.
– Manchmal muss man auch ein deutliches Wort finden.
Jeder verantwortungsvolle Arbeitgeber hat bereits vorEinführung des gesetzlichen Mindestlohns die Arbeits-stunden seiner Mitarbeiter aufgezeichnet, um den Lohnabzurechnen oder ein Arbeitszeitkonto zu führen. Vielewaren nach dem Arbeitszeitgesetz schon lange dazu ver-pflichtet. Warum war das in der Vergangenheit kein Pro-blem? Warum aber ist es mit Einführung des Mindest-lohnes von 8,50 Euro plötzlich nicht mehr leistbar? Oderhaben diejenigen, die heute am lautesten rufen, sich bis-her nicht an die Gesetze gehalten?
Haben Sie in letzter Zeit einmal einen Handwerker imHaus gehabt? Schauen Sie einmal auf die Rechnung. Dawird fast minutengenau abgerechnet. Wie gesagt, jederordentliche Arbeitgeber zeichnete schon bisher auf. Fürdie ändert sich da nicht viel. Um es einmal ganz klar zusagen: Die tägliche Aufzeichnung in den neun Branchennach dem Schwarzarbeiterbekämpfungsgesetz sowie beiden Minijobbern über Beginn, Ende und Dauer der Ar-beitszeit geht schneller als das Auspacken eines Butter-brotes in der Mittagspause, meine Damen und Herren.
Ich kann das aus eigener Erfahrung beurteilen. Auchich beschäftige eine Mitarbeiterin auf 450-Euro-Basis,allerdings zu einem deutlich höheren Stundenlohn. Sieschickt mir nach jeder Arbeitswoche ihren Stundenzet-tel. Der wird gegengezeichnet – und gut ist es. Wer dasals Bürokratie bezeichnet, will in Wirklichkeit verhin-dern, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre
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Markus Paschke
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Rechte auf wenigstens 8,50 Euro pro Stunde geltend ma-chen können. Ich sage ganz klar: Derjenige, der das tut,macht sich mit denen gemein, die das Gesetz umgehenund ihre Beschäftigten betrügen wollen.
Die Fantasie bei diesen Umgehungsversuchen kenntwahrlich keine Grenzen. Nehmen wir das Beispiel Ein-zelhandel. In einigen Geschäften werden nur die Zeitenbezahlt, in denen der Laden geöffnet ist. Das heißt, dassdie vorbereitenden Arbeiten wie Kasse vorbereiten oderPräsentationsständer vor die Tür stellen, aber auch dienachbereitenden Arbeiten wie Abrechnen, Aufräumenetc. nicht bezahlt werden. Ich frage Sie: Ist das keine Ar-beit? Warum sollen diese Arbeiten unbezahlt erledigtwerden?Viele Minijobber erhielten in der Vergangenheit we-der bezahlten Urlaub noch Lohnfortzahlung im Kranken-fall. Beides ist gesetzlich seit Jahrzehnten vorgeschrieben.Mich wundert es nicht, dass jetzt die Arbeitgeber auf-schreien, die das bisher nicht gezahlt haben. Sie habenberechtigterweise Angst vor Entdeckung, und das findeich gut so.
Weitere Umgehungsversuche stelle ich bei der An-rechnung von Lohnersatzleistungen fest. Ich habe in denletzten Wochen mit Erstaunen registriert, was nach An-sicht mancher Arbeitgeber zum Lohn eines Angestelltenhinzugerechnet werden darf, um die magische Grenzevon 8,50 Euro zu erreichen. Da werden Leih- oder Ab-nutzungsgebühren für Arbeitsgeräte, die das Unterneh-men zu stellen hat, erhoben. Es gibt Essens-, Getränke-oder Saunagutscheine, oder das Trinkgeld soll auf denStundenlohn angerechnet werden. Dazu will ich Folgen-des ganz klar sagen: Wenn ich in einer Gaststätte Trink-geld gebe, dann bekommen das von mir die Beschäftig-ten für die gute Arbeit, die sie geleistet haben, und nichtder Arbeitgeber.
Es ist nicht zulässig, das Trinkgeld anzurechnen. Das istganz klar.Zusammenfassend möchte ich ein paar Dinge klar-stellen.
Herr Kollege, „anrechnen“ ist ein gutes Stichwort.
Wenn Sie bitte einen kurzen Blick auf die Uhr im Red-
nerpult werfen würden. Heute schaut aufgrund der Be-
geisterung für die Sache keiner so richtig auf diese Uhr.
Ihre Redezeit ist bereits abgelaufen. Deswegen wäre
es schön, wenn Sie nur noch einen Schlussgedanken for-
mulieren würden.
Ich komme sofort zum Ende. – Ich möchte zusam-
menfassend klarstellen: Popcorn ist keine Entlohnung
für Arbeitsleistung – damit das klar ist –, und Arbeitneh-
mer arbeiten auch nicht ehrenamtlich im Unternehmen.
Meine Damen und Herren, Sie können sicher sein:
Die SPD wird nicht zulassen, dass das Gesetz für mehr
Gerechtigkeit zu einem zahnlosen Papiertiger wird.
Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Beate Müller-Gemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Langsam verstehe ich, warum insbe-sondere die CSU die Dokumentationspflichten immer soheftig kritisiert. Inzwischen ist die Diskussion ja auchauf der Münchner Wiesn angekommen. Die Wirte bekla-gen sich heftig und warnen: Jetzt wird das Bier teurer.
Ihnen wird das Bierchen doch wohl nicht so wichtigsein, dass Sie darüber die gerechten Löhne vergessen. –Aber ernsthaft: Wer sich dagegen wehrt, dass Arbeitszei-ten dokumentiert werden, begünstigt Missbrauch undniedrige Löhne.
Es reicht nicht, dass der Mindestlohn auf dem Papiersteht. Er muss auch richtig umgesetzt werden, und dafürbrauchen wir eine durchsetzungsstarke FinanzkontrolleSchwarzarbeit, die über mehr Personal verfügt. Die1 600 neuen Stellen müssen definitiv her, und zwarschnell. Besser wären sogar noch ein paar Stellen mehr.Notwendig sind natürlich auch die Dokumentations-pflichten. Ich war vorletzte Woche zusammen mit der Fi-nanzkontrolle Schwarzarbeit unterwegs; ich würde dasjedem Abgeordneten der CDU/CSU empfehlen. Ein Bei-spiel: Auf einer Baustelle wurden die Stundenzettel kon-trolliert. Dabei sind relativ lange Pausenzeiten aufgefal-len. Parallel wurden die Beschäftigten befragt, und die
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Beate Müller-Gemmeke
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haben andere Pausenzeiten angegeben. Das ist ein Indizdafür, dass zu wenig Stunden bezahlt werden. Die FKSwird jetzt weiter recherchieren, beispielsweise wannMaterial oder Beton angeliefert wurde. Diese Zeiten ver-gleichen sie dann wiederum mit den Stundenzetteln. Dasist akribische Arbeit. Diese Kontrolle ist aber nur mög-lich, wenn die Arbeitszeiten dokumentiert werden. Neh-men Sie das endlich zur Kenntnis!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die aktuelleDiskussion über den Mindestlohn wird wirklich nichtehrlich geführt:Erstens. Die Dokumentation der Arbeitszeiten istwahrlich kein Hexenwerk. In den meisten Betrieben istes üblich, dass die Arbeitszeit erfasst wird. Außerdemhaben die Arbeitgeber doch selbst ein Interesse daran.Die Stechuhr wurde ja nicht vom Gesetzgeber erfunden.Zweitens. Es geht auch gar nicht um die Dokumenta-tion, sondern schlichtweg um das Arbeitszeitgesetz.Wenn Beschäftigte mehr als die erlaubten zehn Stundenpro Tag arbeiten, dann wird das durch die Zeiterfassungjetzt sichtbar. Das Problem mit der Arbeitszeit habendoch auch die Arbeits- und Sozialminister der Ländererkannt; meine Kollegin Pothmer hat das schon ange-sprochen. Die Minister wollen – ich zitiere – „die Ar-beitgeber wieder zur generellen Aufzeichnung der Ar-beitszeiten … verpflichten“. Das ist der Beschluss, undder war einstimmig. Bayern war mit dabei.
Gleichzeitig kritisiert die Union hier im Bundestag dieDokumentationspflichten als Bürokratiemonster. Dasgeht gar nicht. Hören Sie endlich auf, zu quengeln undzu streiten! Sie haben den gesetzlichen Mindestlohn ver-abschiedet. Jetzt stehen Sie gefälligst zu Ihrem Wort.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Albert Stegemann, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Alsder Antrag der Linken zur Umsetzung des Mindestlohn-gesetzes gestern bei mir eintraf, habe ich mir, ehrlich ge-sagt, die Augen gerieben. Ich habe mir die banale Fragegestellt: Was wollen Sie eigentlich? Noch nicht einmalzwei Monate in Kraft, wird schon seitens der Linkenversucht, die erreichten Kompromisse im Mindestlohn-gesetz infrage zu stellen.
Dabei haben die Mindestlohnkommission und der Zollmit seiner Abteilung Finanzkontrolle Schwarzarbeit erstin der letzten Woche ihre Arbeit aufgenommen. An die-ser Stelle sei erwähnt, dass es die CDU war, die sich seitJahren auf zig Kreis-, Landes- und Bundesparteitagenfür eine Lohnuntergrenze eingesetzt hat,
und zwar eine, die nicht vom Parlament, sondern vonden Tarifparteien festgelegt wird. Deshalb können Siedie Bemerkungen in Ihrem Antrag, mit denen Sie unter-stellen, die CDU habe den Mindestlohn nicht verwun-den, ruhigen Gewissens streichen. Schließlich sind wirin der Regierungsverantwortung, und deshalb haben wirzusammen mit den Kollegen der SPD-Fraktion diesesGesetz beschlossen und setzen es jetzt auch nach undnach um.
Aber machen wir uns nichts vor: Es wird an der einenoder anderen Stelle Anlaufschwierigkeiten beim Min-destlohngesetz geben. Schließlich ist der Mindestlohneines der Projekte der Koalitionsfraktionen und eine dergrößten sozialen Errungenschaften in dieser Legislatur-periode. Dass es bezüglich der Dokumentationspflichtenzu Befürchtungen seitens der Wirtschaft kommt, sollteeinen genauso wenig verwundern wie die Befürchtung,dass der Mindestlohn nicht korrekt ausbezahlt wird.Schließlich ist der Mindestlohn sowohl für die Arbeitge-ber als auch für die Arbeitnehmer in einem neuen Gesetzfestgelegt,
das die Bezahlung – es geht schließlich um das liebeGeld – regelt und deshalb mit so viel Aufmerksamkeitverfolgt wird.Nun aber bereits von Missbrauch und Umgehungstat-beständen, die landauf, landab grassieren, zu sprechen,halte ich doch sehr stark für politisch interpretiert. Ichkann nicht ausschließen, dass es einzelne Arbeitgebergibt, die versuchen, den Mindestlohn zu umgehen. Aberwarten wir doch erst einmal die Ergebnisse der Finanz-kontrolle Schwarzarbeit ab.
Dennoch wehre ich mich zutiefst dagegen, welches Bildin Ihrem Antrag von Unternehmern in unserem Landversucht wird zu zeichnen, nach dem Motto: Jeder ver-sucht nur, zu tricksen. – Sicherlich: Ohne Kontrolle, kein
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Albert Stegemann
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Gesetz. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass dasGesetz umso besser wird, je totaler man kontrolliert.Nicht ohne Grund hat sich über Jahrzehnte das Prin-zip der Vertrauensarbeitszeit in Deutschland bewährt.
Deswegen bin ich zutiefst davon überzeugt – und ichweiß es auch aus eigener Erfahrung –, dass das Verhält-nis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern inDeutschland in der ganz überwiegenden Zahl sehr gutfunktioniert. Mit solchen Anträgen und Forderungennach immer strengeren Kontrollen nun einen Keil indiese gewachsenen Strukturen treiben zu wollen, halteich für höchst destruktiv und kontraproduktiv. Sie setzendamit ein fatales Zeichen der Politik an diejenigen Men-schen in unserem Land, die es erst mit ihrem persönli-chen Risiko und ihrem ganzen Einsatz ermöglichen, dassMenschen Arbeit haben und unser Land über den Wohl-stand und den sozialen Frieden verfügt, den wir heutehaben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der Linken,wissen Sie, was Robert Bosch gesagt hat? Er sagte:Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe,sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne be-zahle.
Mit diesem Antrag zeigen Sie erneut Ihr mangelndesVerständnis vom Zusammenspiel von Wirtschaft undGesellschaft.
Welch ein Menschenbild, welch ein Weltbild Sie haben!Die Wirtschaft ist kein zerstörerisches Element unsererGemeinschaft, welches bekämpft werden muss.
Eine wettbewerbsfähige Wirtschaft ist Grundvorausset-zung für eine Gesellschaft, in der die Menschen nichtnur Arbeit, sondern auch eine Aufgabe, einen Sinn ha-ben. Nur so sind ein selbstbestimmtes Leben und sozia-ler Ausgleich möglich. Nur mit Auflagen, Verboten undEinschränkungen, wie sie in Ihrem Wahlprogramm zurletzten Bundestagswahl zu lesen waren, werden wir iminternationalen Wettbewerb nicht bestehen können. Dasist eine Tatsache. Sie müssen auch einsehen, dass dasIdeal des ehrbaren Kaufmannes für die meisten Unter-nehmer in unserem Land auch im 21. Jahrhundert nochBestand hat.
Da können Sie noch so oft schreiben, dass die Markt-wirtschaft ein auf Profitmaximierung ausgerichtetes Sys-tem ist.
Zugleich geht mit Ihrem Antrag ein falsches Ver-ständnis der Arbeit des Zolls einher. Die zusätzlichen1 600 Beschäftigten stellen die ordentliche Abführungder Sozialabgaben sicher und schützen Arbeitnehmer so-wie die Wirtschaft vor unfairem Wettbewerb. Allerdings– das möchte ich ausdrücklich betonen – haben dieseÜberprüfungen einen stark präventiven Charakter. Esgeht hierbei nicht um die totale Kontrolle, sondern ganzbewusst um Risikoanalyse mit abschreckender Wirkung.In vielen Gesprächen mit den Verantwortlichen der Zoll-verwaltung habe ich hiervon einen sehr guten Eindruckbekommen. Die Beamten kennen darüber hinaus ihrePappenheimer. In Ihrem Antrag fordern Sie nun, dreimalso viele Kontrolleure einzustellen, wie es die Bundesre-gierung tun wird. Das Motto „Kontrolle gut, alles gut!“wird ganz sicher nicht in den Hafen der arbeitsmarkt-politischen Glückseligkeit führen.
Für die Koalitionsfraktionen ist eines ganz klar: JederArbeitnehmer, der Anspruch auf den Mindestlohn hat,soll ihn auch bekommen. Im Bereich des Sportes oderdes Ehrenamtes werden wir noch einmal schauen, wiesich die Situation in der Praxis gestaltet und ob wir hierüberhaupt von Arbeit sprechen können. Ein Verbands-klagerecht für Gewerkschaften, wie Sie es fordern, wäredagegen wohl eher ein Konjunkturprogramm für Ar-beitsrechtler als ein konstruktiver Beitrag zu unserer Ta-riflandschaft.
Wir werden in den kommenden Wochen mit kühlemKopf schauen, was funktioniert und wo es hakt. Dasmöchte ich auch Ihnen, sehr verehrte Kolleginnen undKollegen von der Linken, empfehlen. Auch wenn esnicht Ihrer parlamentarischen Aufgabe entspricht, emp-fehle ich Ihnen, mit etwas Geduld und einem gesundenVertrauen in die Koalitionsfraktionen abzuwarten. Siewerden sehen: Am Ende wird alles gut.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Schön, dass wir heute über das gute Thema Mindestlohndiskutieren können. Auch diese Debatte zeigt: Der Min-destlohn ist eine Erfolgsgeschichte; er wirkt. Etwa3,7 Millionen Menschen haben jetzt schon etwas davon.2017 werden es etwa 5 Millionen Menschen sein, dievon dieser größten Sozial- und Arbeitsrechtsreform inDeutschland profitieren. Sie ist gut gestartet, und siewirkt positiv.
Allen Unkenrufen zum Trotz: Der Mindestlohn kostetkeine Arbeitsplätze. Im Gegenteil: Er kurbelt die Wirt-schaft und den privaten Konsum an. Wer hat da nicht al-les vorher geunkt und vor Millionen Jobverlusten ge-warnt!
Wir erinnern uns an die Worte von Herrn Sinn vom ifo-Institut. Und wie sieht es heute aus? Die Bundesagenturfür Arbeit meldet, dass 600 000 mehr Menschen in Be-schäftigung sind als im Vorjahr. Es kommt zu Einsparun-gen von etwa 1 Milliarde Euro, weil durch den Mindest-lohn weniger Menschen aufstocken müssen. Der Focusmeldet: „Mindestlohn verhilft Einzelhändlern zu großemUmsatzplus.“Der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insbeson-dere in den nichttarifgebundenen Bereichen, die jetztendlich eine untere Haltelinie beim Lohn haben, aberauch für die fairen und ehrlichen Arbeitgeber, die an-ständig zahlen, und zwar für jede Stunde mindestens8,50 Euro und nicht für anderthalb oder zwei Stunden.
Die große Mehrheit der Arbeitgeber weiß das zu schät-zen. Sie sind auf qualifiziertes und zuverlässiges Perso-nal angewiesen. Deshalb sage ich es noch einmal: DerMindestlohn nützt den Arbeitnehmern und den fairenArbeitgebern; denn die Dumpinglohnkonkurrenz wirdbestraft. Auch das ist die Erfolgsgeschichte Mindest-lohn.
Ich kann Ihnen allen, auch den Antragstellern, versi-chern: Wir werden alles tun, damit der Mindestlohnseine volle Wirkung entfalten kann. Wir werden keineUmgehung und keine Schlupflöcher zulassen. Wir sindallerdings der Ansicht, dass es nicht nötig ist, dafür dasGesetz zu ändern, so wie Sie es fordern. Sowohl die Kri-tik, die in dem vorliegenden Antrag geäußert wird, alsauch einige Vorwürfe – wir haben über das „Bürokratie-monster Stundenzettel“ gesprochen –, die im Raum ste-hen, sind haltlos. Der Mindestlohn ist gerade erst inKraft getreten und – nahezu alle Rednerinnen und Red-ner haben das gesagt – die Kontrollen können erst abMärz ernsthaft durchgeführt werden. Deshalb verwun-dern mich Interventionen, man müsse das Gesetz jetztändern. Das ist nicht sinnvoll.
Was jedoch sinnvoll und nötig ist, ist, auf alle auf-kommenden Fragen einzugehen. Darum kümmern wiruns auch. Ich halte das für ein ganz normales Verfahren.Das Ministerium hat einen intensiven Dialog mit allenBranchen, die Probleme mit dem Mindestlohn hatten,gestartet, und dieser Branchendialog wird fortgesetzt.Wir, sowohl die Regierung als auch die Abgeordneten,befinden uns in einem ständigen Dialog mit den Vertre-tern der jeweiligen Branchen.Das Mindestlohngesetz wurde im Übrigen – das habeich selten so erlebt – sehr intensiv von allen Beteiligtenbegleitet. Es ist ein richtig guter Prozess der gemeinsa-men Entwicklung gewesen. Durch diesen Prozess wurdegewährleistet, dass wir den Mindestlohn gut, praktikabelund erfolgreich umsetzen können.
Ich bin Ministerin Andrea Nahles dankbar, dass sieinsbesondere die Fragen rund um Ehrenamt und Sportgeklärt hat. Ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidentenkurz aus dem Bericht des Ausschusses für Arbeit undSoziales, Bundestagsdrucksache 18/2010 , Seite 15,zitieren:Die Koalitionsfraktionen seien mit dem Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales darin einig,dass ehrenamtliche Übungsleiter und andere ehren-amtlich tätige Mitarbeiter in Sportvereinen nichtunter dieses Gesetz fielen. Von einer „ehrenamtli-chen Tätigkeit“ im Sinne des § 22 Absatz 3 MiLoGsei immer dann auszugehen, wenn sie nicht von derErwartung einer adäquaten finanziellen Gegenleis-tung, sondern von dem Willen geprägt sei, sich fürdas Gemeinwohl einzusetzen.Sie sehen: Das steht schon klar im Gesetz. Es muss inBezug auf diese Bereiche also nicht geändert werden.Wir haben schon eine gute Regelung.
Der Mindestlohn schafft ein Stück Ordnung auf ei-nem Arbeitsmarkt, der in den letzten Jahren zunehmenddurch prekäre Arbeitsverhältnisse und an manchen Stel-len auch durch die Ausnutzung von Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern geprägt war. Es ist nötig, über all dieseAspekte zu diskutieren. Aber nicht alle sich jetzt erge-benden Probleme haben ihre Ursache im Mindestlohnge-setz. Im Gegenteil: Unverhältnismäßige Arbeitszeiten,bei denen mehr Arbeit in weniger Zeit erfüllt werdenmusste, gab es schon vorher. Nun treten sie zutage, undes ist gut, dass wir dagegen vorgehen können.Es ist auch dem Mindestlohngesetz zu verdanken,dass wir jetzt eine gesellschaftliche Debatte über denWert der Arbeit führen können. Jetzt wird genau hinge-
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Kerstin Griese
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guckt. Jetzt wird deutlich, wer sich bisher schon nicht andie Regeln gehalten hat, die wir für einen funktionieren-den, gerechten und guten Arbeitsmarkt in der sozialenMarktwirtschaft vereinbart haben. Es wird auch deutlich,dass zu guter Arbeit ein anständiger Lohn gehört. Dasmuss dokumentiert werden, damit deutlich wird: DerMindestlohn wirkt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mindestlohn hatviele Mütter und Väter; das wurde in der Debatte deut-lich. Ich darf anmerken, dass die SPD den flächende-ckenden gesetzlichen Mindestlohn schon vor vielen Jah-ren beschlossen hat. Ich darf noch einmal betonen, dasswir den Gewerkschaften sehr dankbar sind, dass sie sichso früh für den Mindestlohn eingesetzt haben
und dass wir ihn gemeinsam hier erkämpfen konnten.Hier im Deutschen Bundestag haben CDU/CSU, SPDund Grüne dem Mindestlohngesetz zugestimmt, Sie,Herr Ernst, leider nicht. Sie haben sich als Oppositionkraftvoll enthalten.
Aber jetzt, da der Mindestlohn eine Erfolgsgeschichteist, machen sie alle mit.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir stehen zum Mindestlohn. Der Mindestlohnbraucht Kontrolle. Wir lehnen Missbrauch und eine ent-sprechende Umgehung des Mindestlohns ab. Allerdingsist auch klar: Alle damit zusammenhängenden Maßnah-men müssen in der Umsetzung praktikabel sein. Deswe-gen halte ich nichts davon, dass wir ein ideologisch ver-zerrtes Unternehmerbild prägen, so wie das die Linke inihrem Antrag macht. Herr Ernst, Sie schreiben in IhremAntrag – Zitat –:Die Behauptung einer vermeintlich überbordendenBürokratie hat einzig den Zweck, den Mindestlohnzu unterlaufen.
Das Bild von Unternehmern, das Sie hier zeichnen,ist, dass ein Unternehmer im Ergebnis darauf aus sei,seine Arbeitnehmer möglichst schlecht zu bezahlen.
– Genau das heißt es, Herr Ernst. Das ist eine Unterstel-lung,
die ich für die Unternehmerschaft auf das Schärfste zu-rückweise.
Sie diffamieren damit all diejenigen Unternehmer, dieihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bereits vordem Mindestlohngesetz anständige Löhne gezahlt ha-ben. Sie diffamieren mit der Behauptung, die Sie hieraufstellen, auch diejenigen, die sich an das jetzt geltendeRecht halten. Ich glaube, es wäre an der Zeit, dass Siedieser Klassenkampfrhetorik endlich einmal ein Endemachen. Unternehmer eignen sich nicht als Feindbild –sie sorgen dafür, dass es uns gut geht. Deswegen solltenwir das Unternehmertum nicht bekämpfen, sonderndankbar sein – dankbar sein! –, dass wir unseren Mittel-stand haben; das ist das Entscheidende.
Wir haben uns im Gesetzgebungsverfahren daraufverständigt, dem berechtigten Anliegen der Arbeitgeber,dass der durch den gesetzlichen Mindestlohn entste-hende administrative Aufwand begrenzt wird, zu ent-sprechen. Deswegen haben wir eine Vielzahl vonRechtsverordnungsmöglichkeiten geschaffen. Die desBMF werden derzeit, wenn ich das richtig sehe, nichtkritisiert, sondern es geht ausschließlich um die Verord-nung, die Ministerin Nahles auf den Weg gebracht hat.Sie ist bei der Grenze, bis zu welcher Einkommenshöheeine Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeit geltensoll, bei 4 500 Euro gestartet. Jetzt soll diese Grenze bei2 958 Euro liegen. Doch auch dieser Schwellenwert ent-spricht nicht der Lebenswirklichkeit.
Er entspricht auch nicht dem, was beispielweise der Zoll,der hier so oft zitiert wurde, in den Blick nimmt. Wennder Zoll selber seinen Fokus vor allem auf Beschäfti-gungsverhältnisse mit einem Einkommen zwischen1 000 und 2 000 Euro richtet, dann zeigt dies, dass dieseVerordnung hier nicht der Lebenswirklichkeit entsprichtund entsprechend angepasst werden muss.Genau deswegen hat sich der Koalitionsausschuss inder letzten Woche darauf verständigt, beim Mindestlohn-gesetz bis Ostern eine Bestandsaufnahme vorzunehmenund vor allem Probleme aus der Praxis entsprechend zusammeln und diese dann gemeinsam zu bewerten. Wirnehmen diesen Auftrag des Koalitionsausschusses sehrernst. An uns werden viele Dinge herangetragen, vieleUnsicherheiten, viele Fragestellungen, zum Teil auchUnverständnis über das, was da geregelt ist. Klar ist: Wirmüssen hier vor allem für Rechtssicherheit sorgen – da
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Stephan Stracke
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ist mir das Mindestlohngesetz sicherlich nicht sakro-sankt –, weil Fragestellungen aufkommen, warum dennMinijobs der Dokumentationspflicht unterliegen.
Rechte und Pflichten sind bei Minijobs genau wie bei je-dem anderen Arbeitsverhältnis, ohne dass für Letzterederzeit flächendeckende Aufzeichnungspflichten geltenwürden.
Deswegen wird dem mit sehr viel Unverständnis begeg-net.Es geht auch um eine saubere Abgrenzung zwischenEhrenamt und gewerblicher Beschäftigung. Mich treibtum, dass in dem Antrag der Linken wieder sofort derMissbrauch thematisiert wird, anstatt dass man sich zu-nächst einmal überlegt: Wie können wir das gesell-schaftliche Engagement in der Breite und in der Vielfalt,die wir haben, unterstützen und stärken?
Hier brauchen wir sicherlich entsprechende Ansätze.Dazu dient auch die Abgrenzung zwischen Ehrenamtund Mindestlohn.
Hier hat die Ministerin einen guten Aufschlag gemacht,gerade was das Thema „Vertragsamateure im Fußball“angeht. Ich denke, dieses Argumentationsmuster ist jetztinsgesamt auszuweiten auf den gesamten Bereich desEhrenamts. Wir müssen auch prüfen, inwieweit wir hiergesetzliche Regelungen tatsächlich brauchen.
Dass wir hier nicht gegeneinander agieren, sondernmiteinander, zeigt beispielsweise die Pflegearbeitsbedin-gungenverordnung, wo wir vonseiten der Bundesregie-rung eine differenzierte Behandlung haben, was die Ver-gütung von Vollarbeitszeit und Bereitschaftsdienstangeht. Darauf sollten wir aufsetzen. Lassen Sie uns fürgute Ergebnisse sorgen!Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-mit schließe ich die Debatte.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/4183 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ta-rifeinheit
Drucksache 18/4062Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten JuttaKrellmann, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKETarifautonomie stärken – Streikrecht vertei-digenDrucksache 18/4184Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin erhältdie Bundesministerin Andrea Nahles für die Bundesre-gierung das Wort. – Frau Bundesministerin, bitte.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Mit dem hier vorliegenden Entwurf einesGesetzes zur Tarifeinheit vervollständigen wir unsereBemühungen, die Tarifautonomie in unserem Land zustärken. Das Haus der Sozialpartnerschaft steht damitauf einem guten Fundament: Mit der Öffnung des Ar-beitnehmer-Entsendegesetzes für alle Branchen, mit derverbesserten Möglichkeit, Tarifverträge allgemeinver-bindlich zu erklären, und mit dem Mindestlohn, den wirfür die Zukunft in der Mindestlohn-Kommission wiederin die Hände der Sozialpartner gelegt haben, gibt es be-reits drei Bausteine. Der vierte Baustein, die Tarifein-heit, folgt nun.
Die Tarifeinheit hat in Deutschland als fester Be-standteil der Tarifautonomie eine sehr lange Tradition.Viele Jahrzehnte galt in der Bundesrepublik Deutschlandder klare Grundsatz: „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“.Erst vor wenigen Jahren, nämlich im Jahre 2010, hat dasBundesarbeitsgericht seine ständige Rechtsprechungdazu geändert. Es waren damals, 2010, Arbeitgeber und
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Bundesministerin Andrea Nahles
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Gewerkschaften gemeinsam, die uns als Politik aufge-fordert haben, die Tarifeinheit gesetzlich zu regeln unddamit die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu si-chern, und sie haben diese Aufforderung 2013 währendder Koalitionsverhandlungen wiederum gemeinsam er-neuert. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der auchnach intensiver Anhörung und Beteiligung der Sozial-partner entstanden ist, kommen wir dieser wiederholtenund dringlichen Aufforderung nach.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mancher hat nunSorge, es würden Rechte der Arbeitnehmer, der Gewerk-schaften beschnitten. Mancher hofft auch – heimlichoder öffentlich –, es würden Streiks kleiner Gewerk-schaften verboten, weil sie den Bahn- oder Flugverkehrstören oder die Gesundheitsversorgung treffen. Fakt ist:All das tut dieses Gesetz nicht.
Es geht vielmehr darum, das Funktionieren der imGrundgesetz verankerten und unsere Wirtschafts- wieGesellschaftsordnung prägenden Tarifautonomie zu er-möglichen. Nach dem Grundgesetz sind die Sozialpart-ner zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingun-gen berufen. Mit dieser Aufgabe geht auch eine großeVerantwortung einher. Ich erwarte, dass die Sozialpart-ner diese auch annehmen. Streikrecht und Koalitionsfrei-heit tasten wir nicht an. Das sind Grundrechte, für dielange gekämpft wurde. Ich stehe zu diesen Rechten. Mitdiesem Gesetz werden wir daran nicht rütteln.
Aber das Koalitionsrecht ist nicht allein ein Freiheits-recht. Es so eng zu führen, entspricht nicht unserer Ver-fassungsordnung: Den Koalitionen kommt die im öffent-lichen Interesse liegende Aufgabe zu, innerhalb ihresBereichs das Arbeitsleben sinnvoll zu ordnen und zu be-frieden, so hat es das Bundesverfassungsgericht festge-halten.
Die Tarifautonomie darf in ihrer zentralen wirtschaftli-chen und gesellschaftlichen Funktion nicht bedroht oderbeeinträchtigt werden. Es ist Aufgabe des Staates, einenRahmen zu schaffen, der das Funktionieren der Tarifau-tonomie sichert. Daher brauchen wir auch eine Regelungzur Tarifeinheit.Wir sind überzeugt: Unser Vorschlag ist verfassungs-gemäß. Klar ist: Bei juristischen Fragen gibt es immerauch andere, abweichende Meinungen, und es gibt keineabsolute Sicherheit.
Das weiß jeder hier, auch ich. Aber unser Gesetzentwurfist so solide erarbeitet und sehr, sehr sorgfältig geprüft,auch mit den Verfassungsressorts zusammen, sodassnach allem Ermessen den Maßgaben unserer Verfassungvoll Genüge getan wird.
Denn wir setzen bei den verfassungsgemäßen Rechtenund Pflichten an. Es ist und bleibt grundsätzlich in derVerantwortung der Tarifvertragsparteien, durch eigene,autonome Entscheidungen Tarifkollisionen zu vermei-den. Nur nachrangig, als Ultima Ratio, wirkt das Gesetz.Was ist nun unter solch einer Tarifkollision zu verste-hen? Sie entsteht, wenn verschiedene Gewerkschaftenfür dieselbe Beschäftigtengruppe eines Betriebes unter-schiedliche Regelungen mit der Arbeitgeberseite verein-baren. Auch dann allerdings greift nicht automatisch dasGesetz, sondern es gibt eine ganze Fülle von Möglich-keiten, dieses Problem auf der Ebene zu lösen, auf der esauftritt: Die Gewerkschaften können untereinander Zu-ständigkeiten abstimmen und so dafür sorgen, dass ihreTarifverträge nicht kollidieren. Oder sie können überein-kommen, dass der Tarifvertrag einer Gewerkschaft durchden einer anderen Gewerkschaft ergänzt werden kann,etwa durch zusätzliche Regelungen für eine bestimmteArbeitnehmergruppe. Die Gewerkschaften können sichauch abstimmen, ihre Forderungen in einer sogenanntenTarifgemeinschaft gemeinsam aufzustellen. Das ist sehrhäufig im öffentlichen Dienst der Fall. Sie können auchinhaltsgleiche Tarifverträge abschließen. Schließlich gibtes immer auch die Möglichkeit, Konflikte untereinanderzu lösen, etwa innerhalb eines gemeinsamen Dachver-bandes.All diese Formen sind bekannt, weil es ja bis 2010 dieTarifeinheit gab. Unterm Strich bedeutet das mehr Ko-operation;
denn all diese Möglichkeiten gehen vor. Unser Gesetz-entwurf entfaltet eben nur im äußersten Fall seine Wir-kung. Dafür haben wir ein klares Kriterium geschaffen:
Im Fall einer Tarifkollision gilt der Tarifvertrag der Ge-werkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat.
Welcher Tarifvertrag gilt, entscheiden also die Beschäf-tigten selbst. Die gemeinsame Leistung aller soll wichti-ger sein als eine bestimmte Machtposition im Betriebs-ablauf, die sich bisher für die Durchsetzung vonEinzelinteressen nutzen lässt.
Ich höre jetzt schrille Töne: Von der Vernichtung klei-ner Gewerkschaften ist die Rede. Ich sage da ganz klar:So wie es vor 2010 und zwischen 2010 und 2015 kleine
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Bundesministerin Andrea Nahles
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Gewerkschaften gegeben hat, wird es sie auch in Zu-kunft geben; und das ist auch gut so.
Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft sind konstitu-tiv für unser Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozial-staatsmodell. Wir sorgen für einen Rahmen, in dem siewirken und sich entfalten können. Am Ende können aberfür eine funktionierende Sozialpartnerschaft nur Arbeit-geber und Arbeitnehmer selbst sorgen, gerade indem siesich in Verbänden und Gewerkschaften engagieren. Ver-antwortung für das Ganze übernehmen, den Zusammen-halt stärken und mit am künftigen Erfolg unseres Landesund unserer Wirtschaft bauen: Darum geht es. Das wol-len wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf fördern.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Klaus Ernst
von der Fraktion Die Linke das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! FrauNahles, Sie legen hier ein Gesetz vor, das eigentlich kei-ner mehr will. Ich habe den Eindruck, Ihnen wäre es amliebsten, Sie müssten es nicht mehr wollen.
– Im Übrigen auch die IG Metall nicht mehr. SchauenSie sich einmal die Basis an und nicht nur die Aussagevon zwei Personen.Überflüssig wie ein Kropf: Warum?
Ich kann es Ihnen sagen: überflüssig, weil die bundesre-publikanischen Arbeitnehmer sowieso so gut wie kaumstreiken. Ich sage immer gern: Es gibt nur noch zweiLänder, die noch seltener streiken als wir: die Schweizund der Vatikanstaat. Wir haben kein Problem mit zuvielen Streiks.
Es besteht damit im Übrigen auch keine Notwendigkeit,sie einzuschränken.Darauf sind Sie kaum eingegangen, Frau Nahles.Streik ist ein Grundrecht, das durch Artikel 9 des Grund-gesetzes garantiert wird; ich will jetzt nicht daraus zitie-ren. Sie machen die Aussage, Sie greifen nicht in diesesGrundrecht ein. Das ist nun wirklich – ich kann es nichtanders sagen – eine totale Augenwischerei. Auch daswissen Sie selber. Natürlich greifen Sie in das Streik-recht ein, nämlich dann, wenn zwei Tarifverträge in ei-nem Betrieb zur Anwendung kommen – übrigens nichtbei derselben Personengruppe, weil Tarifverträge nachdem Tarifvertragsgesetz ja immer nur für die Mitgliederder tarifvertragschließenden Partei gelten und nicht fürandere.Jetzt sagen Sie: Es gilt nur noch der Tarifvertrag derGewerkschaft, die die größere ist. – Dann soll die andereGewerkschaft nicht davon betroffen sein? Natürlich istdas ein Eingriff in das Streikrecht; denn die andere Ge-werkschaft kann keinen Streik mehr führen. Ein Streikwäre sinnlos, weil der Tarifvertrag nicht mehr geltenwürde. Eine größere Einschränkung des Streikrechtskann es eigentlich nicht geben, da könnten Sie nur nochdie Gewerkschaften verbieten, Frau Nahles.
Das ist die Wahrheit. Das sagen nicht nur wir, sondernauch andere.Ich will es einmal in ein Bild kleiden. Sie sind bei ei-nem Formel-1-Rennen. Sie sagen keinem Fahrer, egal ober klein oder groß ist, dass er nicht mehr mitfahren darf.Aber wenn ein kleiner Fahrer dann die Ziellinie erreicht,wird seine Leistung nicht gewertet, weil in einem ande-ren Auto jemand sitzt, der größer ist. Macht es da nochSinn, dass er bei dem Autorennen mitfährt?
Nein, es macht keinen Sinn mehr. Genauso wenig machtes für eine Gewerkschaft Sinn, zu streiken, wenn sieweiß, dass das Ziel dieses Streiks, der Tarifvertrag,schlichtweg nicht mehr gilt.Im Übrigen, Frau Nahles – auch das wissen Sie; ichwerfe Ihnen vor, dass Sie es bewusst nicht erzählen –,wissen Sie genau, dass ein Streik vor jedem Gericht fürunzulässig erklärt werden kann, wenn er nicht der Erzie-lung eines Tarifvertrags gilt. Das ist die Rechtsprechung.Jetzt planen Sie hier eine Regelung, die dazu führt, dasseine kleine Gewerkschaft nicht mehr streiken kann bzw.jeder Streik für illegal erklärt werden kann, weil einStreik bei einer kleinen Gewerkschaften ja nicht mehrder Erzielung eines Tarifvertrags dient. Sie greifen in dasStreikrecht ein. Ich sage Ihnen, Frau Nahles: Sie machendas Streikrecht für die kleinen Gewerkschaften kaputtund damit auch die kleinen Gewerkschaften. Das ist dieWahrheit.
Das sehen nicht nur wir so. Sie haben inzwischen im-mer weniger Freunde. Professor Däubler, ein Arbeits-rechtler, kommt zu dem Ergebnis – ich zitiere –:Der faktische Entzug des Rechts, Tarifverträge ab-zuschließen und dafür einen Arbeitskampf zu füh-ren, stellt einen denkbar weitreichenden Eingriffdar, der nur noch durch ein Gewerkschaftsverbotübertroffen werden könnte.So weit Herr Professor Däubler. – Zu demselben Ergeb-nis kommt der Wissenschaftliche Dienst des Bundesta-ges.
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Klaus Ernst
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Frau Nahles, schauen wir einmal zu Ihrem Koalitions-partner. Herr Professor Dr. Zimmer, ich muss wirklichsagen, ich habe einen Heidenrespekt vor Ihnen und IhrerKlarheit. Sie haben gesagt, es könne nicht Aufgabe desDeutschen Bundestages sein, erhebliche verfassungs-rechtliche Bedenken nicht zur Kenntnis zu nehmen oderwissentlich ein verfassungsrechtlich defizitäres Gesetzaus politischen Gründen zu verabschieden. Da haben Sierecht. Da haben Sie unsere volle Zustimmung, HerrZimmer.
Ebenfalls liegt mir ein Schreiben des MarburgerBunds und der Vereinigung Cockpit vor. Der Vorsit-zende des Marburger Bunds, Rudolf Henke, ist ebenfallsMitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er kanndieses Gesetz wohl auch nicht befürworten, weil er derAuffassung ist, dass es Unsinn ist. Ähnlich sieht es HerrMatthäus Strebl. Mir liegt ein Brief vor, den er als Vor-sitzender einer Gewerkschaft an die Abgeordneten ge-schrieben hat. In dem Brief steht, dass er das Gesetz ab-lehnt. Frau Nahles, Sie haben keine Freunde mehr indieser Frage.Ich möchte mit einem Hinweis schließen, den uns dervon mir sehr geschätzte Herr Augstein auf Spiegel On-line gegeben hat. Er hat geschrieben: Wem das Streik-recht nicht passt, der soll überlegen, möglicherweisenach China zu ziehen. – Das ist das Problem, das wirhier haben. Dort sind Streiks verboten, jedenfalls sind sienicht zulässig. In einer Demokratie müssen sie erlaubtsein und gehören gestärkt und nicht geschliffen.
Als nächster Redner hat Karl Schiewerling von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Um es sofort vorwegzusa-gen: Im Gesetzentwurf steht nichts zur Streikregelung.Ich komme gleich darauf zurück.
Es geht bei diesem Gesetz um Tarifeinheit, aber auchum Tariffreiheit. Da, wo es um Freiheit geht, geht esauch immer um Verantwortung. Die BundesrepublikDeutschland ist ein wirtschaftlich starkes Land: exzel-lente Produkte, hohe Innovationskraft, Weltmarktführerin vielen Bereichen, hohe Beschäftigungsrate, höchsterStand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungseit 1990, niedrige Arbeitslosigkeit. Das hat viele Ursa-chen. Eine Ursache ist eine verantwortungsvolle, funk-tionierende Sozialpartnerschaft.
Meine Damen und Herren, die Grundlage dieser So-zialpartnerschaft ist in der Verfassung, in Artikel 9 Ab-satz 3 des Grundgesetzes, gesichert. Dort findet sich fürBetriebe, Branchen und Berufsgruppen die Freiheit, Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbände zu gründen.Diese Sozialpartnerschaft hat sich vor allem in Notzeitenbewährt. Das gilt in den schweren Anfängen in den 50er-und 60er-Jahren, das gilt in der jüngsten Zeit, in der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise. Diese Sozialpartnerschaftwird von vielen beschworen und gelobt.1954 reichte der einfache Satz: „Ein Betrieb – ein Ta-rifvertrag“ des damaligen Präsidenten des Bundesar-beitsgerichtes, Nipperdey, aus, um die Tarifeinheit zu re-geln. Er hat 56 Jahre gegolten. Die diesbezüglichenGerichtsprozesse, die danach geführt wurden, sind an ei-ner Hand abzuzählen, auch wenn dieser Grundsatz in derRechtswissenschaft offensichtlich immer wieder um-stritten war. Die Konsequenzen sind ein großer Betriebs-frieden, die weltweit niedrigste Zahl von Streiks unddemzufolge wirtschaftliche Stärke und Wohlstand.
Meine Damen und Herren, diese Rechtsprechung hatdas Bundesarbeitsgericht 2010 aufgegeben. Vor diesemHintergrund wurde befürchtet, dass, wenn das Prinzipder Tarifeinheit durch die Rechtsprechung aufgegebenwird, wir in bestimmten Betrieben neue Entwicklungenbekommen könnten und einige wenige ihre Interessengegen den Willen der Mehrheit, der großen Mehrheit,durchsetzen könnten. Deswegen haben der Arbeitgeber-verband und der DGB, also die Sozialpartner, die Regie-rung damals aufgefordert, gesetzliche Grundlagen zuschaffen, und Vorschläge erarbeitet, wie die Tarifeinheitgestaltet werden kann.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Ta-rifeinheit nach dem tarifbezogenen Mehrheitsprinzip ge-setzlich zu regeln und den Verfahrensregeln der Verfas-sung – Artikel 9 Absatz 3 – Rechnung zu tragen. DieBundesregierung hat auf dieser Grundlage nun dem Par-lament einen Gesetzentwurf zugeleitet. Wir beraten ihnheute in erster Lesung.Wir erleben eine heftige Diskussion über die Verfas-sungskonformität dieses Gesetzentwurfes. Meine Da-men und Herren, ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit:Wenn uns die Bundesregierung als Verfassungsorgan,getragen von den Verfassungsabteilungen des Innen-,des Justiz- und des Arbeitsministeriums einschließlichdes Bundeskanzleramtes, einen Gesetzentwurf auf denTisch legt, dann unterstelle ich zunächst einmal – bei al-len Gegenpositionen, die aus der Wissenschaft kommenoder andere vortragen mögen –, dass er verfassungskon-
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Karl Schiewerling
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form ist. Ich hege daran vor diesem Hintergrund keinenZweifel.
Ich darf daran erinnern, dass dieser Gesetzentwurf vor-her bereits im Bundesrat war und auch dort kein Bundes-land Bedenken dagegen erhoben hat.
Auch der Bundesrat ist ein Verfassungsorgan.Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurfbringt den eindeutigen Willen des Gesetzgebers zumAusdruck, dass es in einem Betrieb um Konsens geht.Dieser Gesetzentwurf hat nicht die Regelung von Diffe-renzen in den Mittelpunkt gestellt, sondern die Frage,welche Regelungsmechanismen beim Tätigwerden vonGewerkschaften in einem Betrieb oder für eine Berufs-gruppe – wobei es immer klug ist, die Dinge vernünftigvoneinander zu trennen – gewährleisten können, dassKonflikte vermieden werden. Dafür kann man zum Bei-spiel sorgen, indem akzeptiert wird, dass eine Gewerk-schaft nur für eine bestimmte Berufsgruppe zuständig istoder indem man sich vorher gemeinsam verständigt undvorher gemeinsam verhandelt. Es gibt im Gesetzentwurfzahlreiche Hinweise, wie das geregelt werden kann.
Ich sage Ihnen allerdings: Vielleicht muss man diesenpolitischen Willen des Gesetzgebers im Gesetz noch ein-mal verstärken, um deutlich zu machen, dass am Endeder Tage, wenn es denn heißt, dass sich die Gewerk-schaft durchsetzen soll, die die größere Mitgliederzahlhat, in Kenntnis dessen, dass sie die größere Mitglieder-zahl hat, nicht von Anfang an den vom Gesetzgeber ge-wollten Willen zum Konsens unterläuft und sagt: AmEnde der Tage haben wir eh die Mehrheit. Also brauchenwir keine ernsthaften Gespräche zu führen.
Ich glaube, es ist notwendig, noch einmal zu überle-gen, wie dieser politische Wille des Gesetzgebers, dasses um Konsens im Betrieb geht, gesetzlich oder an wel-cher Stelle auch immer noch einmal formuliert und deut-lich gemacht wird, damit es zu fairen Bedingungen beiden Auseinandersetzungen auch innerhalb des Betriebeskommt.
Meine Damen und Herren, das Mehrheitsprinzip, wiees jetzt im Gesetz steht, bezieht sich auf den Betrieb. Esnimmt Bezug auf die Frage, was nach Betriebsverfas-sungsgesetz ein Betrieb ist. In Deutschland gibt es keineklare Definition, was ein Betrieb ist. Deswegen hat mandarauf Bezug genommen, weil es auch um die Solidar-gemeinschaft in diesem Betrieb geht und weil dafür Ta-rifverträge gelten.Ich kann nur heftig dafür werben, dass alles getanwird, um die Auseinandersetzungen, die wir in manchenBetrieben haben, zu vermeiden und zu fairen Verhand-lungen untereinander zu kommen.Ich will allerdings an dieser Stelle auch sehr deutlichsagen: Die Streiks, die Auseinandersetzungen in Deutsch-land, die sich aufgrund von Tarifkonflikten in einem Be-trieb in der Vergangenheit abgespielt haben, halten sichsehr in Grenzen.
Die kleine Gewerkschaft, die einmal versucht hat, denganzen Frankfurter Flughafen lahmzulegen, ist von denübrigen Belegschaften heftig abgestraft worden.
Ich glaube, dass keine kleine Gewerkschaft, nur weil sieunterlegen ist, gegen den Willen der Übrigen in der Be-legschaft einen Kampf führen kann. Sie wird diesenKampf nicht nur im Lichte der Kollegialität, sondernauch der Öffentlichkeit ganz sicher nicht bestehen.
Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf als Gesetzgeber einen Weg aufgezeigt haben, wiewir uns unter fairen Bedingungen Tarifeinheit vorstellenund wie das vor Ort weitergeführt werden kann. Die Ma-laise liegt nicht beim Gesetzgeber. Sie liegt darin, dassdas, was 56 Jahre lang gegolten hat, jetzt auf einmalin der Rechtsprechung aufgegeben wurde. Das, was56 Jahre lang der Bundesrepublik gutgetan hat, nämlichdie Tarifeinheit de facto zu haben, müssen wir in einerForm wieder erreichen, damit die wirtschaftliche Zu-kunft unseres Landes gesichert bleibt. Das ist das, waseigentlich hinter diesem Gesetz steht.Hinter diesem Gesetz steht nicht, kleinen Gewerk-schaften den Streik zu verbieten. Ich rate auch dringenddazu, die im Gesetz stehende Formulierung, dass einStreik dann verhältnismäßig ist, wenn die kleinere Ge-werkschaft der größeren unterliegt, noch einmal dahingehend zu überdenken, dass dies nicht die einzige Be-gründung ist. Wenn eine große Gewerkschaft, die mehrMitglieder als eine andere Gewerkschaft hat, sich nichternsthaft mit der kleineren Gewerkschaft um den Be-triebsfrieden und um Tarifeinheit im Vorstadium derKonsensbildung kümmert, dann kann am Ende der Tageder kleineren Gewerkschaft der Streik nicht verbotenwerden, weil Bedingung ist, dass man vorher alles unter-nommen hat, um miteinander zu einem Konsens zu
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Karl Schiewerling
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kommen. Das setzt den ernsten Verhandlungswillen allerBeteiligten voraus.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der vorlie-gende Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage, die Dingeweiter zu diskutieren. Wir werden das miteinander tun.Wir werden nach einer Lösung suchen, sofern noch wei-tere Schritte notwendig sind. Ich bin sicher, dass wir ge-meinsam das Ziel verfolgen, für Betriebsfrieden zu sor-gen, um wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand füralle zu sichern.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt hat Michael Schlecht von der
Fraktion Die Linke das Wort für eine Kurzintervention.
Herr Schiewerling, Sie und auch die Ministerin haben
den Eindruck erweckt, dass dieser Gesetzentwurf von
den Gewerkschaften gefordert und unterstützt wird.
Hier muss man Einspruch erheben, weil das so nicht
stimmt.
Die Gewerkschaft, die am stärksten von dieser Regelung
betroffen ist, weil sie am ehesten kleine Konkurrenzen
hat, ist die Gewerkschaft Verdi. Die Gewerkschaft Verdi
hat zwar im Jahre 2010 gemeinsam mit der BDA und
dem DGB die erste Initiative begründet – das ist richtig –,
aber danach hat es gerade bei Verdi eine sehr intensive
Diskussion darüber gegeben. Nach kurzer Zeit kam es zu
einer Positionsverschiebung. Verdi erklärte, sie sei gegen
eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit, und die Ini-
tiative mit der BDA und dem DGB von 2010 sei für sie
hinfällig. Die Geschäftsgrundlage sei für sie entfallen.
Es hat dort also eine sehr intensive Diskussion gegeben –
gerade vor dem Hintergrund der mittelbar drohenden
Einschränkung des Tarifrechtes.
Sie eiern hier jetzt formaljuristisch herum und erklä-
ren, das alle gebe es nicht. Natürlich ist aber jedem Kol-
legen und jeder Kollegin bei Verdi vollkommen klar
– sehr viele haben das in den letzten Jahren diskutiert –,
dass dieser Gesetzentwurf in genau diese Richtung zielt.
Es kann aus gewerkschaftlicher Sicht – aus Sicht von
Verdi – nicht angehen, dass der Gesetzgeber mittelbar in
das Streikrecht eingreift, sondern das Streikrecht muss
verteidigt werden. Wir brauchen eher eine Initiative da-
für, dass das Streikrecht ausgeweitet wird, dass zum Bei-
spiel die Möglichkeit geschaffen wird, dass es einen Ge-
neralstreik in Deutschland gibt. Das wäre eine dringend
notwendige Klarstellung, aber das ist hier ja nicht das
Thema.
Das musste Ihnen aber zumindest entgegengehalten wer-
den.
Danke schön.
Herr Schiewerling.
Herr Kollege Schlecht, mir sei wenigstens ein kurzer
Hinweis gestattet. Das erste Papier, das vorgelegt wurde,
nachdem die Tarifeinheit 2010 vom Bundesarbeits-
gericht nicht mehr als Bestandteil der Rechtsprechung
angesehen wurde, kam gemeinsam von der BDA und
dem DGB.
Das war also ein gemeinsames Papier. Danach forderten
sie eine entsprechende gesetzliche Grundlage, die mög-
lichst schnell geschaffen werden sollte. Daraufhin hat es
längere Diskussionen gegeben.
Ich gestehe zu, dass auch nach meiner Kenntnis of-
fensichtlich nicht alle Mitgliedsgewerkschaften inner-
halb des DGB positiv dazu stehen. Aber der DGB als
Dachverband und auch zahlreiche Einzelgewerkschaften
stehen dazu. Ich muss das zumindest einmal zur Kennt-
nis nehmen.
Wenn wir von Sozialpartnern reden, dann reden wir
vom DGB als Dachverband für Einzelgewerkschaften
und von der BDA als Dachverband für die Arbeitgeber.
Diese haben die Tarifeinheit bisher offensichtlich ge-
meinsam als Sozialpartner gefordert und den vorliegen-
den Gesetzentwurf ausdrücklich begrüßt. Das kann ich
zur Kenntnis nehmen.
Daran, dass Ihnen das nicht passt, zweifle ich keine
Sekunde, zumindest deshalb nicht, weil Sie durch die
Tarifeinheit vom bundesdeutschen Generalstreik noch
weiter entfernt wären. Ich kann Ihnen aber sagen, dass
wir uns daran gehalten haben. Sollten sie sich eines an-
deren besinnen, weil sie sich als Tarifpartner in einer
schwierigen Situation befinden, dann werden wir uns
diesem Erkenntnisgewinn ganz sicher nicht verschlie-
ßen.
Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauMinisterin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!Heute geht es um die Koalitionsfreiheit. Jedermann undjeder Beruf – so steht es in unserer Verfassung – hat dasRecht, sich in Gewerkschaften zu organisieren und Tarif-verträge zu verhandeln. Dazu gehört auch das Streik-recht. Jetzt soll genau dieses Grundrecht per SPD-Gesetzeingeschränkt werden. Das machen wir Grüne nichtmit;
denn dafür gibt es keinen wirklich nachvollziehbarenGrund, und vor allem ist die gesetzliche Tarifeinheit einEingriff in die Koalitionsfreiheit und ein Angriff auf dasStreikrecht. Deshalb lehnen wir das Gesetz strikt ab.
Der Gesetzentwurf wirft viele Fragen auf. Diese Fra-gen habe ich zusammengefasst und sie der Bundesregie-rung in einer Kleinen Anfrage gestellt. Die Antwortenliegen jetzt vor. Ich kann nur sagen: Die Antworten sindunsäglich. In der Regel wird nur aus dem Gesetzentwurfzitiert, oder es wird überhaupt nicht geantwortet. Gehalt-volle und juristische Begründungen, Erläuterungen oderBeispiele fehlen. Für das Bundesverfassungsgericht je-denfalls werden solche Antworten nicht reichen. Daswird Karlsruhe nicht durchgehen lassen. Warum dasMinisterium dafür eine Fristverlängerung benötigte undinsgesamt sechs Wochen gebraucht hat, kann ich absolutnicht nachvollziehen. Überzeugende Antworten sehenanders aus.
In ihrer Antwort schreibt die Bundesregierung bei-spielsweise – wieder ohne Begründung –, das Tarifein-heitsgesetz sei lediglich eine Ausgestaltung der Koali-tionsfreiheit. Mit dieser Auffassung steht sie ziemlichalleine da. Es wurde schon gesagt: Namhafte Rechtsex-perten wie Di Fabio, Dieterich, Gerhart Baum, Däubler,der Deutsche Anwaltverein und insbesondere der Wis-senschaftliche Dienst, alle interpretieren den Gesetzent-wurf als Eingriff in die Koalitionsfreiheit. Die Bundes-regierung hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken,fast alle anderen aber schon. Das ist ignorant. So leicht-fertig sollte man mit der Koalitionsfreiheit nicht umge-hen; denn sie gehört immerhin zu den Grundprinzipienunserer Demokratie.
Auch beim Streikrecht bleibt die Bundesregierung mitihren Antworten äußerst sparsam. Das zeigt: Bundesar-beitsministerin Nahles drückt sich beim Streikrecht undschiebt die Verantwortung zu den Gerichten. So sieht dasübrigens auch der Deutsche Anwaltverein. Ich zitiereaus der Stellungnahme:Will der Gesetzgeber verbindlich etwas zur Verhält-nismäßigkeit von Arbeitskämpfen sagen, sollteer … Kraft und Mut haben, so etwas im Gesetzes-text zu regeln.Recht hat er. Ich ergänze: Hände weg vom Streikrecht!
Die gesetzliche Tarifeinheit stärkt auch nicht die Soli-darität. Im Gegenteil: Sie verschärft die Konkurrenzzwischen den Gewerkschaften. Natürlich werden diekleinen Gewerkschaften dafür kämpfen, größer undmächtiger zu werden. Immerhin bekommt der Gewinneram Ende alles, vor allem einen gültigen Tarifvertrag.Auch das ignoriert die Bundesregierung. Wenn sich etwader Marburger Bund für die Pflegekräfte öffnete, wäredas laut Ministerium kein Problem. Aber genau so ent-steht doch Konkurrenz. Genau so entsteht der Kampf umdie Mitglieder, zum Beispiel in jedem Krankenhaus.Diese Konkurrenz entsteht auch, wenn Flächentarifver-träge aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in manchenBetrieben verdrängt werden. Durch die Tarifeinheit ent-steht nicht Solidarität, sondern Häuserkampf. FrauMinisterin, Sie wissen anscheinend nicht, was Sie tun.
Ich habe in der Kleinen Anfrage natürlich ein paarDaten abgefragt: die Zahl der kollidierenden Tarifver-träge und auch, wie viele davon durch Kooperationenaufgelöst wurden, die Streikhäufigkeit oder neue Berufs-gewerkschaften. Die Antworten waren: keine Informa-tionen, keine Angaben, keine Erkenntnisse. – Die Bun-desregierung plant also ein verfassungswidriges Gesetzund weiß nicht einmal, warum.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wissenalle: Die Tarifpolitik der Gewerkschaften lebt von Soli-darität. Tarifpluralität erfordert deshalb Kooperationenzwischen den Gewerkschaften. Solidarität lässt sich abernicht verordnen und schon gar nicht gesetzlich erzwin-gen. Das ist im Übrigen auch nicht Aufgabe der Politik,sondern Aufgabe der Gewerkschaften.Wir Grüne stehen bei diesem Thema weder auf derSeite der DGB-Gewerkschaften noch auf der Seite derBerufsgewerkschaften, sondern ausschließlich auf derSeite der Verfassung. Genau das erwarten wir von Ihnenvon den Regierungsfraktionen. Stoppen Sie also diesesverfassungswidrige Gesetz. Noch haben Sie dafür Zeit.Vielen Dank.
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Als nächster Redner spricht Bernd Rützel von der
SPD-Fraktion.
Liebe Frau Müller-Gemmeke, ich glaube, jeder in die-
sem Hause wie auch in den Länderparlamenten, Stadt-
räten und Gemeinderäten steht immer auf der Seite der
Verfassung.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lo-
sung „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ ist fast so alt wie
die Gewerkschaften selber. Dies ist seit jeher eine ele-
mentare Forderung der Arbeitnehmerseite gewesen. Es
geht darum, für gleiche Arbeit im Betrieb gleiche Bezah-
lung und auch gleiche Bedingungen zu gewährleisten.
Es geht um die Solidarität der Beschäftigten untereinan-
der. Worum es jetzt geht und wofür wir Politiker sorgen
müssen, ist, die Zuständigkeiten zu klären. Für mich ist
entscheidend, dass dies nicht auf Kosten der Arbeitneh-
mervertretungen geschieht.
Lieber Klaus Ernst, Ihr Vortrag war, wie so oft, emo-
tional, und Sie haben wie mancher andere gesagt: Es
wird ins Streikrecht eingegriffen.
Das trifft nicht zu.
Es wird nicht ins Streikrecht eingegriffen.
Sie haben kurz darauf gesagt, dass es in der Verant-
wortung der Arbeitsgerichte liegt, die Verhältnismäßig-
keit eines Streiks zu beurteilen. Das war und ist der Fall,
und das wird auch in Zukunft so bleiben.
Als Jugendvertreter habe ich seinerzeit die Interessen
der Auszubildenden im Betrieb vertreten. Später wurde
ich freigestellter Betriebsrat. Deshalb weiß ich um die
Bedeutung der Tarifautonomie und darum, was wir ihr
zu verdanken haben. Was den vorliegenden Gesetzent-
wurf angeht, hat Bundesministerin Andrea Nahles die-
sen Weg sehr schön und deutlich skizziert.
Herr Kollege Rützel, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Ja.
Herr Ernst.
Lieber Bernd Rützel, die Frage, ob in das Streikrecht
eingegriffen wird, ist die Kernfrage bei dem Gesetzent-
wurf.
Würdest du mir zustimmen, dass dann, wenn eine Ge-
werkschaft nicht mehr durch Streik einen Tarifvertrag
erreichen kann, ein Eingriff in das Streikrecht gegeben
ist, auch wenn nicht ausdrücklich von einem Verbot des
Streikrechts die Rede ist?
Würdest du mir zustimmen, dass die derzeitige Recht-
sprechung, nach der ein Streik nur dann zulässig ist,
wenn er der Erzielung eines Tarifvertrags dient, dann
nicht mehr möglich wäre aufgrund der Tatsache, dass
eine kleinere Gewerkschaft keinen Tarifvertrag mehr
erreichen kann, weil der Tarifvertrag der größeren Ge-
werkschaft gilt?
Würdest du mir zustimmen, dass dieser Umstand
dazu führt, dass diese kleinere Gewerkschaft faktisch
nicht mehr streiken kann und wird? Sie wird nicht mehr
streiken, weil sich die einzelnen Mitglieder sicherlich
fragen werden, warum sie streiken sollen, wenn das, was
sie erreichen wollen, ohnehin nicht dabei herauskommen
wird und vor allem auch nicht mehr herauskommen
kann. Denn ein solcher Streik würde selbstverständlich
von jedem Arbeitsgericht untersagt, weil er nicht den
rechtlichen Rahmenbedingungen der Republik ent-
spricht, und es könnten auch Schadensersatzklagen der
Arbeitgeber drohen, die dazu führen, dass diese Gewerk-
schaft sozusagen gekillt wird.
Würdest du mir zustimmen, dass das in dem Gesetz-
entwurf so geregelt ist, wie ich es gerade dargelegt habe?
Da wurde mit vielen Konjunktiven beschrieben, wasalles passieren würde und könnte. Ich möchte den Wegdes Gesetzes aufzeigen, den auch Andrea Nahles klarge-stellt hat. Wenn es letztlich zu einer Tarifkollisionkommt, wenn sich also zwei Gewerkschaften auf einerWiese tummeln, sich um die gleiche Arbeitnehmer-gruppe kümmern und unterschiedliche Tarifverträge ab-schließen wollen, muss es möglich sein, festzustellen,wessen Tarifvertrag gilt. Sonst bleibt es nicht beim Streitzwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber, was die So-zialpartnerschaft in Deutschland jahrzehntelang stark ge-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8637
Bernd Rützel
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macht hat, sondern dann kommt es verstärkt zum Streitzwischen einzelnen Gewerkschaften.
Aber bis es so weit kommt, sind in diesem Gesetz ganzviele Sachen vorgeschaltet. Ich kann Tarifgemeinschaf-ten bilden,
ich kann mich zusammenschließen, ich kann einen Tarif-vertrag abschließen, und der Nächste kann Teile ergän-zen. Ich kann meine Zuständigkeiten abstimmen und sa-gen: Du bist für das zuständig, ich für jenes. – Diekleinere Gewerkschaft kann den Tarifvertrag auch nach-zeichnen. Es gibt also ganz viele Möglichkeiten für diekleineren Gewerkschaften, zu ihrem Tarifvertrag zukommen. Das haben wir bis heute in Deutschland überJahrzehnte praktiziert.Die Frage, ob jetzt eine kleine Gewerkschaft streikendarf, wird auch von diesem Gesetz, wenn es denn verab-schiedet wird, nicht entschieden. Die Gewerkschaft kannnatürlich streiken, wenn sie sich für zuständig hält undglaubt, die Mehrheit zu haben. Dann muss natürlich fest-gestellt werden, ob sie wirklich die Mehrheit der Mit-glieder hat. Wir haben jetzt auch bei der Bahn gesehen,wie die Diskussion ist.
Der Weg, den wir mit diesem Gesetz hin zur Tarifplu-ralität gehen, ist richtig. Das ist auch ein ganz wichtigerBefriedungsfaktor. Das Gesetz hat also eine Befrie-dungsfunktion. Es festigt gleichzeitig den Anspruch aufTarifautonomie, weil es zahlreiche Möglichkeitenschafft, wie zwei Gewerkschaften eine Tarifkollision imBetrieb aus eigener Kraft aufheben können. Ich finde esrichtig, wenn die Gewerkschaften interne Verteilungsfra-gen zunächst einmal untereinander lösen, bevor sie mitgemeinsamen Forderungen und einer gemeinsamen Stra-tegie in die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber gehen.
Das ist nicht nur meine Einschätzung; ich bin froh, dassdas auch die Einschätzung des Deutschen Gewerk-schaftsbundes und ihres Vorsitzenden Reiner Hoffmannist, der immer wieder betont, wie wichtig die Geschlos-senheit der Arbeitnehmervertretung ist. Deswegen istauch die Behauptung, die vorhin in der Zwischenfragegeäußert wurde, die Gewerkschaften stünden nicht zudem Gesetz, falsch. Der Deutsche Gewerkschaftsbundhat sich klar dazu positioniert. Auch ich weiß, dass esdie eine oder andere Gewerkschaft gibt, die das nicht sogut findet.Tarifautonomie und eine gute Sozialpartnerschaft sindwichtige Eck- und Grundpfeiler der sozialen Marktwirt-schaft. Sie haben wesentlich zum wirtschaftlichen ErfolgDeutschlands beigetragen. Es ist gut und richtig, dassman sich streitet, dass man kämpft, sich die Köpfe ein-schlägt,
– das ist in Tarifverhandlungen so –, aber dann mussman das Ganze befrieden. Man muss zu einem gutenKonsens kommen, damit wieder Frieden herrscht unddie Betriebe ihre Geschäfte machen können.
Konkurrierende Gewerkschaften schwächen das solida-rische Miteinander und zersplittern Arbeitnehmervertre-tungen. Gewerkschaften sind dann erfolgreich, wenn derStärkere auch für den Schwächeren kämpft. Wenn mangenau hinschaut, dann sieht man auch, dass der ver-meintlich Stärkere, der vielleicht jetzt die dicken Ellen-bogen hat, nicht ohne den vermeintlich Schwächerendurchkommt und ohne ihn nichts erreichen kann. Solida-rität ist auch ein Gedanke dieses Gesetzes.Danke.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Keul das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist schon wirklich kurios: Da entscheidetdas Bundesarbeitsgericht im Juli 2010, dass der Zwangzur Tarifeinheit mit Artikel 9 des Grundgesetzes nichtvereinbar ist. Und was machen Sie von der Bundesregie-rung? Sie legen uns einen Gesetzentwurf vor, in dem ge-nau das steht, was das Grundgesetz nicht zulässt.
Gleichzeitig behaupten Sie, Koalitionsfreiheit undStreikrecht nicht zu beschneiden. Aber genau dasmachen Sie, Frau Ministerin, mit Ihrer verordneten Ta-rifeinheit.Das Bundesarbeitsgericht hat schlüssig argumentiert.Die kollektive Koalitionsfreiheit dürfe nicht dadurchentwertet werden, dass man einen geschlossenen Tarif-vertrag der Minderheitsgewerkschaft seiner Wirkung be-raube. Das Bundesarbeitsgericht hat recht.
Nur die große Koalition, diesmal aus Arbeitgeberver-bänden und großen Gewerkschaften, will das nichtwahrhaben und ihre Interessen auf dem Rücken der klei-nen Gewerkschaften durchsetzen.Artikel 9 Grundgesetz gewährleistet das Vereini-gungsrecht der Berufe vorbehaltlos und ohne Bezug aufMehrheitsberufe oder Ähnliches. Und jetzt kommen Sie
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8638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Katja Keul
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und wollen uns erklären, die Minderheitsgewerkschaftenhätten ja Anhörungsrechte, und außerdem erlaubten Sieihnen ein Nachzeichnungsrecht, das es ermöglicht, andem Tarifabschluss der Mehrheitsgewerkschaft zu parti-zipieren, wenn ihr bereits abgeschlossener Tarifvertragdurch den neuen § 4 a Tarifvertragsgesetz – leider, lei-der – verdrängt worden sei. Da werden die Arbeitnehmerbestimmt sehr dankbar sein, dass sie sich nun dem – fürsie möglicherweise nachteiligen – Tarif der anderen Ge-werkschaft unterordnen dürfen. Das ändert aber nichtsdaran, dass Sie der Minderheitsgewerkschaft ihre Exis-tenzberechtigung absprechen.
Wer wird denn so irre sein und Beiträge an eine Gewerk-schaft zahlen, die gar nicht wirksam verhandeln kann?Die Arbeitnehmer werden so quasi gezwungen, die Ge-werkschaft zu wechseln, wenn sie noch in irgendeinerWeise Einfluss auf ihre Interessenvertretung haben wol-len. Wenn das kein Eingriff in die individuelle Koali-tionsfreiheit sein soll, was dann?
Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für einensolchen Eingriff ist weit und breit nicht zu sehen. Esdroht weder eine Vervielfachung der Arbeitskämpfenoch der Funktionsverlust der Friedenspflicht. Auch derBetriebsfrieden wird nicht gefördert. Im Gegenteil: DieGewerkschaften müssen nun wesentlich härter Mitglie-der anderer Gewerkschaften abwerben, um zu überleben,nach dem Motto „The winner takes it all“.Eine Gewerkschaft, die aufgrund des neuen § 4 a Ta-rifvertragsgesetz keinen wirksamen Tarifvertrag aushan-deln kann, wird zur Durchsetzung von Verhandlungenauch keinen Streik führen können, da der ja nicht geeig-net ist, das gewünschte Ziel zu erreichen. Eine solcheGewerkschaft ist ihres Wesenskerns beraubt; sie ist nichtmehr geeignet, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungenzu wahren und zu fördern, und ist damit keine Vereini-gung mehr im Sinne des Grundgesetzes. Sie kann viel-leicht noch Doppelkopfturniere oder gesellige Betriebs-feste organisieren;
das ist aber nicht das, was unser Grundgesetz mit „För-derung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ ge-meint hat.
Erfolgreiche Tarifverhandlungen kann nur derjenigeführen, dessen Tarif hinterher auch Anwendung findet.Da Sie hier nicht zur Vernunft kommen, bleibt wiedereinmal nur das Verfassungsgericht.Noch ein letztes Wort. Frau Nahles, die Tarifeinheit,wie das Bundesarbeitsgericht sie vor 2010 gehandhabthat, war eine andere als die, die Sie verordnen. Damalsgalt nämlich der Spezialitätsgrundsatz, und jetzt gilt derMehrheitsgrundsatz. Deswegen ist Ihr Vorgehen erstrecht verfassungswidrig.
Als nächster Redner hat der Kollege Wilfried Oellers
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Im Jahre 2010 nahm das Bundesarbeitsgericht Ab-
stand von seiner bis dato geltenden Rechtsprechung zur
Tarifeinheit. Galten für einen Betrieb mehrere Tarifver-
träge, so wurde die Tarifkollision nach dem Grundsatz
der Spezialität gelöst. Die Regel lautete: Ein Betrieb –
ein Tarifvertrag. Dies gilt seit 2010 nun nicht mehr. We-
der das Gesetz noch die Rechtsprechung lösen derzeit
die Situation von Tarifkollisionen. Dies soll nun durch
das Tarifeinheitsgesetz geschehen.
Hierbei sind zwei wesentliche Grundsätze zu berück-
sichtigen und zu beachten: zum einen das Grundrecht
der Koalitionsfreiheit nach Artikel 9 Absatz 3 des
Grundgesetzes und zum anderen das hohe Gut des Be-
triebsfriedens. Beide Grundsätze sind es, die Deutsch-
land zu Wohlstand und wirtschaftlichem Erfolg verhol-
fen haben.
Der Gesetzentwurf sieht vor, Tarifkollisionen nach
dem Grundsatz des betrieblichen Mehrheitsprinzips zu
lösen. Dabei liegt eine Kollision nur dann vor, wenn sich
die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge
verschiedener Gewerkschaften überschneiden. Das
heißt, dass Vereinbarungen der betroffenen Gewerk-
schaften einer Lösung der Kollision nach dem Mehr-
heitsprinzip immer vorgehen. So können Gewerkschaf-
ten zum Beispiel ihre Zuständigkeiten untereinander
abstimmen und ihre Tarifverträge im Rahmen einer ge-
willkürten Tarifpluralität regeln und abklären.
Gewerkschaften können in Tarifgemeinschaften Tarif-
verträge aushandeln oder inhaltsgleiche Tarifverträge
abschließen, ohne in einer Tarifgemeinschaft verbunden
zu sein. Sie können auch den Tarifvertrag einer anderen
Gewerkschaft im Rahmen eines Anschlusstarifvertrags
nachzeichnen, oder sie können verbandsinterne Kon-
fliktlösungsverfahren nutzen.
Herr Oellers, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol-legin Müller-Gemmeke zu?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8639
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Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass ich die Frage stellen
darf. – Es geht die ganze Zeit darum, was das Gesetz
überhaupt bewirkt bzw. warum das Gesetz gemacht
wird. Als Grund werden die vielen Kollisionen von
Tarifverträgen genannt. Sie haben eben all die Möglich-
keiten aufgezählt, die Gewerkschaften haben, sich zu ei-
nigen. Das ist Realität; dafür braucht man kein Gesetz.
Ich möchte nachfragen: Wie viele Tarifkollisionen
gibt es eigentlich, die dazu führten, dass das Gesetz ge-
macht wird? Vorhin habe ich gesagt, dass ich dazu auf
die Kleine Anfrage keine Antwort bekommen habe. Ich
kenne genau zwei Kollisionen. Die Piloten haben keine
Kollision; denn sie haben keine Konkurrenz. Bei den
Ärzten gibt es eine Tarifkollision. Da gibt es aber mo-
mentan keine Probleme, sondern da werden einfach die
unterschiedlichen Tarifverträge angewandt. Wenn das
Tarifeinheitsgesetz kommt, werden dort die Probleme
erst richtig anfangen. Momentan gibt es jedoch eine
echte Kollision, und zwar bei der Bahn. Früher haben
sich EVG und GDL besprochen und einen Rahmenver-
trag abgeschlossen. Dieser wurde dann aufgelöst. Ich
glaube, wenn es das Gesetz nicht geben würde, hätten
wir auch in diesem Bereich weniger Probleme.
Meine Frage lautet: Wie viele tatsächliche Kollisio-
nen kennen Sie? Warum wird das Gesetz gemacht? Kann
es sein, dass das Gesetz nur wegen der Bahn gemacht
wird?
Das Gesetz wird sicherlich nicht nur wegen der Bahn
gemacht. Der aktuelle Streik ist auch ein Zuständigkeits-
streit, auf den ich gleich eingehen werde. Der Gesetzge-
ber hat aber vor allem dann vorsorglich zu handeln,
wenn – wie dargelegt – die Tarifpartner eine entspre-
chende Bitte an den Gesetzgeber herantragen. Es sind
die Gewerkschaften unter dem Dach des DGB genannt
worden, die damit nicht einverstanden sind. Insgesamt
aber liegt es an den Tarifpartnern, ob ein solcher Tarif-
vertrag gewünscht wird.
Es gilt sicherlich, bestimmte Fälle vorsorglich zu regeln.
– Wenn Sie das so sehen, müssen Sie das so zur Kennt-
nis nehmen.
Ich will aber fortfahren. Von Herrn Ernst wurde ein-
geworfen, dass es all die Möglichkeiten, die ich aufge-
zählt habe, schon gibt. Ich will betonen, dass gerade
diese Möglichkeiten den Gewerkschaften weiterhin zur
Verfügung stehen. Nur in einem Konfliktfall, der nicht
gelöst werden kann, greift erst einmal subsidiär die Kol-
lisionsregel der Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip.
Diese Regelung führt dazu, dass die Solidarität der Be-
legschaft untereinander gestärkt wird.
Schlüsselpositionen im Betriebsablauf, die ein höheres
Druckpotenzial im Hinblick auf den Arbeitgeber darstel-
len, können somit nicht lediglich zum eigenen Vorteil
und damit zulasten der anderen Kolleginnen und Kolle-
gen genutzt werden. Dies dient dem Schutz der Schwä-
cheren, verhindert innerbetriebliche Verteilungskämpfe
und dient dem hohen Gut des Betriebsfriedens.
Das Arbeitskampfrecht wird entgegen anderer Auf-
fassung hier im Haus durch diese Regelung nicht geän-
dert. Die Entscheidung, ob ein Arbeitskampf rechtmäßig
ist oder nicht, liegt nach wie vor bei den Arbeitsgerich-
ten, die die Verhältnismäßigkeit und damit auch die
Rechtmäßigkeit eines Streiks in jedem Einzelfall zu prü-
fen haben. Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprü-
fung sind sämtliche Umstände zu berücksichtigen, neben
dem Grundsatz der Tarifeinheit Strukturen des Arbeitge-
bers sowie die Reichweite von Tarifverträgen. Nur in
den seltensten Fällen haben die Arbeitsgerichte in der
Vergangenheit einen Streik für unverhältnismäßig er-
klärt. Selbst beim Streik der Vorfeldbeschäftigten am
Frankfurter Flughafen im Jahr 2012 sah das Arbeitsge-
richt weniger Probleme bei der Verhältnismäßigkeit.
Vielmehr lag hier ein Verstoß gegen die Friedenspflicht
vor, da noch ein gültiger Tarifvertrag bestand.
Für verhältnismäßig hielt das Arbeitsgericht Berlin im
Jahr 2013 gar einen Streik von angestellten Lehrern an
einem Tag, an dem Abiturprüfungen für einen Leis-
tungskurs stattfanden. An diesen Beispielen sieht man
deutlich, welche Maßstäbe die Rechtsprechung bei der
Verhältnismäßigkeit setzt.
Über die Frage der Verfassungsmäßigkeit wird inten-
siv diskutiert. Die Verfassungsressorts sowie die Juristen
des Kanzleramts und des Arbeitsministeriums haben den
Gesetzentwurf für verfassungsgemäß gehalten; er ist
verabschiedet worden. Ebenfalls – auch das sei er-
wähnt – hat der Bundesrat in seiner ersten Lesung keine
Einwendungen gegen den Gesetzentwurf erhoben. Es sei
deutlich betont, dass alle in diesem Hause vertretenen
Parteien auch im Bundesrat vertreten sind.
Herr Oellers, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage
– eine Frage, einen Satz – vom Kollegen Ernst zu?
Gerne.
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8640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
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Ich mache es wirklich ganz kurz. – Sie stellen den Be-
triebsfrieden mit dem Koalitionsrecht gleich; das Koali-
tionsrecht ist in Artikel 9 des Grundgesetzes geregelt.
Wo finden wir im Grundgesetz den Betriebsfrieden?
Herr Ernst, das war nur eine Frage, ein Satz. Vielen
Dank. – Diese Frage haben wir schon im Rahmen der
letzten Diskussion über dieses Thema in diesem Hause
beantwortet. Sicherlich ist die Koalitionsfreiheit in der
Verfassung geregelt. Das hohe Gut des Betriebsfriedens
hat sich aus der Tarifpolitik an sich herausgebildet und
ist hier sicherlich auch zu berücksichtigen.
– Ich habe Ihre Frage gerade beantwortet.
Sicherlich gibt es in der derzeitigen Diskussion auch
kritische Stimmen zu dem Gesetzentwurf. In der Litera-
tur gibt es aber auch befürwortende Stimmen zu diesem
Gesetzentwurf. Diese Diskussion zeigt vor allen Dingen,
dass Juristen bei derartigen Fragen nicht immer einer
Meinung sind. Der Gesetzentwurf stellt eine Ausgestal-
tung der Tarifautonomie dar und keinen Eingriff in die-
selbige. Die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der
Tarifautonomie ist das legitime Ziel dieses Gesetzes.
Dies wird vor allen Dingen dadurch deutlich, dass die
Regelung der Tarifeinheit subsidiär greift und den Ge-
werkschaften alle Lösungen ermöglicht, die ich bereits
ausgeführt habe. Darüber hinaus steht den Minderheits-
gewerkschaften im Falle einer Kollisionslösung durch
den Grundsatz der Tarifeinheit ein Anhörungs- und ein
Nachzeichnungsrecht zu.
Mit diesem Gesetzentwurf werden Zuständigkeitsfra-
gen geregelt und damit Kollisionssituationen geklärt.
Dies dient insbesondere der Solidarität innerhalb der Be-
legschaft und der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit
der Tarifautonomie. Auseinandersetzungen über Zustän-
digkeitsfragen sind vor allem für die Bürgerinnen und
Bürger nicht nachvollziehbar. Deswegen wollen die
Menschen, dass diese Fragen beantwortet werden. Vor
2010 hat das mit der damaligen Rechtsprechung funktio-
niert,
wenn auch gewiss unter anderen Voraussetzungen. Doch
eines bleibt in jeder Konstellation gleich: Die beste Lö-
sung bei einer Streitfrage bzw. einer Kollision ist, sich zu
einigen, auch wenn der Weg dorthin schwer sein kann.
Hierzu leistet das Gesetz seinen Beitrag.
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Jutta Krellmann von der
Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Zur Verfassungswidrigkeit hat ProfessorDäubler im Auftrag unserer Fraktion ein Gutachten er-stellt; mein Kollege Klaus Ernst hat das eben bereits er-wähnt. Wie Professor Däubler warnt eine große Zahl vonArbeitsrechtlern und anderen Juristen ausdrücklich vordiesem Gesetz. Aber diese Bundesregierung ist in die-sem Zusammenhang echt beratungsresistent.
Dass Sie politisch nicht auf uns hören, kann ich ja ver-stehen. Geschenkt! Dass Sie aber eine ganze Menge an-derer Juristen und Arbeitsrechtler ignorieren, kann ichim Grunde nicht verstehen.
An dieser Stelle herrscht kollektive Ignoranz.
Zukünftig wird Gewerkschaftsarbeit, insbesonderedie der kleineren Gewerkschaften, erschwert. Deswegenlaufen diese Gewerkschaften gerade Sturm, teilweise vorIhren Parteizentralen, wie ich mitbekommen habe. Ander Basis der Industriegewerkschaften wurde dieses Ge-setz nie wirklich diskutiert: weder in Tarifkommissionennoch in Bezirken noch auf einer Betriebsversammlungvor Ort mit den Beschäftigten.
Die Leute, die ich in den Betrieben treffe, wollen sichund anderen das Streikrecht nicht nehmen lassen.
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Ich kann das wirklich nicht verstehen, Frau Nahles.Sie sind doch angetreten, um die Tarifautonomie zu stär-ken und um den Betriebsfrieden wiederherzustellen. Mitdiesem Gesetzentwurf erreichen Sie genau das Gegen-teil, und zwar zum Nachteil der Beschäftigten.
Die Tarifautonomie muss ohne einen Eingriff in dasStreikrecht gestärkt werden. Das ist beispielsweise durchdie Ausweitung betrieblicher Mitbestimmung möglich.Im Gesetzentwurf steht davon nichts.
Neben einem Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte beiLeiharbeit und Werkverträgen ist ein erweitertes Mitbe-stimmungsrecht bei wirtschaftlichen Angelegenheiten,zum Beispiel beim Outsourcing, absolut notwendig.
Das wäre einmal ein Lösungsansatz, der nach vorne ge-richtet ist und die Beschäftigten beteiligt, statt sie auszu-schließen.Eine weitere Möglichkeit setzt direkt bei den Arbeit-gebern an. Sie sollten sich in ihren Verbänden organisie-ren. Aber dann muss es auch so weit gehen, dass gesetz-lich dafür gesorgt wird, dass geltende Tarifverträgeangewandt werden. Ich meine, bei einer echten Erleich-terung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Ta-rifverträgen ist noch ganz viel Luft nach oben. Damüsste noch viel gemacht werden. Schluss mit OT-Mit-gliedschaften!
Ziel von Tarifverträgen ist es seit jeher, Konkurrenz aufder Basis von Löhnen auszuschließen. Dazu brauchenwir ein Streikrecht. Das gerät immer mehr aus demBlick. Im Grunde ist es die Aufgabe des Gesetzgebers,die politischen Rahmenbedingungen zu stärken, damitdie Beschäftigten selbst – gemeinsam mit ihren Gewerk-schaften – die Tarifeinheit durchsetzen.Frau Nahles, das sind zwei wirksame Vorschläge zurStärkung der Tarifautonomie. Meine Liste ist noch lang.Was auf dieser Liste an keiner Stelle steht, ist ein Gesetzzur Herstellung der Tarifeinheit. Ihr Gesetz schwächtlangfristig alle Gewerkschaften. Davon bin ich felsenfestüberzeugt. Gerade deswegen sind Arbeitgeber so dahin-terher, dass es zu einem solchen Gesetzentwurf kommt.Ich kann die SPD nur warnen: Lassen Sie die Fingerweg! Hände weg vom Streikrecht!
Kommen Sie endlich zur Vernunft, und stoppen Sie die-ses Gesetz, damit es gar nicht erst so weit kommt, dasswir darüber abstimmen müssen!Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Ralf Kapschack von der
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer! Liebe Zuhörer! „Ein Arbeitnehmer istauf die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft angewiesen,wenn er im sozialen Bereich angemessen und schlag-kräftig repräsentiert sein will.“ Das stammt nicht ausdem Grundsatzprogramm der SPD oder einer Broschüredes Deutschen Gewerkschaftsbundes, sondern aus einerUrteilsbegründung des Bundesgerichtshofs von 1984.Daran wird deutlich, welch hohen Stellenwert Gewerk-schaften in unserem Land haben. Deshalb genießen sieauch einen besonderen Schutz.
Gewerkschaften haben aber auch eine besondere Ver-antwortung. Es ist für mich selbstverständlich, dass Ge-werkschaften für höhere Löhne, für kürzere Arbeitszei-ten, für bessere Arbeitsbedingungen streiken können– ich bin ja schließlich auch seit meinem ersten Arbeits-tag Gewerkschaftsmitglied –; das steht für mich völligaußer Frage. Aber es geht nicht, dass eine Spartengewerk-schaft – wie in den vergangenen Wochen und Monaten –versucht, ihren Einflussbereich in Konkurrenz zu ande-ren Gewerkschaften auf Kosten Hunderttausender unbe-teiligter Fahrgäste auszuweiten – koste es, was es wolle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Auseinanderset-zung bei der Bahn ist wahrlich keine Katastrophe; abersie ist aus meiner Sicht ein Hinweis darauf, dass da eini-ges im Argen liegt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Spiel-regeln für Tarifauseinandersetzungen präzisiert.
Ich bin mir sicher, dass gerade bei diesem sensiblenThema die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeitihres Gesetzentwurfs sehr sorgfältig geprüft hat. Ichglaube auch nicht, dass es verfassungswidrig ist, wennwir verhindern wollen, dass Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer in den Betrieben gegeneinander in Wettbe-werb treten, dass sie im Kampf um bessere Arbeitszeitenoder bessere Löhne gegeneinander ausgespielt werden.
Das ist die Grundbotschaft dieses Gesetzes: „Ein Betrieb –ein Tarifvertrag“. Konkurrierende Tarifverträge werdennach dem Mehrheitsprinzip behandelt. So ist sicherge-
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8642 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Ralf Kapschack
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stellt, dass zwei Personen für die gleiche Arbeit nicht un-terschiedlich entlohnt werden, nur weil sie unterschiedli-chen Gewerkschaften angehören.
Es wird auch in Zukunft problemlos möglich sein, dassGewerkschaften ihre jeweilige Zuständigkeit abstimmenoder gemeinsam in einer Tarifgemeinschaft einen Tarif-vertrag verhandeln.Mit dem Argument der Verfassungswidrigkeit ist indieser Debatte schon viel gearbeitet worden; damit istman schnell bei der Hand. Es gibt für diese Position auchprominente Zeugen. Aber es gibt genauso prominenteZeugen dafür, dass der vorliegende Entwurf natürlichmit dem Grundgesetz vereinbar ist. Ich nenne zum Bei-spiel den ehemaligen Präsidenten des nordrhein-westfä-lischen Verfassungsgerichtshofs Michael Bertrams. Erargumentiert, das Mehrheitsprinzip sei ein überragendesPrinzip unserer Verfassung, das es dem Gesetzgeber er-laube, diesem Prinzip auch im Tarifrecht Geltung zu ver-schaffen, gerade auch was die oft angesprochene Aus-wirkung auf das Streikrecht angeht. Also wäre ichvorsichtig, pauschal mit dem Argument der Verfassungs-widrigkeit zu arbeiten.Der Marburger Bund hat angekündigt, dass er gegendas Gesetz, sollte es verabschiedet werden – so sieht esaus –, beim Bundesverfassungsgericht Klage einreichenwird. Das ist sein gutes Recht – völlig klar! Das Verfas-sungsgericht stellt im Zweifel verbindlich fest, ob Ge-setze mit der Verfassung vereinbar sind oder nicht, aberniemand sonst – weder Sie noch der Marburger Bundnoch ich. Dafür haben wir ein geregeltes Verfahren beimBundesverfassungsgericht. Ich bin da guter Dinge.
– Ja. Ich stelle das Nachdenken ja auch nicht ein; dasmache ich doch gar nicht.
Ich bin trotzdem guter Dinge, weil ich fest davon über-zeugt bin, dass das Ministerium zusammen mit den Ver-fassungsressorts sehr sorgfältig gearbeitet hat.Zum Schluss ein kurzer Hinweis zu dem Satz – das istimmer angesprochen worden –, das neue Gesetz würdedie Gewerkschaften schwächen: Das sieht zumindest dieMehrheit der deutschen Gewerkschaften ganz anders.
– Wie das manchmal so ist im Leben, Klaus: Ich bin fürdieses Gesetz, meine Gewerkschaft Verdi ist dagegen.Du bist in der IG Metall, bist gegen dieses Gesetz, aberdeine Gewerkschaft ist dafür.
Manchmal ist das Leben bunt und kompliziert.
Auch der DGB hat den Gesetzentwurf begrüßt und ei-nige konstruktive Änderungsvorschläge gemacht, überdie im Laufe der Beratungen sicherlich noch zu redensein wird.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Abgeordnete Henke hat das Wort zu einer Kurz-
intervention.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich würde, weil jetzt so vielvon der Verfassungsproblematik die Rede war, gerne denBlick auf das lenken, was Frau Ministerin Nahles in derDebatte eingangs hervorgehoben hat, nämlich dass essich bei der Koalitionsfreiheit um ein Grundrecht han-delt. Sie hat dann dazugesagt: Es ist nicht nur ein Frei-heitsrecht. – Ich würde sagen: Kein Recht ist nur einFreiheitsrecht, sondern jedes Recht muss immer in Ver-antwortung – das heißt auch: in Verantwortung vor ande-ren – ausgeübt werden. Aber es ist eben auch ein Frei-heitsrecht.Ich will den Wortlaut von Artikel 9 Absatz 3 Grund-gesetz noch einmal in Erinnerung rufen:Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Ar-beits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungenzu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe ge-währleistet. Abreden, die dieses Recht einschrän-ken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hieraufgerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.
Auch in Artikel 19 Absatz 2 Grundgesetz heißt es:In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem We-sensgehalt angetastet werden.
Die Frage ist jetzt, ob ein Beruf, der im Betrieb natür-lich immer eine Minderheit darstellt, nicht genau denWesensgehalt der Zusage aus Artikel 9 Absatz 3 Grund-gesetz einbüßt, wenn man sagt: Wir machen das Grund-recht der Koalitionsfreiheit von der Bedingung des Vor-liegens einer betrieblichen Mehrheit abhängig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tatsache, dassdas ein Grundrecht ist, hebt die Koalitionsfreiheit unddamit das Regelungsrecht der Arbeits- und Wirtschafts-bedingungen auf das gleiche Niveau wie die Freiheit derMeinung, der Kunst und der Wissenschaft, wie die Glau-bens- und Gewissensfreiheit, wie die Versammlungsfrei-heit, wie das Recht der Freizügigkeit, wie die Berufsfrei-heit und wie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis.Wenn man die Koalitionsfreiheit zur Disposition einerMehrheit stellt, dann wird dieses Recht im Kern so ver-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8643
Rudolf Henke
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letzt, dass sich der Bundestag zurückhalten sollte, dieszu tun.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Kapschack.
Das war die Rede des Chefs des Marburger Bundes.
Das ist ja auch völlig in Ordnung.
– Darf ich zu Ende reden?
Ich darf die Kollegen um Ruhe bitten. Der Kollege
Kapschack hat jetzt das Wort als Reaktion auf die Inter-
vention vom Kollegen Henke.
So. – Ich bin bei Verdi, Sie sind beim Marburger
Bund; alles ist in Ordnung.
– Doch, ich bleibe dabei.
Ich kann nur das wiederholen, was ich eben gesagt
habe: Ich bin der Meinung, dass wir die Koalitionsfrei-
heit nicht antasten. Wir regeln die tarifliche Auseinan-
dersetzung neu, aber wir greifen nicht in Grundrechte
ein; da sind wir unterschiedlicher Meinung. Ich vermute,
dass diese Frage letztendlich vom Bundesverfassungsge-
richt geklärt werden wird.
Das, was Sie zitiert haben, ist völlig in Ordnung. Ich
muss ja nicht das Grundgesetz interpretieren oder Ihr Zi-
tat werten. Wir als Koalition handeln. Auch Sie sind Teil
dieser Koalition, und aus Ihrer Fraktion gab es den be-
sonders starken Wunsch, Regelungen in dieser Art und
Weise vorzunehmen. Es wäre vielleicht sinnvoll, in die
eigene Fraktion zu wirken.
Was Ihre Kritik angeht: Ich habe meine Position dar-
gelegt. Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf für
verfassungsgemäß. Ob das so ist, darüber wird, wie ge-
sagt, möglicherweise das Verfassungsgericht entschei-
den. Dafür gibt es Regeln.
Wir fahren in der Debatte fort. Als nächster Redner
hat Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie sind einhohes Gut, konstitutiv für die soziale Marktwirtschaft,unverzichtbar für die Wirtschaftsordnung in Deutsch-land.Kollege Henke hat eben das Grundgesetz zitiert. Ichkann nur sagen: Es ist immer gut, im Grundgesetz nach-zulesen. Die entscheidende Frage ist: Wird der Wesens-gehalt des Grundrechtes, das Sie eben zitiert haben, an-getastet? Wir haben es hier mit einem auslegungs- undausgestaltungsfähigen Sachverhalt zu tun. Genau darumgeht es bei den Fragestellungen, die wir klären müssen.Wir wollen den Tarifpluralismus entsprechend mitLeitplanken versehen, und zwar indem wir die Tarifein-heit im Betrieb wiederherstellen. Das ist das, was vor2010 entsprechend galt, allerdings modifiziert in derForm, dass das Mehrheitsprinzip gelten wird. Wir sinduns, glaube ich, darin einig, dass das ein sehr komplexes,durchaus anspruchsvolles Unterfangen ist, weil hier eineVielfalt von Rechtsfragen berührt ist, insbesondere auchverfassungsrechtlicher Art. Deswegen gilt es, hier dreiDinge zu beachten:Zum Ersten: Der Grundsatz der Tarifeinheit gilt nursubsidiär. Das heißt, die Kollision von Tarifverträgen,die von konkurrierenden Gewerkschaften gemacht wer-den können, ist vermeidbar. Das erhöht letztlich den Ei-nigungsdruck im Vorfeld des Streiks. Genau das ist einZiel dessen, was wir uns vornehmen.Zum Zweiten: Es gilt dann das betriebsbezogeneMehrheitsprinzip, es gilt der Tarifvertrag, der in der Be-legschaft die größte Akzeptanz hat – und das nach demPrinzip der Mehrheit. Der Vorsitzende der GewerkschaftIG Bergbau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, haterklärt – ich zitiere aus einer Nachricht von heute –:Wir wollen das Mehrheitsprinzip als Grundlage derEntscheidung, welcher Tarifvertrag die Arbeits-und Entlohnungsbedingungen in einem Betrieb re-gelt. Das ist Demokratie pur.
Das zeigt: Das Mehrheitsprinzip ist eine Maßeinheit,die im Grundgesetz und vielen anderen Dingen auch ent-
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8644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Stephan Stracke
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sprechend angelegt ist. Wir machen das Ganze betriebs-bezogen; genau darauf hat das BAG in ständiger Recht-sprechung in dem Zeitraum bis 2010 Wert gelegt. Das istauch die schonendere Regelung gegenüber allen anderenÜberlegungen, beispielsweise wenn es um die Unterneh-mensbezogenheit geht. Das eröffnet gerade kleinerenGewerkschaften die Möglichkeit, in entsprechenden Be-trieben häufiger die Mehrheit zu stellen.Zum Dritten: Es gibt keinen Eingriff in das Streik-recht, das Arbeitskampfrecht wird nicht geändert. Ge-rade das Arbeitskampfrecht ist ja Mittel zur Sicherungder Tarifautonomie. Hier wollen wir das Prinzip der Ein-zelfallbetrachtung entsprechend weiterhin gelten lassen.
Wir wissen, die Bundesregierung hat hier die Sozial-partner im Vorfeld sehr eng eingebunden; das haben wirauch im Koalitionsvertrag so verabredet gehabt. DieBDA unterstützt das Vorhaben. Beim DGB haben wirkein einheitliches Bild mehr. Es kommt natürlich Kritikvonseiten der Sparten- und Berufsgewerkschaften. Wensoll es wundern? Klar, es geht um die Existenz, es gehtum den Einfluss. Allerdings nehmen wir ihnen nicht dieTariffähigkeit.Richtig ist: Es gibt – vielfach vorgetragen – verfas-sungsrechtliche Bedenken. Diese Einwände waren aller-dings vorhersehbar. Deswegen haben sich ja auch diebeiden Verfassungsressorts Bundesinnenministeriumund Bundesjustizministerium zusammengetan mit demBMAS und geprüft, ob die vorgesehenen gesetzlichenRegelungen in Einklang mit Artikel 9 Absatz 3 desGrundgesetzes stehen. Am Ende haben sie diese Fragemit Ja beantwortet. Der Vorsitzende der GewerkschaftIG Bergbau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, hatauch zu diesem Thema heute etwas gesagt – ich zitiereaus der gleichen Nachricht –:Nur Nein zu sagen, besorgt zu sein und das Lied derKlientelgewerkschaften zu pfeifen, das ist absolutzu wenig.
Recht hat er.
Am Ende müssen wir natürlich auch den Befund zurKenntnis nehmen, zu dem das BMAS gemeinsam mitden Verfassungsressorts gekommen ist: kein Eingriff,der verfassungswidrig wäre. Diesen Befund muss mannatürlich nicht teilen, aber auf jeden Fall entsprechendzur Kenntnis nehmen. Wir haben hier durchaus grund-rechtsschonende Lösungen gefunden. Das Thema derVerfassungsgemäßheit wird sicherlich auch die weiterenBeratungen maßgeblich prägen und tragen.Dabei wird für mich auch klar sein: Dieses Gesetz hatvor allem einen Präemptivcharakter, ist vorbeugend. Esgeht vor allem darum, zu verhindern, dass einige we-nige, die eine Schlüsselposition haben, einen Vorteil da-raus ziehen und sich diese Schlüsselposition entspre-chend prämieren lassen. Wir sollten darauf achten, dasswir nicht erst warten, bis das Haus, bis der Betrieb lich-terloh brennt, sondern tatsächlich frühzeitig die Feuer-wehr rufen. Genau das tun wir mit diesem Gesetz. Ichfreue mich auf die Beratungen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank.
– Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich die
Kolleginnen und Kollegen bitten, sich zu setzen. Wir
werden noch mehrere Abstimmungen haben, bevor wir
überhaupt zur Wahl des Mitglieds des Vertrauensgremi-
ums kommen. Da es also noch etwas dauert, setzen Sie
sich bitte.
Ich habe auch noch die Bitte an Sie, dass Sie die Ge-
spräche miteinander beenden bzw. auf jeden Fall den
Lärmpegel senken. So etwas ist den Rednerinnen und
Rednern gegenüber einfach unkollegial.
Herr Weiß, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Was kommt mit diesem Gesetzentwurf der Bundes-regierung wirklich auf uns zu?
Erstens. In Deutschland gibt es große Gewerkschaf-ten, und es gibt kleine Gewerkschaften. Auch in Zukunftwird es in Deutschland große Gewerkschaften undkleine Gewerkschaften geben; denn jeder von uns, jedeBürgerin und jeder Bürger, darf der Organisation beitre-ten, der er beitreten will. Das gilt übrigens auch für jedenArbeitgeber. Jeder Arbeitgeber darf der Arbeitgeberor-ganisation beitreten, der er beitreten will. Daran ändertdieses Gesetz nichts. Es bestätigt die Koalitionsfreiheit,die in Deutschland herrscht und grundgesetzlich ge-schützt ist.
Zweitens. Es wird hier in dieser Debatte in SachenStreikrecht ein Popanz aufgebaut. Nein, dieses Gesetzenthält keine neuen Regelungen zum Streikrecht. Eskann auch in Zukunft gestreikt werden. Das Einzige ist– dabei bleibt es –: Ich kann vor ein Arbeitsgericht zie-hen und die Verhältnismäßigkeit eines Streiks überprü-fen lassen. Das war in der Vergangenheit so und wirdauch in Zukunft so sein. Daran ändert unser Gesetzent-wurf nichts.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8645
Peter Weiß
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Drittens. Es findet eine heftige Debatte über die Ver-fassungsmäßigkeit statt. Kluge Juristinnen und Juristenäußern sich dazu. Ich bin schon ein bisschen erstaunt da-rüber, wie viele Kolleginnen und Kollegen hier selbergerne Bundesverfassungsrichter spielen möchten. Umdie Debatte etwas zu erweitern, will ich vortragen, wasder ehemalige Präsident des Bundesverfassungsge-richts, Professor Papier, heute in einem bemerkenswer-ten Beitrag in der Welt gesagt hat: Gesetzliche Regelun-gen – wie wir sie planen –, die der Vermeidung vonTarifkollisionen dienen, sind keine Regelungen, die indas Koalitionsrecht eingreifen, sondern solche, die viel-mehr die Tarifautonomie sichern. Er sagt wörtlich:Solche Regelungen zur Tarifeinheit stellen dahereine Ausgestaltung des Tarifvertragssystems undkeinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit im verfas-sungsrechtlichen Sinne dar.Bemerkenswert, was doch ein ehemaliger Präsident desVerfassungsgerichts uns da sagt: Jawohl, genau so kannman es machen. – Klar, es gibt auch Gegenmeinungen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es war das Ver-fassungsgericht selbst, das in einer Entscheidung Fol-gendes formuliert hat: Es ist eben Aufgabe der Koalitio-nen, dass sie das Arbeitsleben sinnvoll gestalten, dass siedas Arbeitsleben befrieden. – Gestalten und Befriedensind also Aufträge, die uns das Verfassungsgericht aus-drücklich gegeben hat. Dann kann es nicht falsch sein,dass wir als Koalition einen solchen Gesetzentwurf vor-legen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was wird in derRealität denn passieren? Werden tatsächlich kleinere Ge-werkschaften unterdrückt werden? Es geht ja nicht umGroß und Klein im Ganzen, sondern es geht um dieFrage: Wie sieht es konkret in einem Betrieb aus, in demzwei Gewerkschaften um die gleiche Beschäftigten-gruppe – auch das noch! – konkurrieren?Der große Bahnkonzern besteht aus über 300 einzel-nen Betrieben. Nur in etwa 60 Betrieben überhaupt gibtes eine solche Kollision, in den anderen überhaupt nicht.Wenn man ungefähr abschätzt, wenn man abzählt, dannkommt man darauf, dass in etwa 40 dieser 60 Betriebedie große Gewerkschaft EVG eine Mehrheit habenwürde, aber in 20 Betrieben die kleinere GewerkschaftGDL.
Oder nehmen wir die großen Krankenhäuser in unse-rem Land. In vielen Krankenhäusern wird, wie man nachdem Abzählen feststellen würde, wahrscheinlich Verdidie meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisierthaben.
Aber angesichts des hohen Organisationsgrades der an-gestellten Ärztinnen und Ärzte beim Marburger Bundwird es auch Krankenhäuser geben, in denen, wie mannach dem Abzählen feststellen würde, der MarburgerBund die Mehrheit hat. Das heißt, die Behauptung, klei-nere Gewerkschaften würden gänzlich verschwinden,stimmt gar nicht. Große wie kleine Gewerkschaften wer-den sich sehr wohl überlegen, ob sie es auf das Abzählenankommen lassen.
Es gibt bewährte Methoden, Tarifkollisionen aufzulö-sen. Eine, die sich zwischen Verdi und dem DeutschenBeamtenbund im öffentlichen Dienst bewährt hat, ist,eine Tarifgemeinschaft zu bilden und gemeinsam zu ver-handeln. Es gibt die Methode, in getrennten Räumen undan getrennten Orten parallel Tarifverträge zu verhandelnmit dem Ziel, zu einem gleichen Abschluss zu kommen.Es gibt die ebenfalls bewährte Methode, dass man sichdie Aufgaben teilt und sagt: Die eine Gewerkschaft istfür die eine Beschäftigtengruppe im Betrieb zuständigund schließt einen Tarifvertrag, die andere Gewerkschaftist für die andere Beschäftigtengruppe zuständig. – Ge-nau das sind doch Methoden, die in der Vergangenheitdazu geführt haben, dass bei uns Arbeitnehmerinteressenstärker und besser durchgesetzt wurden als anderswo.
In Wahrheit geht es darum, mit dem Gesetzentwurfdas zu stärken, was uns in Deutschland stark gemachthat: gelebte und funktionierende Sozialpartnerschaft, ge-lebte und funktionierende Tarifautonomie. Das war es,was den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern inDeutschland gute Löhne und den Unternehmen in unse-rem Land großen wirtschaftlichen Erfolg gebracht hat.Wir wollen Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie stär-ken. Das ist der eigentliche Inhalt dieses Gesetzes.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-mit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufden Drucksachen 18/4062 und 18/4184 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g und17 sowie Zusatzpunkt 2 auf. Hierbei handelt es sich um
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8646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 23 a auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommenvom 11. April 2014 über die Beteiligung derRepublik Kroatien am Europäischen Wirt-schaftsraumDrucksache 18/4052Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/4221Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4221,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 18/4052 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit istdieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 23 b bis23 g. Es handelt sich um Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 23 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 151 zu PetitionenDrucksache 18/4101Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieseSammelübersicht einstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 23 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 152 zu PetitionenDrucksache 18/4102Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist diese Sammelübersicht mit denStimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-men worden.Tagesordnungspunkt 23 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 153 zu PetitionenDrucksache 18/4103Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist diese Sammelübersicht ebenfallseinstimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 23 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 154 zu PetitionenDrucksache 18/4104Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist diese Sammelübersicht mit denStimmen der Koalition und der Fraktion Die Linke ge-gen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenom-men worden.Tagesordnungspunkt 23 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 155 zu PetitionenDrucksache 18/4105Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist diese Sammelübersicht angenom-men worden mit den Stimmen der Koalition und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 23 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 156 zu PetitionenDrucksache 18/4106Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist diese Sammelübersicht angenom-men worden mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
zu dem Bericht der Kommission an den Ratund das Europäische ParlamentDie angestrebte Umsetzung harmonisierterRechnungsführungsgrundsätze für den öf-fentlichen Sektor in den MitgliedstaatenDie Eignung der IPSAS für die Mitgliedstaa-tenKOM(2013)114 endg.; Ratsdok. 7677/13hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 desGrundgesetzesDrucksachen 18/3618 Nr. C.1, 18/4182, 18/4198Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksachen 18/4182 und 18/4198, inKenntnis der Unterrichtung eine Entschließung nach Ar-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8647
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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tikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Be-schlussempfehlung einstimmig angenommen worden.Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 2 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführungeines StrafverfahrensDrucksache 18/4181Mir liegt eine Wortmeldung für eine Erklärung nach§ 31 der Geschäftsordnung vor. Das Wort hat zunächstder Kollege van Aken.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte ganz kurz begründen, warum wir gegen Ihren
Antrag stimmen werden. Sie wollen gleich die Immuni-
tät der Abgeordneten Nicole Gohlke von den Linken
aufheben, weil sie auf einer Demonstration in München
eine Fahne der kurdischen PKK hochgehalten haben
soll. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich verstehe das
überhaupt nicht.
Seit einem Dreivierteljahr wird in allen Fraktionen,
auch bei Ihnen in der CDU/CSU-Fraktion, darüber dis-
kutiert, dass wir das Verhältnis zur PKK neu klären soll-
ten, weil die PKK im Moment einen so wichtigen Bei-
trag im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ leistet und
weil – auch das wissen Sie – die PKK seit Jahren in der
Türkei einen Waffenstillstand ausgerufen und befolgt
hat. Sogar die türkische Regierung verhandelt im Mo-
ment über eine Friedenslösung mit dem PKK-Führer
Abdullah Öcalan. Deswegen finde ich diesen Antrag
ziemlich absurd.
Um einmal klarzumachen, worum es geht – ich habe
lange gesucht und bin dann im Verfassungsschutzbericht
fündig geworden –: Das ist die Fahne, um die es geht,
die Fahne der verbotenen PKK.
Das ist die Fahne, unter der im August letzten Jahres
mehrere Zehntausend Jesidinnen und Jesiden freige-
kämpft worden sind.
Das ist die Fahne, unter der Kobane befreit worden ist.
Herr van Aken, bitte unterlassen Sie das.
Ich würde gerne meine Rede zu Ende führen.
Das ist die Fahne, unter der Kobane befreit worden
ist. Sie selbst von der CDU/CSU und der SPD haben da-
für gestimmt, die Peschmerga mit Waffen zu beliefern.
Es waren die Amerikaner, die den Kampf unter dieser
Fahne in Kobane mit Luftschlägen unterstützt haben. In
dieser Situation wollen Sie hier Menschen strafrechtlich
verfolgen, weil sie so eine Fahne zeigen? Ich kann das
überhaupt nicht nachvollziehen.
Herr Kauder, Sie regen sich hier gerade so auf. Nach
dieser Logik müsste heute auch Ihre Immunität aufgeho-
ben werden. Denn Sie haben im letzten Jahr Waffenliefe-
rungen an die PKK in die Diskussion gebracht.
Nach dieser Logik müssten auch Sie mit einem Strafver-
fahren wegen Unterstützung einer terroristischen Verei-
nigung belegt werden.
Ich will das nicht.
Sie wollen das bestimmt auch nicht. Aber wenn Sie das
nicht wollen, dann dürfen Sie heute auch nicht die Im-
munität der Abgeordneten Nicole Gohlke aufheben.
Um eines noch zum Schluss klarzumachen: Es geht
hier nicht um Sonderrechte für Abgeordnete.
Denn Volker Kauder und Nicole Gohlke sind nicht al-
lein.
Es gibt viele Hunderttausend Menschen hier in Deutsch-
land, die ständig bedroht sind, kriminalisiert zu werden,
weil sie sich offen und öffentlich zur PKK bekennen
wollen. Ich finde, sie sollen das tun dürfen. Deswegen
werde ich diesen Antrag ablehnen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte.
Herr van Aken, ich erteile Ihnen hiermit offiziell ei-nen Ordnungsruf. Es ist nicht zulässig, dass Sie hierSymbole verbotener Organisationen zeigen.
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8648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Herr Kauder, Sie haben das Wort.
Was wir hier gerade erlebt haben, ist ein unglaubli-
cher, zumindest ein unkollegialer Vorgang, den es im
Deutschen Bundestag so noch nicht gegeben hat, seit ich
dem Bundestag angehöre.
Sie wissen ganz genau, dass nicht der Immunitätsaus-
schuss und auch nicht der Deutsche Bundestag darüber
entscheiden, ob sich eine Kollegin oder ein Kollege in ir-
gendeiner Form strafbar gemacht hat.
Wir haben in diesem Rechtsstaat Gott sei Dank eine
klare Trennung zwischen Legislative, Exekutive und Ju-
dikative.
Aber Sie – ich weiß nicht, was in Ihrem Kopf vorgeht
und über was in Ihrer Gruppe alles diskutiert wird – wol-
len Judikative und Legislative offenbar vermischen
und selbst entscheiden, ob eine Staatsanwaltschaft ein
Ermittlungsverfahren gegen jemanden einleitet oder
nicht.
Wir entscheiden nur auf Antrag einer Staatsanwalt-
schaft, die ein Ermittlungsverfahren durchführen will, ob
wir die Genehmigung dazu erteilen oder nicht. Sie haben
hier etwas ganz anderes getan. Es war zumindest ein
sehr unkollegialer Vorgang, dass Sie in diesem Zusam-
menhang mich genannt haben. Gegen mich ist kein Er-
mittlungsverfahren angestrengt.
So etwas habe ich noch nicht erlebt. Da kann ich nur sa-
gen: Es ist ganz übel von Ihnen, eine solche persönliche
Attacke zu reiten!
Jetzt wünscht der Fraktionsvorsitzende der Linken
das Wort. – Herr Gysi, bitte.
Lieber Herr Kauder, ich habe Ihnen zugehört. Sie ha-
ben das Verhalten als unkollegial bezeichnet. Ich sehe
das umgekehrte Verhalten als unkollegial an; ich will das
auch begründen.
Sie haben in Bezug auf die Trennung von Legislative,
Exekutive und Judikatur völlig recht; da stimme ich Ih-
nen vollinhaltlich zu. Aber das Immunitätsrecht ist ja aus
einem bestimmten Grund in die Verfassung aufgenom-
men worden. Das Wichtige, wenn die Immunität nicht
aufgehoben werden würde, wäre ein Signal an die Ge-
sellschaft, dass wir damit Schluss machen wollen, auch
im Hinblick auf die anderen Bürgerinnen und Bürger.
Das ist kein Privileg, sondern ein wichtiges Signal.
Jetzt hat Herr Wadephul das Wort. – Herr Wadephul,
kommen Sie doch nach vorne.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die beiden Wortmeldungen aus den Reihen derLinksfraktion veranlassen mich, in dieser Debatte alsVorsitzender des zuständigen Ausschusses und mögli-cherweise auch namens der Mehrheit des Ausschussesganz kurz das Wort zu ergreifen.Wir können in einer innenpolitischen Debatte oder,Herr Kollege van Aken, auch in einer außenpolitischenDebatte gerne kontrovers über die Frage „Wie gehen wirmit den Kurden um?“ diskutieren.
Dieser Ausschuss wahrt aber das Immunitätsrecht, dasgrundgesetzlich gewährt wird für die Mitglieder diesesHohen Hauses. Ich glaube, es diskreditiert dieses Grund-recht und es diskreditiert die Arbeit dieses Ausschussesund damit auch die Arbeit des Hohen Hauses, wenn esauf diese Art und Weise von Ihnen politisiert wird, wiewir es gerade eben von Ihnen erlebt haben.
Das Immunitätsrecht des Bundestages, welches sichauf das Grundgesetz stützt – Herr Kollege Gysi, von Ju-rist zu Jurist –, gewährleistet nach einhelliger Kommen-tierung und nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts die Funktionsfähigkeit des Bundestages aus
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8649
Dr. Johann Wadephul
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bitterer historischer Erfahrung der Weimarer Zeit. Es sollaber gerade nicht – und das ist das, was Sie hier von unsverlangt haben – den Abgeordneten von der individuel-len Strafverfolgung befreien und somit gegenüber demnormalen Bürger, auf den Sie in diesem Hause häufiggroßen Wert legen, in irgendeiner Weise privilegieren.
Wir sind nicht besser gestellt als die Bürgerinnen undBürger dieses Landes, sondern wir sind vor dem Gesetzalle gleich.
Jetzt erhält die Kollegin Haßelmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Das
Immunitätsrecht eignet sich in keiner Weise für einen
politischen Schlagabtausch, um das einmal in aller Deut-
lichkeit zu sagen.
Ich finde es bedauerlich, dass heute zum wiederholten
Mal eine Immunitätsentscheidung dazu benutzt wird,
eine politische Auseinandersetzung und Debatte zu ei-
nem sehr politischen und sehr notwendig zu diskutieren-
den Thema auf diese Weise zu platzieren, Herr van
Aken.
Ich habe damit ein Problem, und zwar nicht in der Sa-
che, um das ganz deutlich zu sagen.
Wir haben am vergangenen Freitag über das politi-
sche Thema PKK-Verbot diskutiert. Man kann sehr wohl
über die Frage diskutieren, ob es richtig ist, dass das
PKK-Verbot bei uns gilt. Darüber kann man streiten.
Man kann das auch neu bewerten. Man kann das abwä-
gen und die Frage stellen: Wie nehmen wir die Organisa-
tion der PKK und ihre Tätigkeit im Inland wahr? Wie
nehmen wir das im Ausland wahr? Das haben wir letzten
Freitag in einer politischen Debatte getan.
Zum wiederholten Mal ist es aber so, dass Sie die
politische Auseinandersetzung mit einer immunitäts-
rechtlichen Entscheidung vermischen und das coram pu-
blico gerne diskutiert hätten. Ich halte das für falsch.
Trotzdem will ich an dieser Stelle noch einige Sätze
zum Abstimmungsverhalten meiner Fraktion sagen. Wir
werden uns heute der Stimme enthalten.
– Bleiben Sie ganz ruhig. Die Kollegen Ihrer Fraktion,
die Mitglied im Immunitätsausschuss sind, haben meine
Argumente dafür sehr deutlich gehört. Leider können
Sie sich kein ausführliches Bild darüber machen, weil
der Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages
aus guten Gründen nicht mit 631 Abgeordneten tagt,
sondern ein vertrauliches, nichtöffentlich tagendes Gre-
mium ist. Deshalb sage ich heute auch etwas dazu.
Ich kann die Argumentation des Ausschussvorsitzen-
den zum Immunitätsrecht nur unterstreichen, und ich
teile sie. Unsere Fraktion wird sich heute auch nicht des-
halb enthalten, weil wir die Frage eines politischen
PKK-Verbotes hier grundsätzlich diskutieren. Wir wer-
den auch nicht über das Strafmaß urteilen; denn ich bitte
Sie: Wo sind wir denn hier? Das steht uns im Deutschen
Bundestag, im Parlament, überhaupt nicht zu.
Der einzige Grund, der mich veranlasst hatte, mich im
Immunitätsausschuss anders als die Kollegen zu verhal-
ten, war, dass die Kollegin noch Verfahrensfragen hatte,
denen ich stattgegeben hätte. Das ist der einzige Grund.
Es geht hier also nicht um eine politische Bewertung des
PKK-Verbotes und deren Aktualität, und es geht auch
nicht um eine Bewertung der Bemessung des Strafma-
ßes.
Wir bringen durch unsere Enthaltung einzig und al-
lein das Argument „Ich habe noch Fragen zum Verfah-
ren“ zum Ausdruck – nicht mehr und nicht weniger.
Damit kommen wir jetzt zur Abstimmung über denAntrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Straf-verfahrens.Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/4181, die Genehmigung zurDurchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Be-schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge-gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltungder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt zweiWahlen nacheinander durchzuführen, für die Sie Ihrenblauen und Ihren gelben Wahlausweis benötigen. DieWahlausweise können Sie, soweit noch nicht geschehen,Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Bitteachten Sie darauf, dass die Wahlausweise auch Ihren Na-men tragen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremi-ums gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaus-haltsordnungDrucksache 18/4166Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksa-che 18/4166 den Abgeordneten Eckhardt Rehberg vor.Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren:
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8650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Laut Gesetz ist gewählt, wer die Stimmen der Mehr-heit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, dasheißt, wer mindestens 316 Stimmen erhält. Diese Wahlerfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis in der FarbeBlau. Die Stimmkarten werden im Plenarsaal verteilt.Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, dann bestehtjetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassisten-ten zu erhalten. Gültig sind nur Stimmkarten mit einemKreuz bei „ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültigsind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehrals ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.Das alles gilt im Übrigen auch später für die weitereWahl.Diese Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimm-karte also an Ihrem Platz ankreuzen. Das haben Siegrößtenteils schon getan. Bevor Sie die Stimmkarte ineine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte denSchriftführerinnen und Schriftführern an den WahlurnenIhren blauen Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahmean der Wahl kann nur durch die Abgabe des Wahlaus-weises erbracht werden.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen be-setzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Wahl.Gibt es ein Mitglied des Hauses, das seine Stimmenoch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dannschließe ich jetzt die Wahl. Ich möchte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer bitten, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später be-kannt gegeben.1)Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:Wahl eines Mitglieds des Sondergremiums ge-mäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmecha-nismusgesetzesDrucksache 18/4167Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Druck-sache 18/4167 den Abgeordneten Volkmar Klein vor.Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich erneut um IhreAufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfah-ren.Diese Wahl ist geheim, meine sehr geehrten Kollegin-nen und Kollegen. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehr-heit der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindes-tens 316 Stimmen, erforderlich.Sie benötigen jetzt Ihren gelben Wahlausweis sowieeinen Stimmzettel mit Wahlumschlag. Den gelbenStimmzettel mit Umschlag erhalten Sie an den Ausgabe-tischen neben den Wahlkabinen. Da die Wahl geheim ist,dürfen Sie Ihren Stimmzettel nur in einer der Wahlkabi-nen ankreuzen und müssen ihn dort in den Wahlum-schlag legen. Die Schriftführerinnen und Schriftführersind verpflichtet, jeden zurückzuweisen, der seinenStimmzettel außerhalb der Wahlkabine angekreuzt oderin den Umschlag gelegt hat. Die Wahl kann in diesemFall jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden.1) Ergebnis Seite 8658 DDie Regelungen zur Gültigkeit der Stimmzettel sindIhnen bekannt. Bevor Sie den Stimmzettel in eine deraufgestellten Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitteIhren gelben Wahlausweis einem der Schriftführer ander Wahlurne.Ich möchte jetzt die Schriftführerinnen und Schrift-führer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –Das ist, soweit ich sehe, der Fall. Damit eröffne ich auchdiese Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses – auch die Schrift-
führerinnen und Schriftführer – ihre Stimmzettel ab-
gegeben? Gibt es hier noch jemanden, der an der Wahl
teilnehmen möchte, dies auch kann, bisher seinen
Stimmzettel aber nicht abgegeben hat? – Ich sehe, das ist
nicht der Fall. Alle haben ihre Stimmzettel abgegeben.
Dann schließe ich hiermit die Wahl und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Beschäftigungssituation von Frauen
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Sabine Zimmermann von der
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Den Internationalen Frauentag am Sonntagwerden viele Frauen nicht feiern können. Sie werden inLäden stehen und hinter den Kassen sitzen; denn der8. März ist vielerorts ein verkaufsoffener Sonntag.
Von Feierlichkeit bleibt da wenig übrig – genauso wiebeim Blick auf den Arbeitsmarkt für Frauen. Auch wenndie Bundesregierung sich wieder für die Entwicklung amArbeitsmarkt bejubeln wird, gibt es für viele Frauen kei-nen Grund zur Freude.Ja, Sie haben recht: Immer mehr Frauen sind erwerbs-tätig und gut ausgebildet; und das ist gut so.
Sie arbeiten aber viel zu oft zu niedrigen Löhnen, in un-freiwilliger Teilzeit, befristet und in Minijobs. Ich sageIhnen: Es ist eine Frechheit, dass Frauen für die gleicheArbeit immer noch so viel weniger Geld bekommen alsdie Männer.2) Ergebnis Seite 8658 D
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8651
Sabine Zimmermann
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Ganze 22 Prozent werden ihnen vorenthalten. Das kanndoch wirklich nicht wahr sein!Der Skandal geht aber weiter: 31 Prozent der Frauenarbeiten für Niedriglöhne. Weshalb müssen Frauen häu-figer als Männer ihren Lohn ergänzend mit Hartz IV auf-stocken, obwohl sie die Minderheit der Beschäftigtenausmachen? Über 700 000 Frauen müssen sich zusätz-lich Geld vom Amt holen, weil sie von ihrem Lohn nichtleben können.Was hat das noch mit dem Gleichheitsgebot desGrundgesetzes zu tun, wenn Frauen trotz Arbeit so vielhäufiger von Armut bedroht sind? 9 Prozent waren es in2013. Das heißt, jede elfte Frau ist trotz Arbeit arm. Das,meine Damen und Herren, ist ein Armutszeugnis. Hierwird Altersarmut ganz bewusst von der Regierung vor-programmiert. Und das ist eine Sauerei!
Viele Frauen sind wegen zu niedriger Verdienste arm.Zusätzlich steigt die Armutsgefährdung stark mit der zu-nehmenden Teilzeitbeschäftigung.Hören Sie gut zu, meine Damen und Herren, das sinddie Fakten. Ich weiß, diese Fakten gefallen gerade Ihnenvon der CDU/CSU nicht, denn sie passen nicht in IhrBild von einer schönen Arbeitswelt: Zwischen 2001 und2014 ist die Zahl der vollzeitbeschäftigten Frauen um925 000 auf 7,5 Millionen zurückgegangen. Gleichzeitigstieg die Zahl der teilzeitbeschäftigten Frauen um2,5 Millionen auf 6,3 Millionen. Hinzu kommen noch3,4 Millionen Frauen, die ausschließlich einen Minijobhaben.Ich weiß, gerade die Kollegen von CDU und CSUwerden mir gleich erklären, dass die meisten Frauen frei-willig auf Vollzeit verzichten. Das ist blanker Unsinn.Wie soll denn eine alleinerziehende Mutter angesichtsschlechter Kinderbetreuungsmöglichkeiten regelmäßigin den Abendstunden oder am Wochenende in der Kran-ken- oder Altenpflege arbeiten? Wenn in frauentypi-schen Berufen mit einem hohen Anteil an Teilzeit-beschäftigung wie zum Beispiel im Einzelhandel, in derGastronomie oder aber auch in der Pflege kaum Chancenauf eine Vollzeitbeschäftigung bestehen, wird angesichtsder Realitäten der Wunsch nicht mehr ausgesprochen.Für viel zu viele Frauen ist es ein täglicher Kampf,mit ihrem Lohn über die Runden zu kommen. KeineBundesregierung hat bislang wirklich etwas dafür getan,dass Frauen bessere Chancen auf existenzsichernde Be-schäftigung bekommen. Die Linke sagt: Das ist beschä-mend.
Die Probleme werden von Ihnen kleingeredet und re-lativiert. Es wird beschwichtigt, und als Krönung wirdauch noch behauptet, die Frauen seien selbst schuld, weilsie sich bei der Berufswahl für einen typischen Frauen-beruf entschieden haben. Dieser Schwachsinn muss end-lich ein Ende haben.
Meine Damen hier in diesem Hause, es ist an der Zeit,dass wir fraktionsübergreifend gegen die Diskriminie-rung von Frauen in der Arbeitswelt vorgehen. Wir brau-chen endlich eine verbindliche Entgeltgleichheit in denUnternehmen.Frau Ministerin Schwesig, die heute leider nicht an-wesend sein kann, kann ich nur sagen: Nehmen Sie alleArbeitgeber in die Pflicht. Appelle und bloße Informa-tionspflichten reichen nicht aus. Gesetzliche Verpflich-tungen müssen her.
Wir brauchen bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten.Minijobs müssen in sozialversicherungspflichtige Be-schäftigung überführt werden. 45 Jahre Minijob ergebeneinen Rentenanspruch von höchstens 198 Euro. Daskann doch nicht wirklich ihr Ernst sein.
Wundert es wirklich irgendjemanden in diesem Hause,dass die Renten von Frauen fast 60 Prozent unter denender Männer liegen?Zum Schluss will ich der Großen Koalition sagen:Die Zeit der Versprechungen und der Ausflüchte ist vor-bei. Mir hat gestern eine Kollegin aus Zwickau gesagt:Es muss etwas passieren, es reicht uns jetzt.Danke.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin
Dr. Astrid Freudenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Wir brauchen gar nichtdrum herumzureden: Wenn Frauen für genau die gleicheArbeit, für eine gleichwertige Arbeit weniger Geld be-kommen als Männer, dann ist das ungerecht, und wennFrauen in unserem Land überproportional häufig vonArmut und Altersarmut betroffen sind, kann uns dasnicht in Ruhe lassen.Frauen verdienen im Schnitt 22 Prozent weniger alsMänner. Dieses sogenannte Gender Pay Gap lässt sichallerdings aufteilen: 15 Prozent Unterschied lassen sicherklären – ich werde Ihnen das tatsächlich wieder erklä-ren –, 7 Prozent lassen sich aber tatsächlich durch nichtsso recht erklären. Diese 7 Prozent sind die eigentlicheUngerechtigkeit. Das ist Diskriminierung von Frauen,die schlicht und ergreifend schon jetzt verboten ist.
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8652 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Astrid Freudenstein
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Ich will jetzt aber auch über diese 15 Prozent spre-chen, die Sie vielleicht als Skandal betrachten, ich abernicht. Punkt eins: Frauen kriegen Kinder. Punkt zwei:Frauen wählen nach wie vor Berufe, die nicht besondersgut bezahlt sind,
und sie erreichen seltener gut bezahlte Führungspositio-nen. Punkt drei: Viele Frauen arbeiten Teilzeit, und eswerden immer mehr.
Zu allen drei Punkten will ich etwas sagen.Erstens: zur Teilzeit. Wenn wir uns die Zahlen desStatistischen Bundesamtes anschauen, stellen wir fest:Inzwischen sind drei von vier Frauen erwerbstätig. Dasist so viel wie nie zuvor. Das ist eine ausgesprochen guteNachricht.
In Bayern ist im Übrigen die Erwerbsquote vonFrauen in Westdeutschland am höchsten und mit amhöchsten in Deutschland. Die Zahl der vollzeitbeschäf-tigten Frauen geht aber gleichzeitig zurück. Von denFrauen, die erwerbstätig sind, arbeitet inzwischen nichteinmal mehr jede zweite Vollzeit. Trotzdem sind es inder Gesamtheit so viele wie nie zuvor.Warum, meinen Sie, ist das so? Es gibt Frauen, dieeinfach keine Vollzeitstelle bekommen, obwohl sie einewollen. Dies ist gerade im Osten der Fall. Dies sind al-lerdings nur 14 Prozent. Die allermeisten erwerbstätigenFrauen arbeiten Teilzeit, weil sie Teilzeit arbeiten wol-len. Warum wollen sie Teilzeit arbeiten?Das führt mich zum zweiten Punkt: Frauen bekom-men Kinder. Es gibt viele Frauen, die sich allein um dieKinder kümmern müssen. Es gibt aber auch sehr vieleFrauen, die sich ausgesprochen gerne um ihre Kinderkümmern.
Sie wollen Zeit mit ihren Kindern verbringen. Sie wollendaheim sein, wenn das Kind aus der Schule kommt.
Sie wollen daheim sein, wenn die ersten Zähne wachsen.Sie wollen daheim sein, wenn die Zähne wieder heraus-fallen.
Ich kann das gut verstehen. Manche wollen auch dannnoch daheim sein, wenn das Kind den ersten Liebeskum-mer hat. Ich kann das verstehen. Für all das braucht manZeit. Diese Zeit nehmen sich Frauen. Sie wollen sehrhäufig eine Teilzeitstelle. Sie nehmen sie, wenn sie An-spruch darauf haben oder wenn sie es sich leisten kön-nen.Drittens. Frauen sind viel häufiger als Männer inBranchen beschäftigt, in denen schlecht bezahlt wird.Sie erreichen dort auch seltener gut bezahlte Führungs-positionen. An der Berufswahl von Frauen können wirnur in sehr begrenztem Maße etwas ändern. Wir könnenaufklären und Frauen und Mädchen auf Berufe hinwei-sen, die bisher als typisch männlich erachtet wurden.Aber Fakt ist auch: Frauen gehen trotz all unserer Ap-pelle und aller Aufklärung lieber ins Büro als in die Au-tofabrik, auch wenn sie wissen, dass in der Metall- undElektroindustrie ganz ordentlich bezahlt werden würde.Frauen studieren trotz unserer Appelle lieber Medien-wissenschaften als Maschinenbau, obwohl sie wissen,dass sie als Pressesprecherin oder Journalistin nicht reichwerden.Ich halte es auch nicht für eine weibliche Schwäche,wenn Frauen bei der Berufswahl nicht in erster Linie andas Geld denken.
Tatsache ist auch, dass wenige Frauen in Führungsposi-tionen sind. Aber eine Führungsposition verlangt ebenauch vollen Einsatz: am Abend und auch am Wochen-ende. Es werden Umzüge und Dienstreisen verlangt.
Damit wären wir wieder beim Punkt Familie angekom-men. Viele Frauen wollen das nicht. Sie wollen sichnicht ganz für den Beruf opfern. Sie fühlen sich dann amglücklichsten, wenn sie Familie und Beruf unter einenHut bringen können.
Deshalb sollten wir uns in dieser Debatte zu Rechtfragen, was wir mit dem Appell „Mehr Frauen in mehrArbeit“ meinen. Wollen wir damit den Fachkräftemangelbekämpfen? Das wäre legitim. Wollen wir unsere Sozial-systeme stabilisieren? Das fände ich auch legitim. Odermeinen Sie vielleicht tatsächlich, dass Frauen nur durchErwerbsarbeit emanzipiert sein können? Dem würde ichwidersprechen.
Wenn sich Frauen für einen Beruf entscheiden, wennsie Kinder bekommen, wenn sie beruflich kürzertreten,dann tun sie das in aller Regel, ohne sich um Fachkräfte-mangel, Stabilisierung von Sozialsystemen und emanzi-patorische Ideologien zu kümmern. Ich finde das auch inOrdnung. Sie tun es aus freiem Willen. Wir müssenrespektieren, dass Frauen heute ihr Leben so leben, wiesie es leben wollen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8653
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Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Ulle Schauws.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Sonntag istder Internationale Frauentag. Es ist ein Anlass, einenBlick darauf zu werfen, was sich in Sachen Gleichstel-lung getan hat und was sich hoffentlich noch verbessernwird.Frau Kollegin, zu den „emanzipatorischen Ideolo-gien“: Hier muss sich zwingend noch einiges verbessern,vor allen Dingen auf der rechten Seite des Hauses.
Dass sich Frauen und Männer gerne um Kinder küm-mern, steht außer Frage. Aber darum geht es hier nicht.Es zeigt, dass Sie diese Debatte immer noch nicht ver-standen haben.
Auf dem Arbeitsmarkt sieht es ja tatsächlich erst ein-mal nicht schlecht aus: 18 Millionen Frauen sind er-werbstätig; ihr Erwerbsanteil ist nach den Zahlen desDIW auf 46 Prozent, auf einen neuen Höchststand, ge-klettert. Aber heißt das tatsächlich, dass die wirtschaftli-che Unabhängigkeit der Frauen, die Möglichkeit zur ei-genständigen Existenzsicherung, gestiegen ist? Nein, dasheißt es eben nicht; da trügt der Schein. Zwar stimmt,dass die Zahl der Frauen, die in Teilzeit arbeiten, eben-falls gestiegen ist, von 2,5 Millionen im Jahr 2001 auf6,3 Millionen im Jahr 2014; das ist eindeutig zu begrü-ßen. Aber es ist alarmierend – darum geht es hier –, dasstrotz der höheren Zahl der beschäftigten Frauen der An-teil des von ihnen geleisteten Arbeitsvolumens seit 1991nur um gut 4 Prozentpunkte gestiegen ist. Das heißt,dass zwar mehr Frauen arbeiten, aber weniger Stunden.Hieran, meine Damen und Herren, zeigt sich eines ganzklar: Es besteht weiterhin eine Unwucht im System, undzwar zuungunsten von Frauen.
Frauen arbeiten Teilzeit, aber nicht immer weil siesich das so ausgesucht haben, sondern weil sie sonst Fa-milie und Beruf nicht vereinbaren können. Sie sind im-mer noch diejenigen, die das Mehr an Familienarbeitleisten. Sie bezahlen dafür mit beruflichen und finanziel-len Nachteilen bis hin zur Altersarmut. Auf der anderenSeite wollen inzwischen eben auch Männer beruflichkürzertreten und sich um die Familie kümmern; aber esgibt für die Männer kaum Möglichkeiten, das zu tun.Das Modell einer partnerschaftlichen Aufteilung lebenin der Tat nur sehr wenige Paare.Wir Grüne wünschen uns eine Gesellschaft, in der wirallen Eltern ermöglichen, sich um ihre Kinder zu küm-mern und gleichzeitig ihrem Beruf nachzugehen, ohneexistenzielle Nachteile – also echte Wahlfreiheit undSelbstbestimmung.
Hier würde Frauen genauso wie Männern ein Recht aufRückkehr in Vollzeit entscheidend helfen.
Dann müssten die Männer nicht mehr befürchten, in derTeilzeitfalle hängen zu bleiben, die Frauen ebenso we-nig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Teilzeit hat ebenauch Nebenwirkungen. Kurzfristig ermöglicht sie viel-leicht eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie;langfristig allerdings können wir sehen, dass damit dieLohnschere auseinandergeht. Denn Teilzeit heißt: lang-fristig schlechtere Bezahlung, fast keine Aufstiegschan-cen und wenig Rente. Die Statistiken zeigen auch: Teil-zeit wird schnell zur Sackgasse für Frauen, insbesonderebei den üblichen Modellen wie halben Stellen oder Mini-jobs. Eigenständige Existenzsicherung ist für Frauen sojedenfalls nicht möglich, insbesondere nicht für alleiner-ziehende. Deshalb sage ich: Es braucht mehr vollzeit-nahe Teilzeit, orientiert an plus/minus 30 Stunden. Daswäre für Frauen und Männer attraktiv und eine echte Op-tion.
Zum Problem der Teilzeit kommt noch eines hinzu –die Kollegin hat es gerade schon genannt –, nämlich dasProblem der schlechteren Bezahlung. Das Gender PayGap von 22 Prozent ist für Frauen in Deutschland immernoch Realität, und das ist und bleibt schlicht ein Skan-dal.
Der Unterschied ist insbesondere deshalb so groß,weil die sogenannten Frauenberufe besonders schlechtbezahlt werden. Wer jetzt argumentiert, dass Frauen inden falschen Branchen wie dem Gesundheits- oder demSozialwesen arbeiten, dem sage ich: Gerade die Be-schäftigung in diesen Branchen ist wichtig. Sie sollte an-gemessener bezahlt werden,
und das nicht zuletzt, damit die sogenannten Frauenbe-rufe für Männer attraktiver werden. Dann brauchen wirauch nicht über eine Männerquote zu reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das DIW rechnet inZukunft mit einer steigenden Erwerbsbeteiligung von
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8654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Ulle Schauws
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Frauen; das ist gut. Es ist auch gut, das als Frauenpoliti-kerin zu hören. Aber wir müssen dafür sorgen, dassFrauen von ihrer Arbeit leben können, eine ausreichendeRente im Alter erhalten. Von der Bundesregierung er-warte ich deswegen Vorschläge für andere Arbeitszeit-modelle –
flexibler, familienfreundlicher und vollzeitnah. Küm-mern Sie sich endlich um den Abbau der Erwerbshinder-nisse wie des Ehegattensplittings! Kümmern Sie sich umeinen ambitionierten Ausbau der Kinderbetreuung undeine stärkere Unterstützung der Alleinerziehenden! Wirerwarten von Ihnen Lösungen und kein elendes Gezerreum eine Kindergelderhöhung um 6 oder 10 Euro.
Uns Grünen kommt es auf die Rahmenbedingungen an,darauf, dass Wahlfreiheit und Selbstbestimmung hin-sichtlich der Lebens- und Arbeitsform für alle, fürFrauen wie Männer, eine Selbstverständlichkeit werden.Vielen Dank.
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Elke Ferner.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! DieArbeitsmarktzahlen sind der beste Indikator dafür, wiees um die Gleichstellung von Frauen und Männern in un-serer Gesellschaft bestellt ist. Die Zahlen sind, ehrlichgesagt, ernüchternd. Ich finde nicht – das möchte ichausdrücklich sagen –, dass das irgendwie alleine Sacheder Frauen ist, weil sie so viel Teilzeit arbeiten wollen;denn die Situation hat strukturelle Ursachen, und andiese Ursachen müssen wir ran.
Mittlerweile liegt der Teilzeitanteil bei den erwerbstä-tigen Frauen bei über 50 Prozent, das heißt, mehr als dieHälfte aller erwerbstätigen Frauen hat meist kein eigen-ständiges, existenzsicherndes Einkommen. Häufig sindsie auf das Zusatzeinkommen des Partners angewiesen.Das hat zur Folge, dass Lohnersatzleistungen in der Re-gel nicht existenzsichernd sind, und das hat vor allenDingen zur Folge, dass im Alter die eigene Rente nichtzum Leben ausreicht. Das darf man nicht einfach sohinnehmen. Wir müssen diese Spaltung auf dem Arbeits-markt überwinden. Wir müssen den Wunsch der Be-schäftigten und die Wirklichkeit zusammenführen.
Es ist mitnichten so, Frau Kollegin Freudenstein, dassFrauen, die in Teilzeit arbeiten, genau die Arbeitszeit ha-ben, die sie wollen. Aus den Zeitstudien und aus anderenUntersuchungen wissen wir, dass die teilzeitbeschäftig-ten Frauen ihre Arbeitszeit eigentlich Richtung vollzeit-nahe Erwerbstätigkeit aufstocken wollen, also 30 Stun-den plus ein bisschen und nicht 20 Stunden und einbisschen weniger.Wir wissen, dass auch die jungen Väter ihre Arbeits-zeit reduzieren wollen. 60 Prozent der jungen Paaremöchten gerne partnerschaftlich für die Familie, für Kin-der und für pflegebedürftige Angehörige, da sein.Gleichzeitig möchten sie nicht darauf verzichten, ihremJob nachzugehen und Karriere zu machen. Aber dieserWunsch geht mit der Wirklichkeit nicht zusammen. Des-halb ist es ein bisschen billig, zu sagen: Die Frauen wol-len das. Ich sage: Nein, die meisten Frauen wollen daseben nicht!
Wir brauchen Verbesserungen in diesem Bereich.Deshalb haben wir bereits in dieser Wahlperiode Verbes-serungen eingeleitet. Mit dem Elterngeld Plus haben wirdas Elterngeld um Partnerschaftlichkeitskomponentenerweitert. Wir haben bei der Familienpflegezeit und beider Pflegezeit deutliche Verbesserungen für die Verein-barkeit von Familie und Pflege getroffen.Was jetzt noch fehlt, das sind weitere Schritte hin zueiner echten Familienarbeitszeit.
Als Manuela Schwesig diesen Vorschlag letztes Jahr indie Debatte eingebracht hat, ist er in Teilen belächeltworden, aber mittlerweile sind Arbeitgeberverbände,Gewerkschaften usw. an ihrer Seite. Wir als SPD-Frak-tion werden weiter für eine Familienarbeitszeit kämpfen,die es Männern wie Frauen ermöglicht, ihre Arbeitszeitaufgrund familiärer Verpflichtungen zu reduzieren undgleichzeitig ihrem Job nachgehen zu können und keineKarriereeinbußen und keine finanziellen Einbußen hin-nehmen zu müssen, nur weil man – oder besser gesagt:„frau“ – Teilzeit arbeitet.
Damit bin ich beim zweiten Thema, nämlich beimThema „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertigeArbeit“. Nein, es ist nicht so, dass die Frauen einfach nurdie falschen Berufe wählen. Wenn es so viele Frauengibt, die als Journalistinnen arbeiten: Warum gibt esdann so wenig Chefredakteurinnen bei den Rundfunkan-stalten, bei den Zeitungen, bei den Wochenzeitungen?Warum werden Journalistinnen schlechter bezahlt alsJournalisten?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8655
Elke Ferner
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Warum wird das Heben von Steinen eigentlich besserbewertet als das Heben von Menschen in Pflegeeinrich-tungen?
Warum wird derjenige, der unsere Waschmaschine repa-riert, besser bezahlt als diejenige, die unsere Kinder er-zieht?
Das sind die Diskussionen, die wir führen müssen, wennes um das Thema „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-wertige Arbeit“ geht.Ich will ausdrücklich widersprechen – auch wenn dasStatistische Bundesamt der Auffassung ist, dass aus dembereinigten Gender Pay Gap bestimmte Komponentenherausgerechnet werden müssen –: Es ist für meine Be-griffe nicht statthaft, dass Teilzeitbeschäftigung heraus-gerechnet wird.
Wir wissen, dass Teilzeitbeschäftigte bei gleicher Arbeitschlechter bezahlt werden. Das ist schon heute nach demTeilzeit- und Befristungsgesetz nicht erlaubt, aber espassiert trotzdem.Eben bei der Debatte über das Thema Mindestlohnhaben wir gehört, dass von Arbeitgebern teilweise ver-sucht wird, bestehende Regelungen, die sie jahrelangnicht eingehalten haben, auch in Zukunft nicht einhaltenzu müssen. Es darf nicht alleine auf den Schultern dereinzelnen Beschäftigten lasten, dafür zu sorgen, dass eroder sie zu seinem oder ihrem Recht kommt. Dafür brau-chen wir ein Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit, und daswerden wir in dieser Wahlperiode auch angehen – dassteht im Koalitionsvertrag –; denn es geht darum, dassgleiche Arbeit bzw. gleichwertige Arbeit auch gleich be-zahlt wird, dass es mehr Lohngerechtigkeit gibt. Ichwürde mir wünschen, dass wir hier es alle noch erlebenwerden, dass der Equal Pay Day auf den 1. Januar fällt;dann nämlich werden Frauen und Männer für die gleicheArbeit auch das gleiche Geld bekommen.Schönen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Ursula
Groden-Kranich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Eben habe ich mich kurz ge-fragt, ob die Überschrift eine andere ist als „AktuelleStunde zur Beschäftigungssituation von Frauen“. Ichdenke, dem Thema Equal Pay werden wir uns in allerAusführlichkeit noch in den nächsten Wochen nähern.
Der Hintergrund dieser Aktuellen Stunde und zahlrei-cher Gesetze und Initiativen der letzten Jahre ist derWunsch, mehr Frauen in Beschäftigungsverhältnisse zubringen, und zwar möglichst in qualitativ hochwertigeBeschäftigung, keine Minijobs, und möglichst oft inVollzeitbeschäftigung. Die Zahlen des Statistischen Bun-desamtes zeigen, dass die Entwicklung genau in dieseRichtung voranschreitet. Ich selbst kann diese Anstren-gungen nur begrüßen und unterstütze sie in mehrfacherHinsicht: als Frau, die seit mehr als 30 Jahren berufstätigist und immer großen Wert darauf gelegt hat, finanziellauf eigenen Beinen stehen zu können; als Mutter einerTochter, die später ihren Wunschberuf erlernen und auchausüben können soll; als CDU-Politikerin, die immerauch die Wirtschaft im Blick hat und das nicht nur unterdem Stichwort Fachkräftemangel; und als Berichterstat-terin meiner AG für das Thema Entgeltgleichheit. Wirmüssen über die Zahlen heute nicht noch einmal disku-tieren; ich glaube, Frau Dr. Freudenstein hat sehr klarzum Ausdruck gebracht, wie dieser Gap entsteht und wieer sich differenziert.Wenn mehr Frauen in größerem Umfang und vor al-lem zu höheren Gehältern arbeiten, ist das ein Gewinnfür alle. „Arbeiten für gleichen Lohn“ ist nicht mehr al-lein die Diskussion – für Frauen, die ihre Familien er-nähren möchten, die in der Wirtschaft klar ihre Positionzum Ausdruck bringen wollen, aber sehr wohl. Wenn siefair bezahlt werden, ist das ein Gewinn für die Gesell-schaft insgesamt. Um diese positive Entwicklung weitervoranzutreiben, müssen aber, neben anderen, zwei wich-tige Voraussetzungen erfüllt sein:Erstens müssen wir alle noch stärker daran arbeiten,dass alle jungen Frauen einen Schulabschluss machenund eine Ausbildung oder ein Studium beenden, damitihnen überhaupt die Wege in die Berufswelt und die fi-nanzielle Eigenständigkeit offenstehen.
Zweitens muss jungen Frauen klar sein, und zwar be-vor sie Familien- und Erziehungsauszeiten planen, wasdiese Auszeiten für sie finanziell und karrieretechnischbedeuten – nicht nur während der Elternzeit, sonderninsbesondere danach –, damit sie eben nicht in die Fallevon Altersarmut tappen. Die finanziellen Nachteile ausbewusst geplanten Familienauszeiten verschärfen sichim schlechtesten Fall noch, wenn das dem eigenenWunsch entsprechende Familienmodell scheitert; auchdarauf muss man hinweisen. Die Wichtigkeit einer ei-genständigen finanziellen Absicherung durch Erwerbstä-tigkeit kann also nicht oft und nicht nachdrücklich genugbetont werden. Überall, von Kindesbeinen an, in der Fa-milie und in der Schule, müssen wir unsere Töchter aufdiesem Weg fördern und ermutigen.
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Ursula Groden-Kranich
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Wenn sich – wenn alle diese Voraussetzungen erfülltsind – dennoch Frauen freiwillig für eine Teilzeitbe-schäftigung oder längere Berufspausen entscheiden,müssen wir dies als Politiker und als Gesellschaft akzep-tieren. Ich selbst akzeptiere das gerne. Die Wahlfreiheitder Einzelnen muss auch beim Berufs- und Familienle-ben weiterhin gewährleistet sein. Ich selbst bin nicht nurvollzeitberufstätige Mutter, sondern auch Arbeitgeberinvon zwei Müttern: Beide Frauen arbeiten in Teilzeit.Beide haben einen Hochschulabschluss, hatten schonvor der Mutterschaft Berufserfahrung und wollten auchdanach unbedingt am Ball bleiben. Beide wollen diesaber im Moment nicht in Vollzeit tun – obwohl ich sieimmer wieder dazu ermutige –, in ein paar Jahren wahr-scheinlich schon. Ich finde es grundfalsch und, ehrlichgesagt, auch anmaßend, diesen und vielen anderenFrauen pauschal ein Leben in der Teilzeitfalle zu unter-stellen.
Auch Teilzeitmodelle wurden von Frauen erkämpftund juristisch durchgefochten.
Ich verweise nur auf die Lex Peschel. Selbstverständlichmüssen wir auch weiterhin alles dafür tun, um Frauenden Weg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungzu ebnen und den Wiedereinstieg nach den Pausen zu er-leichtern. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familiebleibt hier Dreh- und Angelpunkt der Diskussion.Die Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen kannauf Dauer aber nur dann gelingen, wenn die Familien-arbeitszeit in den Familien anders verteilt wird. Dies istnicht nur Sache von Frauen, sondern eine Aufgabe, dienur gemeinsam von Frauen und Männern bewältigt wer-den kann.Danke schön.
Vielen Dank. – Die Kollegin Cornelia Möhring
spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vorab, Frau Groden-Kranich: Auf die Idee, dass die Be-zahlung nichts mit der Beschäftigungssituation vonFrauen zu tun hat, kann man doch eigentlich nur dannkommen, wenn man denkt, dass Frauen nur für Luft undLiebe arbeiten wollen. Diese Verbindung ist, wie ichfinde, eindeutig.Das Thema, das wir heute in der Aktuellen Stunde be-handeln, ist so aktuell, wie es leider auch ein Dauerbren-ner ist. Schon die ersten Forderungen zum Frauentag zuBeginn des 20. Jahrhunderts waren in diese Richtungformuliert.Wir haben gehört: Der Anteil von Frauen mit Vollzeit-erwerbstätigkeit ist gesunken, der mit Teilzeitarbeit istgestiegen. Diese Frauen hängen – das ist das Problem –in der Teilzeitfalle fest, und damit steigt auch erheblichderen Armutsrisiko. Aber das bedeutet nicht, dassFrauen weniger arbeiten. Frauen stemmen eben einenGroßteil genau jener Tätigkeiten, die unsere Gesellschafterhalten. Das Problem ist: Sie werden dafür entwedernicht oder nur schlecht entlohnt, nicht mit Geld, aberauch nicht mit Zeit für sich selbst. Die Folge ist eineDoppel- und Dreifachbelastung. Das bedeutet dannschlicht: Überforderung, Krankheit und Armut. Eigent-lich ist es an der Zeit für einen Aufschrei. Aber ich be-fürchte, dass selbst dafür die Mehrheit genau dieserFrauen viel zu kaputt ist und ihr dafür die Zeit fehlt.Der Teilzeittrend von Frauen ist nicht unbedingt frei-willig und wird in der Regel auch nicht aus Liebe ge-wählt. 2 Millionen Frauen geben an, wegen der Kinder-betreuung in Teilzeit zu gehen, weitere 2 Millionenwegen sonstiger familiärer Verpflichtungen. Die Arbeitim Haushalt, die Pflege von Familienangehörigen, dieErziehung von Kindern wird noch immer hauptsächlichvon Frauen übernommen. Bei Männern haben diesenAntrieb übrigens nur schlappe 4 Prozent. Bei Männernist der meistgenannte Grund, um in Teilzeit zu gehen, dieTeilnahme an Aus- und Weiterbildungen. Tja, ich frageSie: Wer macht denn den Haushalt, wenn sich die Män-ner fortbilden? Wer kümmert sich um die Kinder, wennsie dann Karriere machen? Und wer ist angeschmiert,wenn die Beziehung zerbricht? Das, liebe Kolleginnenund Kollegen, ist eben keine Frage, die nur in Beziehun-gen auszuhandeln wäre; hier geht es um eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe, und sie gehört viel stärker inden Blick dieses Parlaments und viel stärker in den Blickder Bundesregierung.
Außerdem ändern sich die Lebensmodelle, auch wenndas einige von Ihnen nicht wahrhaben wollen. Es gibtimmer mehr Frauen, die lieber alleinerziehend leben undkein Interesse an einer Ehe oder an einer Vater-Mutter-Kind-Beziehung haben. Sie wollen etwas anderes, als esdas konservative Familienmodell der Regierung hergibt.
Viele der Frauen in Teilzeit sind alleinerziehend.Wenn diese dann auch noch auf Hartz IV angewiesensind, wird der Teufelskreis verstärkt. Risikomerkmalefür Armut rechnen sich hoch. Frauen sind davon beson-ders betroffen und – was noch viel schlimmer ist – im-mer stärker betroffen. Bei Männern stieg die Armuts-quote seit 2006 um 8 Prozent, bei Frauen um satte 12,5Prozent. Immer weniger Frauen davon sind erwerbslos,aber immer mehr sind im Niedriglohnsektor und in pre-kären Beschäftigungsverhältnissen beschäftigt, sind alsoarm trotz Arbeit. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist beschämend.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8657
Cornelia Möhring
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Alleinerziehende, ob in Teilzeit oder Vollzeit, arbeitennicht gesund, sondern sie arbeiten sich krank. Und damitsind wir wieder am Anfang: Stress, Überforderung, Ar-mut. Kurzum: Frauen geraten in die Abwärtsspirale,nein, Frauen werden in die Abwärtsspirale gedrängt.Doch was macht die Bundesregierung angesichts dieserbestürzenden Fakten? Ich finde, viel zu wenig oder auchdas Falsche.Ein Mindestlohn mit Löchern, ein Festhalten an Mini-jobs, die Armut gleich mitliefern und in biografischeSackgassen führen, die unsägliche Bedarfsgemeinschaftbei Hartz IV und unwürdige Sanktionen erschweren denFrauen und Kindern täglich das Leben. Für Alleinerzie-hende gibt es nur unzureichende Kinderbetreuungsmög-lichkeiten und keine ausreichende Steuerentlastung.Stattdessen möchte Minister Schäuble jetzt das Kinder-geld um lachhafte 6 Euro erhöhen. Ich finde, das kannman schon als echte Provokation bezeichnen, erst rechtdeshalb, weil diese Erhöhung bei denen, die sie eigent-lich bräuchten, gar nicht ankommt.
Die Schwerpunktsetzung geht doch in eine klareRichtung: Da wird mehr Geld für neue Panzer bereitge-stellt, anstatt Investitionen in Beschäftigung und Familiezu stärken. Diese Koalition ist nicht in der Lage, einePolitik für Frauen im Interesse der Allgemeinheit zu ma-chen. Liebe SPD, vielleicht merken Sie irgendwannwirklich, auf was Sie sich da eingelassen haben. Gegendieses konservative Frauen- und Familienbild der CDU/CSU ist doch wirklich kein Kraut gewachsen.
Wenn wir in einem Jahr rund um den InternationalenFrauentag wieder über die Situation von Frauen reden,dann glaube ich zwar nicht, dass mehr als warme Wortevon der Bundesregierung kommen – dafür sind Sie sichviel zu uneinig –, aber ich kann Ihnen versichern: DieLinke wird diese Themen immer wieder auf die Tages-ordnung setzen, damit wir irgendwann den Frauentagauch wirklich einmal feiern können.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese,
SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann, fürdie Initiative der Linksfraktion, dieses wichtige Themapassend zum Internationalen Frauentag am Sonntag aufdie Tagesordnung zu setzen. Erwerbsarbeit von Frauenist ein zentrales Thema für die Gleichberechtigung; dennsie bedeutet ja immer auch Selbstständigkeit und eine ei-genständige Alterssicherung. Sie haben eine Kleine An-frage gestellt und eine Antwort mit vielen Zahlen be-kommen. Wenn wir die Beschäftigungssituation vonFrauen betrachten, sehen wir viel Licht, aber wir sehenauch einige Schatten. Wir sehen erfreuliche Entwicklun-gen wie die Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauenallgemein. Wir sehen aber auch – das muss man deutlichsagen – einen wirklich deprimierenden Stillstand beimGender Pay Gap. Seit 2006 hat sich nichts geändert. DerLohnunterschied liegt immer noch bei 22 Prozent, undwir sehen – das wird hier sicherlich unterschiedlich be-wertet – eine starke Zunahme der Teilzeitbeschäftigungbei Frauen, die uns natürlich wegen ihrer Wirkung aufdie sozialen Sicherungssysteme nicht zufrieden machenkann.Die wichtigsten Zahlen aus der Antwort auf Ihre An-frage sind sicherlich diese: Aktuell sind 46 Prozent allerBeschäftigten in Deutschland Frauen. Sie profitierenvom allgemeinen Beschäftigungszuwachs überdurch-schnittlich. Ihr Anteil an der Zahl der Beschäftigten hatsich seit dem Jahr 2000 um fast 14 Prozent erhöht; dasist die gute Nachricht. Frauen sind also vor allem inWestdeutschland deutlich häufiger als noch vor 15 oder20 Jahren erwerbstätig, aber – jetzt kommt das Aber –sie arbeiten in großer Zahl in Teilzeitarbeitsverhältnis-sen. Das ist dann auch immer eine Teilzeitfalle. Ich willsagen, warum; denn dazu gehören immer die üblichenNachteile, die diese Beschäftigungsform mit sich bringt:weniger Gehalt, weniger Aufstiegschancen, seltenerhochqualifizierte Arbeit. Eine aktuelle Studie des DIWhat festgestellt, dass 2014 doppelt so viele Frauen wie1991 in Teilzeit gearbeitet haben, nämlich 11 Millionen.Natürlich beinhaltet Teilzeitarbeit ein weites Spek-trum von Beschäftigung. Da gibt es die Lehrerin, die 18statt 24 Stunden unterrichtet, aber auch die Minijobbe-rin, die im Supermarkt Regale einräumt. Deshalb müs-sen wir differenziert betrachten, was Teilzeit heißt. Fürmanche Frauen ist die freiwillige Reduzierung ihrer Ar-beitszeit ein Zugewinn an Lebensqualität, für andere istsie aber ein schlecht bezahlter, prekärer Teilzeitjob undoft das Einzige, was sie bekommen konnten. Deshalbmeine ich: Für viele Frauen – auch für Männer; auf diekomme ich noch – ist Teilzeitarbeit sicherlich in der Fa-milienphase wichtig, um Kinderbetreuung und Arbeitunter einen Hut zu bringen. Aber wir erleben auch im-mer wieder, dass sich für Frauen nach Jahren der famili-enbedingten Teilzeitarbeit zeigt, dass der Wunsch aufRückkehr in Vollzeit vom Arbeitgeber nicht erfüllt wirdund sie dann eben in dieser Teilzeitfalle stecken. Des-halb wollen wir da etwas tun. Wir haben im Koalitions-vertrag vereinbart, das Rückkehrrecht von zeitlich be-fristeter Teilzeit zur früheren Arbeitszeit, zur Vollzeit,umzusetzen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um ausdieser Teilzeitfalle herauszukommen.
Das wird für viele Frauen eine deutliche Verbesse-rung sein; denn es bedeutet, dass sie Sicherheit und Fle-xibilität genau da haben, wo sie nötig sind. Keine Frau
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8658 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Kerstin Griese
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muss dann mehr dauerhaft und gegen ihren Wunsch inTeilzeit bleiben, wenn sie wieder voll arbeiten will, undkeine Frau muss aus Angst, nicht wieder voll arbeiten zukönnen, auf Teilzeitarbeit verzichten und sich so großenStress machen.
Nicht zuletzt bedeutet dieses Rückkehrrecht von Teilzeitauf Vollzeit auch einen echten Schutz vor Altersarmut.Denn ein Erwerbsleben in Teilzeit führt zu einer geringe-ren Rente. Das wollen wir verhindern.
Nicht nur aktuelle Studien, sondern, ich denke, auchunser aller Lebenserfahrung zeigen, dass junge Men-schen eine andere Work-Life-Balance, wie es immer soschön heißt, anstreben, also dass Frauen und Männergleichermaßen Beruf und Familie vereinbaren wollen.Darum geht es. Wir als Politik müssen diese Wünscheernst nehmen. Mit der Idee zu einer neuen Familienar-beitszeit, in der Männer und Frauen zwischen verschie-denen Arbeitszeitmodellen wählen können, können wirden Wünschen von jungen Frauen und Männern entge-genkommen. Die Wahl zwischen 25, 30, 32 oder 40Stunden ist sehr viel realitätsgerechter als nur die Wahl– hier öffnet sich sozusagen eine Schere – zwischenVollzeit und Teilzeit, also einer halben Stelle, meistensin einem niedriger qualifizierten Job. Mit einer Art klei-ner Vollzeit von 30, 32 oder 35 Stunden kommt man au-ßerdem auf ein viel besseres Einkommen, was auch fürdie eigenständige Alterssicherung wichtig ist. Wir Sozi-aldemokratinnen und Sozialdemokraten – meine Kolle-gin Ferner hat es schon angekündigt – arbeiten an einemModell für eine Familienarbeitszeit. Wir wollen dieWünsche und Bedürfnisse junger Menschen besser er-füllen.
Dazu gehört auch der weitere Ausbau der Kinderbe-treuung. Ich will noch einmal deutlich sagen: Deutsch-land hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländernsehr spät und zögerlich auf die veränderten Wünsche derGeneration vor uns und der jetzigen Generation reagiert.Aber in den letzten 15 Jahren haben wir Sozialdemokra-tinnen und Sozialdemokraten die Weichen in die richtigeRichtung gestellt. Der Rechtsanspruch auf einen Kinder-betreuungsplatz hat vielen Frauen besonders in West-deutschland einen schnelleren Wiedereinstieg in den Be-ruf ermöglicht. Der Ausbau von der Krippe bis zurGanztagsschule hat dem Ganzen einen riesigen Schubgegeben. Das ist ein guter Schritt, um Beruf und Familiebesser zu vereinbaren. Es ist auch ein wichtiger Schrittzu mehr Gleichberechtigung und zu besseren Bildungs-chancen für alle Kinder.Ich will heute nicht vergessen, auch zu sagen: DerMindestlohn hat geholfen, dass viele Frauen jetzt mehrverdienen.
Denn noch immer arbeiten überproportional vieleFrauen in den schlechter bezahlten Minijobs. Diese wer-den jetzt anständig kontrolliert und unterliegen wie alleJobs dem Mindestlohn. Diese Frauen profitieren in be-sonderem Maße vom Mindestlohn. Uns liegen Zahlenvor, dass Frauen bisher doppelt so häufig wie Männer inJobs waren, in denen weniger als 8,50 Euro pro Stundegezahlt wurden. Das hat sich dank des Mindestlohns seitJanuar geändert. Das ist ein großer Erfolg.
Wir wollen gleiche Bezahlung für gleiche und gleich-wertige Arbeit. Wir wollen eine ausgewogenere Arbeits-teilung zwischen Frauen und Männern.
Liebe Kollegin Griese, der letzte Satz wäre ein guter
Schlusssatz gewesen.
Sie sind mit der Zeitaufzeichnung hier wirklich büro-
kratisch.
Das passt, da ich gerade beim Thema Mindestlohn war. –
Ich komme Ihrem Vorschlag gerne nach, Herr Präsident.
Wir wollen Frauen nicht bevormunden, sondern ihnen
ermöglichen, frei und selbstbestimmt über ihr Leben und
ihre Arbeitszeit zu entscheiden. Dafür muss die Politik
die Rahmenbedingungen schaffen.
Vielen Dank.
Bevor gleich der Kollege Dr. Strengmann-Kuhn dasWort erhält, darf ich die Wahlergebnisse bekannt geben.Zunächst das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Mitgliedsdes Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Absatz 2 derBundeshaushaltsordnung: abgegebene Stimmen 589,gültige Stimmen 589. Mit Ja haben gestimmt 527, mitNein 45, Enthaltungen 17. Der Abgeordnete EckhardtRehberg hat 527 Stimmen erhalten. Die erforderlicheMehrheit wurde damit erreicht.1)
Dann das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Mitglieds desSondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisie-rungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen eben-falls 589, gültige Stimmen 589. Mit Ja haben gestimmt519, mit Nein 35, Enthaltungen 35. Der AbgeordneteVolkmar Klein hat damit 519 Stimmen erhalten und da-mit auch die erforderliche Mehrheit erreicht.2)1) Anlage 22) Anlage 3
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8659
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Wir fahren jetzt in der Aktuellen Stunde fort. Ich er-teile das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je-des Jahr im März diskutieren wir hier aus Anlass desFrauentages und aus Anlass des Equal Pay Day, der lei-der immer noch im März und nicht früher stattfindet,über Gleichstellungspolitik. Aber wenn man sich diewirklichen Probleme ansieht, stellt man leider fest: Eshat sich über die Jahre und Jahrzehnte nicht viel verän-dert; wir reden jedes Jahr über die gleichen Probleme.Das muss uns alle nachdenklich machen, da müssen wiruns alle an die eigene Nase fassen, und das müssen wirändern.
Es ist wichtig, einmal genau zu erklären: Was ist ei-gentlich das Problem? Das Problem ist nicht, dass vieleFrauen Teilzeit arbeiten, auch nicht die Teilzeitarbeit ansich. Es ist schon gesagt worden: Viele Frauen wollenTeilzeit arbeiten. Aber in der Regel wollen sie mehr ar-beiten, also nicht kurze, sondern lange Teilzeit; das giltinsbesondere für Mütter. Frau Freudenstein, auch Män-ner würden gerne Teilzeit arbeiten.
Das tun sie in der Regel aber nicht. Es hat auch Gründe,warum das so ist.Ich sehe drei Probleme:Das erste Problem sind die Minijobs, die zu einerMinijobfalle geworden sind. Diese Falle müssen wirendlich beseitigen.
Das zweite Problem ist die fehlende soziale Absiche-rung bei Teilzeittätigkeit. Der Mindestlohn ist eingeführtworden; das ist sicherlich ein wichtiger Schritt zurGleichstellung zwischen Männern und Frauen. Aber beiTeilzeit reicht auch ein Mindestlohn in der Regel nichtaus, um die Existenz zu sichern. Da müssen wir mit wei-teren Maßnahmen insbesondere für Alleinerziehende da-für sorgen, dass sie, wenn sie erwerbstätig und in einerlangen Phase der Erwerbsteilzeit sind, ein existenz-sicherndes Einkommen erzielen.
Da reichen in der Tat die 6 Euro Kindergelderhöhung beiweitem nicht aus. Das geht an dem Problem eher vorbei.Auch Altersarmut ist ein Thema, das diese Große Ko-alition überhaupt nicht anpackt. Es gab den Vorschlag ei-ner Lebensleistungsrente, den schon Frau von der Leyenimmer vor sich hergetragen hat; er ist wieder in der Ver-senkung verschwunden. Wir schlagen schon seit ewigerZeit eine echte Garantierente vor, die Frauen – auch die-jenigen, die länger in Teilzeit gearbeitet haben – vor Al-tersarmut schützt. Das ist eine weitere wichtige Bau-stelle.
Aber wir müssen vor allen Dingen an die Ursachenherangehen. Die Ursachen liegen darin, dass Teilzeit-arbeit eine Frauendomäne ist, dass also überwiegendFrauen Teilzeit arbeiten und nicht etwa Männer undFrauen gleichermaßen teilzeiterwerbstätig sind. Eineechte Gleichstellung ist erst dann erreicht, wenn die Teil-zeitquote von Männern genauso hoch ist wie die Teil-zeitquote von Frauen.Dass dem so ist, hat strukturelle Gründe, die im Steu-ersystem und im Sozialversicherungssystem liegen. Damüssen wir ran. Wir müssen auch an das Ehegattensplit-ting ran. Nach wie vor ist unser Ziel als Grüne, dass wirdas Ehegattensplitting abschaffen, weil es massive An-reize zu geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung setzt.Wir wollen weg von der Subventionierung und hin zuechter Wahlfreiheit.
Es gibt weitere Regelungen: Die kostenlose Mitversi-cherung in der Krankenversicherung ist für viele Fraueneine echte Hürde, wenn es darum geht, in den Arbeits-markt einzusteigen. Auch diese Hürde müssen wir end-lich beseitigen.
Im Rahmen der Bürgerversicherung, wie wir sie vor-schlagen, wollen wir die beitragsfreie Mitversicherungdurch ein Beitragssplitting ersetzen.
Dann wäre diese Hürde weg. Dadurch würde man auchan dieser Stelle eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen,insbesondere für Frauen.
Beim dritten Punkt bin ich wieder bei den Minijobs.Wenn man sich die Evaluierung der familienpolitischenLeistungen, aber auch den Gleichstellungsbericht derBundesregierung ansieht – ich glaube, beides sollte sichdie Große Koalition einmal zu Herzen nehmen –, stelltman fest: Da stehen viele wichtige Sachen drin. Ein zen-traler Punkt: Die Minijobs müssen wir so ausgestalten,dass sie wieder voll sozialversicherungspflichtig wer-den. Denn sie sind tatsächlich eine Falle, in der Millio-nen von Frauen hängen bleiben, die dann von Armut, Al-tersarmut und Diskriminierung bedroht sind.Die wesentliche Ursache dafür, dass Frauen so wenigverdienen, ist die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung,insbesondere bei der Kindererziehung. Es ist nämlich
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8660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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nicht biologisch bedingt, dass sich Frauen um Kinderkümmern; vielmehr können Männer Kinder, abgesehenvon der Stillzeit und den ersten Lebenswochen, im Prin-zip genauso gut betreuen wie Frauen. Das muss das zen-trale Ziel sein: Gleichstellung sowohl bei der Familiener-ziehung als auch auf dem Arbeitsmarkt. Nur das schafftwirkliche Gerechtigkeit und wirkliche Freiheit.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Lezius für
die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKleine Anfrage der Linkenfraktion, die wir hier bespre-chen, beginnt mit dem Hinweis auf den 105. Frauentag.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, diesesDatum liegt Ihnen besonders am Herzen, war es docheine sehr starke Frau, Clara Zetkin, die als Erste Agita-tion für die Einführung des Frauenwahlrechts betrieb.Dies ist lange verwirklicht. Heute geben Sie uns da-mit als Regierungskoalition die Gelegenheit, Ihnen aus-zuführen, was wir als Große Koalition für die Gleichstel-lung von Frauen und Männern geleistet haben undleisten. Das nehmen wir wie jedes Jahr gerne an.Das Thema Frauenerwerbstätigkeit ist von besondererBedeutung. So ist nicht nur die Mehrheit der Bevölke-rung weiblich, nämlich 41 Millionen zu 39 Millionen.Auch aus demografischen Gründen können wir es unsgar nicht erlauben, die Frauen dieses Landes zu vernach-lässigen. Hinzu kommt, dass Frauen eine höhere Lebens-erwartung haben.Daraus ergibt sich die Frage, wie die Versorgung imAlter aussieht – das wurde heute schon angesprochen –und wie wir zum Beispiel dem Problem der Altersarmutbegegnen, von der häufig genug Frauen betroffen sind.Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt unterstützen wir es,wenn mehr Frauen erwerbstätig sind und gleichwertigbezahlt werden. Erwerbsarbeit ist die beste Möglichkeitfür Frauen, selbst etwas gegen Armut zu unternehmenund für das Alter vorzusorgen.In meinem Wahlkreis war ich letzte Woche zu Gastbei einer jugendpolitischen Diskussion. Es ging dortauch um dieses Thema. Es ist bekannt, dass sich Mäd-chen gerne für klassische sogenannte Mädchenberufewie Friseurin, Einzelhandelskauffrau oder Erzieherinentscheiden. Das sind ohne Frage wichtige und ehren-volle Berufe. Aber: Ich fragte die jungen Frauen, wes-halb sie sich aus einem Katalog von immerhin 350 Aus-bildungsberufen auf einen kleinen Kreis von circa20 Berufen beschränkten. Daraufhin herrschte betretenesSchweigen.An diesem Punkt müssen wir ansetzen. Hier könnenwir viel tun. Die Bundesregierung will mit Initiativenwie der „Perspektive MINT“, integrierten Projekten wiedem Wettbewerb „Jugend forscht“ und dem „Bundes-wettbewerb Informatik“ junge Leute, insbesondere aberMädchen für die Berufe interessieren, die diese nochnicht im Blick haben, die aber wesentlich besser bezahltwerden.Gerade für Frauen ist die Welt aber vielfältiger. Siesind nicht nur Arbeitnehmerinnen, sondern auch Mütter,Töchter und Ehefrauen. Die Teilhabe von Frauen am Ar-beitsmarkt ist deswegen nicht zwangsläufig erfolgreich,wenn möglichst viele von ihnen Vollzeit arbeiten.Wir vergessen in der wichtigen Debatte um dieGleichstellung von Mann und Frau häufig, dass vieles,was als Missstand kritisiert wird, für die Betroffenennicht automatisch auch ein Missstand ist.
Jeder Mensch hat die verfassungsrechtlich geschützteFreiheit, sich seinen Beruf auszusuchen. Er oder sie hataber auch die Freiheit, die Arbeitszeit frei zu wählen.Viele – sowohl Frauen als auch Männer – können oderwollen aus den verschiedensten Gründen nicht mehr alsTeilzeit arbeiten. Das müssen wir akzeptieren. Das habeich selbst in meinem Unternehmen mit über 20 weibli-chen Arbeitnehmern erlebt, die aus verschiedenstenGründen in Teilzeit arbeiten wollten.Politik soll nicht per Gesetz für Gleichmacherei sor-gen.
Unsere Verpflichtung ist, dort einzugreifen, wo dieWahlfreiheit gefährdet ist.Aus diesem Grund unterstützen wir Familien mit demBetreuungsgeld. Aus diesem Grund hat diese Bundes-regierung zahlreiche Gesetzesvorhaben umgesetzt, umdie Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleis-ten.
Diese reichen vom Familienpflegezeitgesetz bis hin zumElterngeld Plus und – wir haben es schon angesprochen –dem Mindestlohn. Auch das im Moment diskutierte Ge-setz zur Frauenquote in Führungspositionen soll Chan-cengleichheit schaffen, wo es diese nicht gibt. Das ist derWeg in die richtige Richtung.Die Mütterrente schließlich hilft insbesondere Frauen,die Kinder erzogen haben und deswegen eben nicht be-rufstätig waren. Wir erkennen damit Lebensleistungenund individuelle Entscheidungen an.
Das Beste, was wir für Frauen und Mädchen im Hin-blick auf die Berufstätigkeit tun können, ist eine guteVorbereitung auf die Berufswelt. Hierfür sorgen sowohlein Wertewandel in den Elternhäusern als auch eine guteund vielseitig orientierte Bildung und Ausbildung unddie Stärkung der Frauen darin, für ihre Rechte einzuste-hen. Das ist mir, das ist der Union wichtig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8661
Antje Lezius
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Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michelle
Müntefering für die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage mal, wie esist:
Frauen wissen alles, und Frauen können alles,
alles, was man für Berufe braucht. Sie müssen aber auchdürfen. Dafür braucht es eben auch das Recht, das Rechtauf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und Berufe, in de-nen besonders viele Frauen arbeiten, brauchen auch diegleiche Wertschätzung.
In den Jahren meiner praktischen Ausbildung im Kin-dergarten habe ich mir oft gewünscht, dass die Kinder-gärtnerinnen mal so auf die Straße gehen, wie die Che-mie- und Metallfacharbeiter das ab und zu tun,
um deutlich zu machen, was für uns selbstverständlichist: Es sind die Frauen in den sozialen Berufen, die sichum alte Menschen in den Senioreneinrichtungen und umKinder in den Kitas und in den Grundschulen kümmern.Es gibt mittlerweile Gegenden in Deutschland, in denenes sich Kindergärtnerinnen gar nicht mehr leisten kön-nen, da zu wohnen, wo sie arbeiten.
Sie nehmen deshalb weite Anfahrtswege in Kauf.Altenpflegeschülerinnen und -schüler müssen ihreAusbildung teilweise selbst finanzieren. Ein anderesBeispiel sind demgegenüber die Lehrlinge in der Metall-und Elektroindustrie, die in NRW 867 Euro im erstenLehrjahr verdienen. So steht es im Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung. Und auch die Aufstiegschancen sindim Seniorenheim und im metallverarbeitenden Gewerbe– kurz gesagt – sehr unterschiedlich.
IHKen, Gewerkschaften, Eltern und Migrantenver-bände sind hier gefragt, und die gesamte Gesellschaft istgefragt, das nicht länger hinzunehmen.
Das ist auch angesichts dessen wichtig, was wir schonheute wissen: Wir werden zukünftig viel mehr Alten-pflegerinnen und Altenpfleger brauchen.Wen wollen wir für diese Berufe eigentlich noch be-geistern? Es ist Zeit, diesen Frauen und Männern aucheinmal Danke zu sagen.
Ich sage das auch als Abgeordnete aus dem Ruhrge-biet. Die Chancen einer Region steigen, wenn sie jungeFrauen fördert und ihnen eine Chance gibt; denn dort ge-hen die Frauen hin. Wo die Frauen hingehen, da sind dieMänner auch nicht weit,
und das biologische kleine Einmaleins besagt: Da gibt esauch Kinder und wieder Arbeit.Mein Opa war noch stolz darauf, dass er sagenkonnte: „Meine Frau muss nicht arbeiten“, weil er genugverdient hat. So war das bei vielen – auch bei den Berg-arbeitern im Ruhrgebiet. Meine Oma aber erzählte zeit-lebens gern aus der Zeit, als sie noch im Schuhgeschäftgearbeitet hat, bevor der Krieg begonnen wurde und diejüdischen Besitzer dieses Schuhgeschäfts in Gladbeckfliehen mussten. Meine Oma hatte danach noch viel Ar-beit, aber nie wieder ein Beschäftigungsverhältnis.Seit ich mich politisch engagiere, hat sich vieles ver-ändert. 1998 war es die rot-grüne Koalition, die die Fa-milienpolitik in Deutschland entscheidend verändert hat.
Ich erinnere an Christine Bergmann, an EdelgardBulmahn, an Renate Schmidt und an den Ausbau derGanztagsgrundschulen, den ich als Kommunalpolitike-rin im Rat meiner Heimatstadt miterleben und mitgestal-ten durfte.Aber es gibt in unserem Denken immer noch einen al-ten Webfehler, und der besagt: Papa ernährt die Familie,Mama verdient was hinzu: Taschengeld für Taschengeldextra und Urlaub, wenn es denn reicht. Fast die Hälfte al-ler Partnerschaften mit Kindern entscheidet sich für die-ses Modell der Zuverdiener: Die Frau arbeitet in Teilzeit,der Mann in Vollzeit. Nur bei einem Viertel sind die Ar-beitszeiten paritätisch verteilt.Gleiche Chancen sind immer noch nicht gegeben. Da,wo die Frauen immer noch weniger verdienen – übrigensauch in vergleichbarer Beschäftigung –,
entstehen keine Gerechtigkeit und eben auch keine glei-chen Ansprüche – etwa bei der Rente.
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8662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Michelle Müntefering
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Deswegen ist Manuela Schwesig auf dem richtigen Wegund handelt klug, wenn sie von Zukunftsmodellen derFamilienarbeitszeit spricht.
Es geht darum, von diesem einseitigen Modell der Auf-gabenverteilung bei Männern und Frauen wegzukom-men.Meine Heimat ist genauso wie das ganze Land vonZuwanderung geprägt; das haben wir mittlerweile ge-lernt. Das prägt auch die Anforderungen auf dem Ar-beitsmarkt. Auch hier ist die Berufstätigkeit der Frauenbzw. der Migrantinnen entscheidend. Sie haben all dieProbleme der Frauen am Arbeitsmarkt, aber davon nochmehr. Nur knapp über die Hälfte ist überhaupt erwerbs-tätig. Bei den Müttern ohne Migrationshintergrund sindes immerhin über 70 Prozent, wenn auch oft in Teilzeit.Aber deswegen ist es wichtig, dass wir die Migrantinnenmit Programmen vor Ort begleiten, so wie ManuelaSchwesig das aktuell mit dem Programm „Stark im Be-ruf – Mütter mit Migrationshintergrund steigen ein“macht.
Noch ein Hinweis. Mir ist in Vorbereitung auf denheutigen Tag aufgefallen: Ein genauerer Blick auf dieZuwanderungsgruppen zeigt, dass es hier Unterschiedegibt. Laut Mikrozensus 2012 ist das überraschende Er-gebnis: Nur 23 Prozent der Türkinnen und lediglich20 Prozent der Frauen vom afrikanischen Kontinent sinderwerbstätig. Das ist umso dramatischer, weil mittler-weile fast jedes dritte Kind in Deutschland in einer Fa-milie lebt, in der mindestens ein Elternteil selbst einge-wandert ist oder eine ausländische Staatsbürgerschaftbesitzt. Wir sprechen hier von 4 Millionen Kindern.
Frau Kollegin, darf ich auch Sie darauf hinweisen,
dass wir eine Redezeit für alle vereinbart haben?
Sie dürfen mich darauf hinweisen, Herr Präsident. –
Ich komme zum Schluss. Ich sage es einmal so:
„Damlaya damlaya göl olur“. Da wir viele Türkinnen in
diesem Land haben, müssen wir auch sie berücksichti-
gen. Das, was ich gesagt habe, heißt auf Deutsch: Viele
Tropfen machen einen See. Oder: Steter Tropfen höhlt
den Stein. Herr Präsident, wir Sozialdemokratinnen ma-
chen das so, schon immer, und das machen wir auch im-
mer weiter.
Glück auf!
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Sylvia
Pantel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Es ist erklärtes Ziel dieser Regie-rung, Frauen zu fördern und die strukturellen Nachteilezu bekämpfen, denen Frauen auf dem Arbeitsmarkt nochimmer ausgesetzt sind. Frauen zu fördern, heißt in ersterLinie, Chancengleichheit zu schaffen. Die vielen Maß-nahmen, die wir seit Beginn dieser Legislaturperiodeumgesetzt haben, helfen den Frauen dabei.Unsere politischen Initiativen decken ein breitesSpektrum ab: von der Mütterrente und dem Betreuungs-geld über den Ausbau von Kitaplätzen bis hin zum El-terngeld Plus, von der Frauenquote über die Mädchen-förderung in Ingenieur- und Naturwissenschaften bis hinzu Förderprogrammen aller Art. Bildung ist der Schlüs-sel zur wirklichen Freiheit. Wenn wir schon über die Be-schäftigungssituation der Frauen sprechen, dann dürfenwir nicht nur auf die absoluten Zahlen von entgeltlicherErwerbstätigkeit schauen.Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DieLinke haben für heute diese Aktuelle Stunde beantragt.Als Familienpolitikerin freut es mich immer, wenn wirhier im Hohen Haus über Frauenpolitik sprechen.
Aber bei dieser Aktuellen Stunde muss man sich jedocherst einmal fragen, was Sie von der Linken überhauptmit dem Begriff „Beschäftigungssituation von Frauen“meinen. Wenn die Linke danach fragt, meint sie vermut-lich die Zahl der Frauen, die in Vollzeit in einem sozial-versicherungspflichtigen Angestelltenverhältnis stehen,vielleicht sogar die Zahl der Beamtinnen. Bei der Zahlder Unternehmerinnen dagegen bin ich mir schon nichtmehr so sicher.
Wie steht es um die Frauen, die sich bewusst dafürentschieden haben, ihre Kinder zu Hause zu betreuenoder einen Angehörigen zu pflegen? Sie gehen nämlichebenso einer Beschäftigung nach, auch wenn sie so inkaum einer Statistik auftauchen und keine normalen Ge-hälter für ihre Arbeit gezahlt bekommen.
Leider ist das größte Hindernis für Frauen noch immerdie teilweise Unvereinbarkeit von Beruf, Karriere undFamilie. Frauen schaffen einen Mehrwert. Sie leisten et-was für ihre Familien und unsere Gesellschaft. Das tunsie in ganz unterschiedlichen Berufen und auch Berufun-gen.Am Anfang jeder Debatte um die beruflichen Per-spektiven von Frauen steht für mich die Wahlfreiheit.Jede Frau in unserem Land muss die Chance haben, sichberuflich und familiär so zu verwirklichen, wie es ihrenFähigkeiten und ihrem persönlichen Lebensglück ent-spricht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8663
Sylvia Pantel
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Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf istin erster Linie ein Mittel, um Frauen Wahlmöglichkeitenzu eröffnen, wovon im Ergebnis Männer und Frauenprofitieren. Diese Wahlmöglichkeit kann in einem mehr-fachen Wechsel zwischen Vollerwerbstätigkeit und häus-licher Tätigkeit bestehen. Das können aber auch genausoganz unterschiedliche Teilzeitmodelle sein. Die Wahl zuhaben, heißt eben auch, sich bewusst dafür zu entschei-den, etwas nicht zu tun.Der wichtigste Punkt, wenn es um die Situation derFrauen in der Arbeitswelt geht, ist aber die Anerken-nung, und zwar gesellschaftliche und finanzielle Aner-kennung. Frauen, die sich entscheiden, ihre Kinder inVollzeit zu betreuen oder einen Familienangehörigen zuHause zu pflegen, müssen endlich mehr gesellschaftli-che Wertschätzung erfahren.
Wenn ein junger Mann in einem Café hier in Berlinerzählt, er kümmere sich in Vollzeit um seine beidenkleinen Kinder, dann sagen die Menschen um ihn herumvoller Bewunderung, was er für ein moderner Mann ist.Wenn aber eine Frau in der gleichen Situation sagt, siekümmere sich in Vollzeit um ihre Kinder, dann wird sieals rückständig bezeichnet. Was läuft da eigentlich, bitte,falsch?Frauen die Wahl zu geben, heißt im Gegenzug auch,ihre Entscheidung zu respektieren.
Deshalb gebührt der Entscheidung für die Familie immergenauso Respekt und Anerkennung. Wenn eine Frauwieder ins Berufsleben einsteigen will, muss sie Zugangzum Arbeitsmarkt finden können, und ihre zusätzlichenErfahrungen müssen als wertvolle Qualifikationen ge-wertet und anerkannt werden.
Dabei geht es nicht nur um gesellschaftliche Anerken-nung, sondern es geht zum Beispiel auch um Renten-ansprüche, wie wir sie durch die Mütterrente gesicherthaben. Wir reden also nicht nur, sondern wir tun auch et-was.
Drei Viertel der Jugendlichen sind nach der letztenShell-Studie davon überzeugt, dass sie eine Familiebrauchen, um glücklich zu sein. Von über 1 000 vonforsa im Jahr 2013 befragten Vätern gab fast die Hälftean, sie würden gerne weniger arbeiten und mehr Zeit mitihren Familien verbringen.
Die Familien in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet füruns, Frauen endlich die volle gesellschaftliche und vorallem auch finanzielle Anerkennung zuzugestehen, diesie verdient haben.Vielen Dank.
Abschließender Redner in dieser Aktuellen Stunde ist
der Kollege Uwe Lagosky von der CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! 1977 erkannte die Generalversammlung derVereinten Nationen den 8. März als InternationalenFrauentag an. Seine Wurzeln reichen bis an den Anfangdes letzten Jahrhunderts. Zu den Erfolgen in Deutsch-land zählt das 1918 beschlossene Wahlrecht für Frauen,das bei den Wahlen 1919 umgesetzt wurde. Darauf gehtauch die heutige politische Beteiligung der Frauen zu-rück.Zurück ins Hier und Jetzt: Kommendes Wochenendegibt es einen weiteren Internationalen Frauentag. Er istimmer noch notwendig, da wir weiterhin weltweit keineGleichberechtigung von Frauen und Männern haben. InDeutschland haben wir definitiv schon viel erreicht. Al-lerdings geht da noch mehr.Mit Blick auf die Beschäftigungssituation von Frauenfällt auf, dass sie, wie schon gesagt wurde, im Jahresver-gleich 22 Prozent weniger verdienen als Männer – da-rauf gehe ich noch ein –, ein Rentenniveau von 60 Pro-zent ihrer männlichen Kollegen haben und 24,6 Prozentder Aufsichtsräte der DAX-Unternehmen stellen. Daswerden wir morgen ändern.Ein Teil der Entgeltunterschiede ist laut StatistischemBundesamt damit erklärbar, dass deutlich mehr Männerin besser bezahlten Industriebereichen sowie in Füh-rungspositionen arbeiten und seltener Babypausen einle-gen oder teilzeitbeschäftigt sind. Wünschenswert istalso, dass Betriebe Frauen darin unterstützen, Unter-schiede in der Erwerbsbiografie auszugleichen, etwadurch gezielte Fördermaßnahmen, die die in den Baby-pausen und Erziehungszeiten erworbene soziale Kompe-tenz berücksichtigen. Das gilt natürlich gleichermaßenfür Männer, wenn sie die Erziehung der Kinder überneh-men. Gerade vor dem Hintergrund eines regionalen undbranchenspezifischen Fachkräftemangels erscheint esmir ohnehin im unternehmerischen Interesse, die Verein-barkeit von Familie und Beruf weiter zu verbessern.
Um Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe an Füh-rungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffent-lichen Dienst zu ermöglichen, erarbeitete die Bundes-regierung ein Gesetz. Morgen werden wir dieses Gesetzverabschieden, durch das unter anderem ab 2016 min-destens 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten börsenno-tierter und voll mitbestimmungspflichtiger Unternehmensitzen werden.
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8664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Uwe Lagosky
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Für ebenso wichtig wie vernünftig halte ich die Be-mühungen, Frauen gezielt zu beraten, auch Berufe in densogenannten Männerdomänen zu ergreifen. Allerdingsbleibt es bei der Freiheit, seinen Beruf auszuwählen.Man kann nicht zu einem bestimmten Beruf gezwungenwerden. Frauen sind nun einmal in erster Linie auf so-ziale Berufe fixiert. Im Moment zumindest ist das so inunserer Gesellschaft.
Solange wir die sozialen Berufe im Hinblick auf dieBezahlung nicht aufwerten – da bin ich durchaus bei Ih-nen –, wird sich an dieser Differenz in der Bezahlungnichts ändern.
In weiser Voraussicht hat das Statistische Bundesamtnoch weitere Anstrengungen im Hinblick auf solche Ar-gumente unternommen. Es stellt ausschließlich ver-gleichbare Qualifikationen und Stellen gegenüber. Dabeientsteht folgendes Bild: Es ist ein Lohnunterschied von7 Prozent vorhanden, nicht von 22 Prozent. Das ergibtsich, wenn man gleiche Stellen und Qualifikationen ver-gleicht. Genau an dieser Stelle setzen die Koalitionsfrak-tionen an. Wir leisten unseren Beitrag, um das Prinzip„Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ zustärken. Unternehmen ab 500 Beschäftigte sollen in ih-ren Lageberichten nach dem Handelsgesetzbuch auf dieFrauenförderung und die Entgeltgleichheit eingehen.Zugleich ist geplant, Arbeitnehmern darauf aufbauendeinen Auskunftsanspruch zu geben, wenn sie sich bei derBezahlung gegenüber ihren Kollegen benachteiligt füh-len.Jenseits dieses Gesetzesvorhabens sind die Unterneh-men und die öffentlichen Arbeitgeber in Zusammen-arbeit mit den Betriebs- und Personalräten aufgefordert,die Entgeltungleichheit in den Betrieben zu beseitigen.Stichwort „Betriebsräte“: Laut „Trendreport Betriebs-rätewahlen 2014“ der Hans-Böckler-Stiftung beträgt derFrauenanteil in den Betriebsräten 27,5 Prozent. Aus ei-gener Erfahrung kann ich sagen: Gerade hier bieten sichbeste Möglichkeiten für den Kampf um Gleichberechti-gung.Herzlichen Dank.
Damit schließe ich die Aktuelle Stunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildung für nachhaltige Entwicklung – Mit
dem Weltaktionsprogramm in die Zukunft
Drucksache 18/4188
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil ich kei-
nen Widerspruch höre, gehe ich davon aus, dass Sie alle
damit einverstanden sind.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Sybille Benning,
CDU/CSU, der ich hiermit das Wort erteile.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Ent-wicklung“ hat uns vorangebracht. In der Bonner Erklä-rung, dem Abschlussdokument, heißt es sogar: „erheb-lich vorangebracht“. Die beteiligten Bildungsexpertenunterstreichen, dass im Dekadezeitraum, 2005 bis 2014,das gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedeutung vonNachhaltigkeit national und international deutliche Fort-schritte gemacht hat. Das ist ein Erfolg.
National zeigt sich der Erfolg zum Beispiel im ehren-amtlichen Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger,in unzähligen Projekten, von denen mehr als 1 900 aus-gezeichnet worden sind. Zugleich wurden 48 UN-De-kade-Maßnahmen prämiert. Am Schiller-Gymnasiummeiner Heimatstadt Münster gibt es ein gutes Beispiel:Der Verein The Global Experience wurde für seine Maß-nahme „International Reporters“ ausgezeichnet. Dazukann ich viel erzählen, aber das später. – Anders als Pro-jekte müssen Maßnahmen nämlich einen strukturellenBeitrag zur Verankerung der Bildung für nachhaltigeEntwicklung im Bildungswesen leisten. Um genau dieseVerstetigung geht es uns schließlich: Die hervorragendeArbeit der entstandenen Ansätze während der UN-De-kade soll eine festere Verankerung in allen Bereichen un-seres vielschichtigen Bildungssystems finden.Ziel ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass einLeben auf Kosten der nächsten Generation keine Optionist. Wir wollen wirtschaftlichen Fortschritt im Sinne ei-ner Green Economy, einer nachhaltigen Wirtschaft.
Finanz- und Ernährungskrisen, Klimawandel, Ressour-cenknappheit, Umweltverschmutzung, Krankheiten undEpidemien führen uns täglich vor Augen, dass Men-schen jeden Alters auf der ganzen Welt Wissen undKompetenzen brauchen, um diese Herausforderungen zumeistern. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist eineVoraussetzung, notwendige Antworten auf die drängen-den Zeitfragen zu finden, getreu unserer Überzeugung,Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln zu befähi-gen und zu ermutigen.
Dies beginnt im Kopf. Es beginnt mit der Fähigkeit, kri-tisch und selbstkritisch zu denken. Früher sagte man: Issdeinen Teller leer; anderswo müssen die Kinder hun-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8665
Sybille Benning
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gern. – Das ist zu kurz gesprungen. Heute wissen wir:Im Sinne eines klugen Umgangs mit Ressourcen kommtes darauf an, den Teller von vornherein erst gar nicht sovoll zu machen.„Wir wollen ,Bildung zur Nachhaltigen Entwicklung‘in allen Bildungsbereichen stärker verankern.“ – Das ha-ben wir in unseren Koalitionsvertrag geschrieben. Indiese Aufgaben sind alle mit einbezogen: Gesellschaft,Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft; denn daskann und soll nicht von staatlicher Seite aufoktroyiertwerden. Und doch ist entscheidend, dass die Bundesre-gierung mit gutem Beispiel vorangeht und deutlichmacht, dass Nachhaltigkeit das Leitprinzip unserer Poli-tik ist.Seit 2002 haben wir in Deutschland eine nationaleNachhaltigkeitsstrategie. Regelmäßig berichtet die Bun-desregierung von Fortschritten. In ihrem letzten Fort-schrittsbericht 2012 bekennt sie sich zur Bildung fürnachhaltige Entwicklung im Sinne eines wichtigen In-struments zur Stärkung und Befähigung der Zivilgesell-schaft. Wir hoffen, dass in der nächsten Fortschreibungder Nachhaltigkeitsstrategie, 2016, der Bildung für nach-haltige Entwicklung mehr Gewicht gegeben wird.Meine Damen und Herren, liebe Zuhörer, seit derletzten Legislaturperiode werden alle Gesetzesvor-schläge der Bundesregierung verpflichtend auf ihrenachhaltige Wirkung hin überprüft, eine Aufgabe, diemeine Kollegen und ich im Parlamentarischen Beirat fürnachhaltige Entwicklung so gewissenhaft, wie es diesemGremium möglich ist, wahrnehmen.
Wozu das gut ist? Es ist ein Mittel, um gegen kurzfristi-ges Denken und Handeln anzukämpfen und die Folgenunseres Handelns über den Horizont der Wahlperiode hi-naus in den Blick zu nehmen. Die Nachhaltigkeitsprü-fung ist damit letztendlich eine Prioritätenabwägung.Liebe Zuhörer, auf das Ende der Dekade folgt jetztdas UNESCO-Weltaktionsprogramm, das sich auf dienächsten fünf Jahre erstreckt. Die bislang gewachsenenNetzwerke werden sich bewähren. Sie bilden nun dasFundament für die Umsetzung des Weltaktionspro-gramms. Dessen Schwerpunkte sind: die weitere For-schung zur Verankerung der Bildung für nachhaltigeEntwicklung, die Förderung lokaler Bildungsnetzwerkeund der Ausbau der Bildung für nachhaltige Entwick-lung an Hochschulen. Federführend für die Begleitungund Umsetzung des Weltaktionsprogramms ist das Bun-desministerium für Bildung und Forschung.Im BMBF wird in diesem Jahr auch das neue Rah-menprogramm „Forschung für Nachhaltige Entwicklun-gen“ – kurz FONA genannt – in seiner dritten Neuauf-lage veröffentlicht. In diesem Programm stellt dasBMBF jährlich 400 Millionen Euro bereit.
Genau wie bei der Bildung für nachhaltige Entwicklungblickt man auch bei der Forschung für nachhaltige Ent-wicklung auf zehn Jahre Erfahrung zurück. Die Schnitt-stellen liegen auf der Hand. Durch Bildung auf der einenSeite und Forschung auf der anderen Seite soll die Ent-wicklung zu einer nachhaltigeren Welt befördert werden.Die aus der Forschung gewonnenen Erkenntnisse – zumBeispiel über Ursachen des Klimawandels – fließen indie Bildung für nachhaltige Entwicklung ein. Sie ist dienotwendige Grundlage, um den Wandel in den Köpfenund schließlich im eigenen Verhalten zu erzielen. Imkommenden Rahmenprogramm FONA 3 sollen darumdie Bereiche Bildung für Nachhaltigkeit und Forschungfür Nachhaltigkeit explizit verknüpft werden. Die bis-lang erzielten Ergebnisse werden zusammengeführt, in-haltliche Bezüge werden gezielter genutzt, und Akteurewerden miteinander in Beziehung gesetzt. Auf dieseWeise werden möglichst viele Synergien erzeugt.Wenn wir bei unserem Ziel der Förderung von Nach-haltigkeit weiter an einem Strang ziehen, dann wird –das wissen gerade wir in Deutschland – eine Wendemöglich sein.
Übrigens: Heute ist Donnerstag. Das war keine Sonn-tagsrede!Vielen Dank.
Danke schön. – Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ja, das ist ein wichtiges Thema; da sindwir uns einig. Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltigeEntwicklung“ ist zu Ende gegangen. Ein Weltaktions-programm wurde beschlossen. Es wurde eine Bonner Er-klärung verabschiedet, bei der ich übrigens jeden Satzunterschreiben könnte. All das ist schick. Aber schauenwir uns Ihren Antrag an.Zunächst einmal möchte ich sagen, dass Nachhaltig-keit drei Dimensionen hat: eine ökologische, eine sozialeund eine ökonomische. Doch nur im Zusammenhang al-ler drei Dimensionen entsteht überhaupt Nachhaltigkeit.Nun hat Frau Benning eben erklärt, dass es jetzt daraufankomme, das Ganze zu verstetigen. Das ist richtig; daswird auch in der Bonner Erklärung gefordert. Wir wür-den das auch unterstützen, nur finden wir es in dem An-trag nicht. Es wäre schön gewesen, wenn Sie einmal ge-sagt hätten, wie denn eine solche Verstetigung aussehenkönnte. Im Antrag finde ich dazu keine Idee. Vielmehrscheint es so, als ob Sie damit fortfahren wollen, mit vie-len Projekten zu punkten. Wir brauchen aber nichtMasse, sondern Dauerhaftigkeit und Systematik.
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8666 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Rosemarie Hein
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Ich will mit drei Beispielen versuchen zu beschreiben,was wir erwartet hätten, was aber leider im Antrag nichtzu finden ist.Erstes Beispiel. Noch im Bericht von 2013 wurdeeine bessere Verankerung des Themas in den Bildungs-plänen der Schulen gefordert. Bei Ihnen fehlt diesesThema nahezu vollständig. Na klar, die Zuständigkeit!Wir hätten aber mindestens die Kultusministerkonferenzauffordern müssen, die eigenen Beschlüsse zur Bildungfür nachhaltige Entwicklung zu überprüfen und zu er-neuern. Die stammen nämlich ebenso wie der Orientie-rungsrahmen zu globaler Entwicklung aus dem Jahr2007.Bildung muss sich verändern; da sind wir uns sicher-lich einig. Es ist sinnvoll, bei komplexen Themen derNachhaltigkeit auch komplex zu arbeiten. Ich gebe einBeispiel dafür. Ein Ziel könnte sein, dass Kinder und Ju-gendliche verstehen, dass die billigen T-Shirts vomWühltisch im Kaufhaus und bei Discountern oft unterdramatisch schlechten Arbeitsbedingungen hergestelltwurden oder dass die heute noch in den südlichen Län-dern massenhaft produzierten Bananen mit einer erhebli-chen Naturzerstörung einhergehen, dass wir hier in Eu-ropa eine Verantwortung dafür haben, was im Südenoder im Osten geschieht. Diese Themen könnte manzeitgleich und abgestimmt in Fächern wie Geografie,Geschichte, Mathematik, Chemie, Sozialkunde undDeutsch behandeln. Das könnte zu nachhaltigen Lernef-fekten führen. Zur ökonomischen Bildung, die wirimmer wieder einfordern, gehört dann aber bitte auch,aufzuzeigen, wer an den Klamotten bzw. den Billigpro-dukten wie viel verdient. Das könnte nachhaltig sein.
Zweites Beispiel. Wer entscheidet eigentlich, welcheProjekte für nachhaltige Entwicklung wertvoll sind? Siewollen eine Nachhaltigkeitsprüfung. Der Sparkassen-Schulservice wurde von der Deutschen UNESCO-Kom-mission als offizielle Maßnahme in den Nationalen Ak-tionsplan für nachhaltige Entwicklung aufgenommen.So geadelt wird er leicht den Weg in die Schulen finden,ganz an den für die Zulassung von Lehr- und Lernmit-teln zuständigen Kultusministerien vorbei. Das machenzahlreiche Unternehmen so. Bei der Suche nach solchenBeispielen bin ich auf diesen Schulservice gestoßen, derunter anderem monatliche Foliensätze bietet: zwölf The-men in einem Jahr, zwei zum Thema Nachhaltigkeit, inden anderen geht es um die Sicht der Wirtschaft auf The-men wie Gerechtigkeit oder Mindestlohn. Da sollten Sieeinmal hinschauen; Ihnen wird nicht gefallen, was dortsteht. Didaktisch gut aufbereitet sind die Arbeitsblätterzum Thema Mobilität; wegen der Inhalte sträubten sichmir allerdings die Nackenhaare. Kundenwerbung wirdnebenbei betrieben. So erfährt man unter dem Mäntel-chen der finanziellen Bildung etwas über Onlinebankingund natürlich auch, wie man Depots anlegt. Ich halte die-ses Verfahren, das viele Unternehmen betreiben, vor al-lem die großen, für überhaupt nicht nachhaltig. Das istnicht das, was wir anstreben sollten, aber es wurde ge-adelt von der UNESO-Kommission.Letztes Beispiel. In der Bonner Erklärung wird dasMitspracherecht von Jugendlichen in diesem ganzenProzess gefordert, und zwar bis in die höchsten Gremienhinein, gegebenenfalls mit einem eigenen Budget. Ichfinde das hervorragend. In Ihrem Antrag fehlt das leider,und das ist schade. Ich finde, wenn wir über die jüngereGeneration reden, dann müssen wir sie auch einbezie-hen.
Es ist schade, dass Sie das alles mit Ihrem Antragnicht leisten. Das gute Anliegen, die Bildung für nach-haltige Entwicklung voranzubringen, wird so leidernicht umgesetzt. Vielmehr droht es unter der Formulie-rung BNE, die ich in Ihrem Antrag gefunden habe, zu ei-ner Floskel zu verkommen, was ich bedenklich finde.Die Bildung für nachhaltige Entwicklung würde dadurchsehr schnell inhaltsleer, und das dürfen wir nicht zulas-sen.Weil wir diese Kritik an Ihrem Antrag haben, werdenwir ihn zwar nicht ablehnen, uns aber der Stimme ent-halten.Vielen Dank.
Als Nächstes spricht die Kollegin Saskia Esken für
die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Seit uns derBericht des Club of Rome in den 70er-Jahren zu denGrenzen des Wachstums die Augen geöffnet hat und dieBrundtland-Kommission der UN in den 80ern den Be-ginn einer internationalen Politik für Umwelt und Ent-wicklung definierte, hat der Begriff der Nachhaltigkeiteine ziemliche Konjunktur, aber auch eine stetige Wei-terentwicklung erfahren.In den Anfängen wurde Nachhaltigkeit hauptsächlichökologisch definiert, im Sinne von Umweltschutz undRessourcenschonung. Heute denken wir den Begriff derNachhaltigkeit viel weiter, zum Beispiel im Sinne einersozialen oder gesellschaftlichen Nachhaltigkeit. Dabeigeht es um Entwicklungen wie den demografischenWandel oder den sozialen Zusammenhalt einer Gesell-schaft. Die nachhaltige Entwicklung als Grundprinzipunseres Handelns, auch unseres politischen Handelns, istaber leider ein sehr flüchtiger Gedanke, flüchtig wie al-les, was sich so sehr auf die Zukunft bezieht. Der rich-tige Weg, einen so flüchtigen Gedanken in den Köpfenheutiger und künftiger Generationen nachhaltig zu ver-ankern, ist natürlich Bildung, Bildung für nachhaltigeEntwicklung.Wegen der internationalen Zielsetzung, durch Bil-dung weltweit für eine nachhaltige Entwicklung zu sor-gen, haben die Vereinten Nationen im Jahr 2005 eine
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8667
Saskia Esken
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Weltdekade ausgerufen. Diese Dekade ist im Jahr 2014zu Ende gegangen. Wir wollen mit unserem fraktions-übergreifenden Antrag die Bundesregierung in der Ziel-setzung bestärken, das Konzept der nachhaltigen Ent-wicklung in allen Bildungsbereichen in Deutschlandweiter zu verankern und die internationalen Bemühun-gen darum weiterhin zu unterstützen.
In aller Welt sind in dieser Dekade Strukturen undPartnerschaften gewachsen. Die Initiative für Nachhal-tigkeit in der Hochschulbildung beispielsweise, die vonüber 250 Hochschulen aus aller Welt getragen wird,wurde im Jahr 2012 bei der Konferenz von Rio verab-schiedet. Ziel der Initiative ist es, weitere Hochschulenzu freiwilligen Zusagen zu einer nachhaltigen Ausrich-tung von Management, Lehre und Forschung zu moti-vieren, sodass wir diesbezüglich Wachstum erwartendürfen.In Deutschland hat die Dekade bisher vor allem imBereich der vorschulischen und der schulischen BildungFrüchte getragen. Eine große Vielfalt lokaler und überre-gionaler Projekte und Initiativen wurde umgesetzt, undinsgesamt 2 000 herausragende Projekte wurden von derDeutschen UNESCO-Kommission ausgezeichnet. Es istjetzt notwendig, dass wir diese großartige Arbeit verstär-ken und verstetigen, um damit auch nachhaltig zu wir-ken. Deshalb treten wir im Rahmen dieses Antrags mitder Forderung an die Bundesregierung heran, die Mittelfür diese wichtige Zielsetzung zu erhöhen. Erste Signaleaus dem Bundesministerium zeigen, dass man hier amgleichen Strang zieht.
Die Erfolge des allgemeinbildenden Schulsystems inder Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens solltenjetzt auch im beruflichen Bildungswesen und an denHochschulen in Deutschland ermöglicht werden. Geradeim Zusammenspiel zwischen beruflicher Schulbildungund praktischer Erfahrung im dualen System könnenKompetenzen für nachhaltiges Arbeiten und Wirtschaf-ten gefördert werden, um so ökonomische, soziale undökologische Verantwortung in bestmöglichen Einklangzu bringen. Schülerinnen und Schüler werden vertrautmit der Idee eines nachhaltigen Leitgedankens und er-halten in der beruflichen Bildung wichtige theoretischeund praktische Handlungs- und Gestaltungskompeten-zen. Wir empfehlen deshalb, den Förderschwerpunkt„Berufliche Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“der UN-Dekade, der bisher als Modellversuch nur punk-tuelle Wirkung entfalten konnte, auf alle Bereiche derberuflichen Bildung auszuweiten.
Im Jahr 2010 haben die Deutsche UNESCO-Kom-mission und die Hochschulrektorenkonferenz außerdemeine Empfehlung für „Hochschulen für nachhaltige Ent-wicklung“ ausgesprochen. Hier geht es auch um nach-haltiges Management, um Lernen und Forschen, aberauch um die Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankensin den Studienordnungen. An den Hochschulen sollNachhaltigkeit ebenfalls zu einem selbstverständlichenTeilaspekt der Wissenschaft werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Bil-dungspolitikerin ist es mir wichtig, Sie noch einmal aufden Gedanken der nachhaltigen Bildung aufmerksam zumachen. Immer noch wird bei der Bildung zu sehr an dieVermittlung eines Wissenskanons gedacht und zu wenigan die Menschwerdung sowie an die Ermöglichung vonsouveräner gesellschaftlicher Teilhabe. Auch angesichtseiner Wissensgesellschaft im Wandel ist es notwendig,dass junge Menschen zukunftsfähige Kompetenzen ent-wickeln und dazu befähigt und motiviert werden, ein Le-ben lang weiter zu lernen.
Nachhaltige Bildung bedeutet aber auch, die Zahl derSchulabgänger ohne Abschluss und die der Ausbil-dungs- und Studienabbrüche so weit wie möglich zu re-duzieren. Junge Menschen benötigen im Vorfeld derAusbildungs- oder Studienwahl Information und Orien-tierung, die die Eltern wegen des Wandels bei Ausbil-dungsberufen und Studienfächern oft nicht leisten kön-nen.
Insbesondere Erststudierende, für deren Familien akade-mische Bildungsgänge Neuland sind, aber auch die vie-len immer jüngeren Studienanfänger benötigen vor undauch während des Studiums eine gute Begleitung undBetreuung, damit bei auftretenden Schwierigkeiten nichtgleich die Flinte ins Korn geworfen wird. Mit der not-wendigen Unterstützung kann das Misserfolgserlebenund können die Umwege eines Ausbildungs- oder Stu-dienabbruchs vermieden werden und kommen die jun-gen Menschen erfolgreich zu ihrem gewünschten Ab-schluss.Planst Du für ein Jahr, so säe Korn, planst Du für ein Jahrzehnt, so pflanze Bäume, planst Du für ein Leben, so bilde Menschen.So machte schon im 4. Jahrhundert vor Beginn unsererZeitrechnung der chinesische Philosoph Kuan ChungTzu deutlich: Bildung und Nachhaltigkeit gehören un-trennbar zusammen.Mit Bildung für nachhaltige Entwicklung nehmen wiruns vor, für die Dauer eines ganzen Lebens und darüberhinaus zu planen. Wer Verantwortung für die Zukunftübernehmen will, muss Nachhaltigkeit zur obersten Ma-xime machen. Bildung für Nachhaltigkeit ist der Wegdazu.
Ich freue mich, dass wir hierzu einen interfraktionellenAntrag erarbeitet haben, der fast über alle FraktionenZustimmung findet.
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8668 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Saskia Esken
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Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!Gehen Sie zur Abwechslung in Gedanken in Ihre Wohn-zimmer zu Hause und stellen Sie sich vor, Sie haben einbesonders schönes und wertvolles Geschenk bekommen.Wo würden Sie es hinstellen? Sicher nicht in die Abstell-kammer, sondern in einen Ihrer Lieblingsräume, wo Siees sehen können, wo es Ihnen besonders gut gefällt. Ei-nen solchen Platz braucht auch das schöne Stück „Bil-dung für nachhaltige Entwicklung“, auch wenn es einenetwas sperrigen Namen hat, weshalb ich es fortan BNEnennen werde.
– Sie müssen aber auch immer scherzen.
Das geht aber nicht von meiner Zeit ab, wenn Sie hier solustig sind. – Auf jeden Fall muss BNE raus aus den Ab-stellkammern und rein in die gute Stube. Sie braucht ei-nen Platz mitten in unserer Gesellschaft. Nachhaltigkeitberührt nämlich alle Bereiche des Alltags. Umwelt,Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen sich gegensei-tig. Es hängt also alles mit allem zusammen. Dieser Ge-danke gefällt mir an diesem Konzept besonders gut.
BNE beschreibt einen Weg, um die Welt im Gleichge-wicht zu halten. Sie hilft Kindern und Jugendlichen,Kompetenzen zu entwickeln und ihre Zukunft nachhaltiggestalten zu lernen. So gesehen ist es ein ganz wunder-bares Konzept. Vor allem geht es uns alle an, auch wenndas vielleicht – wenn ich mich hier umschaue – nochnicht alle erkannt haben.
Deshalb freue ich mich sehr, dass wir einen interfraktio-nellen Antrag hinbekommen haben, auch wenn dieLinke jetzt nicht daran beteiligt ist.
Lassen Sie mich zunächst die Entwicklung darstellen.Wir haben schon gehört, dass die Vereinten Nationen inden vergangenen zehn Jahren versucht haben, dasThema weltweit zu verankern. 2014 ist das Programmausgelaufen. Es gab zahlreiche Aktionen und Projekte– fast 2 000 ausgezeichnete Projekte –, zahlreiche Kom-munen, die sich engagiert haben, und – das finde ichsehr wichtig – viel zivilgesellschaftliches Engagement.Viele Menschen waren ehrenamtlich im Einsatz. Vor ih-nen ziehen wir wirklich unseren Hut; denn sie haben dasGanze getragen.
Aber leider ist der Begriff nach wie vor nur einerFachöffentlichkeit bekannt. Es gibt ganz viele Lehrerund Lehrerinnen, die nicht einmal diesen Begriff ken-nen. Das sollte nach zehn Jahren eigentlich nicht mehrso sein. Dagegen wollen wir angehen.
BNE ist noch lange kein Selbstläufer. Genau darübermachen wir uns Sorgen. Wir sorgen uns darum, wie esweitergeht. Im November 2014 wurde das Weltaktions-programm der Vereinten Nationen ausgerufen. Es sollfünf Jahre lang darum gehen, BNE in allen Ländern derWelt bekannt zu machen. Wie gesagt, das Thema sollraus aus dem Kämmerchen.In unserem Antrag fordern wir nun verschiedene, wieich finde, sehr konkrete Maßnahmen, um BNE endlichsystematisch zu implementieren und flächendeckend zuverankern. Ich finde, das ist gar nicht so ein Wischiwa-schi, wie Sie behaupten.
Ich nenne nur einige Punkte, die mir sehr am Herzen lie-gen. Wir wollen, dass die Bundesressorts BNE in ihrenStrategien verankern. Wir wollen dazu eine interministe-rielle Arbeitsgruppe einrichten. Das finde ich schon ein-mal sehr wichtig. Wir wollen, dass die Bundesregierungweiterhin regelmäßig Bericht darüber erstattet, was imRahmen des Weltaktionsprogramms erreicht wurde, so-dass wir Einfluss nehmen können. Wir möchten gerne,dass die Bundesregierung mit den Ländern auf allenEbenen für eine systematische Verankerung sorgt undder Gedanke der BNE in alle Bildungseinrichtungen ge-tragen wird, von der Kita bis zur Uni. Das schreiben wirsehr wohl.
BNE muss endlich in alle Köpfe. Deshalb muss dieBundesregierung mehr Anstrengungen als bisher unter-nehmen; auch das fordern wir. Wir sind uns in den Frak-tionen einig, dass wir das Eisen schmieden müssen, so-lange es heiß ist und bevor die Akteure vor Ort, dieLehrkräfte, die Ehrenamtlichen das Interesse, die Ener-
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Beate Walter-Rosenheimer
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gie und auch die Lust verlieren. Wir haben von Professorde Haan im Beirat gehört, dass sehr viel Unsicherheit da-rüber besteht, wie es weitergehen kann. Deswegenmöchten wir da Klarheit und klare Strukturen.
Unser gemeinsamer Antrag, unsere Einigkeit überFraktionsgrenzen hinweg, gibt mir die Hoffnung, dasswir nun größere Brötchen backen und in fünf Jahren aufeinem ganz anderen Level sind als jetzt. Denn, liebeKolleginnen und Kollegen, es gilt, was schon AlbertCamus gesagt hat: „Wer etwas will, findet Wege, wernicht, findet Gründe.“
Als Nächste spricht die Kollegin Kerstin Radomski
für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Begriff „Nachhaltigkeit“ erfreut sichschier unbegrenzter Beliebtheit. Das 21. Jahrhundertkönnte man als das Jahrhundert der Nachhaltigkeit be-zeichnen – so oft wird dieser Begriff in den unterschied-lichsten Zusammenhängen bedient und manchmal auchstrapaziert. Dabei hat nachhaltiges Handeln seine Wur-zeln in allen Kulturen; es ist sozusagen eine grundle-gende Überlebensstrategie für uns Menschen. Es ist dasBewusstsein einer Generation, nicht nur die eigenen Be-dürfnisse verfolgen zu können, sondern auch auf die Be-dürfnisse nachfolgender Generationen Rücksicht neh-men zu müssen. Nachhaltige Entwicklung zu fördern,bedeutet, die Chancen auf ein Leben in Wohlstand undWürde für alle Menschen zu ermöglichen.
Heute wirkt nachhaltige Entwicklung in die verschie-densten Bereiche hinein: Ressourcennutzung, Demogra-fie, Städtebau, Gesundheitswesen, Konsum und Klima.Uns allen fallen bestimmt noch mehr Dinge ein. Nach-haltiges Denken ist für jeden Menschen wichtig; denn esgeht um unsere Zukunft.Wir haben im Parlamentarischen Beirat für nachhal-tige Entwicklung das Thema „Bildung für nachhaltigeEntwicklung“ ganz oben auf die Agenda gesetzt, da dasLernen für Nachhaltigkeit die Lebensweise aller Genera-tionen bestimmt. Bildung für nachhaltige Entwicklungsoll die Menschen dazu bewegen, verantwortungsvolleund generationengerechte Lösungen in ihrem Umfeld zufinden.
Das Konzept ist interdisziplinär und bildungsbereichs-übergreifend angelegt. Das heißt: Von der Kita bis zurErwachsenenbildung stehen uns Möglichkeiten offen,Bildung für eine nachhaltige Entwicklung zu vertiefen.In den letzten Jahren haben wir viel erreicht. Deutsch-land nahm an der Weltdekade „Bildung für nachhaltigeEntwicklung“ der Vereinten Nationen von 2005 bis 2014teil. In diesem Zeitraum konnten wir Bildung für einenachhaltige Entwicklung national weiter verankern. DasKonzept wurde in Lehr- und Bildungsplänen immer häu-figer berücksichtigt. So wurden rund 2 000 Dekadepro-jekte und 21 Kommunen zu diesem Thema ausgezeich-net.Ich möchte Ihnen als Erstes ein von der UN-Dekadeausgezeichnetes Beispiel aus meiner Heimatstadt Kre-feld nennen. Der Kern ist eine nachhaltige Berufsbil-dung in der Ernährungsbranche. Die Schülerinnen undSchüler im Gastronomiebereich lernen, regionale Le-bensmittel und saisonale Produkte in das Getränke- undSpeiseangebot zu integrieren. Ein paar Kilometer weiterhaben Schüler und Lehrer am Pascal-Gymnasium inGrevenbroich eine Internet-AG zum Thema Nachhaltig-keit eingerichtet. Das Projekt verfolgt das Ziel, die Anre-gungen der UN-Dekade im Unterricht zu implementie-ren. Zur praktischen Vertiefung wurde zeitgleich einkleines Waldgrundstück angelegt und wurden Neubau-ten auf dem Schulgelände energieeffizient geplant. DieseBeispiele zeigen – ich kann nicht alle nennen, in NRWsind es über 300 ausgezeichnete Beispiele – die Ideenund Möglichkeiten, die darin stecken.
Sie zeigen, dass es wichtig ist, eine Verbindung zwi-schen dem eigenen Handeln und globaler Gerechtigkeitherzustellen.
Angesichts des Auslaufens der UN-Dekade im ver-gangenen Jahr ist es von enormer Bedeutung, die Errun-genschaften und Erkenntnisse langfristig zu nutzen. Wirmöchten eine weiterführende flächendeckende nationaleKonsolidierung dieses Nachhaltigkeitsgedankens errei-chen. Unser Ziel ist es, allen Menschen eine qualitativeBildung zugänglich zu machen, unabhängig von ihremsozioökonomischen Hintergrund oder ihrem Geschlecht.Dazu zählt die Bildung zur nachhaltigen Entwicklungund deren Bedeutung für unsere Zukunft. Kinder wie Er-wachsene erfahren, wie sie durch ihr eigenes Handelnandere Menschen motivieren können, Gleiches zu tun,und wie der Erhalt der Schöpfung durch nachhaltigesHandeln unterstützt wird.
Es gilt, die Akteure aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaftund Zivilbevölkerung in die Prozesse des Nachfolgepro-gramms einzubinden und ihr Engagement weiter zu för-dern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erachte es alswichtig, dass wir kontinuierlich zeigen, dass unsere Le-
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8670 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Kerstin Radomski
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bensbedingungen für nachfolgende Generationen zu er-halten sind. Nachhaltigkeit geht uns alle an, und wir allekönnen dazu beitragen.
Als Mutter und langjährige Lehrerin liegt es mir beson-ders am Herzen, Bildungskonzepte weiter auszubauen,die nachhaltig und generationengerecht in die Zukunftweisen. Den Nachhaltigkeitsgedanken in der jungen Ge-neration zu verankern, ist an sich schon nachhaltigesHandeln. Schon der altgriechische Philosoph Diogenesstellte fest:Die Grundlage eines jeden Staates ist die Ausbil-dung seiner Jugend.In diesem Sinne betone ich noch einmal: Die Weltvon morgen können und müssen wir heute gestalten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion
ist der Kollege Carsten Träger.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! 2015 wird ein entscheidendes Jahr für dasMegathema Nachhaltigkeit. Es herrscht Hochbetrieb anvielen Baustellen der Nachhaltigkeit, viele Akteure ar-beiten auf vielen verschiedenen Ebenen mit vielenSchwerpunkten.Hier in Deutschland ist ein ganz wesentlicherSchwerpunkt die Weiterentwicklung der nationalenNachhaltigkeitsstrategie. Wir werden die Indikatoren an-passen und sie weiterentwickeln. Wir wollen unsereehrgeizigen Ziele beim Umweltschutz, beim sozialenZusammenleben und bei der wirtschaftlichen Entwick-lung erreichen.Auf internationaler Ebene werfen gleich zwei großeUN-Konferenzen ihre Schatten voraus; sie werden ent-scheidend sein für die nachhaltige Entwicklung unseresPlaneten. Jedem von uns ist bewusst, welche Bedeutungdie Konferenz von Paris für die Bewahrung unseres Kli-mas haben wird.
Leider wesentlich weniger bekannt ist die UN-Konfe-renz, die im September in New York stattfinden wird.Dort wird es um die Festschreibung der SustainableDevelopment Goals gehen. Minister Müller hat davongesprochen, dass dort der „Weltzukunftsvertrag“ verhan-delt werden wird. Ich finde diese Formulierung absoluttreffend;
denn es geht dort um Nachhaltigkeitsziele für alle Staa-ten – sowohl für Industrieländer als auch für Schwellen-länder als auch für sich entwickelnde Staaten – und,ganz wichtig, auch um deren Durchsetzung.
Die Bedeutung dieser Konferenz ist nicht hoch genugeinzuschätzen, trotzdem weiß kaum jemand davon.Da sind wir mitten im Thema: Wenn wir das Lebenauf unserem Planeten wirklich nachhaltig – im bestenSinne des Wortes „nachhaltig“ – verändern wollen zu ei-ner Lebensweise, die auch noch unseren Kindern einelebenswerte Umwelt hinterlässt, dann dürfen wir unsnicht darauf beschränken, rechtliche Rahmenbedingun-gen zu setzen für dieses oder jenes Problem. Die sind na-türlich auch wichtig; das wird aber nicht reichen. Wirmüssen die Köpfe und die Herzen der Menschen errei-chen, wir müssen jeden Einzelnen überzeugen. Das gehtnur mit nachhaltiger Bildung.
Wir wissen das – zumindest alle, die hier an dieser De-batte teilnehmen –, und die Verhandelnden von NewYork wissen das auch; denn das vierte von den 17 Zielenim Vertragsentwurf heißt:Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung ge-währleisten und Möglichkeiten des lebenslangenLernens für alle fördern.
Wie nötig die Stärkung der Bildung für eine nachhal-tige Entwicklung ist, wurde mir diese Woche im Um-weltausschuss am Beispiel der Nationalen Strategie zurbiologischen Vielfalt bewusst. Der Indikatorenbericht,den wir besprochen haben, beschreibt die Fortschrittehin zu mehr biologischer Vielfalt in Deutschland. Unteranderem misst er das gesellschaftliche Bewusstsein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade einmal25 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutsch-land haben ein ausreichendes Wissen zur biologischenVielfalt und sind auch bereit, ihr Verhalten entsprechendanzupassen.
Da gibt es minimale Verbesserungen im Vergleich zufrüheren Jahren; aber von dem Zielwert, dem wir unsalle hier verpflichtet haben, sind wir weit entfernt, unddas, obwohl der Zeitraum von 2011 bis 2020 zur UN-Dekade der biologischen Vielfalt ausgerufen wurde. Wirbrauchen hier dringend eine Verbesserung beim Indika-tor „gesellschaftliches Bewusstsein“.
Da sind mehr und bessere Bildung gefragt und auch einebessere, zielgruppengerechtere Ansprache. Wir brauchenBildung für nachhaltige Entwicklung in Kindergärten, in
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8671
Carsten Träger
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Kitas, in Schulen, in der beruflichen Bildung und an denHochschulen.
Da wird vor Ort schon hervorragende Arbeit geleistet.Ich habe in meinem Wahlkreis neulich eine Kita besucht,die den Kleinen kindgerecht nachhaltiges Leben nahe-bringen will: bei der Ernährung, beim Spielzeug oderdem Umgang mit der Natur. Natürlich gibt es ganz vieleweitere positive Beispiele. Aber können wir es unsleisten, dass solch vorbildliche Arbeit vom Engagementeinzelner Erzieherinnen bzw. Einrichtungen abhängt?Ich glaube, nicht. Wir müssen die Bildung für Nachhal-tigkeit weiter stärken. Die Idee der Nachhaltigkeit mussrein in die Herzen der Menschen. Es reicht nicht, dassNachhaltigkeit ein Thema hier bei uns im Parlament ist.Sie muss auch ein Thema in den Wohnzimmern sein.
Der Weg dorthin, liebe Kolleginnen und Kollegen,führt über die Klassenzimmer; hier kann die Politik mit-gestalten. Also: Das Thema Nachhaltigkeit muss in dieLehrpläne aufgenommen werden. Mathematik, Physikund Geschichte sind wichtig – ganz klar –; aber die Zu-kunft unseres Planeten ist es eben auch.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Dr. Claudia Lücking-
Michel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Im September haben wir aufdie Dekade für Bildung für nachhaltige Entwicklung zu-rückgeblickt. Heute schauen wir mit unserem Antrag fürdas Weltaktionsprogramm nach vorne in die Zukunft.Viel haben wir schon in dieser Debatte gehört, von miran dieser Stelle vielleicht noch fünf Gedanken.Erstens. Bevor wir uns in der Vielfalt der Themen undAufgaben verlieren, die alle unter das Thema nachhal-tige Entwicklung fallen: Es geht um Bildung, die Men-schen zu einem gesellschaftlichen Wandel befähigt. DerWissenschaftliche Beirat der Bundesregierung GlobaleUmweltveränderungen formuliert es so: Für ein zu-kunftsfähiges gesellschaftliches Entwicklungsmodellbrauchen wir einen Wandel vom fossilen ökonomischenSystem zu einer nachhaltigen Gesellschaft. – Diese„Große Transformation“, wie er es nennt, von einemSystem ins andere kann nur erreicht werden, wenn esuns gelingt, einen wissensbasierten gesellschaftlichenSuchprozess zu initiieren, einen Prozess, der ergebnisof-fen sein muss, aber unbedingt auf eine breite Beteiligungaufsetzen muss.
Wir können gesellschaftlichen Wandel nicht politischverordnen, wir brauchen dazu aufgeklärte Bürgerinnenund Bürger, die diesen Wandel mittragen können undwollen. Bildung für nachhaltige Entwicklung schafft da-für die notwendigen Voraussetzungen.Zweitens. Wir sind gerade mitten auf dem Weg vonden Millenniumszielen zu den nachhaltigen Entwick-lungszielen der Post-2015-Agenda. Dabei wird deutlich:Die planetarischen Grenzen werden schon heute an vie-len Stellen vollkommen überdehnt. Die ökologischeFrage ist heute vor allen Dingen zu einer Gerechtigkeits-frage geworden. Bildung für nachhaltige Entwicklung istdeshalb zu Recht im Entwurf der Vereinten Nationen fürdie Post-2015-Agenda als ein Unterziel vereinbart wor-den.Drittens. Im Rahmen des ganzen Post-2015-Prozesseswird immer wieder eingefordert, dass dessen Ziele nichtnur für die Entwicklungs- und Schwellenländer gelten,sondern gerade auch für die Industrieländer. Da ist es nurfolgerichtig, noch einmal zu betonen: Auch Bildung fürnachhaltige Entwicklung ist dann eben nicht nur einThema für den Süden, sondern gerade und besonders füruns im Norden.
Für uns Industrieländer heißt das: Wir müssen unsereRessourcen effizienter einsetzen. Wir müssen unserenökologischen Fußabdruck reduzieren. Es bedarf techni-scher, technologischer und ökonomischer Innovationen.Es bedarf aber auch kultureller und sozialer Innovatio-nen, um den Wandel unserer Gesellschaften zu errei-chen.Viertens. Transformation ist damit eine gesamtgesell-schaftliche Lern- und Bildungsaufgabe; von dieser He-rausforderung haben wir heute schon an vielen Stellengehört. Ich möchte betonen: Wir müssen uns besondersan die „Agenten des Wandels“ richten. Ich meine damitdie Erzieherinnen und Erzieher, die Lehrerinnen undLehrer. Wir müssen natürlich die Jugend stärker einbin-den und die Hochschulen, wo wir dieses Thema stärkerverankern wollen.Fünftens. Bildung für nachhaltige Entwicklung sollteniemals nur in den formalen Bildungsprozessen veran-kert sein und nur das kognitive Lernen erfassen, wichtigist, dass Nachhaltigkeit auch gelebt wird. Zukunftsfähi-ges Wirtschaften darf dann nicht nur auf dem Lehrplan,im Curriculum stehen, sondern muss auch erfahrbar wer-den, zum Beispiel durch die ökologischen und sozialenStandards der eigenen Beschaffungspolitik einer Schuleoder Institution.Damit komme ich auch zum Schluss. Es ist gut, dasswir Parlamentarier heute mit diesem Antrag den Startdes Weltaktionsprogramms bekräftigen. Es wird aberauch Zeit, dass die Bundesregierung das Weltaktionspro-gramm konkret auf die Schiene setzt. Bei allen struktu-
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8672 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Claudia Lücking-Michel
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rellen Veränderungen, die offensichtlich geplant sind– die UNESCO wird ja nicht mehr federführend sein –,muss das Ziel doch dasselbe bleiben: Es geht darum, dasBewusstsein zu schaffen, dass wir alle Bürgerinnen undBürger einer Welt sind, dass der Wandel unserer Lebens-und Wirtschaftsweise auch in unserem Interesse liegtund dass wir es sind, die diesen Wandel gestalten müs-sen. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu unseremAntrag und sage vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/4188 mit dem Titel „Bildung
für nachhaltige Entwicklung – Mit dem Weltaktionspro-
gramm in die Zukunft“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Beate Müller-Gem-
meke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitsförderung neu ausrichten – Nachhal-
tige Integration und Teilhabe statt Ausgren-
zung
Drucksache 18/3918
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieZahl der Beschäftigten wächst, die Zahl der offenen Stel-len steigt, und die Arbeitslosen gehen leer aus. Selbst imKrisenjahr 2009 haben 160 000 Arbeitslose mehr einenJob gefunden als jetzt, im Wachstumsjahr 2014. Die Ent-wicklung der Arbeitslosigkeit hat sich fast vollständigvon der Entwicklung des Arbeitsmarktes abgekoppelt.Darin kann man nichts anderes erkennen als das Versa-gen der Arbeitsmarktpolitik. Es wäre nämlich die Auf-gabe der Arbeitsmarktpolitik, das zu ändern.
Daraus müssen wir endlich Schlüsse ziehen. Ich sageIhnen: Die Strategie „Hauptsache, Arbeit“ und die Stra-tegie der schnellen Vermittlung in Arbeit sind geschei-tert, und zwar qualitativ und quantitativ. Wir haben trotzdieser Strategien nur eine Vermittlungsquote von mage-ren 13 Prozent. Von diesen 13 Prozent werden noch30 Prozent in Leiharbeit vermittelt, und die, die vermit-telt werden, stehen ziemlich schnell wieder vor den Tü-ren der Jobcenter. Der Drehtüreffekt ist wirklich nicht zuübersehen.
Das hat natürlich auch Gründe: Der deutsche Arbeits-markt ist ein Fachkräftemarkt. Aber fast die Hälfte allerArbeitslosen haben entweder gar keine Ausbildung odereine veraltete Ausbildung. Deswegen können sie nichteinfach in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Trotzdieser Tatsache – sie haben keine Qualifikation – gilt fürsie der Vermittlungsvorrang. Das müssen wir dringendändern.
Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel in derArbeitsförderung. Wir müssen weg vom Vermittlungs-vorrang hin zu einer individuellen und passgenauenQualifizierung und Förderung.
Jetzt stellt sich die Frage: Was ist eigentlich passiert,seitdem Frau Nahles Arbeitsministerin ist?
– Nicht nur der Anteil der Regierungsmitglieder auf derBank ist zurückgegangen, sondern auch die Aktivie-rungsquote. Die Teilnehmerzahl ist nicht nur auf der Re-gierungsbank, sondern auch bei der Arbeitsförderungzurückgegangen.
Es gibt nicht mehr, sondern es gibt immer wenigerFörderung. Ja, ich finde es gut, dass Frau Nahles, wennauch nicht heute, angesprochen hat, dass die Langzeitar-beitslosen von der konjunkturellen Entwicklung nichtprofitieren. Aber das hilft den Arbeitslosen nicht. DenWorten müssen auch Taten folgen.
Eines kann ich Ihnen sagen: Das Programm zur Be-kämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, das Frau Nahlesim November vorgestellt hat, wird diesen Anforderun-gen wirklich nicht gerecht. Das Programm-Hoppingbleibt. Früher gab es 33 000 Bürgerarbeiterinnen undBürgerarbeiter, jetzt sollen es 33 000 Arbeitslose imESF-Programm werden. Jede Ministerin hat ihr Profilie-rungsprogramm, aber für die Arbeitslosen kommt keineinziger zusätzlicher Arbeitsplatz dabei heraus.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8673
Brigitte Pothmer
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Das Programm „Chancen eröffnen – soziale Teilhabesichern“ ist wirklich von gestern: kein Passiv-Aktiv-Transfer, die Kriterien Zusätzlichkeit, Wettbewerbsneu-tralität und öffentliches Interesse kommen wieder zurGeltung. Damit schaffen Sie Arbeitsplätze ohne Sinnund Verstand.
Damit bauen Sie Scheinarbeitswelten auf, die sichernicht dazu führen werden, dass Sie die Arbeitslosen nä-her an den Arbeitsmarkt heranführen. Sie fallen hinteralle Erkenntnisse zurück, die wir in den letzten Jahrengewonnen haben.Deswegen legen wir Ihnen heute mit unserem Antrageinen Vorschlag vor, der diese Erfahrungen und Erkennt-nisse aufnimmt und die Arbeitsförderung vollständigneu ausrichtet: weg von der schnellen Vermittlung, hinzu einer punktgenauen Qualifizierung, weg von demProgramm-Hopping, hin zu einer verlässlichen Arbeits-förderung und für die Abgehängten, für die besondersschwer Vermittelbaren einen verlässlichen sozialen Ar-beitsmarkt mit Passiv-Aktiv-Transfer.
Ja, es stimmt: Dafür brauchen wir Geld. Wir könnenuns jetzt entscheiden, ob wir in die Arbeitslosen inves-tieren oder ob wir sie ein Leben lang alimentieren. Letz-teres ist erstens volkswirtschaftlich deutlich teurer undzweitens ein Drama für die Betroffenen.
Jetzt sagen Sie mir bitte nicht: Dafür haben wir keinGeld. Das ist ausschließlich eine Frage der Prioritäten-setzung. Diese Regierung, diese Arbeitsministerin hatleider andere Prioritäten gesetzt: für die Rentnerinnenund Rentner ein Programm von 160 Milliarden Euro,aber nichts für die Arbeitslosen.
Ich habe wirklich die Befürchtung, dies ist eine Ministe-rin für die Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitsplatzbesitze-rinnen. Die Arbeitslosen gehen bei ihr leer aus. Schadeeigentlich.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichglaube, eines kann man so nicht stehen lassen, nämlichdass die Arbeitslosen bei dieser Regierung leer ausge-hen. Das ist eine Unterstellung, die ich schärfstens zu-rückweisen muss.
Vor ungefähr drei Jahren trat die letzte Reform der ar-beitsmarktpolitischen Instrumente in Kraft. Das war eineReform, um die wir im Jahre 2011 sehr intensiv gerun-gen haben, mit dem Ziel, die arbeitsmarktpolitischen In-strumente passgenau zu schärfen und die Übergänge indie reguläre Erwerbsarbeit zu stärken. Das ist bei den ar-beitsmarktnahen Langzeitarbeitslosen auch gelungen.Doch müssen wir feststellen: Die Reform war bei Men-schen mit schweren Vermittlungshemmnissen wenigerdurchschlagend. Insofern, Frau Pothmer, will ich Ihnenda durchaus recht geben. Hier können wir nicht zufrie-den sein. Daher müssen wir ein besonderes Augenmerkauf diejenigen legen, die nur mit massiver UnterstützungTeilhabe und Integration am Arbeitsmarkt finden kön-nen.Ich will aus meiner Sicht vor allen Dingen sechsPunkte hervorheben und die strittige Frage des Passiv-Aktiv-Transfers außen vor lassen, weil das auch aus fi-nanzpolitischen Erwägungen, glaube ich, eine schwie-rige Sache ist. Es sind, wie gesagt, sechs Punkte, die mirbei der Neuorientierung der Langzeitarbeitslosenhilfebesonders wichtig sind:Der erste Punkt betrifft die sozialpädagogische Be-treuung. Die Heranführung gerade der langzeitarbeitslo-sen Menschen mit mehrfachen und schweren Vermitt-lungshemmnissen braucht Unterstützung in Form vonBegleitung und Anleitung. Das gilt natürlich in erster Li-nie für die betroffenen Menschen selbst. Aber wir gebendamit auch den Betrieben eine gewisse Sicherheit, damitdiese im Konfliktfall professionelle Unterstützung ha-ben.
Ich halte es daher für richtig, die sozialpädagogische Be-gleitung bei der Förderung von sozialversicherungs-pflichtigen Arbeitsverhältnissen gesetzlich zu verankern.Ein zweiter Punkt betrifft die Möglichkeit der länger-fristigen Förderung. Im Zug der letzten Instrumentenre-form haben wir die Fördermaßnahmen zeitlich befristet,auf maximal 24 Monate in fünf Jahren. Diese Befristunghat sich aus meiner Sicht nicht bewährt. Wir hören ausder Praxis, dass viele Geförderte durch diese Regelungein paar Monate zu früh aus der Förderung genommenwerden und schließlich wieder in die Langzeitarbeitslo-sigkeit fallen. Daher sollten wir den zeitlichen Rahmender Fördermaßnahmen praxistauglicher ausgestalten. Ichmeine, wir sollten den Jobcentern die Möglichkeit ge-
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8674 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Matthias Zimmer
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ben, nach einem Prinzip des Aufstiegs und Ausstiegsnach zwei Jahren die Fördervoraussetzungen und die Er-forderlichkeit einer Förderung jährlich zu überprüfenund bei Bedarf auch zu verlängern.
Ein dritter Punkt betrifft die Einsatzfelder von Maß-nahmen. Fördermaßnahmen sollen auch in geschütztenBereichen möglich sein. Aber sie sollen keine Beschäfti-gungstherapien sein, sondern so marktnah wie möglichstattfinden, um das Vermittlungshemmnis Arbeitsmarkt-ferne – das ist tatsächlich auch ein Vermittlungshemmnis –aufbrechen zu können.Ein vierter Punkt betrifft die Arbeitsgelegenheiten.Gerade sie stehen häufig im Verdacht, lediglich Beschäf-tigungstherapien zu sein, die keinen Integrationseffektmit sich bringen. An dieser Stelle sollten wir noch ein-mal über die Aufhebung der Kriterien Wettbewerbsneut-ralität und Zusätzlichkeit diskutieren.
Statt die Kriterien sollten wir die lokalen Akteure vorOrt stärken. Sie sollten in den örtlichen Beiräten der Job-center entlang der Erfordernisse der Zielgruppen und derlokalen Erfordernisse Arbeitsmarkt- und Integrations-programme entsprechend abstimmen.
Das können und sollten wir als Bundesgesetzgeber denlokalen Akteuren nicht abnehmen.Der fünfte Punkt betrifft eine praktikablere Ausgestal-tung der freien Förderung; diesen Punkt haben ja auchdie Grünen in ihrem Antrag. Ich könnte mir beispiels-weise vorstellen, dass wir die freie Förderung durch eineLockerung des Aufstockungs- und Umgehungsverbotesgangbarer machen.Der sechste Punkt betrifft ein soziales Vergaberecht.Bei der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen darfnicht nur der Preis entscheidend sein, sondern wir müs-sen auch das Kriterium Qualität stärken, indem wir bei-spielsweise die Erfahrung und Eignung der Anbieter alsAusschreibekriterien stärker gewichten bzw. gewichtenkönnen.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die Förde-rung langzeitarbeitsloser Menschen reden, dann geht esnicht um die Integration in Arbeit um der Arbeit willen.Arbeit ist für uns kein Selbstzweck, sondern unseremchristlich-sozialen Menschenbild entsprechend verbin-den wir mit Arbeit Identität und Anerkennung, aber auchsoziale Kontakte und Teilhabe; vieles davon finde ichauch in Ihrem Antrag wieder. Gute Arbeit wirkt sich po-sitiv auf das gesundheitliche und soziale Befinden derMenschen aus. Sie führt zu einer Verbesserung der per-sönlichen Situation und des Wohlbefindens. Darum gehtes uns bei der Integration von Langzeitarbeitslosen inden Arbeitsmarkt. Diese Werte sollten wir auch in denDiskussionen über die Finanzierung von Arbeitsmarkt-politik im Blick behalten.Danke schön.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Erst einmal ein Dankeschön an die Kollegin-nen und Kollegen der Grünen, dass sie diesen Antragheute vorgelegt haben und uns allen in diesem Hause dieMöglichkeit geben, noch einmal über das Thema Ar-beitsmarkt zu reden. Es ist erschreckend, wie sich dieBundesregierung weigert, die realen Fakten auf dem Ar-beitsmarkt zur Kenntnis zu nehmen. Jeden Monat klop-fen Sie sich stolz auf die Schulter, wie toll doch der Ar-beitsmarkt bei uns in Deutschland funktioniert.Es ist aber, ehrlich gesagt, nur die halbe Wahrheit, wennSie im Februar eine Arbeitslosigkeit von 3 Millionen Men-schen verkünden. Rechnen wir die 1-Euro-Jobber, die Er-werbslosen in Weiterbildung, die Erwerbslosen über 58Jahren und die arbeitsunfähigen erkrankten Erwerbslo-sen hinzu, sind wir schon bei 3,8 Millionen. Rechnen wirdann auch noch die sogenannte stille Reserve hinzu, alsovor allem diejenigen, die resigniert haben und sich garnicht mehr bei der Arbeitsagentur melden, sind wir sogarschon bei 4 Millionen Menschen.4 Millionen erwerbslose Menschen hier in Deutsch-land: Ich weiß nicht, an Ihrer Stelle würde ich nachts garnicht mehr schlafen können, wenn ich Monat für Monatimmer die falschen Zahlen verkünden würde.
– Hören Sie mir zu. Dann kann ich Ihnen das weiter er-klären, lieber Kollege.Frau Nahles sagt Monat für Monat ebenfalls nicht,dass der bejubelte Beschäftigungsaufbau an Langzeiter-werbslosen, Älteren und Menschen mit Behinderungvorbeigeht. Sie sagt natürlich auch nicht, dass viele derneuen Jobs mit Niedriglöhnen, in Teilzeit oder nur be-fristet angeboten werden. Kaum in den Arbeitsmarkt in-tegriert – Kollegin Pothmer hat es schon gesagt –, sindgerade diese Menschen gleich wieder arbeitslos bzw.bleiben trotz Arbeit im Hartz-IV-Bezug.Genau deshalb finden wir es gut, dass die Grünenheute einen Antrag für eine bessere Arbeitsförderungvorlegen. Nur, Kollegin Pothmer, leider muss ich sagen,dass dieser Antrag natürlich deutlich hinter unseremFünf-Punkte-Programm zur Bekämpfung der Langzeit-arbeitslosigkeit zurückbleibt.
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Immerhin fordern die Grünen aber auch, dass das ver-sprochene Fördern bei Hartz IV endlich einzulösen ist.Die Bundesregierung scheint stattdessen zu glauben,dass sie mit dem Mindestlohn – man kann auch sagen:Modell Schweizer Käse –, ihre Hausaufgaben bereits er-ledigt hätte.
Ich sage Ihnen: Der Mindestlohn kann nur ein Anfangsein, aber auch nur dann, wenn er richtig gemacht ist,Kollege Rosemann. Also weg mit den Ausnahmen, auchfür die langzeiterwerbslosen Menschen.
Die Regierung muss auch aufhören, vom Fordern undFördern zu schwadronieren, solange sie das Fordern im-mer besser und das Fördern immer weniger versteht. Esmacht doch einfach keinen Sinn, Druck auf Erwerbsloseauszuüben, wenn man weiß, dass gar nicht genug Ar-beitsplätze vorhanden sind. Noch immer kommen bun-desweit mehr als drei Erwerbslose auf eine offene Stelle.Entscheidend ist nun einmal in den meisten Fällen– ich glaube, da sind wir beide uns einig – die Qualifika-tion. Je weniger qualifiziert, desto schlechter sind dieChancen auf dem Arbeitsmarkt. Mit Sanktionen verän-dern Sie an dieser Situation überhaupt nichts. Deshalbfordert die Linke: Weg mit den Sanktionen!
Gerade für den Personenkreis mit den geringsten Per-spektiven auf dem Arbeitsmarkt fordert die Linke eineInitiative für eine gute öffentlich geförderte Beschäfti-gung im Umfang von 200 000 Stellen. Die SPD hat densozialen Arbeitsmarkt vergessen. Abgesehen von denGrünen und uns redet niemand mehr darüber. Schade.
Wir brauchen dringend einen Ausbau der Weiterbil-dung und Qualifizierung. Ohne einen guten Berufsab-schluss ist auf dem Arbeitsmarkt einfach nichts zu errei-chen. Es ist fatal, dass mit den Hartz-Gesetzen dieWeiterbildung immer weiter eingebrochen ist. Immerwieder melden sich bei mir Erwerbslose, die gern wei-tergebildet werden möchten, die eine Weiterbildung ma-chen wollen, diese aber nicht genehmigt bekommen.Deshalb sagen wir: Hier muss es einen Rechtsanspruchfür die Betroffenen geben.
Wer wirklich eine andere Arbeitsmarktpolitik will,muss auch Geld in die Hand nehmen. Das betrifft nichtnur die Mittel für die Weiterbildung, sondern auch aus-reichend und gut qualifiziertes Personal in den Jobcen-tern und Arbeitsagenturen. Stattdessen sind die Mittelfür die aktive Arbeitsmarktpolitik in den letzten Jahrenmassiv gekürzt worden, nämlich um 40 Prozent, obwohldie Arbeitslosigkeit nur um 5,7 Prozent zurückgegangenist.
– Frau Giese, es ist leider so. Sie haben in diesem Be-reich seit 2010 eine Einsparung um 40 Prozent vorge-nommen. Das widerspricht sich.Meine Damen und Herren der Großen Koalition, esist offensichtlich: Diese Regierung hat andere Schwer-punkte als die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit.Dann sagen Sie aber auch ehrlich, dass die langzeiter-werbslosen Menschen abgeschrieben sind, und klagenSie nicht über einen angeblichen Fachkräftemangel,wenn Sie hier die enormen Potenziale nicht nutzen wol-len.Danke schön.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Dr. Matthias Bartke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Frau Zimmermann, es ist gerade eine Wo-che her, dass die Bundesagentur für Arbeit die geringsteArbeitslosigkeit in einem Februar seit 1991 meldete.
Ich finde, das muss man sich auch einmal vergegenwär-tigen. Normalerweise steigen die Arbeitslosenzahlen imFebruar an. In diesem Jahr gab es sogar einen Rückgangim Vergleich zum Vormonat Januar.Zeitgleich wächst die Zahl der Beschäftigten deutlich.Fast 600 000 Menschen mehr als im vergangenen Jahrhatten einen sozialversicherungspflichtigen Job – unddas vor dem Hintergrund der Unkenrufe, dass der Min-destlohn eine Massenarbeitslosigkeit produzieren würde.
Ich sage Ihnen: Der Arbeitsmarkt entwickelt sich derzeithervorragend.Es ist aber natürlich auch richtig, dass wir bei allerFreude darüber unsere eigentlichen Hausaufgaben alsArbeitsmarktpolitiker nicht vergessen dürfen. Wir müs-sen auch an diejenigen denken, die von den positivenArbeitsmarktentwicklungen bislang noch nicht profitie-ren, und das sind natürlich vor allem die Langzeitarbeits-losen. Sie stehen ganz oben auf unserer Agenda. Dazuhätte es des Antrags der Grünen wahrlich nicht bedurft.
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8676 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Matthias Bartke
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Arbeitsministerin Andrea Nahles hat bereits im letztenJahr ihr Konzept zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslo-sigkeit vorgestellt, und das war keine Eintagsfliege. Vor-gestern hat es zu diesem Konzept eine Fachtagung imBundesarbeitsministerium gegeben.
Mit dabei waren Vertreter der Bundesländer, der Wohl-fahrts- und Sozialverbände, der Sozialpartner und ande-rer Einrichtungen. Man sieht: Es sind all diejenigen be-teiligt, die einen täglichen Einblick in die Materie haben.Gemeinsam werden wir so einen effektiveren Ansatzentwickeln, um Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarktund in die Gesellschaft zu integrieren.
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich sagees Ihnen ganz offen: Ihr Antrag liest sich in vielen Teilendurchaus gut.
Das liegt natürlich vor allem daran, dass er sich von un-serem Konzept nicht wesentlich unterscheidet.
Sie fordern in mancher Hinsicht „ein bisschen mehr“,„ein bisschen länger“, „ein bisschen umfangreicher“.Das gehört sich als Opposition auch so.
Dazu, dass Sie schreiben, unser arbeitsmarktpoliti-sches Konzept sei eine Fortsetzung der gescheitertenPolitik der Vorgängerregierung, kann ich aber nur sagen:Unfug!
Die Politik von Schwarz-Gelb war gekennzeichnet vonKürzungen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik.Nichts anderes war nach dem damaligen Koalitionsver-trag auch zu erwarten. Ich zitiere die sehr kurze Passagezur Langzeitarbeitslosigkeit im damaligen Koalitions-vertrag:Die Koalition wird … die Voraussetzungen dafürschaffen, dass neue Lösungsansätze des „Fördernsund Forderns“ in größeren Kommunen erprobt wer-den können. Das Prinzip wird konsequent und fürdie öffentliche Hand kostenneutral umgesetzt.Kostenneutral! Das war die Handschrift der verbliche-nen FDP.
Die Passage zur Langzeitarbeitslosigkeit in unseremaktuellen Koalitionsvertrag kann ich Ihnen nicht vortra-gen, da das meine Redezeit sprengen würde. Allein dasist doch schon ein Zeichen, und Sie wissen: Der Koali-tionsvertrag wird umgesetzt. Ich zitiere hier nur den zen-tralen Satz:Deshalb wollen wir … Langzeitarbeitslose ver-stärkt in existenzsichernde Arbeit vermitteln, siepassgenau qualifizieren und begleiten sowie bei Be-darf auch nachgehend betreuen und dafür die not-wendigen Rahmenbedingungen schaffen.
Genau das tun wir, und genau das spiegelt sich auch imvorgelegten Konzept zum Abbau der Langzeitarbeitslo-sigkeit wider.Was wir tatsächlich nicht realisieren werden, Sie aberfordern, ist der Passiv-Aktiv-Transfer. Ich finde, hier istIhre Kritik wirklich berechtigt. Wenn Sie das SPD-Wahl-programm gelesen haben,
dann wissen Sie auch, dass wir das ebenfalls wollten.
Aber so ist das nun einmal in Koalitionen: Man mussAbstriche machen. Wenn der Finanzminister Nein sagt,dann gilt das – zumindest bis auf Weiteres.
Eines ist klar: Wir werden das Thema wieder auf dieAgenda setzen, wenn sich die Möglichkeit dafür bietet.
Bei allem Ärger darüber ist die öffentlich geförderteBeschäftigung dennoch Teil unseres Konzepts.
Dazu tragen sowohl das ESF-Programm als auch dasBundesprogramm zur sozialen Teilhabe am Arbeits-markt bei. Weiter wird es eine bessere Betreuung in denAktivierungszentren geben. Das Stichwort ist hier: ganz-heitliche, maßgeschneiderte Herangehensweise. Das giltbeschäftigungsvorbereitend und beschäftigungsbeglei-tend. Es ist also auch an eine Nachbetreuung gedacht.Sie thematisieren die zum Teil wenig nachhaltige Ver-mittlung. Ich stimme zu: Auch ich kann es nur befürwor-ten, wenn Vermittlung keinen zwingenden Vorrang vorWeiterbildung hat. Aber ich sage Ihnen: Das ist auchjetzt schon nicht der Fall. In § 4 SGB III ist ausdrücklichgeregelt, dass der Vermittlungsvorrang dann nicht gilt,wenn aktive Arbeitsförderungsmaßnahmen für eine dau-erhafte Eingliederung notwendig sind.
Eine konsequente Umsetzung dieses Grundsatzes ist da-her viel sinnvoller, als eine Rechtsänderung zu fabrizie-ren, die es ohnehin schon gibt. Ähnlich ist es übrigensauch im SGB II geregelt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8677
Dr. Matthias Bartke
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Richtig ist auch, dass Bildungsprämien und Teilzeit-qualifizierung in unserem Konzept nicht explizit genanntsind. Aber im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrie-ben, dass das Programm „Die 2. Chance“ weitergeführtwird und die entsprechenden finanziellen Rahmenbedin-gungen für die Teilnehmer verbessert werden. Das wer-den wir auch machen.
– Genau. – Ich rate Ihnen: Unterstützen Sie das Konzeptunserer Arbeitsministerin Andrea Nahles. KonzentrierenSie sich nicht darauf, es nur schlechtzureden; das hilftnicht. Tragen Sie es mit. Ich sage Ihnen: Es lohnt sich.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Kai
Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Im Gegensatz zu
Anträgen von manch anderer Oppositionsfraktion macht
es mir heute wirklich Freude, mich mit dem Antrag der
Grünen-Fraktion auseinanderzusetzen.
Da ist wenigstens Fleisch am Knochen. Sie sprechen in
der Tat – das kann man einmal lobend erwähnen – einige
wichtige Punkte an. Wenn man sich aber diesen Kno-
chen genau anschaut, dann merkt man, dass daran kein
Fleisch ist, sondern eher Tofu. Damit setzen Sie ihre For-
derung nach einem fleischfreien Donnerstag tatsächlich
um.
Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass die Politik für
die Langzeitarbeitslosen gescheitert sei. Diese Behaup-
tung ist schlicht falsch. Vor zehn Jahren gab es laut IAB
1,7 Millionen Langzeitarbeitslose in Deutschland. Heute
sind es circa 1 Million Menschen. Da können Sie sich
doch nicht ernsthaft hierhinstellen und sagen, es sei in
den letzten Jahren nichts passiert. Zugegeben: Wir sind
jetzt an einem Punkt angekommen, an dem es wirklich
um die ganz harten Fälle geht; das zeigt uns auch jede
Studie.
Nur, liebe Kollegen der Grünen, anstatt mich nur auf
die Aktenlage zu verlassen, bin ich jemand, der sich die
Faktenlage gerne vor Ort anschaut.
Im vergangenen Jahr hatte ich die Möglichkeit, für drei
Tage bei einem Langzeitarbeitslosen zu wohnen, mit
ihm einkaufen zu gehen, mit ihm zu essen und ihn zu
seiner Beschäftigungsgesellschaft zu begleiten. Das hat
mir das Exposure- und Dialogprogramm im Erzbistum
Trier ermöglicht.
Was habe ich gelernt? Ich habe gelernt, dass die be-
stehenden Beschäftigungsgelegenheiten den Betroffenen
überhaupt nicht helfen. Sie lernen keine Fähigkeiten für
den ersten Arbeitsmarkt. Das Schlimme ist: Auch die
Langzeitarbeitslosen wissen das. Sie sehen in ihrer Tä-
tigkeit überhaupt keine Perspektive oder irgendeinen
Sinn. Das hat mich schon sehr nachdenklich gemacht.
Was habe ich noch gelernt? Ich habe gelernt, dass die
meisten Betroffenen mit ihren Problemen komplett al-
leinegelassen werden, egal ob es um Sucht, Schulden
oder familiäre Probleme geht. Wir Politiker nennen das
ganz technisch Vermittlungshemmnisse. Aber diese
Hemmnisse sind sehr individuell: Sie haben oft mit psy-
chischen und physischen Einschränkungen zu tun. Wir
tun noch viel zu wenig, um den Menschen bei ihren Pro-
blemen zu helfen.
Eine wichtige Sache habe ich auch noch gelernt. Viele
verschiedene Akteure kümmern sich um Langzeitar-
beitslose. Da weiß die rechte Hand oft nicht, was die
linke tut. An dieser Stelle wünsche ich mir mehr Zusam-
menarbeit und eine bessere Abstimmung der Akteure.
Mein Fraktionsvorsitzender sagt immer: Politik be-
ginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. – Die span-
nende Frage ist jetzt: Welche Lösungen bietet Ihr Antrag
für die Probleme dieser Wirklichkeit an? Sie bieten
nichts anderes als das alte Konzept des sozialen Arbeits-
markts. Ich persönlich bin kein Freund des Begriffs „so-
zialer Arbeitsmarkt“. Denn mit dieser Idee machen Sie
ganz klar, dass die Menschen für den ersten Arbeits-
markt nicht mehr zu gebrauchen sind, und als Trostpflas-
ter bekommen sie dafür noch staatliche Betreuung. Da-
mit schreiben Sie über 400 000 Menschen in diesem
Land schlicht und ergreifend ab.
Deshalb frage ich Sie, liebe Kollegen: Was für ein Men-
schenbild haben Sie eigentlich? Wollen Sie wirklich die
Menschen nur beschäftigen, damit sie aus der Statistik
herausfallen? Das ist nicht unsere Politik in der Union.
Herr Kollege Whittaker, gestatten Sie eine Zwischen-
frage oder -bemerkung des Kollegen Kurth?
Ich würde gerne mit meiner Rede fortfahren.
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Okay, akzeptiert.
Dieses Signal zu senden, meine Damen und Herren,
wäre verheerend. Wir dürfen Langzeitarbeitslose nicht
einfach beschäftigen, sondern wir müssen ihnen die
Möglichkeit geben, sinnvollen Aufgaben nachzugehen.
Nur so gewinnen sie, glaube ich, auch Selbstvertrauen
und Selbstachtung. Auf einem sozialen Arbeitsmarkt
hingegen fühlen sich die Menschen auf ein Abstellgleis
abgeschoben. Dazu hätte ich in der Tat etwas mehr von
Ihnen erwartet, liebe Grüne.
Es gibt ohne Frage auch gute Ansätze – das wurde
schon angesprochen –, zum Beispiel das Coaching-Mo-
dell. Aber, Frau Kollegin Pothmer – Sie kommen aus
Niedersachsen; da haben Sie mit Fasching nicht so viel
zu tun –, bei uns im Badischen sagt man: Da kommen
Sie wie die alte Fasnacht hinterher. Denn genau diesen
Ansatz hat die Bundesregierung im November bereits
vorgestellt. In dem Fünf-Punkte-Programm sind diese
Komponenten ganz klar enthalten. Dafür möchte ich der
Bundesregierung ganz herzlich danken.
Aber bei Ihrer Forderung nach Coaching sind für mich
wichtige Fragen noch nicht geklärt: Was bringt uns denn
eine bessere Begleitung, wenn wir die daraus gewonne-
nen Erkenntnisse nicht nutzen können? Wie soll denn
ein Coaching-Modell funktionieren, wenn die betreuen-
den Einrichtungen ihre jeweiligen Informationen nicht
austauschen dürfen? Jede Einrichtung arbeitet vor sich
hin, und keiner weiß, was der andere tut. An dieser Stelle
müssen wir ansetzen und Wissen bündeln. Aber in Ihrem
Antrag findet sich davon gar nichts. Ich habe den Ein-
druck: Sie scheuen den Konflikt mit Ihren lieben Vertre-
tern in den Landesregierungen oder auch mit dem Daten-
schutz. Denn dieser wäre in der Tat davon berührt.
Liebe Kollegen von den Grünen, was hätte ich mir
von Ihrem Antrag sonst noch gewünscht? Ich hätte mir
gewünscht, dass Sie Möglichkeiten aufzeigen, wie man
Langzeitarbeitslose näher an den ersten Arbeitsmarkt he-
ranführt. Ein Blick in das SGB zeigt, welche sinnvollen
Instrumente es schon gibt. Ich finde, dass das SGB IX
mit den Integrationsfirmen für behinderte Menschen
durchaus eine Möglichkeit bietet. In der Stadt Gaggenau
in meinem Wahlkreis gibt es die Lebenshilfe, die für
Daimler und Bosch Produkte herstellt. Das ist in der Tat
ein unternehmerischer Ansatz, den man vielleicht aus-
weiten könnte. Ich wäre dazu bereit.
Wenn wir die Langzeitarbeitslosen in Deutschland
wirklich wieder in den Arbeitsmarkt integrieren wollen,
dann müssen wir uns Folgendes klarmachen: Nicht die
Integration durch Beschäftigung, sondern die Integration
durch Arbeit hilft. Wir als Union möchten Dauerarbeits-
lose nicht auf einem Placebo-Arbeitsmarkt festhalten,
sondern ihnen eine echte Chance auf dem ersten Arbeits-
markt geben. Dafür setzen wir uns ein.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention
erhält jetzt der Kollege Markus Kurth.
Herr Whittaker, Sie haben am Ende Ihrer Rede noch
einmal gesagt, wir würden den Langzeitarbeitslosen nur
einen Placebo-Arbeitsmarkt anbieten und 400 000 Men-
schen vom ersten Arbeitsmarkt fernhalten. Wenn Sie
schon erwähnen, dass Politik mit dem Betrachten der
Wirklichkeit beginnt, dann nehmen Sie doch auch zur
Kenntnis, dass in der Bundesagentur für Arbeit, in den
Jobcentern vor Ort und bei den Wohlfahrtsverbänden
seit Jahren weithin bekannt ist, dass es eine Gruppe von
150 000 bis 450 000 Personen gibt, die in ihrer gegen-
wärtigen Verfassung, egal was sie machen, ungefördert
keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt, so wie er ist,
haben.
Wenn absehbar ist, dass sowieso auf Jahre hinaus Ar-
beitslosengeld II gezahlt werden muss und – Sie haben
es selbst angesprochen – Arbeitsgelegenheiten in diesen
Fällen nicht funktionieren, ist es dann nicht sinnvoller,
dieses Geld als personenbezogene Unterstützung bzw.
als Nachteilsausgleich, als Ausgleich für Wettbewerbs-
nachteile, einzusetzen und diesen Menschen beispiels-
weise in einem Integrationsbetrieb oder in anderen spe-
ziellen Betriebsformen Arbeit – keine Beschäftigung –
und Verdienst zu ermöglichen?
Das ist der sogenannte Passiv-Aktiv-Transfer, der in-
zwischen in allen Fraktionen, wenn auch nicht überall
mehrheitlich, Anhängerinnen und Anhänger hat und in
mehreren Bundesländern ausprobiert wird. Das ist das
Modell, das wir von den Integrationsbetrieben für Men-
schen mit Behinderung vom Grundsatz her kennen, das
wir auch als Budget für Arbeit kennen. Es handelt sich
hier mitnichten um ein Placebo, sondern um einen quali-
tativ neuen Ansatz. Ich wünsche mir so sehr, dass uns
endlich der Durchbruch gelingt, dass wir von der Sozial-
politik auf die Finanz- und Haushaltspolitiker einwirken,
damit dieser Passiv-Aktiv-Transfer endlich ermöglicht
wird. Das wird viele gesellschaftliche Folgekosten und
auch Haushaltskosten, beispielsweise im Gesundheitsbe-
reich, sparen und den Menschen eine Menge bringen.
Vielen Dank. – Möchten Sie darauf antworten, Herr
Kollege Whittaker?
Ja.
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Bitte schön.
Herr Kollege Kurth, Sie sind Rheinländer, und als
Rheinländer ist man durchaus etwas katholischer als an-
dere.
– Gut, Dortmund.
– Das wollte ich doch sagen; Sie sind gebürtiger Rhein-
länder. – Sie sind katholischer als manch anderer, aber
Sie sollten vielleicht nicht jede Monstranz, die Ihnen die
Verbände in die Hand drücken, vor sich hertragen. Der
PAT ist tatsächlich eine solche Monstranz. Das ist ein
Mittel zum Zweck. Wir können darüber streiten, ob wir
ihn ausprobieren wollen, aber er wird die Probleme nicht
sofort lösen, wie Sie glauben.
Sie haben ein anderes Verständnis. Sie schreiben
– das ist die Schlussfolgerung aus Ihrem Antrag –
200 000 bis 400 000 Menschen einfach ab, weil Sie sa-
gen, dass sie nichts können.
– Das steht definitiv in Ihrem Antrag. – Wir haben ein
unterschiedliches Menschenbild. Wir sollten versuchen,
diese Menschen Schritt für Schritt wieder zu aktivieren
und an den ersten Arbeitsmarkt heranzuführen. Wir müs-
sen die Probleme, die sie individuell haben, lösen, und
dann müssen wir die Menschen in arbeitsmarktnahe Be-
schäftigung bringen. Wir dürfen sie aber nicht dauerhaft
subventionieren; denn damit ist niemandem geholfen.
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist
jetzt der Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Insgesamt überwiegen derzeit die guten Nachrichten auf
dem Arbeitsmarkt. Die Entwicklung auf dem Arbeits-
markt bleibt positiv. Mit 30,5 Millionen Menschen
haben wir den höchsten Stand an sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigung. Im Dezember 2014 hat diese
um noch einmal knapp 600 000 gegenüber dem Vorjahr
zugenommen. Auch Arbeitslosigkeit und Unterbeschäf-
tigung sind im Vergleich zum Vorjahr merklich gesun-
ken.
Noch deutlicher wird das bei einem langfristigen Ver-
gleich. Wir haben seit 2005 einen stetigen Anstieg der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung um über
4 Millionen. Die Arbeitslosenquote ist seit 2005 deutlich
gesunken, und zwar von fast 12 Prozent auf knapp
7 Prozent. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist von
4 Prozent im Jahr 2007 auf heute ungefähr 2,5 Prozent
gesunken. Vor allem die Entwicklung, die wir früher hat-
ten, nämlich dass von Konjunkturzyklus zu Konjunktur-
zyklus die Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland immer
zugenommen hat, haben wir durchbrochen. Das zeigt
den Erfolg der Arbeitsmarktreformen, die Rot und Grün
gemeinsam durchgesetzt haben. Dazu hätten Sie in Ih-
rem Antrag auch etwas schreiben können.
Herr Kollege Rosemann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Pothmer?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin Pothmer.
Herr Rosemann, Sie haben gerade darauf hingewie-
sen, dass die Langzeitarbeitslosigkeit zurückgegangen
ist. Haben Sie in Ihre Berechnung auch einbezogen, dass
die Gruppe der Älteren nach § 53 a SGB II dann, wenn
sie ein Jahr kein Beschäftigungsangebot erhält, aus der
Statistik ausgesteuert wird? Wenn Sie diese Gruppe ein-
beziehen, dann ist die Langzeitarbeitslosigkeit in den
letzten Jahren um 0,6 Prozent zurückgegangen, während
die Mittel für die Förderung der Arbeitslosen um 40 Pro-
zent zurückgegangen sind.
Frau Kollegin Pothmer, ich will nicht verschweigen,dass es nicht in allen Gruppen so eine positive Entwick-lung gibt. Aber Sie müssen dazusagen, dass wir gleich-zeitig mit den Arbeitsmarktreformen auch an andererStelle Reformen durchgeführt haben, dass Frühverren-tungsmöglichkeiten abgeschafft worden sind und dassdamit sehr viel mehr ältere Menschen als vorher auf demArbeitsmarkt sind. Auch deswegen hat die Zahl der Be-schäftigten zugenommen. Gleichzeitig sind damit natür-lich – diesem Problem muss sich auch die Politik stellen –mehr Ältere von Arbeitslosigkeit betroffen. Das hat et-was damit zu tun, dass wir damals gemeinsam und, wieich finde, gerechterweise Möglichkeiten der Frühverren-tung beseitigt haben.
Ich will ausdrücklich feststellen, dass der Rückgangder Langzeitarbeitslosigkeit stagniert. Viele langzeitar-beitslose Menschen profitieren eben nicht von der gutenwirtschaftlichen Entwicklung und finden den Weg in denArbeitsmarkt eben nicht zurück. Die Vermittler und Fall-
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8680 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Martin Rosemann
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manager im Wirkungskreis des SGB II sehen sich einerKundengruppe mit zunehmend komplexen und verfes-tigten Problemlagen gegenüber. Natürlich ist es unserZiel, diesen Menschen wieder eine Perspektive auf demArbeitsmarkt zu geben. Dabei ist aber klar: Es gibt ebennicht den typischen Langzeitarbeitslosen. So werden wireben auch nicht die eine Maßnahme finden, die allenLangzeitarbeitslosen gerecht wird und alle wieder in denArbeitsmarkt bringt. Vielmehr brauchen wir individuelleund passgenaue Förderung.
Die alleinerziehende Mutter ohne Ausbildung, die Pro-bleme mit der Kinderbetreuung hat, braucht eben andereAngebote als der ältere langzeitarbeitslose Bauarbeitermit gesundheitlichen Einschränkungen. Gerade hier giltes, unser Förderversprechen, das wir mit dem SGB II ge-geben haben, umzusetzen. Hierfür brauchen wir bessereRahmenbedingungen für Beratung und Betreuung in denJobcentern und flexible, passgenaue Antworten.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,wie Sie sehen, liegen Ihre Problemanalyse und meineProblemanalyse nicht so weit auseinander. Unsere Bun-desarbeitsministerin, Andrea Nahles, hat im Gegensatzzu dem, was Sie hier darstellen, genau dieses Problemerkannt
und setzt mit ihrem Konzept zur Bekämpfung der Lang-zeitarbeitslosigkeit genau dort an. Das vorgelegte Kon-zept unterstützt die Jobcenter dabei, auf die vielfältigenProblemlagen ihrer Kundinnen und Kunden individuellund passgenau zu reagieren. Wir verbessern die Rah-menbedingungen für die Arbeit in den Jobcentern durchbessere personelle Ausstattung. Ich erinnere nur an die1 000 Stellen, die bisher beim auslaufenden Programm„Perspektive 50plus“ angesiedelt waren und die für dieAktivierungszentren, die eingerichtet werden, zur Verfü-gung stehen. Wir stabilisieren das Personal. Wir setzenauf Personalentwicklung und Qualifizierung. Wir wer-den das Vergaberecht weiterentwickeln, damit Qualitätbei den Vergaben eine größere Rolle spielt.
Wir statten die Jobcenter finanziell besser aus; das istschon angesprochen worden. Unter Schwarz-Gelb wur-den Eingliederungstitel und Verwaltungstitel immer wei-ter gekürzt. Das haben wir umgekehrt.
Für 2015 stehen wie bereits für 2014 350 MillionenEuro Restmittel zur Verfügung. Die Pro-Kopf-Ausga-ben für Eingliederung und Verwaltung erreichen imJahr 2015, übrigens erstmals seit 2010, wieder mehr als2 000 Euro.Außerdem ermöglichen wir passgenaue Lösungendurch engere Verzahnungen von Arbeitsförderung undGesundheitsförderung, durch gezielte Akquise von Stel-len für Langzeitarbeitslose mit begleitendem Coachingund Nachbetreuung und durch das schon mehrfach ange-sprochene Programm zur sozialen Teilhabe von Men-schen, die keine direkte Chance auf dem ersten Arbeits-markt haben.Richtig ist, meine Damen und Herren: Mehr als dieHälfte der arbeitslosen SGB-II-Empfänger hat keineAusbildung. Natürlich sind hier Weiterbildung und Qua-lifizierung wichtige Stellschrauben. Ich will aber daraufhinweisen, dass wir den Paradigmenwechsel schon ein-geleitet haben. Das zeigen beispielsweise die Programm-initiative „Spätstarter gesucht“ – da machen wir weiter –,und das zeigt auch, dass Themen, die Sie in IhremAntrag zu Recht angesprochen haben, wie die Weiter-bildungsprämie, auf der Tagesordnung dieser GroßenKoalition stehen.
Liebe Frau Pothmer,
Sie ähneln wieder einmal dem Hasen in dem MärchenDer Hase und der Igel. Ich muss Ihnen sagen: Da, woSie hinlaufen, sind wir schon.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
das Wort Dr. Astrid Freudenstein.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wer die Debatteverfolgt hat, weiß, dass wir uns hier im Parlament ziem-lich einig in der Diagnose sind: In unserem Land lebenzu viele Menschen, die nur eine geringe Chance haben,auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Wir teilen auch ge-meinsam die Sorge um diese Menschen, und wir sehenauch alle gemeinsam einen Handlungsbedarf. Wir alsGroße Koalition haben deshalb im Koalitionsvertrag ei-nen Schwerpunkt auf ebendiese Personengruppe gelegt.Auch die Bundesregierung hat in ihrem ersten Jahr dieBekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem ihrerobersten Ziele ernannt. So einig wir uns aber in der Dia-gnose sind: Unsere Vorstellungen darüber, wie man die-ses Problem lösen kann, sind doch nicht ganz gleich.Durch den Beschluss der Hartz-Gesetze durch dieSPD und die Grünen – das erkennen wir durchaus an –gab es den notwendigen Impuls für einen Wandel derArbeitsmarktpolitik. Ein effizienteres Verwaltungssys-tem und ein gesundes Verhältnis zwischen Fördern undFordern hielten Einzug. Für die Erfolge dieser Gesetzewerden wir noch heute in weiten Teilen Europas bewun-dert.
Wie schon festgestellt, braucht es für einen bestimm-ten Personenkreis mit mehreren bzw. multiplen Vermitt-
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Dr. Astrid Freudenstein
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lungshemmnissen etwas mehr Förderung. Denn währenddie Zahl der Arbeitslosen insgesamt seit 2005 stark ge-sunken ist, blieb die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit2010 fast auf einem Niveau. Daran wollen wir natürlichetwas ändern.Wir sind das Problem schon angegangen. Mit der Initia-tive gegen Langzeitarbeitslosigkeit sollen die Chancenfür diesen speziellen Personenkreis deutlich verbessertwerden, und ihre soziale Teilhabe soll gesichert werden.Es gibt zum einen das ESF-Programm zur EingliederungLangzeitarbeitsloser, das mit fast 900 Millionen Euroausgestattet ist. Damit werden besonders jene unter-stützt, die keinen verwertbaren Berufsabschluss haben.In diesem Zusammenhang muss auch auf die Pro-gramme der Berufseinstiegsbegleitung und der assistier-ten Ausbildung hingewiesen werden. Mit ihnen soll dortgeholfen werden, wo der Schulabschluss oder die Be-rufsausbildung in Gefahr sind. Beides sind Fundamenteeines Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt. Hier setzen wiralso auf Vorbeugung bzw. Prävention, damit junge Men-schen erst gar nicht in die Langzeitarbeitslosigkeit fal-len.
Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Zimmermann?
Ja, bitte.
Bitte schön, Frau Zimmermann.
Vielen Dank, Frau Dr. Freudenstein, dass Sie diese
Frage zulassen. – Sie sprachen davon, dass Sie ein Pro-
gramm auf den Weg gebracht haben. Es gibt 1 Million
langzeiterwerbslose Menschen. Die zwei Programme,
die jetzt von Frau Nahles vorgestellt worden sind, betref-
fen 43 000 Menschen. Was machen wir denn mit den an-
deren Menschen, die auch langzeiterwerbslos sind?
Wir werden in unserem Kampf gegen die Langzeit-
arbeitslosigkeit nicht aufgeben. Ihr Versuch, uns hier
so etwas zu unterstellen, geht ins Leere, Kollegin
Zimmermann. Ich werde noch ausführen, was wir tun
können.
– Ja, das ist so. Sie unterstellen uns hier etwas, was nicht
der Fall ist.
Es ist, glaube ich, auch in der bisherigen Debatte sehr
deutlich geworden, dass uns das Thema Langzeitarbeits-
losigkeit in der Koalition sehr umtreibt. Wir brauchen,
glaube ich, keinen Hinweis auf dieses Problem.
All diese Instrumente eint, dass sie auf eine intensi-
vere Beratung und Betreuung setzen, dass sie auf die in-
dividuelle Lebenssituation der arbeitslosen und leis-
tungsschwachen Jugendlichen eingehen und diese dabei
unterstützen, einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeits-
markt zu finden und zu behalten.
In Ihrem Antrag schlagen Sie nun vor, die öffentlich
geförderte Beschäftigung deutlich auszubauen. Dabei ist
mir wichtig, zu beachten: Eine öffentlich geförderte Be-
schäftigung kann einem regulären Arbeitsverhältnis
nicht gleichgesetzt werden. Öffentlich geförderte Arbeit
birgt auch immer die Gefahr, in dieser Situation zu
verharren. Die Prüfung der Abwicklung des Bundespro-
gramms „Bürgerarbeit“ durch den Bundesrechnungshof
hat gezeigt, dass sich Jobcenter, Arbeitgeber und Teil-
nehmer häufig in dieser Bürgerarbeit sozusagen einge-
richtet haben. Jedenfalls sind die Chancen der Teilneh-
mer, auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzukommen, nicht
wirklich gestiegen.
Ihr Ansatz birgt die Gefahr, dass er nicht mehr ist als
eine Kulisse. Diese sieht zwar von vorne ganz gut aus,
und auf diese geht man auch gerne zu. Am Ende aber ist
das Ganze eben doch ein recht instabiles Gebilde. Es
fehlt die stabile Brücke in den ersten Arbeitsmarkt.
400 000 arbeitslose Menschen in Deutschland sozusagen
pauschal abzuschreiben, das halte ich ebenso wie meine
Vorredner für falsch.
Öffentlich geförderte Beschäftigung soll die Aus-
nahme bleiben. Es soll sie nur für einen kleinen Perso-
nenkreis geben. Der erste Arbeitsmarkt muss das Ziel je-
der Maßnahme bleiben.
Ich möchte auf ein Modellprojekt verweisen, dass es
bei uns in Bayern, in Amberg, in der Oberpfalz, gibt. Ich
finde dieses Projekt, bei dem es um Alleinerziehende
ging, sehr schön. Es wurde ein ganzheitlicher Ansatz
verfolgt mit dem Ziel, die Hilfebedürftigkeit der gesam-
ten Familie zu beenden. Das ganze soziale Umfeld
wurde einbezogen: durch Unterstützung bei der Suche
nach Kinderbetreuung zum Beispiel, bei der Akquise
von Ausbildungsplätzen oder bei der Integration in den
Arbeitsmarkt. Durch ein sehr intensives Coaching konn-
ten – mit Unterstützung des bayerischen Arbeitsministe-
riums – drei Viertel der teilnehmenden Alleinerziehen-
den auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen. Dieses
Erfolgsprojekt zeigt, wie viel mit individuellen Integra-
tionsstrategien erreicht werden kann. Ich meine, dass wir
auf diesem Weg weitergehen sollten.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3918 an den Ausschuss für Arbeit und
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Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Bevorrechtigung der Verwendung
Drucksache 18/3418Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/4174b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur zu dem Antrag derAbgeordneten Stephan Kühn , LisaPaus, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENElektromobilität entschlossen fördern – Chancefür eine zukunftsfähige Mobilität nutzenDrucksachen 18/3912, 18/4229Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen.
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-regierung hat der Parlamentarische Staatssekretär NobertBarthle.
N
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Voreinem Jahr haben wir uns dafür entschieden, ein Elektro-mobilitätsgesetz auf den Weg zu bringen, um damitneuen Schwung in dieses Thema und auf DeutschlandsStraßen zu bringen. Heute haben Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen, die Gelegenheit, in der zweiten und drit-ten Lesung mit einer kraftvollen Zustimmung zu diesemGesetzentwurf dafür zu sorgen, dass dieser Schwungauch zustande kommt.
Ende des Jahres 2014 haben wir die Marktvorberei-tungsphase abgeschlossen und Bilanz gezogen. Derzweite Fortschrittsbericht der Nationalen Plattform Elek-tromobilität hat uns bescheinigt, dass diese erste Phasedurchaus erfolgreich verlaufen ist. Jetzt befinden wir unsin einer ganz wichtigen Zeitspanne – es steht eine ArtZäsur an –; denn jetzt beginnt die Markthochlaufphase.Das ist die entscheidende Herausforderung. Wir müssenalles tun, um die Dynamik, die in diesem Markt besteht,zu erhalten und zu verstärken. Wir haben derzeit immer-hin einen Gesamtbestand von rund 24 000 rein elektrischoder extern aufladbaren Elektro-Pkw auf unseren Stra-ßen. Allein im Jahr 2014 wurden 9 500 neu zugelassen.
Damit hat der Gesamtbestand um 70 Prozent zugenom-men. Das ist eine Erfolgsbilanz, die sich sehen lassenkann.
– Doch. Darüber sind sich auch die Fachleute einig.Die deutschen Automobilhersteller haben inzwischen17 Modelle auf den Markt gebracht. Allein in diesemJahr sollen 12 weitere hinzukommen. Ich will durchauseingestehen, dass es in einzelnen Marktsegmenten nochNachholbedarf gibt.
Das ist etwas einseitig ausgerichtet, aber dieses Themamuss die Wirtschaft regeln. Wir werden dafür sorgen,dass dieser Markthochlauf mit aller Kraft unterstütztwird. Dieses Elektromobilitätsgesetz schafft dafür dienotwendigen Rahmenbedingungen.
Wir steigern die Attraktivität für die Nutzer, und wirschaffen Privilegien im allgemeinen Straßenverkehr. Esgibt für die Länder und Kommunen bezüglich der Be-vorrechtigungen entsprechende Handlungsspielräume.Wir schaffen damit neue Chancen. Wir wollen keinePflichten, Regeln oder Vorschriften einführen, sondernChancen eröffnen,
um auf der Ebene der Städte und Gemeinden vor Ort ge-zielt die Regelungen zu treffen, die ganz konkret dieElektromobilität begünstigen und damit einen Schub er-zeugen. Wir schaffen die Rechtsgrundlage für eine klareund eindeutige Kennzeichnung dieser Fahrzeuge. Wirschaffen Rechtsgrundlagen, die wir später mit Verord-nungen näher ausgestalten werden. Wir legen großenWert darauf, dass diese Verordnungen rasch vorliegen,möglichst noch vor der Sommerpause in Kraft treten, da-mit alles entsprechend umgesetzt werden kann.
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Parl. Staatssekretär Norbert Barthle
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Mit diesem Gesetzentwurf definieren wir auch, wel-che Fahrzeuge bevorrechtigt werden können: reine Bat-terieelektrofahrzeuge, Brennstoffzellenfahrzeuge. Aberauch die sogenannten Plug-in-Hybride werden entspre-chend behandelt. Wir wollen gleichzeitig sicherstellen,dass damit entsprechende Umweltvorteile verbundensind; denn das ist der eigentliche Grund der Bevorrechti-gung. Deshalb hat man für die aufladbaren Hybridfahr-zeuge bestimmte Umweltkriterien eingeführt. Sie dürfennur dann die Privilegien nutzen, wenn ihr CO2-Ausstoßhöchstens 50 Gramm pro Kilometer beträgt oder wennsie mindestens eine elektrische Reichweite von 40 Kilo-metern vorweisen können. Bis 2018 haben wir eineÜbergangszeit mit einer Mindestreichweite von 30 Kilo-metern. Ich glaube, das sind Regelungen, die praktikabelund nachvollziehbar sind.Der Entwurf der Verordnung sieht vor, dass die Kenn-zeichnung mittels E-Kennzeichen erfolgt. Damit ist aufden ersten Blick klar erkennbar, welche Fahrzeuge diePrivilegien nutzen dürfen. Ausländische Fahrzeuge ha-ben dann die Möglichkeit, eine Plakette zu erwerben, umdie Privilegien ebenfalls in Anspruch nehmen zu kön-nen. Das dürften, meine Damen und Herren, relativ we-nige sein.Mit dem Elektromobilitätsgesetz wird die Möglich-keit geschaffen, die Parkraumbewirtschaftung auf kom-munaler Ebene entsprechend zu gestalten, sei es mitPreisermäßigungen oder besonderen Zufahrtsberechti-gungen dort, wo aus Lärmschutzgründen Zufahrtsbe-schränkungen eingeführt wurden. Ich erinnere an zahl-reiche Luftkurorte, Erholungsgebiete, Wohngebiete undÄhnliches mehr, wo wir solche Regelungen haben. Wirhaben damit die Möglichkeit geschaffen, kommunal dasRichtige zu tun – bis hin zur Freigabe der Busspuren fürElektrofahrzeuge. Damit hat übrigens Norwegen sehrgute Erfahrungen gemacht. Wenn die Busspuren zu sehrin Anspruch genommen werden, können die Kommunenreagieren und es entsprechend regeln.Wenn von den Grünen vorgetragen wird, dass siekeine Porsche Cayenne auf diesen Spuren sehen wollen,dann kann ich nur anmerken: Es gibt in ganz Deutsch-land gerade mal 100 hybride Porsche Cayenne. Einensolchen auf einer Busspur zu finden, ist schon fast einSechser im Lotto. Insofern sieht man an dieser Stelle,wie weltfremd teilweise die Argumente von Ihrer Seitesind.
Während der Beratungen haben die Koalitionäre nocheinige Veränderungen eingebracht. Darüber werde ichjetzt nichts sagen. Das überlasse ich meinem KollegenSteffen Bilger. Er wird Ihnen erläutern, was im parla-mentarischen Verfahren noch geändert worden ist.Ich kann nur sagen: Diesem ersten Schritt, dem Elek-tromobilitätsgesetz, werden weitere Schritte folgen. Wirwerden weitere bestehende Hemmnisse abbauen. Ich willnur erwähnen, dass das BMVI gemeinsam mit Tank & Rastbeabsichtigt, Schnellladestationen an rund 430 bewirt-schafteten Raststätten an Bundesautobahnen zu errichten.Das wird dafür sorgen, dass entsprechende Ladekapazitä-ten vorhanden sind; denn die begrenzte Reichweite istnach wie vor ein Problem.Es gibt noch weitere Hemmnisse. Ich habe es am ei-genen Leib verspürt: Wenn ich mich nach einemDienstfahrzeug mit Elektroantrieb erkundige, dannwird mir erklärt, dass die kleinen E-Fahrzeuge einemehrfach höhere Leasingrate haben als große Premium-modelle der Oberklasse. Auch hier stimmt etwas nicht.Da muss man bestehende Hemmnisse beseitigen.
Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingen wird.Danke.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege
Andreas Rimkus, SPD-Fraktion.
– Entschuldigung. – Thomas Lutze.
Frau Präsidentin, ich dachte schon, ich hätte gerade
etwas falsch gemacht, als ich aufgestanden bin; aber es
war ausnahmsweise nicht so.
Nein. Entschuldigung! Sie waren hier schon ausge-
strichen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Präsidentin! Auch auf die Gefahrhin, hier jetzt der Spielverderber zu sein: Sie fordern– auch die Grünen in ihrem Antrag –, Elektromobilitätkünftig stärker zu fördern. Medial betrachtet ist es natür-lich so: Die von Ihnen vorgesehene Freigabe der Bus-spuren und die Einräumung der Möglichkeit des kosten-losen Parkens für Elektroautos in Innenstädten sindwesentliche Punkte, die gerade in der Öffentlichkeit dis-kutiert werden. In der Ausschussanhörung waren vieleFachleute, auch aus den Kommunen. Sie sagten uns: Esgibt gerade einmal zwölf Städte in Deutschland, dieernsthaft prüfen, das Gesetz, das wir heute verabschie-den wollen, umzusetzen. Dass zwölf Städte es prüfen,heißt noch lange nicht, dass es nachher auch zwölf
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Thomas Lutze
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Städte umsetzen – sie prüfen nur. Alle anderen Städte ha-ben abgewunken, zum Beispiel auch Berlin. Wir machenalso ein Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, dasdraußen so gut wie niemand braucht. Da frage ich malganz vorsichtig: Wozu eigentlich?
Wenn Sie schon nicht auf die Linke hören – das kannich ja verstehen –, dann hören Sie wenigstens auf denVerband Deutscher Verkehrsunternehmen, der ganzdeutlich davor gewarnt hat, Busspuren freizugeben.Schon heute sind auf Busspuren neben Bussen auch Ret-tungsfahrzeuge, Taxis, Fahrradfahrer und einige andereVerkehrsteilnehmer unterwegs – und das aus gutemGrund. Wenn jetzt auch noch Elektrofahrzeuge hinzu-kommen, dann hat die Busspur den eigentlichen Sinn,den sie mal hatte, ein Stück weit verloren.Ein wichtiger Knackpunkt ist für uns Linke – Sie ha-ben das gerade bildlich mit dem Porsche Cayenne darge-stellt –, dass auch Hybridfahrzeuge die Möglichkeit be-kommen sollen, die Busspuren zu nutzen. Da machenwir natürlich ein großes Fragezeichen dran. Es gibt dasBeispiel des Porsches; es gibt das Beispiel des Hybrid-fahrzeugs von BMW mit 350 PS und einem CO2-Aus-stoß von knapp 160 Gramm pro Kilometer. Ich sageganz deutlich: Selbst wenn man es auf sparsamere Hy-bridautos beschränken würde: Man kann es nachher imStraßenverkehr kaum noch auseinanderhalten, selbstwenn man eigene Kennzeichen einführt.Für mich stellt sich auch die Frage der Gerechtigkeit.Was erzählen Sie denn zum Beispiel jemandem, der sichvor kurzem ein Erdgasauto oder ein Autogasfahrzeugzugelegt hat? Er hat das sicherlich aus Geldgründen ge-macht, aber eben auch, um ein Fahrzeug zu nutzen, dastatsächlich etwas umweltfreundlicher ist. Diese Fahr-zeuge bleiben jetzt einfach außen vor. Warum sind dieHybridfahrzeuge drin, die Erdgasfahrzeuge aber nicht?Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten; aber viel-leicht kann das ein Redner der Koalition nach mir tun.Was passiert mit den Fahrgästen im öffentlichen Per-sonennahverkehr, wenn die Hybridautos auf der Busspurfahren? Da fährt vielleicht hinter solch einem Hybrid-auto ein Bus, in dem 50 Leute sitzen; das Hybridautowill von der Busspur nach rechts abbiegen, kann es abernicht, weil Fußgänger und Radfahrer die Fahrbahn kreu-zen. Dann müssen die 50 Fahrgäste des Stadtbusses war-ten, bis das Hybridauto oder das Elektroauto die Busspurverlässt. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das istkeine ökologische Verkehrswende, sondern das genaueGegenteil. Es behindert nämlich die Ökologie im Ver-kehr.
Hier im Deutschen Bundestag war heute bei der De-batte um den Mindestlohn immer wieder das Stichwort„Bürokratieabbau“ zu hören. Da sage ich Ihnen, denKollegen von der Koalition, gerade von der Union, mitaller Deutlichkeit: Wenn Bürokratieabbau für Sie einThema ist, dann stimmen Sie heute besser gegen Ihreneigenen Entwurf.
Man braucht neue Kennzeichen an den Autos – das istgerade angekündigt worden – und neue Verkehrsschil-der. Man muss die Verkehrsschilder austauschen. Manmuss den ganzen Quatsch, den Sie hier beschließen,nachher auch noch kontrollieren. Wenn es dann Leutegibt, die sich nicht an die Regeln halten, muss man dasauch noch sanktionieren. Das alles hat überhaupt nichtsmit Bürokratieabbau zu tun.Man muss aber auch die Frage stellen dürfen: Woherkommt bei der Elektromobilität eigentlich der Strom?
– Klar, aus der Steckdose. Keine Frage! – Aber davon,dass nach wie vor rund 25 Prozent des Stroms, der inDeutschland in die Netze eingespeist wird, aus Atom-kraftwerken ist, redet hier komischerweise niemand; eingroßer Anteil des Stroms kommt aus Kohlekraftwerken.Ob das unbedingt etwas mit Umweltschutz zu tun hat,versehe ich auch mit einem großen Fragezeichen.Wenn Sie ernsthaft etwas tun wollen, dann hätten wirzwei Vorschläge:Erstens. Fördern Sie die echte Elektromobilität, näm-lich den ÖPNV! Ganz nebenbei zwei Zahlen: 1838 gabes die erste Elektrolokomotive, 1881 die erste elektri-sche Straßenbahn. Zu dieser Zeit gab es noch gar keineAutos. Das, was ein bisschen so aussah wie ein Auto,hatte vorne zwei Pferde. Ich weiß nicht, ob das damalsmodern war. Die Elektromobilität gibt es also, wie ge-sagt, schon länger. Aber Spaß beiseite!Zweitens. Wenn sie wirklich die Elektromobilität för-dern wollen, dann fördern Sie endlich Forschung, Wis-senschaft und Technik, damit Batterien leichter und leis-tungsfähiger werden.Wenn Sie das hinbekommen, wenn Sie Geld für dieForschung in die Hand nehmen, dann – da gebe ich Ih-nen recht – werden vielleicht auch Elektroautos irgend-wann eine reale Zukunft auf dem Markt haben.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt hat Andreas Rimkus, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Ja,Herr Lutze, es ist in der Tat sehr lange her: Als in Berlin1881 die erste Straßenbahn fuhr, fuhr in Paris das erstelautlose E-Mobil, ein Dreirad, übrigens mit einem Sie-mens-Motor. Dass wir uns nach 134 Jahren auf den Wegmachen, ein Elektromobilitätsgesetz zu erarbeiten, das
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Andreas Rimkus
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ist doch eine gute Sache; denn eins ist klar: Die Dingebrauchen manchmal ihre Zeit, und jetzt ist die Zeit reif,ein entsprechendes Gesetz vorzulegen.
Was damals in Paris mit einem Experiment begann,ist heute eine sehr erfolgversprechende Idee, wie wirEmissionen reduzieren können und so unseren ökologi-schen Zielen auch wirklich näher kommen. Dazu mussauch der Verkehrsbereich seinen Beitrag leisten.Mit dem Elektromobilitätsgesetz I, das wir heute inzweiter und dritter Lesung beschließen, machen wir ei-nen wichtigen Aufschlag. Die Einigung auf eine Defini-tion der Fahrzeuge war ein zentraler Schritt. Gut ist, dasswir technologieoffen geblieben sind. Wir haben sowohldie Akkumobilität als auch die Brennstoffzellentechno-logie berücksichtigt. Beide Technologien bergen näm-lich ein hohes Innovationspotenzial. Im Rahmen derMobilitäts- und Kraftstoffstrategie finden dann im Übri-gen weitere Technologien wie Power-to-Gas ihren Platz.Lassen Sie uns schauen, wo die Reise hingeht. LassenSie uns überlegen, welche Türen wir offenhalten kön-nen, und nicht, welche wir schließen. In der Welt derInnovationen sind Prognosen, wie wir wissen, nicht be-sonders zuverlässig. Daher ist es folgerichtig gewesen,dass wir mit dem von Union und SPD im Ausschuss ge-stellten Änderungsantrag die Evaluation des Gesetzes,insbesondere in Bezug auf die Reichweite von Hybrid-fahrzeugen, in den Gesetzestext aufgenommen haben.Für 2018 haben wir die erste Evaluation angesetzt.Der Bundesrat hat uns gebeten, die Geltungsdauer desGesetzes zu verkürzen. Dies wurde in der Expertenanhö-rung noch einmal unterstrichen. Auch wir halten es fürsachgerecht, das Gesetz auf Ende 2026 zu begrenzen.Ich möchte mich an dieser Stelle bei der Union für diekonstruktive Zusammenarbeit bedanken. Ich denke, wirhaben dem Struck’schen Gesetz Genüge getan und ge-meinsam sinnvolle Änderungen am Gesetzentwurf vor-genommen. Schönen Dank dafür.
In Bezug auf die so intensiv diskutierten Privilegienist es wichtig, dass jede einzelne Kommune selbst ent-scheiden kann und soll, ob und für wie lange sie dieseBevorrechtigungen schaffen möchte oder eben nicht.Das gilt für Sonderflächen zum Parken und Laden, fürDurch- und Einfahrtsverbote und auch für Busspuren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es braucht aber mehr.Ich begrüße sehr die Überlegungen hinsichtlich einerSonderabschreibung für Elektrofahrzeuge, die im Rah-men des Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz,kurz: NAPE, aus dem Haus von Sigmar Gabriel und des„Aktionsprogramms Klimaschutz 2020“ aus dem Hausevon Barbara Hendricks Erwähnung finden. In beiden Pa-pieren werden im Übrigen auch Beschaffungsinitiativenfür den öffentlichen Dienst angeregt, was aus meinerSicht ein richtiger Schritt wäre.
Für private Nutzer könnte ein KfW-Zuschussprogrammein besonderer Anreiz sein, sich ein Elektrofahrzeug zukaufen.Doch unser Blick muss deutlich weiter gehen. Wirdürfen die Elektromobilität nicht isoliert betrachten, son-dern wir müssen sie einbetten in eine große Politik, diedas Ganze mitdenkt. Richtig vorwärts kommen wir mitStrom und Wasserstoff in Tank und Batterie – aus Wind-und Sonnenenergie. Das Elektromobil als Speicher kannhier Unregelmäßigkeiten bei Sonnen- und Windstromausgleichen. Natürlich brauchen wir einen bedarfsge-rechten Ausbau der Tank- und Ladeinfrastruktur; das istübrigens ein Schwerpunkt der EU-Kommission, wie wirgestern von Verkehrskommissarin Bulc erfahren haben.Mit der Clean-Power-for-Transport-Richtlinie sind unsvon dort klare Hausaufgaben mitgegeben worden.Ohne all dies mitzudenken, werden wir unsere Klima-ziele nicht erreichen. Leider ist in dem Antrag vonBündnis 90/Die Grünen davon wenig zu lesen. Deswe-gen werden wir ihm nicht zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, die Skep-sis gegenüber der Idee, dass wir irgendwann vollkom-men selbstverständlich mit Elektromobilen durch unsereStraßen fahren, ist noch groß. Doch all den Skeptikernmöchte ich sagen: Als der britische Unterhausabgeord-nete Edward Alderson 1825 über den EisenbahnvisionärGeorge Stephenson sagte – ich zitiere –: „StephensonsPlan ist die absurdeste Idee, die jemals in einem Men-schenhirn entstanden ist“, da ahnten vermutlich nur we-nige, welche Erfolgsgeschichte die Eisenbahn und damitStephensons Plans schreiben würde. Wir alle kennen denAusgang der Geschichte. Freuen wir uns auf den Aus-gang der Geschichte bei der Elektromobilität!Schönen Dank.
Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetztStephan Kühn das Wort.Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Soll sich die Elektromobilität durchsetzen und tat-sächlich einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, reichtes nicht, den Verbrennungsmotor des Autos einfachdurch einen Elektromotor zu ersetzen. Die Elektromobi-lität bietet Chancen für eine zukunftsfähige Mobilität,aber eben nur, wenn wir auch den Einsatz beispielsweisevon Elektrobussen, von elektrisch angetriebenen Nutz-fahrzeugen, von Elektrofahrrädern stärker unterstützenund wenn der Strom aus erneuerbaren Energien kommt.
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8686 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Stephan Kühn
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In unserem Antrag, lieber Kollege Rimkus, haben wirdazu zahlreiche Vorschläge gemacht; insofern fand ichIhren Ablehnungsgrund schon etwas merkwürdig.
Gemessen an allen im letzten Jahr in Deutschland neuzugelassenen Fahrzeugen lag der Anteil der Elektroautosbei 0,2 Prozent. Deutschland ist damit meilenweit davonentfernt, Leitmarkt für Elektromobilität zu werden,Deutschland hinkt bei der Nachfrage nach Elektroautosschlichtweg hinterher.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Ent-wurf des Elektromobilitätsgesetzes zutreffend festge-stellt, dass das Ziel,im Jahr 2020 eine Million Elektrofahrzeuge aufDeutschlands Straßen zu bringen … mit den bislangvorgelegten Programmen und Gesetzen kaum zu re-alisieren sein wird.Elektroautos sind schlichtweg zu teuer. Für Privatebetragen die Mehrkosten für ein Elektroauto – über diegesamte Nutzungszeit betrachtet – im Vergleich zu ei-nem konventionellen Auto zwischen 5 000 und 8 000 Euro.Dazu kommen die begrenzte Reichweite und die feh-lende Ladeinfrastruktur, die weitere Hemmnisse darstel-len.Wir glauben, eine Verstärkung der Nachfrage nachElektroautos kann nur mit einem Marktanreiz für denKauf von Elektroautos gelingen.
In Frankreich ist der Marktanteil von Elektroautos vier-mal so hoch wie in Deutschland, in den Niederlandenund in Norwegen sogar zwanzigmal so hoch. All dieseLänder zahlen in verschiedenen Varianten eine Kaufprä-mie für emissionsarme Fahrzeuge. Dass man mit einemElektroauto in Zukunft kostenlos parken darf, wie imElektromobilitätsgesetz vorgesehen, wird die Absatzzah-len von Elektroautos wohl kaum ankurbeln. Wir müssendeshalb Elektroautos – zumindest zeitlich begrenzt – miteinem Kaufzuschuss in Höhe von 5 000 Euro fördern.Dies wollen wir gegenfinanzieren über eine Umlage beider Kfz-Steuer, und zwar für Autos, deren CO2-Ausstoßoberhalb der europäischen CO2-Grenzwerte liegt.In der Koalition gibt es, wie wir gerade gehört haben,mehr Fans einer Sonder-AfA für gewerbliche Fahrzeuge.Leider haben dann Private nichts davon. Auch im öffent-lichen Bereich lässt sich damit schwerlich eine Beschaf-fungsoffensive ankurbeln.
Herr Kollege Kühn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Leidig?
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Gerne.
Bitte schön.
Kollege Kühn, ich wollte einfach mal die Frage stel-len, wie es sich mit einer solchen Belohnungsprämieverhält mit Blick auf Menschen, die ganz auf ein Autoverzichten und sich stattdessen ein Jahresticket für denÖPNV oder eine BahnCard 100 kaufen; da wäre einePrämie von 4 000 oder 5 000 Euro schon ein Pfund, umeine solche Entscheidung zu unterstützen.
Ich frage mich, wie sich der Einsatz für die ökologischeVerkehrswende verträgt mit einer Kaufprämie für Autos.Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Das kann ich Ihnen gerne erklären. – Wir haben in un-serem Antrag zahlreiche Vorschläge gemacht, wie wirandere Verkehrsträger stärker unterstützen wollen. ZumBeispiel ist es ja so, dass die Umstellung von allen Loksauf Ökostrom viermal so viel CO2 einsparen würde wie1 Million Elektroautos. Ich könnte Ihre Kritik verstehen,wenn es so wäre, dass der Steuerzahler bzw. derjenige,der nur Bus und Bahn oder Fahrrad fährt, eine solcheKaufprämie für Elektroautos finanzieren müsste. DiesenVorschlag haben wir aber bewusst nicht gemacht, son-dern wir sehen – das habe ich erklärt – eine Umlagefi-nanzierung vor. Das heißt, derjenige, der ein Elektroautokauft mit einem Ausstoß von unter 50 Gramm CO2 proKilometer, bekommt einen Kaufzuschuss; bei einem rei-nen Elektroauto beträgt dieser 5 000 Euro. Das wird fi-nanziert von denjenigen, die sich Autos kaufen mit ei-nem deutlich höheren CO2-Ausstoß, die Spritschluckeralso. Das Ganze ist aufkommensneutral. Das bedeutet,kein Nutzer des ÖPNV, kein Fahrradfahrer zahlt für dieKaufprämie. Darauf haben wir geachtet; das war unswichtig. Insofern kann ich Ihre Kritik ehrlich gesagtnicht verstehen.
Zurück zur Sonder-AfA, über die seit einem Jahr inden Debatten immer wieder diskutiert wird. Ich habe ex-tra noch einmal nachgefragt, wie es mit der Sonder-AfAaussieht, schließlich steht sie bereits im Aktionspro-gramm Klimaschutz der Bundesregierung.
Ich zitiere die Antwort der Bundesregierung auf meineFrage in der gestrigen Fragestunde:Ob und wann ein entsprechender Gesetzentwurfvorliegen wird, ist … noch nicht abzusehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8687
Stephan Kühn
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Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie stehenbei der Förderung von Elektromobilität schlichtweg mitleeren Händen da.
Durch die EU-Richtlinie zum Aufbau der Ladeinfra-struktur ist Deutschland verpflichtet, einen Rahmenplanfür den systematischen Aufbau der Ladeinfrastruktur zuerarbeiten. Das ist aus meiner Sicht dringend erforder-lich. Bisher ist kein Konzept erkennbar.Aus unserer Sicht muss die Ladeinfrastruktur diskri-minierungsfrei zur Verfügung stehen. Im Moment ist ge-nau das Gegenteil der Fall. Mit Steuergeldern gefördert,werden entlang der A 9 Schnellladesäulen errichtet, andenen Elektroautos ausländischer Hersteller mit dem so-genannten CHAdeMO-Stecker nicht schnell laden kön-nen – das betrifft beispielsweise Nissan Leaf, MitsubishiElectric Vehicle, Citroen Berlingo Electric –, Elektroau-tos von deutschen Herstellern aber schon. Auch beimForschungsprojekt SLAM sind nur maximal ein Drittelder Ladesäulen für Fahrzeuge ausländischer Herstellernutzbar, wenn überhaupt.Die wenigen Pioniere, die bereits ein Elektroauto fah-ren, werden damit ausgebremst. Etwa die Hälfte der inDeutschland zugelassenen E-Autos ist davon betroffen.Die Bundesregierung behindert also den Durchbruch derElektromobilität, anstatt ihn zu fördern. Verkehrsminis-ter Dobrindt und Wirtschaftsminister Gabriel betreibendamit, wie ich finde, eine sehr bemerkenswerte Form derIndustriepolitik, die dazu führt, dass den deutschen Her-stellern die lästige Konkurrenz aus dem Ausland fernge-halten wird. Ich finde es unglaublich, was da mit öffent-lichem Geld, mit Steuergeld passiert.
Wir brauchen stattdessen ein Investitionsprogrammfür die Elektromobilität, mit dem der Aufbau einer öf-fentlich und diskriminierungsfrei zugänglichen Ladein-frastruktur, die auf erneuerbarem Strom basiert und einnutzerfreundliches E-Roaming beinhaltet, gefördertwird. Das wäre notwendig. Das ist im Moment nicht zuerkennen.Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Thema„Freigabe der Busspuren für E-Autos“ sagen. Ich habemir auch hier die Arbeit gemacht, die Bundesregierungzu fragen, ob sie denn Städte kenne, die beabsichtigten,Busspuren für E-Autos freizugeben. Die Bundesregie-rung konnte mir keine einzige Stadt nennen, die davonGebrauch machen will.Wenn Sie Elektromobilität fördern wollen, meine Da-men und Herren, dann sollten Sie lieber die Umstellungder Busflotten, die noch zu 90 Prozent mit Diesel unter-wegs sind, auf Elektrobusse finanziell fördern. Das wäreein Beitrag zur Förderung der Elektromobilität.
Ihr Gesetzentwurf ist es nicht. Wir brauchen einen be-herzten Vorschlag. Ein solcher ist von Ihnen heute nichtgeliefert worden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Steffen Bilger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor einer Woche haben wir in einer durchaus hitzigenDebatte über die Pkw-Maut diskutiert. Ich habe bereitsdamals darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung,unterstützt vom Deutschen Bundestag, an allen Eckenund Enden an der Förderung und am Erfolg der Elektro-mobilität arbeitet. Das vorliegende Gesetz ist ein Belegdafür und ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.
Zuerst freue ich mich aber, dass sich, anders als beider Pkw-Maut, ein Großteil des Hauses durchaus darineinig ist, dass die Elektromobilität im Individualverkehrvorangebracht werden sollte.Nur Teile der Linken – Kol-lege Lutze, Sie haben gerade den Bezug zum Schienen-verkehr angesprochen – haben immer noch nicht ver-standen, dass Elektromobilität eben nicht auf dieSchiene begrenzt ist.Bei der Elektromobilität geht es für uns in Deutsch-land darum, Leitmarkt und Leitanbieter für elektrischbetriebene Autos zu sein. Nicht nur für Deutschland,sondern für ganz Europa ist die Entwicklung der Elek-tromobilität eine der bedeutenden Zukunftsfragen. DieEU-Verkehrskommissarin hat es gestern noch einmalverdeutlicht: Es geht um Umweltaspekte, um wenigerAbhängigkeit vom Öl, um Arbeitsplätze und um die Zu-kunft unserer Automobilindustrie.
Eine der häufig genannten Fragen, wenn wir überElektromobilität sprechen – gerade wurde es schon er-wähnt – ist ja die nach der Herkunft des Stroms für dieElektroautos. Darüber haben wir kürzlich auch im Ver-kehrsausschuss diskutiert. Natürlich wollen wir alle re-generativen Strom für Elektrofahrzeuge. Ich glaube, wirkönnen sagen: Das ist Konsens in Deutschland. Aber fürviele ist die Frage nach der Herkunft des Stroms garnicht die entscheidende. Wenn wir an Stadtbewohnerdenken, die unter Lärm und Abgasen leiden, dann dürf-ten Aspekte wie mehr Ruhe oder weniger Emissionenentscheidender sein als die Frage nach der Herkunft desStroms. Daher: Wer auch immer solche Bedenken in den
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8688 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Steffen Bilger
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Vordergrund stellt, hat nicht verstanden, worauf es wirk-lich ankommt.
Herr Kollege Bilger, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Leidig?
Sehr gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sie haben die Lärm- und Schmutzbelastung der Ein-
wohnerinnen und Einwohner der Städte angesprochen
und suggeriert, dass sich durch Ihr Elektromobilitätsge-
setz daran etwas ändern würde. Ich erinnere mich, dass
es in der letzten Wahlperiode das Ziel des damaligen
Verkehrsministers Ramsauer war, bis zum Jahr 2020 den
Anteil der elektrischen Autos in Deutschland auf 2 Pro-
zent zu erhöhen. Zugleich sind die Verkehrsprognosen
davon ausgegangen, dass die Zahl der Automobile um
3 Prozent steigt. Nun habe ich keinerlei Information da-
rüber, dass sich daran etwas ändern soll. Gehen Sie
ernsthaft davon aus, dass ein Anteil solcher leisen Autos
von 2 Prozent – im besten Falle – die Situation der Be-
wohnerinnen und Bewohner in einer vielbefahrenen
Straße nachhaltig erleichtert, wenn gleichzeitig der An-
teil herkömmlicher Fahrzeuge unverändert bei 98 Pro-
zent liegt?
Frau Kollegin Leidig, genau das stört mich an der Artund Weise, wie Sie über solche Themen diskutieren: im-mer das Negative in den Mittelpunkt stellen, immer dasHaar in der Suppe suchen, anstatt, wie ich es gerade ge-sagt habe, einmal die Chancen zu sehen. Es geht um dieZukunft der Mobilität, und die Zukunft der Mobilitätwird ganz entscheidend von der Elektromobilität abhän-gen. Da geht es eben sehr wohl um weniger Lärm undum weniger Abgase in unseren Städten. Das sollten Sieendlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Ich habe es gerade schon gesagt: Es drängt sich derEindruck auf, dass viele immer das Haar in der Suppesuchen. Es kann nicht sein, dass wir jeder Zukunftstech-nologie nur mit Skepsis begegnen, immer die – vielleichtbestehenden – Nachteile und Risiken überhöhen und dieVorteile und Chancen nicht sehen. Umso mehr bin ichdankbar für konstruktive Beiträge, wozu ich ausdrück-lich den Antrag der Grünen zähle.
Denn bei vielem sind wir uns einig. So brauchen wir inder Tat eine Elektroautobeschaffungsoffensive der Bun-desregierung und anderer staatlicher Ebenen. Auch beiden innerstädtischen Lieferverkehren müssen wir weiter-kommen. Das alles unterstützen wir ausdrücklich.
Wir brauchen außerdem mehr öffentliche Ladeinfra-struktur. Die Erkenntnisse der vergangenen Jahre zeigen,dass hier noch viel Potenzial für die Umsetzung innova-tiver Ideen vorhanden ist, weshalb es nicht richtig wäre,sich beim Ausbau der Ladeinfrastruktur schon heute fürdie eine Lösung zu entscheiden. Klar ist aber: Wir brau-chen ein flächendeckendes Ladenetz in ganz Deutsch-land.
Dass wir von Kaufanreizen für Elektroautos, dievorhin ja schon angesprochen wurden, nicht viel halten,haben wir in den letzten Jahren hinreichend deutlichgemacht. Diese Forderung der Grünen lehnen wir ab.Unser Weg war – wenn wir jetzt Zwischenbilanz zie-hen – richtig. Wir setzen auf Unterstützung bei For-schung und Entwicklung sowie bei der Anwendung derElektromobilität. Kaufanreize sind unseres Erachtens inanderen Ländern eher verpufft. Wichtiger sind zum ge-genwärtigen Zeitpunkt andere Maßnahmen. In diesemZusammenhang muss ich die Grünen erneut kritisieren.Ich verstehe nicht, weshalb sie Sonderabschreibungenmit der Begründung ablehnen, dass diese den Privatleu-ten nicht nutzen würden. Das ist natürlich einerseits rich-tig, andererseits erwarten wir den Anstieg bei der Elek-tromobilität jetzt noch nicht so sehr bei den Privatleuten,sondern im Wesentlichen bei den Flotten, seien es Taxis,Pflegedienste oder Lieferwagen.
– Abgelehnt haben Sie es sehr wohl, nämlich bei unsererDiskussion im Verkehrsausschuss. Das hat mich etwasverwundert.Es geht ja in der Tat nicht nur um die Flotten, sondernauch um die Privatleute. Auch in diesem Bereich könnenwir etwas tun. Im Koalitionsvertrag ist es nieder-geschrieben: Wir wollen ein KfW-Programm zurAnschaffung besonders umweltfreundlicher Fahrzeugeauflegen. – Also, beide Gruppen, Privatleute wie Dienst-wagenkäufer, profitieren von unseren Maßnahmen zurFörderung der Elektromobilität.In den Medien und in der Öffentlichkeit – es wurdegerade auch schon in mehreren Redebeiträgen erwähnt –ist ja viel über die Nutzung von Busspuren – dies wirddurch das Elektromobilitätsgesetz ermöglicht, wenn sichdie Kommunen dafür entscheiden – diskutiert worden.Der Antrag der Grünen spricht sich dagegen aus. Ichmuss, wie auch schon im Ausschuss, noch einmal deut-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8689
Steffen Bilger
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lich sagen: Ich kann die ganze Aufregung nicht verste-hen. In der Tat entscheidet jede Kommune vor Ort selbst.Natürlich gibt es jetzt viele negative Stellungnahmenvon den Kommunen. Aber ich setze auf einen Wett-bewerb der innovativen Kommunen. Dann werden wirsehen, wie es sich im Laufe der Jahre entwickelt. DieKommunen haben die Möglichkeit, sich für die Förde-rung der Elektromobilität und, wenn es Sinn macht, auchfür die Nutzung von Busspuren durch Elektrofahrzeugezu entscheiden.Andreas Rimkus hat es gesagt: Das Gesetz wird aufAnregung des Bundesrates nur bis 2026 Bestand haben.Das ist ein relativ kurzer Zeitraum, aber bei der Elektro-mobilität wird sich in diesem Zeitraum sicher viel tun.Andere Punkte, die im Elektromobilitätsgesetz geregeltsind, hat Norbert Barthle bereits angesprochen. Wir ha-ben hier erste wichtige Maßnahmen unternommen.Ich komme zum Schluss. Einen Punkt will ich nochbesonders hervorheben: Elektroautos sind, wie bereitsgesagt, gerade in städtischen Bereichen die perfektenLieferfahrzeuge. Deswegen war es auch richtig, zu er-möglichen, dass Kleinlaster, die durch schwere Batterienüber die sonst zulässigen 3,5 Tonnen kommen, trotzdemmit dem normalen Führerschein der Klasse B gefahrenwerden dürfen. Ich will an dieser Stelle dem Bundes-verkehrsministerium, der EU-Kommission und den Kol-legen im Bundestag, die sich hierfür eingesetzt haben,ausdrücklich danken. Diese Regelung wird helfen, mehrElektromobilität im Bereich der Lieferverkehre zu be-kommen.
Herr Kollege, Sie hatten versprochen, zum Schluss zu
kommen.
Das will ich gerade tun.
Danke.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Gesetzent-
wurf. Die Öffentlichkeit bitte ich darum, unser Elektro-
mobilitätsgesetz positiv zu begleiten. Die Bedenkenträ-
ger sollten unsere gemeinsamen Ziele nicht aus dem
Blick verlieren und die Chancen in den Mittelpunkt stel-
len.
Herzlichen Dank an alle, die auch im Parlamentskreis
Elektromobilität gemeinsam an der Förderung der Elek-
tromobilität arbeiten.
Vielen Dank. – Für die Bundesregierung spricht
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Rita
Schwarzelühr-Sutter.
Ri
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Für das Umweltministerium ist es wichtig,dass der Verkehrssektor mehr und mehr elektrifiziertwird. Denn der Verkehrssektor ist verantwortlich fürcirca ein Fünftel der Treibhausgasemissionen. Das istauch, wenn man den Trend betrachtet, der Sektor, in demdie Treibhausgasemissionen kaum abgenommen haben.Hier besteht also Handlungsbedarf. Daneben haben wirnatürlich auch eine hohe Feinstaubbelastung, und auchder Lärm in den Städten trägt nicht unbedingt zur Le-bensqualität der Menschen bei.Die Bundesregierung fördert Elektromobilität. HerrLutze, Sie haben das Gasauto angesprochen. Sie habenvergessen, dass das Gas bis 2018 steuerbegünstigt ist. Eswird auch darüber hinaus steuerlich gefördert, bzw. wirdiskutieren darüber, wie die Förderung nach 2018 ausse-hen wird.
Sie sind auch nicht ganz auf dem aktuellen Stand, wasden Energiebereich anbelangt. Der Anteil der erneuerba-ren Energien beträgt fast 28 Prozent, während der Anteilder Atomkraft bei ungefähr 15 bis 16 Prozent liegt.Heute ist sowieso ein guter Tag, weil die erneuerbarenEnergien die Braunkohle überholt haben.Außerdem fördert die Bundesregierung neben denMaßnahmen im Rahmen des guten Elektromobilitätsge-setzes Elektrobusse mit einem reinen Elektroantrieb undsolche mit einem Plug-in-Hybrid-Antrieb, und zwar miteinem Investitionskostenzuschuss von bis zu 35 Prozent.Das heißt, wir setzen nicht nur auf individuelle Mobili-tät, sondern wir setzen insgesamt auf Elektromobilität;denn das ist für unser Klima wichtig. Die Kommunenvor Ort können entscheiden, wie sie dies intelligent mit-einander verknüpfen. Die Städte, die besonders durchFeinstaub belastet sind, sollten sich gut überlegen, fürwelchen Mix sie sich entscheiden, welche Busse in ihrenStädten fahren sollen und wie sie die Mobilität tatsäch-lich organisieren.Es ist wichtig, dass wir für die Verbraucher einen zu-sätzlichen Nutzen schaffen und die Elektromobilität at-traktiver machen. Dazu gehören natürlich auch Plug-in-Hybridfahrzeuge, also von außen aufladbare Autos miteinem Elektro- und einem herkömmlichen Antrieb. Ichkomme vom Land; da ist das nicht so ganz einfach. Dagibt es keine S-Bahn und keine U-Bahn, sondern damuss man mit dem Auto mehrere Kilometer bis zumnächsten Ort fahren. 80 Prozent der Tage im Jahr fahrendie Autonutzer übrigens nur 40 Kilometer. Vor diesemHintergrund bieten gerade Plug-in-Hybridfahrzeuge einegewisse Sicherheit: Man weiß, dass man nicht liegenbleibt. Insofern ist es gerechtfertigt, das Elektromobili-
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8690 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
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tätsgesetz so auszugestalten, dass Elektromobilität fürdie Autofahrerinnen und Autofahrer attraktiver wird.Alltagstauglichkeit und Umweltnutzen sind für unsbei diesem Gesetz Kernanliegen. Es geht darum, einenzusätzlichen Anreiz für Elektromobilität zu setzen. Zu-sammen mit Elektrobussen und in Zukunft vielleichtauch Hybridlokomotiven ist dieses Gesetz ein sinnvollerBeitrag zum Klimaschutz, zum AktionsprogrammKlimaschutz und auf dem Weg nach Paris.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Carsten Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Frau Staatssekretärin hat den aus meinerSicht zentralen Dreiklang eben schon betont: Klima-schutz, Energiewende, Elektromobilität. Unter dieserÜberschrift diskutieren wir heute. Ich finde, es ist außer-gewöhnlich begrüßenswert, dass wir heute mit demE-Mobilitätsgesetz vernünftige und verlässliche Anreizesetzen und geeignete Rahmenbedingungen schaffen. DieUmsetzung geschieht dann durch die konkrete Politikvor Ort.
Herr Krischer, ich will Ihnen eines sagen – das findeich bei den Grünen richtig schade; das ist mir allerdingsauch bei Herrn Lutze aufgefallen –: Wir reden hier überein großes Thema.
Aber die Grünen und die Linken kommen leider überBeiträge, die in kleinteiligster Kritik und in Gemäkel en-den, nicht hinaus. Das ist wirklich schade.
Menschenskinder, machen Sie mal ein bisschen konst-ruktiv mit!
– Melden Sie sich doch. Dann bekomme ich wenigstensein bisschen mehr Redezeit und kann Ihnen das erklären.
– Sie scheinen es noch nicht verstanden zu haben. Ichwürde es Ihnen gerne erklären.Das EmoG ist genau der richtige Weg in genau derrichtigen Dosierung und genau der richtigen Schritt-größe.
Aber es ist eben nur einer von vielen Schritten, den dieBundesregierung macht, um E-Mobilität zu unterstützen.Ich will gleich einige zentrale Vorhaben nennen, aller-dings auch auf den Antrag der Grünen rekurrieren; dabin ich bei der Bewertung nämlich ein bisschen zurück-haltender als mein Freund und Fraktionskollege SteffenBilger.Ganz ehrlich: Wenn man sich Ihren Forderungskata-log anschaut, dann muss man sagen: Der Spaß hört imGrunde schon beim ersten Punkt auf. Wie einfallslos istes denn, dieses große Thema mit dummem Geld, miteinfachen Ankaufszuschüssen angehen zu wollen?
Das ist doch über alle Maßen kurz gesprungen. Ich emp-fehle Ihnen, Herr Kollege, sich die Zahlen aus anderenLändern geben zu lassen; sie zahlen zum Teil abenteuer-lich hohe Ankaufsprämien. Schauen Sie sich bitte aucheinmal das Preisgefüge bei E-Mobilen an. Bei E-Mobi-len liegen die Verkaufspreise in genau den Ländern, diediese Prämie zahlen, nämlich in Frankreich, in Nor-wegen, in den Niederlanden und in Festlandchina, signi-fikant über den Preisen, die in Deutschland gefordertwerden. Das zeigt, dass Sie mit Ihrer Idee schlechter-dings deutlich zu kurz springen.
Ich will durchaus sagen: Es gibt auch einige nichtvollkommen unvernünftige Ideen.
Sie können sich sicher sein, dass wir sie weiterverfolgen.
Ein öffentliches Beschaffungsprogramm für E-Mobileist eine wichtige Sache, die vorangetrieben werdenmuss; das gilt übrigens nicht nur für die Bundesministe-rien, sondern auch für die nachgeordneten Behörden. Ichfinde, es ist auch eine vernünftige Idee, darüber nachzu-denken, inwieweit man mit klugen Programmen dazubeitragen kann, dass auch andere staatliche Ebenen, alsoLänder und Kommunen, E-Mobile in viel größerem Um-fang beschaffen, auch dann, wenn sie nicht in denSchaufensterregionen zu finden sind.Meine Damen und Herren, ich will ein weiteresThema aufgreifen. Ich betrachte das Thema EmoG, wiegesagt, als einen Schritt, der in eine Vielzahl von Maß-nahmen zur Förderung der E-Mobilität eingebettet ist.Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter hat vorhin ge-sagt, die Bundesregierung habe im Grunde genommen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8691
Carsten Müller
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Ihre Forderungen bereits antizipiert. Sie fördert – wir ha-ben das jüngst besprochen – die Beschaffung von hy-bridangetriebenen Bussen und von Plug-in-Bussen. Siefördert im Übrigen auch die Anschaffung von vollelek-trisch angetriebenen Bussen.Es gibt ein besonders interessantes Vorhaben, bei demvollelektrisch angetriebene Busse mit einer meines Er-achtens sehr klugen Erweiterung ausgestattet werden,nämlich mit der Möglichkeit, sie induktiv zu laden. Dasfinde ich außergewöhnlich interessant. Das geht auch,was die Frage der Aufladung angeht, deutlich über dashinaus, was Sie mit Ihrem Antrag fordern.Meine Damen und Herren, schauen wir uns einmalverschiedene technische Neuerungen an. Ich greife ein-mal so banale Dinge wie ein ferngesteuertes Spielzeug-auto, eine Fernsehfernbedienung und ein Telefon heraus.Da ging man zunächst zu einer remote-möglichen Bedie-nung über, und im nächsten Schritt war das Kabel weg.Deswegen bin ich davon überzeugt, dass – deswegenwarne ich auch vor einem zu euphorischen und unüber-legten Ausbau der Ladesäulen – wir künftig die Fahr-zeuge viel mehr induktiv aufladen werden. Das wird dasE-Mobil dann wirklich interessant machen.Das Thema Sonder-AfA ist angesprochen worden.Das halte ich deswegen für ein kluges Instrument,
weil wir damit auch die Zweitverwendung in den Blicknehmen, also die private Verwendung. Das haben Sie of-fensichtlich noch gar nicht bedacht.Ich will noch einen letzten, mir sehr wichtigen Ge-sichtspunkt anführen. Wir beschließen heute das EmoG.Das ist ein großer und richtiger Schritt.
Wir müssen uns aber auch noch um andere wichtigeThemen kümmern. Wenn wir bedenken, dass etwa 30 bis40 Prozent der Wertschöpfung bei einem E-Mobil aufdie Infrastruktur des Fahrzeugs, wie beispielsweise aufBatterien, entfallen, dann müssen wir uns in Deutschlandsehr bald Gedanken darüber machen, wie wir es schaffenkönnen, die Batteriezellfertigung wieder in Deutschlandanzusiedeln und qualitativ hochwertige, ökologisch ver-tretbare und kompetitive Produkte im Bereich der Batte-riezellen zu fertigen. Hierfür sind erhebliche Anstren-gungen erforderlich. Da ist das Geld wesentlich bessereingesetzt als bei den von Ihnen vorgeschlagenen Kauf-anreizen.Wir machen heute einen ersten Schritt. Weitere wer-den folgen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Der Kollege Detlev Pilger darf die
Debatte für heute mit einem kurzen Redebeitrag ab-
schließen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Gäste!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2014 wurdencirca 3 Millionen Neuwagen hergestellt. Etwa 9 000 elek-trobetriebene stehen dem gegenüber. Gleichzeitig stiegin den meisten Städten die CO2-Belastung. Es bestehtalso dringender Handlungsbedarf im Emissionsbereich,wenn wir unsere ambitionierten Ziele erreichen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,auch wenn Sie es noch so schlechtreden: Ein wesentli-cher Baustein ist das Elektromobilitätsgesetz, das wirheute beschließen. Das ist noch nicht der letzte Schritt,aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Insgesamt aber – da gebe ich den Kolleginnen undKollegen, die das vorhin schon benannt haben, durchausrecht – müssen größere Anreize geschaffen werden, da-mit die Elektromobilität mehr Marktanteile erhält.
Klar ist auch – auch das wurde vorhin angespro-chen –: Die Elektroautos müssen preiswerter werden,damit sich Durchschnittsverdiener diese Modelle leistenkönnen. An dieser Stelle ist eindeutig die Automobil-industrie gefordert. Bisher bieten die deutschen Herstel-ler weitgehend sehr teure Modelle an.Ein weiteres großes Problem – auch das wurde be-nannt – sind die Speicherkapazitäten, die deutlich erhöhtwerden müssen. Eine Reichweite von 30 bis 40 Kilome-tern findet beim Käufer zurzeit noch wenig Akzeptanz.Vor allem aber – und das ist ein Kernpunkt – muss eseine gute Ladeinfrastruktur geben. Denn wer von uns istschon bereit, sich ein Auto zu kaufen, das er nicht wohn-ortnah und flächendeckend betanken bzw. aufladenkann?Beim Antrag der Grünen ist es wie bei der Henne unddem Ei: Was brauchen wir zuerst? Wir sagen eindeutig:Bevor wir die Autos verstärkt auf den Markt bringen,brauchen wir zunächst ausreichend Ladestationen. Einegute Ladeinfrastruktur ist Voraussetzung dafür, dass sichder Markt belebt.
Somit kommt der Vorschlag der Grünen zu früh,Elektroautos mit einer Summe von 5 000 Euro zu bezu-schussen. Lieber Herr Krischer, wir wollen auch nichtunbedingt den Porsche Cayenne bezuschussen, den Sievorhin erwähnt haben,
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Detlev Pilger
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weil sich die Besitzer ihn auch ohne Zuschuss leistenkönnen. Aus dieser Perspektive gesehen, kommt Ihr Vor-schlag an dieser Stelle viel zu früh.
Ohne eine wirksame Ladeinfrastruktur sind die Bürge-rinnen und Bürger sicherlich nicht zu überzeugen.Im Antrag der Grünen findet man jedoch, wenn manwill, natürlich auch einige gute Ideen und Ansätze.
Ich finde es einen guten Vorschlag, die Kommunen unddie Verkehrsgesellschaften im Hinblick auf emissions-arme Antriebe für den ÖPNV stärker zu unterstützen.Das hätte auch eine Öffentlichkeitswirkung. Die öffentli-che Hand wäre Vorbild, und das wäre ein wichtigerSchritt in Richtung emissionsärmere Mobilität.Leider ist dies zu wenig, um Ihrem Antrag zuzustim-men. Von daher müssen wir ihn leider ablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bevor-
rechtigung der Verwendung elektrisch betriebener Fahr-
zeuge.
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/4174, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/3418 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ein Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in der dritten Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 b. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und di-
gitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Elektromobilität
entschlossen fördern – Chance für eine zukunftsfähige
Mobilität nutzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/4229, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3912 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken ge-
gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechs-
ten Buches Sozialgesetzbuch – Anrechnung
von Zeiten des Mutterschutzes
Drucksache 18/4107
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rente ab63 war von Anfang an eine Mogelpackung. Warum? Ers-tens, weil die Rente ab 63 für die nach 1964 Geborenennur eine Rente ab 65 sein wird, und zweitens, weil Men-schen bestraft werden, die längere Zeit nicht arbeitendurften; denn Hartz-IV-Zeiten zählen nicht zur Warte-zeit. Für die Linke ist und bleibt das skandalös.
Drittens war und ist die Rente ab 63 bzw. 65 eine Mogel-packung, weil auch Arbeitslosengeld-I-Zeiten in denletzten beiden Jahren vor Rentenbeginn nicht zu den45 Jahren Wartezeit zählen; 45 Jahre, die nötig sind, umdie abschlagsfreie Rente ab 63 Jahren überhaupt beantra-gen zu können. Aber es bleibt die Hoffnung, dass Sie mitdiesem irrsinnigen sogenannten rollierenden Stichtag amBundesverfassungsgericht scheitern werden. Der DGBjedenfalls bereitet gerade entsprechende Klagen vor. Da-für wünscht die Linke den Betroffenen und dem DGBviel Erfolg.
Nun zur Gerechtigkeitslücke, mit der Ihr Gesetz aus-gerechnet Mütter diskriminiert – Mütter, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der CSU/CDU, Herr KollegeStraubinger. Ich frage Sie: Was sagen wir denn der Mut-ter, die sich mit einer Petition an den Bundestag wandteund uns sinngemäß sagte:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8693
Matthias W. Birkwald
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„Ich sehe die lange Liste, was alles als Beitragszeit ange-rechnet wird, aber mir fehlen genau vier Wochen“? Eszählen Zeiten mit Pflichtbeiträgen aus Erwerbstätigkeitund aus selbstständiger Tätigkeit. Es zählen Zeiten desWehr- und Zivildienstes, die Zeit der Pflege von Ange-hörigen, Krankengeldzeiten, Übergangsgeldzeiten, Kurz-arbeitergeld-, Schlechtwettergeld- und Winterausfall-geldzeiten, Insolvenzgeldzeiten. Es zählen Zeiten derKindererziehung bis zum zehnten Lebensjahr des Kin-des. Aber ausgerechnet vier der sechs Wochen, die ichals werdende Mutter vor der Geburt meines Kindes imMutterschutz war, zählen nicht zur Wartezeit für meineRente ab 63, kritisiert die Petentin.Bei zwei Kindern macht das zwei Monate usw.
Diesen Zustand wollen wir mit unserem Gesetzentwurfbeenden.
Die Zeiten des Beschäftigungsverbotes nach dem Mut-terschutzgesetz
sind bei der Anrechnung auf die Wartezeit von 45 Jahrenvoll und ganz zu berücksichtigen.
Wie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU,wollen Sie sonst Ihren Müttern und den Müttern in IhrenWahlkreisen Folgendes erklären
– hören Sie doch erst einmal zu, Kollege Straubinger –:Einem Mann, der sich beim Skifahren in den schönenBayerischen Alpen das Bein bricht, wird die Kranken-geldzeit auf die 45 Beitragsjahre angerechnet. EinerFrau, die wegen der bevorstehenden Geburt ihres Kindeszu Hause bleibt, werden die vier Wochen Mutterschutznicht angerechnet. Ich sage: Das ist ungerecht, mütter-feindlich, frauendiskriminierend, und das können Sieniemandem, wirklich niemandem plausibel erklären.
Meine Damen und Herren, in Artikel 3 unseresGrundgesetzes heißt es: „Männer und Frauen sindgleichberechtigt.“ Niemand dürfe wegen seines Ge-schlechtes benachteiligt werden. – Das ist aber hier ein-deutig der Fall. Männer können nun einmal keine Kinderbekommen – bisher jedenfalls nicht. Nur Frauen kann espassieren, dass der Mutterschutz nicht angerechnet wirdund sie darum möglicherweise nicht in die Rente ab 63gehen können. Das verstößt gegen das Gleichheitsgebotdes Grundgesetzes. Darum muss das Rentenpaket hierdringend zugunsten der Mütter geändert werden.
Liebe Bundesregierung, wie ernst nehmen Sie eigent-lich Ihre eigenen Aussagen, Frau StaatssekretärinKramme? Denn auf die entsprechende Petition hatte dasMinisterium am 11. August 2014 geantwortet: Schwie-rig, schwierig, aber die Bundesregierung werde prüfen,ob eine Änderung des geltenden Rechtes unter Wahrungdes Versicherungsprinzips möglich sei. – Ich nahm diePetition und die Antwort der Bundesregierung ernst. Ichhatte gedacht: Okay, lassen wir das Ministerium einenMonat oder zwei Monate prüfen.Dann habe ich nachgehakt. Am 14. Oktober 2014 er-hielt ich von Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller fol-gende Antwort – ich zitiere –:Der Regelungsintention widerspricht es, beitrags-freie Zeiten auf die 45-jährige Wartezeit anzu-rechnen. Wegen des engen Zusammenhangs vonMutterschutz und Kindererziehung wird die Bun-desregierung dennoch prüfen, ob eine Änderungdes geltenden Rechts angezeigt sei.Das war im Oktober 2014, vor mehr als vier Monaten.Ich finde, das ist Zeit genug zum Prüfen. Wir sind nunalle sehr gespannt, was Sie uns gleich als Ergebnis Ihrerintensiven Prüfung kundtun werden.
Ich befürchte allerdings, dass Sie immer noch prüfenund prüfen und prüfen.Meine Damen und Herren von der Regierungsbankund den Koalitionsfraktionen, Sie haben es echt gut. Wa-rum? Sie haben eine Opposition, die nicht nur meckertund Sie kritisiert. Im Interesse der älteren Mütter helfenwir Linken Ihnen gerne und legen Ihnen heute einen kur-zen, präzisen und einfachen Gesetzentwurf vor.
Mit diesem Gesetzentwurf kann die frauenfeindlicheUngerechtigkeit bei der Rente ab 63 bzw. 65 sofort be-seitigt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,die Zahl der betroffenen Mütter ist überschaubar. Darumsind auch die finanziellen Kosten für ein Stück mehr so-ziale Gerechtigkeit übersichtlich: ein Grund weniger,weiter zu prüfen, und ein Grund mehr, zu handeln. Ichfordere Sie auf: Beseitigen Sie diese offenkundige Ge-rechtigkeitslücke, und rechnen Sie den Mutterschutz aufdie Wartezeit an! Das ist doch nicht zu viel verlangt, unddie betroffenen Mütter werden es Ihnen danken.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege PeterWeiß das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der Status des sogenannten besonders langjährigVersicherten – mit 45 Beitragsjahren –, der zum Beispielnach der Neuregelung eine abschlagsfreie Rente mit 63beantragen kann, war und ist für denjenigen gedacht, derwirklich lange gearbeitet
und mit Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen unse-ren Staat und unsere Sozialsysteme stabilisiert hat, alsein Dankeschön für lebenslange Arbeitsleistung. Daswar der allererste Grund, warum wir das gemacht haben.
Bei diesen 45 Jahren sind selbstverständlich auch diedrei Jahre berücksichtigt, die für jedes Kind als Kinder-erziehungszeit bei der Rente angerechnet werden, unddie insgesamt zehn Jahre Kinderberücksichtigungszeit,also Zeiten, in denen weder gearbeitet werden mussnoch Beiträge gezahlt werden müssen.
Zehn Jahre zusätzlich schenken wir den Müttern bei derBerechnung der 45 Jahre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, diese Koali-tion, haben die Mütterrente verbessert, indem wir für vor1992 geborene Kinder die Kindererziehungszeiten ver-doppelt haben.
Wir haben dafür gesorgt, dass auf die 45 Jahre, die not-wendig sind, um den Status des besonders langjährigVersicherten zu erreichen, zehn Jahre Kinderberücksich-tigungszeit angerechnet werden. Mehr als diese GroßeKoalition hat bisher niemand in Deutschland für dieRente der Mütter getan.
Angesichts dieser Tatsachen ist es infam und lächerlich,was die Linken hier abziehen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Linke rech-net immer damit, dass nicht jeder die genauen Regelun-gen des Rentenrechts kennt und ihre Parolen sich deswe-gen irgendwo verfangen können.
Wenn eine Frau heute oder morgen, also mitten imMärz, in Mutterschutz geht, dann zählt der gesamteMärz als Beitragszeit.
– Langsam. – Wenn das Kind im April auf die Weltkommt, dann zählt der gesamte April für das erste JahrKinderberücksichtigungszeit, sprich: null Lücke in derRentenbiografie. Das ist die bestehende gesetzliche Re-gelung.
Wenn in den kommenden Jahren ein zweites oderdrittes Kind geboren wird, dann ist das in den seltenstenFällen zwölf Jahre nach dem ersten Kind der Fall. DieFrau ist also noch mitten in der Kinderberücksichti-gungszeit, die dann neu berechnet wird. Das heißt, dervon Herrn Birkwald geschilderte Fall, dass bei mehrerenKindern mehrere Lücken entstehen können, trifft nichtzu.
In der Regel gibt es eine geschlossene Rentenbiografiealler Mütter, die Kinder gebären, was die Berechnungder 45 Jahre anbelangt.
Nun habe ich das Bundesministerium für Arbeit undSoziales gefragt: Ist dem Ministerium zumindest ein ein-ziger Fall bekannt, in dem zwischen Eintritt der Mutter-schutzfrist und der Geburt des Kindes zwei Monats-wechsel liegen
und aus diesem Grund bei der Berechnung von 45 Bei-tragsjahren zum Bezug einer abschlagsfreien Rente tat-sächlich vier Wochen fehlen könnten? Das Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales hat mir am 2. Märzgeantwortet: Dem Ministerium ist kein einziger solcherkonkreter Fall bekannt. – Es ist doch bemerkenswert,dass, obwohl es gar keinen bekannten Fall gibt, in demjemandem wirklich diese Zeit fehlt, die Linken einensolchen Antrag einbringen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerinnenund Bürger in unserem Land gehen wirklich davon aus,dass es um 45 Beitragsjahre geht, in denen man sichdurch harte Arbeit seine Rente verdient hat.
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Kollege Weiß, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Birkwald?
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, Herr
Kollege Weiß. – Wenn das alles so wäre, wie Sie sagen,
dann gäbe es keinen Grund, dass es a) eine Petition dazu
gibt und b) das Ministerium darauf antwortet. Ich habe
hier noch eine, die die schöne Nummer 51802 hat. Sie ist
relativ kurz. Heute rief in meinem Büro eine Kollegin
vom Deutschlandfunk an und bezog sich auf diese Ge-
rechtigkeitslücke. Es gibt sie also sehr wohl.
Ich habe eben in meiner Rede gesagt, dass es nicht
viele Fälle gibt und dass deshalb auch der Finanzbedarf
nicht so groß ist. Hier geht es aber um das Prinzip. Es ist
richtig, was Sie gesagt haben: In dem Monat, in dem das
Kind geboren wird, gilt der Schutz schon; aber in dem
Zeitraum davor nicht. Das sind bis zu vier Wochen. Ver-
mutlich werden es nicht so viele Fälle sein. Die Erfah-
rung können wir noch gar nicht haben, weil das Gesetz
erst seit kurzem gilt. Wir wissen aber, dass es bisher
232 000 Anträge gibt, 77 333 ungefähr von Frauen. Die
Mütter müssen Sie aus diesen herausfiltern. Diese Zahl
kann das Ministerium bisher gar nicht vorlegen.
Regeln Sie diese Zeit. Fügen Sie in den § 51 Absatz
3 a SGB VI die entsprechende Passage ein. Es kostet Sie
nicht viel, außer ein bisschen Goodwill. Dann kann kei-
ner Mutter mehr etwas passieren.
Verehrter Herr Kollege Birkwald, ich habe auch nach-gefragt, ob den Petitionen, die eingereicht worden sindund die Sie zitieren, jeweils seitens der Petenten ein kon-kreter Fall zugrunde liegt, in dem wegen Nichtanrech-nung von Mutterschutzzeiten exakt aus diesem Grunddie 45 Jahre nicht erreicht werden. Die Antwort ist: Inkeiner der eingereichten Petitionen gibt es einen solchenFall.Das heißt, weder dem Bundesministerium für Arbeitund Soziales ist so etwas bekannt noch der DeutschenRentenversicherung, noch liegt den Petitionen, die beiuns eingereicht worden sind, diese Fallkonstellation zu-grunde. Sprich: Sie haben einen Antrag zu einer Sachegestellt, zu der es überhaupt keinen konkreten Fall einesMenschen gibt, der irgendeinen Nachteil hat. Das ist derPunkt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, diewesentliche Aussage ist, dass wir in der Tat bei der Be-rechnung der 45 Beitragsjahre eine ausgesprochenfrauen- und mütterfreundliche Konstellation gewählt ha-ben. Vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ist das In-strument der Kinderberücksichtigungszeiten nicht be-kannt, nämlich dass ab der Geburt des letzten Kindeszehn Jahre mit berücksichtigt werden, auch wenn in die-sen zehn Jahren nicht gearbeitet wurde und keine Bei-träge gezahlt worden sind.
Die Anerkennung von Kindererziehungs- bzw. -berück-sichtigungszeiten bei der Berechnung der 45 Jahre ist so-zusagen der wichtigste Beitrag, den wir zur Mütterrentegeleistet haben.Ich bin gerne bereit, zu sagen: Ja, wir wollen uns dasim Detail noch einmal anschauen. Aber dass die Refor-men, die wir zugunsten der Frauen und Mütter in unse-rem Land durchgeführt haben, jetzt in einer Bundestags-debatte mit Beispielen, die an den Haaren herbeigezogensind und für die es bisher keinen einzigen konkreten Be-leg gibt, schlechtgeredet werden, zeigt, wie die Linke ar-beitet: Sie hetzt die Leute auf und verunsichert sie, wäh-rend sie die Wahrheit, die Fakten über unser Rentenrechtverschweigt. Das lassen wir ihr nicht durchgehen; das istder Punkt.
Ihrem Gesetzentwurf können wir schon deswegennicht zustimmen, weil das, was Sie zur Geburt eines odermehrerer Kindern aussagen, auf jeden Fall grundlegendfalsch ist. Einem Gesetzentwurf, der falsche Behauptun-gen beinhaltet, werden wir erst recht nicht zustimmen.Auch das ist klar.Ich will wiederholen, was bei 45 Beitragsjahren ange-rechnet wird – das ist doch ganz beachtlich –: selbstver-ständlich Pflichtbeiträge aus Beschäftigung. Neu mitaufgenommen haben wir Zeiten aus selbstständiger Tä-tigkeit, wenn zuvor 18 Jahre Pflichtbeiträge gezahlt wor-den sind. Auch das ist eine Neuerung. Wir haben Zeitendes Wehr- und Zivildienstes integriert. Wir haben Zeitender Kindererziehung bis zum zehnten Lebensjahr desKindes aufgenommen, die sogenannten Kinderberück-sichtigungszeiten, die ich schon erwähnt habe. Es wer-den Zeiten berücksichtigt, in denen Arbeitslosengeld,Teilarbeitslosengeld, Leistung bei Krankheit oder Über-gangsgeld bezogen worden sind. Wir haben Zeiten desBezugs von Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld,Winterausfallgeld, von Insolvenzgeld und Konkursaus-fallgeld mit eingerechnet. Hinzu kommen zu Recht Er-satzzeiten, wie zum Beispiel die politische Haft in derehemaligen DDR. Das alles zählt bei 45 Beitragsjahrenmit. Ich finde, das ist beachtlich.
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Peter Weiß
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In der Tat zählen sogenannte Anrechnungszeiten nichtmit, zum Beispiel Zeiten eines Schulbesuchs, einesFachschulbesuchs oder eines Hochschulbesuchs, Zeitendes Bezugs von Arbeitslosenhilfe oder des Bezugs vonArbeitslosengeld II, Zurechnungszeiten und zusätzlicheWartezeitmonate aufgrund eines Versorgungsausgleichsoder eines Rentensplittings. Ich finde, das, was wir beiden 45 Jahren mitrechnen, ist mehr als das, was die aller-meisten Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ver-muten.Das, was wir mit dem Rentenpaket beschlossen habenund zum 1. Juli vergangenen Jahres in Kraft gesetzt ha-ben, kann sich sehen lassen. Sehen lassen kann sich auchdas, was wir für die Mütter getan haben, nämlich dieVerdoppelung der Anrechnung von Kindererziehungs-zeiten für vor 1992 geborene Kinder und die Einrech-nung der Kinderberücksichtigungszeiten, also die Zeitender Kindererziehung bis zum zehnten Lebensjahr desKindes, in die 45 Jahre.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, das Ren-tenpaket ist ein Rentenpaket, mit dem wir uns klar dazubekennen: Die Erziehung von Kindern ist ein Beitrag zurStabilisierung unseres sozialen Sicherungssystems. DieErziehung von Kindern ist eine wichtige Voraussetzung,eine Basis dafür, dass unsere Gesellschaft auch in Zu-kunft lebendig und leistungsfähig bleibt. Was Eltern leis-ten, ist eine großartige Leistung, die man nicht alleindurch Geld und Rentenpunkte anerkennen kann, die aberzu Recht auch durch Geld und Rentenpunkte mit aner-kannt werden soll. Ich finde, mit den Berücksichtigungs-zeiten für Kindererziehung in unserem Rentenrecht kön-nen wir uns sehen lassen. Wir brauchen dazu keinenLinken-Antrag.Vielen Dank.
Der Kollege Markus Kurth hat für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als ich gerade den detaillierten Ausführungen von HerrnWeiß zugehört habe und dann an die nicht mehr so vie-len Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribünedachte, beschlich mich der Gedanke: Vielleicht ist esgut, dass manche Debatten erst am Abend geführt wer-den;
denn das alles ist doch nicht so einfach nachzuvollzie-hen.Mich beschleicht auch der Gedanke, MatthiasBirkwald, dass da vielleicht tatsächlich etwas aufge-spießt ist – eine vierwöchige Lücke in der Anrechnungvon Beitragszeiten, die entstehen kann –, dass diese Lü-cke im wirklichen Leben aber mutmaßlich so gut wie garkeine Rolle spielen wird.
Gut, man erlebt im Parlament manchmal solche Ge-schichten. Wir haben heute hier ja auch die Tarifeinheitberaten. Auch da haben wir festgestellt, dass das Ta-rifeinheitsgesetz ein Gesetz ist, das die gesellschaftlicheWirklichkeit nicht benötigt.
Insofern kennt sich die Regierung ebenfalls in dieser Artvon Gesetzesarbeit aus.Meine Damen und Herren, gleichwohl gibt diese De-batte noch einmal die Gelegenheit, grundsätzlich aufzwei oder drei Dinge bezüglich der sogenannten Rentemit 63 – oder besser: abschlagsfreien Rente nach 45 Bei-tragsjahren – einzugehen. Herr Weiß, Sie haben das jetztwieder sehr stark gelobt. Tatsache ist doch – niemandwill denen, die 45 Jahre lang Beiträge gezahlt haben,dies streitig machen –, dass das an den großen Heraus-forderungen, vor denen die gesetzliche Rente steht, vor-beigeht und nicht diejenigen trifft, die es wirklich brau-chen.
Es trifft zum Beispiel nicht denjenigen in der Holz- undKunststoffverarbeitung, der durchschnittlich mit 59 Jah-ren aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Auch trifft esnicht den Maurer, der durchschnittlich mit 61 Jahren ausdem Erwerbsleben austritt. All diese zahlen aber dieRente mit 63 mit, und zwar gleich mehrmals. Sie bezah-len sie nämlich perspektivisch über höhere Beitrags-sätze, über ein niedrigeres Rentenniveau und dann nocheinmal über den Steuerzuschuss mit ihren Steuern. Dassind Ungerechtigkeiten, die überhaupt erst durch IhrePolitik ausgelöst worden sind.
Während die einen nach 45 Beitragsjahren in Rentegehen können, obwohl sie vielleicht noch arbeiten könn-ten, werden voll erwerbsgeminderte Personen mit Ab-schlägen bestraft, obwohl sie aus gesundheitlichenGründen den Zeitpunkt ihres Renteneintritts gar nichtfrei wählen können – und dies, obwohl einige von ihnenvielleicht noch ganz gerne weitergearbeitet hätten. Aufall diese Ungerechtigkeiten gibt die Rente mit 63 keineAntworten. Da bietet der Gesetzentwurf der Linken eineGelegenheit, noch einmal über verschiedene Themen zudiskutieren.Die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren istauch mit erheblichen geschlechterpolitischen Effektenverbunden. Wir stellen jetzt fest – das hatten Sie auchangenommen –, dass drei Viertel der Antragsteller undBezieher Männer sind. Herr Birkwald, Sie selber habendie Zahlen genannt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8697
Markus Kurth
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– Gut, zwei Drittel bis drei Viertel. Warten wir bis fest-steht, wie die Antragszahlen sind. Jedenfalls sind es ganzüberwiegend Männer und eben nicht Frauen. Sie warenja gezwungen, die Berücksichtigungszeit wegen Kinder-erziehung auf zehn Jahre auszudehnen. Sonst hätte esnoch schlechter ausgesehen.Ganz absurd finde ich das, was sich jetzt im Zusam-menhang mit dem sogenannten rollierenden Stichtagzeigt. Man sieht das jetzt in meiner Nachbarstadt Bo-chum: Diejenigen Opelaner, die nach der Werks-schließung arbeitslos werden, zwei Jahre arbeitslos sindund dann möglicherweise die Voraussetzungen erfüllenkönnten, wenn die Arbeitslosigkeit am Ende des Er-werbslebens anerkannt würde, werden die abschlagsfreieRente nicht bekommen. Sie sind unfreiwillig in die Ar-beitslosigkeit gegangen, aber sie bekommen das nichtanerkannt; denn es handelt sich um eine Standortverla-gerung und -schließung im Rahmen der Konzernstrate-gie, aber nicht um eine Betriebsinsolvenz. Derjenige Be-schäftigte aber, der bei einem Zulieferer für Opelgearbeitet hat und seinen Arbeitsplatz verliert, weil seinArbeitgeber aufgrund einer Werksschließung in Insol-venz gegangen ist, wird diese letzten beiden Jahre Ar-beitslosigkeit noch angerechnet bekommen. Er wird dieVoraussetzungen für die Rente nach 45 Jahren Erwerbs-tätigkeit erfüllen. Das ist nicht nur eklatant ungerecht,sondern verstößt auch gegen den Gleichheitsgrundsatz inder Verfassung. Darum wünschen wir – wie der KollegeBirkwald – dem DGB und den Klägern in dieser Hin-sicht sehr viel Erfolg.
Ich glaube, dass nach einiger Zeit – vielleicht nachdem Sommer – die Notwendigkeit besteht und sich dieGelegenheit ergibt, sich noch einmal mit all diesen sozu-sagen eingeschleppten Ungerechtigkeiten im Rahmendes Rentenpakets zu beschäftigen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dagmar
Schmidt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Zu-schauerinnen und Zuschauer! Liebe Kolleginnen undKollegen, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Partei Die Linke! Ja, es handelt sich bei der Frageder Anerkennung von Zeiten des Mutterschutzes bei derAltersrente für besonders langjährig Versicherte um eineUngerechtigkeit – theoretisch. Denn um was geht es?Herr Kurth, ich versuche, es trotz der Komplexität nocheinmal darzustellen.Zeiten des Mutterschutzes – also sechs Wochen vordem Geburtstermin und acht Wochen nach der Entbin-dung – werden bei der Altersrente für besonders langjäh-rig Versicherte nicht anerkannt. Das ist nicht neu. Es warauch damals bei der Einführung der Altersrente mit 65für langjährig Versicherte schon so. Aber das ist natür-lich insofern ungerecht, als dass nur Frauen davon be-troffen sein können.Wie groß ist das Problem, mit dem Sie uns beschäfti-gen? Jeder Monat, in dem die Frau auch nur einen Tagarbeitet und Beiträge zahlt, wird bei den 45 Jahren vollmitgerechnet.
Die Monate ab dem Zeitpunkt der Geburt werden alsKinderberücksichtigungszeiten auch mitgerechnet. Vonden 14 oder, wenn der kleine Schatz sich noch ein biss-chen Zeit lässt, 16 Wochen bleibt also im Höchstfall, beieinem ungünstigen Geburtstermin, ein Monat übrig.
Da ab Geburt eines Kindes zehn Jahre als Kindererzie-hungszeiten berücksichtigt werden, gilt dies nur dann,wenn dieser Monat nicht in die Kindererziehungszeiteines Geschwisterkindes fällt. Die theoretische Unge-rechtigkeit ist praktisch also keine. Aber sollte es diesentheoretischen Fall einmal praktisch geben, dann wäre dieKonsequenz, dass die Frau nicht an ihrem 63. Geburtstagabschlagsfrei in Rente gehen könnte, sondern noch vierWochen weiterarbeiten müsste und dann abschlagsfrei inRente gehen könnte, wie alle anderen auch. Halten wiralso fest: Sie machen hier einen großen Bahnhof für einsehr kleines, theoretisches Problem.
Es gibt allerdings reale und große Probleme fürFrauen. Das wird deutlich, wenn man ihre Rentensitua-tion betrachtet. Durchschnittlich ist die Rente von Män-nern fast doppelt so hoch wie die von Frauen. In West-deutschland ist der Abstand noch größer. Ein Problem istauch die Altersarmut von Frauen; denn Frauen erhaltenanderthalbmal so oft Grundsicherung im Alter wie Män-ner. Besonders dramatisch wird die Situation für Allein-erziehende.Die mit Abstand negativste Auswirkung auf die Rentevon Frauen hat die vergleichsweise kürzere Versiche-rungsbiografie, sprich: Frauen haben deutlich wenigerBeitragszeiten, die sich positiv auf die Rentenhöhe aus-wirken. Hinzu kommt die Lohndiskriminierung vonFrauen: Immer noch verdienen Frauen 22 Prozent weni-ger als Männer. Der Equal Pay Day zeigt es alljährlich.Männer können jedes Jahr theoretisch bis zum 20. Märzdie Füße hochlegen, um am Ende des Jahres das gleicheEinkommen zu erhalten wie Frauen, die vom 1. Januaran gearbeitet haben.Diese echten, realen und großen Ungerechtigkeitenlassen sich nicht allein über das Rentenrecht lösen. Dazu
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8698 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dagmar Schmidt
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muss man den Arbeitsmarkt ins Visier nehmen, und dazumuss man die Rechte und die Unterstützung von Frauenstärken. Das haben wir getan, und das werden wir auchweiterhin tun.
Vom Mindestlohn profitieren seit dem 1. Januar 20153,7 Millionen Beschäftigte. Über 60 Prozent davon sindFrauen. Gehen wir von einer Lohnerhöhung einer Fri-seurin von 4,50 Euro auf 8,50 Euro aus, dann würde das– in einer Modellrechnung –, über zehn Jahre gerechnet,eine Rentenerhöhung um circa 64 Euro bedeuten.Aber das allein reicht natürlich noch nicht. Wir wis-sen, dass Männer weniger arbeiten und mehr Zeit für dieFamilie haben wollen und dass Frauen mehr arbeitenund eine partnerschaftliche Aufteilung der Familienar-beit wünschen. Mit dem Elterngeld Plus ermöglichenund unterstützen wir genau das: Teilzeitarbeitsphasenmit positiven Effekten für die Rente statt reiner Kinder-erziehungszeiten.
Mit dem Rückkehrrecht in Vollzeit, das wir noch die-ses Jahr auf den Weg bringen, werden wir eine selbstbe-stimmte Erhöhung der Arbeitszeit ermöglichen, was einepositive Wirkung für die Rente haben wird.Für Verbesserungen im Bereich Kinderbetreuung ha-ben wir unter anderem das Sondervermögen „Kinderbe-treuungsausbau“ auf 1 Milliarde Euro aufgestockt.Eines unserer wichtigsten politischen Ziele bleibt es,die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männernbei gleichwertiger Arbeit zu schließen. Dazu gehört zumeinen eine bessere Bezahlung in den sogenannten typi-schen Frauenberufen, zum Beispiel in den BereichenPflege und Erziehung – die Weichen haben wir gestellt –,und zum anderen eine Entgeltgleichheit bei gleichwerti-ger Arbeit, die wir mit dem Entgeltgleichheitsgesetzüber Transparenz und Anpassungsdruck peu à peudurchsetzen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Partei DieLinke, das finden Sie doch auch alles toll.
Sie könnten uns doch, anstatt uns populistisch mitScheinproblemen zu beschäftigen, für das loben,
was wir bisher Gutes auf den Weg gebracht haben, undfeststellen, dass wir die realen Probleme anpacken unddie Geschlechtergerechtigkeit Stück für Stück voranbrin-gen.
Heute Morgen, beim Thema Mindestlohn, ging das jaauch. In diesem Sinne: Glück auf!
Der Kollege Matthäus Strebl hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! In dem Entwurf des Geset-zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetz-buch – Anrechnung von Zeiten des Mutterschutzes, dendie Fraktion Die Linke vorgelegt hat, wird festgestellt– ich zitiere –:… nur Frauen können von einem Beschäftigungs-verbot aufgrund des Mutterschutzgesetzes betroffensein.Allerdings kann ich den Schlussfolgerungen der An-tragsteller, nämlich Mutterschutzzeiten bei der Rente mit63 anzurechnen, nicht folgen und will dies im Folgendenauch begründen.Dazu ist zunächst erforderlich, einen kurzen Blick aufMutterschutzfristen und die damit verbundenen Beschäf-tigungsverbote zu werfen. Werdende Mütter dürfen be-kannterweise in den letzten sechs Wochen vor der Ent-bindung und bis zum Ablauf von acht Wochen – FrauKollegin Schmidt, Sie haben es gerade ausgeführt –, beiFrüh- und Mehrlingsgeburten bis zum Ablauf von zwölfWochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden.Um Mütter in dieser Zeit vor finanziellen Nachteilen zuschützen, regelt das Mutterschutzgesetz verschiedeneMutterschaftsleistungen, und die lassen sich sehen. Dazugehören beispielsweise das Mutterschaftsgeld, der Ar-beitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld während derMutterschutzfristen, das Arbeitsentgelt bei Beschäfti-gungsverboten außerhalb der Mutterschutzfristen, alsoder sogenannte Mutterschutzlohn, Urlaubsanspruch so-wie ein weitreichender Kündigungsschutz. Diese Leis-tungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, kön-nen sich sehen lassen.Diesem Maßnahmenbündel für Mütter scheint jedochentgegenzustehen, dass die genannten Beschäftigungs-verbote bei der Rente mit 63 nicht auf die Wartezeit von45 Jahren angerechnet werden. Ich darf daran erinnern,dass dieses kein Novum ist, zumal es die Altersrente fürbesonders langjährig Versicherte schon seit Anfang 2012gibt. Danach sind Versicherte, die die Wartezeit von45 Jahren erfüllen, von der stufenweisen Anhebung derRegelaltersgrenze auf 67 Jahre ausgenommen. Fernerhaben wir im vergangenen Jahr hier in diesem HohenHause die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren beschlos-sen. Um ihre konkrete Ausgestaltung geht es heute.Wie bei dem Rentenversicherungs-Altersgrenzenan-passungsgesetz von 2012 sind auch für die Gewährung
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8699
Matthäus Strebl
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der abschlagsfreien Rente mit 63 ebenfalls 45 Beitrags-jahre Voraussetzung.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, derAntragsteller kritisiert, dass hierbei die Zeiten des Mut-terschutzes nicht einfließen. Sie wollen mit Ihrem An-trag der Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Ge-schlechtes vorbeugen, doch von Diskriminierung kannüberhaupt keine Rede sein.Ich möchte an dieser Stelle eine aktuelle Antwort derBundesregierung auf eine Kleine Anfrage – hier bemüheich die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen – vom 7. Januar zitieren. Wörtlichheißt es dort:Das geltende Recht sieht keine Berücksichtigungvon Anrechnungszeiten wegen Schwangerschaftoder Mutterschutz bei der 45-jährigen Wartezeit fürdie abschlagsfreie Altersrente für besonders lang-jährig Versicherte vor.Und weiter heißt es:Regelungsintention dieser bereits seit 2012 einge-führten Rentenart ist es, denjenigen einen früheren,abschlagsfreien Rentenbeginn zu ermöglichen, diedurch jahrzehntelange Beschäftigung, selbständigeTätigkeit oder Pflegearbeit sowie Kindererziehungihren Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichenRentenversicherung geleistet haben. Dieser Rege-lungsintention widerspräche es, beitragsfreie Zeitenauf die 45-jährige Wartezeit anzurechnen.Nach Auffassung der Bundesregierung, meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen, widerspricht esalso dem Sinn der Rente ab 63, auch beitragsfreie Zeitenzu berücksichtigen. Auch der Vorwurf der Diskriminie-rung ist nicht stichhaltig; denn in der Bundestagsdruck-sache 18/909 ist bereits schlüssig dargelegt worden, dassdie jetzige Regelung gleichstellungspolitisch ausgewo-gen ist. Dieser Auffassung schließe ich mich vollinhalt-lich an.Einen weiteren Aspekt möchte ich noch erwähnen.Die Antragsteller räumen ein, dass die Zahl der betroffe-nen Frauen gerade einmal im Promillebereich liegenwird. Das ist dem Antrag der Linken zu entnehmen.2013 gab es demnach unter 650 000 neu bewilligten Al-tersrenten gerade einmal 2 441 Frauen, die möglicher-weise von der Anrechnung der Mutterschutzzeiten profi-tiert hätten. Eher dürften es noch weniger sein. Eineexakte Zahl liegt nicht vor. Entsprechend heißt es auchim Gesetzentwurf, dass „die Kosten als gering einzu-schätzen“ sind. Für mich sind diese eher geringen Kos-ten kein Argument für oder gegen die Annahme des Ge-setzentwurfes. Wenn er begründet wäre und damitUngerechtigkeit beseitigt würde, dann dürfte der Kos-tenaspekt gar keine Rolle spielen.
Kollege Strebl, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Keul?
Frau Präsidentin, ich bin fast am Ende meiner Rede
und möchte sie zu Ende führen. Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man
findet schwerlich Länder, in denen für Mütter so viel ge-
tan wird wie bei uns. Ich verweise in diesem Zusammen-
hang vor allem auch auf die Mütterrente, die wir im ver-
gangenen Jahr beschlossen haben. Damit haben wir zum
wiederholten Mal bewiesen, dass wir uns im Rahmen
des Möglichen für Mütter einsetzen. Der vorliegende
Gesetzentwurf widerspricht aber den Intentionen der
Rente mit 63 und der ordnungspolitischen Systematik.
Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Martin Rosemann hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Lieber Kollege MatthiasBirkwald, ich muss sagen: herzlichen Glückwunsch! Siehaben es wirklich geschafft, aus einer Mücke einen me-dialen Elefanten zu machen. Viel Lärm um nichts!Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat es schon ausge-führt: Es geht um maximal einen Monat, und bisher istkein einziger Fall bekannt, in dem wegen dieses einenMonats ein vorzeitiger Rentenzugang für besonderslangjährig Versicherte nicht möglich war.Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wir lassenuns die Leistungsverbesserungen des Rentenpakets nichtkaputtreden. Das gilt für die Mütterrente, das gilt für dieVerbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente, unddas gilt auch für den vorzeitigen Rentenzugang für be-sonders langjährig Versicherte. Wir wissen, dass vieleMenschen in Deutschland davon profitieren und uns da-für dankbar sind.
Im Übrigen möchte ich vorschlagen, dass wir uns,was die Alterssicherung von Frauen angeht, den wesent-lichen Problemen zuwenden. Die Armutsgefährdungs-quote von Frauen im Alter ist deutlich höher als die vonMännern.
Frauen erzielen im Durchschnitt nur etwa 60 Prozent derRentenansprüche der Männer. Dies ist die Folge unter-schiedlicher Erwerbsbiografien.
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8700 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Martin Rosemann
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Es geht auf eine zu geringe Erwerbsbeteiligung vonFrauen vor allem in sozialversicherungspflichtiger Voll-zeitbeschäftigung bzw. in vollzeitnaher Teilzeitbeschäf-tigung zurück. Zwar ist die Erwerbsbeteiligung vonFrauen in den vergangenen Jahren gestiegen, aber wirliegen immer noch hinter Ländern wie Schweden undNorwegen zurück.Zudem arbeiten zu viele Frauen in Teilzeit, häufig mitgeringer Stundenzahl. Dabei handelt es sich zu häufigum ungewollte Teilzeit: Fast jede fünfte teilzeitbeschäf-tigte Frau arbeitet in Teilzeit, weil sie keine Vollzeitstellefindet.Daneben sind geringere Löhne und Einkommen fürdie geringeren Rentenansprüche von Frauen verantwort-lich: Frauen bekommen in der Stunde im Durchschnittimmer noch 22 Prozent weniger als Männer. 7 Prozent-punkte gehen auf direkte Lohndiskriminierung zurück,das heißt auf die Fälle, in denen Frauen für die gleicheArbeit im gleichen Betrieb weniger bekommen als Män-ner. Frauen bekommen aber auch deshalb geringereLöhne, weil sie häufiger in sozialen Berufen arbeitenund weniger in Führungspositionen vertreten sind.All das sind potenzielle Hindernisse für eine aus-kömmliche Rente. Deshalb sind dies zentrale Ziele derPolitik:Erstens: bessere Vereinbarkeit von Familie und Berufund eine andere Aufteilung der Erwerbsarbeit zwischenFrauen und Männern,
damit mehr Frauen in sozialversicherungspflichtigenVollzeit- oder vollzeitnahen Teilzeitbeschäftigungsver-hältnissen arbeiten können. Zweitens: gleiche Bezahlungfür gleiche Arbeit. Drittens: die Aufwertung sozialer Be-rufe. Viertens: mehr Frauen in Führungspositionen.
Genau hier setzen wir an. Genau dafür hat die SPD inder Großen Koalition Maßnahmen zur Förderung derGleichstellung von Frauen und Männern im Erwerbsle-ben durchgesetzt.
Wir haben das Elterngeld Plus beschlossen. Wir ha-ben den Partnerschaftsbonus im Elterngeld eingeführt,damit Arbeit und Familie besser vereinbart werden kön-nen und damit eine bessere Aufteilung der Erwerbs- undFamilienarbeit zwischen Männern und Frauen gewähr-leistet werden kann.
Wir unterstützen Länder und Kommunen beim Aus-bau der Kinderbetreuung. Wir entlasten in dieser Legis-laturperiode – wie noch keine Bundesregierung zuvor –Länder und Kommunen massiv. Damit ermöglichen wirden Kommunen, die Erzieherinnen und Erzieher endlichbesser zu bezahlen, damit dieser Beruf entsprechend ho-noriert wird.
Die Aufwertung sozialer Berufe gilt übrigens nichtnur für die Kinderbetreuung, sondern auch für diePflege. Mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz hat dieSPD durchgesetzt, dass Pflegeeinrichtungen, die Tarif-lohn zahlen, zukünftig besser dastehen; denn Tariflohn-steigerungen können bei den Pflegesatzverhandlungen inZukunft nicht mehr als unwirtschaftlich abgelehnt wer-den können.Wir bereiten ein Pflegeberufegesetz vor, durch daswir für eine Attraktivitätssteigerung in den Pflegeberu-fen sorgen wollen.
Außerdem – das hat die Frau Kollegin Schmidt schonangesprochen – sorgen wir für gerechtere Bezahlung;denn vom Mindestlohn profitieren vor allem Frauen. Wirschaffen ein Entgeltgleichheitsgesetz. Wir wollen zudemden Anteil weiblicher Führungskräfte in Deutschland er-höhen. Deshalb werden wir morgen hier in diesem Hausdie gesetzliche Frauenquote beschließen, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Damit erhöhen wir die Chancen der vielen hochqualifi-zierten Frauen, in die Chefetage aufzurücken.Das alles sind Maßnahmen, die die Gleichstellungvon Frauen und Männern im Erwerbsleben wirklich för-dern.
Damit tragen wir dazu bei, dass sich die Einkommenssi-tuationen der Frauen im Alter verbessern werden.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/4107 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8701
Vizepräsidentin Petra Pau
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dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Regionalisie-rungsgesetzesDrucksachen 18/3785, 18/3993Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/4164– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/4189Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Sobald sich die Fraktionen geordnet haben, könnenwir mit der Aussprache beginnen. – Ich eröffne die Aus-sprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekre-tär Enak Ferlemann.
E
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor fünf Wochen hat die Bundesregierung ih-ren Gesetzentwurf zur Änderung des Regionalisierungs-gesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Vorzehn Tagen wurde eine Anhörung zu diesem Themadurchgeführt, an der zahlreiche Experten teilgenommenhaben. Heute wird, so denke ich, der Deutsche Bundes-tag die Änderungen im Regionalisierungsgesetz mit gro-ßer Mehrheit beschließen. Das bedeutet die Verlänge-rung der bisherigen Finanzierungsusancen um einweiteres Jahr. Das bedeutet auch, dass die Mittel in die-sem Jahr linear um 1,5 Prozent steigen werden, wie dasin den vergangenen Jahren auch der Fall war.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Er-folgsgeschichte der Regionalisierung für ein weiteresJahr fortgeschrieben. Sie ist der wohl größte Erfolg derEisenbahnreform. In diesem Sinne ist es wichtig, dassauch der Bund zur Finanzierung dieses so wichtigenTeils der Eisenbahnpolitik beiträgt. Der Nahverkehrwird dichter und dichter, wird von immer mehr Bürge-rinnen und Bürgern genutzt. Das ist das, was wir wollen.Allerdings kann man sicherlich fragen: Warum macht ihrdie Regelung nur für ein Jahr, warum macht ihr sie nichtfür länger?
– Ich weiß ja, wie Sie denken; da will ich das gleich malaufnehmen.
Wir brauchen ja eine gewisse Verlässlichkeit.
Nahverkehrsverträge werden schließlich über langeJahre abgeschlossen, die Investitionen sind hoch und dieEisenbahninfrastrukturbetreiber müssen wissen, mitwelchen Verkehren sie auf der Infrastruktur zu rechnenhaben, die die Besteller – in dem Fall: die Länder unddie Nahverkehrsgesellschaften – dann veranlassen. Inso-fern ist es sicherlich richtig, dass man über längerfristigeDinge nachdenkt.Allerdings muss es Finanzvereinbarungen zwischenBund und Ländern geben, und wir haben schon bei derEingangsdebatte – auch bei der Debatte im Ausschuss –erlebt, dass ein wesentliches Problem darin besteht, dasswir als Bund eigentlich gar nichts zu sagen haben. Wirreichen das Geld an die Länder, und die Länder könnenvöllig frei entscheiden, was sie mit dem Geld machen.Wir haben keinen Einfluss darauf, was sie damit ma-chen. Wir haben nicht einmal – bis zuletzt – eine genaueKenntnis dessen, was sie damit eigentlich gemacht ha-ben.Von daher gesehen stellt sich in einer Situation, in derBund und Länder über Finanzvereinbarungen sprechenund sich über Bund-Länder-Finanzierungsfragen inten-siv Gedanken machen, natürlich schon die Frage, obman nicht etwas weiter denken sollte. Ich bin dem Bun-desfinanzminister und auch seinen Staatssekretären au-ßerordentlich dankbar dafür, dass sie den Schritt etwasweiter denken, nicht kleines Karo denken, sondern maldie größeren Linien andenken. Wenn denn der Bund so-wieso keinen Einfluss hat, wenn denn der Bund sowiesonur Geld an die Länder verteilt, warum sollen wir uns esnicht einfacher machen – nach dem Motto „Sparen wirdoch mal ein bisschen Bürokratie in Deutschland ein; da-von haben wir sowieso viel zu viel“ – und sagen: „Dannkriegen die Länder einen Punkt Mehrwertsteuer mehr;dafür können sie die Regionalisierungsmittel selber ver-walten, ohne dass wir als Bund irgendetwas damit zu tunhaben“? Und weil die Länder natürlich belastet sind – sosagt der Finanzminister, so sagt der Bundesrechnungs-hof –, kann man darüber nachdenken, die Auftragsver-waltung bei den Straßen vielleicht besser auf den Bundzu ziehen.
Auch das ist ein Reformvorschlag, über den sich nachzu-denken lohnt.Deswegen glaube ich, es ist richtig, wenn der Deut-sche Bundestag heute sagt: Wir beschließen ein Gesetzfür ein Jahr, um uns die Zeit zu geben, diese Reform-überlegungen vielleicht zu einem für Deutschland insge-samt guten Ende in der Bund-Länder-Beziehung zu füh-ren: weniger Bürokratie, schlankere Verfahren, einfaches
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Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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Handling, so wie wir das in unseren Sonntagsreden ei-gentlich immer vorhaben.
Deswegen plädiere ich dafür, dass wir uns in diesem Jahrdiesem Thema deutlich mehr widmen. Ich plädiere auchan den Bundesrat, von dem ich ja höre, dass er diesesGesetz vielleicht in ein Vermittlungsverfahren bringenwill.
Da wünsche ich ja viel Spaß!
– Ich weiß ja, wie ihr Grünen in den Ländern denkt: ver-antwortungslos. Ihr müsst mal an die Nutzer denken, andie Kunden!
Für die seid ihr verantwortlich. Und die Reisenden lei-den darunter, wenn Leute wie Sie so eine Politik in denLändern betreiben, wie Sie sie betreiben.
Von daher gesehen wäre es sehr viel klüger, dieses Ge-setz durchlaufen zu lassen, die Diskussion über die Re-formbestrebungen, wie ich sie geschildert habe, wie sieder kluge Finanzminister
vorbereitet und der kluge Bundesrechnungshof vor-schlägt, fortzuführen und vielleicht mal ein bisschenmehr nachzudenken.Ich erhoffe mir, dass wir mit diesem Gesetz heute gro-ßen Erfolg haben werden,
nicht nur hier im Parlament, sondern auch im Bundesrat,und bedanke mich für die gute Beratung und die Be-schlussfassung.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine
Leidig das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Gäste! Verantwortungslos ist die Bundesregie-rung;
denn sie lässt zu, dass in den Ländern völlige Unsicher-heit darüber besteht, wie es mit der Finanzierung imNahverkehr weitergeht. In meiner Region, beim Rhein-Main-Verkehrsverbund, ist die Situation ziemlich dra-matisch. Die Fahrgastzahlen wachsen beständig. Es gibtAusbaupläne; die sind jedoch gestoppt, auf Eis gelegt. Inder Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist zu lesen: Zumersten Mal seit der Gründung des Verkehrsverbundes imMai 1995, also seit 20 Jahren, ist offen, mit wie vielGeld der RMV für das Folgejahr rechnen kann. DiesesProblem betrifft die Verkehrsträger im Nahverkehr ins-gesamt. Im Odenwaldkreis beispielsweise wird über Ab-bestellungen von Nahverkehrsverbindungen nachge-dacht, die notwendig werden, wenn nicht eineentsprechende dauerhafte Finanzierung gelingt.Hier muss der Bund tätig werden. Es steht seit langemfest, dass das den Nahverkehr betreffende Regionalisie-rungsgesetz ausläuft und man ein Anschlussgesetzbraucht; das ist nichts Neues. Wenn Sie Kritik an denLändern anführen, dann muss ich Ihnen sagen: Sie hat-ten genug Zeit, um diese Themen zu diskutieren undeine Einigung zu finden.
Das haben Sie nicht gemacht. Sie haben die Länder hin-gehalten, haben eine schlechte Zwischenlösung vorge-legt und haben die wirklichen Probleme, zum Beispiel,dass die Trassenpreise, die die Deutsche Bahn AG ver-langt, über den Erhöhungsbetrag permanent steigen unddamit immer weniger für Nahverkehrszüge und für Fahr-gäste übrig bleibt, überhaupt nicht in Angriff genom-men. Dabei liegt es eigentlich auf der Hand, was zu tunist.
Wir haben in der Expertenanhörung sowohl mit demGutachter des Bundes als auch mit dem Gutachter derLänder gesprochen. Beide waren der Meinung, es seiüberhaupt kein Problem, gemeinsam eine Lösung aufden Tisch zu legen. Aber – das ist die wirklich interes-sante Stelle, die die Verantwortungslosigkeit zeigt – da-rum geht es dem Bund nicht. Wir haben oft nachgefragt,was eigentlich dahintersteckt, warum man so hingehal-ten wird und warum die Argumente nicht auf den Tischgelegt werden. Natürlich könnte der Bund bei der Aus-gestaltung des Nahverkehrs steuernd eingreifen. Durchdas Regionalisierungsgesetz können nicht nur die Geld-flüsse geregelt werden, sondern zum Beispiel auch dieQualität des Nahverkehrsangebotes, die Frage der Ar-beitsbedingungen usw. Das könnte man alles in einemRegionalisierungsgesetz regeln. Aber das wollen Sie garnicht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8703
Sabine Leidig
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Der Punkt ist – das hat Herr Ferlemann in der letztenSitzung des Verkehrsausschusses zum ersten Mal ausge-packt; da hat er die Katze aus dem Sack gelassen –: DerBund will den Ländern den Nahverkehr sozusagen hin-schmeißen und dafür – das ist das Interessante – den Stra-ßenbau, die Auftragsverwaltung der Straßen komplettauf Bundesebene ziehen. Warum? Es ist mit der Privati-sierung des Straßenbaus eine große Nummer geplant;Sie haben es gerade gesagt, Herr Ferlemann. Finanz-minister Schäuble bereitet etwas vor und will – das istvöllig klar –, dass die Straßen in einer bundeseigenenGesellschaft organisiert werden. WirtschaftsministerGabriel will einen großen Privatisierungs-, einen großenInvestitionsfonds auflegen und den Versicherungskon-zernen und den Banken günstige Anlagemöglichkeitenverschaffen. Verkehrsminister Dobrindt redet landauf,landab von öffentlich-privaten Partnerschaften im Stra-ßenbau. So wird ein Schuh aus dieser Nummer.Ich finde es absolut verantwortungslos, dass Sie, umden Versicherungskonzernen und Banken im Bereich derStraßen sozusagen Anlagemöglichkeiten mit öffentlicherGewinngarantie zusagen zu können, auf der anderenSeite den Nahverkehr schleifen lassen und diese Privati-sierungsnummer fahren. Das führt in den Ländern und inden Kommunen zu Panik; die Verkehrsverbünde und dieFahrgäste wissen nicht, wie es weitergehen soll. Sie zo-cken mit der Infrastruktur und machen genau das Gegen-teil von dem, was notwendig wäre. Notwendig wäreneine auskömmliche Finanzierung mit einer dauerhaftenPerspektive, mit guten Qualitätskriterien für den ÖPNV,eine vernünftige Straßenbauverwaltung. Nötig ist aberkeine Privatisierungsnummer, die auf Kosten der Öffent-lichkeit einigen wenigen die Taschen noch praller macht.Vielen Dank.
Der Kollege Sebastian Hartmann hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auchwenn das eine sehr dramatische Beschreibung war, FrauKollegin Leidig, wir debattieren heute über die Regiona-lisierungsmittel und die auskömmliche Finanzierung desNahverkehrs.
Das Wort „Regionalisierungsmittel“ ist ein sperrigesWort.
– Sie müssen jetzt zuhören. – Es geht im Kern um dieMittel, die den Bundesländern zustehen, um ihre Auf-gabe, die sachgerechte Finanzierung des Nahverkehrs,sicherzustellen, um nicht mehr und nicht weniger.
Gleichzeitig – da gebe ich Herrn StaatssekretärFerlemann recht – blicken wir auf eine erfolgreicheBahnreform zurück mit einer Aufgabenzuweisung an dieLänder, was den Nahverkehr angeht, und einer Aufga-benzuweisung an den Bund, was den Fernverkehrangeht. Zugleich haben wir als Bund tatsächlich die Ver-antwortung, wenn wir an das Eisenbahnverkehrsunter-nehmen und das EisenbahninfrastrukturunternehmenBahn AG denken. Das ist unsere Verantwortung.
Insofern: Es geht heute Abend um eine zentrale Unter-scheidung, um zwei grundsätzlich voneinander zu tren-nende Sachverhalte. Das eine ist das kurzfristige Nachho-len einer ausgebliebenen Dynamisierung, die auf breiteKritik gestoßen ist. Sie wird heute Abend durch die Ver-abschiedung des Gesetzentwurfs der Bundesregierungnachgeholt – 1,5 Prozent mehr Geld für den Nahverkehrin Deutschland; knapp 110 Millionen Euro –,
damit diese Aufgabe in den Ländern erfüllt werdenkann.
Das andere, was dringend geboten und davon wirklichzu trennen ist, ist eine grundlegende Revision der Regio-nalisierungsmittel, um dauerhaft und zukunftsfähig dieAufgaben im Nahverkehr zu finanzieren.
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen.Das eine ist vom anderen zu trennen; denn wir müssenuns ausreichend Zeit nehmen,
um zu einer dauerhaften Lösung bei der Revision derRegionalisierungsmittel für die nächsten 15 Jahre zukommen. Sie können gerne versuchen, das zu vermi-schen. Sie können versuchen, den Menschen etwas ande-res einzureden. Aber darum geht es heute Abend nicht.Wir holen jetzt diese Dynamisierung nach. Aus Sicht derSPD – das sage ich Ihnen auch in aller Klarheit – ist esunerlässlich, dass wir bis Mitte des Jahres 2015 zu einerdauerhaften Lösung, was die Frage der Regionalisie-rungsmittel und ihrer Zukunft angeht, kommen, umdiese Aufgabe auch in den nächsten Jahren ausreichendzu finanzieren. Das ist die Planungssicherheit, die dieBundesländer und die Verkehrsträger brauchen, um dasgute Niveau, das Millionen von Nutzerinnen und Nut-zern vom Nahverkehr in unserem Land erwarten, sicher-
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8704 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Sebastian Hartmann
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zustellen, und die wir brauchen, damit wir ausreichendZeit für die Lösung dieser Frage haben. Darum geht es.
– Jetzt machen Sie es nicht schlimmer, als es ist, FrauKollegin Leidig. Wer als Opposition im Ausschuss ver-sucht, diesen Gesetzentwurf, den wir heute Abend be-schließen werden und der vorsieht, den Ländern über110 Millionen Euro mehr an Nahverkehrsmitteln zuüberweisen, von der Ausschusstagesordnung abzuset-zen und dann noch gegen den Antrag der Bundesregie-rung stimmt, will den Bundesländern die Zahlung voninsgesamt 110 Millionen Euro vorenthalten, die wir hierjetzt zur Verfügung stellen wollen. So ist es.
Kollege Hartmann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Leidig?
Ja, selbstverständlich, Frau Kollegin Leidig.
– Das sagt Herr Kauder manchmal.
Kollege Hartmann, ich finde, dass Sie hier in völlig
unredlicher Weise die Debatte verzerren. Fakt ist, dass
die Länder gemeinsam einen Gesetzentwurf vorgelegt
haben, der ganz anders aussieht als der des Bundes.
Unsere Auffassung ist nach wie vor, dass wir diesen Vor-
schlag der Länder thematisieren, behandeln und auch be-
schließen sollten, weil die Länder viel gründlicher mit
den Problemen vertraut sind, weil sie viel nachvollzieh-
barer dargelegt haben, warum sie dauerhaft eine Lösung
brauchen und nicht nur eine Zwischenlösung für ein
Jahr, nachdem ja völlig offen ist, wie es weitergeht, weil
sie Anschlussverträge für auslaufende Verkehrsverträge
aushandeln müssen, und zwar nicht für ein Jahr, sondern
für die nächsten 15 Jahre. Das ist unser Anliegen als Op-
position gewesen. Ich kann überhaupt nicht begreifen,
warum Sie sich gegen Ihre eigenen Ministerpräsidenten
stellen.
Wo ist die Frage, Frau Kollegin?
Die Kollegin hatte das Wort zu einer Frage oder Be-
merkung. Das habe ich Sie auch gefragt. Das gibt die
Geschäftsordnung her. Ihnen steht es jetzt frei, auf diese
Bemerkung zu antworten.
Das möchte ich tun.
Dazu müssen Sie stehen bleiben, Frau Leidig.
Ich werde jetzt auf Ihre Intervention antworten. Dasentspricht ja auch dem Gebot des parlamentarischenMiteinanders. – Sie stimmen mir sicherlich zu, Frau Kol-legin, dass Ihre Fraktion im Ausschuss in der vergange-nen Woche dafür gestimmt hat, den Tagesordnungspunkt„Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung“von der Tagesordnung abzusetzen. Als Sie damit keinenErfolg hatten, haben Sie sogar gegen diesen Entwurf ge-stimmt. In diesem Entwurf sind 109,5 Millionen Euromehr für den Nahverkehr vorgesehen. Das entspricht ei-ner Dynamisierung um 1,5 Prozent.
Das sind insgesamt 109,5 Millionen Euro mehr Mittel,die wir den Ländern zur Verfügung stellen, damit sie denNahverkehr ausreichend finanzieren können. Ich nehmeIhre Wortwahl auf. Sie haben zu Recht gesagt, dass essich um eine Zwischenlösung handelt. Das ist ein gutesStichwort. Sie erkennen, dass es um eine Zwischenlö-sung geht. Diese brauchen wir, um zu einer dauerhaftenRevision der Regionalisierungsmittel zu kommen. Umnicht mehr und nicht weniger geht es uns.Wenn ich dann den Punkt aus Ihrer Frage aufnehme– das müssen Sie jetzt auch zulassen –, dass es tatsäch-lich einen Entschließungsantrag der Grünen gibt, in demvorgesehen ist, einerseits die entsprechenden Zahlen desBundesgutachtens in Höhe von 7,65 Milliarden Euro zurGrundlage für das Haushaltsjahr 2015 zu machen, mussich sagen: Das ist in sich nicht schlüssig. Wenn Sie ei-nerseits die 7,65 Milliarden Euro
aus dem Gutachten des Bundes als auskömmlich anse-hen und auf der anderen Seite auf der Grundlage einesanderen Gutachtens verhandeln wollen, dann, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Grünen, müssen Sie sichschon entscheiden: Gilt das Gutachten des Bundes, odergilt das Gutachten der Länder von KCW? Das ist derPunkt.
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Sebastian Hartmann
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Sie sehen, dass der Teufel im Detail steckt. Wir brau-chen ausreichend Zeit für die Aufgabe, zwischen demBund und den Ländern eine Einigung hinsichtlich derFinanzierung des Nahverkehrs zu erzielen. Dazu müssenwir kommen. Das ist das Ziel, das wir verfolgen. Deswe-gen brauchen wir die kurzfristige Dynamisierung. Ichdanke Ihnen, Frau Leidig, dass Sie mir die Gelegenheitgegeben haben, das darzustellen.
Wir haben in der Tat eine aufschlussreiche Anhörungdurchgeführt. In dieser aufschlussreichen Anhörungging es nicht nur um die finanzielle Erhöhung der Mittel,sondern wir haben auch Hinweise bekommen, wie wirein zukünftiges Regulierungsregime gestalten können.Stations- und Trassenpreise sind das Stichwort. Natür-lich wollen wir nicht mehr in eine Situation kommen wiein der Vergangenheit, dass die gezahlten Mittel nicht mitder tatsächlichen Kostenentwicklung im Eisenbahnsek-tor übereinstimmen.
Wir wollen nicht, dass es zu Abbestellungen im Nahver-kehr kommt. Deswegen brauchen wir ausreichend Zeit,um diese Gutachten und die Erkenntnisse bewerten zukönnen, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auchinhaltlich. Sie können sich darauf verlassen, dass dieGroße Koalition das tun wird.Ich habe etwas dazu gesagt, wie Sie im Ausschussvorgegangen sind. Vermischen Sie bitte hier im Plenumnicht die kurzfristige Nachholung der Dynamisierung,also die Zurverfügungstellung von mehr Mitteln – auchwir hatten die zunächst ausgebliebene Dynamisierungkritisiert – mit der dauerhaften Lösung für die Zukunftder Regionalisierungsmittel. Da haben wir einiges anDiskussionsbedarf. Die Ergebnisse der Gutachten sindzu plausibilisieren, die Hinweise sind aufzunehmen, undüber das Regulierungsregime haben wir auch auf Bun-desebene zu diskutieren.Ich sage auch: Anerkennung an die Länder. Ja, die Län-der haben sich auch auf den Weg gemacht. Die Länder ha-ben nicht nur über die Höhe der Mittel entschieden, son-dern sie haben darüber hinaus mit dem sogenanntenKieler Schlüssel auch zu einer anderen Verteilung derMittel gefunden, um abzubilden, dass sich Verkehre,Einwohnerentwicklung und bestellte Zugkilometer tat-sächlich auseinanderentwickelt haben. Doch es ist un-sere Aufgabe, das auf Bundesebene zusammenzufassenund damit den Nahverkehr und den Fernverkehr als ge-meinsame Verantwortung von Bund und Ländern zu be-greifen.Wir brauchen dafür Zeit. Denn auf der Bundesebeneverantworten wir Finanzierungskreisläufe wie die nungetroffene Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung II,auf der Bundesebene tragen wir auch die Regulierungs-verantwortung, zum Beispiel durch den Eisenbahninfra-strukturbeirat, und setzen damit den europäischenRechtsrahmen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Eswird nicht ausreichen, zwei Zahlen aus zwei Gutachtenabzuschreiben. Vielmehr müssen wir diese wichtigeAufgabe für die nächsten 15 Jahre sicherstellen.Noch kurz etwas zum Stichwort „Transparenznach-weise“. Hier sind die Bundesländer angesprochen. Ja,wir als Bund werden 7,41 Milliarden Euro überweisen,wenn wir heute Abend den Gesetzentwurf so verabschie-den, wie ihn die Bundesregierung vorgelegt hat. Darüberhinaus wurden allein in 2014 insgesamt über 10,2 Mil-liarden Euro für den Nahverkehr aufgebracht. Wer dieLänder auf der einen Seite kritisiert, indem er sagt, dasser mehr Transparenznachweise braucht, muss auf der an-deren Seite aber auch anerkennen, dass weitere Mittel indiesem Finanzierungskreislauf Nahverkehr investiertwerden.Deswegen wollen wir die Aufgabe stärker machen.Wir wollen sie besser machen. Wir wollen die inhaltli-chen Hinweise, die wir bekommen haben, aufnehmen.Dafür müssen wir uns als Große Koalition entsprechendZeit nehmen. Eine Einigung setzt die Zustimmung bei-der Seiten voraus. Wir wollen die Aufgabe nicht infragestellen. Denn zukünftig müssen wir die Mittel nicht nurzweckbinden, sondern wir müssen die Mittel in dieserHöhe auch sichern, und wir müssen den zukünftigenFinanzbedarf entsprechend abbilden.Ich glaube, dass wir mit dem heutigen Schritt Zeit ge-winnen, um zu einer dauerhaften Lösung der Frage, zueiner grundlegenden Revision der Regionalisierungsmit-tel zu kommen. Deswegen: weniger Kritik, sondernmehr Auseinandersetzung mit den Gutachten, wenn mansie denn gelesen hat. Wir machen uns gemeinsam auf ei-nen guten Weg. Denn ich hatte nicht den Eindruck, dassSie, liebe Kollegen von den Grünen oder von den Lin-ken, den Nahverkehr als Erfolgsmodell in diesem Landinfrage stellen wollen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-lege Stephan Kühn das Wort.Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir stellen den Erfolg der Regionalisierung inkeiner Weise infrage. Im Gegenteil: Das tun gerade Siemit Ihrer Politik.
Man muss klar sagen: Die Regionalisierung im Zugeder Bahnreform war eine richtige Entscheidung. Heutenutzen mehr Menschen das Fahrangebot. Es ist ein at-traktiveres Angebot. Wir haben moderne neue Züge. Esist also eine Erfolgsgeschichte. Dabei geht es nicht nurum die Frage der Daseinsvorsorge, sondern auch darum,dass der Regionalverkehr auf der Schiene insbesondere
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8706 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Stephan Kühn
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den Wirtschaftsstandort Deutschland stützt, weil täglichMillionen Pendlerinnen und Pendler sicher zur Arbeitgelangen.Trotz all dieser Erfolge ist es aus meiner Sicht völligunerklärlich, dass derzeit dieses unwürdige Feilschender Bundesregierung mit den Ländern über die Regiona-lisierungsmittel stattfindet.
Sie tragen den Finanzpoker auf dem Rücken von 7 Mil-lionen Fahrgästen, die täglich auf einen attraktiven Nah-verkehr angewiesen sind, aus. Wenn man jetzt sagt, dieFortschreibung der Dynamisierung sei ein Erfolg, erin-nere ich daran, dass wir bereits in der Haushaltsberatungim November letzten Jahres beantragt haben, die Dyna-misierung für 2015 fortzuschreiben; dabei ging es umebendiese 109 Millionen Euro.
Das haben Sie abgelehnt. Wir hätten schon längst Pla-nungssicherheit haben und ein Signal an die Aufgaben-träger geben können, meine Damen und Herren.
Diese Debatte – das finde ich so schade, gerade wennwir unter Verkehrspolitikern diskutieren – dreht sich fastnur um die Frage, wie viel Geld der Bund den Länderngibt, aber viel zu wenig darum, was wir dafür bekom-men, welches die verkehrspolitischen Ziele sind und wiewir sie erreichen können. Ohne einen leistungsfähigenNahverkehr auf der Schiene erreichen wir unsere Klima-schutzziele nicht. Das war vermutlich auch die Erkennt-nis, die dahinter stand, die auskömmliche Finanzierungder Regionalisierungsmittel in den Klimaschutz-Aktionsplan aufzunehmen haben. Offensichtlich ist derschon wieder Makulatur; denn an dieser Stelle passiertja, wie gesagt, nichts.
Überraschenderweise gab es von VerkehrsministerDobrindt dann doch eine Wortmeldung zum ThemaRegionalisierung. Er hat nämlich WLAN in Regionalzü-gen gefordert. Das ist interessant. Er hat sich nämlich ankeiner Stelle für eine auskömmliche Mittelfinanzierungeingesetzt; ich habe von ihm kein Wort dazu gehört. Erist völlig abgetaucht und hat offensichtlich kein Interessean diesem Thema.
Offensichtlich reicht der verkehrspolitische Horizont desHerrn Minister gerade einmal bis zur Ausländermaut,und das war es dann auch.
Von einem engagierten Verkehrsminister hätte ich erwar-tet, dass er Vorkämpfer für eine bedarfsgerechte Finan-zierung des Nahverkehrs ist. Stattdessen trägt er die Ver-antwortung dafür, dass derzeit eine Hängepartie zulastender Bürgerinnen und Bürger, die auf einen attraktivenNahverkehr angewiesen sind, stattfindet.
Wir bewegen uns – das finde ich schon skandalös – ineinem quasi gesetzesfreien Raum. Die Zahlungen nachdem Regionalisierungsgesetz sind zum 31. Dezemberletzten Jahres ausgelaufen. Die Länder und Aufgabenträ-ger fahren praktisch auf Sicht und erhalten die Mittel un-ter Vorbehalt. Ich finde, das ist ein untragbarer Zustand.
Das Bundesverkehrsministerium hat eigens ein Gut-achten in Auftrag gegeben und ermitteln lassen, wiehoch der Finanzbedarf für den Nahverkehr auf derSchiene ist. In diesem Jahr liegt er mit 250 MillionenEuro über dem, was jetzt im Gesetzentwurf steht. Entwe-der traut der Minister dem Gutachter nicht oder hat esnicht genau gelesen.Herr Staatssekretär Ferlemann, Sie haben gesagt, Siewüssten gar nicht, wie die Mittel verwendet werden. Ichfinde, dann sollten Sie sich beide Gutachten einmal ge-nau ansehen. Auch im Gutachten der Länder wurdennicht irgendwelche Fantasiezahlen aufgeschrieben,sondern es wurde zusammengestellt, welche Beträge an-gesichts der bestellten Nahverkehrsleistungen fließen.Welche Nahverkehrsleistungen wurden landauf, landabfür die Bürgerinnen und Bürger bestellt? Das wurde auf-geschrieben und ist da nachzulesen. Insofern ist völligklar, wo das Geld hinfließt. Sich hinzustellen und an die-ser Stelle zu sagen, man wisse das alles nicht, ist dochsehr merkwürdig.
Im Frühjahr dieses Jahres, also noch bis April, müs-sen die Verkehrsverbünde die Angebotsplanung für 2016abschließen. Sie haben dabei keinerlei Planungssicher-heit. Bleibt es bei den finanziellen Rahmenbedingungen– es sieht ja danach aus –, drohen zum Jahresende Ange-botskürzungen und Streckenstilllegungen. Angesichtsvieler voller Nahverkehrszüge in den Ballungsräumenbrauchen wir genau das Gegenteil!
Kollege Kühn, achten Sie bitte auf die Zeit.Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Ich komme zum Schluss. – Ich finde es schon bemer-kenswert, wie die Frage der Regionalisierungsmittel, dieim Zuge der Bahnreform beschlossen wurden, und dieBund-Länder-Finanzbeziehungen durcheinandergebrachtwerden. Offensichtlich sollen die Regionalisierungsmittelwie auf einem arabischen Basar mit anderen Fragen derBund-Länder-Finanzbeziehungen Verhandlungsmasse sein.Ich finde das untragbar. Sie lassen die Fahrgäste damitim Regen stehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8707
Stephan Kühn
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Zum Abschluss möchte ich noch etwas sagen.
Kollege Kühn, das funktioniert jetzt nicht mehr. Das
Minuszeichen zeigt tatsächlich schon die Differenz an.
Sie müssen jetzt einen Punkt setzen.
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen: Ich halte es
für richtig, dass wir über Transparenz bei der Mittelver-
gabe sowie über Benchmarks mit Blick auf die Aufga-
benträger und die Länder reden, damit wir sicherstellen
können, dass die verkehrspolitischen Ziele erreicht wer-
den. Das müssen wir einfordern. Da sind wir gemeinsam
an der Sache dran.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Ulrich
Lange das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Kühn, „skandalös“, „Horrorszenario“,„abbestellen“, „Streckenstilllegungen“ – seien Sie docheinmal ganz ehrlich, und das haben Sie auch selbst ge-sagt: Regionalisierungsmittel für den Schienenpersonen-nahverkehr, über die wir hier reden, sind das Erfolgsmo-dell der Bahnreform von vor 20 Jahren.
– Das gefährden wir nicht, sondern das stabilisieren wir,und das bauen wir in aller Ruhe aus, und zwar ohne gro-ßes Getöse und ohne Skandale. Das möchte ich in allerDeutlichkeit gleich zu Beginn sagen.Bringen wir es doch einmal auf den Punkt. Wovonkonnten denn die Länder ausgehen für 2015? Sie konn-ten von nicht mehr ausgehen als von einer Dynamisie-rung um 1,5 Prozent, das heißt um 109 Millionen Euro.Wer das als Spatzendreck oder Kleinsumme bezeichnetoder sagt, das helfe nicht weiter, dem kann ich nur sa-gen: Das ist überheblich.Ich meine nicht, dass es seriös ist, zu verhandeln, in-dem man sich in Kiel zusammensetzt und einen Vertragzulasten Dritter, nämlich zulasten des Bundes, schließtund sagt: 8,5 Milliarden Euro. Obendrauf packen wirnoch die komplette Risikoübernahme in der Dynamisie-rung. – So einfach funktioniert das Ganze nicht.
Klar ist: Im Vorfeld wurde viel diskutiert. Wir habenjetzt – ich sage das als Verkehrspolitiker ausdrücklich –temporär für 2015 die Dynamisierung auf den Weg ge-bracht, weil wir wissen – wir sind Verkehrspolitiker –,dass wir den Ländern natürlich Planungssicherheit gebenmüssen, wobei die Planungssicherheit für 2015 nicht inmehr bestehen konnte als in den zusätzlichen 109 Mil-lionen Euro. Auch das gehört einfach zur Wahrheit.
Wir müssen – da sind wir uns in der Großen Koalitioneinig – in den Bund-Länder-Verhandlungen zügig zu ei-nem Ergebnis kommen. Ich hoffe, dass wir das bis zumSommer erreichen werden, damit ab 2016 Planungssi-cherheit für einen längeren Zeitraum besteht. Dabei lasseich einmal völlig offen, wie das Modell ausgestaltet ist,ob es so sein wird wie das, was Staatssekretär Ferlemannhier in den Raum gestellt hat.Eines ist auf jeden Fall klar, lieber Kollege Kühn: Wirverhandeln seriös und nicht auf einem türkischen Basar.
Ich verwahre mich gegen diese Form, hier Dinge in denRaum zu stellen.Die Länder wissen das ganz genau. Das zeigt auchdas Gutachten des Bundes, das den Finger ganz klar indie Wunde gelegt hat. Wir brauchen Transparenz bei derMittelverwendung; denn jedes Land geht dabei andersvor. Da muss man zunächst einmal die Darstellungswei-sen anpassen. Da muss man erst einmal plausibilisierenund harmonisieren.
Da muss man schauen, ob in den einzelnen LändernFahrzeuginvestitionen hineingerechnet worden sind odernicht enthalten sind. Da gibt es also ganz viele Punkte,die man als Verkehrspolitiker ganz seriös und ganz un-aufgeregt in diesem Zusammenhang diskutieren sollteund muss. Genau das werden wir tun.
Das bedeutet: Wenn wir als Bund jährlich mehr als7 Milliarden Euro an die Länder zahlen, brauchen wirvöllige Transparenz, eine einheitliche Systematik, eineinheitliches Berichtswesen und die Vergleichbarkeitvon Standards.
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8708 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Ulrich Lange
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Nur so können wir sicherstellen, dass die Mittelzweckgerichtet beim Schienenpersonennahverkehr an-kommen. Das wollen wir. Wir konzentrieren uns aufeine langfristige Lösung und auf ein tragfähiges Zu-kunftsmodell für die Regionalisierungsmittel.Der Gesetzentwurf, den wir jetzt, 2015, verabschie-den, ist temporär gedacht. Damit konnten und durftendie Länder rechnen. Dies bedeutet Planungssicherheit imJahre 2015.
Eine neue Planungssicherheit für die Jahre 2016 und fol-gende wollen und werden wir in diesem Jahr herstellen,und zwar in aller Ruhe und unter Gewährleistung dernotwendigen Transparenz für den Bund.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Regionalisierungsgesetzes.
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/4164, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/3785 und 18/3993 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung durch die Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
men.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4205. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja
Keul, Hans-Christian Ströbele, Luise Amtsberg,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Siebten Gesetzes zur Änderung der
Verwaltungsgerichtsordnung zum besseren
Rechtsschutz bei behördlich geheim gehalte-
nen Informationen
Drucksache 18/3921
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
– Offensichtlich gibt es hier einen größeren Schicht-
wechsel in den Fraktionen und Unruhe auf der Regie-
rungsbank – das wird hier richtig angemerkt –, und zwar
nicht in der zweiten Reihe. Herr Staatssekretär, es ist im-
mer die Frage, in welcher Lautstärke und an welcher
Stelle sich der Humor Bahn bricht.
Da nun alle Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Debatte teilhaben wollen, ihren Platz gefunden haben,
eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurfzur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vor, dersich – ich gebe es zu – sehr rechtstechnisch liest, aber einspannendes rechtsstaatliches Problem behandelt. MeinAnliegen ist, Ihnen das jetzt in vier Minuten zu vermit-teln.
Die Verwaltungsgerichtbarkeit ist das Markenzei-chen eines demokratischen Rechtsstaates. Warum? Weilin einem Rechtsstaat jeder staatliche Eingriff in dieRechte des Einzelnen nicht nur eine Rechtsgrundlagebraucht, sondern auch gerichtlich überprüfbar sein muss.Vor den Verwaltungsgerichten suchen die Bürgerinnenund Bürger also Rechtsschutz gegenüber Maßnahmendes Staates.Damit die Gerichte richtige Entscheidungen treffen,sind die Behörden nach § 99 Absatz 1 Verwaltungs-gerichtsordnung verpflichtet, dem Gericht relevante Ur-kunden und Akten vorzulegen. Das Gericht muss dieAkten der Behörden kennen, um zu beurteilen, ob derRechtsuchende in seinen Rechten verletzt worden ist.Eine von den Betroffenen akzeptierte Sachentscheidungist ohne Sachverhaltsaufklärung des Gerichtes undenk-bar – sollte man zumindest meinen.Diese Selbstverständlichkeit wird durch Satz 2 in§ 99 Absatz 1 VwGO allerdings schon wieder infragegestellt. Demnach kann die Behörde die Herausgabe ver-weigern, wenn es sich um geheimhaltungsbedürftige In-formationen handelt und das Staatswohl oder die RechteDritter durch das Bekanntwerden gefährdet sein könn-ten. In diesem Fall bleiben die in Rede stehenden Akten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8709
Katja Keul
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dem Verfahren und der Kenntnis des Gerichts der Haupt-sache entzogen.Um zu klären, ob die Zurückhaltung der Unterlagenwirklich gerechtfertigt ist, gibt es die Möglichkeit einesZwischenverfahrens nach § 99 Absatz 2 VwGO vor demnächsthöheren Gericht, also dem Oberverwaltungsge-richt oder dem Bundesverwaltungsgericht. In diesemnichtöffentlichen Zwischenverfahren wird lediglich ge-prüft, ob die infragestehenden Akten tatsächlich geheim-haltungsbedürftig sind. Wird dies bejaht, weiß man alsoimmer noch nicht, ob die Behörde rechtmäßig gehandelthat.Trotzdem muss das Gericht der Hauptsache irgend-eine Entscheidung treffen, ohne dass es die entschei-dungsrelevanten Unterlagen dazu jemals zu Gesicht be-kommen hat. Wie aber soll ein Verwaltungsgerichtbeurteilen, ob zum Beispiel eine Überwachungsmaß-nahme durch den Verfassungsschutz rechtmäßig ist,wenn ihm die Informationen dazu vorenthalten werden?Das ist eine kaum zu ertragende Einschränkung desGrundrechts auf effektiven Rechtsschutz.
Bisher wird dieser Zustand rechtspolitisch damit ge-rechtfertigt, dass man dem Kläger sonst rechtliches Ge-hör gewähren müsste – das hätte ich jetzt auch gernevom Staatssekretär –
und dies wiederum nicht mit der Geheimhaltung in Ein-klang gebracht werden könne. Es überzeugt mich aberwenig, wenn zwei Bürgerrechte so gegeneinander ausge-spielt werden, dass dem Rechtsuchenden am Ende beideRechte verwehrt werden.Wir sollten es Klägern künftig ermöglichen, auf ihrenAntrag hin auch geheime Akten von den Gerichten derHauptsache überprüfen zu lassen. Wegen des Geheim-schutzes würde dann zwar immer noch kein vollständi-ges rechtliches Gehör gewährt, aber in bestimmten Kon-stellationen kann dies für die Kläger die einzigeMöglichkeit sein, effektiven Rechtsschutz zu erlangen.Wir schlagen daher in unserem Gesetzentwurf vor, dassdasselbe Gericht, das in der Hauptsache über das Anlie-gen des Bürgers entscheidet, auch die als geheim einge-stuften Unterlagen prüft und auf Wunsch des Klägers beider Entscheidung berücksichtigt.
Ein solches In-camera-Verfahren vor den Gerichtender Hauptsache soll dem Kläger jedoch nicht aufge-zwungen werden. Er soll vielmehr entscheiden können,ob das Gericht die geheimen Informationen berücksich-tigen soll oder ob es eine reine Beweislastentscheidungtreffen soll, wie es heute zwangsläufig der Fall ist.Letztlich ist klar: Treffen staatliche oder private Ge-heimhaltungsinteressen auf das Rechtsschutzinteresseeines Betroffenen, wird man den Interessenkonflikt nievöllig auflösen können. Man kann aber das Verfahren sogestalten, dass beide Seiten möglichst ausgewogen be-rücksichtigt werden. Die bisherige Lösung belastet denRechtsuchenden mehr als erforderlich, indem sie ihmnicht nur rechtliches Gehör, sondern gleich auch nocheffektiven Rechtsschutz verweigert und das Gericht zueiner Beweislastentscheidung zwingt.Diesen unbefriedigenden Zustand wollen wir mit un-serem Vorschlag beenden. Ich hoffe auf eine sachlicheund spannende Ausschussberatung.Vielen Dank.
Der Kollege Dietrich Monstadt hat für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir de-battieren heute in erster Lesung über einen von denBündnisgrünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung; FrauKeul, Sie haben den Gesetzentwurf vorgestellt. Hiermitsoll angeblich eine Verbesserung des Rechtsschutzes beibehördlich geheim gehaltenen Informationen erreichtwerden.Ausnahmsweise geht es den Antragstellern also nichtum neue Verbote für Bürgerinnen und Bürger, sondernum eines ihrer weiteren Lieblingsthemen, nämlich denallmächtigen Staat, vor dem man die Bürgerinnen undBürger besser schützen müsse. Frau Keul, eigentlichmüssten Sie es doch besser wissen.Schauen wir uns die Fakten an. Bereits im Jahre 1999hat das Bundesverfassungsgericht den damaligen Ge-setzgebern aufgegeben, die Regelungen zur behördli-chen Aktenvorlage neu zu fassen. Dabei rügte das Bun-desverfassungsgericht vor allem die Einschränkung desGrundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19Absatz 4 Grundgesetz. Bis dato genügte für die Aus-kunftsverweigerung seitens einer Behörde bereits eineGlaubhaftmachung der in § 99 Absatz 1 Satz 1 VwGOenthaltenen Voraussetzungen.Angemahnt wurde in diesem Zusammenhang die Ein-führung eines gerichtlichen Verfahrens. In diesem solltedie Geheimhaltungsbedürftigkeit ohne Kenntnisnahmedurch die Beteiligten oder die Öffentlichkeit bewertetwerden. Dies wurde schließlich im Jahre 2001 gesetzge-berisch umgesetzt. Zentrales Element war die Neufas-sung des § 99 VwGO und die darin geregelte Einführungdes sogenannten In-camera-Verfahrens; Sie haben es an-gesprochen. Auch wurde damals vorgesehen, dass dasVerfahren bei spezialisierten Fachsenaten an den OVGsbzw. beim Bundesverwaltungsgericht angesiedelt wer-den musste.
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Dietrich Monstadt
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Wie wir alle wissen, waren damals die Bündnisgrü-nen selbst in Regierungsverantwortung und somit ent-sprechend in die Neufassung des § 99 VwGO eingebun-den.
Jetzt, in der Opposition, sollen die damaligen Abwägun-gen auf einmal nichts mehr wert sein.
Im Grunde sagen Sie aber selbst, dass Ihr Gesetzentwurfüberflüssig ist.
Tatsächlich fordern Sie als Alternative in Ihrer Vor-lage – ich darf zitieren – die „Beibehaltung des derzeiti-gen Zustands bis zu einer verfassungsgerichtlichen Klar-stellung“. Von daher sei es mir erlaubt, auf dieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom14. März 2006 hinzuweisen. Auch wenn es die Anwen-dung der neuen Regelung mit bestimmten Maßgabenversehen hat, wurde die Vereinbarkeit mit dem Grundge-setz aber im Ergebnis bestätigt. Das bedeutet, meine Da-men und Herren Antragsteller: Selbst nach Ihrer eigenenArgumentation ist keine Änderung erforderlich.Darüber hinaus ist grundsätzlich festzuhalten, dasssich das Verfahren seit nunmehr 14 Jahren auch im Rah-men der praktischen Konkordanz bewährt hat. Das heißt,es findet ein angemessener Ausgleich kollidierender ver-fassungsrechtlich relevanter Schutzgüter statt. Dies wirdzumindest mit Blick auf die bipolaren Streitfälle sogarexplizit im vorliegenden Gesetzentwurf herausgearbeitetund bestätigt.Die Rechtsschutzabwägung bei multipolaren Konstel-lationen ist naturgemäß etwas komplexer. Völlig zuRecht stellt Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz hohe An-forderungen an einen effektiven Rechtsschutz. Wennman diese Abwägung, wie Sie es fordern, ins Hauptsa-cheverfahren verlagert, dann muss man auch die dadurchentstehenden Nachteile betrachten.Erstens wird dies massive Einschränkungen der Be-teiligungsrechte zum Beispiel bei der Akteneinsicht be-deuten müssen. Zweitens wird es die Richter im Haupt-verfahren in arge Bedrängnis bringen. Sie müsstenimmer und stets die volle Verantwortung dafür tragen,dass von ihnen als geheim eingestufte Informationen aufkeinen Fall nach außen dringen. Dies schließt unter Um-ständen die Ausgestaltung der Urteilsbegründung sowiedie Entscheidung als solche mit ein.Letztlich kann drittens bei einer derartigen Gestaltungnicht sichergestellt werden, dass es gerade bei komplexausgestalteten Beteiligungs- und Einsichtsrechten nichtdoch zu einer Offenlegung geheim zu haltender Informa-tionen kommt. Dies könnte potenziell auch Haftungsan-sprüche begründen.
Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, würdendeutlich mehr Probleme geschaffen und eben keine Ver-besserungen erreicht. Darüber hinaus wissen wir auchaus der Praxis, dass sich die Richter im Zwischenverfah-ren ihre Arbeit alles andere als leicht machen. Auch dasdarf ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen.Das bedeutet im Ergebnis, dass die Hürden für dasZurückhalten potenziell relevanter Informationen oderAkten stets hoch sind. Nicht zuletzt stehen dafür auchdie Regelungen im Informationsfreiheitsgesetz. Dasführt letztlich dazu, dass wir keinen praktischen Mehr-wert erkennen können und Ihren Gesetzentwurf ableh-nen werden.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Ulla Jelpke hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist inder Tat ein unverzichtbarer Grundsatz eines Rechtsstaa-tes, dass jede Bürgerin und jeder Bürger Anspruch aufeffektiven Rechtsschutz hat. Dieser Grundsatz wird ganzoffensichtlich durch Behördenentscheidungen verletzt,denen geheime Informationen zugrunde liegen, die nichteinmal ein Gericht einsehen darf. Wir haben hier also einrechtsstaatliches Problem, und die Linke begrüßt dieseDebatte und jeden Versuch, dieses Problem zu lösen.
Die Frage ist – das muss man weiter diskutieren –, obder Ansatz der Grünen der richtige ist.Gerichtsentscheidungen müssen nachvollziehbar undtransparent sein. Das ist klar. Es muss für alle Beteiligtendeutlich sein, aufgrund welcher Information ein Gerichtzu seiner Entscheidung kam. Diese Informationen müs-sen auch den Klägern vorliegen. Das ist in der Praxis lei-der nicht immer der Fall. Ich will das gerne einmal anmeiner eigenen Person deutlich machen.Die Behörde – der Verfassungsschutz – hat mich frü-her bespitzelt, wie viele Abgeordnete meiner Fraktion.Aber sie hat weder mir noch dem VerwaltungsgerichtKöln, bei dem ich Klage eingereicht habe, sämtliche Un-terlagen zur Verfügung gestellt.
– Hören Sie erst einmal zu, Herr Kollege. – Stattdessenwurde ein sogenanntes In-camera-Verfahren eingeführt;das heißt, ein anderes Gericht hat darüber befunden, wel-che Informationen an das Verwaltungsgericht gehen.Weder ich noch mein Anwalt noch das Verwaltungsge-richt konnten diese Entscheidung im Detail nachvollzie-
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Ulla Jelpke
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hen. Das ist meines Erachtens ganz klar ein Mangel, derabgestellt gehört.
Aus unserer Sicht darf für behördliche Geheimniskräme-rei in einer Demokratie kein Platz sein.
Etwas anders verhält es sich unter Umständen, wennBerufs- oder Geschäftsgeheimnisse einzelner Bürgeroder Bürgerinnen in ein Gerichtsverfahren eingebrachtund damit öffentlich gemacht werden. Das ist nicht un-bedingt in jedem Einzelfall angemessen. Hier kann einIn-camera-Verfahren ein Instrument sein, um die Beein-trächtigung rechtsstaatlicher Grundsätze zumindest imvertretbaren Rahmen zu halten.Was ich aber überhaupt nicht für eine gute Idee halte,ist folgender Vorschlag der Grünen: Auf Wunsch derKläger sollen künftig die angerufenen Gerichte selbst diegeheimen Dokumente einsehen können. Das Gericht sollsie aber weiterhin den Prozessbeteiligten vorenthalten.Es soll dann auf dieser Grundlage ein Urteil fällen, indem es jeden Hinweis auf den Inhalt der fraglichen Do-kumente unterlässt. Das läuft darauf hinaus, einenrechtsstaatlichen Makel durch die Einführung eines an-deren Makels abzumildern, oder – drastischer gesagt –:Kläger können zwischen Pest und Cholera entscheiden.Denn mit dem Anspruch auf Transparenz der gericht-lichen Entscheidungen ist der Grünen-Vorschlag hierzuüberhaupt nicht vereinbar. Man wüsste am Ende immernoch nicht, wie das Gericht zu seiner Entscheidung ge-kommen ist. Beweisaufnahme und Urteilsbegründungwerden so zur Blackbox. Deswegen sagen wir ganz klar:Lassen Sie uns diese Debatte im Ausschuss führen. DasProblem ist von den Grünen zu Recht angesprochenworden. Ob die Lösung die richtige ist, darüber werdenwir gerne weiter diskutieren.Ich danke.
Das Wort hat die Kollegin Christina Jantz für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast 20 Jahreist es her, dass dieses Haus durch das Sechste Gesetz zurÄnderung der Verwaltungsgerichtsordnung und andererGesetze eine erhebliche Entlastung der Oberverwal-tungsgerichte herbeiführen konnte. 1999 hat das Bun-desverfassungsgericht dann verfassungsrechtliche Be-denken hinsichtlich von Teilen des damaligen § 99 derVerwaltungsgerichtsordnung ausgesprochen; mein Kol-lege Herr Monstadt hat dies angesprochen. Denn, so dasBundesverfassungsgericht in seiner Begründung, eineffektiver Rechtsschutz könne nicht gewährleistet wer-den, wenn eine Aktenvorlage in den Fällen generell aus-geschlossen werde, in denen die Kenntnis der Verwal-tungsvorgänge von maßgeblicher Bedeutung für dasVerfahren sei.Dies nahm die damalige rot-grüne Regierung zumAnlass – auch das ist angesprochen worden –, zu han-deln. Unter maßgeblichem Einsatz des Rechtsausschus-ses mit meinem Genossen, dem ehemaligen Abgeordne-ten Alfred Hartenbach, aber auch mit dem KollegenVolker Beck von den Grünen wurde daher die nun gel-tende Grundlage für eine verfassungskonforme Verwal-tungsgerichtsordnung gelegt.Durch das daraufhin eingeführte sogenannte In-ca-mera-Verfahren, um das es heute maßgeblich geht,konnte seitdem in einem Zwischenverfahren die Über-prüfung der Entscheidung, ob und in welchem Maßevorher durch Behörden als geheimhaltungsbedürftig ein-gestufte Unterlagen in das Hauptsacheverfahren einbe-zogen werden können, herbeigeführt werden. Dazu wur-den eigene Spruchkammern eingerichtet.Auch in seinen letzten Entscheidungen hat das Bun-desverfassungsgericht § 99 der Verwaltungsgerichtsord-nung nicht beanstandet. Dennoch heißt es im vorliegen-den Gesetzentwurf, dass diese Regelung rechtsstaatlichbedenklich sei. Auch wenn Sie einräumen, unter den jet-zigen Bedingungen könnten bipolare Streitverhältnissein Prozessen von Bürgern gegen den Staat zwar rechts-staatlich hinnehmbare Ergebnisse zustande bringen,käme es bei mehrpoligen Verfahren zu Konflikten.Grund hierfür soll aus Ihrer Sicht sein, dass in bestimm-ten Konstellationen keine zufriedenstellende Lösungherbeigeführt werden könne, wie es insgesamt schwam-mig formuliert wird.Die von Ihnen im Gesetzentwurf angesprochene Son-derregelung des Telekommunikationsgesetzes ist auf dieBewältigung multipolarer Rechtsgüterkonflikte zuge-schnitten, wie sie sich bei der Entgeltkontrolle im Tele-kommunikationsrecht ergeben, und zudem europarecht-lich beeinflusst. Eine Verallgemeinerung dieserRegelung, insbesondere ihre Anwendung auf bipolareKonfliktlagen, kommt meines Erachtens daher nicht inBetracht.Sofern als Hintergrund der vorgeschlagenen Geset-zesänderung von Datenspeicherungen Betroffene im ge-richtlichen Verfahren bessergestellt werden sollen, findeich den vor einiger Zeit durch das Land Niedersachsenangestoßenen Reformvorschlag deutlich zielführender.Hier wird vorgeschlagen, dass im Zwischenverfahrenauch die Frage der Rechtmäßigkeit gespeicherter Datengeprüft werden kann. Dadurch könnte aus meiner Sichtdas dann gewünschte Ziel eher erreicht werden.Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurfsoll § 99 Verwaltungsgerichtsordnung geändert werden,der, wie bereits ausgeführt – dennoch möchte ich das andieser Stelle noch einmal deutlich machen –, wiederholtdas Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat und nichtbeanstandet wurde.
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8712 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Christina Jantz
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Ich möchte darauf hinweisen, dass die Regelungsma-terie, mit der wir es hier zu tun haben, äußerst sensibelist, da zwischen Geheimhaltungsschutz auf der einenSeite und den grundgesetzlichen Garantien des effekti-ven Rechtsschutzes sowie des rechtlichen Gehörs auf deranderen Seite ein Spannungsverhältnis besteht. Bei einersolchen Ausgangslage sollten wir Gesetzesänderungennur in Betracht ziehen, wenn dafür nachweisbar ein Be-dürfnis besteht.
Ihr Papier führt diesen Nachweis nicht. Auch sind miraktuell keine Probleme aus der Praxis bekannt.
Dennoch zurück zu Ihrem Antrag. Besonders proble-matisch erscheint mir, dass die Durchführung eines In-camera-Hauptsacheverfahrens nur durch den Kläger,nicht aber durch andere Beteiligte beantragt werdenkann. Diese einseitige Ausgestaltung dürfte dann sach-lich nicht gerechtfertigt sein, wenn die geheimhaltungs-bedürftigen Vorgänge beispielsweise nicht der beklagtenBehörde zugeordnet werden können.Bedenklich ist außerdem die vorgesehene Verwertungder geheimhaltungsbedürftigen Vorgänge durch das Ge-richt der Hauptsache bei gleichzeitigem Ausschluss desAkteneinsichtsrechts und bei Einschränkung der Be-gründungspflicht sowie des rechtlichen Gehörs. Diesebeantragten Maßnahmen führen dazu, dass sich die Be-teiligten am Ende des Verfahrens mit einer Entscheidungdes Gerichts konfrontiert sehen, die unschlüssig bzw.nicht nachvollziehbar ist; das wurde hier schon ange-sprochen. Damit würde natürlich keineswegs die Akzep-tanz der Entscheidung gefördert werden, wie Sie es hin-gegen behaupten.Die als Ausgleich geforderte Einführung eines neuenBerufungszulassungsgrundes ist nicht geeignet, hier fürdie nötige Abhilfe zu sorgen; denn logischerweise mussauch die nächste Instanz aus Gründen des Geheimhal-tungsschutzes bei einem für die Beteiligten geheimenund intransparenten Verfahren bleiben. Auch hier würdedas Urteil zu voraussichtlich maßgeblichen Fragen keineBegründung liefern können.Zudem möchte ich deutlich machen, dass ich die bis-herige Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte bzw.des Bundesverwaltungsgerichts aus sicherheitsrechtli-chen Gesichtspunkten als kluge Entscheidung des Ge-setzgebers betrachte
und sie für verfassungsrechtlich mindestens sinnvollhalte.
Auch scheint fraglich, ob die Verwaltungsgerichte ingleichem Maße wie die nach geltendem Recht zuständi-gen Fachsenate der OVGs, der VGHs und des Bundes-verwaltungsgerichts die Einhaltung der Anforderungendes materiellen und personellen Geheimschutzes ge-währleisten könnten.Ich denke, ich habe die Fragen, die Problemstellun-gen und die Kritik im Hinblick auf Ihren Gesetzentwurfhinreichend deutlich gemacht, den wir aus den genann-ten Gründen ablehnen müssen.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Alexander Hoffmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Besserer Rechtsschutz bei behördlichgeheim gehaltenen Informationen – so ist Ihr Gesetzent-wurf überschrieben. Damit klingt er gut. Ich darf vorwegsagen: Diese Zielrichtung eint uns, denke ich, alle; dennwer von uns will keinen guten Rechtsschutz für unsereBürgerinnen und Bürger.
Die entscheidende Frage ist aber, ob der Gesetzentwurfim Vergleich zur aktuellen Situation tatsächlich eine Ver-besserung bringt. Um das entscheiden zu können,möchte ich mich kurz mit der aktuellen Rechtslage undder aktuellen Praxis – ich denke, das ist ganz wichtig –bei den Gerichten auseinandersetzen.Der Grundsatz – das ist vorhin schon angesprochenworden – ist in § 99 Absatz 1 Satz 1 VwGO geregelt.Danach haben Behörden in verwaltungsgerichtlichenVerfahren eine umfassende Vorlagepflicht für Unterla-gen und Akten sowie auch eine umfassende Auskunfts-pflicht. Die Ausnahme ist in Satz 2 geregelt. Die Be-hörde darf die Vorlage verweigern, wenn es durch diesezu Nachteilen für den Bund oder ein Land kommt oderwenn Informationen von Gesetzes wegen oder ihremWesen nach geheim zu halten sind. Die Rechtsfolge– auch das ist, denke ich, wichtig – ist, dass die obersteAufsichtsbehörde dann die Vorlage verweigern kann. Esist also eine Ermessensentscheidung, keine gebundeneEntscheidung. Früher genügte hier die Glaubhaftma-chung dieser Umstände. Nach einer Bundesverfassungs-gerichtsentscheidung aus dem Jahr 1999 musste eineRechtsänderung vollzogen werden; das ist angesprochenworden. Heute ist diese Entscheidung der obersten Auf-sichtsbehörde mit dem sogenannten In-camera-Verfah-ren überprüfbar. Das ist also ein externer Spruchkörper,angesiedelt bei den Oberverwaltungsgerichten oder beimBundesverwaltungsgericht. Diese Gerichte entscheiden,ob die Gründe für die Verweigerung der Vorlage tragfä-hig gewesen sind. Das Ziel ist relativ offensichtlich. Essoll vermieden werden, dass geheim zu haltende Infor-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8713
Alexander Hoffmann
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mationen so in das Hauptsacheverfahren eingetragenwerden.Aber zurück zum Maßstab. Die Vorlage kann verwei-gert werden, wenn die Offenlegung Nachteile für denBund oder ein Land bedeuten würde oder wenn die In-formationen von Gesetzes wegen oder ihrem Wesennach geheim zu halten sind. Ob das der Fall ist, meineDamen und Herren – das ist vorhin beim KollegenMonstadt schon angeklungen –, wird im Wege der ver-fassungskonformen Auslegung heute über die praktischeKonkordanz entschieden. Es werden also die widerstrei-tenden Interessen – das Informationsinteresse der Betei-ligten, des Klägers und der Beklagten – sowie das Auf-klärungsinteresse bzw. das Geheimhaltungsinteresse derdritten Person – vielleicht auch eines Privaten – gegen-übergestellt. Dann müssen diese widerstreitenden Inte-ressen zu einem verfassungskonformen Ausgleich ge-bracht werden.In der Praxis bedeutet dies: Je höher die Bedeutungder Information für den Prozess, auch für die Entschei-dung und die Aufklärung ist, desto höher sind die Anfor-derungen an die Verweigerung. Das heißt also, wenn dieEinholung der verweigerten Information für die vollstän-dige Beweiswürdigung im Verfahren quasi unverzicht-bar ist, muss es schon gravierende Gründe geben, die ge-gen eine Offenlegung sprechen. Es muss sich umRechtsgüter von erheblichem Rang handeln. Damit,liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eines sichergestellt:Es wird auch die Frage berücksichtigt, ob es andere aus-reichende Beweismittel statt dieser Information gibt. Da-mit ist in der Praxis dem Grunde nach der effektiveRechtsschutz gewährleistet. Der Kollege Monstadt undich haben recherchiert. Uns ist nicht ein einziger Fall inder Praxis bekannt, wo das Gericht nicht richtig odersachgerecht hat entscheiden können, weil bestimmte In-formationen aus Geheimhaltungsgründen nicht vorge-legt werden konnten.
– Kollegin Keul, Sie hatten vorhin von Beweislastent-scheidungen gesprochen. Auch das hat mich nicht über-zeugt, weil beim Verwaltungsgericht bzw. im Verwal-tungsverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Dasheißt, es wird eben nicht nach Beweislast entschieden,sondern das Gericht muss entscheiden, ob die Sachlageso ausreichend ermittelt ist bzw. die Informationen sozusammengetragen sind, dass ein sachgerechtes Urteilgefällt werden kann.
Am Ende noch eine Anmerkung: Ihre Idee – dabeigeht es um dieses In-camera-Hauptsacheverfahren; sowill ich es einmal nennen – würde in der Konsequenzdazu führen, dass der Richter die geheime Informationim Hinterkopf hat.Das würde quasi bedeuten – schließlich ist der Richterauch nur ein Mensch –, dass die Information in das Ver-fahren getragen wird. Der Richter würde die Entschei-dung bzw. das Urteil unter Umständen in dem Wissenüber diese Information fällen. Dann hätten wir tatsäch-lich ein verfassungsrechtliches Problem hinsichtlich desAnspruchs auf rechtliches Gehör und effektiven Rechts-schutz, weil weder der Kläger noch der Beklagte zu die-sen Informationen etwas sagen könnten, geschweigedenn wüssten, um welche Informationen es sich handelt.Deswegen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustim-men.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/3921 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 19. September2014 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Republik Philippinen über So-ziale SicherheitDrucksache 18/4048Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/4216Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürArbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 18/4216, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 18/4048 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-ter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen desgesamten Hauses angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten NorbertMüller , Ulla Jelpke, Sigrid Hupach,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE1) Anlage 5
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8714 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Vizepräsidentin Petra Pau
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Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge miteiner starken Jugendhilfe aufnehmenDrucksache 18/4185Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeNorbert Müller für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen, die Sie zu so später Stunde hier sind! Ichglaube, wir sollten zunächst dem Bundesrat dafür dan-ken, dass er im Oktober 2014 die Debatte über die Frage,wie wir mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen,deren Zahl deutlich zunimmt, umgehen wollen – dieseDebatte wurde in der Fachöffentlichkeit damals längstgeführt –, aufgegriffen und in die breite Öffentlichkeitgebracht hat. Für uns sollten aber die Verteilung derFlüchtlinge nach festen Quoten und die finanziellen As-pekte, die dahinterstehen, nicht entscheidend sein. Füruns sollte vielmehr die Frage entscheidend sein, wie wirmit diesen jungen Menschen umgehen wollen.
Wir stellen fest, dass wir schätzungsweise 14 000 un-begleitete minderjährige Flüchtlinge haben und eine un-bekannte Zahl von Flüchtlingen, die unbegleitete min-derjährige Flüchtlinge sein könnten, die aber durch dieAltersfeststellung künstlich älter gemacht werden – mitsteigender Tendenz. Von dieser Feststellung sollten wirdie zentrale Frage ableiten: Reden wir hier über Kosten,oder reden wir hier über Menschen? Weil wir über jungeMenschen reden, für die sowohl die UN-Kinderrechts-konvention als auch das Grundgesetz gelten, hat dasKindeswohl Vorrang. Der deutsche Begriff „Kindes-wohl“ wird in der UN-Kinderrechtskonvention definiertals „best interests of the child“.
Die Sicherung der Würde der betroffenen Kinder und Ju-gendlichen und ihre körperliche Unversehrtheit solltenwir ebenfalls in den Mittelpunkt unserer Betrachtungenrücken.Das Spiel, das gerade in der Bundesregierung gespieltwird, lässt erahnen, dass uns Böses bevorsteht, wenn einUmverteilungsgesetz auf den Weg gebracht wird. Wirkennen die Ausführungen von Ministerin Schwesig unddie Ausführungen ihrer Parlamentarischen Staatssekretä-rin Caren Marks, die jetzt leider nicht anwesend ist, ausdem Ausschuss. Sie haben deutlich gemacht, welcheDifferenzen es diesbezüglich in der Bundesregierunggibt. Wenn wir den Ausführungen seitens der SPD-Frak-tion, ihrer Ministerin und Caren Marks Glauben schen-ken dürfen, hätten wir im Haus eine deutliche Mehrheitvon SPD, Grünen und Linken, die den Gedanken desKindeswohls an die zentrale Stelle setzten. Ich möchtedas anhand von fünf Punkten aus unserem Antrag aus-führen, damit Sie mir folgen können.Erstens. Ich glaube, wir könnten uns darauf einigen– das habe ich bereits gesagt –, dass das KindeswohlVorrang vor allen weiteren Entscheidungen hat.
Zweitens. Ich glaube – hier sind wir uns einig, auchwenn ich die Debatte in der Kinderkommission aus die-ser Woche reflektiere –, dass wir deutschlandweit stan-dardisierte Clearingverfahren und eine flexible Aufnah-mephase brauchen, in der geklärt wird, was mit demKind, mit dem Jugendlichen passieren soll, und dass wireine frühzeitige Vormundschaftsbestellung benötigen,damit es einen Rechtsansprechpartner gibt und die stre-ckenweise sehr wüsten Verfahren einer Ordnung zuge-führt werden.
Drittens. Wir wollen die abenteuerlichen Zustände beider Altersfeststellung beenden. Es gab gerade eine Do-kumentation in der ARD dazu. In Hamburg werden al-lein zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen, die sichals minderjährig zu erkennen geben, durch Altersfest-stellungsverfahren – häufig medizinische Altersfeststel-lungsverfahren – künstlich älter gemacht. Wir könnenvielleicht später in der Debatte darauf eingehen, was daskonkret bedeutet.Viertens. Wir wollen die Unterbringung von unbeglei-teten minderjährigen Flüchtlingen in Einrichtungen derKinder- und Jugendhilfe, nicht in irgendwelchen Heimenund nicht in den Gemeinschaftsunterkünften für Asylbe-werber.Fünftens. Wir wollen keine Verteilung nach starrenQuoten, weil dies letzten Endes gegen das Kindeswohlspricht.
Stattdessen – hier sind wir mit dem Bundesrat einerMeinung – fordern wir die Stärkung der Kinder- und Ju-gendhilfe auch aus Bundesmitteln. Wir fordern eine stär-kere Beteiligung des Bundes, eine Entlastung der Kom-munen und der Länder. Das hat übrigens das BundeslandBayern, das den Beschluss des Bundesrates hierüber be-antragt hat, genauso gesehen. Herr Lehrieder, Sie sehenso aufmerksam aus. Frau Staatsministerin Müller ausBayern hat im Bundesrat – das ist der einhellige Be-schluss – ein bundesweites Verteilungsverfahren bean-tragt. Der Beschluss hat zwei Komponenten – ich zitiere –:„die finanzielle Unterstützung der Kommunen und derLänder durch den Bund“. Genau das wollen wir auch.
Wir wollen eine Umverteilung der Kosten zwischenden Ländern, eine Beteiligung des Bundes an den Kos-ten für die Unterbringung von unbegleiteten minderjäh-rigen Flüchtlingen, einen Lastenausgleich, bevor es zustarren Verteilungen kommt. In diesem Punkt sind wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8715
Norbert Müller
(C)
(B)
uns einig. Ich hoffe, dass wir in diesem Hause eine poli-tische Mehrheit dafür finden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Müller, zwei Vorbemerkungen: Ers-
tens. Machen Sie sich mal keine Sorgen! Diese Bundes-
regierung und die sie tragenden Fraktionen werden ge-
meinsam in den nächsten Wochen und Monaten
Lösungen erarbeiten, um diese Herausforderungen zu
meistern.
Zweitens. Sie haben viele Dinge angesprochen, über
die wir tatsächlich diskutieren können. Sie haben aber
auch vieles angesprochen, was Rechtslage ist. Natürlich
steht das Kindeswohl an erster Stelle – das ist unbestrit-
ten –, weil es Rechtslage ist. Deswegen sollten wir da-
rüber diskutieren, wie wir konkret Handelsoptionen auf-
zeigen, um dieser besonderen Situation Herr zu werden.
Mit den Kriegen in Syrien und im Irak erkennen wir
in dramatischer Form, welche Folgewirkungen die hu-
manitären Katastrophen auch für uns in Deutschland ha-
ben, weil der Zuzug von Flüchtlingen massiv zugenom-
men hat. Ich erinnere daran, dass wir im Jahr 2013 mit
Blick auf die Inobhutnahmen sechsmal so viele junge
unbegleitete Flüchtlinge hatten wie im Jahr 2008. Das
sind junge Menschen, die in ihrem Heimatland Schreck-
liches erlebt haben. Sie kommen verstört nach Deutsch-
land; sie brauchen Vertrauen, Hilfe und Perspektive. Lei-
der ist es so, dass die massiv steigende Zahl von
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen einige Kom-
munen vor große Herausforderungen stellt.
An dieser Stelle möchte ich sagen – jeder kann das für
seine eigene Kommune bewerten und hat dies sicher
auch schon anschaulich wahrgenommen –, dass die Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern, die
Mitarbeiter der Träger und auch diejenigen, die sich hier
freiwillig engagieren, eine hohe Motivation haben, das
Problem zu lösen. Wir sollten diesen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern ein herzliches Dankeschön sagen; nur
sie wissen, welche Schwierigkeiten sie momentan erle-
ben.
Es gilt natürlich der Grundsatz, dass wir Flüchtlinge
aufnehmen, gerade Jugendliche und Kinder. Aber es
muss gesagt werden, dass wir – ich komme aus Ham-
burg; aber auch Berliner und Münchener können das in
ähnlicher Form berichten – große Probleme und auch
Verwerfungen haben. Die Motivation vieler ehrenamt-
lich Engagierter geht teilweise zurück, weil sich die Pro-
bleme so ballen, dass Handlungsoptionen angezeigt sind.
Wir müssen diese Situation trotz der Schwierigkeiten
schnellstmöglich politisch meistern.
Erster Punkt: Handlungsbedarf. Unbestritten ist, dass
sich die Frage stellt – da komme ich zu Ihrem Kernpunkt
zurück –, wie wir die „Lasten“ – in Anführungszeichen –
verteilen können; ich habe immer ein Problem damit, bei
Kindern und Jugendlichen von „Lasten“ zu sprechen.
Tatsache ist, dass Metropolen eine gewisse Anziehungs-
kraft haben. Tatsache ist übrigens auch, dass wir uns da-
rüber Gedanken machen müssen, wie wir damit umge-
hen, dass nicht nur Menschen, die vor Krieg flüchten,
nach Deutschland kommen, sondern auch die Zahl der
Zuwanderer vom Balkan oder aus ähnlichen Gebieten
zunimmt.
Herr Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Müller?
Ja.
Herr Weinberg, vielen Dank, dass Sie die Frage ge-
statten. – Sind Sie mit mir der Meinung, dass es beson-
ders auffällig ist, dass gerade in der Hansestadt Ham-
burg, die besonders viele unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge aufnimmt – da gebe ich Ihnen recht –, zwei
Drittel der betreffenden Personen abgelehnt werden,
nachdem sie als volljährig eingeschätzt wurden – über-
wiegend auf Grundlage eines medizinischen Einschät-
zungsverfahrens –, und dass dies möglicherweise vor
dem politischen Hintergrund geschieht, dass die Freie
und Hansestadt Hamburg dadurch, dass sie schlichtweg
größere Zahlen für volljährig erklärt, die Zahl der unbe-
gleiteten minderjährigen Flüchtlinge reduzieren will?
Ihre Annahme ist eine politische Unterstellung, dieich nicht teile. Das sage ich ganz offen.
Ich glaube nicht, dass diejenigen, die von Behördenseitedafür verantwortlich sind, eine politische Vorgehens-weise haben. Ich traue allen zu, dass sie ihren Aufgabennachkommen. Ich wäre mit solchen Unterstellungen sehrvorsichtig, weil sie im Hinblick auf die Frage, wie manmit Flüchtlingen umgeht, leicht falsch verstanden wer-den können.
Aber Sie haben es angesprochen: Ist es eigentlich Zufall,dass so viele junge Menschen nach Hamburg oder Ber-lin, also in die Metropolen kommen? Darüber muss mansich Gedanken machen.
Metadaten/Kopzeile:
8716 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Marcus Weinberg
(C)
(B)
Ich will das Thema Fluchtbiografie aufgreifen. Es istunsere Aufgabe – das ist der Kern der rechtsstaatlichenAsylpolitik –, diesen Kindern Schutz zu gewähren undihre Situation insgesamt zu verbessern.Jetzt komme ich noch einmal zur Frage der Vertei-lung, zu den sogenannten Quoten. Ja, es gibt Länder wieHamburg oder auch Nordrhein-Westfalen, die momentansehr intensiv gefordert sind. Ich finde es richtig, sich da-rüber Gedanken zu machen, wie man mit Blick auf denberühmten Königsteiner Schlüssel dazu kommt, auch dieVerteilung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge zuverändern. Es muss nicht eins zu eins der KönigsteinerSchlüssel sein; aber ich könnte mir vorstellen, dass mansich an ihm orientiert. Dort, wo gewisse Strukturen derJugendhilfe bereits eine besondere Stärke haben, könnteman möglicherweise – das müssen die Länder für sichentscheiden und miteinander besprechen – mehr jugend-liche Flüchtlinge aufnehmen, während Länder, bei denendie Jugendhilfestrukturen noch nicht so weit sind – alleLänder haben jedoch gewisse Strukturen; auch das mussman deutlich sagen –, möglicherweise etwas stärker ent-lastet werden könnten.Eines sage ich aber auch ganz klar: Die Verteilung aufdie Kommunen obliegt ausschließlich den Ländern. Wirwissen, dass es viele Regionen gibt – ich kann das fürmein Bundesland Hamburg sagen –, in denen eigentlichalle Kommunen gleich gut aufgestellt sind. Aber es gibtauch Bundesländer, in denen es Kommunen gibt, diesich bereits intensiv mit dem Thema der Jugendhilfe-strukturen beschäftigt haben, und auch andere, in denendas noch nicht der Fall ist. Wir sagen ganz deutlich: Ja,über den Verteilungsschlüssel muss diskutiert werden,müssen die Länder diskutieren.Zweitens. Selbstverständlich – das habe ich vorhinschon gesagt – ist das Kindeswohl entscheidend. Das isteine rechtliche Vorgabe, und das muss eingehalten wer-den, auch bei der Frage der Unterbringung etc. Natürlichwollen wir nicht, dass hochverstörte junge Menschenund Kinder in den großen Unterkünften untergebrachtwerden. Momentan geschieht dies leider, weil die Zu-nahme der Zahl der Flüchtlinge in Teilen so extrem ist,dass man nicht mehr in geeigneter Form darauf reagierenkann. Das heißt, wir müssen die Kommunen auch beiFortbildungen, Qualifizierungen und ähnlichen Dingenunterstützen.Ein weiterer Punkt. Im Sinne der Kinder muss esklare Verfahrensstandards geben. Es darf keine langenWartezeiten geben. Weil die Kinder in einer besonderenFluchtsituation sind, müssen die familiären und freund-schaftlichen Beziehungen berücksichtigt werden. EineStabilisierung der jungen Menschen im Bereich der Fa-milie ist ganz wichtig.Wir werden uns auch um – Frau Präsidentin, ichkomme langsam zum Schluss – die Verankerung einesBleiberechtes während der Ausbildung kümmern. Wirwollen den jungen Menschen über Bildung und Ausbil-dung eine Chance bieten. Deswegen müssen sie undauch die Unternehmen, die sie ausbilden, eine Sicherheithaben, dass sie in der Zeit der Ausbildung nicht abgescho-ben werden. Die Länder haben bereits die Möglichkeit,dies sicherzustellen. Wir sollten darüber nachdenken, obwir das unterstreichen, indem wir eine bundesgesetzli-che Regelung implementieren. Ich will aber noch einmaldeutlich machen: Das ist bereits möglich, auch eine spä-tere Übernahme in eine Beschäftigung als Fachkraft. Ichglaube, wir täten gut daran, hier einen Akzent zu setzen,weil man darüber die Wirtschaft, insbesondere Unter-nehmen des Mittelstands, mobilisieren kann, sodass siebereit sind, die jungen Menschen auszubilden und ihneneine Chance zu bieten.Die konsequente Anwendung des Kinder- und Ju-gendhilfegesetzes ist eine Selbstverständlichkeit. DasThema ist nicht nur erkannt, sondern auch aufgegriffenworden. Wir erwarten in den nächsten Wochen und Mo-naten einen Gesetzentwurf, der die entsprechenden As-pekte berücksichtigt. Ich bin guter Dinge, dass wir in derGroßen Koalition diese sehr wichtige und auch schwie-rige Aufgabe meistern werden. Warten wir also ab, bisdie Bundesregierung entsprechende Entwürfe vorlegt.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Beate Walter-Rosenheimer das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen undZuhörer, Sie sind auch noch da. Schön, dass Sie sichheute noch Zeit genommen haben. – 239 Fragen undkeine Antworten, das fällt mir spontan zum Thema „un-begleitete minderjährige Flüchtlinge“ ein. 239 Fragen zudiesem Thema haben wir Grüne vergangenen Herbst,Anfang November, in einer Großen Anfrage an die Bun-desregierung gestellt, und bis heute haben wir keine Ant-wort erhalten. Die Bundesregierung hat um neun MonateZeit für die Beantwortung gebeten. Wir finden, das isteine Menge Zeit; während dieser neun Monate kriegenwir Grüne ganz viele Kinder.
Wir hoffen, dass die Antworten dann auch Hand und Fußhaben.Wir wollen von der Bundesregierung Auskunft überdie unterschiedlichsten Themenkomplexe, zum Beispielzur Einreise und Identifizierung, zum Flughafenverfah-ren, zur Inobhutnahme und zur Vormundschaft. Da sindviele Fragen offen, und in der Praxis läuft vieles nichtgut. Zu all diesen relevanten Themenfeldern haben wirausführlich recherchiert, was im Argen liegt, um heraus-zufiltern, welche Änderungen und schnellen Maßnah-men wir für dringend notwendig halten. Wir brauchenallerdings nicht nur schnelle Maßnahmen und Ände-rungsankündigungen, sondern auch Taten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8717
Beate Walter-Rosenheimer
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Dazu haben wir landauf, landab nicht nur viele Einrich-tungen, Erstaufnahmen und Asylunterkünfte besucht,sondern auch mit vielen relevanten Organisationen, Ver-bänden und Menschen gesprochen, die uns bei unserenBemühungen unterstützt haben. Ihnen gebührt an dieserStelle unser herzlicher Dank.
Gerade weil die Bundesregierung sich wirklich vielZeit lässt – ich glaube, das kann man schon so sagen –,und das, obwohl das Thema nicht nur topaktuell, son-dern auch hochbrisant ist, finde ich es sehr schön, dassSie von den Linken heute den vorliegenden Antrag ein-gebracht haben; denn so wird das Thema im Plenum de-battiert und in die Öffentlichkeit gerückt. Sehr viel vondem, was Sie in Ihrem Antrag fordern, kann ich auch un-terstützen, zum Beispiel die Verankerung des Vorrangsdes Kindeswohls in den Asylverfahren – das ist sehrwichtig –, das umgehende Heraufsetzen des Alters fürdie Verfahrensmündigkeit auf 18 Jahre – damit solltenwir nicht mehr warten – oder die Standardisierung undHarmonisierung der Clearingverfahren in den Ländernauf hohem Niveau. Das sind ganz wichtige Punkte, dieSie nennen.Es ist wirklich schlimm, Herr Weinberg, dass dieBundesrepublik Deutschland immer noch gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt. Wir werden immerwieder ermahnt. Das ist unsäglich.
Vor der Kinderkommission – Herr Müller, Sie waren da;Frau Rüthrich, Sie haben ihn eingeladen – hat ein jungerFlüchtling aus Afghanistan sehr beeindruckend, aberauch sehr erschütternd über seine Flucht, die Trennungvon seinen Brüdern und seine langen Zwischenaufent-halte berichtet.Immer wenn wir mit betroffenen Menschen reden,hören wir ähnliche Geschichten. Dieser Zustand ist uner-träglich; das ist ganz klar. Wenn die jungen Menschenhier ankommen, sind sie gezeichnet von einem langenLeidensweg. Oft sind sie traumatisiert. Natürlich brau-chen sie als Erstes Sicherheit, Ruhe und Grundversor-gung. Aber das ist natürlich nicht genug. Darüber hinausbrauchen sie auf längere Sicht Sozialpädagogen undPsychologen, die sich um sie kümmern. Hier haben wirein großes Problem, und zwar aus vielerlei Gründen. DieJugendämter fühlen sich überlastet, und das durchaus zuRecht; wir haben von der Problematik gehört. Therapie-plätze für Kinder und Jugendliche gibt es in Deutschlandohnehin schon zu wenig. Wenn ein Kind sechs Monateauf einen Platz wartet, dann ist das sehr kurz. Das ist fürso junge Menschen aber eine lange Zeit. Bei jungenFlüchtlingen sieht es noch wesentlich schlimmer aus. Indiesen Fällen haben wir auch noch das Problem, dass wirkeine Dolmetscher haben oder keine Therapeuten, diedie Sprache der Flüchtlinge sprechen. Das ist wirklichein riesiges Problem, das wir angehen sollten.
Wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist, dann geht das Elendder jungen Menschen in unserem Land – das muss manleider sagen – immer weiter. Genau deshalb fordern wirGrüne in jeder Haushaltsberatung immer wieder mehrGeld für die Jugendhilfe und mehr Personal.Ich möchte zum Schluss noch etwas zur Umvertei-lung sagen; denn das ist ein sehr kritischer Punkt. Ichkomme aus Bayern, ich kenne das Problem: München,Passau, Rosenheim, da kommen ganz viele Flüchtlingean. Die Kommunen sind irgendwie am Rand dessen, wassie leisten können. Da wird auch sehr viel getan. Aberich möchte Sie wirklich daran erinnern: Wir sprechenhier von 14 000 jungen Menschen, die noch Kinder undJugendliche sind. Ich möchte an Sie appellieren, dafür zusorgen, dass wirklich das Kindeswohl an erster Stellesteht und die Veränderungen nicht nach Quoten vorge-nommen werden, sondern eben kindgerecht.Vielen Dank.
Die Kollegin Gülistan Yüksel hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Be-ginn möchte ich betonen, dass das Thema, über das wirreden, zu wichtig ist, als dass wir uns in parteipoliti-schem Klein-Klein verlieren dürften. Wir müssen hieralle an einem Strang ziehen. Unser Ziel als Abgeordneteim Deutschen Bundestag und insbesondere als Mitglie-der des Familienausschusses muss es sein, das Wohl derKinder in Deutschland zu gewährleisten,
das Wohl aller Kinder in Deutschland, egal ob sie hiergeboren wurden, zugewandert sind oder auf der Fluchtvor Krieg und Armut zu uns gekommen sind. Ich denke,ich kann hier für alle Anwesenden sprechen, wenn ichsage, dass wir diesen Kindern helfen müssen.Besonders schutzbedürftig sind die unbegleitetenminderjährigen Flüchtlinge, sie kommen in großer Notzu uns. Diese Kinder sind nicht freiwillig hier, sie sindgeflohen vor Krieg, Gewalt, Unterdrückung und Verfol-gung. Manche wurden vertrieben, manche sind von ihrenEltern in der Hoffnung geschickt worden, dass den Kin-dern in Deutschland eine bessere Perspektive für die Zu-kunft geboten wird. Eltern und Kinder trennen sich dabeiniemals freiwillig; das muss uns immer bewusst sein.Viele sind von Krieg und Terror traumatisiert und findensich nun allein in einem fremden Land wieder, wo sieweder Kultur noch Sprache verstehen. Manche habenSchlafstörungen, geraten bei lauten Geräuschen in Panikoder sind sogar suizidgefährdet. Sie hier aufnehmen, sie
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8718 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Gülistan Yüksel
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schützen und zur Ruhe kommen lassen, dies ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Egal wie viele kommen,ob es hundert oder tausend sind: Es sind Kinder, die un-sere Hilfe benötigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, inIhrem Antrag erwähnen Sie genau die Punkte, die unsauch wichtig sind und die wir bereits unterstrichen ha-ben: Bestehende Missstände müssen beseitigt werden.Das Kindeswohl hat den absoluten Vorrang in allem,was wir unternehmen. Die besonders belasteten Kom-munen und Jugendämter müssen entlastet werden.In Abstimmung mit den Ländern sind wir nun ge-meinsam gefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, derden stetig steigenden Belastungen der Kommunen durcheine bessere Verteilung der Flüchtlinge entgegenwirkt.Auch ich bin mir der Bedenken gegenüber einer Umver-teilung durchaus bewusst; aber die jetzige Situation istbei dem hohen Zustrom so nicht tragbar. Es entsprichtnicht dem Kindeswohl, wenn Kinder und Jugendlicheohne ausreichendes pädagogisches Personal in überfüll-ten Unterkünften auf engstem Raum zusammenleben.
Wir dürfen die betroffenen Kommunen und Jugendämtermit diesen Herausforderungen nicht alleinlassen. Des-halb würde ich mir persönlich wünschen, dass auch derBund finanzielle Verantwortung übernimmt.
Die Versorgung, Betreuung, Unterstützung und Un-terbringung muss bedarfsgerecht nach dem Jugendhilfe-recht geschehen. An der Primärzuständigkeit der Ju-gendämter wird hierbei festgehalten; denn hier sitzen dieExperten. Es gilt ganz klar, dass die Kinder und Jugend-lichen nur an fachgerecht ausgestattete und auf die Be-dürfnisse der Flüchtlingskinder angepasste Jugendämterübergeben werden. Eine Umverteilung geschieht nur un-ter Berücksichtigung des Kindeswohls.Ich finde es gut, dass Sie in Ihrem Antrag fordern,dass das Alter für die Verfahrensmündigkeit in aufent-halts- und asylrechtlichen Angelegenheiten auf 18 Jahreangehoben wird. Auch wir in der SPD haben bereitsklargestellt, dass die bisherige Regelung, nach der Ju-gendliche rechtlich schon mit 16 Jahren als verfahrens-mündig gelten, nicht richtig ist. Darum haben wir einenentsprechenden Passus im Koalitionsvertrag festge-schrieben. So wird es auch umgesetzt.
Verstärkt soll auch auf eine gemeinsame Verteilungund Unterbringung geachtet werden. Dabei sollen nichtnur familiäre, sondern auch persönliche Beziehungenberücksichtigt werden. Kinder und Jugendliche, die sichauf ihrer Flucht kennengelernt und gemeinsam denschweren Weg nach Deutschland zurückgelegt haben,sollten nicht getrennt werden. Sie haben Vertrauen undBeziehungen zueinander aufgebaut. Sie bei einer Um-verteilung wieder auseinanderzureißen, wäre unverant-wortlich.
Der Königsteiner Schlüssel soll also nicht rigoros ange-wendet werden, sondern soll modifiziert werden. DasKindeswohl hat immer Vorrang. Es darf keine Verteilungbei Kindeswohlgefährdung geben.Mir ist es ganz wichtig, die Menschen mitzunehmen.Wir dürfen nicht über die Kinder und Jugendlichen hin-weg entscheiden, sondern sie müssen an dem Entschei-dungsprozess beteiligt werden. Ihre Bedürfnisse undWünsche müssen ernst genommen und auch berücksich-tigt werden. Das Thema der weiter gehenden Schaffungvon Beschwerde- und Beteiligungsmechanismen überdas Bundeskinderschutzgesetz hinaus ist Gegenstand derBeratungen der Bund-Länder-AG zur Weiterentwick-lung der Hilfen zur Erziehung.Auch der Zugang zu Ausbildung und Sprachkursenmuss verbessert werden. Wir dürfen die Kinder und Ju-gendlichen mit der Bewältigung ihres Alltags nicht al-leinlassen. Sie brauchen Sicherheit und Perspektiven so-wie die Möglichkeit, ihre Potenziale zu erkennen und zuentwickeln. Laut UN-Kinderrechtskonvention hat jedesKind das Recht auf Bildung. Wir müssen daher darüberdiskutieren, den Aufenthalt bis zum Abschluss der Aus-bildung zu gewährleisten und eine Übergangsregelungzur anschließenden Arbeitssuche zu finden.
Darüber hinaus brauchen wir aussagekräftige Daten.Wir benötigen eine verlässliche Auskunft darüber, wieviele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hier an-kommen, wo sie herkommen, welche Transitstrecken siegewählt haben. Diese Daten sind notwendig, damit wireffektiv helfen können. Sie sind wichtig, um die indivi-duellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen besserzu verstehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie eingangs er-wähnt: Wir haben alle das gleiche Ziel; wir müssen alleam selben Strang ziehen. Auch die Kinderkommission– das ist eben erwähnt worden – hat die Situation der un-begleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Blick; dafürauch von hier aus unseren herzlichen Dank. Lassen Sieuns den Gesetzentwurf abwarten und gemeinsam dasWohl der Kinder in den Vordergrund stellen.Herzlichen Dank.
Abschließende Rednerin in dieser Debatte ist die Kol-legin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8719
(C)
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Tatsache, dass die Linke ihrenAntrag so kurzfristig vorgelegt hat, macht für mich einesdeutlich: Es geht nicht um eine ernsthafte, konstruktiveDiskussion über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge,
sondern es geht um reine Effekthascherei.
Auch die pauschale Forderung, der Bund solle einfachmal mehr Kosten übernehmen, geht doch an der Realitätvorbei.
Bayern hat bereits Mitte 2014 auf den dringenden Hand-lungsbedarf hingewiesen und einen Gesetzentwurf imBundesrat eingebracht, mit dem die Verteilung von min-derjährigen Flüchtlingen auf das Bundesgebiet ermög-licht werden soll.
Die Verteilung soll sich nach dem Königsteiner Schlüs-sel richten, der üblicherweise bei der Flüchtlingsvertei-lung angewendet wird.Wie bei allen Kindern steht natürlich gerade bei min-derjährigen Flüchtlingen das Kindeswohl an erster Stelle.Für sie ist primär die Jugendhilfe zuständig, die die Ju-gendlichen gemäß § 42 SGB VIII in Obhut nehmenmuss. Dort ist im Übrigen – ein Blick ins Gesetz erleich-tert die Rechtsfindung – auch das Kindeswohl ausdrück-lich verankert. Der Vorrang des Kindeswohls steht dochdamit überhaupt nicht ernsthaft zur Debatte.
In § 39 SGB VIII gibt es bereits grundsätzlich einVerfahren, wie die Kosten der Inobhutnahme zwischenden Ländern verteilt werden. Das zentrale Problem istvielmehr, dass bisher die Kommune, in deren Gebiet derminderjährige Flüchtling aufgegriffen wurde, währendder Erstklärungsphase und oft auch darüber hinaus fürdas Kind zuständig bleibt. Die Inobhutnahmen konzen-trieren sich damit vor allem auf bestimmte Kommunen,die an den Hauptflüchtlingsrouten liegen. Für Bayern istes hier zum Beispiel das Jugendamt in Rosenheim, dasinnerhalb eines Jahres 450 teilweise schwer traumati-sierte Flüchtlingskinder aufgegriffen hat und rund 300davon dauerhaft in Obhut nehmen musste. Obwohl sichdie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort aufopfernund alles daransetzen, gerät allein aufgrund der Fallzah-len das Kindeswohl in Gefahr, weil man mit diesen Ka-pazitäten schlicht nicht zurechtkommen kann. Die größ-ten Kapazitäten sind irgendwann erschöpft. Wenn danntraumatisierte Kinder in Pensionen oder in Turnhallenuntergebracht werden müssen, weil nicht mehr Platzvorhanden ist, dann ist es im ureigenen Interesse derKinder, dass wir auch die Jugendämter in den Bundes-ländern in die Verantwortung nehmen, die weniger be-lastet sind.
Das Problem ist auch nicht eine strukturelle Unter-finanzierung der Jugendhilfe, wie es der Antrag sugge-riert, sondern es sind schlicht die extrem angestiegenenFallzahlen. Bayern hat allein im letzten Jahr 3 400 Inob-hutnahmen registriert. Diese Zahl wird auch für 2015 er-wartet. Damit hat sich die Zahl im Vergleich von 2013zu 2014 versechsfacht. Bayern hat auf den Anstieg re-agiert und zumindest die älteren Jugendlichen bayern-weit verteilt. Aber auch die Jugendämter in Bayern gera-ten aufgrund der hohen Fallzahlen an die Grenzen ihrerLeistungsfähigkeit. Mit der Forderung, mehr Geld aus-zugeben oder neue Strukturen einzurichten, wo doch imgesamten Bundesgebiet schon Strukturen vorhandensind, lösen wir das Problem gerade nicht. Das Augsbur-ger Jugendamt hat erst kürzlich berichtet, dass es bei derBesetzung von sechs neuen Stellen schlicht Problemehat, Personal zu finden. Auch diese Problemstellungwird in Ihrem Antrag vollkommen ignoriert.
Warum? Gerade die Bundesländer, in denen die Lin-ken an der Regierung beteiligt sind, nehmen nur sehrwenige Fälle auf. Laut Statistischem Bundesamt habenThüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpom-mern im Jahr 2013 zusammen 56 Schutzmaßnahmen fürunbegleitete minderjährige Ausländer gemeldet.
Bayern meldete im selben Zeitraum 575 Inobhutnah-men. Deren Zahl ist bei uns im letzten Jahr um dasSechsfache angestiegen.
Daran sieht man: Wenn wir all diese Fälle gleichmäßigauf alle Länder verteilen würden, hätten wir weitaus we-niger Probleme. Wir müssten keine neuen Strukturenschaffen, und wir müssten auch nicht zwingend mehrGeld ausgeben.
Wenn Ihnen also wirklich etwas am Wohl der Kinderliegt, dann plädieren Sie doch erst einmal dafür, dass wireine gerechte Verteilung innerhalb Deutschlands vorneh-men. Warum haben sich denn die meisten Bundesländerdem Vorschlag Bayerns angeschlossen und wollen dasjetzt auch umsetzen?
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8720 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Andrea Lindholz
(C)
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Aus genau diesem Grund: weil man damit erst einmalden Druck herausnimmt. Das wird im Laufe dieses Jah-res erfolgen. Es muss dann auch die Kostenverteilung in-nerhalb der Länder neu geregelt werden. Aber auch hier– da bin ich mir sicher – wird man kurzfristig Lösungenfinden. Es kann auf keinen Fall angehen, dass man dieseschwierigen Fälle auf einige wenige Kommunen inDeutschland konzentriert. Das ist den Kommunen, denMitarbeitern, aber auch den Kindern und Jugendlichengegenüber verantwortungslos.
Wenn ich wie gerade höre, es sei nicht möglich, dassJugendliche zum Zwecke der Ausbildung einen Aufent-haltstitel bei uns bekommen, dann muss ich sagen:Schauen Sie auch hier ins Gesetz! Natürlich geht dasjetzt schon. Ich kann zum Zwecke der Ausbildung beiuns einen dauerhaften Aufenthaltstitel erhalten. Dasmuss dann aber auch von den Ländern mit einer entspre-chenden Anweisung umgesetzt werden. Es gibt Länder,die das besser machen, und Länder, die das weniger gutmachen. Aber auch für diesen Fall gibt es Gesetze. Esliegt ausschließlich am Vollzug. Natürlich kann ein gutausgebildeter Jugendlicher, der eine entsprechende Fach-kraft ist, auch im Anschluss an seine Ausbildung bei unsbleiben und einen entsprechenden Aufenthaltstitel erhal-ten. Morgen wird der Bundesinnenminister den Entwurfeines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts undder Aufenthaltsbeendigung einbringen. Darin ist unteranderem geregelt, dass gut integrierte Jugendliche unterbestimmten Voraussetzungen bereits nach vier Jahreneine Aufenthaltsberechtigung erhalten sollen.
Mit diesen Maßnahmen schaffen wir für jugendlicheFlüchtlinge, die sich gut integrieren, echte Perspektivenin Deutschland. Solche – ich sage es einmal aus meinerSicht – Schaufensteranträge wie der heutige, die in kei-ner Weise zur Lösung des Problems beitragen und nichtsanderes enthalten als ein Nein gegen eine gerechte Ver-teilung, lösen das Problem weder kurzfristig noch mittel-fristig.Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Rednerliste.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4185 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Da ich keinen Widerspruch höre, ist das
somit beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 – den letz-
ten am heutigen Tage – auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Julia Verlinden, Oliver Krischer, Christian
Kühn , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes
unverzüglich vorlegen
Drucksache 18/3919
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich zugleich die Aussprache. Erste
Rednerin ist die Kollegin Dr. Julia Verlinden von Bünd-
nis 90/Die Grünen, der ich hiermit das Wort erteile.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Viele Kraft-Wärme-Kopplungsanla-gen sind von Abschaltung bedroht oder stehen bereitsstill. Durch die sinkenden Börsenpreise für Strom sinddie KWK-Anlagen nämlich nicht mehr wirtschaftlich zubetreiben. Insbesondere der vergleichsweise klima-freundlichen Erdgas-Kraft-Wärme-Kopplung droht dasAus. Gleichzeitig verstopft immer mehr dreckiger Koh-lestrom das Netz. Das ist energiewirtschaftlich und kli-mapolitisch völlig widersinnig.
Denn was wir benötigen, sind CO2-arme, flexible und ef-fiziente Kraftwerke, die die Stromerzeugung aus Wind-und Sonnenstrom gut ergänzen können. Deshalb brau-chen wir die KWK, und deshalb besteht dringenderHandlungsbedarf.
Doch Sie von der Bundesregierung schieben dasThema auf die lange Bank. Während bei den Betreibernvieler KWK-Anlagen tagtäglich Verluste anfallen, dis-kutieren Sie in der Bundesregierung über Strommarktde-sign und Kapazitätsmärkte. Ihr langer Weg vom Grün-buch zum Weißbuch droht jetzt zum Schwarzbuch fürdie Kraft-Wärme-Kopplung zu werden. Das lassen wirIhnen nicht durchgehen.
Trotz mehrfacher Ankündigungen hat die Bundesre-gierung bis heute keinen Gesetzentwurf für die Neufas-sung des KWK-Gesetzes und der Förderung vorgelegt.Damit geraten nicht nur die Klimaschutzziele, sondernauch Investitionen in Milliardenhöhe in Gefahr. DieseMilliardeninvestitionen brauchen wir aber für einen fle-xiblen Kraftwerkspark und für ein modernes Energiesys-tem.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8721
Dr. Julia Verlinden
(C)
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Was ist eigentlich mit dem Ausbauziel? Im geltendenGesetz steht: 25 Prozent KWK-Anteil an der Stromer-zeugung bis zum Jahr 2020. Das steht auch im Koali-tionsvertrag. Aber jetzt? Kein Wort mehr davon, im Ge-genteil. Sie haben sich bereits vom Ausbauziel für eineklimafreundliche und effiziente Technologie verabschie-det. Das ist grob fahrlässig.
Die Experten, die Sie beauftragt haben, die Evaluierungdes KWK-Gesetzes vorzunehmen, haben Ihnen im Mo-nitoringbericht ins Stammbuch geschrieben, dass diesesZiel deutlich verfehlt werden wird, wenn Sie so weiter-machen. Das scheinen Sie im Ministerium einfach ach-selzuckend zur Kenntnis zu nehmen.Auch der Rest Ihrer Effizienzpolitik findet sich bisherlediglich als Ankündigungen in Hochglanzbroschüren.Dass man sich auf die Hochglanzbroschüren nicht ver-lassen darf, haben wir ja nun gelernt. Mit dem Nationa-len Aktionsplan Energieeffizienz haben Sie Versprechenabgegeben, aber einlösen wollen Sie diese jetzt nicht.Das hat das Beispiel Steuerbonus für energetische Ge-bäudesanierung gerade wieder einmal erschreckenddeutlich gemacht.
Also: Von bloßen Ankündigungen können sich dieBetreiber der KWK-Anlagen nichts kaufen. Ich frageSie, Herr Minister Gabriel: Wann geben Sie den Stadt-werken und Kommunen, die auf KWK setzen, endlichPlanungssicherheit?
Das müsste doch insbesondere den Kolleginnen undKollegen von den Sozialdemokraten ein Herzensanlie-gen sein.
– Das werden wir ja gleich hören. – Was Ihnen vermut-lich weniger am Herzen liegt, ist uns Grünen dafür umsowichtiger: Sorgen Sie dafür, dass das neue KWK-Gesetznicht zu einem neuen Fördertopf für Kohlekraftwerkewird; denn Kohle und Klimaschutz vertragen sich nuneinmal nicht.
Wir Grüne haben nun einen ganz konkreten Vorschlagfür die Zukunft der KWK auf den Tisch gelegt. Wir le-gen dabei auf insbesondere drei Dinge Wert: erstens aufeinen Beitrag zum Klimaschutz, zweitens auf einen ho-hen Wirkungsgrad, also Effizienz, und drittens auf Flexi-bilität für das Energiesystem.
Deswegen wollen wir KWK-Anlagen, die mit Erdgasoder erneuerbaren Energien betrieben werden, besserfördern als bisher. Ebenso wollen wir Wärmenetze undWärmespeicher stärker ausbauen; denn beides nütztbeim Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien.Liebe Kolleginnen und Kollegen, novellieren Sie dasFördergesetz für die KWK unverzüglich in diesemSinne, und tun Sie endlich konkret etwas für Energieeffi-zienz und Klimaschutz!Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin
Dr. Herlind Gundelach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Umes gleich vorweg klar zu sagen: Auch für uns ist dieKWK ein elementarer Baustein „unserer“ Energie-wende. Schon heute liegt der Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung bei rund 16,2 Prozent.Das sind immerhin 96 Terawattstunden Strom. Der An-teil am Wärmemarkt liegt mit rund 200 Terawattstundenbei immerhin 20 Prozent. Damit ist die KWK eine tra-gende Säule unserer Energieversorgung.KWK-Anlagen in allen Größenordnungen liefern kli-maschonend – da stimme ich Ihnen absolut zu, FrauVerlinden – und effizient Wärme für Strom für indus-trielle und auch für private Verbraucher. KWK ist für unsein intelligenter Weg, effizient mit Energiequellen um-zugehen. KWK hat nämlich einen sehr hohen Wirkungs-grad. Während in konventionellen Kraftwerken zwi-schen 45 und 70 Prozent der Energie, die für dieStromerzeugung eingesetzt werden, als Abwärme verlo-ren gehen, haben moderne KWK-Technologien immer-hin Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent. Deswegenträgt KWK auch entscheidend zur Einsparung von CO2und zur Erreichung unserer ehrgeizigen Klimaziele aufnationaler und europäischer Ebene bei. Gegenüber derungekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung werdenrund 56 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Das zeigtauch der Evaluierungsbericht im Auftrag des Bundes-wirtschaftsministeriums ganz deutlich.Die Betrachtung der CO2-Vermeidungskosten vonKWK zeigt, dass diese deutlich unter denen anderer Er-zeugungsformen, zum Teil auch manch erneuerbarerEnergieträger, liegen. Das ist gerade vor dem Hinter-grund einer effizienten und wirtschaftlichen CO2-Ein-sparung, die im Sinne des Verbrauchers übrigens immerhohe Priorität haben muss, von großer Bedeutung.Auch bieten KWK-Anlagen in verschiedenen Größeninteressante Ansätze, einen Beitrag zur Netz- und Sys-temstabilität zu leisten. So kann durch dezentrale KWKdort Energie bereitgestellt werden, wo sie benötigt wird.Durch den Eigenverbrauch des KWK-Stroms wird dasbestehende Stromversorgungssystem entlastet. Ausbau-
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8722 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Dr. Herlind Gundelach
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bedarf und Leistungsverluste können so verringert wer-den.Meine Damen und Herren, eine Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes muss jedoch gut durchdachtsein
und im Einklang mit dem Strommarkt erfolgen,
kurz: Sie muss in das künftige Strommarktdesign pas-sen. Denn es gibt Effekte und Entwicklungen – das istauch bei Ihnen gerade schon angeklungen –, die für denkünftigen Betrieb der KWK im Energie- und Strom-markt von großer Bedeutung sind.Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf das Ziel ver-ständigt, bis 2020 einen KWK-Anteil von 25 Prozent zuerreichen. Das bedeutet aber, dass bis dahin erheblicheneue Erzeugungskapazitäten entstehen würden, die zu-sätzlich etwa 50 Terawattstunden Strom erzeugen. Dabeiist bei allen Beteiligten – von der Energiewirtschaft bishin zur Wissenschaft – unbestritten, dass wir im Strom-markt eigentlich erst einmal dringend Überkapazitätenabbauen müssten, damit der Strommarkt wieder in einGleichgewicht kommt.
Genau deshalb muss im Rahmen der KWK-Novelle dieFrage geklärt werden, welchen Bedarf an neuen KWK-Anlagen der Strommarkt hat.Eine weitere Herausforderung ist der steigende Anteilder fluktuierenden erneuerbaren Energien. Deren Anteilist in den letzten fünf Jahren um 10 Prozent auf heuteimmerhin 27 Prozent gestiegen. Das ist ein Erfolg derEnergiewende,
hat aber teils erhebliche Auswirkungen auf den Strom-markt. Die Solarenergie hat die ertragreiche Mittags-spitze geglättet. Der Börsenstrompreis hat sich in denvergangenen vier Jahren fast halbiert. Auch der CO2-Preis hat leider nicht die gewünschte Wirkung zugunstender KWK entfaltet.
– Darauf komme ich noch. – Unter diesen Rahmenbe-dingungen ist die KWK zunehmend unwirtschaftlichergeworden.Hinzu kommt, dass durch den steigenden Anteil dererneuerbaren Energien künftig vor allem flexible kon-ventionelle Anlagen gebraucht werden, die die fluktuie-renden Anlagen ergänzen. Dabei stehen wärmegeführteKWK-Anlagen ohne Speicher ebenfalls vor einer großenHerausforderung.Auch der Rückgang des Wärmebedarfs ist für dieKWK eine Herausforderung, die gerade auch auf langeSicht Auswirkungen haben wird; denn durch ein Mehran energetischer Gebäudesanierung wird die Nachfragenach Wärme sinken. Gerade für den Fernwärmebereichwird der Rückgang des Wärmebedarfs langfristig aucheine große Herausforderung darstellen.Allerdings – und dabei gibt es eine Einschränkung –wird aus meiner Sicht in den Großstädten mit einem ho-hen Anteil an Altbauten und einem hohen Anteil anMietwohnungen der Wärmebedarf nur langsam sinken.Deswegen bleibt die KWK in Ballungsräumen auch inZukunft eine effiziente und klimaschonende Form derEnergieversorgung.Meine Damen und Herren, all diese Herausforderun-gen sind teilweise nicht neu, aber sie haben die wirt-schaftliche Situation der KWK ganz erheblich verschärft.Unter den zuvor beschriebenen Marktbedingungen undeinem unveränderten Förderregime läuft die KWK-Stromerzeugung Gefahr, zu stagnieren. Auch das habenSie schon erwähnt, Frau Verlinden. Die Branche, unter-füttert von wissenschaftlichen Gutachten, befürchtet so-gar einen deutlichen Rückgang.Oft reichen bei KWK-Anlagen die Wärmeerlöse nichtmehr aus, um das Defizit bei der Stromerzeugung zu de-cken. Wir müssen also über eine Kompensation für diegefallenen Spotmarktpreise wie auch für die zusätzli-chen Belastungen der Eigenerzeugung reden.Derzeit wird die KWK, wie bekannt, mit einem För-dervolumen von 500 Millionen Euro gefördert. DerKWK-Deckel liegt bei 750 Millionen Euro. Um denNeubau und die Modernisierung zu ermöglichen, müss-ten die Fördersätze um den Faktor 2 und 3 erhöht wer-den. Das wären Mehrkosten von 2 Milliarden bis2,5 Milliarden Euro, die jeder Verbraucher über dieKWK-Umlage mitbezahlen müsste. Hier müssen wir in-tensiv beraten, wie der Fördermechanismus weiterentwi-ckelt werden soll und ob der Deckel von 750 MillionenEuro erhöht werden muss.Es geht also nicht darum, dass wir, wie Sie behaupten,die KWKG-Novelle hintanstellen, sondern wir wollendie KWK sinnvoll in den Strommarkt der Zukunft inte-grieren; denn alles andere ist teuer und ineffizient.
– Das denke ich nicht.
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Dr. Herlind Gundelach
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Weil die KWK großes Potenzial hat, ist klar, dass wirzeitnah eine KWKG-Novelle auf den Weg bringen wer-den.
Ziel wird sein, verlässliche Rahmenbedingungen für Be-stand und Neubau zu schaffen und die Flexibilisierungder Anlagen weiter voranzutreiben. Gerne möchte ichkurz einige wenige Handlungspunkte erläutern.Erstens. Die Grünen schlagen in ihrem Antrag vor,dass zukünftig kohlebefeuerte KWK-Anlagen keine För-derung mehr erhalten sollen.
Dazu muss ich Ihnen sagen: Das lehne ich ab. Man kannnicht, wie es die Grünen tun, immer mehr KWK fordern,zeitgleich aber die kostengünstigste KWK aus demMarkt drängen.
Auch die Kohle-KWK trägt entscheidend zu einer effi-zienten und klimaschonenden Strom- und Wärmeversor-gung bei; denn die Effizienz erwächst aus dem gekop-pelten Prozess, nicht so sehr aus dem Einsatz desBrennstoffs.Zweitens. Im Rahmen der EEG-Novelle 2014 habenwir erstmals eigenverbrauchten Strom mit der EEG-Um-lage belastet. Neue Anlagen müssen schrittweise 40 Pro-zent der EEG-Umlage auf eigenverbrauchten Strom zah-len. Um den Ausbau der industriellen KWK nicht zuverhindern, war Bestandteil der EEG-Novelle auch eineVerordnungsermächtigung zur Anpassung der KWK-Zu-schläge als Kompensation der Eigenverbrauchsbelastun-gen. Aus meiner Sicht ist es elementar, dass wir von die-ser Verordnungsermächtigung im Rahmen der KWKG-Novelle tatsächlich Gebrauch machen. Ein Drittel derKWK-Nettostromerzeugung stammt aus industriellenKWK-Anlagen. Es ist im Interesse des Klimaschutzesund des Industriestandortes Deutschland, dass sich dieIndustrie auch zukünftig effizient mit Prozesswärme undStrom versorgen kann.Drittens. Die Flexibilisierung der KWK-Anlagenmacht die KWK energiewendetauglich. Deshalb habenwir schon vor drei Jahren, damals noch mit einerschwarz-gelben Regierung, die Flexibilisierung der An-lagen und der Förderung vorangetrieben. Diesen Wegwerden wir auch künftig konsequent weitergehen undden Ausbau der Wärmespeicher und anderer Flexibili-sierungsinstrumente weiter fördern. Anlagen solltendann eine erhöhte Förderung bekommen, wenn sie Fle-xibilität erbringen können. Nur so können KWK-Anla-gen künftig besser die fluktuierenden erneuerbaren Ener-gien ergänzen.
– Ich zeige Ihnen auf, in welchen Bereichen wir darübernachdenken.Meine Damen und Herren, KWK wird sich aber auch– das sage ich ganz deutlich – wie alle anderen Energie-erzeugungstechnologien dem Transformationsprozessdes Energiesystems stellen müssen. Unser Ziel ist es,dass die KWK dabei auch künftig einen wesentlichenBeitrag zu einer effizienten Strom- und Wärmeversor-gung leistet.Wir dürfen jedoch das Gesamtsystem nicht aus denAugen verlieren. Deshalb ist es gut, wenn erst eineGrundsatzentscheidung zum Strommarkt getroffen unddann die KWK-Novelle zügig auf den Weg gebrachtwird.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die
Kollegin Eva Bulling-Schröter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieKraft-Wärme-Kopplung ist eine Brückentechnologie,die diesen Namen tatsächlich verdient. Die Abwärmeheizt nicht mehr Flüsse oder die Umwelt, sondern Ge-bäude und Industrieprozesse. Der Wirkungsgrad vonAnlagen kann somit auf bis zu 90 Prozent erhöht wer-den. Das ist mehr als doppelt so viel wie bei normalenKraftwerken. Weil jede nicht verbrauchte Kilowatt-stunde die preiswerteste ist, muss die KWK ausgebautwerden. Das war auch lange das Anliegen der Bundesre-gierung – jedenfalls auf dem Papier. Bereits seit Jahrensteht das Ziel fest, dass wir bis 2020 einen KWK-Anteilan der Stromerzeugung von 25 Prozent erreichen wollen.Erreicht haben wir bisher nur 16 Prozent. Der Ausbaustagniert, und Anlagen werden teilweise sogar stillge-legt.Im Grünbuch zum Strommarkt haben wir leider ver-geblich nach einem Bekenntnis zum weiteren Ausbaugesucht. Die dürren Sätze dazu lassen eher vermuten,dass das Ziel infrage gestellt wird. Das halten wir für einverheerendes Signal.
Somit werden wir weiter vor uns hindümpeln.
Die KWK steht wirtschaftlich unter Druck, lieber Kol-lege Florian. Da die Braunkohleförderung nicht zurück-gefahren wird, gibt es angesichts steigender Ökostrom-mengen einfach zu viel Strom. Der Preisverfall an denStrombörsen mindert die Einnahmen aus dem Elektrizi-tätsanteil an der KWK-Leistung. Dieser Preisdruck fegtaber dummerweise die Falschen aus dem Markt, nämlichGaskraftwerke und eben die KWK-Anlagen. Darumsage ich jetzt an die Adresse der Union: Wer Gaskraft-
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Eva Bulling-Schröter
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werke erhalten will, der sollte nicht in erster Linie nachmilliardenschweren Kapazitätszahlungen rufen, sondernsich zuallererst für Instrumente starkmachen, die dieKohleverstromung eindämmen.
Es kann aber dauern, bis hier etwas passiert; das ken-nen wir ja. Deshalb müssen wir schnellstens die Vergü-tungen nach dem KWK-Gesetz anpassen. Passiert dasnicht, werden wir weder den Bestand sichern könnennoch einen Ausbau vorantreiben. Das wollen wir aberalle miteinander – zumindest habe ich das gehört. Auchdeshalb ist es unverständlich, dass sich die Bundesregie-rung so unendlich viel Zeit mit der KWK-Novelle lässt.Es geht aber nicht nur um den aktuellen Druck. Kleinebürgernahe KWK-Anlagen wie Blockheizkraftwerkerechnen sich seit ewigen Zeiten nur durch den Eigenver-brauch, wenn überhaupt. Das ist ein zweischneidigesSchwert; denn die in diesem Modus wegfallenden Zah-lungen für die EEG-Umlage, die Netzentgelte, dieStromsteuer und weitere Umlagen sind auch ein Anreizfür große Unternehmen, bestehende KWK-Fernwärme-netze zu verlassen. Die Unternehmen bauen dann ver-meintlich billig eine eigene Strom- und Wärmeversor-gung im Unternehmen auf. Das ist nur vermeintlichbillig, weil die Stadtwerke durch die Kanibalisierungvon Wärmenetzen Großabnehmer verlieren und auf fi-xen Kosten sitzen bleiben und weil die Kosten der Ener-giewende und der Netze schlicht bei anderen Stromkun-den abgeladen werden. Sinnvoll wäre es deshalb, denEigenverbrauch angemessen zu belasten und im Gegen-zug die KWK-Zahlungen entsprechend zu erhöhen.
Das würde Unternehmen aller Größenklassen, die dieseTechnologie anwenden, nutzen.Wollen wir die KWK wirklich ausbauen, dann ist eswichtig, überall dort Wärmekonzepte zu erarbeiten, woneue Gaskraftwerke oder Biogasanlagen gebaut werden.Das tun andere Staaten wie Dänemark oder die Nieder-lande. Dort liegt der KWK-Anteil an der Stromerzeu-gung bei 40 Prozent bzw. 38 Prozent. Das nenne ichEffizienzpolitik!Zudem können sogenannte Schwarmstromkonzeptedie Zusammenschaltung regeln. Dazu gibt es mehrereVorschläge. Diese sind auch praktikabel. Ich denke, dassdiese Technologie eine preiswerte Option ist, um denEnergieverbrauch im Gebäudebestand zu senken. Dasspart auch Mieterinnen und Mietern Kosten.Es gibt also sehr viele Gründe für die KWK. PackenSie es jetzt endlich an. Reden Sie nicht rum. Handeln Siejetzt. Packen wir’s!
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt und letzter Redner am heutigen Tage ist der Kol-
lege Florian Post, dem ich hiermit das Wort erteile.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, Sie haben in Ihrem Antrag sehr viel Richtigesgeschrieben. Die KWK ist hocheffizient. Sie ist klima-und ressourcenschonend. Hier herrscht also Überein-stimmung. Sie passt wegen der Ungleichzeitigkeit derEinspeisemaxima von Photovoltaik und Wind auf der ei-nen Seite und dem Wärmebedarf auf der anderen Seiteperfekt zur Energiewende. Wenn zusätzlich Speicherzum Einsatz kommen, ist sie perfekt einsetzbar. Mankann sich das hier in Berlin anschauen. Kollege FritzFelgentreu – er ist leider nicht mehr hier im Saal – hatmir gesagt, dass in Neukölln Berlins größter Speichersteht. Die KWK ist also eine sehr interessante und hoch-effiziente Technologie.Natürlich ist es so – auch das haben Sie richtig er-kannt –, dass viele KWK-Anlagen in Not sind. Gerade inder öffentlichen Versorgung und bei gasbefeuerten Anla-gen haben wir in der Tat ein großes Problem. Auch sindwir momentan mit 16 Prozent erzeugtem Strom ausKWK-Anlagen weit vom Ausbauziel von 25 Prozententfernt, das im Koalitionsvertrag verankert ist; das gebeich hier gerne zu. Aber wir arbeiten daran, dieses Pro-blem zu lösen. Wir sind uns jedoch darin einig, dass esvolkswirtschaftlich kompletter Unsinn wäre, das künf-tige Förderregime von KWK-Anlagen dahin gehend zugestalten, dass bereits geförderte Anlagen vom Netz ge-hen. Daher möchte ich dafür plädieren, dass wir als ei-nen Schwerpunkt zunächst etwas im Bestand tun undden Fokus auf die öffentliche Versorgung legen.Natürlich wäre es zu schön, wenn wir uns nur einigwären. Es gibt in Ihrem Antrag in der Tat ein paarPunkte, denen ich hier nicht uneingeschränkt zustimmenkann. Natürlich können wir die Novellierung desKWKG nicht losgelöst von der Diskussion über dasStrommarktdesign betrachten. Hier sind eine ganzheitli-che Betrachtung und auch eine Analyse notwendig, wo-her die Probleme bei der KWK eigentlich kommen. Mo-mentan haben Gaskraftwerke kaum eine Chance, nichtzuletzt wegen des daniederliegenden CO2-Zertifika-tehandels. Durch die kohlebefeuerten KWK-Anlagenwerden diese Kraftwerke natürlich noch unwirtschaftli-cher. In der Folge laufen die gasbetriebenen Anlagen zuwenig, um wirtschaftlich zu sein.Die Bundesregierung arbeitet gerade – das ist be-kannt – im Rahmen des Grün- und Weißbuchprozessesan der Novellierung des Strommarktdesigns. Dabei giltfür uns, ganzheitlich betrachtet, natürlich das Ziel, aufdem Energiemarkt Versorgungssicherheit herzustellen,die Energie bezahlbar zu halten und die klimaschonendeErzeugung von Energie zu sichern.
Wir fordern eine Einhaltung des Zeitplans und ganz ent-schieden die Vorlage eines entsprechenden Gesetzent-wurfs. Hier machen wir als AG Wirtschaft und Energie
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015 8725
Florian Post
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der SPD-Fraktion Druck, noch vor der Sommerpause ei-nen Entwurf vorzulegen. Hier geht es uns um die kon-krete Reihenfolge. Wir warten also zunächst die Grund-satzentscheidung ab und klären die Fragen betreffend dieKapazitätsmärkte, Stichwort „Energy-only-Markt 2.0“,oder wie auch immer das Kind heißen mag. Dann wer-den wir uns sofort an die Novellierung des KWK-Geset-zes machen.
Kollege Post, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Krischer?
Selbstverständlich.
Liebe Kollegen von der Union, Sie kommen gleich zu
Ihrem Feierabendbier, keine Sorge. – Herr Kollege Post,
herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
Sie haben gerade sehr deutlich dafür plädiert, dass wir
eine KWK-Novelle brauchen. Sie haben auch klar die
Bundesregierung aufgefordert, hier zu handeln. Ange-
sichts der Papiere und der Aussagen der Bundesregie-
rung scheint mir nicht richtig klar zu sein, ob es über-
haupt eine KWK-Novelle geben soll, erst recht nicht,
wann genau diese kommen soll. Ich habe die anderen
Redner so verstanden, dass es hier fraktionsübergreifend
eine große Bereitschaft gibt, sich schnell des Themas
KWK anzunehmen. Meine Frage an Sie: Wäre die SPD-
Bundestagsfraktion bereit, wenn aus dem Bundeswirt-
schaftsministerium in Sachen KWK kurzfristig nichts
käme, aus dem Parlament heraus eine KWK-Novelle an-
zupacken?
Zunächst einmal wird es eine KWKG-Novelle geben.Das ist also nicht fraglich. Sie wird kommen. UnsereForderung ist – ich habe das gerade schon in meinerRede klargemacht –, den Gesetzentwurf noch vor derSommerpause vorzulegen. Sollte das, wie Sie es vermu-ten, aus irgendwelchen Gründen eventuell nicht erfolgenkönnen, behalten wir uns als SPD-AG Wirtschaft undEnergie selbstverständlich das Recht vor – dann auchgerne mit Ihnen zusammen; in Ihrem Antrag sind sehrviele Punkte enthalten, die ich gut finde –, im Parlamenteinen eigenen Gesetzentwurf einzubringen, um im Sinneder Kraft-Wärme-Kopplung sinnvoll fortzufahren unddiese zu erhalten.
Sie haben Ihre Zwischenfrage vor der nächsten Pas-sage meiner Rede gestellt. Ich hatte mir nämlich auchvorgenommen, zu sagen: Wir werden es als SPD-Bun-destagsfraktion bzw. als AG Wirtschaft und Energie derSPD nicht zulassen, dass durch zeitliche Verzögerungdie Kraft-Wärme-Kopplung torpediert wird. Aber wirsagen ganz klar: Der Schwerpunkt liegt in der öffentli-chen Versorgung und in der Bestandssicherung sowie inder Modernisierung der Netze. Dabei ist für uns klar,dass der Deckel der KWK-Förderung von 750 MillionenEuro, wie er derzeit bemessen ist, diskutiert werdenmuss.Ein weiterer Kritikpunkt in Ihrem Antrag ist die For-derung, dass KWK auf Basis von Braun- oder Stein-kohle künftig nicht mehr gefördert werden soll. Daskann ich so nicht teilen. Denn wenn ich Ihren Antragrichtig verstehe, dann gilt dies sowohl für Neubau alsauch für die von Ihnen geforderte Bestandssicherung.Darin erkenne ich einen gewissen Widerspruch. EineEinschränkung der KWK-Kohleförderung wäre meinesErachtens mit der Gefahr verbunden, dass man dadurchdie noch wirtschaftlichen oder gerade so mit positivenDeckungsbeiträgen arbeitenden Kohle-KWK-Anlagenin die Unwirtschaftlichkeit treibt, aber damit nicht zwin-gend erreicht, dass die bisher unwirtschaftlichen gasbe-feuerten KWK-Anlagen wirtschaftlich werden. Hierwäre in der Tat der KWK in Gänze kein Dienst getan.Ich plädiere nicht dafür, undifferenziert nach demGießkannenprinzip vorzugehen. Selbstverständlich kön-nen wir bei der Ausgestaltung des Gesetzentwurfs da-rüber sprechen, wie wir bei den unterschiedlichenBrennstoffarten mit der Förderhöhe vorgehen. Aber ichplädiere dafür, dass wir diskriminierungsfrei an diese Sa-che herangehen, statt a priori eine bestimmte Brenn-stoffart zu diskriminieren.Das 25-Prozent-Ziel, das Sie gut finden und an demSie auch festhalten, nur mit Gas-, Biogas- und Bio-masse-KWK zu erreichen, würde bedeuten, dass dieKraft-Wärme-Kopplung insgesamt teurer würde, wasletztendlich über die KWK-Umlage der Stromverbrau-cher zu zahlen hätte. Das wollen wir nach Möglichkeitverhindern.Ich möchte noch kurz die Eigenverbrauchsregelungansprechen. Sie fordern, die Belastung von eigenver-brauchtem Strom mit Teilen der EEG-Umlage zurückzu-nehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich für dieAG Wirtschaft und Energie der SPD noch einmal beto-nen, dass für uns KWK nicht gleich KWK ist. MeinSchwerpunkt liegt, wie gesagt, in der öffentlichen Ver-sorgung.In der Tat muss man auch sogenannte Renditemodellegerade im Bereich von Mini-BHKW-Anlagen betrach-ten, die teilweise in Gastronomie- und Hotelbetriebeneingesetzt werden und mit denen hohe zweistellige Ren-diten erzielt werden. Hier kann man die Axt anlegen,weil eine weitergehende Förderung nicht unbedingt imSinne des Erfinders ist, noch dazu, wenn solche Anlagenin Gebieten errichtet werden, wo Fernwärmenetze beste-hen und dadurch die öffentliche Versorgung kannibali-siert wird.Ich denke, dass wir in der Summe nicht sehr weit aus-einanderliegen. Wir sind uns einig, dass wir die Kraft-Wärme-Kopplung erhalten und weiter ausbauen wollen.
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8726 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. März 2015
Florian Post
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Wenn der Gesetzentwurf vorliegt – ich bin sehr optimis-tisch, dass er noch vor der Sommerpause vorliegenwird –, freue ich mich auf weitere Diskussionen mit Ih-nen im Ausschuss und im Plenum des Parlaments.Danke für die Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3919 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall, weil ich keinen Wider-
spruch sehe. Dann ist das somit beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung angelangt. Ich wünsche Ihnen noch einen fried-
vollen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 6. März 2015, 9 Uhr
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.