Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere Tagesord-nung eintreten, möchte ich sicher auch in Ihrem Namenden Handwerkern und den Technikern meine Bewunde-rung und Anerkennung zum Ausdruck bringen,
die innerhalb weniger Tage den Plenarsaal gleich zwei-mal umgebaut haben.Ich habe noch einige technische Hinweise für die Ge-staltung unserer Tagesordnung. Es gibt eine interfraktio-nelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung umdie in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-weitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Haltung der Bundesregierung zur Verwen-dung der Überschüsse in der gesetzlichenKrankenversicherung
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 30a) Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaKolbe , Rüdiger Veit, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDProgramm zur Unterstützung der Sicherungdes Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufent-haltsrechts– Drucksache 17/9029 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNeuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge-abkommen zurücknehmen– Drucksache 17/9036 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Tarifrunde 2012 – Höhere Löhne durchsetzen,jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspek-tive bietenZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEPraxisgebühr abschaffen– Drucksache 17/9031 –ZP 5 Unterrichtung durch die BundesregierungBericht des Spitzenverbandes Bund der Kran-kenkassen zur Evaluierung der Ausnahmere-gelungen von der Zuzahlungspflicht– Drucksache 17/8722 –ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausRiegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Helga Daub, JoachimGünther , Harald Leibrecht, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Weltwärts wird Gemeinschaftswerk– Drucksache 17/9027 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 7 Vereinbarte DebatteHinrichtung der mutmaßlichen Metro-Atten-täter von Minsk in BelarusZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Beziehungen zwischen Deutschland undNamibia stärken und Deutschlands histori-scher Verantwortung gerecht werden– Drucksache 17/9033(neu) –ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKleingruppenhaltung für Legehennen endgül-tig beenden– Drucksache 17/9028 –ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Undine Kurth , NicoleMaisch, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerordnung zur Kleingruppenhaltung unver-züglich in Kraft setzen– Drucksache 17/9035 –Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 6 und 30 g werden abge-setzt. Darüber hinaus gibt es zwei Änderungen imAblauf: Der Tagesordnungspunkt 11 wird nach Tages-ordnungspunkt 12 und der Tagesordnungspunkt 13 wirdnach dem Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen.Schließlich mache ich noch aufmerksam auf einenachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zurZusatzpunktliste:Der am 16. Dezember 2010 in der 81. Sitzung über-wiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Aus-schuss für Tourismus zur Mitberatungüberwiesen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten JosipJuratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDRichtlinien zur konzerninternen Entsendungund zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten– Drucksache 17/4190 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionIch darf Sie fragen, ob Sie damit einverstanden sind. –Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten VolkerKauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, GerdaHasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi,Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Ab-geordneten eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Regelung der Entscheidungslösung imTransplantationsgesetz– Drucksache 17/9030 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Transplantationsgesetzes– Drucksache 17/7376 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieDebatte folgende Struktur vorgesehen: Zunächst soll ineiner ersten Runde aus jeder Fraktion einer der Initiantendieses Gesetzentwurfes eine Redezeit von 10 Minutenerhalten. Für die weitere Aussprache sind dann insge-samt 75 Minuten vorgesehen, die nach der üblichen Re-dezeitvereinbarung auf die Fraktionen aufgeteilt werden.Da eine große Anzahl an Redewünschen einer nur be-grenzt zur Verfügung stehenden Zeit für die Aussprachegegenübersteht – was ja schon einmal vorkommt –, ha-ben sich die Parlamentarischen Geschäftsführer daraufverständigt, dass die Reden derjenigen Kolleginnen undKollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt wer-den kann, zu Protokoll gegeben werden können. SindSie auch mit dieser Verfahrensvereinbarung einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Kollege Volker Kauder.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Wir bringen heute in erster Lesung einen Gesetzentwurfin den Deutschen Bundestag ein, der von einer großenZahl von Kolleginnen und Kollegen direkt aus diesemHaus heraus formuliert wurde und heute der Öffentlich-
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Volker Kauder
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keit vorgestellt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf solleine breite Mehrheit in diesem Deutschen Bundestag er-halten. Deswegen haben wir von der Koalition von An-fang an darauf verzichtet, nur einen Koalitionsgesetzent-wurf einzubringen. Vielmehr haben wir uns in diesemHause auf breiter Basis verständigt. Es geht darum, miteinem höchst sensiblen Thema so umzugehen, dass beiden Menschen die richtige Botschaft auch ankommt. Esgeht um die Frage: Unter welchen Voraussetzungen kön-nen wir Regelungen schaffen, um in der Transplanta-tionsmedizin zu einem größeren Erfolg zu kommen?Von 1963 bis 2010 wurden in Deutschland etwa103 000 Organe transplantiert. Wenn man sich die Zah-len anschaut, was so durchschnittlich im Jahr an Trans-plantationen erfolgt, ist man auf der einen Seite ange-nehm überrascht, dass es so viele sind, und doch auchwieder enttäuscht, dass es nur so viele sind. Etwa 1 300bis 1 400 Transplantationen finden jährlich in Deutsch-land statt. Es warten aber etwa 12 000 Menschen auf einOrgan, darauf, dass sie – bei Nierenproblematik – vonder Dialyse wegkommen können oder dass sie wiedereine Perspektive haben, die ihnen das Leben erleichtert.Wenn man die Diskussionen in den letzten Tagen ver-folgte, hatte man manchmal den Eindruck, dass wegender Forderungen, dass mehr Transplantationen stattfin-den könnten und mehr Organe zur Verfügung stehensollten, quasi ein Rechtsanspruch auf eine Transplanta-tion besteht. Genau dies ist nicht der Fall. Wir haben indiesem Gesetzentwurf größten Wert darauf gelegt, dassniemand gezwungen werden kann. Es ist eine höchstper-sönliche Entscheidung, ob jemand sein Organ zur Verfü-gung stellen will oder nicht.
Wenn ich heute von dem einen oder anderen, der sichauf diesem Gebiet – auch als Ethiker – betätigt, die For-derung lese, da müsse mehr gemacht werden, es müssemehr Druck dahinter kommen, kann ich nur sagen: Dasist die völlig falsche Richtung. Wir wollen nicht mehrDruck, sondern wir wollen mehr dafür werben, dassMenschen freiwillig und aus Überzeugung ihr Organspenden.
Das hat dazu geführt – fast ein Jahr diskutieren wir überdieses Thema –, dass wir von der Zustimmungslösung,die wir jetzt haben, zu einer Entscheidungslösung ge-kommen sind, allerdings zu einer, die auch beinhaltenkann, sich nicht zu entscheiden, sondern offenzulassen,Ja, Nein oder auch gar nichts zu sagen. Da wird manchereinwenden: Was soll sich denn dann eigentlich an derjetzigen Situation verbessern? Ganz entscheidend ist,dass wir in dem Gesetzentwurf die Krankenversicherun-gen – und zwar die gesetzlichen und die privaten – dazuverpflichten, all ihre Mitglieder alle zwei Jahre anzu-schreiben, zu informieren und dafür zu werben, Organ-spender zu werden.Frank Steinmeier und ich, die wir die Diskussion be-gonnen haben, haben uns natürlich vorgestellt, dass wirbei der Frage „Wie soll es dokumentiert werden, wie sollnachgewiesen werden, dass ich Organspender bin?“ ei-nen Schritt weiterkommen würden, als wir jetzt im Ge-setzentwurf sind. Wir haben uns vorgestellt, dass mandie Zusage, Organspender zu sein, auf der Gesundheits-karte eintragen lassen kann, mussten dann aber feststel-len, dass die technischen Voraussetzungen noch nicht soweit sind, dass wir das schon jetzt machen könnten, weilein Extrafeld auf der Karte ausgewiesen werden muss.Es mag nun den einen oder anderen enttäuschen, dasswir noch nicht so weit sind. Andererseits sage ich: Wennwir nicht jetzt mit diesem Gesetzentwurf die Vorausset-zung schaffen würden, würden wir auch in zwei Jahren,wenn es so weit sein könnte, nicht so weit sein, wie wirjetzt sind. Bis zu diesem Zeitpunkt, an dem die Gesund-heitskarte auch für die Organspende zur Verfügung steht,werden wir das bisherige System mit dem alten Organ-spenderausweis weiter beibehalten.Ich glaube, das Entscheidende ist aber, dass wir dieMenschen durch direkte Ansprache bewegen, sich mitdiesem Thema auseinanderzusetzen. Natürlich sind auchviele Fragen, Sorgen und Ängste mit der Organspendeverbunden. Wir hören oft genug, dass die Menschen sa-gen: Muss ich früher sterben, wenn ich Organspenderbin? Wird dann bei mir noch die Medizin wie bei den an-deren angewandt, die sich nicht bereit erklärt haben? Ge-nau darüber muss viel besser aufgeklärt und informiertwerden.Wir haben uns für die Lösung entschieden, die frei-willige Entscheidung durch Information herbeizufüh-ren. Wir haben uns gegen eine Widerspruchslösung ent-schieden. Es wird immer darauf verwiesen, dass die Zahlder Spenderorgane in den Ländern, in denen es die Wi-derspruchslösung gibt, beispielsweise in Österreich undSpanien, höher sei als bei uns. Auf der anderen Seitewissen wir aber auch, dass in den Ländern, in denen esdie Widerspruchslösung gibt, die Angehörigen in fast al-len Fällen, in denen es keine klare Aussage des Betroffe-nen gibt, gefragt werden. Deswegen ist dies nur schein-bar eine bessere Lösung.Wir, die wir diesen Gesetzentwurf vorlegen, sagen:Eine Widerspruchslösung entspricht nicht unserer Rechts-auffassung.
Wir wollen nicht, dass der Staat sagt: Jeder Mensch istzunächst einmal Organspender, und wenn er das nichtsein will, dann muss er widersprechen. Wir wollen nicht,dass die Menschen in einer solchen Frage einer staatli-chen Entscheidung widersprechen müssen. Wir wolleneine positive Zustimmung erhalten. Deswegen plädierenwir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, fürdie Entscheidungslösung.
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Ich finde es bemerkenswert, dass der Gesetzentwurfjetzt, auch wenn es lange gedauert hat, im DeutschenBundestag eine so breite Unterstützung findet. In derAnhörung wird sicher noch die eine oder andere Fragevertieft behandelt werden müssen, beispielsweise dieFrage, wie das in der Praxis, in unseren Kliniken ablau-fen soll. Es ist zu fragen, ob in dem einen oder anderenFall nicht doch ein bisschen mehr Spielraum eingeräumtwerden muss. Aber schon heute können wir die positiveBotschaft aussenden: Wir werben bei den Menschen in-tensiv dafür, sich als Organspender zur Verfügung zustellen. In einer Bürgergesellschaft ist es doch für jeden,auch für jeden von uns, etwas Wunderbares, wenn erdurch eine Fußgängerzone gehen und sagen kann: Eineganze Reihe dieser Menschen ist bereit, mir zu helfen,wenn ich wirklich Hilfe brauche.Dass wir die Abläufe in unseren Kliniken verbessernmüssen, zeigt sich im zweiten Gesetzentwurf, der vomBundesgesundheitsminister vorbereitet und von derBundesregierung eingebracht wurde, wofür wir dankbarsind. Wir wissen, dass der Erfolg nur durch ein gutes Zu-sammenwirken von Transplantationsgesetz, Aufforde-rung, Werben für die Organspende und verbesserten Ab-läufen in unseren Kliniken sichergestellt werden kann.All das gehört zusammen.
Die Abläufe sollen durch die Einrichtung von Transplan-tationsbeauftragten in unseren Krankenhäusern verbes-sert werden. Dadurch wird deutlich, dass die Frage derTransplantation eine Aufgabe aller Ärzte in einem Kran-kenhaus ist.Aufgrund des neuen Gesetzes wird es nicht – vor die-ser Hoffnung muss man warnen – von einem Tag auf denanderen zu einem sprunghaften Anstieg der Organspen-debereitschaft kommen. Ich glaube aber, dass wir mittel-fristig eine verbesserte Situation schaffen können. Dazudient dieser Gesetzentwurf. Gleich in § 1 des Transplan-tationsgesetzes wird formuliert: Wir wollen, dass dieBereitschaft der Menschen zur Organspende in Deutsch-land gefördert wird. Diesbezüglich befinden wir uns– das wird am heutigen Tag deutlich – auf einem gutenWeg.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter
Steinmeier.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine noch relativ junge Frau schrieb:Warum mache ich das durch? Diese Frage stelltesich mir häufig, während der Krankenhausaufent-halte und der Wartezeit auf meine neue Lunge. Wa-rum mache ich das durch? Natürlich aus Liebe zumeiner Familie und zu meinen Freunden, mit denenich zusammenbleiben möchte, aber auch, weil dasLeben einfach spannend und toll ist!Dies sagte Claudia Kotter – sie ist manchen von Ihnenmöglicherweise bekannt –, die junge, tatkräftige, lebens-lustige, allerdings auch schwerkranke Initiatorin derOrganspendeinitiative „Junge Helden“. Das Leben istspannend und toll. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Daswar eine Art Lebensmotto für sie. Daraus hat sie Kraftgeschöpft, nicht nur für sich selbst, sondern auch fürandere.Im letzten Juni ist sie verstorben. Sechs Tage vorihrem Tod hat sie noch hier im Deutschen Bundestag ineiner Anhörung zum Thema Organspende ganz ein-dringlich und eindrucksvoll für Verbesserungen gewor-ben. Ich will sagen: Es ist auch ihr Verdienst und dasVerdienst ganz vieler solcher Initiativen, dass wir jetzt inder Lage sind, Verbesserungen in die Tat umzusetzen.Deshalb gehört der Dank auch ihnen.
Ich möchte auch Ihnen hier im Hohen Hause dankenfür unsere gute und, wie ich finde, am Ende erfolgreicheZusammenarbeit, für die Bereitschaft aller, sich überParteigrenzen hinweg zusammenzufinden und gemein-sam nach der besten Lösung zu suchen. Ich glaube,Gegenstand zum Streit bleibt für uns genügend; daranwird kein Mangel herrschen, nicht heute und auch nichtin Zukunft. Aber heute können wir miteinander zeigen,dass Politik Verantwortung für Menschen, die dringendder Hilfe bedürfen, ernst nimmt. Deshalb ist das heuteein wichtiges Zeichen für uns alle.
Der eine oder andere – Kollege Kauder hat das ebenangedeutet – sagt durchaus zu Recht: Organspende istnun wirklich nicht das einzige Problem der Gesundheits-politik, es ist nicht einmal das Kernproblem der Gesund-heitspolitik. Im Prinzip hat derjenige, der das sagt, durch-aus recht. Trotzdem – auch das ist heute zu sagen –: Esgeht um mehr als nur Einzelschicksale. Es geht um mehrals die 1 000 Menschen, die jährlich sterben, aber lebenkönnten, wenn genügend Organe zur Verfügung stünden.Es geht auch um mehr als die 12 000 Menschen, die aufder Warteliste stehen, die auf den rettenden Anruf war-ten, dass endlich ein passendes Organ gefunden ist. Esgeht auch um mehr als die Tausende von Menschen, dienicht einmal mehr auf eine Warteliste kommen, weil esfür sie völlig aussichtslos ist, mit einem Organ versorgtzu werden. Es geht auch nicht nur um die Angehörigen,die vielleicht in dem verzweifeltsten Moment, wenneiner ihrer nahen Angehörigen gestorben ist, auch nochüber dessen Haltung zur Organspende rätseln müssen.
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Um all das geht es natürlich, all das wäre sicherlichGrund genug für unsere Initiative heute Morgen, aber inWahrheit geht es um noch mehr. Es geht um Verantwor-tung. Es geht um die Verantwortung, die wir für Men-schen übernehmen, die unserer Hilfe bedürfen. Aus die-ser Verantwortung – da hat Kollege Kauder recht –entsteht noch keine Pflicht zur Spendebereitschaft, aberich finde, aus dieser Verantwortung entsteht die Erwar-tung an uns alle, dass wir uns entscheiden.
Organspende ist eine Frage der Mitmenschlichkeit,und Politik hat diese Mitmenschlichkeit möglich zumachen, das heißt, Hürden da abzubauen, wo sie nochbestehen, und zu ermutigen, wo manche der Ermutigungbedürfen. Ich bin sicher: Heute wird der eine oder andeream Fernseher zuschauen oder oben auf der Tribüne sit-zen, der selbst zu den Betroffenen gehört. Einige werdenihr Leben zurückgewonnen haben dank einer Entschei-dung von Spendern, die sich noch vor ihrem Tod für eineOrganspende nach ihrem Tod entschieden haben, oderdank des Mutes von Angehörigen, die sich für das Lebenvon Fremden entschieden haben, weil sie für das Lebendes Ehemannes, der Ehefrau oder der Kinder nichtsmehr tun konnten. Das ist Mitmenschlichkeit. Ichglaube, diese verdient an diesem Tage unseren großenRespekt.
Wir wissen aus Umfragen, dass es in Deutschlandnoch viel mehr Bereitschaft gibt, diese Mitmenschlich-keit, zur Organspende bereit zu sein, zu zeigen. Mit denGesetzentwürfen, die wir heute ins parlamentarischeVerfahren einbringen, wollen wir es den Menschen inZukunft leichter machen, tatsächlich eine Entscheidungzu treffen. Wir wollen nicht jeden automatisch zumOrganspender machen. Aber wir möchten, dass sichjeder einmal in seinem Leben entscheidet: für odergegen die Bereitschaft zur Organspende. Ich möchtenoch einmal Claudia Kotter zitieren, die etwas provo-kant geschrieben hat:Nicht der Mensch, der nicht spenden will, ist einschlechter Mensch, sondern der, der sich keine Ge-danken macht.
Ich kann das alles individuell verstehen, meineDamen und Herren. Nicht jeder beschäftigt sich gernemit der Endlichkeit des Daseins, mit dem eigenen Tod.Das sind Fragen, die man gerne verschiebt. Deshalbwandert der Organspendeausweis, den man zufällig ein-mal bei einer Behörde oder bei der Krankenkasse mit-nimmt, zunächst einmal auf den Stapel noch nicht erle-digter Papiere. Dann wandert er ein Stückchen weiterhinunter, bis er ganz unten liegt. Am Ende wird erunausgefüllt entsorgt. Weil das so ist und weil das einhöchst menschliches Verhalten ist, finden wir: Mit die-sem Gesetzentwurf ist es an der Zeit, dass wir informie-ren – ja –, dass wir aufklären – ja –, dass wir aber auchnachhaken und bitten, eine Entscheidung zu treffen.Mindestens das ist notwendig.
Wir wollen, dass die Entscheidung dokumentiertwird. Solange das auf der elektronischen Gesundheits-karte noch nicht möglich ist, bleibt es bei der Praxis mitdem Organspendeausweis, den Sie kennen. Manchehaben uns in dieser Diskussion geraten, es nicht dabei zubelassen: nicht nur zu informieren, aufzuklären, zu wer-ben und um eine Entscheidung zu bitten, sondern auchAnreize zu setzen, etwa darüber nachzudenken, ob wirSpendern Bonuszahlungen leisten sollten, ob wir sogareine Senkung des Krankenkassenbeitragssatzes inBetracht ziehen sollten oder ob es bevorrechtigteAnsprüche für Spender geben sollte, wenn sie selbstkrank werden und ein Organ brauchen. Meine Damenund Herren, für solches Nachdenken mag es guteGründe geben. Wir haben uns in Gesprächen zwischenden Parteien nach dem Nachdenken und nach den Dis-kussionen gegen solche Anreize entschieden; denn dieOrganspende soll eine Spende bleiben.
Wir wollen die Verantwortung füreinander stärken.Aber wir wollen nicht die Kommerzialisierung des eige-nen Körpers, nicht durch Geldleistungen und nicht durchprivilegierten Zugang zu Gesundheitsleistungen. Organ-spende bleibt freiwillig. Sie ist und bleibt auch nach die-sem Gesetz im Kern eine altruistische Entscheidung.Das ist so gewollt.
Nicht weniger wichtig als Information, Aufklärung,nachdrückliches Werben und die Befragung sind in derTat die organisatorischen Verbesserungen, die heute mitauf den Weg gebracht werden; sie sind genauso wichtig.Klare Verantwortlichkeiten in den Kliniken, die ver-pflichtende Bestellung von Transplantationsbeauftrag-ten, die Pflicht der Entnahmekrankenhäuser zu aktiverMitwirkung, all das ist dringend notwendig und mussjetzt mit auf den Weg gebracht werden.
Ich bin froh, dass es in letzter Minute sogar noch eineVerständigung über die Verbesserung der Situation derLebendspender gegeben hat. Es gibt nämlich unter-schiedliche Praktiken der Krankenkassen und derArbeitgeber, was die Übernahme der Kosten für eineLebendspende, die Lohnfortzahlung und ähnliche Dingeangeht. Hier gibt es jetzt Einigkeit. Wir sind uns auch
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einig, dass eine entsprechende Regelung im Laufe desVerfahrens in den Gesetzentwurf eingefügt wird.Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass wir nacheinjähriger Debatte an diesem Punkt angekommen sind.Wir alle wissen um die Wirkung von Gesetzgebung. Wirhoffen und gehen davon aus, dass dieses Gesetz einenBeitrag dazu leisten wird, die Zahl der Organspender zuerhöhen.Das alles wird aber nicht ausreichen, wenn es unsnicht gelingt, eine offene und ehrliche öffentlicheDebatte zu führen und auch in Schulen dafür zu werben,dass dies ein Thema wird.Herzlichen Dank.
Rainer Brüderle erhält nun das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute istein guter Tag für 12 000 Menschen, die hoffen und ban-gen, dass sie ein Spenderorgan bekommen. Wenn manGelegenheit hatte, mit Betroffenen zu sprechen, dannspürt man, welche Dramatik, ja Tragik damit verbundenist.Der fraktionsübergreifende Gesetzentwurf zeigt, dassdas Parlament die Fähigkeit hat, bei ethischen Fragenund bei Fragen der Existenz und des Miteinanders auchaußerhalb des politischen Wettbewerbs, der zur Demo-kratie und zum Parlament gehört, solche Regelungen aufden Weg zu bringen. Das ist eine gute Übung des Parla-ments und zeigt, dass wir auch die Fähigkeit zurGemeinsamkeit haben. Hier dominiert der Grundkon-sens aller politischen Kräfte des deutschen Parlaments.
Ich möchte mich bei Jens Spahn, Dr. Carola Reimann,Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Dr. MartinaBunge und, für meine Fraktion, Gabriele Molitor bedan-ken. Diese Kolleginnen und Kollegen haben konstruktivund sachlich gemeinsam eine Lösung im Kern erarbeitet.Das ist vorbildlich und der Sache angemessen.
Das Bundesgesundheitsministerium hat das Parla-ment bei der Formulierung tatkräftig unterstützt. Ichdanke Bundesminister Daniel Bahr, der den Gesetzent-wurf von Anfang an forciert und begleitet hat.
Daniel Bahr stellt sich damit in die gute Tradition vonRegierungsmitgliedern, die die Ethik des medizinischenFortschritts und die Ethik des Heilens immer wieder aufsNeue in Einklang bringen müssen.Als 1997 das Transplantationsgesetz verabschiedetwurde, hat Horst Seehofer, damals als Gesundheits-minister, sinngemäß gesagt, dass die Politik nicht ent-scheiden könne, wann ein Mensch tot ist. Wir könnennur verantwortbare Kriterien suchen. – Der damaligeJustizminister Edzard Schmidt-Jortzig hat seinerzeit da-rauf hingewiesen, dass „ein Mensch noch im Sterbenoder … am Rande des Todes einem anderen Menschendas Leben retten“ kann. Damit ist das Spannungsfeld fürunsere politische Entscheidung, wie ich finde, treffendbeschrieben.Das Thema Organspende rührt an der Urangst derMenschen vor dem Tod. Diese Angst wird gerne ver-drängt; das ist menschlich und zu verstehen. Alle hier imHause und am Bildschirm verstehen aber auch die Situa-tion von Menschen, die sehnsüchtig auf ein Spender-organ warten. Bei ihnen ist die Sorge um das Leben sehrreal und unmittelbar greifbar. Wer eine neue Niere oderein neues Herz braucht, der verdient die Unterstützungder Gesellschaft. Selbstbestimmung, Freiheit und Würdedes Einzelnen sind hohe Güter. Sie müssen respektiertwerden und werden respektiert. Deshalb sollte es keinenstaatlich verordneten Entscheidungszwang zur Organ-spende geben.
Für die Mitglieder unserer Fraktion war von Anfang anklar, dass es eine solche persönliche Entscheidung nurauf freiwilliger Basis geben kann.Eine Pflicht zur Beschäftigung mit dem Thema, einePflicht, dass man sich mit dem Thema auseinandersetzt,können wir aber schon verlangen, wobei es völlig legi-tim ist, dass Bürger auch keine Entscheidung treffen.Das gehört zur Selbstbestimmung. Es ist aber auch legi-tim für die Gesellschaft, nach einigen Jahren immer wie-der nachzufragen und das Thema in Erinnerung zu brin-gen. So ist das Modell, das wir heute hier als Grundlagehaben, angelegt.Jeder sollte sich mit dieser Frage intensiv auseinan-dersetzen. Das wird häufiger und eindringlicher als bis-her geschehen. Neben den Krankenkassen werden auchBehörden verstärkt über die Organspende informieren.Wer einen neuen Pass bekommt, erhält gleichzeitig eineInformation zur Organspende. Das ist ein Ansatz, derschon 1997 – damals auch von Schmidt-Jortzig – mit indie Debatte eingeführt wurde. Es ist eine sanfte Auffor-derung, über dieses Thema nachzudenken und etwas zutun. Es geht um Bürgerpflicht, nicht um Bürgerzwang.
Das ist der Leitgedanke dieses Gesetzentwurfs.Ein weiteres sensibles Thema, das damit in Verbin-dung steht, ist der Datenschutz, Stichwort: elektronischeGesundheitskarte. Zur Selbstbestimmung gehört zwin-gend die Verfügbarkeit über persönliche Daten. Dermögliche Umgang der Krankenkasse mit sensiblen Da-ten, das sogenannte Schreibrecht, ist heikel. Es mussmeines Erachtens ebenfalls klar sein: Die Speicherung
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der Daten darf nicht zum Ausgangspunkt für ein Organ-spenderregister werden.Ich denke, auch hier haben wir einen gangbaren Weggefunden. Die Versicherten müssen persönlich zustim-men, bevor ein Sachbearbeiter sensible Daten auf dieGesundheitskarte übertragen darf. Außerdem müssen beider technischen Umsetzung der Gesundheitskarte Ver-fahren gefunden werden, die höchsten Sicherheitsanfor-derungen genügen.Wir konfrontieren die Menschen künftig häufiger undsystematisch mit dem Thema Organspende. Es geht auchdarum, ihnen Folgendes bewusst zu machen: Wer dieEntscheidung für eine Organspende trifft, nimmt auchDruck von seinen Angehörigen. Sie können beispiels-weise im Falle des Gehirntods in die Lage geraten, Ent-scheidungen für den Verstorbenen treffen zu müssen.Ebenso wird Druck von den Ärzten genommen. Heutemüssen sie mit den Angehörigen Gespräche über die Or-ganspende führen, während die Patientinnen oder die Pa-tienten um ihr Leben kämpfen. Auch dies ist eine Situa-tion, die für alle Beteiligten unerträglich sein kann.Das neue Gesetz wird hoffentlich zu mehr Organ-spenden führen. In Deutschland sterben derzeit imSchnitt jeden Tag drei Menschen, weil sie keine Organ-spende erhalten können. Ich wiederhole: Es sind jedenTag drei Menschen. Uns obliegt eine ethische und politi-sche Verantwortung dafür, dass sich diese tragische Lageändert.Gesundheitsminister Daniel Bahr legt gleichzeitig ei-nen weiteren Gesetzentwurf vor. Dieser Gesetzentwurfzielt auf die tapferen Menschen ab, die zu Lebzeiten Or-gane spenden. Für den Spender bedeutet ein solcher me-dizinischer Eingriff immer ein Risiko; 100 Prozent risi-kofrei, das geht nicht. Für diese tapferen Menschensollen die Ansprüche gegenüber den Kassen verbessertwerden, etwa beim Krankenhausaufenthalt. Wer sich zueinem solchen mutigen Schritt entscheidet, muss ent-sprechend abgesichert sein.
Die Transplantationsmedizin wird heute von nahezuniemandem mehr infrage gestellt. Auch das Kriteriumdes Hirntodes wird meistens nicht infrage gestellt.Meine Damen und Herren, im Raume stehen vieleWorte, die sperrig wirken – das sage ich gerade an dieZuschauerinnen und Zuschauer draußen im Land gerich-tet –: Entscheidungslösung, Widerspruchslösung, engebzw. erweiterte Zustimmungslösung.Entscheidend ist: Organspenden retten Leben. Die Er-kenntnis ist einfach. Die Entscheidung für eine Organ-spende kann aus unterschiedlichen Gründen und Moti-ven nicht einfach sein. Wir können, sollen und dürfendie Menschen nicht aus der persönlichen Entscheidungs-verantwortung entlassen, und wir dürfen sie ihnen auchnicht abnehmen. Wir können, sollen und dürfen sie abermit diesen Themen beschäftigen: Selbstbestimmung,Nächstenliebe, Bürgerpflicht, Verantwortung. Damitmuss sich eine offene Bürgergesellschaft auseinanderset-zen. Die heutige Debatte ist ein wichtiger Beitrag.Viele Kolleginnen und Kollegen, die an dieser De-batte heute teilnehmen, tragen den Spenderausweis stetsbei sich. Das Ganze ist ganz einfach. Ich will Ihnen die-sen Ausweis kurz zeigen. – Er sieht wie eine Scheck-karte aus. Jeder kann ihn jederzeit in seiner Brieftaschemit sich tragen und damit Klarheit schaffen. Ich bitte alleBürgerinnen und Bürger herzlich, das ernsthaft zu erwä-gen.Vielen Dank.
Ich erteile nun dem Kollegen Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In kaumeinem anderen Bereich hängen Fragen von Leben undTod, Verzweiflung und Hoffnung, Freud und Leid so engzusammen wie bei der Organspende und der Organtrans-plantation. Es geht um grundsätzliche Fragen der Ethik,um moralische Maßstäbe, aber auch um Grundsätze derReligion. Im Gesundheitswesen gibt es zweifellos vielesehr grundsätzliche Probleme, um die es aber heute nichtgeht. Heute sprechen wir über Organspenden und -trans-plantationen.Es gibt bei einigen Bedenken, dass Menschen, die Or-gane spenden, grob gesagt, als eine Art Ersatzteillagermissbraucht werden. Ich frage mich: Was sagen solcheMenschen Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau?Warum soll er nicht berechtigt sein, das Leben seinerFrau zu retten, die er liebt? Warum soll sie nicht berech-tigt sein, diese Spende anzunehmen? Ich sehe dafür kei-nen Grund.
Aber selbst wenn man sagt: „Ich meine das nicht inBezug auf Lebende, sondern nur in Bezug auf Tote“,frage ich mich: Was sagen diejenigen den jährlich etwa1 000 Kranken in Deutschland, die mangels Organtrans-plantation sterben? Was sagen sie den 12 000 Personen,die auf Wartelisten stehen und noch nicht wissen, ob siegerettet werden oder nicht? Meine ethische Überzeu-gung, meine Sicht der Solidarität besteht darin, dass dieMedizin alles Mögliche zu tun hat, um das Leben vonMenschen zu retten.Nach den Umfragen gibt es eine große Mehrheit, diebereit ist, Organe zu spenden. Aber nur wenige von ih-nen teilen das auch schriftlich mit. Sie wissen, wieschwer es in Krankenhäusern ist, wenn jemand gestor-ben ist und die Angehörigen nach dem Willen des Ver-storbenen gefragt werden. Ich möchte die Angehörigenvor dieser Befragung eigentlich schützen, indem ich dieMenschen animiere, sich selbst zu entscheiden oder zu
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entscheiden, dass sie sich nicht entscheiden. Alles isteine Art der Entscheidung.
Woran liegt es, dass das so wenige mitteilen? Ichdenke, das Hauptproblem liegt in unserer Kultur, in un-serer Zivilisation. Wir verdrängen Fragen, die mit demTod zusammenhängen. Ein bisschen kann ich das verste-hen. Für eine 25-Jährige oder einen 25-Jährigen liegendiese Fragen so weit weg, obwohl auch sie jeden Tag un-angenehm überrascht werden können. Aber ich sagte esschon: Man verdrängt das. Man will sich damit gar nichtbeschäftigen. Fragen Sie doch einmal eine 25-Jährigeoder einen 25-Jährigen, wie sie oder er beerdigt werdenwill. Dann wird sie oder er sagen: Darüber habe ich mirnoch keine Gedanken gemacht. – Das ist nachvollzieh-bar. Aber deshalb finde ich es nicht falsch, wenn die Ge-sellschaft den Menschen eine Frage stellt – um mehrgeht es nicht – und sie bittet, sich zu entscheiden; nur da-rum geht es.
Persönlich – das will ich Ihnen ebenfalls sagen – binich für die Widerspruchslösung. Das bedeutet: Alle sindgrundsätzlich zur Organspende bereit, es sei denn, siewidersprechen. Aber ich weiß: Ich habe gar keineChance auf eine Mehrheit, wahrscheinlich nicht in derGesellschaft, auf jeden Fall nicht im Bundestag. Deshalbführe ich darüber keine Diskussion. Aber ich wollte dasder Ehrlichkeit halber gesagt haben.Nun also liegt ein Gruppenantrag vor. Über Kranken-kassen sollen Befragungen stattfinden. Wichtig ist: Esbleibt vollständig beim Prinzip der Freiwilligkeit. Es istein Angebot an jede Bürgerin und jeden Bürger, für sicheine Entscheidung zu treffen oder bewusst keine Ent-scheidung zu treffen. Es geht nicht um mehr und nichtum weniger. Beigefügt wird dem Anschreiben der Kran-kenkassen ein Organspendeausweis aus Pappe, in den je-der und jede seine bzw. ihre Entscheidung eintragenkann oder eben sich verweigert, sie einzutragen.Auf den Organspendeausweis aus Pappe hat insbe-sondere unsere Fachpolitikerin auch nach der von unsabgelehnten, aber hier beschlossenen Einführung derelektronischen Gesundheitskarte bestanden. Das istwichtig, weil nur mit dem Ausweis aus Pappe die völligeAnonymität gewahrt werden kann; denn das StückchenPapier hinterlässt keinerlei Spuren:
nicht im Internet, nicht in Patientendateien, nicht in denVerwaltungen der Krankenkassen, schon gar nicht zen-tral. Ich entscheide, ob und wem ich es mitteile.Dennoch gibt es auch in meiner Fraktion größere Be-denken, dass das weitere, spätere Angebot, künftige Ent-scheidungen auch auf der elektronischen Gesundheits-karte vermerken lassen zu können, zu erheblichemDatenmissbrauch führen und das verfassungsrechtlichhohe Gut der informationellen Selbstbestimmung aushe-beln könnte. Diese Bedenken sind aus mehreren Grün-den berechtigt:Erstens. Wo Daten erhoben und zentral gespeichertwerden, können sie auch kopiert, vervielfältigt und miss-braucht werden.Zweitens. Wir haben zusätzlich das Problem, dass wirderzeit rund 200 gesetzliche und private Krankenkassenhaben und dass es erlaubt ist, die Kassen zu wechseln.Das erschwert die Gewährleistung der Sicherheit derpersonenbezogenen Daten erheblich. Es gibt nicht nureine Schwachstelle beim System der Datenerhebung,sondern Hunderte. Daher soll nach dem Gesetzentwurfbis Mitte nächsten Jahres geprüft werden, ob die Eintra-gung zugelassen werden soll. Sollte bei der Prüfung he-rauskommen, dass der datenrechtliche Schutz nichtmöglich ist, wird es den Eintrag auf der elektronischenGesundheitskarte nicht geben.Wichtig ist aber, dass durch unseren Einwand auchbei Zulässigkeit der Eintragung auf der elektronischenGesundheitskarte dauerhaft die Alternative erhaltenbleibt, den eigenen Organspendeausweis in Gestalt einerPappkarte statt der elektronischen Gesundheitskarte zunutzen; das ist uns besonders wichtig.
Ich fasse zusammen:Erstens. Der Gesetzentwurf sichert, dass jede bzw. je-der selbstbestimmt entscheidet, ob sie bzw. er entschei-den will oder nicht.Zweitens. Der Gesetzentwurf sichert, dass die- bzw.derjenige, die bzw. der eine Entscheidung treffen will,sich für oder gegen eine Organspende entscheiden kann.Drittens. Der Gesetzentwurf sichert, dass auch nachdem Zeitpunkt der Einführung der von uns kritisiertenelektronischen Gesundheitskarte zunächst geprüft wer-den muss, ob ein Eintrag der vorhandenen oder fehlen-den Bereitschaft zur Organspende vollständig daten-rechtlich geschützt werden kann; wenn nicht, wird derEintrag unzulässig.Viertens. Im Falle der Zulässigkeit entscheidet weiter-hin jede oder jeder, ob sie bzw. er sich entscheiden will,und im Falle einer Entscheidung, ob sie oder er die Ent-scheidung auf einer elektronischen oder auf der Papp-karte dokumentiert.Diesem Entwurf kann ich deshalb zustimmen, weilich nicht berechtigt bin, jemandem gegebenenfalls seineEntscheidung für einen Eintrag auf der elektronischenGesundheitskarte zu verbieten bzw. sie zu unterbinden.Auch wenn ich es für falsch halte, muss ich doch auchdieses Selbstbestimmungsrecht der oder des anderenrespektieren.Nur durch die auf unser Drängen hin eingeführte Al-ternative wird doch das Selbstbestimmungsrecht derBürgerinnen und Bürger gestärkt und die Bedeutung derelektronischen Gesundheitskarte reduziert, indem mansich ausdrücklich gegen die elektronische Gesundheits-karte und für die Pappkarte entscheiden kann.Aus verschiedenen Gründen werden wir die Novellezum Transplantationsgesetz in der jetzigen Fassungablehnen. Beispielsweise müssen bei der Hirntoddia-
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Dr. Gregor Gysi
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gnostik die Anwendungen modernster Verfahren vorge-schrieben werden. Warum gibt es beispielsweise dieverpflichtende apparative Diagnostik durch EEG oderSPECT anders als in anderen Ländern in Deutschlandnicht? Nur dadurch wäre man sich sicher. Das ist nur einBeispiel. Es gibt noch andere Kritikpunkte.Wir werden über beide Gesetzentwürfe noch diskutie-ren. Es wird noch die eine oder andere Änderung geben.Aber ich bitte Sie alle im Saal letztlich um die Zustim-mung zum Gruppenantrag, erstens, um zu erreichen,dass Tausende Menschen, die auf ein lebensrettendesOrgan warten, berechtigt darauf hoffen können, dass siedie Transplantation erhalten werden, und, zweitens, umjeden Handel mit Organen auszuschließen. Wir müssenverhindern, dass Reiche, egal wo, Organe von Menschenaus armen Ländern kaufen, die zur Spende zumindestunzulässig unter Druck gesetzt wurden.
Wenn wir das verhindern wollen, dann müssen wir es inunserer Gesellschaft so organisieren, dass jede und jederunabhängig von ihrer oder seiner sozialen Lage die glei-che Chance hat, zügig eine lebensrettende Transplanta-tion zu erhalten.Wir wenden uns an die Bürgerinnen und Bürger mitder Bitte, sich bewusst zu entscheiden. Wie sie sich ent-scheiden, ist ihre Sache. Aber eine Entscheidung solltensie treffen.Danke schön.
Der Kollege Jürgen Trittin ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus-gangspunkt ist ein Konsens zwischen allen Mitgliederndieses Hauses. Wir haben uns auf eine freiwillige Ent-scheidungslösung verständigt. Meine Vorredner habendie Zahlen bereits genannt. Es gibt in Deutschland12 000 Menschen, die im Schnitt fünf Jahre darauf war-ten, dass ihnen ein lebensnotwendiges Organ transplan-tiert wird. Für viele ist das zu lang; sie sterben vorher.Sie sterben, auch weil es eine Kluft zwischen der verba-len Bereitschaft, zu spenden, und der dokumentiertenBereitschaft, zu spenden, gibt. Wir wissen aus vielenUmfragen, dass die Bereitschaft höher ist als die tatsäch-liche Anzahl der Spenderinnen und Spender. Ich glaube,das hat viel mit mangelnder Aufklärung zu tun. Demwollen wir mit diesem Gesetz entgegenwirken. Wir wol-len die Diskussion um die Organspende nicht nur in dieÖffentlichkeit, sondern auch in die Familien tragen,wenn sie eine neue Gesundheitskarte bekommen, wennsie einen neuen Ausweis oder Pass beantragen.Wir wollen niemanden mit dieser schwierigen Ent-scheidung allein lassen. Jeder soll die Möglichkeit zu ei-ner ergebnisoffenen und unabhängigen Beratung haben.Ich glaube, nur so, wenn wir uns allen Fragen stellenkönnen, wird es mehr Akzeptanz und mehr Transparenzgeben. Nur so kann die Zahl der Organspender erhöhtwerden. Wir werden die angesprochene Lücke nichtvollständig schließen können; darüber sollte man sichkeine Illusionen machen. Wir wollen aber die Lückezwischen Bedarf und Spendenbereitschaft verringern.Das ist der Grund, warum wir heute sehr geschlossen ei-nen solchen Gesetzentwurf vorgelegt haben.Wichtig ist die Freiwilligkeit. Die Entscheidung zurOrganspende ist keine leichte Sache. Wenn man einenOrganspendeausweis ausfüllt, dann muss man zwangs-läufig an die Situation denken, in der er nötig sein wird,wenn man also dem Tod näher als dem Leben ist, wennnur noch Apparate dafür sorgen, dass der Körper nichtendgültig versagt. Diese Beschäftigung mit dem eigenenEnde ist herausfordernd; sie verstört. Man hält sich dochselbst für „unkaputtbar“. Welch ein Irrtum! Wir sindsterblich, alle.Übrigens fällt die Beschäftigung damit in dieser Ge-sellschaft sehr unterschiedlich aus. Wenn man sich an-schaut, wer seine Bereitschaft zur Organspende erklärt,dann stellt man fest, dass es sich zu 80 Prozent umFrauen handelt. Schauen Sie sich im Gegenzug einmaldie Empfänger an. Bei denen handelt es sich zu 80 Pro-zent um Männer. Wir haben also gemeinsam die Auf-gabe, den geschlechtsspezifischen Unterschied in derSpendenbereitschaft zu verändern und auch Männerdazu zu bringen, sich mit dieser Frage auseinanderzuset-zen. Insofern ist die vorgeschlagene Regelung eine Zu-mutung. Ja, es ist eine Zumutung, sich mit dem eigenenEnde zu beschäftigen. Wir haben gemeinsam beschlos-sen, dass diese Zumutung für die Menschen gerechtfer-tigt ist. Ihr Zweck liegt darin, anderen das Leben zu ret-ten.Diese Zumutung, in einem Satz gesagt, lautet: Jedeund jeder muss sich fragen lassen – mehrfach in seinemLeben –; aber niemand muss antworten. Es ist legitim,wenn Menschen sagen: Ich will mich zu dieser Fragenicht äußern. Es ist eine freiheitliche Regelung, die wirvorschlagen. Es war uns wichtig, dass es eine solchefreiheitliche Regelung ist.Wir müssen in diesem Zusammenhang auch Missver-ständnisse ausräumen. Ja, es geht nicht nur um diejeni-gen, die auf Organe angewiesen sind, oder diejenigen,die für sich selbst etwas erklären. Es geht auch und ge-rade um die Angehörigen potenzieller Spender. Diejeni-gen, die sich zu dieser Frage äußern, ersparen auch ihrenAngehörigen, ihren engsten Mitmenschen eine vielfachschwer erträgliche Situation.
Ich habe es vor einigen Jahren erlebt, dass meine ehe-malige Lebensgefährtin bei einem Fahrradunfall umsLeben kam. Ich musste ihrer Tochter, ihren Eltern undihren besten Freundinnen diese Nachricht überbringen.Wenn ich mir vorstelle, dass ich in dieser Situation auchnoch ihren Willen hätte interpretieren müssen, dann
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19868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Jürgen Trittin
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wäre ich froh darüber gewesen, eine klare und unmiss-verständliche Botschaft zu haben. Für diese Botschaftwerben wir, auch im Namen der Angehörigen.
Den klassischen Organspendeausweis muss und solles weiter geben. Die Spendenbereitschaft kann künftigallerdings auch auf der Gesundheitskarte vermerkt wer-den. Wir können das selber eintragen. Wir können esauch nach strengen Regeln durch Ärzte eintragen lassen.Ich will ausdrücklich betonen: Dieser Eintrag kann vor-genommen werden; er muss es aber nicht. Er kann jeder-zeit geändert werden, und er kann jederzeit widerrufenwerden.Wir sollen und wollen ein Verfahren prüfen, das klar-stellt, ob ein solcher Eintrag auch durch eine Rückmel-dung an die Krankenkasse möglich ist. Wir Grünen ha-ben, glaube ich, mit dazu beigetragen, dass sichergestelltist, dass es kein eigenständiges Schreibrecht der Kran-kenkassen bezüglich der E-Card gibt. Der nun gefun-dene Kompromiss lässt die Krankenkassen nur im direk-ten Auftrag der Patientinnen und Patienten tätig werden.Er sichert, dass jede Bürgerin und jeder Bürger selbstüber ihre oder seine Daten entscheidet. Noch einmal:Die wichtigste Entscheidung ist, dass niemand gezwun-gen ist, seine Entscheidung auf der E-Card zu dokumen-tieren. Alle, die das wollen, können ihre Spendenbereit-schaft auch weiterhin im Ausweis dokumentieren.Wir sollten in den Ausschussberatungen noch einmalschauen, ob die vorgetragenen Vorbehalte das ProjektE-Card gefährden können. Wir haben im Zusammen-hang mit ELENA hier an dieser Stelle unsere Erfahrun-gen gemacht. Wir sollten vermeiden, dass mit denRegelungen zur Organspende die Akzeptanz der elektro-nischen Krankenversicherungskarte selbst gefährdetwird.Meine Damen und Herren, jede und jeder entscheidetselbst. Alle werden informiert. Alle werden sich fragenlassen müssen; aber niemand muss antworten. Das istdie Entscheidungslösung. Von den 12 000 Menschen,die auf ein Spenderorgan warten, sterben jeden Tag 3.Wenn es uns gelingt, mit diesem Gesetzentwurf dieseZahl zu mindern, dann haben wir, glaube ich, gemein-sam viel gewonnen. Ich glaube, dass es auch mit Blickauf die Menschen in diesem Lande wichtig ist, dass es indieser Frage einen über alle Fraktionen hinweggehendenKonsens im Deutschen Bundestag gibt.Vielen Dank.
Der Bundesminister Daniel Bahr erhält nun das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! In meiner Heimatstadt Münster gibtes den Verein „Herzenswünsche“, der schwerkrankenKindern einen Wunsch erfüllt. Er gibt ihnen damit häu-fig in schwieriger Lage neue Hoffnung und neue Kraft.Eines dieser Kinder ist Fatmanur. Das Mädchen ist achtJahre alt und braucht dringend eine neue Niere. Jedenzweiten Tag muss sie für fünf Stunden zur Dialyse.Draußen spielen, eine normale Kindheit, das erlebt siederzeit nicht, weil sie auf ein neues Organ warten muss.Viel zu viele Menschen warten viel zu lange auf einOrgan. Viel zu viele Menschen in Deutschland wartenvergeblich auf ein Organ. Deswegen ist die große Einig-keit heute hier im Deutschen Bundestag kein Zeichenvon Langeweile, sondern ein ganz starkes Signal an dieBürgerinnen und Bürger in Deutschland, dass das ThemaOrganspende ein so wichtiges Thema ist, dass wir alsGesetzgeber auch erwarten können, dass sich die Men-schen in Deutschland mindestens einmal im Leben mitdem Thema Organspende auseinandersetzen und wir siedazu auffordern können, sich bei diesem Thema einmalim Leben zu entscheiden.
Ja, wir wissen, dass viele Menschen Ängste und Sor-gen beim Thema Organspende haben und manche Men-schen viele offene Fragen haben. Deswegen ist es wich-tig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf dazu beitragen,dass erstmals alle Deutschen über 16 Jahre von ihrerKrankenversicherung angeschrieben werden und ihnenein Organspendeausweis zugeschickt wird, damit siediesen Organspendeausweis einmal in der Hand haben,damit der Organspendeausweis Thema im Familien- undFreundeskreis wird und damit man sich am Frühstücks-tisch einmal darüber unterhält, wie man sich selbst beimThema Organspende entscheiden möchte. Es ist ein kla-res und starkes Signal, das der Bundestag hier sendet, in-dem er gemeinsam einen solchen Gesetzentwurf vorge-legt hat. Ich danke all denjenigen, die sich dazu bereiterklärt haben, Brücken zu bauen und gemeinsam diesenKompromiss zu finden. Das war nicht immer leicht.Wir wissen: Jeder Organspender ist ein Lebensretter.Jeder, der sich für die Organspende oder gegen die Or-ganspende zu Lebzeiten entscheidet, lastet diese Ent-scheidung nicht seinen Angehörigen auf, die häufig ineiner ganz schwierigen Situation im Krankenhaus ge-fragt werden. Wer seinen Angehörigen diese Situationersparen möchte, der sollte sich zu Lebzeiten mit derFrage der Organspende selbst auseinandersetzen undeine Entscheidung treffen. Wenn mehr mitmachen, dannmüssen weniger warten. Das ist das Signal, das diesergemeinsame Gesetzentwurf heute sendet. Die Organ-spende ist ein Akt der Nächstenliebe, zu dem man sichaktiv entscheidet. Es gibt keinen gesellschaftlichen An-spruch auf eine Organspende; aber es gibt die gesell-schaftliche Erwartung, dass sich Menschen einmal imLeben mit dem Thema Organspende auseinandersetzen.
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Bundesminister Daniel Bahr
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Die Krankenkassen werden also die Versicherten auf-fordern, sie werden sie regelmäßig anschreiben und in-formieren, damit Ängste und Sorgen genommen werden,damit über das Thema Organspende aufgeklärt wird unddie Menschen Bescheid wissen, wie diese abläuft, wiesie entscheiden können und was sie tun können. Wir wis-sen, dass die Bereitschaft der Menschen in Deutschlandsehr hoch ist, ein Spenderorgan anzunehmen, wenn sieauf ein solches angewiesen sind. Aber die Bereitschaftder Menschen, sich deswegen für einen Organspende-ausweis zu entscheiden, ist in Deutschland noch viel zugering.Das zeigt: Es muss noch mehr für Aufklärung und In-formation getan werden. Das wird nicht nur durch dieKrankenversicherungen geschehen, weil sie dazu ver-pflichtet werden, sondern auch durch uns, weil wir dafürsorgen, dass die Behörden in Deutschland zukünftig In-formationsmaterial und Organspendeausweise in geeig-neter Form auslegen. Die Bundeszentrale für gesund-heitliche Aufklärung wird begleitend eine breiteÖffentlichkeitskampagne durchführen, um die Men-schen über das Thema Organspende aufzuklären.Die Bereitschaft der Menschen, ein Organ entgegen-zunehmen, wenn sie es brauchen, zeigt, dass wir uns auf-einander verlassen wollen. Diese Solidarität ist aberkeine Einbahnstraße, sondern diese Solidarität muss ge-lebt werden, am besten dadurch, dass man sich für eineOrganspende entscheidet.Deshalb ist es richtig, dass wir auch die Möglichkeitgeben, den Organspendeausweis auf der elektronischenGesundheitskarte zu speichern. Damit erhalten dieKrankenkassen jedoch nicht etwa ein Zugangs- oderSchreibrecht für hochsensible Gesundheitsdaten, wie esdiskutiert und kritisiert wurde, sondern wir sorgen dafür,dass die hohen Datenschutzstandards bei den hochsen-siblen Gesundheitsdaten weiter gewahrt bleiben. DieKrankenkassen haben auch künftig keine Möglichkeit,auf die Gesundheitsdaten der Versicherten bzw. Patien-ten zuzugreifen. Es bleibt das Grundprinzip erhalten:Herr der Gesundheitsdaten bleibt der Versicherte selbst.Er entscheidet, wer Zugriff auf die Daten hat. Die Kran-kenkassen alleine haben diese Möglichkeit nicht.
Wir sorgen durch bessere Information und ständigeKonfrontation dafür, dass Menschen sich mit demThema Organspende auseinandersetzen. Wir fordern sieauf, sich zu entscheiden, aber wir üben keinen Zwangaus. Wir müssen akzeptieren, dass es Menschen gibt, diesich vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt nochnicht entscheiden können. Deswegen ist es richtig, dasswir die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig auf diesesThema ansprechen und sie dazu anschreiben. Ich bin seitvielen Jahren in der Initiative „No Panic for Organic“aktiv. In dieser Initiative haben wir die Erfahrunggesammelt, dass man diese Panik, diese Sorge, die dereine oder andere vor der Organspende hat, dem Men-schen dadurch nehmen kann, dass man ihn ganz konkretanspricht, ihm einen Organspendeausweis in die Handgibt, ihn ganz konkret informiert. Genau so wollen wirdas jetzt auch mit diesem Gesetzentwurf machen.Aber der Gesetzentwurf alleine reicht noch nicht. DerGesetzentwurf kann die Organspendebereitschaft erhö-hen. Damit hätten wir schon sehr viel erreicht. Nochwichtiger ist es, dass wir mit dem Gesetzentwurf derBundesregierung und der Unterstützung durch die Frak-tionen – ich bin auf die Beratungen sehr gespannt undwill auch sehr offen mit Ihnen in die Beratungen gehen,damit wir hier große Einigkeit erreichen – dafür sorgen,dass auch die Abläufe in den Krankenhäusern verbessertwerden.
Wir stellen fest, dass es in Deutschland in ein und der-selben Stadt Krankenhäuser gibt, die viele potenzielleOrganspender melden, und Krankenhäuser gibt, diekaum oder keine Organspender melden. Die Abläufeund die Organisation in den Krankenhäusern müssenunbedingt besser werden, damit wir ganz konkret einehöhere Zahl an Organspenden erreichen.
Wir sehen im Gesetzentwurf deshalb vor, dass injedem Krankenhaus künftig ein Transplantationsbeauf-tragter zu bestellen ist, damit es in jedem Krankenhausjemanden gibt, der für die Abläufe zuständig ist unddabei für Anreize sorgt, dass im Krankenhause daraufgeachtet wird: Wer ist ein potenzieller Organspender?Wie können wir die Abläufe verbessern? Darüber hinauswird es in Fragen der Vergütung, der Organisation wei-tere Verbesserungen geben.In den vergangenen Legislaturperioden haben wirauch im Deutschen Bundestag, zum Beispiel in derEnquete-Kommission „Ethik und Recht der modernenMedizin“, über die Frage der Lebendspende diskutiert.Ich bin Ihnen, lieber Herr Steinmeier, sehr dankbar. Siehaben uns nämlich durch Ihre Reputation und IhreÖffentlichkeitsarbeit geholfen, das Thema Lebendspendein die öffentliche Diskussion zu bekommen.
Ein gemeinsames Ziel dieses Gesetzentwurfes zur Ände-rung des Transplantationsgesetzes ist es auch, dass wirendlich dazu beitragen, dass für denjenigen, der sich fürdie Lebendspende entscheidet, der dies aus altruistischenGründen tut, keine Nachteile in Versicherungsfragenoder in rechtlicher Hinsicht entstehen. Derjenige, dersich für die Lebendspende entscheidet, darf keine Nach-teile erleiden.
Deswegen sorgen wir dafür, dass grundsätzlich dieVersicherung des Empfängers zuständig ist, wenn es umKrankenbehandlung, Vor- und Nachbetreuung, Rehabili-tation oder Übernahme von Fahrtkosten geht. Wir sorgenerstmals dafür, dass die Gewährung von Lohnfortzah-
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Bundesminister Daniel Bahr
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lung und Krankengeld selbstverständlich wird. Wir sor-gen auch dafür, dass bei der gesetzlichen Unfallversiche-rung eine klare und unzweideutige Regelung für dieversicherungsrechtliche Absicherung erfolgt.Ich bin deshalb sehr froh und optimistisch, dass es unsmit beiden Gesetzentwürfen gelingen wird, sowohl dieOrganspendebereitschaft als auch die Anzahl der Organ-spenden zu erhöhen; denn jeder, der auf einer Wartelistein Deutschland steht und dringend auf ein Organ wartet,ist einer zu viel. Es ist ein starkes Signal, dass wir hiergemeinsam daran arbeiten, die Situation in Deutschlandzu verbessern. Das ist ein Hoffnungsschimmer für dievielen Menschen, die als Betroffene möglicherweise ge-rade an den Fernsehschirmen dieser Debatte zuschauen.Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.Vielen Dank für diese gemeinsame Einigkeit! Das tutden Menschen und insbesondere den Betroffenen ganzbesonders gut.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Carola Reimann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ThemaOrganspende und die Reform des Transplantationsgeset-zes beschäftigen uns hier im Hause in den verschiedenenGremien schon seit vielen Jahren. Für mich persönlichzählt die Organspende zu den Themen, die mich seitBeginn meiner Abgeordnetentätigkeit begleiten, sowohlals Mitglied des Gesundheitsausschusses als auch in derZeit der Enquete-Kommission „Ethik und Recht dermodernen Medizin“. Umso mehr freut es mich, dass esjetzt gelungen ist, einen Gesetzentwurf in erster Lesungzu beraten, der von einer breiten Mehrheit der Mitgliederaller Fraktionen getragen werden kann. Das, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ist ein starkes und positives Signalfür die Förderung der Organspende in Deutschland.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Vertreternaller Fraktionen bedanken, die bei den nicht immer ein-fachen Gesprächen dieses wichtige gemeinsame Zielnicht aus den Augen verloren haben. Ich bin davon über-zeugt, dass diese fraktionsübergreifende Einigung auchein gutes Zeichen für die Politik insgesamt hier imHause ist.
Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen:Etwa 12 000 Menschen in Deutschland müssen auf einpassendes Organ warten. Viel zu viele sterben, weilihnen kein Spenderorgan übertragen werden kann.In den letzten Wochen und Monaten habe ich vieleZuschriften von Betroffenen erhalten und hatte auch dieGelegenheit, einige von ihnen persönlich zu sprechen.Da geht es nicht allein um Fakten und Zahlen, sondernum bewegende persönliche Schicksale, um Menschen,die schon seit vielen Jahren auf ein Organ warten, darun-ter auch Kinder. Für Betroffene wie Angehörige ist daseine extreme Belastung, die den Alltag und das Fami-lienleben bestimmt. Sie alle verfolgen die gegenwärtigeDebatte sicher sehr aufmerksam, und natürlich erwartensie von uns, dass wir handeln und unseren Beitrag zurFörderung der Organspende leisten.Uns erreichen aber auch andere Zuschriften. Esschreiben uns Menschen, die die Sorgen und die Not derBetroffenen verstehen, aber fürchten, dass ihre freie Ent-scheidung bei einer so sensiblen Frage in Gefahr ist.Dies sind Menschen, für die die Frage, ob sie Organespenden, den intimsten Bereich ihrer menschlichenSelbstbestimmung berührt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, breite gesellschaft-liche Akzeptanz für eine Neuregelung erreichen wir nur,wenn wir beides berücksichtigen: das Ziel der Förderungder Organspende und das Recht auf freie Entscheidungund Selbstbestimmung. Ich bin überzeugt, dass der hiervorliegende Gruppenantrag zur Entscheidungslösungbeiden Anforderungen gerecht wird. Ich freue mich, dassso viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,unseren Vorschlag unterstützen.Wir wissen, dass die große Mehrheit der Bürgerinnenund Bürger in unserem Land der Organspende positivgegenübersteht. Allerdings klafft – auch das ist heuteschon gesagt worden – zwischen der in Umfragen ermit-telten Spendenbereitschaft der Bevölkerung und der tat-sächlichen Dokumentation dieses Willens, beispiels-weise auf einem Organspendeausweis, eine großeLücke. Mit der Entscheidungslösung wollen wir dieseLücke schließen oder zumindest verkleinern.Ich weiß, dass diese Entscheidung für viele nicht ein-fach ist; denn sie setzt voraus, dass sich jeder mit seinemeigenen Lebensende, mit seinem eigenen Tod befasst.Gerade weil das für viele Menschen eine große Hürdeist, wollen wir es ihnen ein bisschen leichter machen,indem wir mit dem Thema stärker und systematischerauf die Menschen zugehen. Jeder wird angeschrieben,jeder wird informiert, und jeder wird aufgefordert, eineEntscheidung, seine Entscheidung, zu treffen. Diese Ent-scheidung soll dokumentiert werden: zunächst auf demklassischen Organspendeausweis und später, wenn dietechnischen und datenschutzrechtlichen Voraussetzun-gen geschaffen sind, auch auf der elektronischenGesundheitskarte. Ziel ist es, sowohl die Entscheidungs-findung als auch die Dokumentation zu erleichtern undzu unterstützen.Natürlich wünsche ich mir, dass sich die positiveGrundhaltung zur Organspende dann auch in einer höhe-ren dokumentierten Organspendebereitschaft ausdrückt.Am Ende bleibt dies aber die ganz persönliche Entschei-
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Dr. Carola Reimann
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dung jedes Einzelnen. Die Botschaft ist klar: Jede doku-mentierte Entscheidung hilft; denn sie befreit die Ange-hörigen von der Last einer Entscheidung im Moment derTrauer und stellt sicher, dass allein die bewusst getrof-fene, selbstbestimmte Entscheidung Anwendung findet.Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt,dass wir mit dem Gruppenantrag zur Entscheidungs-lösung eine gute und tragfähige Lösung gefunden haben.So werden wir unser Ziel, die Entscheidung zur Organ-spende zu erleichtern, erreichen.Zusammen mit dem Gesetzentwurf zu den technisch-organisatorischen Fragen der Organspende bringen wirein gutes Paket auf den Weg, das wichtige und richtigeImpulse zur Förderung der Organspende enthält. Ichhoffe, dass diese erste Lesung nicht nur der Startpunkteiner parlamentarischen Beratung in diesem Hause ist,sondern dass mit Ihrer Hilfe die Debatte vor Ort, in denWahlkreisen geführt wird und dieses Thema damit wei-terhin die benötigte Aufmerksamkeit erhält; denn das,glaube ich, ist das zentrale Anliegen.Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Jens Spahn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gibt es ein Recht des Staates, sich in die sehr indivi-duelle Entscheidung zur Organspende einzumischen undeine Entscheidung abzufragen? Ich denke: Ja, diesesRecht gibt es, und zwar aus drei Gründen:Zum einen haben die, die auf eine Organspende war-ten – weil etwa die Niere nicht mehr funktioniert und siealle zwei Tage zur Dialyse müssen –, die hoffen undnatürlich auch deren Angehörige, die mit leiden, mit hof-fen und mit warten, einen Anspruch darauf, dass wir unsmit diesem Thema beschäftigen. Es ist schon gesagtworden: Allein in Deutschland warten 12 000 Menschenauf eine Organspende; jeden Tag sterben drei von ihnen.Wir machen das auch aus Solidarität zu anderen europäi-schen Ländern, weil wir mit diesen einen Verbundhaben. Insofern werden deutlich mehr Menschen von derRegelung, die wir treffen wollen, profitieren. Es gibteinen Anspruch dieser Menschen, dass sich jeder Ein-zelne von uns, aber auch die Gesellschaft insgesamt mitdiesem Thema beschäftigt, nicht weil es ein Anrecht aufOrganspende gibt, nicht weil jemand einen Anspruchhat, ein Organ zu bekommen, sondern weil es eineVerpflichtung der anderen gibt, sich aus Nächstenliebe– wenn man dieses schöne Wort benutzen will – mit die-sem Thema auseinanderzusetzen. Deswegen ist heutemit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf ein guter Tagfür diejenigen Menschen in Deutschland, die auf eineOrganspende warten.
Zum Zweiten gibt es für uns im Deutschen Bundestageinen Grund, sich damit zu beschäftigen, weil es – dasist schon gesagt worden – eine offensichtliche Lückegibt zwischen der in Umfragen dokumentierten Bereit-schaft zur Organspende, bei denen drei Viertel derBevölkerung sagen, sie könnten sich vorstellen, Organ-spender zu sein, und der tatsächlich erklärten und doku-mentierten Bereitschaft, Organspender zu sein. Wir wol-len und müssen Zeitpunkte und Orte schaffen, um überdie Entscheidung zur Organspende zu diskutieren. Daswollen wir vor allem tun, indem wir diese Debatte in dieFamilien, in die Freundeskreise bringen; denn mit demVersenden einer Karte ist gleichzeitig die Aufforderungverbunden, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, undwerden Informationen gegeben. Es ist ganz wichtig: Wirwollen nicht überreden, wir wollen überzeugen, Organ-spender zu werden, vielleicht aber etwas penetranter, alswir es bisher getan haben. Wir müssen gerade in den Fa-milien und Freundeskreisen Zeitpunkte und Orte für Ent-scheidungen schaffen.Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich in meinemFreundeskreis zwei Stunden intensiv über das ThemaOrganspende diskutiert habe. Man kann in solchen Dis-kussionen nicht immer alles rational erklären. Ich selberhabe einen Organspendeausweis. Für mich habe ich dieSpende des Herzens ausgeschlossen. Ich kann Ihnennicht erklären, warum. Manchmal ist dies eine sehr emo-tionale und individuelle Entscheidung. Wichtig ist aber,diese Debatte zu führen und eine Entscheidung zu tref-fen.Denjenigen, die sagen, dass es eigentlich zu wenigsei, die Leute anzuschreiben und abzufragen, sage ich,dass sie das nicht unterschätzen sollen. Für viele ist esschon eine Zumutung, regelmäßig angeschrieben undgefragt zu werden. Es gibt nicht besonders viele The-men, bei denen wir als Staat, als Gesellschaft sagen: Wirschreiben dich regelmäßig an. Wir fordern dich regel-mäßig auf. Jedes Mal, wenn du einen Personalausweisoder einen Führerschein beantragst, wirst du in Zukunftauch Informationen – hier: zur Organspende – bekom-men. – Das machen wir – weiß Gott! – nicht bei jedemThema, sondern nur ganz speziell bei diesem. Das istschon eine deutliche Qualitätsveränderung im Vergleichzu dem, was wir heute haben. Wie gesagt: Einige erlebenschon das als Zumutung.Deswegen glaube ich, dass insgesamt ein guter Kom-promiss entstanden ist: mehr zu informieren, mehr auf-zuklären, manchmal vielleicht sogar ein wenig zu ner-ven, aber immer in der Absicht, zu überzeugen und nichtzu überreden, am Ende nicht mit Zwang zu arbeiten,sondern mit der Verpflichtung, sich mit dem Thema zubeschäftigen. Wir jedenfalls halten das für einen gutenKompromiss.
Es gibt einen dritten wichtigen Aspekt, warum es gutist, dass wir uns heute mit diesem Thema beschäftigen.
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Jens Spahn
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In diesem Zusammenhang bin ich auch vielen Kollegin-nen und Kollegen sehr dankbar, die gesagt haben, siewürden gerne über die Widerspruchslösung diskutieren,wie sie in Spanien praktiziert wird. Aber alle Beteiligtenhaben gesagt: Wir sind bereit, gemeinsam zunächst die-sen ersten Schritt mit der Entscheidungslösung zu gehen:mehr zu informieren, aufzuklären und abzufragen.Gleichzeitig geht es darum – das ist sehr wichtig; eswurde bereits gesagt –, die Abläufe in den Kliniken zuverbessern und dort Transplantationsbeauftragte zu be-stellen. Insgesamt soll in den Krankenhäusern besser alsbisher darauf geschaut werden: Wo ist tatsächlich dieMöglichkeit zur Organspende vorhanden?Es geht also darum, gemeinsam zu schauen, ob diesebeiden Maßnahmen – Information der Bürgerinnen undBürger und bessere Abläufe in den Kliniken – nicht tat-sächlich zu einer höheren Zahl von Organspendern inDeutschland führen. Dadurch würden sich vielleichtviele andere Debatten erübrigen, die am Ende deutlichschwieriger wären, auch in der Abwägung, und dieethisch grundsätzlich noch weiter eingreifen würden. Ichbin angesichts der Erfahrungen, die andere Länder ge-macht haben, was diese beiden Maßnahmen angeht, op-timistisch, dass es gelingen kann, die Zahl der Organ-spender in Deutschland Schritt für Schritt – das wirdnicht von heute auf morgen gehen – über die nächstenJahre zu erhöhen.Es ist ein schönes, ein deutliches Zeichen – da bin ichden Vorsitzenden aller Fraktionen und allen Kolleginnenund Kollegen, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbei-tet haben, sehr dankbar –, dass wir das Ganze hier imDeutschen Bundestag in großer Einigkeit auf den Wegbringen und dass wir gemeinsam sagen: Liebe Bürgerin-nen und Bürger, wir wollen, dass ihr euch mit demThema beschäftigt und damit auseinandersetzt, dass ihrin der Familie und mit Freunden die Debatte darüberführt. Denn – auch das ist schon gesagt worden – wennman sich nicht selbst entscheidet, muss die Familie,müssen die Angehörigen die Entscheidung treffen. Dasist wahrlich keine einfache Situation, wenn es denn dannzum Fall der Fälle kommt.Deswegen noch einmal einen herzlichen Dank an alle,die mitgeholfen haben, dass dieses gemeinsame Werkgelungen ist!
Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute reden wir über den Gesetzentwurf zur Einführungder Entscheidungslösung bei der Organspende. Ichmöchte erklären, warum ich – wie viele Mitglieder mei-ner Fraktion – diesem so nicht zustimmen kann, undmöchte für Veränderungen werben.Wenn wir über Organspende reden, dann müssen wirauch über Ethik reden. Wir dürfen uns als gewählte Ab-geordnete bei Fragen von Leben und Tod nicht darumherumdrücken, dass uns das Grundgesetz in Art. 1 einenbesonderen Auftrag gegeben hat. Da heißt es: „DieWürde des Menschen ist unantastbar.“Den Anspruch auf Würde kann ein Mensch nicht ver-lieren. Sie steht ihm jederzeit und uneingeschränkt zu,und es ist unser Auftrag, sie zu schützen. Weil der Pro-zess des Sterbens ein Teil des Lebens ist, gilt das Gebotdes Würdeschutzes gerade auch für Sterbende. Im Um-gang mit Sterben und Tod offenbart sich unser Verständ-nis von Menschlichkeit. Menschen dürfen nicht zum Ob-jekt fremder Interessen gemacht werden, weil das ihreWürde verletzt.
Deswegen müssen wir beim Thema Organspende ganzbesonders sensibel mit diesem Spannungsfeld umgehen.Auf der einen Seite gibt es die 12 000 schwerkrankenMenschen, die sich von einer Organtransplantation dieChance auf wenigstens noch ein paar Lebensjahre, aufmehr Lebensqualität erhoffen. Die bloße Zahl gibt unsaber keine gute Vorstellung davon, was die Hoffnung aufein Spenderorgan für diese Menschen und ihre Angehö-rigen bedeutet. Sie wissen: Damit ich leben kann, mussjemand anderes sterben – jemand, der ein gesundesHerz, eine gesunde Niere oder eine gesunde Leber hat,die dann in meinem Körper weiterarbeitet und mich ret-tet. – Ich habe in meinem Bekanntenkreis, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, mehrere Betroffene, die diese Si-tuation erleben oder erlebt haben. Ich wünsche jedemEinzelnen wirklich von Herzen das große Glück, durchein passendes Organ gerettet zu werden.Auf der anderen Seite stehen diejenigen, denen dieseOrgane entnommen werden sollen. Sie sind mit dersel-ben Würde und denselben Rechten wie diejenigen aus-gestattet, die die Organe empfangen sollen.Das Kriterium des Hirntods – der Hirntod ist nachdem Transplantationsgesetz eine Voraussetzung für dieOrganentnahme – belässt uns einen Rest an Unsicher-heit, ob ein Mensch noch lebend oder schon tot ist. Wirdürfen diesen Menschen also nicht zum Objekt machen,sondern müssen ihn so behandeln, wie er es vermutlichselbst entscheiden würde. Deswegen ist es ethisch abso-lut geboten, die Entscheidung, ob ich Organspender oderOrganspenderin sein will, freiwillig, selbstbestimmt undgut informiert zu treffen, und zwar dann, wenn ich esnoch selbst kann. Das haben schon mehrere Kolleginnenund Kollegen gesagt: Es entlastet die Angehörigen; esschafft Rechtssicherheit für das Krankenhauspersonal.Vor allem ist es für diejenigen, die die Organe bekom-men sollen, wichtig, zu wissen, dass diese ihnen aus rei-ner Mitmenschlichkeit gegeben werden.In einem Gesundheitswesen, das zunehmend nachrein wirtschaftlichen Erwägungen geführt wird, verlie-ren leider viele Menschen das Vertrauen, dass sie vomersten bis zum letzten Moment ihres Lebens mit vollerAchtsamkeit umsorgt und auch im Sterben als Menschbehandelt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19873
Kathrin Vogler
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Ich bin überzeugt, dass das allerbeste Mittel zur Förde-rung der Organspendebereitschaft ein solidarisches Ge-sundheitssystem ist,
eines, in dem der Mensch immer, unter allen Umständenund zu jedem Zeitpunkt, im Mittelpunkt steht. Denn werdie Gewissheit hat, dass alles Notwendige getan wird,um ihn am Leben zu erhalten, um seine Würde zu wah-ren und ihn auch dann zu versorgen, wenn sich das ein-mal nicht mehr rechnet, der kann sich leichter mit demGedanken anfreunden, die eigenen Organe am Ende desLebens jemand anderem zu überlassen und diesem damitweitere Lebenszeit zu schenken.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll jetzt diebisherige Zustimmungslösung durch eine Entschei-dungslösung ersetzt werden. Das heißt, dass die Kran-kenversicherungen ihre Versicherten regelmäßig überOrganspende informieren und zu einer Entscheidungauffordern sollen. So weit kann ich und kann auch diegroße Mehrheit meiner Fraktion absolut mitgehen.
Schließlich ist Aufklärung die Voraussetzung für eineselbstbestimmte Entscheidung.Aber es gibt bei uns auch erhebliche Kritik an diesemGesetzentwurf. Selbstverständlich kann solch ein Ge-setz, das von allen Fraktionsvorsitzenden gemeinsameingebracht wird, immer nur ein Kompromiss zwischenunterschiedlichen Auffassungen sein. Aber ich habe denEindruck: Hier wurde so lange nach dem kleinsten ge-meinsamen Nenner gesucht, dass das Ergebnis nichtmehr den hohen Erwartungen entspricht.So gibt es doch einen gewissen Widerspruch zwi-schen der ausgewiesenen Zielsetzung, die Zahl der Or-ganspender zu erhöhen, und der Maßgabe, die Beratungergebnisoffen zu führen. Auch können wir uns eine qua-lifizierte Beratung eigentlich nicht vorstellen, ohne dasses dafür Mittel gibt. Aber das ist gerade nicht vorgese-hen. Wir brauchen doch ein Netz von Beratungsstellen,bei denen sich Menschen von Angesicht zu Angesichtberaten lassen können, ob sie eine solche Entscheidungtreffen wollen.Mittel in unbestimmter Höhe stellen Sie aber für denweiteren Ausbau der Telematikinfrastruktur für die elek-tronische Gesundheitskarte zur Verfügung. Zudem sollenkünftig auch Krankenkassenmitarbeiter ein Schreibrechtbekommen.
– Auch wenn das zunächst geprüft werden soll: Wir ha-ben Erfahrungen gemacht, wie in diesem Projekt mitPrüfungen umgegangen wird. – Ich meine, die Schaf-fung einer zentralistischen Telematikinfrastruktur für dasGesundheitswesen ist und bleibt ein Irrweg; das wirdauch nicht besser, wenn man die Karte mit weiterenFunktionen ausstattet.
Im Übrigen gibt es keinen sachlichen Grund, warumeine Organspendeerklärung in einer verschlüsselten Da-tei auf einem Chip oder Server zweckmäßiger sein sollteals der gute, alte Organspendeausweis, den uns HerrBrüderle vorhin gezeigt hat. Denn im Gegenteil: Dieelektronisch gespeicherte Erklärung bedeutet wenigerSelbstbestimmung, weniger Auseinandersetzung undweniger Sicherheit.Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn in Zukunftein Azubi seine erste eigene Krankenversicherung ab-schließt, soll er erklären, ob er Organspender ist odernicht. Weil er sich damit bisher noch nicht so richtig be-schäftigt hat, trifft er vielleicht aus dem Bauch herausdie eine oder andere Entscheidung. Das wird auf derKarte eingetragen und ist damit für ihn erst einmal erle-digt; aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn er dann mit30 erstmals anfängt, sich mit der eigenen Sterblichkeitzu beschäftigen, hat er vielleicht schon vergessen, dasser sich schon einmal entschieden hat. Wenn er mit 40 beider Arbeit auf einer niederländischen Baustelle einentödlichen Unfall erleidet, dann kann dort niemand fest-stellen, wie seine Entscheidung aussah; denn die deut-sche E-Card funktioniert nur zusammen mit einem deut-schen Heilberufsausweis. Außerdem schaffen Sie durcheine solche Regelung unterschiedliche Dokumentations-standards nicht nur in Europa, sondern auch für gesetz-lich und privat Versicherte; denn die privaten Versiche-rungsunternehmen machen bei der E-Card gar nicht mit.Für mich ergibt dies alles nur einen Sinn, wenn mandie Speicherung der Erklärung doch irgendwann nutzenwill, um die Menschen zu kontrollieren und gegebenen-falls Druck auf sie auszuüben.
Herr Steinmeier hat darauf hingewiesen, dass es durch-aus Debatten in diese Richtung gibt, zum Beispiel überfinanzielle Anreize und Ähnliches. Er hat vollkommenrecht, wenn er sagt, dass eine solche Entwicklung unbe-dingt abzulehnen ist.
Es wäre auch absolut nicht geeignet, das Vertrauen inunser Gesundheitssystem zu verbessern und die Men-schen davon zu überzeugen, dass eine Entscheidung zurOrganspende für sie der richtige Weg und menschlichist.Es heißt, kein Gesetzentwurf verlasse dieses Haus so,wie er hineingekommen ist. Deswegen werde ich michmit anderen Kolleginnen und Kollegen im weiteren Ver-fahren für die Streichung des Art. 2 des gemeinsamenGesetzentwurfs einsetzen. Ich bitte dafür um Ihre Unter-stützung.Ich danke Ihnen.
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19874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Und nun hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg dasWort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Mit dem vorliegenden Gruppenantrag zur Entschei-dungslösung haben wir einen Kompromiss gefunden,der die Freiheit der persönlichen Entscheidung über eineOrganspende bewahrt. Das, liebe Kolleginnen und Kol-legen, war nicht selbstverständlich; denn die öffentlicheund auch die interne Diskussion der letzten Monate warsehr komplex. Es wurde eine verpflichtende Erklärunggefordert, es wurde von Aufklärung und Erklärung beider Ausgabe des Führerscheins gesprochen, und nichtzuletzt wurde auch die Widerspruchslösung thematisiert.Es ist ein Erfolg, dass es zu alledem nicht gekommen ist.Es war uns Grünen ein wichtiges Anliegen, dass die Or-ganspendeerklärung auch weiterhin strikt freiwilligbleibt. Dazu gehört auch das Recht, sich nicht zu ent-scheiden. Der Gesetzgeber darf niemanden verpflichten,sich in dieser höchst persönlichen Frage zu äußern.
Für uns ist noch ein weiterer Punkt zentral. Es darfkeinerlei moralischer Druck auf die Bürgerinnen undBürger ausgeübt werden. Es darf niemand gedrängt wer-den, der Organspende zuzustimmen, weil eigentlich nurein Ja die richtige Entscheidung ist. Ich persönlich binOrganspenderin. Andere Menschen aber lehnen die Or-ganspende ab oder wollen nur bestimmte Organe spen-den. Die Gründe dafür sind immer sehr persönlich, undfür mich ist jede persönliche Entscheidung vorbehaltloszu akzeptieren.
Niemand sollte sich zu einer Bewertung dieser persönli-chen Entscheidung eines anderen Menschen aufschwin-gen. Darum muss die Aufklärung über die Organspende,die wir in diesem Gesetzentwurf stärken, ergebnisoffenund wertfrei sein. Ich bin sehr froh, dass wir uns amEnde darauf einigen konnten, die Aspekte „Freiwillig-keit der Entscheidung“ und „ergebnisoffene Aufklä-rung“ in den Gesetzentwurf aufzunehmen.Allerdings haben einige von uns Grünen – so auchHarald Terpe und ich – noch erhebliche Bedenken zu ei-nem Teil der geplanten Regelungen. Ab 2016 soll es einVerfahren geben, das es den Krankenkassen ermöglicht,die Organspendeerklärung eines Versicherten auf derelektronischen Gesundheitskarte zu speichern und zu lö-schen. Es soll zwar nur mit der ausdrücklichen Zustim-mung der Versicherten möglich sein, aber es ist auchjetzt schon so geplant, dass die Zustimmung der Versi-cherten immer notwendig ist. Das ist kein Ausnahmezu-stand.
Dennoch: Diese Zugriffsberechtigung stellt einen Bruchmit den strengen Datenschutzregeln dar, die bisher ausguten Gründen für die Gesundheitskarte gelten. Einedieser Regeln besagt, dass die Krankenkassen keinerleiZugriff auf sensible Versichertendaten erhalten.
Dies wird unserer Meinung nach mit dieser Regelungverletzt.
Wir befürchten, dass damit nicht nur das sehr fragileVertrauen der Bevölkerung in die Gesundheitskarte, son-dern gleichzeitig auch das Vertrauen in die OrganspendeSchaden nehmen könnte. Außerdem halte ich persönlichden Nutzen dieser Maßnahme im Zusammenhang mitder Organspende für sehr überschaubar. Ich denke, dasswir darauf durchaus verzichten können.Wir werden einen Änderungsantrag einbringen, derdie Streichung der vorgesehenen Schreibrechtregelungvorschlägt. Dieser Antrag ist genau wie der Gesetzent-wurf ein Gruppenantrag. Deshalb werden wir diesenÄnderungsantrag allen Mitgliedern dieses Hauses zurVerfügung stellen. Wir freuen uns sehr über Ihre Unter-stützung.Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Mit demÄnderungsantrag stelle ich persönlich den vorliegendenGesetzentwurf nicht infrage. Ich stehe zu dem Konsens,ich habe ihn mit verhandelt, ich werde ihn unterzeich-nen, und ich werde ihm auch meine Stimme geben. DasZiel unseres Änderungsantrages ist es, den Gesetzent-wurf an sich zu verbessern.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, mit dem vorliegenden Kompromiss wird diewichtige Debatte zur Organspende tiefer in die Gesell-schaft und in die Familien getragen. Ich bin der Auffas-sung: Die Familien sind der richtige Ort; dort gehörtdiese Debatte hin. Es ist wichtig, über die Entscheidungfür oder gegen eine Organspende mit den nächsten An-gehörigen zu sprechen; denn das schafft Klarheit, unddas nimmt auch den Druck, für jemanden entscheiden zumüssen.Ob es durch den vorliegenden Gesetzentwurf zu mehrOrganspenden kommen wird, werden wir sehen. Uns al-len muss aber auch klar sein, dass uns die Anzahl von3 000 bis 5 000 hirntoten Menschen pro Jahr auch dieGrenzen der Organspende aufzeigt. Das müssen wirauch akzeptieren.Insgesamt denke ich, dass die organisatorische Ver-besserung in den Kliniken eine wesentlich größere Be-deutung haben wird. Dazu werden wir mit dem Gesetz-entwurf der Bundesregierung die richtigen Schrittegehen. Entscheidend ist, dass wir jede und jeden dazuanregen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen – ohneZwang und ohne jemanden zu einer bestimmten Ent-scheidung zu drängen. Diese Debatte heute kann nichtalle Fragen und auch Probleme der Organspende lösenbzw. klären. Wir werden weiter darüber diskutieren; aberheute ist ein erster wichtiger Schritt getan.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19875
Elisabeth Scharfenberg
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Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Unser erfreulicherweise gemeinsames Ziel ist
es, möglichst vielen der etwa 12 000 Menschen, die auf
der Warteliste stehen, durch eine Organtransplantation
eine Chance zum Überleben zu geben. Dieses Ziel ist
nur durch eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu
erreichen. Ich hoffe daher, dass die große, fraktionsüber-
greifende Mehrheit im Deutschen Bundestag eine Si-
gnalwirkung nach außen entfacht.
Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir Antworten
auf Fragen besorgter Bürger: Wieso sind laut Umfragen
74 Prozent der Bevölkerung bereit, nach ihrem Tod Or-
gane zu spenden, aber warum handeln nur 25 Prozent
danach? Warum sterben 21 Menschen pro Woche unter
uns, die vergeblich auf Organe warten? Was machen an-
dere Länder besser, die mehr Spender haben als wir? Wir
haben nur rund 15 Spender auf 1 Million Einwohner und
befinden uns damit international im unteren Drittel. Die
Antworten sind sicher vielfältig. Aus Bequemlichkeit?
Aus Unwissenheit? Aus Verunsicherung durch offene
Fragen: Wann bin ich tot? Lassen mich die Ärzte wo-
möglich zu früh sterben, wenn ich einen Organspender-
ausweis habe? Es geht aber auch um die Frage: Wer
zahlt meinen Lohnausfall, wenn ich wegen einer Le-
bendspende Einkommensausfälle habe? Ärzte machen
sich Gedanken: Soll ich die Eltern eines sterbenden Kin-
des wirklich mit einer solchen Frage belasten und sie an-
sprechen?
Es sind sehr persönliche Fragen, deren Nichtbeant-
wortung aber viele abhält. Dabei geht es zum Beispiel
um die Frage: Wird mein Körper durch eine Organ- oder
Gewebeentnahme entstellt? Nicht alle wissen, dass die
Entnahme in einem normalen Operationssaal stattfindet
und dass das Transplantationsteam respektvoll mit dem
Körper der Toten umgeht.
Um die Beantwortung der von mir genannten Fragen
geht es auch heute. Mit dem Transplantationsgesetz wol-
len wir gemeinsam die Strukturen in den Krankenhäu-
sern verbessern, und mit der Entscheidungslösung wol-
len wir möglichst viele potenzielle Spender gewinnen.
Zur Erhöhung der Akzeptanz halte ich es für sehr
wichtig, dass die Einwilligung freiwillig bleibt. Ja oder
Nein zu sagen, sich später oder gar nicht zu erklären, das
bleibt jedem überlassen; denn es handelt sich weiterhin
um eine freiwillige Spende aus Solidarität und Nächsten-
liebe. Niemand wird verpflichtet. Ich halte nichts von
Zwang. Damit entkräftet man Vorbehalte nicht, sondern
baut emotionale Hürden auf. Freiwilligkeit setzt eine
transparente Information voraus, damit eine individuelle
und qualifizierte Entscheidung möglich ist.
Viele gehen dem Thema aus dem Weg, verkennen
aber, dass im Todesfall die nächsten Angehörigen die
Entscheidung treffen müssen.
Eine besonders wirksame Verbesserung sehe ich in
der Bestellung von Transplantationsbeauftragten in Ent-
nahmekrankenhäusern, die den gesamten Ablauf profes-
sionell und – das ist noch viel wichtiger – menschlich
begleiten.
Dadurch wird das gesamte Personal besser vorbereitet,
und die Angehörigen werden so angemessen begleitet.
Dies ist im Übrigen einer der Hauptgründe, warum in
Spanien mehr als doppelt so viele Spenderorgane zur
Verfügung stehen als in Deutschland. Dort werden die
Transplantationsbeauftragten geschult. Sie lernen zum
Beispiel, wie man Angehörige rechtzeitig in die Ent-
scheidung einbindet.
Auch die Absicherung von Lebendspendern wird
deutlich verbessert. Einkommensausfälle werden durch
die Einbeziehung der Spender in das Entgeltfortzah-
lungsgesetz kompensiert, und Unklarheiten hinsichtlich
der Sozialversicherung werden beseitigt.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dies ein guter
Tag für alle ist; denn jeden kann es treffen. Jeder kann
von diesen Gesetzesänderungen profitieren, als Leben-
schenkender oder als -empfänger. Lassen Sie mich mit
einem Zitat von Franz Beckenbauer schließen.
– Sie werden sich jetzt vielleicht wundern. Ich könnte
natürlich sagen: Nach dem Fußballergebnis von gestern
Abend ist mir das eine besondere Freude. – Franz Be-
ckenbauer hat gesagt:
Als Organspender bin ich selbst am Ende meines
Lebens noch reich. Ich kann einem anderen das Le-
ben schenken.
Vielen Dank.
Marlies Volkmer ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Un-ser Ziel ist es, dass sich mehr Menschen in Deutschlandfür eine Organspende entscheiden und das auch doku-mentieren.
Wir wollen, dass nicht länger so viele Menschen mit ei-ner stark eingeschränkten Lebensqualität jahrelang hän-
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19876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Marlies Volkmer
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deringend auf ein Organ warten oder gar versterben,während sie auf der Warteliste stehen.In der Öffentlichkeit ist viel über die Entscheidungs-lösung gesprochen worden, auch heute hier. Das ist auchnicht verwunderlich; denn diese Entscheidungslösungbetrifft jeden von uns ganz unmittelbar, und sie ist in derÖffentlichkeit leicht darstellbar. Die Fraktionsvorsitzen-den haben sich dieses Themas persönlich angenommen.Es ist gut, dass wir eine fraktionsübergreifende Lösunggefunden haben.Um eine Entscheidung treffen zu können, benötigtman Informationen; denn sonst entscheidet man aus demBauch heraus. Deswegen ist eine bessere Aufklärung derBevölkerung über die Organspende Teil des Gesetzent-wurfs zur Regelung der Entscheidungslösung.Zum Thema Aufklärung möchte ich zwei Punkte be-sonders hervorheben.Erstens. Jedem Menschen muss bewusst sein: Wenner sich nicht selbst für oder gegen eine Organspende ent-scheidet, erlegt er diese Entscheidung seinen Angehöri-gen auf. Mit der eigenen Nichtentscheidung zwinge ichandere, diese Entscheidung für mich zu treffen.Zweitens. Wer eine Patientenverfügung verfasst, demmuss bewusst sein: Ein ausnahmsloser Verzicht auf le-bensverlängernde Maßnahmen schließt in der Regelauch Organspenden aus. Patientenverfügungen haben imletzten Jahr zu einer Abnahme der Zahl der Organspen-den beigetragen. Aber das muss nicht so sein. Durch ent-sprechende Formulierungen lässt sich das miteinandervereinbaren.Die vorgesehene Regelung zur Entscheidungslösungist allerdings nur ein – wenn auch ein ganz wichtiger –Baustein zur Förderung der Organspende. Wie wir anden unterschiedlichen Aufkommen an Spenderorganenin den Bundesländern sehen, spielt die Organisation derAbläufe um eine Organspende eine Rolle. So schwanktdie Zahl der Organspender je 1 Million Einwohner zumBeispiel zwischen 11 in Baden-Württemberg und 24 inThüringen. Daher befasst sich ein zweiter Gesetzentwurfmit der Novellierung des bestehenden Transplantations-gesetzes. Die vorliegende Novelle hat das Ziel, einheitli-che Standards im Transplantationsprozess sicherzustel-len und die Abläufe der Organspende zu verbessern.Die grundsätzliche Verpflichtung für alle Kranken-häuser mit Intensivstationen, mindestens einen Trans-plantationsbeauftragten zu bestellen, ist sicherlich eineder wichtigsten Regelungen des Gesetzentwurfs. Trans-plantationsbeauftragte stehen für eine Verbesserung derAbläufe. Sie sind die „Kümmerer“, die für alle Belangeder Organspende vor Ort, innerhalb des Krankenhauses,zuständig sind. Durch ihre Tätigkeit können sie ihre Kol-leginnen und Kollegen, von der Reinigungskraft bis zurChefärztin, für die Belange der Organspende sensibili-sieren. Zum Beispiel können sie verdeutlichen, dass einvöllig sinnloser Unfalltod nicht mehr ganz so sinnlos ist,wenn dadurch ein anderes Leben gerettet werden kann.Es ist auch wichtig, dass die Transplantationsbeauf-tragten zur frühzeitigen Erkennung potenzieller Spenderbeitragen. Wir haben in Deutschland 1 400 Krankenhäu-ser mit Intensivstationen, hatten aber im vorigen Jahr nur1 900 Meldungen in Bezug auf potenzielle Organspen-der. Nicht einmal die Hälfte aller Krankenhäuser mit In-tensivstationen beteiligt sich überhaupt daran, poten-zielle Organspender zu melden. Die Zahl derer, die alsSpender in Betracht kommen, liegt nach Schätzungenvon Experten doppelt so hoch, wie Meldungen erfolgen.Angesichts der 12 000 Menschen, die dringend auf einOrgan warten, ist das nicht hinnehmbar.Leider fehlen bisher in dem vorliegenden Gesetzent-wurf die von Minister Bahr angekündigten Verbesserun-gen für Lebendspender, also Menschen, die beispiels-weise einem ihrer Angehörigen eine Niere spenden.Diese Menschen handeln in einem hohen Maße selbst-los. Wir sind es ihnen schuldig, Unklarheiten und Unsi-cherheiten, die im Rahmen ihres Versicherungsschutzesbestehen, zu beseitigen.
Sobald der Empfänger Mitglied in der privaten Kranken-versicherung ist, die Unterbrechung der Arbeitstätigkeitdes Spenders mehr als einen Monat dauert oder es nachJahren Komplikationen gibt, kommt es zu Schwierigkei-ten. Diesen Zustand wollen wir ändern.
Unser Ziel ist es, dass die Spender materiell nichtschlechter gestellt werden, als wenn sie kein Organ ge-spendet hätten.Diese wichtigen Änderungen sollen im weiteren Ver-fahren eingebracht werden. Da die gemeinsamen Ge-spräche zwischen den Fraktionen bisher sehr konstruktivverlaufen sind, gehe ich davon aus, dass wir uns bei die-sen noch offenen Punkten einigen können. Am Endekommt es nicht darauf an, wer seine Position am meistendurchgesetzt hat, sondern darauf, wie vielen Menschenwir besser helfen können.
Die Kollegin Gabriele Molitor ist die nächste Redne-
rin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es gibt Ereignisse, die sich im Gedächtniseinbrennen, zum Beispiel die Landung des ersten Men-schen auf dem Mond oder die erste Herztransplantation.
– Genau. – Der südafrikanische Chirurg ChristiaanBarnard nahm sie 1967 vor. Diese medizinische Sensa-tion löste damals eine heftige Diskussion aus. Seither istdie medizinische Forschung enorm vorangekommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19877
Gabriele Molitor
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Die Debatte in unserer Gesellschaft ist ebenfalls vo-rangeschritten. Mittlerweile können viele schwerkrankeMenschen durch eine Organspende gerettet werden.Aber – die Umfrage ist hier schon mehrfach genanntworden –: 74 Prozent der Bevölkerung würden einer Or-ganspende zustimmen, aber nur 25 Prozent haben tat-sächlich einen Organspendeausweis bei sich. Diese Lü-cke möchten wir verkleinern. Deswegen legen wir denEntwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entschei-dungslösung im Transplantationsgesetz vor. Wir wollen,dass sich die Menschen mit dem Thema auseinanderset-zen. Wir wollen sie dafür gewinnen, sich für die post-mortale Organspende zu entscheiden.Die Krankenkassen sollen die Menschen zukünftigregelmäßig anschreiben, ihnen Ausweisvordrucke mit-schicken, und sie auffordern, sich mit dem Thema zu be-schäftigen. Diese flächendeckende Befragung ist ein No-vum. Ich glaube, dass wir auf diesem Weg letztlich mehrMenschen dafür gewinnen können, einen Organspende-ausweis zu unterschreiben.Manchen geht dieser Gesetzentwurf nicht weit genug.Ich kann sehr gut verstehen, dass schwerkranke Men-schen mehr Druck erwarten. Doch die Ängste und Hoff-nungen derer, die auf ein rettendes Organ warten, sinddas eine. Das andere sind die Sorgen und Vorbehaltepotenzieller Spender. Schließlich geht es um den eigenenKörper. Und: Wir verlangen von den Menschen, dass siesich mit ihrem eigenen Tod befassen. Deswegen war dieWiderspruchslösung für die FDP keine Alternative. Fürmich und meine Fraktion war klar: Die Entscheidung füreinen Organspendeausweis muss freiwillig bleiben.
Einem unbekannten Menschen seine Organe zu hin-terlassen, ist ein Akt der Nächstenliebe. Der Charaktereiner Spende muss erhalten bleiben. Und: Der Staat kannund darf Nächstenliebe nicht gesetzlich verordnen. Wäh-rend Befürworter der Widerspruchslösung auch einStück weit auf die Trägheit der Bürger setzen, setzen wirmit der Entscheidungslösung darauf, dass die Bürgereine bewusste Entscheidung treffen, eine bewusste Ent-scheidung für die Organspende.
In einem Klima der freien Entscheidung – davon bin ichzutiefst überzeugt – werden sich mehr Menschen dazubereit erklären. Das wird mehr Erfolg haben als Zwang.Allen Versuchen, Druck auszuüben, sind wir entge-gengetreten. Es gibt aber auch eine Verantwortung ge-genüber den Angehörigen. Denn schon jetzt ist es mög-lich, dass Angehörige eines gehirntoten Menschen einerOrganspende zustimmen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchteSie darum bitten, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.Wenn das Parlament mit großer Geschlossenheit hinterdieser Idee steht, werden sich auch die Bürgerinnen undBürger dafür entscheiden. Das wird die Chancen auf einlebensrettendes Organ für viele Menschen erhöhen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Birgitt Bender.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gutund wichtig, dass wir mit einer breit getragenen Rege-lung dafür sorgen wollen, dass die Debatte um die Or-ganspende an die Tische der Familien kommt. Hütensollten wir uns aber vor Erfolgsmeldungen nach demMotto: Jetzt wird alles besser. Ich glaube, wir braucheneine offene und ehrliche Debatte, und zwar sowohl überdie Bedeutung, die neue Regelungen für schwerkrankeMenschen haben können, denen durch ein SpenderorganLebenszeit geschenkt werden kann, als auch über dieBedeutung der Regelungen für Menschen, die sich mög-licherweise zum Spenden von Organen und Gewebenentscheiden.Es war schon die Rede von den 12 000 Menschen, dieauf ein Spenderorgan warten, und auch davon, dass jähr-lich 3 000 bis 5 000 Menschen über den Weg eines Hirn-tods sterben. Dass das nicht mehr sind, ist für sich ge-nommen eine gute Nachricht, weil das bedeutet, dassbestimmte Maßnahmen wie zum Beispiel der Einbauvon Airbags Menschen das Überleben ermöglichen.Im Jahre 2010 waren es 600 dieser Hirntoten, die kei-nen Organspendeausweis hatten und bei denen sich auchdie Angehörigen außerstande sahen, als Ausdruck desmutmaßlichen Willens der Betroffenen die Zustimmungzu erteilen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass sichmöglicherweise mehr Menschen für eine Organspendebereit erklären, und wir wissen, dass jeder Mensch bis zusechs Menschen mit seinen Organen helfen kann, sowissen wir doch, dass die Zahl derer, deren Aussicht aufein Spenderorgan steigt, im Verhältnis zu den12 000 Menschen, die darauf warten, relativ gering ist.Das dürfen wir nicht verschweigen.
Es wird auch weiterhin so sein, dass Menschen währendder Wartezeit auf ein Spenderorgan versterben; denn einlebendiges Organ ist eben kein Medizinprodukt, das be-liebig reproduzierbar ist, weil es einfach hergestellt wird.Meine Damen und Herren, ich finde, es ist auch wich-tig, den Menschen zu erklären, was diese sogenanntepostmortale Organspende bedeutet. Sie setzt den soge-nannten Hirntod voraus. Das ist immer ein abschiedslo-ser Tod durch Unfall, durch Suizid oder beispielsweisedurch einen besonders schweren Schlaganfall. Wer hirn-tot ist, ist nicht tot, sondern steht am Beginn eines Ster-
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19878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Birgitt Bender
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beprozesses. Dieser Sterbeprozess sieht anders aus, jenachdem, ob jemand Organspender ist oder eben nicht.Man muss den Menschen sagen, dass es nicht mit einerOrganspende vereinbar ist, wenn sie beispielsweise einePatientenverfügung haben, die ausschließt, am Lebens-ende intensivmedizinisch behandelt zu werden; denneine Organspende erfordert genau diese intensivmedizi-nische Behandlung. Es ist wichtig, dass die Menschendas wissen.
Durch die Organspende verändert sich natürlich derSterbeprozess. Dies ist ein Eingriff in den Sterbeprozess.Wir wissen nicht genau, ob dies für die Betroffenen nocheine Bedeutung hat. Weil wir das aber nicht so genauwissen, ist es besonders wichtig – ich sage das an dieAdresse von Herrn Gysi –, dass nicht der Staat darüberentscheidet, ob jemand zum Organspender wird, sondernausschließlich der Mensch selber oder notfalls die Ange-hörigen in Ermittlung seines Willens.
Auch dann, wenn ein Organspendeausweis vorliegtund die Angehörigen damit der Verantwortung enthobensind, diese Entscheidung zu treffen, sind sie doch in ei-ner sie schwer belastenden Situation, weil sie diesen ab-schiedslosen, plötzlichen Tod erleben und sich voneinem Körper verabschieden sollen, der warm ist, durch-blutet ist und vielleicht schwitzt. Das ist etwas anderesals der Abschied von einem erkaltenden Leichnam. Des-wegen wird es auch bei Vorliegen eines Organspende-ausweises immer Gespräche mit den Angehörigen gebenmüssen, die all das zu verkraften haben. Das sei an dieAdresse derjenigen gerichtet, die glauben, man könnesich diese als belastend empfundene Kommunikationvom Halse schaffen. Das darf man nicht, meine Damenund Herren. Die Angehörigen haben auch Rechte.
Deswegen sage ich: Nur wenn wir diese angesproche-nen Bereiche nicht tabuisieren, sondern offen und ehr-lich darüber reden, wird es uns gelingen, diese Debattetatsächlich an die Familientische zu tragen, und dannwerden Menschen ihre Entscheidung treffen. Wir dürfenallerdings nicht vergessen, dass die Organisation und dieAbläufe in den Kliniken in Bezug auf eine Organspendemindestens genauso wichtig sind wie der Punkt, obMenschen nach ihrer Bereitschaft, Organe zu spenden,gefragt werden. Insofern ist auch das ein wichtiger As-pekt, den wir hier beraten werden.Danke schön.
Die Kollegin Stefanie Vogelsang ist die nächste Red-
nerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kolle-gin Molitor hat es vorhin angesprochen: 1967 erfolgte inSüdafrika die erste Herztransplantation; leider ist der Pa-tient relativ schnell verstorben. Damals war ich geradeein Jahr alt.Der medizinische Fortschritt und die medizinischeForschung der letzten 45 Jahre lassen ihresgleichen su-chen, und wir alle können stolz auf den Erfindergeistvon klugen Köpfen sein, die im Interesse der Lebensqua-lität der Menschen diesen Fortschritt errungen haben.
Ich weiß noch ganz genau, dass ich als junges Mäd-chen eine bestimmte Biografie mindestens zehnmal,glaube ich, gelesen habe. Das war die Biografie – HerrBrüderle guckt mich so wissend an –
Mein Weg als Arzt und Mensch von Christiaan Barnard.Mit dieser Biografie von Christiaan Barnard ist bei mirdie Begeisterung für Erfindergeist, für medizinischenFortschritt, für die Dinge, die wir machen können, ge-weckt worden. Von Anfang an, seit 1967, spielt dasThema der Ethik eine ganz erhebliche Rolle in der Dis-kussion über Transplantation und die Möglichkeiten derMenschen, sich für oder gegen eine Organspende bzw.Gewebespende zu entscheiden.Ich bin sehr stolz darauf, was unsere Fraktionsvorsit-zenden zustande gebracht haben, weil es meiner Ansichtnach die Kultur in der Bundesrepublik richtig widerspie-gelt. Wir sind ein freiheitlicher Staat. Da schreibtniemand irgendwem etwas vor. Jeder Bürger muss dieFreiheit haben, selber zu entscheiden. Wir haben in denletzten Tagen allerdings oft gehört: Aus Freiheit er-wächst auch Verantwortung.
Jeder Einzelne hat die freie Möglichkeit, sich zu ent-scheiden, und ihm obliegt die Verantwortung, diese Ent-scheidung auch vor sich und seinem Nächsten zu tragen.Freiheit und Verantwortung folgt aber ein dritter Be-griff, und das ist Vertrauen. Jeder hat auch das Recht,seinen Angehörigen zu vertrauen, dass sie im Fall derFälle für ihn die richtige Entscheidung treffen. DieserDreiklang aus Freiheit, Verantwortung und Vertrauen istfür mich etwas sehr Wichtiges.
Ich glaube, Frau Bender, dass nicht so sehr die Organ-spendeausweise das entscheidende Kriterium zur Erhö-hung der Spendenbereitschaft sind. Auf meinem Organ-spendeausweis steht übrigens: Ich bin zwar bereit, mein
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19879
Stefanie Vogelsang
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Herz zu spenden. Die Hornhaut meiner Augen möchteich allerdings nicht spenden. Ich habe mich lange damitbeschäftigt und für mich entschieden, dass ich bereit bin,meine Organe zu spenden. Meine Augen möchte ichaber nicht spenden. Es ist eine ganz legitime Entschei-dung, wenn man einzelne Organe ausschließt.Das Wichtigste ist, dass Menschen mit ihren Familienam Tisch sitzen und darüber ganz offen, ehrlich und breitdiskutieren, damit jeder der Freunde und Familienange-hörigen weiß, wie die betroffene Person dazu steht. Vondem Brief der Krankenkassen verspreche ich mir sehrviel mehr Gespräche zu Hause, am Küchentisch, als vonHinweisen auf großen Leinwänden, die früher an Hoch-häusern, zum Beispiel am Potsdamer Platz, installiertwurden. Es ist also ganz wichtig, die Diskussion in derFamilie zu führen, sich darüber auszutauschen, damit je-der darüber Bescheid weiß.Das Thema Transplantationsbeauftragter wird schonim Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplan-tationsgesetzes geregelt. In großen Kliniken mit großenIntensivstationen wird ein Transplantationsbeauftragtereingesetzt, der sich, hauptamtlich freigestellt, mit demThema Transplantationen beschäftigt, sich um Ange-hörige und um Betroffene kümmert und das Ganze orga-nisieren kann.Bei dem Thema Transplantationsbeauftragter geht esaber nicht nur um die Spende von Herz, Niere undLunge, sondern es geht auch um Gewebespenden. Ichglaube, dass wir uns in der Ausschussberatung noch ein-mal mit Verbindlichkeiten von Gewebespenden unddamit auseinandersetzen müssen, dass es in Kranken-häusern ein und dieselbe Ansprechperson bezogen aufdie Herzklappe, auf große Venen und auf die Hornhautgeben muss. Es kann nicht sein, dass es auch in Zukunftnoch für Angehörige oder betroffene Menschen zweiverschiedene Ansprechpartner für Organe oder Gewebegibt. Ich glaube, dass wir uns darüber noch einmal inten-siv unterhalten sollten.Im weiteren Verfahren – auch das werden wir in derAusschussberatung noch einmal erörtern – sollten wiruns mit dem Thema Qualitätsmanagement auseinander-setzen. Wir sollten uns noch einmal genau anschauen, obwir nicht Formulierungen für Richtlinien zur Nachsorge-betreuung von Transplantierten brauchen.
Ähnlich wie bei Krebspatienten brauchen wir auchhier eine Nachsorge, damit wir den Menschen, denen einOrgan transplantiert wurde, größtmöglichen medizini-schen Fortschritt und medizinische Fürsorge angedeihenlassen können, damit sie so lange, wie es eben möglichist, mit dem empfangenen Organ glücklich leben kön-nen. Ich denke, uns liegt ein sehr guter Entwurf zurÄnderung des Transplantationsgesetzes vor. Auch derGesetzentwurf zur Regelung der Entscheidungslösungist sehr gut. Aber alles kann man immer noch ein kleinesStückchen weit verbessern.Ich freue mich auf eine spannende Diskussion inunserem Ausschuss und danke für die Aufmerksamkeit.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild
Rawert, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auch ich hoffe, dasswir es schaffen, eine Reform des Transplantationsgeset-zes bis zur Sommerpause über die Bühne zu bringen. Bisdahin wünsche ich mir, dass jede und jeder schon jetzteinen Organspendeausweis ausfüllt und bei sich trägt.
Schon jetzt kann ich einen Organspendeausweis aus-füllen. Ich verlese einfach einmal das, was auf demOrganspendeausweis steht:Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spendevon Organen/Gewebe zur Transplantation in Fragekommt, erkläre ich:– erste Möglichkeit –JA, ich gestatte, dass nach der ärztlichen Feststel-lung meines Todes meinem Körper Organe undGewebe entnommen werden.Zweite Möglichkeit:JA, ich gestatte dies, jedoch nur für folgendeOrgane/Gewebe:Dritte Möglichkeit:NEIN, ich widerspreche einer Entnahme von Orga-nen und Geweben.Vierte Möglichkeit:Über JA oder NEIN soll dann folgende Person ent-scheiden:Ein solcher Ausweis kann schon heute ausgefüllt wer-den. Ich denke, das wäre zusätzlich zur heutigen Debatteschon mal ein erster Schritt, um den 12 000 Patientinnenund Patienten zu helfen, die auf ein Spenderorganwarten.Ich bin keine Medizinerin. Ich bin auch keine Juristin.Ich war aber als Angehörige einmal in einer Situation, inder eine Organspende vorgenommen wurde. Ziemlichgenau vor zwei Jahren ist mein Schwager plötzlich beieiner Tätigkeit, die er schon tausendmal durchgeführthatte, aus mehreren Metern Höhe gefallen und mit demKopf auf dem Asphalt aufgeschlagen. Trotz Hubschrau-ber, trotz sofortiger Operation war nichts mehr daran zuändern: Das Gehirn war „kaputt“. Da liegt also ein gro-ßer stämmiger Mann im Krankenhaus, und nichts ande-
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Mechthild Rawert
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res schien ihm passiert zu sein, keine sichtbaren Schram-men, keine Gipsverbände, nichts weiter.Die Situation war die: Meine Schwester und meinSchwager hatten eine Patientenverfügung und aucheinen Organspendeausweis. Es gab fünf Kinder imHaus: Vier waren bereits erwachsen, und eins war min-derjährig.Es war wie in zwei Filmen gleichzeitig: Einerseitsgab es im Krankenhaus das „Glück“ – das sagt meineSchwester heute noch –, auf medizinisches und pflege-risches Personal zu stoßen, das die Ruhe und Zeit hatte,sich dem Schmerz der Angehörigen zu widmen, aberauch klar und verständlich mitzuteilen, was ein Hirntodist, was vorher und nachher organisatiorisch passiert,damit die Organe entnommen werden können. Überwenige Tage wurden Untersuchungen gemacht, ob derKörper noch Reflexe zeigt oder nicht. Erst dann wurdeder Hirntod festgestellt. Andererseits fragten sich zuHause alle voller Trauer und im Schock: Wie kann soetwas sein?Meine Familie lebt heute ruhig mit der Entscheidungfür die Organspende. Für die minderjährige Tochter wares sogar ein großer Trost, dass der Vater, wenn dasSchicksal es denn so wollte, mit seinem Tod zumindestanderen helfen konnte.Ein zweites Beispiel aus meiner Familie verbinde ichmit der Bitte um eine entsprechende Diskussion. Wirfordern zu Recht eine Verbesserung der arbeitsrecht-lichen Regelungen für Lebendspender und -spende-rinnen.
Was ist aber mit denjenigen, die für Leukämie-Krankespenden? Sie fallen nicht unter dieses Gesetz. Aber auchdiese Spender und Spenderinnen sind häufig mehrereTage nicht erwerbsfähig. Ich finde, hier darf es keineHierarchisierung geben.
Das bitte ich in der Diskussion mitzuberücksichtigen.Über das kommende gesetzgeberische Prozedere istschon intensiv gesprochen worden. Ich denke, wir brau-chen insbesondere in den Krankenhäusern eine neueSterbekultur. Niemand darf Angst haben, dass die Hoch-leistungsmedizin auf Dauer gesehen immer wieder allesmacht, was machbar ist. Denn dann wird man noch zueinem Zeitpunkt am Leben erhalten, an dem es eigent-lich kein Leben mehr ist, weder für den Betreffendenoder die Betreffende noch für die Angehörigen. Auchdas Sterben braucht Zeit.Zeitgleich braucht mensch die Beruhigung, dass dereigene Körper nicht nur ein Ersatzteillager ist und Drit-ten dient. Das Sterben ins Leben zurückzuholen, dashaben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten einStück weit verloren. Ich plädiere für ganz neue Diskus-sionen über dieses Thema. Das wäre angesichts einerälter werdenden Gesellschaft eine große Unterstützungfür viele Familien und auch für uns selbst. Ich denke, dasist eine große Herausforderung, der wir uns alle zu stel-len haben.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, das weitüber die Politik hinausgeht und das viele Menschenberührt. Auch für viele von uns ist das Thema mit Trau-rigkeit über ein schreckliches Ereignis verbunden.Im Juni 2010 fuhr Ferdinand von Behr, der ältesteSohn einer eng befreundeten Familie mit einem Quadüber das Feld des Gutes Rixdorf, weil er dort die Erntebegleiten wollte. Trotz geringer Geschwindigkeit – dieWetterlage war schwierig – geriet er in eine unheimlicheStaubwolke, die von dem Mähdrescher ausgelöst wordenwar, und stieß mit einem Trecker zusammen. Er zog sichlebensgefährliche Verletzungen zu und starb wenigeStunden später im Krankenhaus. Für seine Familie undseine Freunde brach eine Welt zusammen.Die Familie fand Kontakt zum Verein für Transplan-tationsbetroffene Schleswig-Holstein und entschied sichfür eine Organspende. Das zeigt die Bedeutung der vie-len privaten Institutionen, die Hilfe und Aufklärungs-arbeit leisten.Aufklärung ist mir im Zusammenhang mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf besonders wichtig. Wir plädie-ren für eine Entscheidungslösung mit erweiterter Auf-klärung. Wir wollen, dass jeder Bürger und jedeBürgerin sich ernsthaft und möglichst früh mit diesemThema auseinandersetzt und für sich eine persönlicheEntscheidung fällt. Ich bin froh, dass wir mit der Ent-scheidungslösung eine Alternative zur Zustimmungs-lösung und Widerspruchslösung gefunden haben. WennSie sich die verschiedenen Länder anschauen, dann stel-len Sie fest, dass es sonst nur die beiden letztgenanntenLösungen gibt. Bei unserem Vorschlag handelt es sichum ein ganz neues Modell, bei dem die Argumente, diegegen eine Widerspruchslösung angeführt werden – derStaat greife hier sehr rigide in die Persönlichkeitsrechteein –, nicht zum Tragen kommen. Jeder kann für sichselber entscheiden.Wir brauchen mehr Organspender. Schleswig-Hol-stein gehört in dieser Hinsicht zu den Schlusslichtern.Hier kommen im Schnitt 12,7 Organspender auf 1 Mil-lion Einwohner. Das sind 0,00127 Prozent. Das ist natür-lich viel zu wenig. Aber auch bundesweit kommengerade einmal 15,9 Organspender auf 1 Million Einwoh-ner. Das ist nicht viel besser. In Spanien, wo es einWiderspruchsmodell gibt, kommt man immerhin auf34,4 Organspender, also auf mehr als das Doppelte. Esist wichtig, dass wir uns hier weiterentwickeln.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19881
Dr. Philipp Murmann
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Ich möchte die Zahl der 12 000 Menschen, die aufeine Organspende warten, etwas anschaulicher machen.Die Kreisstadt Plön hat etwa 12 800 Einwohner. Dasheißt, eine ganze Stadt wartet auf Organspenden. Abernur die Hälfte der Menschen kann ein Organ bekommen.Wir hoffen, dass wir mit unserem Modell hier voran-kommen. Kollege Gysi, mir ist wichtig, zu betonen, dassalle, ob Reiche, Arme, Frauen oder Männer, von diesemThema betroffen sind.Ich bin der Kollegin Molitor sehr dankbar, dass siedas Thema Forschung angesprochen hat. Als Mitglieddes Ausschusses für Bildung und Forschung möchte ichdarauf hinweisen, dass wir uns sehr stark mit demThema Transplantationsforschung, das in diesemZusammenhang sehr wichtig ist, auseinandersetzen. DasHelmholtz-Zentrum für Infektionsforschung zum Bei-spiel arbeitet an einer medizinischen Methode, die dazudient, die natürliche Abwehr von gespendeten Organendurch das Immunsystem zu verringern. Man darf nichtvergessen, dass viele Menschen, die eine Transplantationhinter sich haben, eine lebenslange Behandlung mitMedikamenten über sich ergehen lassen müssen. JederSchritt, der in diesem Bereich vorwärts gegangen wird,ist sehr wichtig und für die betroffenen Menschen vongroßer Bedeutung.
Ich möchte noch auf die Aufklärung zu sprechenkommen. Wir binden die gesetzlichen Krankenkassenund die privaten Versicherer in ihrer Rolle als Aufklärer– ich nenne als Stichworte nur das bereits erwähnteInformationsmaterial und den Organspendeausweis –sehr stark ein. Die Menschen per Gesetz zu einer Ent-scheidung zu leiten, ist das eine. Sie inhaltlich aufzuklä-ren, ist das andere. Mir ist es sehr wichtig, die vielen pri-vaten, kleinen Vereine und Organisationen in derBundesrepublik nicht aus dem politischen Blick zu ver-lieren; denn man kann nicht nur mit schriftlichen Unter-lagen aufklären. Es geht schließlich um die Reduzierungvon Ängsten, um Begleitung, Unterstützung, persönlicheBeratung und Einfühlungsvermögen in diesem Prozess.Bei allem Respekt, aber das kann ein Schreiben einerKrankenkasse nicht leisten. Insofern brauchen wir dievielen privaten Vereine. Diese sollten wir weiterhin imAuge behalten.
Es geht um sehr viel mehr als nur um Organe und einereine Organspende. Dessen müssen wir uns immerbewusst sein. Es geht auch um Leid und häufig um denTod eines Menschen. Es geht um das Leid der Angehöri-gen, Würde und tiefe Gefühle, aber auch um Leben,Freude und Glück. Wir alle, die wir das Glück einesgesunden Lebens haben, sollten uns verpflichtet fühlen,an diejenigen zu denken, die dieses Glück nicht haben.Ich freue mich, dass wir uns nun mit dem vorliegendenGesetzentwurf auf den Weg machen.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Michael Brand das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchtemeinen Beitrag in dieser guten Debatte mit einem Be-kenntnis, einer persönlichen Anerkennung beginnen.Auch mich hat, wie viele andere, sehr nachhaltig beein-druckt, dass unser Kollege Frank-Walter Steinmeier sichfür seine damals schwerkranke Frau als Organspenderzur Verfügung gestellt hat.
Nun zähle ich ja bekanntlich nicht zum Fanclub derpolitischen Abteilung, der Kollege Steinmeier an führen-der Stelle angehört.
Was uns als Menschen aber doch immer wieder berührt,ist eine Geste menschlicher Größe und – ich sage es be-wusst – Opferbereitschaft für den Nächsten, egal ob eroder sie einem fern- oder nahestehen mag. Aus diesemGrund hat das Verhalten von Frank-Walter Steinmeier sobeeindruckt.Und so ist die Bereitschaft vieler Tausender andererSpender beeindruckend, die sich zu Lebzeiten oder auchnach dem Tod für andere Menschen als Organspenderzur Verfügung stellen. Es ist immer und es wird immereine sehr persönliche Entscheidung für jeden Einzelnensein, ob ich mich als Organspender zur Verfügung stelleoder ob dies für mich eben unvorstellbar ist.Als Christ weiß ich um das Leben nach dem Tod, undich weiß auch um die Vergänglichkeit des menschlichenLebens. Persönlich komme ich zu dem Ergebnis, dassich mit einer freiwilligen Spende meiner Organe einemMenschen zum Überleben oder auch zur Beendigungschwerer Qualen helfen kann. Es ist also für mich vor-stellbar, nach meinem Tod einen Teil meiner sterblichenÜberreste, wie es so oft heißt, für das Leben anderer so-zusagen aus freier Entscheidung freizugeben.Wie wir aus vielen Umfragen und wie viele von unsaus ihrem persönlichen Umfeld wissen, gibt es einegroße Anzahl von Menschen in unserem Land, die sichzu einem solchen Schritt entscheiden könnten. Es sind soviele, dass wir die berechtigte Hoffnung haben: Wennwir ein kluges, ein faires und ein geschütztes Verfahreneinrichten, dann wird diese vieltausendfache, prinzi-pielle Bereitschaft auch in konkrete Schritte einmünden,um Menschen in schwerer Not zu helfen, die dringendauf diese Hilfe angewiesen sind, um mit dem Organ zuüberleben oder ihre schweren Qualen entweder lindernoder gar beenden zu können.
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19882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Michael Brand
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Für mich persönlich ist mein Organspendeausweis– viele haben ihren Organspendeausweis heute hochge-halten; ich glaube, dieses Bekenntnis ist wichtig – auchein Ausdruck christlicher Nächstenliebe, womit ich demNächsten die Hilfe zukommen lasse, die ich persönlichgeben kann.Allerdings würde ich aus derselben Überzeugung he-raus nie von anderen verlangen können und wollen, die-sem Vorbild zu folgen. Das ist jeweils eine sehr persönli-che Entscheidung. Unter Christen wie Nichtchristen,unter Gläubigen wie Atheisten gibt es durchaus unter-schiedliche Sichtweisen, ob und wann der Mensch demMenschen mit einer Organspende helfen kann, soll oderauch nicht sollte. Niemand hat das Recht, einem andereneine solche Entscheidung aufzuzwingen und auch nichtaufzudrängen.Allerdings – und das ist die frohe Botschaft an alleLeidenden –: Es gibt eine mehr als genügende Anzahl anMenschen, die, wie auch ich, die persönliche Bereit-schaft haben, sich als Spender zur Verfügung zu stellen.An diese Menschen richtet sich unser Gesetzesvor-schlag. Er ist eine Einladung, sich aus freiem Willeneiner ethisch sehr verantwortungsvollen Entscheidungzu stellen, sich für andere Menschen in Not zur Verfü-gung zu stellen.In unseren Antrag haben wir deshalb alle Regelungenaufgenommen, die sowohl die Freiwilligkeit stützen alsauch vor Missbrauch schützen. In diesem Sinne gehenwir bei unserem Gesetzentwurf vor: Freiwilligkeit undVerantwortung, kein Zwang und kein Automatismus.Natürlich darf es auch keine Kommerzialisierung desKörpers geben. Niemand wird belagert, und niemandkann gezwungen werden. Außerdem ist jede Entschei-dung rückholbar.Auf diese würdige Art und Weise – so sind wir über-zeugt – werden wir viele Menschen besser informieren,Ängste abbauen und hoffentlich viele Menschen über-zeugen können, den konkreten Schritt zur Organspendezu gehen und nach dem Tod anderen Mitmenschen inNot eine sehr große Geste der Mitmenschlichkeit undder Nächstenliebe zu erweisen.Die sogenannte Entscheidungslösung legt die Ent-scheidung in die Hände der möglichen Spender. Es isteine Entscheidung aus freiem Willen und aus persönli-cher Verantwortung. Wir sind überzeugt, dass das eineLösung ist, die allen hilft, Spendern wie Empfängern.Ich lade uns alle ein, diesen Ansatz mitzutragen. Esist verantwortlich, es ist durchdacht, und es hilft vor al-len Dingen vielen Menschen sehr konkret. Organspendekann Leben retten – im Übrigen auch das eigene!Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/9030 und 17/7376 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherpolitik neu ausrichten – Verbrau-
cherpolitische Strategie vorlegen
– Drucksache 17/8922 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Das war gerade eine sehr angemessene Debattezum Thema Organspende und ein Hinweis darauf, wieDebatten über Themen und Anliegen, die nicht in unmit-telbaren, direkten politischen Auseinandersetzungenstehen, hier im Deutschen Bundestag geführt werdensollten. Ich hoffe, dass wir auch die Debatte über dieGrundausrichtung der Politik für Verbraucherinnen undVerbraucher in einem solchen Stil führen können.
Machen wir uns nichts vor: Sowohl die europäischeals auch die deutsche Verbraucherpolitik sind nicht mehrauf der Höhe der Zeit.
Sowohl die europäische als auch die deutsche Verbrau-cherpolitik haben nicht mit der Europäisierung und Glo-balisierung der Wirtschaft, mit neuen Technologien unddaraus entstandenen Märkten, mit der Deregulierungund Privatisierung von Märkten Schritt gehalten, und siehaben auch nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
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Ulrich Kelber
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über die Bedürfnisse und das Verhalten von Verbrauche-rinnen und Verbrauchern Schritt gehalten.
Als Folge sind Verbraucherinnen und Verbrauchernicht mehr auf einer Augenhöhe mit Konzernen undDienstleistern. Die Gefahr ihrer Übervorteilung undauch die Gefahr nicht heilbarer Fehlentscheidungen,zum Beispiel in der Altersvorsorge, steigt. Die SPD istüberzeugt: Wir brauchen einen Realitätscheck der Ver-braucherpolitik in Deutschland und Europa, wir brau-chen eine neue Verbraucherpolitik auch in unseremLand.
Wir machen mit unseren Leitlinien, die wir als Bun-destagsfraktion weiterentwickelt haben, und mit demAntrag von heute ein Angebot für die Diskussion übereine solche Neuausrichtung. Wir haben diese Debattebereits mit der Wissenschaft und Verbraucherschutz-organisationen geführt, wir machen aber auch ein Ange-bot an die anderen Fraktionen, in den Ausschüssen undin Anhörungen über die Elemente einer solchen Neuaus-richtung zu sprechen.
Das Leitbild des mündigen Verbrauchers und dermündigen Verbraucherin, das die Politiker dieses Fach-bereichs immer wie eine Monstranz vor sich hergetragenhaben, reicht als Antwort auf die Herausforderungennicht aus. Nicht jeder kann Experte für alle Entscheidun-gen sein. Nicht alle Verbraucherinnen und Verbraucherhaben immer die Zeit und die notwendigen Informatio-nen parat. Nicht alle haben das nötige Kleingeld, umeine freie Auswahl zu haben.
Nicht alle können wegen jedes kleinen Betrags und we-gen jeder kleinen Betrügerei vor Gericht ziehen. Nichtimmer kann man die spätere Gegenleistung für sein ein-mal gegebenes Geld zu Beginn realistisch abschätzen.Das gilt insbesondere für den Finanz- und Dienstleis-tungsbereich.Wer das sieht, wer sieht, dass sich die Herausforde-rungen in den letzten 20, 30 Jahren verändert haben, derweiß: Wir brauchen für die Verbraucherpolitik neueLeitbilder, wir brauchen neue Leitlinien, wir müssen unskonkreten neuen Handlungsfeldern zuwenden. Ich willdas an sechs Punkten deutlich machen.Erstens. Die SPD will die Verbraucherinnen und Ver-braucher im Alltag, bei den Alltagsproblemen abholen.Für diese bieten wir ihnen ja heute oft keine Lösung an.Wir wollen dafür sorgen, dass jederzeit die volle Infor-mation, aber auch die volle Vergleichbarkeit von Ange-boten besteht. Wer sich zum Beispiel die Debatte überlangfristige Finanzprodukte und Versicherungsangeboteinsbesondere im Zuge der Krise von 2008/09 in Erinne-rung ruft, der weiß, dass diese Vergleichbarkeit nichtvorhanden war, weil zum Beispiel die Produktblätterkeineswegs unmittelbar miteinander vergleichbar waren.Auch hier ist Politik herausgefordert, dafür zu sorgen,dass diese Vergleichbarkeit, diese Transparenz vorhan-den ist.
Zweitens. Es ist die Aufgabe von Politik – ich haltedas für den Kern –, nicht nur Verbraucherrechte zuschaffen, sondern auch die Durchsetzbarkeit dieserRechte in der Praxis zu gewährleisten.
Das muss natürlich über stärkere staatliche Institutionenerfolgen; aber es wird nur funktionieren, wenn wir auchdie Zivilgesellschaft stärken und ihre Schlagkraft in derDurchsetzung der Rechte von Verbraucherinnen undVerbrauchern erhöhen. Nur dann gibt es die Chance,dass Verbraucherinnen und Verbraucher zu mündigenVerbraucherinnen und Verbrauchern werden und aufgleicher Augenhöhe agieren können. Hierzu drei Bei-spiele:Der Bundesgerichtshof hat wichtige Entscheidungenhinsichtlich Verbraucherrechten getroffen. Eine ist zumBeispiel, dass für eine geplatzte Einzugsermächtigungals Kosten nur die Bankgebühren in Rechnung gestelltwerden dürfen. Wer sich aber umschaut, stellt fest, dasssich in diesem Land große Telekommunikationskon-zerne, große Versicherungskonzerne und Banken nichtan diese Rechtsprechung halten und weitere Fantasiege-bühren in beliebiger Höhe bei den Verbraucherinnen undVerbrauchern einfordern. Wer legt hier Fesseln an?Welcher Verbraucher, der einen MP3-Player in einemdieser 1-Euro-Läden kauft und schon nach zwei Wochenfeststellt, dass der Akku nur noch wenige Minuten hält,hat die Chance, beim Händler – vielleicht gibt es denLaden gar nicht mehr oder der Stand wurde wieder ab-gebaut – oder beim Hersteller seine Garantierechte ein-zuklagen?
Wer, nachdem er im Internet etwas bestellt hat undnun seine Garantieleistungen abrufen will, von der Ge-genseite erfährt, man möge doch die Ware zum Aus-gangsort in einem anderen Teil Deutschlands oder sogarim benachbarten Ausland bringen, obwohl doch Gesetzeund Verordnungen klar sagen, dass der Händler in demFall, dass dieses unzumutbar ist, für die Kosten aufkom-men muss, der weiß, dass mit geschriebenem Rechtallein Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht ausrei-chend geholfen ist.Deswegen wollen wir stärkere staatliche Institutio-nen. Wir wollen, dass Verbraucherschutzorganisationenals beauftragte Marktwächter agieren können, schlechteAngebote offenlegen und mit neuen kollektiven Rechts-instrumenten, mit Muster- und Sammelklagen gegen dievorgehen, die Verbraucherinnen und Verbrauchern ihreRechte vorenthalten, und diese zwingen können, eineverbraucherfreundliche Haltung einzunehmen.
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Ulrich Kelber
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Drittens. Wir wollen einen Verbrauchercheck imGesetzgebungsverfahren und beim Erlass von Verord-nungen.
Schauen wir bewusst einmal nicht nur in die jetzige, son-dern auch in die letzte Wahlperiode: Hätten wir einensolchen Verbrauchercheck, würden Regelungen bei derFinanzmarktregulierung, im Verbraucherinformations-gesetz, zum Mahnwesen bzw. Abmahnunwesen – somüsste man es ja eigentlich nennen – anders aussehen,weil sie so ausgestaltet sein müssten, dass sie auch dienormalen, nicht juristisch vorgebildeten Verbraucherin-nen und Verbraucher in die Lage versetzen, ihre Rechtewahrzunehmen. Wir brauchen diesen Verbrauchercheckdringend im Gesetz.
Viertens. Die SPD betont die Unterschiedlichkeit derVerbraucherinnen und Verbraucher. Nicht jeder kann injeder Angelegenheit Experte sein. Wir brauchen auchHilfestellungen für überforderte oder nicht erfahreneVerbraucherinnen und Verbraucher. Vor allen Dingenmüssen die Hersteller verpflichtet werden, verbraucher-freundliche Voreinstellungen vorzunehmen. Denken wiran eines der Massenphänomene, die jeder sieht, der miteinem Smartphone durch die Straßen läuft: die Menge anWLAN-Stationen, die da sind. Natürlich müsste esPflicht sein für den Hersteller oder den Telekommunika-tionsbetreiber, WLAN-Stationen so auszuliefern, dasssie von Anfang an mit Verschlüsselung, unsichtbar undbeschränkt auf bestimmte physikalische Adressen funk-tionieren und nur ein Experte, der das wirklich will,diese Sicherheitseinstellungen lockern kann.Dass heute immer noch WLAN-Router auf den Marktgebracht werden, die sich nach dem Anschluss an dieSteckdose im ungesicherten Betrieb befinden, und dassman Fachwissen benötigt, um die entsprechenden Si-cherheitseinstellungen vorzunehmen, ist eine falscheGrundeinstellung in der Verbraucherpolitik.Das Gleiche gilt für die sozialen Netzwerke wie Face-book hinsichtlich des Datenschutzes und der Einstellun-gen, wie mit den privaten Daten umgegangen wird. Manmuss die Privatheit erst herstellen. Besser wäre es, wennman einstellen könnte, welche persönlichen Daten manpreisgeben möchte. Wir brauchen auch in diesem Be-reich dringend eine Neuorientierung.
Fünftens. Die SPD wird wissenschaftliche Erkennt-nisse stärker nutzen; das muss die Politik insgesamt tun.Die Wirtschaft nutzt solche Erkenntnisse beispielsweiseüber die Verhaltensökonomie schon längst. Wir brau-chen Forschungsförderung und einen Sachverständigen-rat für Verbraucherfragen, und wir brauchen ein Panel,also eine regelmäßige Umfrage, die aufzeigt, was Ver-braucherinnen und Verbrauchern Probleme in ihrem All-tag bereitet. Ich nenne folgende Beispiele: Gewinn-spiele, Rabattversprechen, Werbung, die auf Kinderabzielt, Begriffswahl in der Werbung und Portionsgrö-ßen, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher in dieIrre geführt werden. Die Politik muss eine Antwort ge-ben, die nah an den Ergebnissen der Verhaltensfor-schung liegt, so wie es bei den Marketingstrategien derKonzerne und Dienstleister schon der Fall ist.Sechstens. Die Verbraucherpolitik des 21. Jahrhun-derts ist nicht mit dem Kästchendenken des 19. Jahrhun-derts – Stichwort: Ressortaufteilung – zu machen. Wirmüssen uns über neue Formen der Zusammenarbeit,neue Zuschnitte und neue Teamstrukturen unterhalten.In der Energiepolitik führen wir die gleiche Debatte.Auch diese müssen wir schaffen.
Wir fordern Sie zu einer konstruktiven Debatte überdieses Thema auf. Ich bitte auch darum, das Leitbild„Mündiger Verbraucher“ nicht als Waffe in der politi-schen Auseinandersetzung zu missbrauchen. Alle habendas Ziel, dass am Ende möglichst viele Verbraucherin-nen und Verbraucher in möglichst vielen Themenfeldernunter voller Kenntnis der Informationen entscheidenkönnen. Alles andere wird den manchmal überfordertenVerbraucherinnen und Verbrauchern nichts nutzen undwäre auch unehrlich.Wir haben oft erlebt, dass Transparenz und Vergleich-barkeit durch Lobbyisten, aber auch durch die Politikverhindert werden. Auf die Forderung, den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern die vollständige Informationüber eine Dienstleistung oder ein Produkt und deren Ab-rufbarkeit zu ermöglichen, wird gesagt, dass dadurch derHersteller bzw. der Händler an den Pranger – dieser Be-griff wird oftmals verwendet – gestellt wird. Das müssenwir ändern.Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik, weil ver-trauende Verbraucher bereit sind, mehr zu konsumieren.Verbraucherpolitik ist Sozialpolitik, weil wir dadurch Ei-genvorsorge ermöglichen und benachteiligten Gruppenhelfen. Verbraucherpolitik ist Demokratiesicherung;denn Bürger, die wissen, dass sich Politik um ihre All-tagsprobleme kümmert und die ihnen Freiheit ermög-licht, vertrauen der Demokratie. Deswegen haben wirVorschläge über eine Neuausrichtung der Verbraucher-politik gemacht und freuen uns auf die Debatte mit Ih-nen.Vielen Dank.
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamen-
tarische Staatssekretär Gerd Müller.
Dr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibtnur einen Politikbereich, der alle 82 Millionen Deut-
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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schen betrifft und berührt. Das ist in der Tat der Verbrau-cherschutz. Er fängt an bei der Schwangeren und beimBaby, und er hört auf bei den alten Menschen in Hospi-zen oder Pflegeheimen.Wir alle sind betroffen. Deswegen sage ich: Verbrau-cherschutz geht alle an. Ich freue mich, dass die Regie-rungsbank so gut besetzt ist; denn es ist nicht Aufgabenur eines Ressorts. Herr Kelber, Ihre Auffassung teileich ausdrücklich. Das Gesundheitsministerium ist selbst-verständlich genauso betroffen wie das Sozialministe-rium. Verbraucherschutz ist ressortübergreifend nichtnur im Bund, sondern auch in den Ländern. Wir nehmenauch die Länder in die Pflicht, Stichwort: Förderung derVerbraucherzentralen. Da gibt es sehr große Unter-schiede in der Wahrnehmung dieser Aufgabe. Mit Blickauf die Kommunen nenne ich das Stichwort Energiebe-ratung. Auch da gibt es große Handlungsfelder. Aberauch die Wirtschaft und die Medien sind gefordert.Es geht auch nicht nur um sichere Lebensmittel, diehäufig im Fokus der Öffentlichkeit stehen, oder um Kos-tenfallen im Internet. Es geht beispielsweise auch um dieThemen Sparerschutz, Mieterschutz und Patienten-schutz.Ich möchte ein aktuelles Beispiel nennen, um das zuverdeutlichen. Haben Sie eine Lebensversicherung? Wirhaben in Deutschland 80 Millionen Lebensversicherun-gen mit einem Anlageinvestitionsvolumen von sage undschreibe über 600 Milliarden Euro. Fast jeder Deutschehat eine Lebensversicherung. Ich frage: Verstehen Siedas Kleingedruckte in den Verträgen? Verstehen Sie, wa-rum die Überschussbeteiligung in den letzten Jahrenkontinuierlich gesenkt wurde? Ich persönlich tue michschwer, das zu verstehen.Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, eineaktuelle Studie von Professor Andreas Oehler, Lehrstuhlfür Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwirt-schaft in Bamberg, vorzustellen. Gestern haben wir beider Anhörung erfahren, dass 75 Prozent aller auf 30 Jah-re abgeschlossenen Lebensversicherungen und 50 Pro-zent aller auf 20 Jahre abgeschlossenen Lebensversiche-rungen vorzeitig gekündigt werden. Nun kommt eineinteressante Aussage: Die Schadensschätzung, so Pro-fessor Oehler, die mit den vorzeitigen Kündigungen derletzten zehn Jahre verbunden ist, liegt bei 160 MilliardenEuro. Hier wird deutlich: Verbraucherschutz heißt, dieVersicherungsdienstleister zu zwingen, die Abschluss-kosten, die Vertriebskosten, die Folgekosten, die Provi-sionen und die Risiken offenzulegen. Daran sehen wir,dass Verbraucherschutz kein Randthema ist. Es geht unsalle an.Ich kann an der Stelle sagen: Bundesverbrauchermi-nisterin Ilse Aigner hat dem Verbraucherschutz in Eu-ropa und in Deutschland Gewicht und Bedeutung gege-ben.
Der Verbraucherschutz ist zur Erfolgsgeschichte gewor-den. Frau Aigner – das ist unzweifelhaft – hat enorm vielauf den Weg gebracht.
Herr Kelber, ich schätze den Stil der Debatte – hiersind junge Leute anwesend –, in der wir die ganze Viel-falt der Vorschläge zum Verbraucherschutz offen, abernicht polemisch miteinander diskutieren. Ein bisschenSpaß muss sein, aber es darf nicht polemisch werden.Es ist klar: Unsere Vorschläge unterscheiden sich einStück weit von Ihren. Wir sagen: Du bist frei, dein Lebenzu gestalten. Du hast als Verbraucher Eigenverantwor-tung wahrzunehmen. – Wir wollen, dass der mündigeVerbraucher aufgeklärt und informiert wird. Wir wollenaber nicht, dass jeder Lebensbereich, vom Baby bis zumSterbenden, vom Staat reglementiert wird. Wir wollennicht die Allmacht des Staates.
Das ist der ordnungspolitische Unterschied. Wir wol-len die Alltagskompetenz der Verbraucher und ihreRechte auf Information und Transparenz stärken sowiesie vor Täuschung und Betrug schützen. Das machen wirsehr erfolgreich. Dies bestätigte uns das Verbraucherba-rometer der Europäischen Kommission. Dort wirdDeutschland als eines der Länder mit den besten Bedin-gungen für die Verbraucher genannt.
Wir sind schon sehr gut, aber man kann immer nochbesser werden. In der Großen Koalition haben wir einenguten Weg miteinander beschritten.
Jetzt setzen wir diese erfolgreiche Politik mit unseremliberalen Koalitionspartner fort.Zum Thema Internet. Dies betrifft gerade die jungenLeute, die in dieser neuen Zeit leben. Ich habe zu mei-nem 40. Geburtstag – das war nicht im 19. Jahrhundert –ein Handy geschenkt bekommen. Man muss sich vor-stellen: Es gab auch ein Leben vor dem Internet und vordem Handy. Heute aber leben wir in einer komplettneuen Zeit. Die Revolution, die dort ausgelöst wurde,hat sehr viele Folgen. Frau Aigner hat als Erste auch aufdie Gefahren dieser neuen medialen Herausforderunghingewiesen. Wir haben gehandelt.
Wir haben die sogenannte Buttonlösung gegen Kosten-fallen gesetzlich verankert und umgesetzt.
Herzlichen Dank auch an die Bundesjustizministerin.Wir haben ressortübergreifend mit den Kollegen derFDP hervorragend zusammengearbeitet.
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19886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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Zum Telekommunikationsrecht. Wir haben dieRechte der Verbraucher bei Telekommunikationsverträ-gen im Hinblick auf Anbieterwechsel, Vertragslaufzeitensowie Regelungen zu kostenlosen Warteschleifen umfas-send gestärkt. Die Abzocke der Verbraucher über Handyund Telefon ist unter Ministerin Aigner schwieriger ge-worden. Das ist wichtig.
Wir sorgen jetzt mit dem Anlegerschutzgesetz – hiergibt es noch viel zu regeln – für mehr Transparenz aufdem Finanzmarkt. Ich habe im Zusammenhang mit denLebensversicherungen auf die Problematik hingewiesen.
Wir sind nicht damit zufrieden, wie die Banken die Vor-gaben für die Produktinformationsblätter umgesetzt ha-ben. Darum haben wir die Banken zu einem Gespräch zuuns ins Haus bestellt. Die Banken sind in der Pflicht. Sogeht das nicht bei der Umsetzung der gesetzlichen Vor-gaben.Mit der neuen EU-Spielzeugrichtlinie haben wir fürwichtige Fortschritte bei der Sicherheit von Kindern ge-sorgt. Dieses Thema hat eine europäische Dimension,wie sich im Übrigen viele Themen kaum noch auf reinnationaler Ebene regeln lassen. An dieser Stelle möchteich meinen Dank an das Bundesamt für Verbraucher-schutz und Lebensmittelsicherheit und das Bundesamtfür Risikobewertung aussprechen. Dort leisten herausra-gende Wissenschaftler europaweit anerkannte hervorra-gende Arbeit.
Wir haben uns beim europäischen Lebensmittelkenn-zeichnungsrecht für verpflichtende Nährwertangabeneingesetzt und setzen diese jetzt um. Im Übrigen – jetztist Frühjahr – haben wir auch einen nationalen Allergie-plan mit vielen Maßnahmen auf den Weg gebracht.Wir kämpfen gegen Täuschung, hier sei das ThemaVerbot von Lebensmittelimitaten – Stichwort: Klebe-fleisch – als Beispiel genannt. Das Thema Lebensmittel-sicherheit und Kontrolle steht natürlich besonders im Fo-kus der Verbraucherpolitik; Frau Aigner und dasMinisterium handeln entsprechend. Nach dem Gammel-fleischskandal haben wir das 11-Punkte-Programm um-gesetzt. Nach dem Dioxinskandal haben wir ebenfallssofort reagiert und den „Aktionsplan Verbraucherschutzin der Futtermittelkette“ in Zusammenarbeit mit denBundesländern umgesetzt. Herzlichen Dank an die Län-der. Ich sage an der Stelle aber auch: Im Bereich der Le-bensmittelsicherheit und Kontrolle stehen die Länder be-sonders in der Pflicht.
Wir wünschen uns bundesweit vergleichbare einheit-liche hohe Kontrollstandards. Die Lebensmittelkon-trolle im 21. Jahrhundert – da gebe ich Herrn Kelberrecht – steht vor ganz neuen Herausforderungen. Wereinmal am Containerhafen in Hamburg gestanden unddie Importware sowie die Kontrollhäuschen daneben ge-sehen hat, der weiß, dass hier nachgerüstet werden muss,um den Ansprüchen an die Lebensmittelsicherheit ge-recht zu werden.Wir sorgen durch eine neue Kennzeichnung für Si-cherheit, Klarheit und Wahrheit bei Lebensmitteln; indem Zusammenhang verweise ich auf das neue Portal le-bensmittelklarheit.de. Verehrte Zuhörerinnen und Zuhö-rer, insbesondere die jungen: Wenn Sie nachher insInternet gehen, googeln Sie einmal lebensmittelklar-heit.de.
– Herr Kelber, auf eine so gute Idee kam nicht einmal dieSPD.
Dafür gibt es sogar Beifall von der Jugend auf der Tri-büne. Das ist der neue Weg: nicht nur Prospekte und In-formationsschriften; vielmehr müssen wir die neuenKommunikationsmöglichkeiten in Form des Internetsnutzen und aufbauen. Bei lebensmittelklarheit.de funk-tioniert das.
Wir haben das Verbraucherinformationsgesetz ge-schaffen und jetzt novelliert. In Zukunft werdenschwarze Schafe im System öffentlich benannt. EinenProblemaufbau wie bei Müller-Brot wird es mit demneuen Gesetz so nicht mehr geben.
Der Staat kann und will aber dem Verbraucher dieEntscheidung nicht abnehmen. Deshalb geht mein be-sonderer Dank an die Stiftung Warentest für ihre hervor-ragende Arbeit. Wir stocken das Stiftungskapital um50 Millionen Euro auf.Wir haben auch ein Konzept für die Stärkung der Ver-braucherforschung. Ich möchte an dieser Stelle dem Ver-braucherzentrale Bundesverband, insbesondere HerrnBillen, und all denjenigen herzlich danken, die vor Ortdas Netz der Verbraucherzentralen aufgebaut haben undumsetzen.
Wir stellen uns dem großen Thema „Schutz der Per-sönlichkeit und persönlicher Daten in der digitalen Netz-welt“. Frau Aigner hat dies zu einem ihrer persönlichenSchwerpunkte gemacht. Hier steht die Umsetzung einerneuen EU-Datenschutz-Grundverordnung auf europäi-scher Ebene an. Es geht um das Thema Datenschutz,liebe junge Kolleginnen und Kollegen und Zuhörer, imZusammenhang mit Facebook und den sozialen Netz-werken. Was im Netz drin ist, geht nie mehr heraus.Auch das ist ein Thema für den Verbraucherschutz 2.0.Wir stellen uns dem Thema Medienkompetenz.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19887
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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Meine Damen und Herren, wir haben ein Konzept fürden Verbraucherschutz für Senioren, den ich für sehrwichtig und zentral halte, für das Thema Gesundheit undAlter, für Standards bei der Pflege.Ich könnte noch stundenlang über die Erfolge unsererArbeit reden.
Ich sage an dieser Stelle aber der Opposition herzlichenDank, dass sie mir mit ihrem Antrag die Gelegenheitgab, hier zehn Minuten zu sprechen; herzlichen Dank andie Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/CSU, dass wir die Gelegenheit haben, diese erfolgreichePolitik umzusetzen.Danke schön.
Die Kollegin Caren Lay hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eines muss man Verbraucherministerin Aignerschon lassen: Sie scheut keinen Vergleich. In der letztenWoche hat sie die Öffentlichkeit wissen lassen, ihr Auf-trag sei „Kennedy 2.0“. Neben den vielen guten Grün-den, warum John F. Kennedy der Verbraucherministerinhaushoch überlegen ist, gibt es einen ganz großen Unter-schied, auf den ich mich heute konzentrieren möchte:Kennedys Reden ist eine ganze Reihe realer Veränderun-gen gefolgt; den Reden von VerbraucherministerinAigner und ihren Versprechen folgt im Normalfall garnichts. Das, meine Damen und Herren, ist der Unter-schied zwischen einem guten Politiker und einer munte-ren Presseabteilung.
Man kann schon froh sein, wenn nach den munteren undvollmundigen Ankündigungen im Endeffekt Bonsaiver-sionen umgesetzt werden.Herr Staatssekretär Müller, die positive Bilanz der Ar-beit von Schwarz-Gelb, die Sie heute gezogen haben,kann ich – das wird Sie nicht wundern – in keinsterWeise teilen. Ich muss sagen: Wenn Ihnen dieses Themawirklich so wichtig wäre, hätten Sie in dieser Legislatur-periode herzlich wenig erreicht.Das beginnt schon bei der Unterfinanzierung des Ver-braucherschutzes. Die Verbraucherzentralen – das ist eingutes Stichwort – sind hoffnungslos unterfinanziert. DerHaushalt des Verbraucherministeriums spielt im gesam-ten Etat der Bundesregierung eine minimale Rolle. Esentbehrt wirklich jeder Grundlage, hier eine positive Bi-lanz zu ziehen.
Die Bundesregierung versagt aus unserer Sicht, ausSicht der Fraktion Die Linke, beim Schutz der Verbrau-cherinnen und Verbraucher an allen Ecken und Enden.Selbst im Verbraucherpolitischen Bericht der Bundes-regierung – er wurde letzte Woche veröffentlicht –musste von Frau Aigner eingeräumt werden, dass imfinanziellen Verbraucherschutz noch vieles im Argenliegt. Ja, das meine ich aber auch. Was ist das Ergebnis?Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren immernoch jährlich 20 bis 30 Millionen Euro durch Falschbe-ratung. Das, meine Damen und Herren, halte ich wirk-lich für eine Zumutung.
Wir, die Linke, erwarten von der Bundesregierungseit langem ein Konzept für eine nachhaltige und mo-derne Verbraucherpolitik. Wir fordern beispielsweiseseit über zwei Jahren einen Finanz-TÜV und eine ver-brauchergerechte Finanzaufsicht, die ausdrücklich dieAufgabe hat, Verbraucherinnen und Verbraucher auf denFinanzmärkten zu schützen, nicht nur Banken und Un-ternehmen. Noch der kleinste Stehimbiss in Deutschlandwird regelmäßig kontrolliert; er erhält Auflagen undwird im Zweifel auch geschlossen, und zwar zu Recht.Aber es kann nicht sein, dass auf den Finanzmärktenweiterhin unkontrolliert Risikoprodukte umhergeistern,dass hier weiterhin unkontrolliert Schrott auf dem Marktist. Wir brauchen den Finanz-TÜV, meine Damen undHerren.
Denn was für eine Pommesbude gilt, das sollte doch we-nigstens auch für Finanzprodukte gelten.Nehmen wir ein weiteres Beispiel: unseriöse Inkasso-dienste. Sie zocken täglich Hunderte von Verbraucherin-nen und Verbrauchern ab. Es ist und bleibt ein Skandal,dass zwar die Banken mit Milliarden aus Steuergelderngerettet werden, aber die Dispozinsen für den Normal-verbraucher auf Rekordniveau bleiben. Wir, die Linke,kritisieren das schon seit vielen Jahren. Vor einigen Mo-naten haben wir einen Antrag dazu eingebracht, der ab-gelehnt worden ist. Sie haben damit wieder einmal dieMöglichkeit vertan, Verbraucherinnen und Verbraucherreal vor Abzocke zu schützen.
CDU/CSU und FDP reagieren entweder zu lasch, zuspät oder gar nicht. Banken, Versicherungen, Finanzbe-rater oder Telekommunikationsfirmen haben es leichtmit dieser Bundesregierung. Schwarz-Gelb scheut denKonflikt mit den Unternehmen und versteckt sich hinterdem Leitbild des mündigen Verbrauchers. Das hört sichgut an, es ist aber leider völlig überholt. Ich frage Sie:Was soll denn der mündige Verbraucher machen, wennihn Recht und Gesetz nicht vor Datendiebstahl im Inter-
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Caren Lay
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net schützen? Wie kann sich der mündige Verbraucherwehren, wenn ein unseriöses Inkassounternehmen einenBeutezug durch sein Portemonnaie macht? Wie soll derVerbraucher mündig handeln, wenn die Beratungsproto-kolle beim Kauf von Finanzprodukten das Papier nichtwert sind, auf dem sie geschrieben sind? Seien wirrealistisch: Wer kann schon fünf Seiten AGB ohne einJurastudium verstehen? Hier liegt der Hase im Pfeffer.Das Leitbild der Bundesregierung muss endlich überar-beitet werden.
Statt alles dem Markt zu überlassen und die Verant-wortung auf die Verbraucherinnen und Verbraucher ab-zuschieben, sind wir als Politiker gefordert, zu handeln.Wir müssen die Märkte im Interesse der Verbraucherin-nen und Verbraucher endlich regulieren. Das haben wirals Linke schon vor zwei Jahren gefordert. Wir habenunsere verbraucherpolitischen Leitlinien vorgelegt. Wirhaben gesagt: Wir brauchen politische Verantwortung,und wir brauchen eine verbrauchergerechte Marktregu-lierung.
Das war zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damalssind wir als Staatssozialisten beschimpft worden. Ichfreue mich, dass jetzt Bewegung in diese Debatte kommtund auch die SPD sagt, dass wir ein anderes Leitbild undeine andere Verbraucherpolitik brauchen.
Ich komme zum Schluss. Ich kann die positive Bi-lanz, die heute von der Bundesregierung in Bezug aufdie Verbraucherpolitik gezogen wurde, nicht nachvoll-ziehen. Zu zentralen Themen, beispielsweise Mieten– sie sind in den letzten Jahren um 7 Prozent gestiegen –,habe ich von der Ministerin kein Wort gehört. Auch sol-che Themen müssen endlich angegangen werden. Ichkann nur sagen: Frau Aigner, Sie sind nicht Vorsitzendeder Bundespressekonferenz, sondern Sie leiten einMinisterium. Handeln Sie endlich entsprechend!
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Profes-
sor Dr. Erik Schweickert.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarz-gelbe Ver-braucherpolitik wirkt;
denn sie schafft Transparenz und damit mehr Durchblickfür die Verbraucherinnen und Verbraucher am Markt.Durch bessere Informationen kann sich der Verbraucherein Bild vom Markt machen und dadurch selbstbewusstund auch selbstbestimmt über den Kauf von Produktenund über die Inanspruchnahme von Dienstleistungenentscheiden.Verbraucherpolitik ist für uns ein wichtiges Bürger-recht. Anders als Linke, Sozialdemokraten und Grünegeben wir Liberale den Verbrauchern nicht vor, was siezu wollen, zu kaufen oder zu unterlassen haben.
Wir möchten, dass der Verbraucher seine Wünsche arti-kulieren kann, dass er auswählen kann, und wir setzenerst dann an, wenn das Recht auf Fairness am Markt, aufeine effiziente Rechtsdurchsetzung im Streitfall ge-schützt werden muss oder die Verbraucher vor Abzockegeschützt werden müssen. Das ist unsere verbraucher-politische Strategie, die wir seit fast drei Jahren sehr er-folgreich verfolgen.Liebe SPD, in Ihrem Antrag tun Sie so, als sei die Re-gierung untätig.
Sie kennen doch die Redensart: Wer mit dem Finger aufandere zeigt, der sollte immer bedenken, dass drei Fingerauf ihn zurückzeigen. Was haben Sie für den Anleger-schutz getan? Sie haben die Hedgefonds zugelassen unddamit die Büchse der Pandora geöffnet. Wir hingegenhaben die spekulativen Anlageformen wie ungedeckteLeerverkäufe verboten. Haben Sie dafür gesorgt, dassAnleger besser über Produkte informiert werden? Nein!Wir haben den Anlegerschutz gestärkt und Produktinfor-mationsblätter zur Pflicht gemacht sowie die Regelun-gen zu Sanktionen bei Falschberatung verschärft. Ichgebe zwar zu, dass es in diesem Bereich noch Verbesse-rungsbedarf gibt, weil sich manche immer noch einenschlanken Fuß machen – das ist nicht akzeptabel –, aberauch hier werden wir nachbessern.
– Diejenigen, die jetzt rufen, sollten sich schon fragen:Wer hat denn dafür gesorgt, dass der graue KapitalmarktRegeln unterworfen wurde? Das waren nicht Sie, son-dern wir. Wir machen für die in diesem grauen Markt ge-handelten Produkte nun dieselben Vorgaben wie für diedes regulären Marktes.Sie haben zugeschaut, wie findige Serviceanbieter dieKunden in ellenlangen, teuren Warteschleifen abgezockthaben. Wir haben gehandelt, meine Damen und Herren.Mit dem neuen Telekommunikationsgesetz machen wirdieser Abzocke ein Ende.
Denn Warteschleifen sind keine Serviceleistungen. Siedürfen und werden deshalb zukünftig auch nichts kosten.Gleiches gilt für die Abzocke im Internet. Heute sindes eben nicht nur die Taschendiebe, die den Leuten dasGeld aus der Geldbörse holen. Gerade im Internet hat
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Dr. Erik Schweickert
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sich die Seuche mit fingierten Angeboten ausgebreitet.Ein falscher Klick, und man ist in die Abzockfalle ge-tappt. Ich frage: Haben Sie in Ihrer Regierungszeit ver-hindert, dass sich solche Maschen krakenartig ausbrei-ten? Nein, haben Sie nicht. Wir aber als schwarz-gelbeBundesregierung machen Schluss mit diesen Betrüge-reien im Internet. Man hat versucht, wahre Kosten inAGBs zu verstecken. Das wird in Zukunft nicht mehrmöglich sein. Der Button „Zahlungspflichtig bestellen“wird Pflicht. Das schafft mehr Transparenz für die Ver-braucherinnen und Verbraucher.
Auch die Preisansagepflicht beim Call-by-Call habenwir in Angriff genommen, nachdem jahrelang nichts ge-tan wurde. Morgens kostete ein Telefonat 2 Cent, abends2 Euro, ohne dass der Verbraucher es wusste. Damit ist,wenn das TKG jetzt in Kraft tritt, endlich Schluss.Wir sorgen aber nicht nur für Transparenz, wir unter-stützen die Verbraucherinnen und Verbraucher auch beider Rechtsdurchsetzung im Streitfall. Wir werden eineSchlichtungsstelle für Streitfälle im Luftverkehr einfüh-ren. Das Bundesjustizministerium – vielen Dank! – hatdazu bereits entsprechende Eckpunkte vorgelegt. BeiNichtbeförderung, Flugannullierung, Verspätung oderbeschädigtem Gepäck soll es einen Ansprechpartner fürden Verbraucher geben, damit Ansprüche gegenüber denFluglinien dann auch geltend gemacht werden können.Die von der Bundesregierung eingerichtete Schlich-tungsstelle für Energie ist bereits seit Oktober 2011aktiv. Hier haben wir dem Verbraucher einen Ansprech-partner gegeben, der bei Streitigkeiten mit Energiever-sorgungsunternehmen außergerichtlich für eine Beile-gung eintreten und dem Verbraucher zu seinem Rechtverhelfen kann. Das haben wir getan, ohne dass es hoheBürokratiehürden und langwierige Gerichtsverfahrengibt.Wir lassen auch nicht zu, Frau Lay, dass unter demDeckmantel des Rechts Unrecht getrieben wird. Deshalbsagen wir unlauterem Inkasso den Kampf an und ver-pflichten die Inkassounternehmen, transparenter darzu-legen, welche Forderungen sie überhaupt eintreibenwollen. Außerdem werden wir auf eine angemessenePreisgestaltung für Inkassoleistungen dringen.
Schließlich werden wir ein neues Sanktionssystem ein-führen, um die schwarzen Schafe effektiver vom Marktzu nehmen; denn schwarze Schafe schaden nicht nur denVerbraucherinnen und Verbrauchern, sondern auch denguten Unternehmen in diesem Bereich.Das gilt gerade auch bei der Telefonwerbung, die häu-fig unerlaubt ist. Eigentlich sollte doch die unerlaubteTelefonwerbung längst vorbei sein. Aber auch hier hat esdie SPD versäumt, in ihrer Regierungszeit dieser Ab-zockemasche einen wirksamen Riegel vorzuschieben.Das Gesetz gegen unerlaubte Telefonwerbung ist als Ti-ger gesprungen, aber als Bettvorleger gelandet; denn dieBeschwerdezahlen haben nicht abgenommen, sondernsogar noch zugenommen. Deshalb bessert auch hier dieschwarz-gelbe Bundesregierung nach. Das Bundesjus-tizministerium bzw. Frau Leutheusser-Schnarrenbergerhat bereits entsprechende Eckpunkte vorgelegt, die wirnun in Gesetzesform gießen werden.Die größte Plage bei der unerlaubten Telefonwerbungsind die Gewinnspiele und deren Eintragungsdienste.Auf sie beziehen sich drei Viertel der eingegangenen Be-schwerden. Aus diesem Grund werden wir auch hier vo-rangehen und mit einer sektoralen Bestätigungslösungdafür sorgen, dass solche am Telefon abgeschlossenenVerträge erst durch eine schriftliche Bestätigung Gültig-keit erlangen.
Außerdem werden wir den Bußgeldrahmen erhöhen, so-dass den Abzockern ihre Masche vergeht. Wir werdenden gegenwärtigen Höchstbetrag von 50 000 Euro auf300 000 Euro erhöhen.Meine Damen und Herren, das sind Beispiele dafür,dass wir evidenzbasiert handeln; denn Pseudorechte aufdem Papier bringen den Verbrauchern nichts. Man musssie auch durchsetzen können. Weiter sorgen wir dafür,dass die Expertise der Leute, die Ahnung davon haben,mit aufgenommen wird. Wir haben in der Stiftung Wa-rentest, im Bundesamt für Verbraucherschutz und Le-bensmittelsicherheit, im Bundesinstitut für Risikobewer-tung, in dem Verbraucherzentrale Bundesverband sowiein den Verbraucherzentralen der Länder die Experten,die wir benötigen. Wir greifen sehr gerne deren sinnvolleVorschläge auf und lassen sie in unsere Überlegungeneinfließen. Ein darüber hinausgehender Sachverständi-genrat ist unserer Ansicht nach im Moment überflüssig;denn die Stiftung Verbraucherschutz kann die von Ihnenangesprochenen Aufgaben wahrnehmen.Meine Damen und Herren, liebe Verbraucherinnenund Verbraucher, Sie haben mit der schwarz-gelbenBundesregierung jemanden an Ihrer Seite, der dafürkämpft, dass Sie selbst entscheiden können, wofür SieIhr Geld ausgeben, und zwar auf der Grundlage vonTransparenz, von Information und von klaren Regeln;denn wir handeln mit Augenmaß und mit Sachverstand.Das ist unsere Strategie. Wir sind die Anwälte der Ver-braucherinnen und Verbraucher.Vielen Dank.
Nicole Maisch hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-nen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die SPD hat uns einen sehr guten Antrag vorgelegt,wenn auch im Titel ein kleiner Fehler ist. In der Über-schrift wird Frau Aigner nämlich aufgefordert, eine ver-braucherpolitische Strategie vorzulegen. Das klingt so,als hätte sie keine. Sie hat aber eine.
Diese Strategie möchte ich Ihnen jetzt vorstellen, weilich glaube, dass Herr Müller die Strategie nicht ganzwahrheitsgemäß dargestellt hat.
Aigners Konzept ist Folgendes: Tue so wenig wie mög-lich, aber rede so viel wie möglich darüber. Und: Aufdem Schoß der Industrie ist es bequemer als an der Seiteder Verbraucher.
Ich möchte Ihnen das Konzept im Einzelnen vorstellen:Punkt eins der Strategie: Identifiziere Themen, die denWählern, dem vzbv oder der Bild-Zeitung auf den Nägelnbrennen. Datenschutz in Social Networks, Lebensmittel-verschwendung, finanzieller Verbraucherschutz, Empa-thie mit der Lehman-Oma – wunderbar! Dazu macht manexzellente Pressearbeit und kündigt entweder bahnbre-chende Studien an, die dann nicht kommen,
oder gesetzgeberische Maßnahmen wie beim Hygiene-Smiley, die dann in Bund-Länder-Arbeitsgruppen ver-gammeln und nie Realität werden.
Das war der erste Schritt.Der zweite ist: Nachdem man Pressearbeit gemachthat, macht man, wie bei den Social Networks, noch ein-mal Pressearbeit. Ilse Aigner hat zu Facebook, glaubeich, in den letzten drei Monaten drei- oder viermal Ver-schiedenes gefordert. Hinten rausgekommen ist dann,dass sie sich mit Facebook „entfriended“ hat. Ich denke,Mark Zuckerberg hat gezittert, als Ilse Aigner Facebookverlassen hat.
Das dritte zentrale Element der Strategie von IlseAigner sind die sogenannten Eckpunkte. Eckpunktemacht man, wenn man sich im Kabinett nicht durchset-zen kann, aber trotzdem irgendetwas aufschreiben will.Ein Beispiel ist die Honorarberatung. Wir sehen keinenGesetzentwurf zur Regulierung der Honorarberatung.Was haben wir stattdessen? Eckpunkte, über die wir hierzwar irgendwie diskutieren, aber hinten raus kommtnichts.Das vierte Element der Strategie ist, ein bisschenGeld für sinnvolle Projekte zu geben. Eines davon istwww.lebensmittelklarheit.de. Es ist sehr interessant,dass lebensmittelklarheit.de, ein schönes Projekt derVerbraucherzentrale, von der Kollegin Happach-Kasanim Ausschuss immer angeschossen wurde. Sie hat dassehr hart kritisiert. Nach einigen Wochen ist dieses Por-tal jetzt online, und es ist klar, dass es so sehr unterfinan-ziert ist, dass es keine wirkliche Gefahr für die Lebens-mittelwirtschaft darstellt. Die Kritik von Frau Happach-Kasan ist verstummt. Ich denke, das zeigt ziemlich deut-lich, was schwarz-gelbe Verbraucherpolitik ist.Ähnlich verhält es sich mit den 1,5 Millionen Eurofür die Stiftung Warentest. Wenn Sie wirklich etwas ver-ändern wollten, würden Sie den Marktwächter einfüh-ren. Stattdessen geben Sie Almosen an sinnvolle Institu-tionen. An den Märkten wollen Sie nicht wirklich etwasverändern.
Letztes Element der Strategie ist: Vermeide jede par-lamentarische Beratung; denn Sachkenntnis stört nur dieLebhaftigkeit der politischen Debatte.
Deshalb versucht man, alles Mögliche in Pressekonfe-renzen zu verhandeln. Beim Thema Lebensmittelver-schwendung beispielsweise hat man versucht, die Parla-mentarierinnen und Parlamentarier möglichst aus derganzen Sache herauszuhalten.Deshalb lautet meine Botschaft an die SPD: Die Stra-tegie liegt vor, aber sie ist armselig.
Dabei gibt es doch eine ganze Menge zu tun. Ich möchteIhnen das an einem Beispiel erläutern: Ernährung. DieZahlen sind der reine Horror. 15 Prozent der Kinder undJugendlichen in Deutschland haben Übergewicht.0,8 Millionen sind krankhaft fettleibig. Die gesundheitli-chen Schäden, die daraus folgen, können Sie sich allevorstellen. Im Ausschuss hat man mir vorgeworfen, dassich, wenn es um das Thema „Kinder und Ernährung“geht, immer so gefühlig, emotional und betroffen werde.Deshalb möchte ich volkswirtschaftlich argumentieren:Sie werden die volkswirtschaftlichen Folgekosten vonÜbergewicht, von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkran-kungen nicht ohne eine vernünftige Präventionsstrategiein den Griff bekommen.
Die Kosten werden uns überrollen.
Das ist knallhart volkswirtschaftlich kalkuliert. Ich findees erbärmlich, dass Schwarz-Gelb offensichtlich nichtrechnen kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19891
Nicole Maisch
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Wir haben in dieser Woche in einer Aktuellen Stundeüber die Überschüsse bei den Krankenkassen debattiert.
Wenn wir das Problem, dass es immer mehr Überge-wichtige gibt, nicht in den Griff bekommen, dann brau-chen wir hier nicht mehr über Überschüsse zu reden,sondern müssen uns überlegen, wie wir überhaupt nocheine angemessene Behandlung der vielen Diabetiker undPatienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewährleis-ten können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Prä-
vention fängt schon bei den Schwangeren und den Babys
an. – Da frage ich mich aber, warum ich seit letztem
Sommer im Abstand von wenigen Wochen immer wie-
der vergeblich Herrn Müller anschreibe und frage, wann
er endlich die Empfehlung des BfR umsetzt und gesund-
heitsschädliche Kindermilch vom Markt nimmt. Wenn
man nicht einmal so eine kleine Maßnahme hinbe-
kommt, dann frage ich mich: Wie ernst ist es Ihnen wirk-
lich mit der Ernährungspolitik?
Wir sagen: Wir brauchen eine konsistente ressortüber-
greifende Strategie gegen Fehlernährung und Überge-
wicht. Das bedeutet nicht Schaukochen mit Herrn Lafer
oder mit Herrn Schuhbeck oder bunte Broschüren, son-
dern das bedeutet zuallererst die Einführung der Nähr-
wertampel. Das wäre wirklich Information statt GDA-
Desinformation.
– Das ist keine Bevormundung. Wenn ich Menschen die
Wahrheit sage, ist das keine Bevormundung. Statt der
GDA-Kennzeichnung könnten Sie den Zuckergehalt
auch auf Finnisch auf die Packungen schreiben.
– Nein, die GDA-Kennzeichnung ist eine Desinforma-
tion im Sinne von Ferrero und Nestlé, weil diese nicht
zugeben wollen, dass die meisten ihrer Produkte Fett-
und Zuckerbomben sind.
Studien zeigen ganz klar: Die Menschen verstehen diese
Kennzeichnung nicht. Wir wollen ihnen echte Informa-
tionen geben.
Frau Kollegin, Frau Happach-Kasan würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Sehr geehrte Kollegin Maisch, vielen Dank für die
Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. Ich denke, auch Sie
haben bei der Diskussion über die Ampelkennzeichnung
miterlebt, dass wir mit der sogenannten Ernährungsam-
pel keine eindeutige Bewertung bekommen, sondern
dass Lebensmittel zum Beispiel mit zweimal rot und
zweimal grün gekennzeichnet werden. Das heißt, nie-
mand weiß dann, wonach er sich richten soll. Ist Ihnen
bekannt, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Ernäh-
rung und beispielsweise auch der Verband der Kinder-
ärzte dezidiert dagegen ausgesprochen haben?
Wie können Sie es gerade als junge Frau mit Ihrem
Gewissen vereinbaren, dass Sie eine Nährwertampel be-
vorzugen, die eine richtige Aussage für einen Teil der
Bevölkerung trifft – da stimme ich mit Ihnen überein –,
aber für einen anderen Teil der Bevölkerung keine rich-
tige Empfehlung gibt, zum Beispiel für die Menschen,
die an Bulimie oder an Magersucht leiden; hier ist die
Anzahl der Erkrankungen gestiegen. Die rote Kenn-
zeichnung bei bestimmten kalorienhaltigen Lebensmit-
teln wird natürlich gerade diesen Teil der Bevölkerung in
die Irre leiten. Deswegen haben wir als FDP gesagt: Wir
wollen keine Bewertung auf den Verpackungen haben,
die nur für einen Teil der Bevölkerung eine richtige
Empfehlung gibt, aber einen anderen Teil der Bevölke-
rung in die Irre leitet. Ich glaube, das können wir nicht
verantworten.
Frau Happach-Kasan, ich finde, politische Auseinan-
dersetzungen und auch Zwischenfragen beleben die De-
batte sehr. Ob dabei aber die Aussage „Wie können Sie
gerade als junge Frau …“ in der politischen Auseinan-
dersetzung hilfreich ist, weiß ich nicht genau.
Frau Happach-Kasan, ich würde das Geschlechtsar-gument gerne aufgreifen. Das GDA-Prinzip zeigt, wieviel Prozent des Tagesbedarfs einer Substanz bei einergegriffenen Person, zum Beispiel einer Frau, ein Produktdurch eine bestimmte Menge deckt. Zum Beispiel wirdangegeben, dass ein Glas Limonade 10 Prozent des Zu-ckerbedarfs deckt. Die Ampel hingegen gibt keine Emp-fehlung und macht keine Prozentangaben, sondern zeigtlediglich, ob ein Produkt zum Beispiel mittel, viel oder
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Nicole Maisch
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wenig Zucker enthält. Sie gibt nur eine Information; da-raus ist keine Belehrung abzuleiten. Die Ampel hat denweiteren Vorteil, dass sie sowohl für kleine dicke Män-ner als auch für junge Frauen und für Kinder gleicherma-ßen gilt. Die Information ist immer nur, ob das Lebens-mittel viel, wenig oder eine mittlere Menge an zumBeispiel Zucker, gesättigten Fettsäuren oder Salz enthält.Ich glaube, es ist eine Fehlinformation, dass sich derBerufsverband der Kinderärzte gegen die Ampel ausge-sprochen hat.
Meine Information ist genau das Gegenteil. Ich war ges-tern zusammen mit Jens Spahn aus der Koalition auf ei-ner Podiumsdiskussion, bei der über die Prävention vonDiabetes und Übergewicht diskutiert wurde. Auf demPodium waren auch Diabetesexperten, Kinderärzte, Be-triebsärzte. Alle haben sich für die Ampel ausgespro-chen.
Ich glaube, das Problem mit der Ampel ist ein ande-res: Die Ampel sagt so, dass man es versteht, die Wahr-heit.
Aber die Nahrungsmittelindustrie, insbesondere die Her-steller von Süßwaren und fetten Frühstücksflocken,möchten nicht, dass die Verbraucher in einer Art undWeise die Wahrheit erfahren, die sie verstehen.
Noch ein letzter Satz zu dem Vorwurf, die Ampel-kennzeichnung habe Wirkungen auf Magersüchtige undBulimiker. Ich habe mich informiert: Es gibt keinen wis-senschaftlich begründeten Zusammenhang zwischenNährwertinformationen, der Zahl von Adipositasbe-handlungen, der Aufklärung über gesundes Essen undMagersucht oder Bulimie. Das sind multifaktorielle psy-chische Erkrankungen. Sie haben ihre Ursachen zumBeispiel im Elternhaus oder in dem Bild, das in den Me-dien von jungen Frauen gezeichnet wird,
aber nicht in der Angabe: Diese Cola enthält viel Zucker.
Wenn die Welt so einfach wäre, hätten wir, glaube ich,Bulimie und Magersucht längst im Griff.
Ich will auf zwei weitere Aspekte, die die Ernährungbetreffen, zu sprechen kommen; die vielen anderenwichtigen Themen anzusprechen, schaffe ich jetzt so-wieso nicht mehr. Es gibt die Nährwertampel. Sie istumstritten. Aber es wird auch einmal andere Mehrheitengeben.
Dann kann man sie, glaube ich, einführen. Wir braucheneinen anderen Umgang mit dem Marketing, das sich anKinder richtet. Wir brauchen eine gesunde Mittagsver-pflegung in allen Betreuungseinrichtungen.
Sie müssen zum Ende kommen, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. – Ich finde, gerade hier hat
die Ernährungsministerin versagt. Man kann über Frau
von der Leyens komisches Paket für Hartz-IV-Kinder
denken, was man will.
Frau Kollegin.
Aber dass sich nicht die Ernährungsministerin des
Themas Schulverpflegung annimmt, sondern dass der
Hinweis, dass nicht jedes Kind ein gesundes Mittagessen
bekommt, aus anderen Ressorts kommt,
ist, wie ich finde, –
Frau Kollegin!
– ein ziemlich trauriges Zeugnis.
Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist schon interessant, dass die SPD in derMitte der Wahlperiode beginnt, sich Gedanken über dieVerbraucherschutzpolitik zu machen.
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Da fragt man sich unwillkürlich: Was hat die SPD ei-gentlich in den letzten zwei Jahren gemacht? Aber, sehrgeehrter Herr Kelber: Es ist nie zu spät.Sie haben jetzt einen Antrag mit dem Titel „Verbrau-cherpolitik neu ausrichten – Verbraucherpolitische Stra-tegie vorlegen“ formuliert. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der SPD, richten Sie sich ruhig neu aus!Machen Sie sich ruhig Gedanken! Eine verbraucherpoli-tische Strategie brauchen wir; sie kann nie schaden. Ichfinde es deswegen auch sehr klug, dass Sie uns einladen,mit Ihnen über diese Strategie zu diskutieren. UnsereKonzepte stehen. Wir haben eine verbraucherpolitischeStrategie.
Unsere Ziele sind klar definiert. Wir haben eine klareRichtung. Wir sind verlässliche Partner.
Das ist das, was die Verbraucherinnen und Verbraucherbrauchen, und das leisten wir.
Die Themen, bei denen sich die CDU/CSU mit der Si-tuation der Verbraucher beschäftigt, sind in allen Politik-feldern zu Hause. Für uns fristet die Verbraucherpolitikkein Nischendasein. Sie gehört mitten in die Politik, mit-ten in unsere Parteien, mitten in unsere Fraktion und mit-ten in die Regierung, weil sie mitten im Leben ist unduns alle betrifft; denn Verbraucher sind wir alle.Der Begriff „Verbraucherschutz“ ist ein wenig irre-führend. Es geht nämlich nicht nur um den reinen Ver-brauch von Dingen und damit um den Konsum oder denKonsumenten, sondern es geht auch um Dienstleistun-gen, Kunden, Nutzer und Produzenten. Es geht um alleSeiten der Geschäftsbeziehungen, die Menschen mitei-nander haben. Es geht um Information, und es geht umTransparenz. Wir reden auch immer vom Verbraucher-schutz. Auch das ist ein irreführender Ausdruck. Für unssind die Verbraucher nämlich nicht in erster LinieSchutzbefohlene, also Menschen, die ohne Hilfe von au-ßen hilflos wären. Verbraucherpolitik ist für uns ebenkeine Sozialpolitik.
Wir sagen: Der Verbraucher kann und soll sich freientscheiden. Der Staat ist nicht der bessere Verbraucher.Die Grünen gehen ja sogar so weit, zu fordern, dass be-stimmte Geldanlagemöglichkeiten für weniger Gebildeteausgeschlossen werden sollten, um sie vor dem Risikozu schützen.
Ähnliche Vorschläge finden wir auch im heute vorlie-genden Antrag der SPD. Nein, das ist nicht unser Leit-bild des modernen und mündigen Verbrauchers. DieCDU/CSU traut den Bürgern an dieser Stelle viel mehrzu.
Für uns soll der Verbraucher informiert und selbst-bestimmt sein. Das ist unser Leitbild im Verbraucher-schutz. Wie informieren wir? Was haben wir bislang zurbesseren Information für die Verbraucher getan? HerrMüller hat einige Beispiele genannt: das Verbraucher-informationsgesetz, die Internetplattform www.lebensmittelklarheit.de, die verbesserte Kennzeichnung vonLebensmitteln, die Produktinformationsblätter, also diesogenannten Beipackzettel.Der Verbraucher sollte für uns aber nicht nur infor-miert, sondern auch selbstbestimmt sein. Wie stärkenwir als CDU/CSU die Selbstbestimmung des Verbrau-chers? Es darf keine Voreinstellungen beim Internet-geschäft geben. Egal ob bei Facebook oder Google: DerNutzer soll selbst bestimmen, was von ihm gespeichertwird. Wir haben die Buttonlösung eingeführt; es gibtalso klare Regeln bei Käufen im Internet. Daneben wol-len wir die Honorarberatung ausbauen.Aber: Woher wissen wir eigentlich, was Verbraucherwollen? Klar, jeder von uns selber ist Verbraucher, undjeder würde, wenn er gefragt würde, eine andere Ant-wort geben. Interessant ist, das Muster darin zu finden,die Regel, nach der sich die meisten richten – bewusstoder unbewusst.Als Beispiel nenne ich unsere Neigung, die Forscherherausgefunden haben, zum Beispiel bei Chips oderSchokolade kleinere Packungen zu bevorzugen, selbstwenn sie teurer sind, weil wir uns quasi vor uns selberschützen wollen. Wir kennen uns selbst sehr gut undwissen: Wenn wir erst einmal mit dem Essen angefangenhaben, dann essen wir die ganze Packung auf, ob siegroß oder klein ist. Es ist daneben auch eine Tatsache,dass wir Geld lieber regelmäßig in kleineren Mengenzurücklegen, um das Sparziel zu erreichen, weil unsunsere Erfahrung gelehrt hat, dass uns am Ende die Kraftfür einen großen Spareingriff fehlt.Also sind Logik und reine Mathematik wohl nicht dieeinzigen Ratgeber für uns Verbraucher. Das müssen wirbedenken, wenn wir Informationen vermitteln wollen.Die Wissenschaft kann uns dabei helfen, zu ergründen,wie Verbraucher reagieren und nach welchen Regeln siehandeln, damit sie das nutzen, was gesetzlich möglichund von uns gewollt ist.Die SPD fragt mit ihrem Antrag nach unserem Leit-bild, nach dem Leitbild der CDU/CSU, im Verbraucher-schutz. Wir sagen: In der Verbraucherpolitik geht es imKern um Vertrauensschutz. Ohne Vertrauen funktioniert
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19894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Mechthild Heil
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keine Beziehung – zwischen Käufer und Verkäufer nichtund zwischen Kunden und Anbietern auch nicht. AberVertrauen kann man eben nicht gesetzlich verordnen.Viele sind genau davon überzeugt. Mehr noch: Es gibtMenschen, die sagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle istbesser. Dahinter steht die Vorstellung: Je mehr Kon-trolle, umso mehr Vertrauen kann wachsen. Aber das istkomplett falsch. Klar, Kontrolle muss sein, aber Ver-trauen wird und kann man nicht erzwingen und auchnicht verdienen. Vertrauen schenkt man.Am besten kann man dieses Phänomen an kleinenKindern beobachten. Sie verschenken ihr Vertrauen.Wenn sie es einmal nicht tun: Welche Energie wendenErwachsene dann auf, um das Vertrauen des Kindes zuerringen, zu erschleichen, zu erkaufen? Es ist ein sehrschwieriges Unterfangen, Vertrauen zurückzugewinnen,wenn es erst einmal verloren gegangen ist. Deshalb mussunser gemeinsames Interesse eigentlich doch darin lie-gen, die vertrauensvollen Beziehungen zwischen Ver-brauchern und Anbietern und zwischen den Herstellernund den Konsumenten zu stabilisieren.
Das ist unsere Verantwortung, und daran arbeiten wir.
Mit Gesetzen schaffen wir dabei den Rahmen, aberwir können noch weit mehr tun, als Gesetze zu verab-schieden. Wir tragen auch einen Teil der Verantwortungfür das Klima zwischen den Verbrauchern und denAnbietern. Wir Politiker können Verunsicherung undMisstrauen befeuern, weil sich schlechte Nachrichtenbesser verkaufen lassen als gute und weil Einzelfälle zuMassenphänomenen hochstilisiert werden. Wir haben esaber genauso in der Hand, für gute Information und fürAufklärung zu sorgen, für eine richtige Einordnung derDinge einzutreten und Einzelfälle wie Massenphäno-mene als solche zu benennen.Wir wollen das Vertrauen zwischen allen gesellschaft-lichen Gruppen stärken, weil das der Kitt ist, der unsereGesellschaft zusammenhält. Wir wollen stabile, vertrau-ensvolle Geschäftsbeziehungen ermöglichen, weil nur sounsere soziale Marktwirtschaft erfolgreich sein kann.Wir wollen gute Information und Transparenz für denKunden, damit er die richtige Kaufentscheidung treffenkann. Wir wollen Spielregeln, aber keine Bevormun-dung. Dafür steht die CDU/CSU-Fraktion.Vielen Dank
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat jetzt für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der großenMarktmacht der Verbraucher, vom Einfluss jedes einzel-nen Verbrauchers auf den Markt hat Ministerin Aignerletzte Woche anlässlich des Weltverbrauchertags gespro-chen. Sie sprach von der Macht des Verbrauchers, diemit der Vielfalt des Marktes wachse und Verbraucherüber den Erfolg und das Scheitern eines Geschäfts-modells entscheiden lasse. „Doch die Verhältnisse, siesind nicht so“, sagte schon Bertolt Brecht. Ich nenneIhnen ein paar Beispiele.22 000 Beschwerden pro Monat von Verbraucherin-nen und Verbrauchern, die in Internetkostenfallengetappt sind, zeugen doch nicht gerade von der Macht,über Erfolg oder Scheitern dieses Geschäftsmodells zuentscheiden. Im Gegenteil: Diese Kostenfallen habensich offensichtlich als sehr lukrativ für die Anbietererwiesen, bis nun endlich mit der Buttonlösung ein Rie-gel vorgeschoben wurde.Oder: Spielzeug darf ganz legal und ohne Kennzeich-nung Chemikalien enthalten, die den Hormonhaushaltvon Kindern nachhaltig stören können. Wie wollenEltern ebenso wie der einzelne Verbraucher über seineNachfrage das Angebot steuern und dieses Geschäfts-modell zum Scheitern bringen?Oder: Verbraucher zahlen als Fremdabheber an man-chen Geldautomaten 7,50 Euro für eine Auszahlung, dieweniger als 1 Euro kostet. Zahlen Verbraucher dies gernund bewusst, weil sie dieses Geschäftsmodell unterstüt-zen wollen?Oder: Verbraucher lehnen zu 80 Prozent gentechnischveränderte Pflanzen auf dem Acker und dem Teller ab.Dennoch unterstützen sie unfreiwillig den Anbau solcherPflanzen. Denn tierische Produkte wie zum BeispielMilch von Kühen, die mit GVO-Pflanzen gefüttert wor-den sind, müssen nicht gekennzeichnet werden. Auchhier profitiert ein Geschäftsmodell von Intransparenz,und Intransparenz ist die größte Widersacherin der Ver-brauchermacht.
Immerhin gibt es in diesem Fall eine Alternative, weilwir die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung für Pro-dukte, bei denen auf die Verfütterung von GVO verzich-tet wurde, durchgesetzt haben.Verbrauchermacht? „Doch die Verhältnisse, sie sindnicht so.“ Aber die Bundesregierung ignoriert dasUngleichgewicht der Kräfte zwischen Anbietern undVerbrauchern. Die Bundesregierung drückt sich vor derVerantwortung und setzt dort auf die Mündigkeit undMacht der Verbraucher, wo gesetzliche Regelungen not-wendig wären.
Die Bundesregierung hat ein Bild von den Verbrau-chern und ihrer Mündigkeit, welches weder mit den rea-len Bedürfnissen und Problemen der Verbraucher noch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19895
Elvira Drobinski-Weiß
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mit der Komplexität und Intransparenz des Marktes zuvereinbaren ist.Die Bundesregierung hat kein Konzept für ihre Ver-braucherpolitik. Wenn Skandale – wir haben in den ver-gangenen Monaten etliche erlebt – Verwerfungen amMarkt offenbaren, reagiert sie mit zweifelhaften Infor-mationsangeboten, leeren Ankündigungen oder freiwil-ligen Vereinbarungen mit der Wirtschaft. Eine Gesamt-strategie hat diese Bundesregierung nicht. Die gibt eseinfach nicht.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenhaben Leitlinien für eine Neuausrichtung der Verbrau-cherpolitik vorgelegt. Wir wollen, dass der Markt für dieMenschen da ist – und nicht umgekehrt.
Auch wir wollen, dass Verbraucherinnen und Ver-braucher selbstbestimmt am Markt agieren und bewusstwählen können; das ist nicht ausschließlich ein Prä derFDP. Aber wir sehen den Tatsachen ins Auge und sagen:„Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, und daranmüssen wir arbeiten.Denn am Markt gibt es ein Ungleichgewischt derKräfte zwischen Anbietern und Verbrauchern. Durchweltweiten Handel und technologischen Fortschritt kön-nen Verbraucher aus einer Vielzahl an Waren und auchDienstleistungen auswählen. Gleichzeitig ist dieserMarkt extrem intransparent. Woher kommen die Warenwirklich? Unter welchen Umständen wurden sie produ-ziert? Was genau ist drin? Welche Leistungen umfassenVerträge, und zwar unter welchen Bedingungen, mitwelchen Risiken und zu welchen Kosten?
Für Verbraucher ist es oft schwierig – und manchmalsogar unmöglich –, verständliche und vergleichbareInformationen zu bekommen.Auch die Verbraucher selbst entsprechen nicht demBild, das die Bundesregierung von ihnen hat. Die Ver-braucherforschung zeigt, dass es den mündigen Verbrau-cher, der immer rational und selbstbestimmt entscheidet,nicht gibt. So setzt die gesamte Werbebranche darauf,dass er sich von Emotionen und von Stimmungen beein-flussen lässt.Alle Menschen sind Verbraucher – das hat sogar dieKollegin Heil festgestellt –, und ihre Interessen und Pro-bleme sind so verschieden wie ihre Lebenssituation, ihrEinkommen, ihre Herkunft, ihr Geschlecht, ihr Alter. Sieunterscheiden sich in ihren Verhaltensmustern und vari-ieren diese je nach Produkt, Laune oder Einkaufssitua-tion. Manche informieren sich gern und ausführlich, bei-spielsweise vor der Anschaffung von Elektrogeräten,greifen aber im Lebensmittelmarkt einfach blind zu.Andere vertrauen aus Bequemlichkeit oder Zeitmangelauf das, was der Anbieter sagt. Manche möchten danachauswählen, ob der Unternehmer oder das Unternehmenfaire Löhne zahlt. Für andere sind Informationen sounverständlich, dass sie diese gar nicht erst lesen.Wir wollen Verbraucher, unabhängig von Herkunft,Bildungsstand und finanziellen Möglichkeiten, vorunlauteren Geschäftspraktiken schützen, vor dem Miss-brauch ihrer Daten, vor unsicheren Produkten und vorexistenzbedrohenden Fehlentscheidungen, beispiels-weise bei der Alterssicherung.Wir wollen sie in ihren Rechten und Möglichkeitenzur Mitgestaltung des Marktes stärken. Deshalb brau-chen wir eine gründliche Analyse der Schwächen bei derRegulierung des Marktes, der Überwachung, der Trans-parenz, der Rechte der Verbraucher. Mit unseren Leit-linien stellen wir die Verbraucherpolitik auf eine neueBasis. Wir werden die Ergebnisse der Verbraucherfor-schung, insbesondere die der Verhaltensökonomie, nut-zen, um Regelungen und Instrumente zu entwickeln, dieauf die realen Verbraucherinnen und Verbraucher undihre Bedürfnisse und Probleme zielen. Wir wollen wis-sen, wie die Verbraucher wirklich ticken und wie Infor-mationen für Verbraucher aussehen müssen, damit sieverständlich, vergleichbar und schnell erfassbar sind.Die misslungenen Beispiele sind von Uli Kelber und vonFrau Maisch hier schon genannt worden.Wir wollen wissen und testen, ob Verbraucher tat-sächlich verstehen, was in Produktinformationsblätternsteht. Das Verbraucherministerium muss prüfen, obMärkte verbrauchergerecht sind. Hierfür muss es wieetwa der Normenkontrollrat für Bürokratieabbau eineextra Befugnis bekommen. Wir wollen prüfen: Wo mussder Markt transparenter werden, damit Verbraucherselbstbestimmt entscheiden können? Wo müssen dieAnbieter stärker in die Pflicht genommen werden? Womuss der Staat für mehr Schutz sorgen? Zudem wollenwir diese Erkenntnisse nutzen, um gesetzliche Regelun-gen in einem Verbrauchercheck auf ihre Wirksamkeithin zu überprüfen.Wer gute Politik macht, braucht den Realitätschecknicht zu fürchten, sondern kann ihn im Interesse der Ver-braucher nutzen. Unser Ziel ist der Markt für die Men-schen, der sich an den Bedürfnissen und Problemen derVerbraucher orientiert und auf dem die Anbieter transpa-rent und gesellschaftlich verantwortlich agieren.Das ist ein neuer Ansatz. Wir freuen uns, wenn Siesich mit uns auf diesen Weg begeben. Ich fürchte nur:„Die Verhältnisse, sie sind nicht so.“Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hans-MichaelGoldmann das Wort.
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19896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich war sehr zufrieden, als ich die Thematikim Antrag der SPD las, weil uns das Gelegenheit gibt,dieses Thema zu diskutieren, das über die Zeit meinerZugehörigkeit zum Parlament, nämlich seit 1998, immerwichtiger geworden ist und das vor allen Dingen vieleMütter hat, die es auf den Weg gebracht haben. Ich willüberhaupt nicht ausschließen oder auch nicht unerwähntlassen, dass es sicherlich auch Frau Künast war, die hierin besonderer Weise die Weichen gestellt hat. Aber ichfinde, man sollte dann auch so viel Respekt vor der Ar-beit der Bundesregierung, der Regierungsfraktion unddes Ausschusses haben, dass man sich an der Wahrheitorientiert.
Ich finde, Herr Staatssekretär Müller hat beeindruckenddargelegt, was wir hier abarbeiten.Gestern habe ich mich zwei Stunden lang sehr qualifi-ziert mit dem Marktwächter auseinandergesetzt. Ichmuss ehrlich sagen: Ich bin ein bisschen traurig darüber,dass wir alle gemeinsam feststellen, dass es in diesemBereich noch Handlungsbedarf gibt, und dann in denBeiträgen der Opposition hier so getan wird, als ob wirnichts getan, als ob wir für die Verbraucher nichts aufden Weg gebracht hätten. Wir haben die Situation desVerbrauchers am Markt seit Jahren, aber in besondererWeise in der schwarz-gelben Regierungszeit deutlich ge-stärkt.
Wir haben die Situation des Verbrauchers am Markt stär-ker abgesichert, indem wir eine Lebensmittelkennzeich-nung eingeführt haben, die Aussagekraft hat. Wir habenallergene Stoffe benannt und die Schriftgröße auf Verpa-ckungen so vergrößert, dass man die Aufschrift gut lesenkann. Von Kleinigkeiten bis hin zu den großen Würfenhaben wir die Dinge auf den Weg gebracht. Wir habenein Verbraucherinformationsgesetz gemacht, das diesenNamen verdient und das vorher bei allen Regierungs-konstellationen und Mehrheiten im Parlament geschei-tert ist. Deshalb tun Sie bitte nicht so, als ob wir nichtviel erreicht hätten!
Ich bin überrascht, wie Sie den Antrag vertreten, HerrKelber. Es gibt gar keine Strategie. Nehmen wir nur denKernsatz, den Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, mitdem Sie die Bundesregierung auffordern, „eine verbrau-cherpolitische Strategie vorzulegen und die Grundlagen,Leitbilder, Instrumente und Ziele der Verbraucherpolitikdarzustellen“. Ich habe Oppositionsarbeit bis jetzt andersverstanden.
– Hier ist Ihr Antrag. Was Sie in der Hand haben, ist einDokument der Bundesregierung.
In Ihrem Antrag haben Sie nicht einen einzigen Lö-sungsvorschlag gemacht. Das gilt auch für das, wasElvira Drobinski-Weiß gerade gefordert hat. Elvira,nichts davon ist in dem Antrag enthalten.
– Nein, Herr Kelber, ich kann nicht nur Schwarz-Weiß.
– Soll ich weiter vorlesen, was Sie fordern?
Sie fordern, „das Leitbild des ‚mündigen Verbrauchers‘nach einem Realitätscheck weiterzuentwickeln und ver-braucherpolitische Maßnahmen auf die ‚realen Verbrau-cher‘ auszurichten“.
– Ja, Herr Kollege Kelber, aber dazu fordern Sie dieBundesregierung auf. Sie müssen doch selbst eine Vor-stellung haben, was nach Ihren Überlegungen das Leit-bild eines mündigen Verbrauchers ist.
– Das mag ja sein, Herr Kelber. Aber ich finde es hoch-interessant, dass die Broschüre, die Sie hochhalten, nichteine einzige Antragsinitiative oder Wortmeldung imAusschuss ausgelöst hat.
– Sie hätten schon vielfach Gelegenheit gehabt, bei einerFülle von Anträgen, Anhörungen und Begegnungen imAusschuss diese Thematik auf den Weg zu bringen.
Lassen Sie mich noch einen anderen Bereich anspre-chen, Herr Kelber. Es gibt einen Konflikt zwischen dem,was der Staat für die Verbraucher tun muss – dafür musser einiges tun –, und dem, was die Verbraucher für sichselbst tun. Ich warne entschieden davor, darauf zu ver-trauen, dass der Staat in allen Lebenslagen die Bedürf-nisse der Menschen reguliert. Das wird nicht glücken.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19897
Hans-Michael Goldmann
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Frau Drobinski-Weiß, Sie haben eben wieder vielGeld für Einrichtungen gefordert, die die Verbraucher-aufklärung voranbringen.
Wir haben aber auch eine andere zentrale Verpflichtung:Wir müssen den nachfolgenden Generationen konsoli-dierte Haushalte übergeben.
Dafür müssen wir auch darauf setzen, dass die BürgerEigenanstrengungen unternehmen, um den Herausforde-rungen zu begegnen.
Sie, Frau Lay, haben den mündigen Verbraucher in-frage gestellt. Wir können uns auch über den kundigenund den wissenden Verbraucher unterhalten. Aber dassan Wissen und Selbstinformation in diesem Bereich keinWeg vorbeiführt, ist doch völlig unstrittig.
Liebe Freunde, ihr wisst selbst, dass ihr hier ganzschlechte Karten habt.
– Da brauchst du nicht zu lachen, Elvira. Dabei hilft dirauch deine GVO-Dauerproblematik nicht. Du musstfeststellen – das haben Herr Müller, die Kollegen vonder CDU/CSU und der Kollege Schweickert dargelegt –:
Wir fügen Steinchen für Steinchen ein verbraucherschüt-zendes Mosaik zusammen. Darauf sind wir stolz. In die-sem Bereich habt ihr nichts, aber auch gar nichts zu bie-ten.
Es werden seltsame Botschaften gesendet. Da bin ichvon Ihnen, Frau Maisch, enttäuscht.
Frau Maisch, Sie sind jemand, der im Ausschuss ver-nünftig arbeitet. Das zeichnet Sie aus.
Aber, Frau Maisch, Sie sollten die Linie wahren. Sie dür-fen nicht behaupten, Kindermilch sei gesundheitsschäd-lich. Wenn Kindermilch gesundheitsschädlich wäre – dasist sie nicht; Sie wissen das auch –, dann müsste dieseMilch vom Markt genommen werden. Das muss sie abernicht. Ich bin – ich glaube, da sind wir völlig konform –für eine Änderung der Zusammensetzung dieser Milch.Der Zuckergehalt wird reduziert werden. Aber ein Pro-dukt, das gesundheitsschädlich ist – nichts anderes soll-ten wir dem Verbraucher hier von entscheidender Stelleaus verkünden –, gibt es auf dem deutschen Markt nicht.Das wäre absolut unverantwortlich. Wir können stolz da-rauf sein, dass unsere Produkte sicher sind. Daran solltenwir gemeinsam festhalten.
Es gibt noch viel zu tun. Lassen Sie uns das einge-denk der guten Tradition bei der Ausschussarbeit ge-meinsam angehen! Lassen Sie uns darüber freuen, dasswir einen Verbraucherausschuss haben, der einen hohenStellenwert in der Gesellschaft hat und der uns in der Ar-beit im Grunde sehr viel Freude bereitet!Danke schön.
Der Wunsch nach einer Zwischenfrage kam hier erst
an, nachdem die Redezeit abgelaufen war. Da Sie aber
angesprochen sind, Frau Maisch: Möchten Sie eine
Kurzintervention anmelden? – Das ist nicht der Fall.
Jetzt spricht die Kollegin Karin Binder für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Seitenlange allgemeine Ge-schäftsbedingungen oder das Kleingedruckte auf Verpa-ckungen könnten die Verbraucherinnen und Verbraucherja lesen. Tun sie das nicht, sind sie selbst schuld, wennsie übervorteilt werden. – So lässt sich die verbraucher-politische Strategie der Bundesregierung kurz zusam-menfassen. Als Linke sagen wir: Es ist Aufgabe derPolitik, Verbraucherinnen und Verbraucher vor Schön-färberei, Irreführung oder gar Täuschung zu schützen.
Manchem Unternehmen scheint nämlich jedes Mittelrecht zu sein, den Menschen das Geld aus der Tasche zuziehen. Verbraucherpolitik darf sich deshalb nicht daraufbeschränken, Kundinnen und Kunden gute Ratschlägezu geben.Entgegen der Vorstellung der SPD in ihrem Antragbehaupte ich: Das Leitbild des sogenannten mündigenVerbrauchers ist nicht weiterzuentwickeln. Es ist Un-sinn. Es ist längst überholt, und es ist nicht mehr als eineVerkaufshilfe. Wir brauchen keine verbraucherpolitischeHilfestellung zur Zielgruppendefinition für Industrie undHandel. Dieses sogenannte Leitbild täuscht darüber hin-weg, dass die Verantwortung einfach weg von den Her-stellern und Händlern auf die Kundinnen und Kundenübertragen werden soll. Das Aigner-Prinzip, der Ver-braucher müsse nur lernen, sich richtig zu informieren– selbst schuld, wer das Kleingedruckte nicht liest –,richtet sich gegen die Verbraucherinnen und Verbrau-cher. Die Linke macht da nicht mit.
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19898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Karin Binder
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Die Voraussetzung für gute Verbraucherinformationsind Transparenz und Offenheit. Ein wichtiges Beispielsind Lebensmittel. Ministerin Aigner aber macht Essenzur Verschlusssache. Wie sonst kommen irreführendeBegriffe für Lebensmittel wie Formfleisch oder Frucht-cremefüllung, die kein Fruchtfleisch enthält, zustande?Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission tagt ge-heim. Ihre Beschlüsse sind unergründlich. Wie gelangenSchadstoffe, zum Beispiel Druckchemikalien, von derGetränkeverpackung in den Saft? – Betriebsgeheimnis!Welche Verstöße und Hygienemängel führen zur Schlie-ßung eines Schlachthofs? – Auch geheim!
Damit muss endlich Schluss sein.
Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht, zuerfahren, welcher Betrieb nicht genug auf Sauberkeitachtet und wie Schadstoffe ins Essen gelangen.
Frau Kollegin, Herr Schweickert möchte Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?
Aber gern.
Bitte schön.
Frau Kollegin Binder, vielen Dank für die Ermögli-
chung einer Zwischenfrage. Ist Ihnen bekannt, dass die
Bundesregierung das Verbraucherinformationsgesetz no-
velliert hat, dass wir damit genau in diesen Bereich
Transparenz bringen, dass der Verbraucher sehr wohl
weiß, wann Grenzwerte überschritten sind, wann und
warum ein Schlachthof geschlossen worden ist, und dass
wir genau in diesem Bereich gehandelt haben?
Lieber Kollege Schweickert, ich glaube, auch Sie
wissen, wie schwierig es ist, an solche Informationen zu
kommen; denn nach wie vor können sich die Betriebe
auf das Betriebsgeheimnis berufen und nach wie vor
müssen nicht alle Ergebnisse von Kontrollen offengelegt
werden. Solange das Ganze unter dem QS-Siegel oder
dem Stichwort „Eigenkontrolle“ läuft, hat die Öffent-
lichkeit keinen Anspruch darauf, das zu erfahren.
– Schön wäre es.
Es gäbe jetzt noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Goldmann. Möchten Sie diese auch zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Binder, Sie haben eben die Schließung
eines Schlachtbetriebs angesprochen und gesagt, dass
die Gründe dafür geheim seien. Können Sie sich daran
erinnern, dass wir gestern in der Ausschusssitzung einen
Tagesordnungspunkt zum Bericht über die Situation die-
ses Schlachtbetriebes hatten und ich trotz angespannter
Zeitsituation große Anstrengungen unternommen habe,
damit Sie rund eine Viertelstunde über die Situation in
diesem Schlachtbetrieb informiert werden?
Ihre Bedenken im Hinblick auf diesen Schlachtbetrieb
waren danach sicherlich weitestgehend ausgeräumt. Es
hat in dem Betrieb nämlich einen Umbau gegeben, der
zu einer besonderen Situation geführt hat, die aber ge-
genwärtig keine Hygieneprobleme mit sich bringt.
– Natürlich wurden sie ausgeräumt. Bei Friedrich
Ostendorff waren sie natürlich nicht ausgeräumt, weil
Herr Ostendorff grundsätzlich keine Bedenken ausräu-
men lässt, wenn er sich zu einer Sache einmal eine Mei-
nung gebildet hat.
Entschuldigung, jetzt hat die Kollegin Binder das
Wort, um auf die Frage zu antworten. Ansonsten sind
Zwischenrufe sehr willkommen.
Lieber Kollege Goldmann, ich stimme Ihnen zu: Wirhatten eine Ausschusssitzung, die sich mit diesemThema befasst hat. Allerdings ist diese Ausschusssit-zung nicht öffentlich gewesen. Die Öffentlichkeit erfährtnichts darüber, was in Bezug auf diesen Betrieb Ursacheund Wirkung war, was die Konsequenzen sind und wiedie Bevölkerung, die Verbraucherinnen und Verbraucher
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19899
Karin Binder
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künftig vor solchen Konsequenzen geschützt werden.Unsere Ausschusssitzung ist nicht öffentlich.Außerdem wurden unsere Bedenken nicht ausge-räumt. Es gibt noch sehr viel Beratungsbedarf. Ichstimme Ihnen zu: Wir haben ein Stück weit eine Klärungerreicht, aber ganz bestimmt keine endgültige, abschlie-ßende. Es muss definitiv noch beraten werden, insbeson-dere darüber, wie solche Probleme künftig vermiedenwerden können.
Ich bin der Meinung, dass der Staat in der Verantwor-tung ist, insbesondere wenn es darum geht, Menschenvor dem Ausverkauf der Daseinsvorsorge zu schützen;denn auch diesbezüglich werden sie mittlerweile zu Ver-braucherinnen und Verbrauchern degradiert. Rente,Krankheit, Bildung, Strom, Gas und Wasser gehörennach meiner Auffassung aber zur Daseinsvorsorge. Des-halb können die Menschen diesbezüglich nicht einfachzu Marktteilnehmern herabgesetzt werden. Wenn wir fürdas Alter vorsorgen wollen, sollen wir heute zur Bankgehen. Ohne es zu wissen, nehmen wir dann plötzlich anFinanzwetten teil oder werden zu Miteigentümern vonImmobilien, die es gar nicht gibt. „Selbst schuld“, sagtFrau Aigner. Nach meiner Auffassung muss es aber Be-reiche geben, in denen Menschen ausdrücklich geschütztund nicht auf den Begriff der Verbraucherin oder desVerbrauchers reduziert werden.
Dies gilt besonders bei den gesetzlich zu regelnden Ge-sundheits- und Pflegeleistungen wie auch bei allen ande-ren Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge.Für eine verbraucherfreundliche Gesellschaft, dienach dem Anspruch handelt, Verbraucherinnen und Ver-braucher zu stärken, zu schützen und zu informieren, be-nötigen wir erstens die Stärkung der persönlichen undgemeinschaftlichen Verbraucherrechte, zweitens einewirksame Marktüberwachung zur Kontrolle von Unter-nehmen und Betrieben, drittens gut ausgestattete undstarke Verbraucherorganisationen wie die Verbraucher-zentralen, viertens handlungsfähige und gut ausgestat-tete staatliche Kontrollbehörden, die alle Ergebnisse all-gemein verständlich zu veröffentlichen haben, fünftensein durchsetzungsstarkes Verbraucherministerium, dasim Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher han-delt, und sechstens moderne Ernährungs- und Verbrau-cherbildung.
Ich fasse zusammen. Die Linke fordert eine aktiveVerbraucherpolitik, welche die Rechte der Verbrauche-rinnen und Verbraucher in den Mittelpunkt stellt. DasLeitbild muss eine sozial gerechte und ökologisch nach-haltige Verbraucherpolitik sein. Wirksamer Verbraucher-schutz braucht handlungsfähige und durchsetzungskräf-tige öffentliche Institutionen sowie starke, finanziell gutausgestattete Verbraucherorganisationen. Gleichzeitigsetzen wir uns für die Rekommunalisierung bereits pri-vatisierter Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorgeein.
So geht Verbraucherschutz.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Carola
Stauche das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antragder SPD, der von uns, der christlich-liberalen Koalition,abgelehnt wird. Es ist schlicht und ergreifend nicht nö-tig, die Verbraucherpolitik neu auszurichten, wie es imAntrag gefordert wird.
Es wurde bereits von den Kollegen einiges dazu ge-sagt. Deshalb möchte ich heute meine Ausführungen aufden Bereich der Lebensmittelsicherheit beschränken.Frau Aigner hat bereits am 19. Januar zur Eröffnung derGrünen Woche die „Charta für Landwirtschaft und Ver-braucher“ vorgestellt. Nach unserem Verständnis gehörenLandwirtschaftspolitik und Verbraucherpolitik zusam-men. Gerade um die Lebensmittelsicherheit zu gewähren,muss beides ineinander übergehen. Ohne eine vernünf-tige Landwirtschaftspolitik können unsere Landwirtenicht diesen hohen qualitativen Standard der in Deutsch-land produzierten Lebensmittel gewährleisten.
Lebensmittel sind die Grundlage unseres Lebens. Bes-sere und sicherere Lebensmittel als in der Bundesrepu-blik Deutschland finden Sie nirgends in der Welt.
Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen undauch nach außen tragen.Das Bemerkenswerte an der Charta ist der Weg, dergegangen wurde, um zu den vorgestellten Ergebnissen zukommen. Landwirte, Verbraucher, Wirtschaftsverbände,Umweltschützer, Tierschützer und Kirchenvertreter ha-ben miteinander die Zukunft der Landwirtschaft disku-tiert. Durch diesen gemeinschaftlichen Diskussionspro-zess hat die Ministerin erreicht, dass es zur Überwindungmancher Meinungsverschiedenheiten kam. Viel wichti-ger ist jedoch, dass viele wertvolle DiskussionsbeiträgeEingang in die „Charta für Landwirtschaft und Verbrau-cher“ gefunden haben. Sie helfen uns, die künftige Politikzu gestalten.Dieser Weg einer gemeinsam gestaltenden Politik istes, der Ihre Argumente widerlegt, die Bundesregierunghabe es versäumt, das verbraucherpolitische Leitbild ei-
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19900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Carola Stauche
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nes mündigen Verbrauchers weiterzuentwickeln. Nein,das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregierung entwi-ckelt ihre Politik nicht über die Köpfe der Betroffenenhinweg, sondern bindet sie alle mit ein. Das ist ein Weg,der auch weiterhin gegangen werden soll. Ich freuemich, wenn ich lese, dass auch die Kolleginnen und Kol-legen der SPD einen mündigen Verbraucher fordern. Al-lerdings verstehen wir in der christlich-liberalen Koali-tion etwas anderes unter diesem Begriff.
Wir möchten den Verbraucher, den es in der stereotypenForm gar nicht gibt, nicht bevormunden.
Wir wollen ihn aufklären, ihm seine Möglichkeiten auf-zeigen und nur, wenn es gar nicht anders geht, regelndeingreifen.Das Bundesministerium hat hier in den letzten Jahrenbereits vieles getan. Nehmen wir das Beispiel der Le-bensmittelkennzeichnung. Die immer wieder und auchheute vonseiten der Opposition geforderte Lebensmit-telampel ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Verbrau-cher bevormundet, in die Irre führt oder sogar zur fal-schen Ernährung animiert. Das oft zitierte Beispielkennen wir alle: Cola mit drei grünen Punkten und ei-nem roten Punkt. Das ist einfach zu kurz gegriffen.Die Lebensmittelkennzeichnung ist klar geregelt undin ihrer momentanen Form verbraucherfreundlich. Eswird über Zusatzstoffe, Allergene oder genetisch verän-derte Organismen informiert und darüber, wie viel Ener-gie, Zucker, Fett oder Salz im Lebensmittel ist. Das Min-desthaltbarkeitsdatum muss gut lesbar sein. Auch mussdie Lebensmittelkennzeichnung über Beschaffenheit undHerstellung der Produkte aufklären, so zum Beispielüber Analogkäse oder Klebeschinken. Funktioniert dasalles nicht, wird getäuscht oder auf einem Produkt mit ir-reführenden Angaben geworben, besteht die Möglich-keit, mithilfe der Initiative „Klarheit und Wahrheit beider Lebensmittelkennzeichnung“ auf dem Internetportallebensmittelklarheit.de darauf hinzuweisen. Auch hier-bei ist der Dialog, hier von Unternehmern und Verbrau-chern, ein ganz wichtiges Element.Wir dürfen uns natürlich auf dem bisher Erreichtennicht ausruhen; das werden wir auch nicht tun. Wir wer-den und müssen die Verbraucher noch mehr über Le-bensmittel informieren.
Es gibt gerade nach den Erfahrungen mit Gesetzes-verstößen bei der Lebensmittelherstellung in den letztenJahren Verbesserungsbedarf, was die Effektivität derFuttermittel- und Lebensmittelkontrollen in den Ländernbetrifft. Hier gilt es die Koordination des Risikomanage-ments zu verbessern. Die Bundesregierung reagierte da-rauf mit dem Aktionsplan „Verbraucherschutz in derFuttermittelkette“. Dabei wurden Sicherheitsstandards inder Futtermittelkette deutlich erhöht und identifizierteSchwachstellen beseitigt. Das heißt jedoch nicht, dassdie Lebensmittelsicherheit und das Risikomanagementaus dem Fokus geraten. Der Plan des Bundesministe-riums, im Krisenfall die Kompetenzen des Bundes zustärken und das nationale Krisenmanagement neu auszu-richten, findet unsere volle Unterstützung.Dass Ministerin Aigner an Lösungen interessiert ist,zeigt das Beispiel IN FORM. Dieses Projekt wurde vonder Ministerin weitergeführt und ausgebaut. Das zeigtdeutlich, wie wichtig das Anliegen „gesunde Ernährung“und die damit verbundenen Themen durch die Bundesre-gierung genommen werden. Auch das momentan in derÖffentlichkeit diskutierte Thema Lebensmittelver-schwendung ist der Ministerin nicht neu. Vielmehr ist sieVorreiterin und hat bereits im Herbst vergangenen Jahreseine Studie zu diesem Thema beauftragt, die sie nächsteWoche der breiten Öffentlichkeit vorstellt.
Man sollte nicht alles überstürzen und in Aktionismusverfallen. Das hilft uns nicht weiter. Nur klares Denkenund Analysieren sowie gemeinsames Handeln unter Ein-beziehung aller Beteiligten bringt uns hier weiter. Dafürmöchte ich der Ministerin danken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesenknappen Beispielen wollte ich verdeutlichen, dass derVerbraucherschutz bei Ministerin Aigner gut aufgehobenist. Ihr Weg, alle Gesellschaftsgruppen in einen kon-struktiven Dialog zu führen, sollte wegweisend auch fürandere Politikfelder stehen, nicht nur in der Verbraucher-politik. Eine einseitige Bevormundung der Verbraucherist nicht im Sinne der Koalitionsfraktionen. Wir stehenfür den mündigen Verbraucher, nicht für den bevormun-deten. Ein mündiger Verbraucher muss die Freiheithaben, selbst zu entscheiden, und darf nicht von der Poli-tik, durch Gesetze und Verordnungen in seiner Entschei-dung eingeschränkt werden.
Ich danke Ihnen herzlich.
Die Kollegin Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal finde ich es gut, dass wir heute überden Verbraucherschutz diskutieren. Deshalb auch Dankan die SPD-Fraktion, dass sie diesen Antrag eingebrachthat. Letzte Woche fand der Weltverbrauchertag statt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19901
Bärbel Höhn
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Auch von daher ist heute ein guter Zeitpunkt, einmal Bi-lanz zu ziehen.Ich persönlich bin schon sehr erstaunt darüber, wel-che Bilanz hier von den Koalitionsfraktionen gezogenwird. Die Kritik richtet sich ja nicht gegen einzelnePunkte der Politik, die die Bundesregierung macht. Wirwissen selber, dass Verbraucherschutz ein so breites Feldist, dass man immer irgendeinen Punkt finden kann, beidem noch nicht genug getan wurde.
Das ist nicht der Punkt. Die entscheidende Frage lautetvielmehr: Was ist die Grundlage der Verbraucherschutz-politik dieser Bundesregierung? Da sage ich: Die Grund-lage ihrer Verbraucherschutzpolitik ist Symbolpolitik.Ministerin Aigner stellt sich hin, verkündet irgendetwas,und dann geht das Thema an ihre Kabinettskolleginnenund -kollegen, die wenig oder gar nichts machen. Das istdas Prinzip der Ministerin.
Das führt dazu, dass sie – zu Recht – als Ankündigungs-ministerin bezeichnet wird.Herr Schweickert, was ist denn mit den großen Erfol-gen wie dem Verbot von Telefonwerbung und den Rege-lungen zu telefonischen Warteschleifen, die Sie ange-führt haben? Das war schon jahrelang ein Thema. Nurdurch unseren Druck und durch den Druck der Öffent-lichkeit
haben Sie sich langsam bewegt. Trotzdem haben Sie bisheute keine guten Lösungen erreicht.
Noch heute sagen Sie: Wir müssen einmal schauen, obes in Zukunft eine schriftliche Bestätigung geben soll. –Dabei gibt es mittlerweile so viele Verträge, die denMenschen Schwierigkeiten bereiten. Sie haben bisherviel zu wenig getan.
Frau Höhn, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Schweickert zulassen?
Ja, bitte. Da ich nur wenige Minuten Redezeit habe,
können Sie ruhig eine Frage stellen, Herr Kollege.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Höhn, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen. Ist Ihnen bekannt, dass es Abzocke mit telefo-
nischen Warteschleifen nicht erst gibt, seit wir regieren?
Das war auch schon zu Ihrer Regierungszeit ein Thema.
Sie haben aber nichts getan. Ist Ihnen das bekannt?
Das Thema illegale Telefonwerbung ist vor andert-halb Legislaturperioden mal gekommen. Damals wurdensehr viele Menschen zu Werbezwecken angerufen. Ichwar zu dieser Zeit im Verbraucherausschuss und habe alsErste mit einem Grünen-Antrag die Debatte angestoßen.
Ich habe damals – so lange ist das schon her – noch mitdem damaligen Ausschussmitglied Frau Klöckner ver-handelt. Aber heute, Jahre später, ist das Problem immernoch nicht gelöst worden. Das ist der entscheidendePunkt.
Ich fordere Sie daher auf: Tun Sie einfach mehr!Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Ihnen ein Konzeptfehlt. Es gibt eine große Bandbreite von Themen. Sie sa-gen: Wir wollen die Verbraucher aufklären und den Ver-braucherschutz verstärken. – Genau da müssen Sie auchansetzen. Deshalb müssen Sie die Verbraucher struktu-rell stärken. Entscheidend dafür ist das Verbraucher-informationsgesetz.
Ich gebe der Kollegin Binder recht: Das Verbraucher-informationsgesetz ist den Namen nicht wert, den esträgt.
Denn es gibt immer noch wahnsinnig lange Zeitabläufe,ehe man die Info bekommt, und es kann immer noch vielzu leicht auf das Betriebsgeheimnis verwiesen werden.Außerdem sind die Bedarfsgegenstände nicht enthalten.Was Sie bis jetzt gemacht haben, ist viel zu wenig.Wenn Sie die Verbraucher stärken wollen – das ist einweiterer Punkt, den Sie angehen müssen –, dann müssenSie endlich in viel mehr Bereichen die Sammel-, Kollek-tiv- oder Gruppenklage einführen. Es gibt viele Fälle, indenen der Schaden für den einzelnen Verbraucher so ge-ring ist, dass er nicht klagt. Aber in der Summe handeltes sich um Abzocke. Hier endlich einmal die Bedenken
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19902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Bärbel Höhn
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der Bundesjustizministerin zu überwinden und Kollek-tivklagen einzuführen, um die Verbraucher in ihrenRechten zu stärken und sie zu schützen, wäre eine Auf-gabe, die Sie endlich angehen müssten.
Ein weiterer Bereich ist, dass wir diejenigen, die dieVerbraucher schützen wollen, finanziell besser ausstat-ten. 2011 umfassten die Werbeetats der Unternehmen inDeutschland insgesamt 30 Milliarden Euro. Lidl undAldi gaben je 200 Millionen Euro und McDonald‘s150 Millionen Euro für Werbung aus. Was bekommt dieStiftung Warentest? 1,5 Millionen Euro. Das ist viel zuwenig.
Wie hoch ist der Etat der Verbraucherzentrale Bundes-verband? 13 Millionen Euro. Auch das ist viel zu wenig.Wir müssen diejenigen, die die Verbraucher unterstüt-zen, in größerem Umfang stärken.
Ein letzter Punkt. Damit komme ich zu einem ganzaktuellen Beispiel. Es geht um die Lebensmittelver-schwendung. Monatelang haben wir darüber diskutiert.Vor wenigen Tagen konnten wir erleben, dass der Bergkreißte und eine Maus gebar. Wer ist wieder an dieserLebensmittelverschwendung schuld? Die Verbraucher;denn sie sind angeblich nicht in der Lage, das Mindest-haltbarkeitsdatum richtig zu interpretieren. Auf dieseWeise machen Sie Verbraucherschutz. Wenn Sie wirk-lich etwas gegen die Lebensmittelverschwendung ma-chen wollen, müssten Sie den gesamten Weg der Le-bensmittel vom Acker bis zum Teller im Blick haben;denn 40 Prozent der Lebensmittelverschwendung erfolgtauf dem Weg zum Verkauf.
Sie wollen sich aber nicht mit dem Handel anlegen, undSie wollen sich auch nicht mit denjenigen anlegen, diefür die Missstände verantwortlich sind. Deshalb schie-ben Sie alles auf die Verbraucher ab. Das ist Ihre Ver-braucherschutzpolitik.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. – Wir haben mit Renate
Künast die erste Bundesverbraucherschutzministerin
Deutschlands gehabt. Sie hat den Verbraucherschutz an
die erste Stelle im Namen ihres Ministeriums gesetzt.
Frau Kollegin!
Sie aber haben sofort nach Regierungsübernahme den
Verbraucherschutz an die dritte und damit letzte Stelle
des Ministeriumnamens gesetzt. Das war ein Fehler.
Aber genauso, nämlich als Allerletztes, behandeln Sie
den Verbraucherschutz.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Schweickert das Wort.
Frau Präsidentin, vielen Dank. – Frau Höhn, Sie ha-
ben genauso wie die Kollegin Binder vorhin behauptet,
dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse im VIG eine
allumfassende Schutzfunktion hätten. Darf ich Sie da-
rauf hinweisen, dass im alten VIG stand, dass Daten über
Verstöße in diesem Bereich keine Betriebs- oder Ge-
schäftsgeheimnisse seien. Im neuen VIG steht sogar,
dass jegliche Messwerte bezüglich der Grenzwerte, also
nicht nur deren Überschreitung, sondern auch deren
Unterschreitung, keine Betriebs- oder Geschäftsgeheim-
nisse seien. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und stel-
len Sie das nicht jedes Mal falsch dar.
Frau Höhn, zur Erwiderung, bitte.
Herr Kollege Schweickert, genau das ist weiterhin ein
Problem. Wir hatten gerade einen Fall. Die Kollegin
Binder – das hat der Kollege Goldmann gesagt – hat
einen Schlachthof erwähnt. Der Kollege Goldmann hat
als Ausschussvorsitzender verhindert, dass in der Tages-
ordnung der Name des Unternehmens stand. Ihr Be-
triebsgeheimnis geht so weit, dass Sie die Namen der
Unternehmen sogar in den Tagesordnungen der nichtöf-
fentlichen Sitzungen nicht aufführen wollen. Es werden
immer wieder Betriebsgeheimnisse vorgeschoben. Des-
halb wird immer wieder Information verweigert. Das
muss klarer werden. Das muss besser werden. Das, was
im VIG steht, ist weiterhin nicht ausreichend.
Das Wort hat der Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19903
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Dem Kollegen Gerig ist das Wort erteilt worden. Der
amtierende Präsident wird das auch so weiterführen. Der
Kollege Goldmann, so wie ich ihn kenne, findet immer
Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Bitte
schön, Kollege Gerig, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichhabe gut eineinhalb Stunden sehr entspannt, aber trotz-dem aufmerksam diese Debatte verfolgt. Mein Schluss:Es ist gut, dass die Oppositionsparteien in dieser Regie-rung nichts zu sagen haben,
sonst müsste man sich ganz schnell Gedanken darübermachen, wie die Verbraucher vor Ihrer Verbraucherpoli-tik geschützt werden könnten.
Glücklicherweise stellt sich diese Frage nicht.Sehr geehrte Frau Höhn, Ankündigungspolitik habenandere gemacht. Das, was wir von Ihnen gehört haben,war ein Wünsch-dir-was-Spiel ohne jedes Augenmaß,aber mit sehr viel Populismus.So schlecht kann unsere Verbraucherpolitik nichtsein. Wir alle können feststellen und in den Medien ver-folgen, dass unsere Menschen immer älter werden. Der„Verbraucherpolitische Bericht der Bundesregierung2012“, der in der vergangenen Woche vorgelegt wurde,widerlegt eindeutig die Behauptungen des SPD-Antragsund Ihre absurden Anschuldigungen. Tatsächlich hat dieKoalition in den vergangenen zweieinhalb Jahren eineganze Menge im Sinne der Verbraucherinnen und Ver-braucher bewegt. Unsere Zielsetzung ist eindeutig: Wirwollen einerseits starke Verbraucherrechte – dabei ste-hen Sicherheit und Transparenz im Mittelpunkt –,andererseits setzen wir aber auch auf die Selbstbestim-mung und Eigenverantwortung. Das heißt, wir brauchenkritische Verbraucher und dürfen den Menschen keinegefühlte absolute Sicherheit suggerieren.
Ich möchte betonen, dass wir viele der heute ange-sprochenen Themen und Probleme, bis hin zur Lebens-mittelverschwendung, glücklicherweise unserem Wohl-stand zu verdanken haben, einem Lebensstandard, derauch heute leider immer noch nicht bei der Mehrheit derWeltbevölkerung angekommen ist. Das ist ein Umstand,den man im Rahmen einer solchen Debatte durchaus ein-mal mit einer gewissen Ehrfurcht, Dankbarkeit, aberauch Hochachtung selbstkritisch zur Kenntnis nehmensollte. Mögen wir diesen Wohlstand erhalten, damit wiruns auch zukünftig einerseits eine solch komfortableVerbraucherpolitik leisten und uns andererseits darüberhinaus für Frieden und Wohlstand in der ganzen Weltengagieren können.Die Verbraucherpolitik sollte sich davor hüten, dievielfältige und komplexe Welt der Waren und Dienstleis-tungen in unserem Land in Gut und Böse einzuteilen.Der Bürger muss durch Verbraucherbildung befähigtwerden, sich selbst zu schützen und die Produkte zuwählen, welche für seine Lebenssituation am bestensind. Dieses Thema hat unsere Ministerin Frau Aignerdeshalb zu Recht zu einem Schwerpunkt ihrer Verbrau-cherpolitik gemacht.Die Verbraucherbildung muss sinnvollerweise schonin der Schule beginnen und quasi von Kindesbeinen anbei Konsumentscheidungen dazu befähigen, Kosten,Nutzen und Risiken für sich zu bewerten und dann ei-genverantwortlich zu handeln. Die Politik kann nur dieRahmenbedingungen gestalten, und zwar so, dass derVerbraucher in der Lage ist, selbstbestimmt und verant-wortungsbewusst zu handeln. Grundlegend ist nach mei-ner festen Überzeugung deshalb zweierlei:Erstens Transparenz. Die Anbieter haben alle relevan-ten Informationen zur Verfügung zu stellen, die die Ver-braucher für ihre Kaufentscheidung brauchen. Dort, woes an Transparenz fehlt, müssen wir als Gesetzgebernachhelfen.Zweitens Sicherheit. Verbraucher müssen vor Ange-boten geschützt werden, die eine Gefahr darstellen, ins-besondere dann, wenn es um die Gesundheit geht. Nurwenn die Sicherheit gewährleistet ist, kann Vertrauenentstehen und können die Märkte funktionieren.Die Koalition handelt genau in diesem Sinne, wie wirheute vielfältig vernommen haben. Ich möchte auf dieAufzählung einzelner Beispiele verzichten, weil sehrvieles bereits angesprochen wurde und überdies meineZeit knapp ist.Die Koalition ist nahe bei den Verbrauchern undnimmt all ihre Alltagssorgen sehr ernst. Der vorliegendeAntrag hingegen zeigt, dass sich die SPD mit dem Ver-braucherschutz sehr viel lieber in der Theorie befasst.Konkrete und praxistaugliche Lösungsvorschläge bleibtsie schuldig, wie heute auch schon einige meiner Kolle-gen gesagt haben. Solch einem Antrag können und wer-den wir mit Sicherheit nicht zustimmen.
Der Parlamentarische Staatssekretär Müller
ist bereits auf unseren Status im aktuellen Verbraucher-barometer der EU-Kommission eingegangen; das ist einhochamtliches Beispiel für unseren sehr guten Verbrau-cherschutz.Dem deutschen Verbraucher geht es im internationalenVergleich wirklich gut. Das kann und soll natürlich nichtbedeuten, dass wir die Hände in den Schoß legen. Wirmüssen weiterhin mit allen Mitteln daran arbeiten, diesenhohen Standard zu erhalten, und überall dort, wo sich– durch welche Einflüsse auch immer – verbraucherpoliti-sche Lücken auftun, diese konsequent schließen.
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19904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Alois Gerig
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Die Regierungskoalition wird die Verbraucherpolitik ge-nau in diesem Sinne weiterführen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Alois Gerig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe jetztdie Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8922 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis f sowie Zu-satzpunkte 2 a und 2 b auf:30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 25. November 2011 überdie Errichtung des Sekretariats der Partner-schaft für öffentliche Gesundheit und sozialesWohlergehen im Rahmen der NördlichenDimension
– Drucksache 17/8981 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-lung der Arbeitszeit von selbständigen Kraft-fahrern– Drucksache 17/8988 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsausschussc) Erste Beratung des von den Abgeordneten HalinaWawzyniak, Jan Korte, Diana Golze, weiterenAbgeordneten und der Fraktion DIE LINKEeingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Urheberrechtsgesetzes – Einbe-ziehung von Kindertagesbetreuungseinrich-tungen in die Schrankenregelungen– Drucksache 17/4876 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Mediend) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEAbschaffung der gesetzlichen Vermutung der„Versorgungsehe“ bei Eheschließung und ein-getragener Lebenspartnerschaft mit Beamtin-nen und Beamten nach dem Eintritt in denRuhestand– Drucksache 17/7027 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugende) Beratung des Antrags der Abgeordneten HerbertBehrens, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKein Bau der dritten Start- und Landebahnam Flughafen München– Drucksache 17/8607 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenéRöspel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDen Euratom-Vertrag an die Herausforderun-gen der Zukunft anpassen– Drucksache 17/8927 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaKolbe , Rüdiger Veit, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDProgramm zur Unterstützung der Sicherungdes Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufent-haltsrechts– Drucksache 17/9029 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Viola von Cramon-Taubadel, KatrinGöring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNeuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge-abkommen zurücknehmen– Drucksache 17/9036 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auswärtiger Ausschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19905
Vizepräsident Eduard Oswald
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RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis l auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 31 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Übereinkom-mens vom 17. März 1992 zum Schutz und zurNutzung grenzüberschreitender Wasserläufeund internationaler Seen– Drucksache 17/8725 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 17/8925 –Berichterstattung:Abgeordnete Ingbert LiebingWaltraud Wolff
Horst MeierhoferSabine StüberNicole MaischDer Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8925, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/8725 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ichsehe, das sind alle Kolleginnen und Kollegen aus allenFraktionen. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? –Niemand. Stimmenthaltungen? – Auch niemand. DerGesetzentwurf ist somit angenommen.Tagesordnungspunkt 31 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Dezember2010 über die Errichtung des FunktionalenLuftraumblocks „Europe Central“ zwischender Bundesrepublik Deutschland, dem König-reich Belgien, der Französischen Republik, demGroßherzogtum Luxemburg, dem Königreichder Niederlande und der Schweizerischen Eid-genossenschaft
– Drucksache 17/8726 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/8957 –Berichterstattung:Abgeordneter Uwe BeckmeyerDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8957, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/8726 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Kolleginnen und Kollegen der Koalitions-fraktionen, der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Stimm-enthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. Der Ge-setzentwurf ist somit angenommen.Tagesordnungspunkt 31 c:Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs,Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
, Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDPMarktwirtschaftliche Industriepolitik fürDeutschland – Integraler Bestandteil der So-zialen Marktwirtschaft– Drucksachen 17/8585, 17/9055 –Berichterstattung:Abgeordneter Garrelt DuinDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/9055, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8585anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –Das sind die Oppositionsfraktionen, Sozialdemokraten,Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltun-gen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.Tagesordnungspunkt 31 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu der Verordnung der BundesregierungDreiundneunzigste Verordnung zur Ände-rung der Außenwirtschaftsverordnung– zu der Verordnung der BundesregierungEinhunderteinundsechzigste Verordnung zurÄnderung der Einfuhrliste– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –
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19906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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– Drucksachen 17/8539, 17/8833 Nr. 2.1,17/8324, 17/8510 Nr. 2.1, 17/9056 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzDer Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung, die Aufhebung der Dreiundneunzigs-ten Verordnung der Bundesregierung zur Änderung derAußenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 17/8539nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichts-halber: Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? – Auchniemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 31 d. DerAusschuss für Wirtschaft und Technologie hat in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/9056 die Ein-hunderteinundsechzigste Verordnung der Bundesregierungzur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirt-schaftsgesetz – auf Drucksache 17/8324 mit einbezogen.Über diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend bera-ten werden. – Sie sind damit einverstanden.So kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-lung, die Aufhebung der EinhunderteinundsechzigstenVerordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zumAußenwirtschaftsgesetz – auf Drucksache 17/8324 nichtzu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! –Niemand. Stimmenthaltungen? – Die Linksfraktion. DieBeschlussempfehlung ist somit angenommen.Tagesordnungspunkt 31 e bis l. Wir kommen zu denBeschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 31 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 404 zu Petitionen– Drucksache 17/8904 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine.Die Sammelübersicht 404 ist infolgedessen angenom-men.Tagesordnungspunkt 31 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 405 zu Petitionen– Drucksache 17/8905 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? –Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Sammelüber-sicht 405 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 31 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 406 zu Petitionen– Drucksache 17/8906 –Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, die Fraktion der Sozialdemokraten und Linksfrak-tion. Wer stimmt dagegen? – Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 406ist somit angenommen.Tagesordnungspunkt 31 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 407 zu Petitionen– Drucksache 17/8907 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dage-gen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. DieSammelübersicht 407 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 31 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 408 zu Petitionen– Drucksache 17/8908 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-demokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. DieSammelübersicht 408 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 31 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 409 zu Petitionen– Drucksache 17/8909 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Links-fraktion. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. DieSammelübersicht 409 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 31 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 410 zu Petitionen– Drucksache 17/8910 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Bünd-nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemo-kraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand.Sammelübersicht 410 ist angenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19907
Vizepräsident Eduard Oswald
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Tagesordnungspunkt 31 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 411 zu Petitionen– Drucksache 17/8911 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Sozialdemokraten, Linksfraktion undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. DieSammelübersicht 411 ist angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKETarifrunde 2012 – Höhere Löhne durchsetzen,jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspek-tive bietenErster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für dieFraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitteschön, Kollege Klaus Ernst.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung wird nicht müde, die Situation in derBundesrepublik zu loben. „Wir sind gut aus der Kriseherausgekommen“, sagt Frau Merkel. Herr Brüderle, derheute nicht da ist, sagt, „deutliche Lohnerhöhungen“ wä-ren sinnvoll. Frau von der Leyen sagte im Februar in derBild – ich zitiere –:Das Grundversprechen der sozialen Marktwirt-schaft lautet: Wenn alle fleißig mitarbeiten, werdenalle am Erfolg und Wohlstand beteiligt.
Wunderschön.Schauen wir uns die Realität an. Verdi fordert 6,5 Pro-zent, mindestens 200 Euro. Diese Forderung ist voll-kommen richtig und entspricht dem, was die Bundes-regierung in öffentlichen Verlautbarungen sagt. DasAngebot der öffentlichen Arbeitgeber liegt bei 2,1 Pro-zent für 2012 und 1,2 Prozent für 2013. Das macht um-gerechnet pro Jahr nicht mehr als 1,77 Prozent. Das be-deutet, dass die Preissteigerungsrate über dem Angebotder öffentlichen Arbeitgeber liegt.Nun stellt sich die Frage – die auch wir uns stellenmüssen –: Haben denn die Krankenschwestern oder dieBeschäftigten bei der Müllabfuhr nicht ordentlich gear-beitet? Was ist mit den Angestellten in den Gemeindenoder Rathäusern? Was ist mit den Angestellten auf Bun-desebene? Warum sollen die Beschäftigten im öffent-lichen Dienst von der offensichtlich guten wirtschaft-lichen Entwicklung, die Frau Merkel so gelobt hat,abgekoppelt werden? Dafür gibt es keinen Grund.
Den Arbeitnehmern wird offensichtlich Geld wegge-nommen. Ich möchte das am Beispiel einer Kranken-schwester erläutern. In der Lohngruppe 7 erhält sie nachdrei Jahren gemäß Angebot der Arbeitgeber eine Lohn-erhöhung von 45,66 Euro. Nach Abzug der Preissteige-rung hat sie 15 Euro weniger als heute. In Ihrer Logik ar-beiten die Krankenschwestern oder andere Beschäftigtedes öffentliches Dienstes nicht vernünftig.Was Sie den Beschäftigten anbieten, ist nicht genug.Dafür sind Sie verantwortlich, auch der Innenminister.
– Selbstverständlich. Er ist in diesem Zusammenhangdoch auch Arbeitgebervertreter. Wenn Sie das nicht wis-sen, Herr Weiß, dann scheinen Sie nicht aufgepasst zuhaben.Ich kann Ihnen nur sagen: Was hier offensichtlich mitZustimmung der Bundesregierung angeboten wird, istnichts anderes als ein Hohn für die Beschäftigten, dieden Karren jeden Tag in Schichtarbeit, manchmal auchsamstags und sonntags durch Überstunden aus demDreck ziehen. Was jetzt passiert, ist gegenüber den Be-schäftigten eine Unverschämtheit!
Ich kenne Ihre Argumente. Es sind ganz einfache Ar-gumente: Es ist kein Geld da. Die öffentlichen Kassensind leer. – Wer trägt denn für die Leere der öffentlichenKassen die Verantwortung? Der Spitzensteuersatz wurdevon 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie verweigernhartnäckig die Einführung einer Vermögensteuer. Alleindurch die Steueränderungen von 2009 bis 2011, für diediese Bundesregierung verantwortlich ist, haben wir imJahre 2011 8,6 Milliarden Euro und im Jahre 20127,7 Milliarden Euro weniger in den Haushalten.Sie verweigern die Einführung eines gesetzlichenMindestlohnes. Die Prognos AG hat berechnet, dass beieinem Mindestlohn von 10 Euro ein positiver Haushalts-effekt von 12,8 Milliarden Euro erzielt werden würde.Das wären Mehreinnahmen in den Haushalten. Eine Ta-riferhöhung von 1 Prozent im öffentlichen Dienst kostet1,2 Milliarden Euro. Allein mit der Einführung eines ge-setzlichen Mindestlohnes wäre die Tarifrunde finanziert.
Sie verhindern, dass Geld in die Kassen öffentlicherHaushalte kommt, und beschweren sich dann, dass keinGeld da ist. Allein die DAX-Unternehmen haben im Jahr2011 einen Rekordgewinn von 100 Milliarden Euro er-zielt. Von 1 Prozent dieser 100 Milliarden Euro könntenSie für 400 000 Krankenschwestern eine Lohnerhöhungvon 200 Euro bezahlen. Das wäre so, wenn Sie sich wie-der zu einer vernünftigen Besteuerung auch der großenUnternehmen und der großen Einkommen entschließenkönnten. Die aber verweigern Sie.Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht gottgegeben, dassdie Kassen leer sind, sondern für die leeren Kassen – unddamit für die schlechte Situation der abhängig Beschäf-
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19908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Klaus Ernst
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tigten – sind diese Bundesregierung und diese Koalitionmaßgeblich verantwortlich.
Darum sage ich Ihnen: Hören Sie auf, mit den Be-schäftigten Katz und Maus zu spielen. Beteiligen Sie dieBeschäftigten endlich an der angeblich so guten Ent-wicklung in unserem Lande, und besteuern Sie die Ein-kommen vernünftig. In Frankreich wird gegenwärtig einSpitzensteuersatz für Millionäre von 75 Prozent disku-tiert.
Auch die Sozialdemokraten könnten sich noch einmalüberlegen, ob das bei Hollande so wirklich falsch ist. –Deshalb sage ich zum Schluss: Ich hoffe, dass die Be-schäftigten im öffentlichen Dienst nicht nachlassen, fürihre Forderungen zu kämpfen, und ich wünsche ihnenfür ihre Streiks den besten Erfolg. Die Linke wird dieseStreiks mit allem Nachdruck unterstützen, damit auch et-was Vernünftiges dabei herauskommt.
Ich bitte auch die Bürgerinnen und Bürger um Ver-ständnis, wenn im öffentlichen Dienst gestreikt wird. Eswird nämlich auch dafür gestreikt, dass wir nach wie voreinigermaßen vernünftige Ausbildungsvoraussetzungenfür Leute haben, die sich bereit erklären, in ihren Beru-fen im öffentlichen Dienst zu arbeiten, weil sie dort invernünftiger Höhe Geld verdienen. Wir brauchen einengut bezahlten, vernünftig organisierten öffentlichenDienst. Dann muss man auch vernünftig bezahlen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Ernst. – Nächster Redner in un-
serer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kollege
Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Tarifverhandlungen, wie sie zurzeit im öffentlichenDienst, in der Metallbranche und anderswo laufen, sindgelebte Tarifautonomie – so, wie sie in unserem Grund-gesetz geschützt ist, und so, wie sie zur Ordnung der so-zialen Marktwirtschaft gehört. Der Begriff Autonomiemacht schon deutlich, dass die Beteiligten – die Gewerk-schaften auf der einen Seite und die Arbeitgeberver-bände auf der anderen Seite – ohne Einflussnahme vonaußen ihre Angelegenheiten selbst betreiben und in Ver-handlungen hoffentlich zu einem für die Beschäftigten inallen Branchen guten Ergebnis kommen.
Das mit der Autonomie scheint die Linke aber nichtverstanden zu haben. Sowohl die Gewerkschaften alsauch die Arbeitgeberseite brauchen nämlich keine Rat-schläge aus der Politik bzw. aus dem Parlament, sondernsie nehmen ihre Verantwortung autonom wahr. Das istgut, das hat sich bewährt, und es sollte auch in Zukunftso sein.
Es wurden die Tarifverhandlungen im öffentlichenDienst angesprochen. Dabei nimmt in der Tat der Bun-desinnenminister – nicht das Parlament – die Rolle desArbeitgebervertreters wahr.
Für die Bundesländer sind es die Länderfinanzminister.
Für die Kommunen sind es die Vertreter der kommuna-len Seite.
Ich habe meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter re-cherchieren lassen, wie sich Vertreter der Linken in derVereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbändeverhalten. Die Kommunen haben schließlich die Verant-wortung für den größten Teil der Beschäftigten im öf-fentlichen Dienst. Demgegenüber ist die Zahl derBeschäftigten bei Bund und Ländern relativ klein. Diemeisten der im öffentlichen Dienst Beschäftigten arbei-ten bei Städten, Gemeinden und Landkreisen.
Ich habe also versucht, zu recherchieren, ob irgendeinLandrat, Bürgermeister oder Oberbürgermeister derLinkspartei in der Vereinigung der kommunalen Arbeit-geberverbände dafür plädiert hat, seitens der Arbeitgebermit einer anderen Verhandlungsstrategie in diese Tarif-verhandlungen zu gehen. Dem ist nicht so. Die Linkenschwätzen hier und plustern sich auf, während ihreKommunalvertreter selbstverständlich Arbeitgebersoli-darität üben, wie alle anderen auch.
Zu so einer Show, dazu, dass Sie hier im Bundestag der-maßen mit gespaltener Zunge reden, sage ich: Sapperlot!Das ist völlig daneben!
Ich finde, wir haben allen Grund, den Tarifpartnern,den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden, zudanken. Ich spreche bewusst von hoffentlich starken Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbänden; denn wir wün-
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Peter Weiß
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schen uns eigentlich, dass es in Zukunft wieder mehr Ta-rifbindung gibt und nicht weniger,
damit es ihnen gelingt, ohne politische Einflussnahme zueinem guten Verhandlungsergebnis zu kommen. Wennwir uns die Verhandlungen in der Vergangenheit an-schauen, stellen wir fest, dass ihnen das stets in beach-tenswerter Weise gelungen ist.Richtig ist: In der Finanz- und Wirtschaftskrise habendie Tarifpartner in sehr verantwortungsvoller Weise ge-handelt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer inDeutschland haben Kürzungen – Stichwort: Kurzarbeit –hingenommen. Deswegen ist es richtig, dass die Ge-werkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in Tarifverhandlungen in Zeiten, in denendie Wirtschaft wieder brummt und gute Einnahmen er-wirtschaftet werden, einen angemessenen Anteil für dieBeschäftigten fordern. Das tun sie in dieser Tarifrunde.
Ich bin fest überzeugt davon, dass die Gewerkschaftendiese Forderung in angemessener Art und Weise durch-setzen werden.Selbstverständlich ist der Streik ein Mittel, damit Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren ForderungenNachdruck verleihen können.
Das Schöne ist, dass wir uns in Deutschland darüber ei-gentlich gar nicht aufzuregen brauchen; denn die Ge-werkschaften sind mit dem Mittel des Streiks über Jahr-zehnte in hochverantwortlicher Weise umgegangen.
Wir gehören in Europa zu den Ländern mit den allerwe-nigsten Streiktagen. Das zeigt, dass unsere Gewerk-schaften und unsere Arbeitgeberverbände hochprofes-sionell und in der Regel ohne Arbeitskampfmaßnahmenzu einem guten Ergebnis kommen. Deswegen bin ichüberzeugt: Auch in der Tarifrunde 2012 wird es gute Er-gebnisse für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin unserem Land geben.
Ich finde es bemerkenswert – das kam in der Redevon Herrn Ernst gar nicht vor –, dass die Gewerkschaf-ten eine ganze Reihe weiterer Themen in diese Tarifver-handlungen einbringen, die, wie ich meine, wirklich Zu-kunftscharakter haben. Ich nenne zum Beispiel denTarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ derIG BCE und die Bemühungen der IG Metall, besondereRegelungen für benachteiligte Jugendliche für die Be-rufsausbildung durchzusetzen. Ich finde, wir sollten alsPolitik froh sein, dass die Gewerkschaften und die Ar-beitgeberverbände zusätzliche Zukunftsthemen zur Ge-staltung unseres Arbeitslebens in die Tarifverhandlungeneinbringen und diese Diskussionen hoffentlich auch zueinem guten Ergebnis führen.Deswegen gilt: Unterstützung für gute und erfolgrei-che Tarifverhandlungen. Für uns Politiker der Ratschlag:Schuster, bleib bei deinem Leisten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unser Kollege Ottmar Schreiner. Bitte
schön, Kollege Ottmar Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Weiß, die Tarifautonomie vollzieht sichnicht im luftleeren Raum. Auf die Tarifautonomie wir-ken erhebliche Kräfte politischer Art; darauf komme ichgleich noch zurück. Ich glaube, wichtig ist, zu sagen,dass die Tarifautonomie, das Flächentarifsystem undeine starke Tarifbindung das Herz einer guten Lohnpoli-tik und fairer Arbeitsbedingungen ist und eine wesentli-che Grundlage für einen sozialen Konsens sind. Sie sindein zentrales Element der sozialen Marktwirtschaft.Ich will kurz aus dem Buch Wohlstand für alle despolitischen Vaters der sozialen Marktwirtschaft zitieren.Dort heißt es:Immanenter Bestandteil der Überzeugungen … istdas Verlangen, allen arbeitenden Menschen nachMaßgabe der fortschreitenden Produktivität aucheinen ständig wachsenden Lohn zukommen zu las-sen.
– Es ist ja nett, dass Sie klatschen, wenn ich ein Zitat vonLudwig Erhard vortrage.Das hat mit den seit vielen Jahren bestehenden Reali-täten nichts mehr zu tun.Ludwig Erhard hat dies übrigens damals in dem Kapi-tel „Der Rote Faden“ geschrieben. Von einem roten Fadender sozialen Marktwirtschaft ist nichts mehr zu sehen.Die Wirklichkeit sieht völlig anders aus als das, wasLudwig Erhard beschrieben hat. Es ist im Kern nichts an-deres als die Bekräftigung der sogenannten produktivi-tätsorientierten Lohnpolitik.Wir können zwar beobachten, dass es in den letztenzehn, zwölf Jahren deutliche Lohnzuwächse in den ge-werkschaftlich gut organisierten Industriebranchen, vorallen Dingen Metall und Chemie, gegeben hat. Übrigenssind das Engagement und die Mitgliedschaft in den Ge-werkschaften augenscheinlich die wirksamsten Mittelgegen Lohndrückerei; das erwähne ich nur am Rande.
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Ottmar Schreiner
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Wenn man sich die reale Entwicklung der Durchschnitts-löhne anschaut, und zwar nach Abzug der Preissteige-rungen, dann sieht man, dass die durchschnittlichenBruttolöhne in Deutschland von 2000 bis einschließlich2011 um circa 3 Prozent gesunken sind. Das hat mitLudwig Erhard überhaupt nichts mehr zu tun. Ein Rück-gang der Realeinkommen um 3 Prozent in den letzten11 Jahren beim Durchschnitt der Arbeitnehmerschaft istdas Gegenteil dessen, was Erhard als soziale Marktwirt-schaft beschrieben hat.Wenn man nach den Gründen sucht, findet man imWesentlichen drei, die mit der Tarifautonomie unmittel-bar nichts zu tun haben, aber natürlich auf die Tarifauto-nomie einwirken.Erster Grund. Das Tarifsystem ist zwar immer nochdas Rückgrat der Lohnentwicklung – das zeigen die Ent-wicklungen im Bereich der Industrielöhne –, aber wirhaben es mit einer deutlich nachlassenden Prägekraft desTarifsystems zu tun. Die Tarifbindungen sind seit Jahrenkontinuierlich. Nun hat Kollege Weiß eben gesagt: Wirwollen eine stärkere Tarifbindung. Kollege Weiß, demDeutschen Bundestag liegen drei Anträge von drei Frak-tionen vor, in denen gefordert wird, die Tarifbindungdeutlich zu stärken. Wenn Sie sagen, dass Sie die Tarif-bindung ebenfalls stärken wollen, bleibt es Ihnen unbe-nommen, sich einem dieser drei Anträge anzuschließen.Sie haben die freie Wahl. Am besten wäre es, wenn Siesich unserem Antrag anschließen würden.
Es hat keinen Sinn, hier große Sprüche zu machenund anschließend nichts zu tun.
– Selbst bei den Mamelucken war die Situation besser;das kann man wohl sagen. – Es liegen also mehrereAnträge vor, in denen gefordert wird, die Möglichkeit zuerleichtern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu er-klären. Allgemeinverbindlichkeit soll nach gemeinsa-mem Verständnis vor Lohndrückerei, vor unlauteremWettbewerb und ganz allgemein vor Schmutzkonkurrenzschützen.Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, werden inDeutschland aufgrund des Vetorechts der Arbeitgeber-seite zurzeit nur 1,5 Prozent der Tarifverträge für allge-meinverbindlich erklärt; das kann man vergessen.
In Frankreich werden 90 Prozent aller Tarifverträge fürallgemeinverbindlich erklärt. Hier gibt es also einen ge-waltigen Nachholbedarf, wenn Sie die Tarifautonomieund das Tarifsystem insgesamt in Deutschland stärkenwollen.Zweiter Grund. Es gibt einen massiven Zuwachs anprekärer Beschäftigung. Dazu wird ein Kollege von mirgleich noch etwas sagen. Die Gewerkschaften haben essich zum Ziel gesetzt, auch in dieser Lohnauseinander-setzung die Frage der prekären Beschäftigung zu thema-tisieren und Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufwuch-ses der Leiharbeit festzuschreiben. Wir haben es mit derRekordzahl von fast 1 Million Leiharbeitsverhältnisse zutun. Teilweise verdienen diese Personen trotz gleicherTätigkeit um die Hälfte weniger als Stammbelegschaf-ten. Das hat mit flexibler Arbeitsmarktpolitik überhauptnichts mehr zu tun. Das ist reine Lohndrückerei. Demmuss der Bundestag einen Riegel vorschieben.
Es ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften oder der Tarif-parteien, sondern es ist Aufgabe des Bundestages, dieRahmenverhältnisse so zu gestalten, dass solche Ferke-leien auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht mehr mög-lich sind.
Dritter Grund. Es gibt ein massives Anwachsen desNiedriglohnsektors; dieser wächst in Deutschland übri-gens so stark wie nirgendwo sonst in Europa. Die Zahlender Universität Duisburg zeigen, dass der Niedriglohn-sektor seit 1995 um 42 Prozent angewachsen ist. ImDurchschnitt verdienen im Niedriglohnsektor Beschäf-tigte in Westdeutschland 6,68 Euro und in Ostdeutsch-land 6,52 Euro pro Stunde. Das betrifft circa 8 MillionenMenschen, die jeden Anschluss an die allgemeine Wohl-standsentwicklung verlieren.Die Menschen in diesem Sektor mit einem Durch-schnittsverdienst von 6,68 bzw. 6,52 Euro brutto proStunde lesen in der Zeitung, dass der Vorstandsvorsit-zende von Volkswagen 17,5 Millionen Euro im Jahr ver-dient. Das zeigt, dass in Deutschland jedes Maß verlorengegangen ist.
17,5 Millionen Euro, das ist in etwa das 600-Fache des-sen, was der durchschnittliche Beschäftigte in Deutsch-land pro Jahr verdient.
Wie kann jemand 600-mal so viel Leistung wie einDurchschnittsverdiener erbringen? Das muss man mireinmal erklären! Nie zuvor hat es in Deutschland so ex-treme Unterschiede zwischen den Wohlstandszuwächsenin den oberen Einkommenssegmenten und den Wohl-standsverlusten in den unteren Einkommenssegmentengegeben. Eine solche Spaltung der Gesellschaft kanneine Demokratie auf Dauer nicht aushalten.
Deshalb muss zwingend auf der Tagesordnung stehen,dass die Politik die Rahmenbedingungen, ob steuerlicheroder anderer Art, so verändert, dass hier wieder einiger-maßen Maß und Ziel einkehren.
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Kollege Schreiner, kommen Sie langsam zum Ende?
Ich bin aber noch nicht am Ende.
In einer Aktuellen Stunde haben Sie nur fünf Minuten
Redezeit. Als langjähriges Mitglied dieses Hauses wis-
sen Sie das.
Ich bin noch nicht am Ende, aber ich komme zum
Ende, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ich wollte damit deutlich machen, dass das Tarifge-
schehen nicht im luftleeren Raum stattfindet. Es wird na-
türlich auch durch die Rahmenbedingungen beeinflusst,
positiv oder negativ.
Meine letzte Bemerkung. Der beste Beitrag, den wir
Politiker zur Stärkung der Tarifautonomie leisten kön-
nen, besteht darin, für eine Stabilisierung und Stärkung
des Tarifvertragssystems insgesamt zu sorgen. Es hat
sich in Deutschland über Jahrzehnte bewährt. Alle Maß-
nahmen, die notwendig sind, um dieses System für die
Zukunft zu stabilisieren, müssen von der Politik ergrif-
fen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Ottmar Schreiner. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal
Kober. Bitte schön, Kollege Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal ein Wort an Sie, lieber Herr Schreiner. Ichfinde es gut, dass Sie Ludwig Erhard lesen, seine Aussa-gen in diese Debatte einbringen und ihn zitieren. Ichmöchte darauf mit einem Zitat Ihres ParteifreundesFranz Müntefering reagieren;
es liegt allerdings nicht ganz so weit zurück wie das Zi-tat von Ludwig Erhard, das Sie angeführt haben. Am15. März dieses Jahres sagte Franz Müntefering imHamburger Abendblatt: „Ein Politiker sollte sich nichtin Tarifverhandlungen einmischen.“
Lieber Kollege Schreiner, Franz Müntefering hat recht.Ich empfehle Ihnen, sich darüber einmal mit ihm zu un-terhalten.
Ich bin gerne bereit, dieses Gespräch zu moderieren
und Ihnen zu Einsichten zu verhelfen.Da ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derLinkspartei, gerne glaube, dass Sie Franz Münteferingnicht als Gewährsmann für Ihre Politik akzeptieren wol-len,
– wie ich sehe, stimmen Sie mir zu –, halte ich auch fürSie ein Zitat bereit, das Ihnen vielleicht zu denken gebenwird. Lieber Kollege Ernst, Sie haben die Tarifverhand-lungen im öffentlichen Dienst angesprochen. In diesemZusammenhang ist mir eine Aussage der VereintenDienstleistungsgewerkschaft, Verdi, in die Hände gefal-len. Auf ihrer Homepage erklärt Verdi – Zitat –:Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwi-schen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbandund einer Gewerkschaft. Einmischen ist nicht er-laubt, das gilt auch für den Staat.
Lieber Kollege Ernst, Sie sollten vielleicht einmal da-rüber nachdenken, warum die Gewerkschaft Verdi sichjegliche Einmischung vonseiten der Politik verbittet.
Sie haben diese Aktuelle Stunde nicht allein deshalbbeantragt, um die Tarifverhandlungen im öffentlichenDienst zu debattieren. Das Thema dieser AktuellenStunde lautet „Tarifrunde 2012 – Höhere Löhne durch-setzen, jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektivegeben“. Sie fordern den Gesetzgeber explizit dazu auf, indie Tarifverhandlungen einzugreifen
und den Tarifpartnern entsprechende Empfehlungen zugeben. Diese Aufforderung, lieber Kollege Ernst, weisenwir entschieden zurück. Für diese Regierungskoalitiongilt nach wie vor: Die Tarifhoheit haben die Tarifpartner.Einmischung vonseiten des Gesetzgebers ist hier nichterwünscht.
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Pascal Kober
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Im Übrigen werden wir uns ganz genau anschauen,wie die Tarifverhandlungen im Lande Brandenburg, woSie an der Regierung beteiligt sind, verlaufen. Wir wer-den uns ansehen, welche Ergebnisse dort erzielt werden.Dort haben Sie nämlich Verantwortung. Dort können Siealso Einfluss nehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sollteman festhalten: Wir haben in Deutschland – darauf hatder Kollege Peter Weiß schon ausführlich hingewiesen –ausgezeichnete Erfahrungen damit gemacht, dass nichtdie Politik die Löhne bestimmt. Letztlich geht es bei Ta-rifverhandlungen nämlich darum, den richtigen Weg,den Mittelweg, zu finden: zwischen den Interessen derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, am Gewinn derUnternehmungen beteiligt zu werden, und den Interes-sen der Unternehmen, zu verhindern, dass durch zu hoheLöhne die Kosten für Dienstleistungen und Produkte zuweit in die Höhe schießen, sodass sie nicht mehr nachge-fragt werden, sodass Unternehmungen zugrunde und Ar-beitsplätze verloren gehen. Diesen Mittelweg können dieTarifpartner besser als wir hier im Parlament finden.Deshalb ist es klug, dass die Tarifhoheit bei den Tarif-partnern bleibt und wir vonseiten der Politik uns hiernicht einmischen.
Wir als Gesetzgeber schaffen hier die Voraussetzun-gen für eine gute Wirtschaftspolitik. Grüne und Rote ha-ben schon zu ihren Regierungszeiten Entscheidungengetroffen, die den Arbeitsmarkt in die richtige Richtungentwickelt haben.
Mit unserer wachstumsorientierten Beschäftigungspoli-tik, mit unserer wachstumsorientierten Wirtschaftspoli-tik und mit unserer klugen Bildungspolitik
schaffen wir weiterhin die Voraussetzungen dafür, dasssich das Wirtschaftswachstum hier in unserem Land ver-stetigt und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer langfristig an einer guten Entwicklung teilhabenkönnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Siehaben mit der von Ihnen beantragten Aktuellen Stundewieder einmal bewiesen, dass Sie keinerlei Interesse da-ran haben, durch konstruktive Beiträge in der Debattehier den Deutschen Bundestag zu bereichern.
Sie debattieren „in die Luft hinein“ und machen eineShow.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Siekönnten es eigentlich besser. Lernen Sie von uns! StellenSie kluge Anträge! Dann freue ich mich auf sinnvolleDebatten.
Vielen Dank, Kollege Kober. – Nächste Rednerin istunsere Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die FraktionBündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau KolleginMüller-Gemmeke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich muss es ebenfalls sagen: Tarifver-handlungen sind Sache der Tarifpartner, also sollte sichdie Politik eigentlich nicht einmischen.
Da wir heute aber nun einmal über die Tarifrunde 2012reden, möchte ich Ihnen meine vier Erwartungen an dieTarifpartner nennen:Erstens. Kräftige Lohnerhöhungen sind gerade jetzt,in der Euro-Krise, wichtig. Wenn die Löhne im Verhält-nis zur Produktivität niedrig sind, dann entstehen Un-gleichgewichte, und das ist eine zentrale Ursache derEuro-Krise. Mit dem bisherigen deutschen Wirtschafts-modell „Starker Export – schwacher Binnenmarkt“ ha-ben wir zwar unsere Wettbewerbsfähigkeit gestärkt,gleichzeitig haben wir aber einige Euro-Partner ge-schwächt und ins Leistungsbilanzdefizit getrieben. Sosieht das auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Erempfiehlt – ich zitiere –:Damit Deutschland Konjunkturlokomotive bleibt,brauchen wir kräftige Lohnerhöhungen zur Stüt-zung der Binnennachfrage.Dem kann ich mich nur anschließen.
Zweitens. Ganz real, also inflationsbereinigt, sind diedurchschnittlichen Bruttolöhne der Beschäftigten zwi-schen 2000 und 2011 gesunken, und zwar um 2,9 Pro-zent. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschungspricht zu Recht von einem verlorenen Jahrzehnt fürviele Beschäftigte. Auch deshalb ist es richtig, dassVerdi mindestens 200 Euro mehr für alle Beschäftigtenfordert. Wir brauchen solch eine solidarische Lohnpoli-tik. Spürbare Lohnerhöhungen, insbesondere in den un-teren Einkommensgruppen, sind also auch ein Gebot dersozialen Gerechtigkeit.
Drittens. Richtig und wichtig sind auch über Lohn-erhöhungen hinausgehende Forderungen. So wollenIG Metall, Verdi und NGG erreichen, dass junge Men-
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Beate Müller-Gemmeke
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schen nach Abschluss ihrer Ausbildung unbefristetübernommen werden. Gerade mit Blick auf den Fach-kräftemangel müsste es doch eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit sein, dass junge Menschen eine Perspek-tive erhalten. Die Realität sieht aber anders aus. DerTrend geht hin zur Befristung. In der Folge ist „Lebens-planung“ ein Begriff, über den die „Generation Probe-zeit“ nur noch müde lächeln kann. Vor allem geht esauch darum, dass die jungen Menschen spüren, dass siegebraucht werden, und dass sie sich in unserer Gesell-schaft aufgenommen fühlen.
Mit Blick auf den demografischen Wandel sind auchdie Forderungen der IG BCE richtig, die ihren Tarifver-trag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ weiterentwi-ckeln will. Ebenso wichtig sind die Forderungen derIG Metall nach mehr Mitbestimmung beim Einsatz vonLeiharbeitskräften. Daneben stellt sie sich ja die Auf-gabe, eine tarifliche Equal-Pay-Regelung zu verhandeln,wobei ich hier ganz klar sage: Ein Branchenzuschlag al-lein bedeutet noch kein Equal Pay.Mit all dem sind elementare Forderungen verbunden.Vor allem geht es für die Beschäftigten – dabei ist esegal, ob sie alt oder jung sind oder einen Job auf Zeit ha-ben – um Anerkennung und Wertschätzung.
Viertens. Morgen ist Equal Pay Day. Frauen verdie-nen noch immer über 20 Prozent weniger als Männer.Ich fordere alle Tarifpartner eindrücklich auf, die Tarif-verträge auf Entgeltdiskriminierungen hin zu überprü-fen. Diese Lohnlücke muss im 21. Jahrhundert endlichder Vergangenheit angehören. Denn Frauen verdienenmehr!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Erwartungenhabe ich natürlich nicht nur an die Tarifpartner, sondernauch an die Bundesregierung und an die Regierungsfrak-tionen. Sie reden heute wieder einmal viel über Tarifau-tonomie, und zwar mit großen Worten. Doch wie sollenTarifverhandlungen stattfinden, wenn in manchen Bran-chen überhaupt keine Arbeitgeberverbände mehr existie-ren? Wie sollen Tarifverträge wirken, wenn Tariffluchtund OT-Mitgliedschaften zunehmen? Wie sollen Ge-werkschaften erfolgreich verhandeln, wenn Leiharbeitund Befristung weiter zunehmen und Betriebsteile perWerkvertrag ausgegliedert werden? Nehmen Sie dochendlich diese bedenkliche Entwicklung zur Kenntnis undtun Sie etwas dagegen.Wir brauchen auf dem Arbeitsmarkt soziale Leitplan-ken zur Stärkung der Gewerkschaften, zum Vorteil derBeschäftigten und übrigens auch zum Vorteil der tarif-treuen Betriebe. Entscheidend sind Mindestlöhne undmehr allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Einentsprechender Antrag von uns – Kollege Schreiner hatschon darauf hingewiesen – liegt Ihnen bereits vor.Reden Sie also nicht immer nur über Tarifautonomie,sondern handeln Sie endlich!Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Jetzt
spricht als nächster Redner für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kol-
lege Schuster.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Sie werden sicher verstehen, dass ich es als Be-richterstatter für den Bereich öffentlicher Dienst – inso-weit möchte ich beim Thema bleiben – im Namen derCDU/CSU nicht gutheißen kann, dass wir uns heute miteiner Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag in dieheiße Phase der laufenden Tarifverhandlungen im öf-fentlichen Dienst einmischen.
Aber wen wundert das Ganze bei diesem Antrag-steller! Die Linke beweist damit nur fortgesetzt ihr juris-tisches Unvermögen, private und öffentlich-rechtlicheAufgabenverteilungen in diesem Land getrennt zu be-handeln.
Wir haben in Deutschland zum Glück das grundgesetz-lich geschützte Recht der Tarifpartner, durch freieVereinbarungen Tarifverträge auszuhandeln, ohne dasseine staatliche Stelle mitwirkt oder sich einmischt. Dasist übrigens exakt das Gegenteil Ihres staatszentriert-sozialistischen Denkansatzes.
Inhaltlich wäre damit eigentlich alles gesagt. Da ichaber befürchte, dass in den kommenden Jahren ähnlichfruchtlose Debatten geführt werden, investiere ich nochein paar Minuten für einen eventuell zu erzielenden Er-kenntnisgewinn bei den Damen und Herren der Linken.Die Tarifautonomie umfasst das Recht der eigenstän-digen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingun-gen durch Tarifverträge. Es ist ein spezielles Recht derVerbände des Arbeitsmarktes und beruht auf Art. 9Abs. 3 Grundgesetz. Diese Eigenständigkeit verstehenwir als Freiheit, als einen Wert an sich, den es ganzbesonders zu schützen gilt. Das bedeutet heute – ich sagees hier im Plenarsaal so, wie es sich gehört –, einfacheinmal Ruhe zu bewahren. Draußen würde ich sagen: Es
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Armin Schuster
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gibt Momente, in denen man einfach einmal die Klappehalten muss.
Die Berufsverbände sollen sich nämlich als gleichbe-rechtigte Tarifparteien ohne unmittelbare staatliche Ein-wirkung in Form eines privatrechtlichen Vertrages mitdem Arbeitgeber einigen. Sie können ihre Interessenge-gensätze durch direkte, gegenseitige und offene Ver-handlungen regeln. Um ein Machtgleichgewicht zu er-reichen, sind Arbeitskämpfe erlaubt und nötig. Das Zielist ein fairer Verhandlungskompromiss. Es gibt insofernüberhaupt keinen Grund, aufgrund einer AktuellenStunde hier in operative Politikhektik zu verfallen.Wenn sich die Linke für Tarifbeschäftigte sinnvolleinsetzen will – mein lieber Peter, auch ich habe meineMitarbeiter recherchieren lassen –, sollte sie sich denFall Brandenburg anschauen; da bildet die SPD unver-ständlicherweise mit der Linken die Regierung.
Die Linken sind dort also in der Arbeitgeberfunktion.Ich habe nicht feststellen können, dass sie in den Lohn-runden 2011 und 2012 über das Ergebnis von 1,5 bzw.1,9 Prozent, das die Tarifgemeinschaft ausgehandelt hat,kraftvoll hinausgegangen sind.
Nein, Brandenburg hat genau das Ergebnis übernom-men, das die Tarifgemeinschaft ausgehandelt hat. Genie-streiche sind uns also nicht bekannt. So weit zur rechtli-chen Situation.
Jetzt kommen wir zur politischen Bewertung. Natür-lich empfindet die Linke die derzeitige Diskussion alsgute Möglichkeit, für ihre absurde politische Forderungzu werben, Lohnfestlegungen mit hohem staatlichemEinfluss zu versehen. Aber Sie können uns dafür bisherkeine positiven Beispiele nennen. Deshalb bleiben wirbei unserem 62 Jahre alten Erfolgsmodell Tarifautono-mie. Mit genau dieser Freiheit haben wir gerade in denletzten Krisen bewiesen, wie gut die Tarifpartner mitdiesem Mittel umgehen können – zum Wohle diesesLandes.
Schwächer als heute können Ihre Argumente nach denletzten drei Jahren gar nicht sein.Ich möchte sagen: Die Union schätzt ausdrücklich dashohe Verantwortungsgefühlt und die Kompetenz unsererTarifparteien. Wir sehen nicht den geringsten Anlass,heute mit Ratschlägen – das sind immer auch Schläge –dazwischenzufunken.Ich widerstehe auch der Gelegenheit, hier mit billi-gen, populistischen Parolen auf Wählerfang zu gehen,
obwohl es auch in meinem Wahlkreis Bedienstete vonBund, Ländern und Kommunen gibt. Das fällt mir auchnicht schwer, weil ich von diesen Menschen weiß – ichrede mit ihnen –, dass sie bei allen Arbeitskampfmaß-nahmen ein grundlegend zuversichtliches Gefühl haben,dass sie zu einem guten Ergebnis kommen.
Ich habe ganz stark den Eindruck, dass weder HerrBsirske noch Herr Friedrich jetzt unerbetene schlaueRatschläge aus dem deutschen Parlament brauchen, umzu einem guten Ergebnis zu kommen.
Abschließend – ich beende meine Vorlesung für dieLinken –: Es gibt tatsächlich etwas, das wir hier gesetz-lich tun können. Es gibt eine Aufgabe für den DeutschenBundestag. Diese besteht darin, für die 300 000 Beam-tinnen und Beamten des Bundes einschließlich Soldatenund Richtern dann, wenn das Verhandlungsergebnis aufdem Tisch liegt, eine möglichst inhaltsgleiche Übertra-gung zu gewährleisten – auch wenn dies haushaltspoli-tisch schwer wird. Diese Regierung hat das 2010 ge-schafft. Ich bin sehr zuversichtlich, dass dieses Gesetz2012 hier gut über die Rampe gehen wird. Insofern musssich draußen keiner sorgen.Sie haben sich heute in ein vergilbtes, graues Schau-fenster gestellt. Weder Morgenmagazin noch irgendwel-che anderen Nachrichten haben über diese AktuelleStunde eine Vorankündigung gebracht. Es gibt keinsichereres Zeichen dafür, dass die Menschen wissen,dass das, was wir hier tun, völlig absurd und überflüssigist. Ich wäre jetzt lieber im Untersuchungsausschuss.Das wäre fruchtbarer.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. – Nächste
Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten un-
sere Kollegin Doris Barnett. Bitte schön, Frau Kollegin
Doris Barnett.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich finde, diese Debatte ist nicht überflüs-sig. Im Gegenteil: Die Beschäftigten in unserem Landehaben seit über zehn Jahren mit Lohnzurückhaltung fürdie Erholung der deutschen Unternehmen und derWirtschaft gesorgt und Deutschland vom kranken MannEuropas wieder zur Zugmaschine gemacht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19915
Doris Barnett
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Während der Krise in den ersten Jahren des Millen-niums wurden die Arbeitnehmer regelmäßig freigesetzt.In den folgenden Jahren haben die Arbeitgeber aus ihrenFehlern gelernt und dank der großzügigen Unterstützungdurch die Bundesagentur für Arbeit ihre wertvollen Mit-arbeiter nicht entlassen, sondern in Kurzarbeit geschickt.Dank der Millionen von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern kommen wir jetzt auch gut durch dieKrise. Die Wirtschaft boomt, die Gewinne sind mehr alserfreulich. Alleine in 2010 stiegen sie um 66 Prozent;sonst hätten wir nicht die unerwartet hohen Steuermehr-einnahmen. Auch die Vergütungen der Chefs in den gro-ßen Unternehmen passten sich den Ergebnissen gut an.Nur die Arbeitnehmer wurden wie immer reflexartigaufgefordert, zurückhaltend zu sein, weil dieser uner-wartete wirtschaftliche Erfolg wahrscheinlich nichtlange dauern wird. Mittlerweile ist aber bekannt, dasssich die Geschäftslage bei uns auf hohem Niveau stabili-siert und wir trotz – oder vielleicht auch wegen – derengen Handelsverflechtungen mit den anderen Euro-Staaten einer deutlich stabileren wirtschaftlichenEntwicklung entgegensehen. Die Bezüge der Vorstands-vorsitzenden der DAX-Firmen wuchsen in 2011 durch-schnittlich um 14 Prozent gegenüber 2010, die Löhneallerdings nur um 3,3 Prozent. Spitzenreiter war – daswurde schon gesagt – der Chef von VW mit einem Plusvon 63 Prozent.Ganz so kräftig langen die Beschäftigten in den jetztanstehenden Tarifrunden nicht zu. Sie würden sich schonmit durchschnittlich 6 Prozent zufriedengeben, um damitwenigstens einen Teil des Reallohnverlustes aufzufan-gen. Selbst die Arbeitsministerin und der Fraktionsvor-sitzende der FDP sagen medienwirksam, dass den Be-schäftigten eine deutliche Lohnerhöhung zusteht.Bei den Arbeitgebern stoßen solche Forderungen al-lerdings auf wenig Gegenliebe. Dabei müssten sie dochwissen, dass ihre Mitarbeiter mittlerweile nicht nur einkostengünstiger Faktor, sondern die Garantie für ihreKonkurrenzfähigkeit und für den Erfolg sind.
Gute, qualifizierte Mitarbeiter machen auch im öf-fentlichen Dienst die Schlagkraft und das Funktionierenaus. Trotz der umfangreichsten Steuergesetzgebungfunktionieren unsere Finanzämter. Unsere Kleinstenwerden nicht nur gut betreut, sondern auch frühkindlichgeschult. Die Krankenschwestern und -pfleger sind zwarüberarbeitet, bringen aber trotzdem olympiareife Leis-tungen. Unsere Polizei sorgt für Sicherheit, ob in Fuß-ballstadien oder bei Staatsbesuchen. Die Feuerwehrensind zuverlässige Lebensretter, und unsere Mitarbeiterund Beamten auf allen drei Ebenen des öffentlichenDienstes sorgen dafür, dass der Laden läuft.Weil mit Dankbarkeit in der Arbeitswelt nicht zurechnen ist, sollte aber zumindest Fairness möglich sein,also gute Bezahlung für gute Arbeit, egal ob im öffentli-chen Dienst oder in der freien Wirtschaft, ob beimDEHOGA oder in der chemischen oder metallverarbei-tenden Industrie. Deshalb sollte die Lohnrunde auch ge-nutzt werden, über Arbeitsbedingungen nachzudenken.Brauchen wir wirklich so viele Leiharbeitnehmer, undzwar über eine lange Zeit, also nicht nur für Spitzen?Warum kann man diese Mitarbeiter denn nicht einstel-len? Braucht man wirklich ein bis zwei Jahre Probezeit?Ist ein loyaler, zuverlässiger, qualifizierter Mitarbeiternichts wert? Kann man es sich als Unternehmen leisten,Arbeitnehmer erster, zweiter und dritter Klasse zu be-schäftigen? Wie lange glaubt man in den Chefetagen,sich angesichts der demografischen Entwicklung ein sol-ches Verhalten noch leisten zu können?Ist es nicht an der Zeit, auf Lohndumping, aber auchauf sogenannte Werkverträge, zum Beispiel in den Zerle-gebetrieben, wo der Stundenlohn noch unter 3 Euroliegt, oder auf die vielen Minijobs zu verzichten undstattdessen die Arbeitsverhältnisse ordentlich zu gestal-ten, auch was die Bezahlung angeht? Letztlich werdenwir das, wenn das nicht auf vernünftige Weise freiwilliggeschieht, gesetzlich regeln müssen.Gestern wurde uns im Wirtschaftsausschuss gesagt,überall dort, wo es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit inEuropa gebe, gebe es auch Mindestlöhne; die Jungenwürden wegen der Mindestlöhne nicht eingestellt. Dabeiwird übersehen, dass es nicht die Mindestlöhne sind, diedie Berufsanfänger ihrer Chancen berauben; das istvielmehr die in diesen Ländern darniederliegende Wirt-schaft. Wir müssen unter anderem auch Griechenlandhelfen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen,wenn wir nicht zusehen wollen, wie sich eine sozialeKatastrophe anbahnt. Kein Staat hält es auf Dauer aus,wenn, wie in Spanien, fast 49 Prozent oder, wie in Grie-chenland, über 47 Prozent seiner Jugend ohne Arbeitsind.Mindestlöhne sorgen dafür, dass ein Arbeitnehmer,der vollschichtig arbeitet, davon leben kann und keinenZweit- oder gar Drittjob braucht oder auf ergänzendeSozialhilfe angewiesen ist. Mindestlöhne sind auch Aus-druck von Respekt gegenüber der geleisteten Arbeit.
Zu wünschen ist auch, dass wir möglichst alle jungenMenschen bei uns mit einem Schulabschluss ins Berufs-leben entlassen. Dazu gehören noch einige Anstrengun-gen in unserem Bildungssystem und die Bereitschaft derArbeitgeber, auch zunächst Schwächeren eine Chance zugeben. Ich hoffe, die Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände sorgen mit ihrer Tarifautonomie im Interesseder heute und zukünftig Beschäftigten für weitsichtigeund zukunftsweisende Abschlüsse.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Doris Barnett. – NächsterRedner für die Fraktion der FDP ist unser KollegeJohannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel.
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19916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe mich sehr gefreut, dass sich mein Kollege Koberund auch die Kolleginnen und Kollegen von unseremKoalitionspartner eben zur Tarifautonomie bekannt ha-ben und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von denLinken, das Grundprinzip erklärt haben. Ich schließemich dem ausdrücklich an.
– Lieber Herr Ernst, es wurde schon darauf hingewiesen:Als Partei, die in Brandenburg und auf kommunalerEbene Verantwortung trägt und in Regierungen vertretenist, auf Bundesebene zu sagen, bei Tarifverhandlungenim öffentlichen Dienst sei es die Aufgabe des Parla-ments, sich zu kümmern, obwohl Sie es selbst in derHand hätten, das dort, wo Sie Regierungsverantwortunghaben, zu tun, ist relativ unglaubwürdig.
Lieber Herr Ernst, genauso unglaubwürdig ist es,wenn Sie hier so tun – das haben Sie eben gemacht –, alswürde der Staat in Geld schwimmen und als könnte manüber alle das Füllhorn ausschütten.
Lieber Herr Ernst, ich glaube, das wird der Lage nichtgerecht. Sie haben wieder einmal das Hohelied gesun-gen, dass wir nur die Steuern erhöhen müssten und dannfür alles Geld da wäre. Sie dürfen nicht vergessen: Wirdiskutieren über all das in einer Phase, in der wir uns inder EU in einer Schuldenkrise befinden und uns damitbefassen, wie wir aus dieser Schuldenkrise herauskom-men können.
– Woher kommt die Schuldenkrise? Das ist eine interes-sante Frage. Sie ist dadurch entstanden, dass die Staatenüber Jahre und Jahrzehnte zu viel ausgegeben haben, lie-ber Herr Schreiner.
– Doch! Sie können sich aufregen, aber das werden Sienicht wegdiskutieren können!
– Ich freue mich, dass Sie sich so aufregen; ich scheineSie an einem empfindlichen Punkt getroffen zu haben.Lieber Herr Ernst, obwohl wir im letzten Dezemberdie höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland erzielt haben, mussten wirweiterhin Schulden machen. In dieser Zeit rufen Sienach weiteren Ausgaben, anstatt uns bei der Haushalts-konsolidierung zu begleiten und darüber nachzudenken,wie die Ausgaben zurückgefahren werden können in ei-ner Zeit, in der wir die Vorgaben der Schuldenbremsefrüher als geplant einhalten werden.
Wir diskutieren gerade sogar darüber, ob wir es als Ko-alition vielleicht nicht schon in dieser Legislaturperiodeschaffen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Es ist richtig, sich diesem Ziel zu widmen. Es ist aberfalsch, wie Sie pauschal nach höheren Ausgaben zu ru-fen, lieber Herr Ernst. Das ist unverantwortlich.
Die Lage der Beschäftigten – gerade im öffentlichenDienst – in den Ländern in Südeuropa, die große Schul-denprobleme haben, zeigt, dass Sie den Menschen damiteinen Bärendienst erweisen. Sie versprechen das Blauevom Himmel, und am Ende müssen die Menschen dieZeche dafür zahlen.
Diese Politik ist nicht richtig. Das dürfte auch keine ge-rechte Politik sein. Deshalb wundert es mich, dass Siedas vertreten.Ich will auch auf das eingehen, was die Kolleginnenund Kollegen von der SPD hier gesagt haben. LieberHerr Schreiner, Sie sind auf die Verschuldung der öffent-lichen Haushalte – das kann ich als Nordrhein-Westfaleangesichts der schlechten Performance der rot-grünenLandesregierung ganz gut verstehen – nicht eingegan-gen. Sie haben wieder das Lied gesungen,
dass die Lage auf unserem Arbeitsmarkt so schlecht sei.Ich will auf die Realität hinweisen; denn wir reden heuteüber den Arbeitsmarkt, die Tarifautonomie und die Lagejunger Menschen. Es gibt in Deutschland, Herr Schreiner,ein Jobwunder
– nein! –, das Hunderttausend Menschen in den letztenMonaten eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt gege-ben hat. Das gilt gerade auch für junge Menschen. Wirhaben in Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosig-keit in ganz Europa.
– Nein. – Lieber Herr Schreiner, woran liegt das denn?Das hat verschiedene Gründe: wachstumsfördernde Poli-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19917
Johannes Vogel
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tik, wettbewerbsfähige Unternehmen, flexibler Arbeits-markt, aber auch die Tarifautonomie.Die Tarifautonomie ist sehr gut geeignet, dafür zu sor-gen, dass die Beschäftigten – dazu bekenne ich michausdrücklich – ihren Anteil am Aufschwung und an derguten wirtschaftlichen Lage bekommen. Die Tarifauto-nomie in Deutschland hat im Gegensatz zu anderen eu-ropäischen Ländern erfolgreich dafür gesorgt, dass die-ser Anteil immer genauso hoch war wie der Produktivitäts-zuwachs.
– Doch! Genau das stimmt. Zu diesem Schluss kommenauch Sie, wenn Sie sich die Entwicklung der Arbeitskos-ten anschauen. – Nur dann handelt es sich um einennachhaltigen Zuwachs, von dem die Menschen etwas ha-ben.
Lieber Herr Schreiner, weil Sie auf die Lohnentwick-lung eingegangen sind, will ich dazu ebenfalls etwas sa-gen. Es handelt sich nicht nur um schlechte Jobs. DerAufschwung kommt bei den Menschen auch an. LieberHerr Schreiner,
es gibt nicht nur eine gute Entwicklung auf dem Arbeits-markt. Auch die Reallöhne sind in den Jahren 2010 und2011, also seitdem die Wirtschaft brummt und Schwarz-Gelb regiert, gestiegen.
Es sind nicht nur die Bruttolöhne, sondern auch die Re-allöhne gestiegen. Ich weiß, dass Ihnen dieser Hinweisnicht gefällt. Aber man kann nicht oft genug darauf hin-weisen.
Bei der Aufgabe, die realen Probleme auf dem Ar-beitsmarkt zu lösen, brauchen wir keine Nachhilfe.Schauen Sie sich einmal an, wie wir die Auswüchse, diees bei der Zeitarbeit in der Tat gab, durch verbesserteRegulierung bekämpfen
und Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen in derPflege und in der Zeitarbeit schaffen! Das zeigt doch:Diese Koalition geht die realen Probleme an. Nur, wirschmeißen dabei nicht das weg, was den Erfolg auf demArbeitsmarkt ausmacht. Ein ganz wesentlicher Faktor isthier die Tarifautonomie.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dieSie diese Aktuelle Stunde beantragt haben, wir freuenuns über sachdienliche Hinweise und hilfreiche Anre-gungen.
Aber die Tarifautonomie wegzuwerfen und populistischzu versuchen, sich in die Tarifverhandlungen für den öf-fentlichen Dienst einzumischen und ein parteipolitischesSüppchen zu kochen, hilft niemandem.
Vielmehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, würde es uns alle weiterbringen, wenn Sie da, woSie Verantwortung tragen, etwas Reales für die Men-schen tun und hier keine Schaudebatten veranstaltenwürden.
Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Johannes Vogel. – Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Lötzer. Bitte schön,
Kollegin Ulla Lötzer.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Wir sindes wert!“, so haben gestern mehr als 70 000 Beschäftigtedes öffentlichen Dienstes und ihrer GewerkschaftenVerdi, GEW und GdP allein in NRW ihre Lohnforderun-gen begründet, und sie haben recht.
Sie sind es, die dafür sorgen, dass das Gemeinwesenrund um die Uhr funktioniert – im Krankenhaus, in Kin-dergärten, bei der Müllabfuhr und in vielen anderen Be-reichen –, und auch deshalb geht uns das etwas an. Siesind es wert, Herr Vogel, dass wir uns hier im Parlamentüber ihre Situation, ihre Arbeitsbedingungen und ihreLeistungen verständigen.
Das Arbeitsministerium NRW hat festgestellt: Der öf-fentliche Dienst musste in den vergangenen zehn Jahren– das sind ganz andere Zahlen als bei Ihnen, HerrVogel – einen Reallohnverlust von 8 Prozent hinnehmen.Schlechter ging es nur den Tischlern und den Fleischern.Die Kommunen können qualifizierte Stellen kaumnoch besetzen, selbst wenn sie Zulagen zum Tariflohnzahlen, aber Auszubildenden wird von Ihnen eine Über-nahmegarantie verweigert. Erzieherinnen, Busfahrer,Müllwerker und Altenpflegerinnen müssen bei Vollzeitinzwischen mit 1 300 Euro bis 1 400 Euro brutto nachHause gehen. Deshalb haben sie recht mit ihren Forde-rungen nach einem Mindestbetrag von 200 Euro und
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19918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Ulla Lötzer
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6,5 Prozent mehr Lohn. Deshalb haben sie auch rechtmit ihrer Forderung nach einer Übernahmegarantie fürdie Jugend.
Frank Bsirske hat gestern 20 000 Warnstreikenden inKöln erklärt: Nachhaltige Reallohnsteigerungen sind einGebot nicht nur der sozialen Gerechtigkeit, sondern auchder ökonomischen Vernunft. Er hat recht. Auch deshalbgeht uns diese Tarifrunde etwas an. Sie sind auch ein Ge-bot der wirtschaftlichen Vernunft, weil die Nachfrageauf dem Binnenmarkt umso wichtiger ist, je trüber dieKonjunkturaussichten innerhalb der EU werden.Sie, Herr Vogel, sagen: Wir können uns das ange-sichts der leeren öffentlichen Kassen nicht leisten.
– Doch. Sie haben in dem Zusammenhang gesagt, dasswir uns keine Ausgabensteigerungen leisten könnten.
Das sagen auch die Arbeitgeber in den Verhandlungen.Aber, Herr Vogel, dann muss man die öffentlichenKassen eben weiter füllen. Es geht nicht nur um die Aus-gaben, es geht auch um die Einnahmen der öffentlichenKassen. Wenn Sie es uns nicht glauben: Professor Fuestvom Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriumsschrieb Ihnen, Frau Merkel und Herrn Schäuble insStammbuch: Es gibt Leute, die sagen, die Bundesrepu-blik sei eine Steueroase für Vermögens- und Kapitalbe-sitzer, und sie haben recht. – Wissenschaftlicher Beiratdes Finanzministeriums!
Es stimmt: Die öffentlichen Kassen vieler Kommunensind leer. Sie sind es aber nicht, weil die Beschäftigtenzu viel Lohn bekommen oder weil es zu hohe Sozialaus-gaben gibt. Sie sind leer, weil seit der Unternehmensteu-erreform von Rot-Grün alle Regierungen eine systemati-sche Verarmung der öffentlichen Kassen herbeigeführthaben. Auch insofern hat die Politik etwas mit dieser Ta-rifrunde im öffentlichen Dienst zu tun.Ich kann Ihnen jetzt zumindest noch einen Bürger-meister der Linken nennen, der sich bereits für die For-derungen von Verdi ausgesprochen hat, nämlich HerrnHarzer.
Es geht hier um die Kommunen und um den Bund, nichtum die Länder. – Das nur zur Klarstellung.Der DGB NRW hat übrigens am Dienstag in einerPressekonferenz gefordert: Die im Grundgesetz vorgese-hene Schuldenbremse bis 2020 muss umgesetzt werden,ohne dass an Personal, Bildung und sozialen Leistungengespart wird. Wir brauchen einen starken öffentlichenDienst und leistungsfähige Kommunen. Daher mussüber eine angemessene Besteuerung von Vermögen undErbschaften die Einnahmeseite verbessert werden, HerrVogel.
Hören Sie gut zu, von Herrn Weiß bis zu Herrn Vogel:Der DGB hat alle Politikerinnen und Politiker aufgefor-dert, dazu Stellung zu nehmen. Wir haben Ihnen heuteGelegenheit gegeben, zu der Situation im öffentlichenDienst, zu der Tarifrunde, zu den Forderungen und zuden politischen Schlussfolgerungen, die damit im Zu-sammenhang stehen, Stellung zu beziehen. Sie habenhier das niedrige Angebot verteidigt,
Sie geben vor, die Tarifautonomie zu verteidigen, aber inWirklichkeit wollen Sie nicht darüber reden, welch skan-dalöses Angebot die öffentlichen Arbeitgeber gemachthaben.
Darüber muss man hier reden; man darf nicht über Tarif-autonomie schwafeln.
Wir stehen an der Seite der Beschäftigten: für guteLöhne und für gute Arbeit. Wir stehen dafür, die Bedin-gungen für die Tarifautonomie zu verbessern. Wir müs-sen natürlich prekäre Arbeitsverhältnisse beschränken.Wir dürfen nicht nur über Tarifrunden reden. Wir sagenauch: Unsere Schuldenbremse heißt Vermögensteuer.Die Einführung einer Vermögensteuer und die gerechteBesteuerung von Arbeit und Kapital bieten die Möglich-keit, gute Löhne im öffentlichen Dienst zu zahlen.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Lötzer.
Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist
unsere Kollegin Frau Heike Brehmer. Bitte schön, Frau
Kollegin Heike Brehmer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wieder einmal versuchen Sie, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen von den Linken, bei circa 2 Millio-nen betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern imöffentlichen Dienst die Hoffnung zu wecken, dass wirdie Forderung nach mehr Lohn im Bundestag einfach soumsetzen und die Tarifautonomie außer Kraft setzenkönnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19919
Heike Brehmer
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Gleichzeitig suggerieren Sie, dass jungen Beschäftigtenkeine Zukunft im öffentlichen Dienst gegeben werde.
Das eine ist genauso falsch wie das andere. Sie ken-nen die demografische Entwicklung, und Sie wissen,dass sich auch der öffentliche Dienst davon nicht abkop-peln kann. Daher haben junge Beschäftigte gerade mitBlick auf die demografische Entwicklung eine echteChance. Bildung und Ausbildung sind Grundvorausset-zung, um diese Chance zu nutzen und in das Erwerbsle-ben einzutreten. Gerade im öffentlichen Dienst habenwir einen sehr hohen Altersdurchschnitt und in dennächsten Jahren einen Bedarf an jungen Mitarbeitern.
Richtig ist, dass derzeit die Tarifverhandlungen im öf-fentlichen Dienst laufen. Die Gewerkschaften setzendazu ihr Druckmittel, den Streik, ein. Das ist legitim;denn der Streik ist das Mittel der Gewerkschaften, umihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auf derWebsite der Gewerkschaft Verdi können Sie nachlesen– das sollten Sie wirklich einmal tun –: „Tarifverträgefallen nicht vom Himmel.“ Sie seien besser als jedes Ge-setz, so Verdi. Ich zitiere weiter wörtlich:Wer Gesetze mit Tarifverträgen vergleicht, wirdschnell feststellen, dass die Regelungen in Tarifver-trägen um vieles besser sind.
Herr Kober hat es vorhin schon einmal vorgelesen, aberich werde es wiederholen, damit Sie es wirklich lernen.
Verdi schreibt weiter:Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwi-schen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbandund einer Gewerkschaft. Einmischen ist nicht er-laubt, das gilt auch für den Staat.
Das garantiert die Tarifautonomie, die mit demRecht auf Koalitionsfreiheit im Grundgesetz veran-kert ist.
Die CDU/CSU wird sich auch strikt daran halten.
Genau das ist der Punkt. Deswegen plädiert die CDUseit Ludwig Erhard – Herr Schreiner hat schon daraufhingewiesen – für eine Stärkung der Tarifparteien. Wirwollen keine Mindestlöhne, die sich nach Gutdünken anpolitischen Vorgaben und Wahlterminen orientieren. Wirbrauchen auch keine zentrale staatliche Lohnkommis-sion wie in der DDR.
Herr Ernst, als Gewerkschafter müssen Sie doch ei-gentlich wissen, wie Tarifverhandlungen ablaufen. DieTarifverhandlungen gehen nächste Woche, am 28. und29. März, in Potsdam in die dritte Runde. Ich wünschegute Verhandlungen. Nur eines muss an dieser Stelleauch einmal erwähnt werden: Nicht alle Forderungensind umsetzbar; sie müssen nämlich auch durch die öf-fentliche Hand finanziert werden. Seit der gesetzlichenRegelung der Tarifautonomie im Jahre 1919 wird dieAushandlung von Löhnen und sonstigen Arbeitsbedin-gungen den Tarifpartnern überlassen.
– Sie sollten richtig zuhören, sonst verstehen Sie das nicht.
67 000 bestehende Tarifverträge und der wirtschaftlicheErfolg unserer deutschen Unternehmen beweisen, dassdieses System im Grundsatz gut funktioniert. DieseForm der Lohnfindung – ich erwähnte es bereits, und ichwerbe ausdrücklich dafür – ist ein Grundpfeiler unserersozialen Marktwirtschaft. Es gibt keine übergeordneteInstanz, die „richtige“ Löhne erkennen und vorschreibenkann.
Ich kann nur an die betroffenen Arbeitnehmer im öf-fentlichen Dienst appellieren, durch ihre Mitgliedschaftdie Gewerkschaften zu stärken. Letztendlich profitierenauch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im öffentli-chen Dienst, welche keiner Gewerkschaft angehören undsich nicht am Streik beteiligen, von einem ausgehandel-ten neuen Tarif. Deswegen gilt mein Respekt allen Mit-gliedern von Gewerkschaften, welche sich am Streik be-teiligen und für ihre Rechte kämpfen.Ich bin mir sicher, dass die Tarifkommission dieseHerausforderung gemeinsam angehen wird und eine fürden Bund und die Kommunen vertretbare Einigung er-zielen wird.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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19920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Vielen Dank, Frau Kollegin Heike Brehmer. – Nächs-
ter Redner für die Sozialdemokraten ist unser Kollege
Ullrich Meßmer. Bitte schön, Kollege Ullrich Meßmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-
werkschaften haben die Zukunft der Gesellschaft und
der Wirtschaft im Blick, wenn sie jetzt für höhere Ent-
gelte, für die Übernahme Ausgelernter und für Regelun-
gen bezüglich prekärer Beschäftigungsverhältnisse ein-
treten, und zwar im Gleichklang.
Durch die Übernahme Ausgelernter wird ja eigentlich
nur etwas ausgebügelt, was Arbeitgeber in den vergan-
genen Jahren, in denen sie dies nicht nötig hatten, ein-
fach haben liegen lassen, nämlich sich darum zu küm-
mern, dass es Fachkräftenachwuchs in den Betrieben
gibt. Man hat junge Leute lieber in prekäre Beschäfti-
gung geschoben, in befristete Arbeitsverhältnisse oder in
Leiharbeit. Heute wird geschrien, es würden Fachkräfte
fehlen. Meine Damen und Herren, da hätten andere vor-
her verantwortlicher handeln können. Wir werden aber
sehen, dass die Gewerkschaften es erreichen, dass junge
Menschen, die gut lernen, auch eine gute Zukunft haben
und dass die Menschen in den Betrieben und im öffentli-
chen Dienst für gute Arbeit auch gutes Geld bekommen.
Da traue ich den Gewerkschaften schon eine Menge zu.
Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir diese For-
derungen ernst nehmen; denn sie entsprechen dem Emp-
finden vieler und insbesondere derjenigen, die tagtäglich
und oft auch nachts und rund um die Uhr arbeiten. Die
Bedeutung von Arbeitnehmern für die Wirtschaft nur in
Sonntagsreden zu beschreiben, reicht nicht. Ich glaube,
wir haben auch als Parlament und Politik ein Interesse
daran, dass es den Menschen in diesem Land gut geht
und dass sie ein verlässliches Einkommen haben. Denn
wenn das Geld auf dem Konto eines Arbeitnehmers ist,
dann sind die Steuern und Sozialabgaben bereits bezahlt.
Ich wage sogar die Behauptung, dass es gerade die Steu-
ern der Arbeitnehmer sind, die dafür sorgen, dass wir in
der Lage sind, milliardenschwere Rettungsschirme auf-
zuspannen, wenn sich Banker verzockt haben. Sie tragen
nämlich mit ihrem Einkommen zur Sicherheit dieses
Staates und der Gesellschaft etwas bei. Ich meine, der
Finanzminister wird irgendwann einsehen, dass höhere
Löhne und Gehälter auch ihm etwas bringen.
Ich bestreite gar nicht, dass es zuallererst Aufgabe der
Tarifvertragsparteien ist, die Arbeitsbedingungen zu re-
geln. Die Beispiele „Leiharbeit“ und „prekäre Arbeits-
verhältnisse“, aber auch das Verhalten der Arbeitgeber
zeigen, dass tarifvertraglicher Schutz für Beschäftigte
ausgehebelt werden kann – das wurde bereits angespro-
chen – und dass tariflicher Schutz wirkungslos ist, wenn
nicht auch der Gesetzgeber zusätzliche Regelungen
schafft.
Fast der gesamte Beschäftigungsaufbau in der Metall-
und Elektroindustrie nach der Krise erfolgte durch Leih-
arbeit. Die IG Metall listet in einem Schwarzbuch über
80 Betriebe auf, in denen der Anteil der beschäftigten
Leiharbeitnehmer bei über 10 Prozent liegt, teilweise so-
gar bei einem Drittel der Beschäftigten. Das tollste Bei-
spiel habe ich gerade von einem Kollegen gehört. Er hat
mir von der Firma IXYS in der Nähe von Darmstadt be-
richtet: Sie bringt es auf 230 Stammbeschäftigte und 222
Leiharbeitnehmer.
Leiharbeit wird, ob Sie es wollen oder nicht, zuneh-
mend als Bedrohung für Stammarbeitsplätze empfunden,
und sie führt zu niedrigeren Lohnlinien. Schon in der
Leiharbeit selbst herrschen Missverhältnisse. Die Ent-
gelte der Leiharbeitnehmer liegen nach wie vor um bis
zu 50 Prozent unter denen der Stammbeschäftigten. Wir
akzeptieren den Einsatz von Leiharbeitnehmern, aber
das darf kein Ersatz für Dauerarbeitsplätze sein oder zur
Senkung von Entgelten im Betrieb führen.
Die IG Metall verhandelt zurzeit über Branchenzu-
schläge. Ich sehe gute Chancen, dass diese Verhandlun-
gen erfolgreich zu Ende geführt werden. Aber wenn sie
wirklich dazu führen sollen, dass Gleichbehandlung ent-
steht, dann wird es notwendig werden, auch im Betrieb
Regelungen zu schaffen, nach denen die Betriebsräte in
den Einsatzbetrieben die Möglichkeit bekommen, auf
Umfang, Einsatzdauer, Übernahme und Bedingungen
für Leiharbeit Einfluss zu nehmen. Damit kann erreicht
werden, dass Leiharbeit tatsächlich ein ergänzendes und
flexibles Instrument ist und dass sie nicht bloß dazu ver-
wendet wird, die Arbeitnehmer gegeneinander auszu-
spielen und in den Betrieben niedrige Löhne zu zahlen.
Die Menschen müssen davor bewahrt werden, Angst da-
vor haben zu müssen, alle paar Wochen im Rahmen ei-
nes Rotationsverfahrens ausgewechselt zu werden. Hier
ist der Gesetzgeber gefordert. Wir müssen Regelungen
zur Mitbestimmung schaffen, um die Begrenzung der
Leiharbeit in die Hände der kompetenten Betriebsräte zu
legen.
Wer es ernst meint mit Tarifeinheit in den Betrieben
und mit beschäftigungspolitischer Flexibilität, die nicht
zulasten der Einkommen der Beschäftigten geht, wird
nicht drum herumkommen, entsprechende Regelungen
zu schaffen. Deshalb kann ich für die SPD nur sagen:
Wir finden es gut und richtig, dass sich die Gewerk-
schaften für die Interessen der Beschäftigten einsetzen
und dass sie so für die Refinanzierung des Staates sor-
gen. „Gute Arbeit – gutes Geld“ muss für alle Beschäf-
tigten gelten: für Frauen wie für Männer, in der Industrie
wie im öffentlichen Dienst. Ich finde es daher gut, dass
diese Aktuelle Stunde angesetzt wurde, um diese Punkte
im Parlament noch einmal deutlich zu machen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Ullrich Meßmer. – Nächsterund auch letzter Redner ist für die Fraktion der CDU/
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19921
Vizepräsident Eduard Oswald
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CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte schön, KollegeLehrieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Man kann bei den von der Linksfrak-tion beantragten Debatten nicht mehr ohne Grundgesetzans Rednerpult gehen.
Ich werde nachher noch auf die Tarifautonomie, Art. 9Abs. 3 unseres Grundgesetzes, dezidiert eingehen.
– Die kenne ich auch. Keine Angst, Herr Kollege.Vor mir haben bereits drei Gewerkschaftssekretäregesprochen. Herr Meßmer, Sie sind Gewerkschaftssekre-tär. Der Aufschlaggeber für diese Debatte, Klaus Ernst,war von 1995 bis zum Juni 2010 Erster Bevollmächtigterder IG Metall Schweinfurt.
Jungs, ihr wisst doch eigentlich, wie es geht.
Sie sollten über das Vorrecht der Tarifvertragsparteien,die Konditionen und die Lohnhöhen auszuhandeln, bes-ser informiert sein, als es in dieser Debatte zum Aus-druck kommt.
Ich komme auf das zurück, was die Vorredner bereitsausgeführt haben. Ich schätze den Kollegen Müntefering;er weiß, wie es geht. Er sagt, dass sich die Politik bei denTarifverhandlungen herauszuhalten hat. Ich schätze auchVerdi. Die Vertreter dieser Gewerkschaft sind ebenfallsgescheiter als die Linkspartei in diesem Hause; denn siesagen, dass sie sich ein Einmischen der Politik in ihreVerhandlungen verbitten.
Wir sollten einmal schauen, wo wir stehen. Wir ste-hen inmitten der Tarifverhandlungen für den öffentli-chen Dienst. Vor wenigen Wochen haben wir in diesemHohen Hause über die Tarifverhandlungen für einen Teilder Beschäftigten am Frankfurter Flughafen debattiert.Was ist in der Zwischenzeit passiert? Man hat sich ges-tern geeinigt. Streiks während der Tarifverhandlungensind ein probates Mittel; denn sie sind schmerzhafte Na-delstiche für die andere Seite – sie sind aber keine großeKeule wie in anderen Ländern –, die für Bewegung sor-gen. Man hat sich in Frankfurt auf ein vernünftiges Er-gebnis einigen können. Man hat für alle drei Gruppie-rungen einen gemeinsamen Tarifvertrag erreicht. Dashätten wir vor wenigen Wochen nicht erwartet.Die Tarifautonomie in Deutschland funktioniert undist wirkungsvoll. Es gibt keine Verwerfungen oder Miss-stände, wie Sie mit Ihren Äußerungen glauben machenwollen. Ich sage noch einmal: Die Politik ist gut beraten,sich nicht in die Tarifverhandlungen einzumischen.
Der Kollege Schreiner – wo ist er denn? – hat hier mitKrokodilstränen ausgeführt, dass die Vorstandsgehälternach seiner Auffassung zu hoch sind. Ich will überhauptnicht verhehlen, dass man diese Gehälter in einigen Fäl-len kritisch sehen kann. Man muss aber fairerweise da-zusagen: Die Vorstandsgehälter werden im Aufsichtsratin aller Regel mit Zustimmung der Arbeitnehmervertre-ter festgesetzt.
Es gibt Kfz-Hersteller, die ihren Mitarbeitern im letz-ten Jahr Prämien in Höhe von 7 500 bzw. 8 000 Euro ge-währen konnten, weil das Geschäft gut lief und man dierichtigen Entscheidungen getroffen hat. Sie profitiertendavon. In diesen Fällen kann auch der Vorstand eine ent-sprechende Zulage bekommen. Man wird darüber disku-tieren müssen, ob die Höhe angemessen ist. Die Arbeit-nehmerseite sagt in vielen Bereichen durchaus zu Recht:Wenn sich gutes Wirtschaften in unserer Branche für dieArbeitnehmer auszahlt, soll es sich letztendlich auch fürdie Chefs rentieren.
Die jetzt laufenden Verhandlungen im öffentlichenDienst – es wurde mehrfach das Innenministerium ange-sprochen – müssen berücksichtigen, dass nicht jede Ge-meinde auf Rosen gebettet ist – Frau Lötzer, Sie habenes ausgeführt – und die Lohnforderungen nicht so lockerbezahlen kann, wie der von Ihnen genannte einzige Bür-germeister der Linkspartei; nein, es gibt ein paar mehr.
Ich wünsche jeder Gemeinde, dass sie die Lohnforderun-gen – 6 oder 10 Prozent; meinetwegen können die gerne10 Prozent fordern – bezahlen kann. Sie müssen grund-sätzlich wissen, dass die Kommunen das, was von denVerhandlungsparteien ausgehandelt wird, bezahlen müs-sen. Es ist nicht so, dass der öffentliche Dienst eine Kuhist, die im Himmel frisst und auf Erden gemolken wer-den kann. Kommunen, die pleite sind und über ihre Ver-hältnisse gelebt haben,
tun sich schwer, beliebig hohe Vergütungen zu bezahlen.Das muss man wissen.
– Ich bin selber Bürgermeister, Herr Kollege. Ich weiß,wovon ich rede.
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19922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Paul Lehrieder
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In diesem Jahr laufen Einkommenstarifverträge für9,1 Millionen Beschäftigte aus. Darunter fallen dasBankgewerbe, die Chemische Industrie, die DeutschePost AG. Bei der Post – das gehört zur Wahrheit dazu –standen in Tarifverhandlungen ähnlich hohe Forderun-gen im Raum wie jetzt. Bei der Post hat Verdi 7 Prozentgefordert. Man hat einen Abschluss in Höhe von 4 Pro-zent gemacht. Die Abschlüsse in vielen Branchen wer-den deutlich über der von Ihnen apostrophierten Inflati-onsrate liegen; das zeichnet sich ab. Es muss ein Zuge-winn da sein. Das hat unsere Arbeitsministerin völlig zuRecht ausgeführt.
Es gab in den letzten Jahren Lohnzurückhaltung. Dervernünftige Umgang der Tarifvertragsparteien in Deutsch-land hat dazu geführt, dass wir in den letzten drei Jahrendie Krise besser bewältigen konnten als etliche Länderum uns herum.
Die von der Linkspartei beantragte Aktuelle Stunde istnicht geeignet, einen vernünftigen Umgang zu beför-dern. Ich würde es begrüßen, wenn man mit wenigerSchaum vor dem Mund die Tarifverhandlungen abwartetund die Parteien verhandeln lässt, um zu schauen, wasdann dabei herauskommt.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Paul Lehrieder. – Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Somit rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung eines pauschalierenden Entgeltsystems
für psychiatrische und psychosomatische Ein-
richtungen
– Drucksache 17/8986 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind da-
mit einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in un-
serer Aussprache hat das Wort Frau Kollegin Parlamen-
tarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz. Bitte
schön, Frau Kollegin Widmann-Mauz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Psychische Erkrankungen nehmen in Deutschland zu.Allein in den Jahren zwischen 2000 und 2010 verzeich-neten psychiatrische und psychosomatische Einrichtun-gen in unserem Lande einen Fallzahlenanstieg von42,2 Prozent. Nicht immer müssen diese Erkrankungeneinen so dramatischen Verlauf nehmen wie im Fall vonRobert Enke. Dennoch sind die Auswirkungen für diebetroffenen Menschen sowohl im privaten wie auch imberuflichen Bereich lebensverändernd. Karrieren werdenbeendet oder auf Eis gelegt. Denken wir zum Beispiel anden weltbekannten Skispringer Sven Hannawald! Er littam Burn-out-Syndrom und hat sich deshalb aus demLeistungssport zurückgezogen. Die Ursachen für die dy-namischen Fallzahlentwicklungen können wir nochnicht so richtig eingrenzen. Wir wissen nicht, ob wir estatsächlich mit einer Zunahme dieser Krankheitsbilderzu tun haben oder ob es die inzwischen verbesserten Di-agnoseverfahren sind, die heute eine Feststellung der Er-krankung frühzeitiger ermöglichen. Wir wissen jedoch,dass eine qualitativ hochwertige medizinische Versor-gung für alle Menschen in unserem Gesundheitssystemgewährleistet sein muss. Dies schließt ausdrücklichMenschen mit psychischen Erkrankungen ein.
Diese Menschen bedürfen unserer ganz besonderenUnterstützung. Genau das ist der Grund, warum die Bun-desregierung am 18. Januar dieses Jahres den Gesetzent-wurf zur Einführung eines neuen Entgeltsystems für psy-chiatrische und psychosomatische Einrichtungen, kurzPsych-Entgeltgesetz, im Kabinett verabschiedet hat.Mit dem neuen Entgeltsystem soll der Vergütung derunterschiedlichen psychischen Erkrankungen besserRechnung getragen werden; denn jede psychische Er-krankung ist in ihrer Ausprägung und damit in ihrem Be-handlungsbedarf und Behandlungsaufwand verschie-den. Der eine Patient kann schnell und erfolgreichbehandelt werden; ein anderer benötigt Jahre, manchmalein ganzes Leben, um mit seiner Erkrankung zurechtzu-kommen.Bei gleicher Diagnose kann es daher durchaus zu sehrunterschiedlichen Verweildauern in den Kliniken kom-men. Deshalb wollen wir mit dem neuen Gesetz dieTransparenz über das Leistungsgeschehen verbessernund den Besonderheiten psychischer Krankheiten besserRechnung tragen. Das heißt, der Aufwand unterschiedli-cher Behandlungsfälle soll besser abgebildet und leis-tungsorientiert vergütet werden. Geschehen soll dies, in-dem grundsätzlich keine Fallpauschalen, sondern inerster Linie tagesbezogene Pauschalen eingeführt wer-den. Gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ver-weildauern bei gleichen Diagnosen macht dies auchSinn.Bewusst haben wir entschieden, die Anwendung desneuen Entgeltsystems im nächsten und im übernächstenJahr nicht verpflichtend einzuführen. Vielmehr sind dieJahre 2013 und 2014 als Optionsjahre vorgesehen, in de-nen die Einrichtungen das neue Entgeltsystem auf frei-williger Basis anwenden können. Eine „Mussregelung“wird es dann erst ab dem Jahr 2015 geben.
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Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
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Zudem wird das neue Entgeltsystem mit einer vier-jährigen budgetneutralen Phase und dann mit einer fünf-jährigen Konvergenzphase eingeführt. Diese Vorgehens-weise haben wir ebenfalls aus gutem Grund festgelegt:Zum einen wird nämlich den Einrichtungen ausreichendZeit gegeben, sich auf künftige Veränderungen in ihrenErlösbudgets entsprechend einzustellen; zum anderen istdie Entwicklung und die Einführung dieses Psych-Ent-geltsystems als ein lernendes System angelegt.Sie erinnern sich: Wir haben dieses Prinzip bereits beider Einführung des DRG-Fallpauschalensystems in un-seren Krankenhäusern ausprobiert, und es hat funktio-niert. Damals sind wir mit knapp 700 Fallpauschalen ge-startet; heute verzeichnen wir rund 1 200. Das heißt, dieSachgerechtigkeit der Abbildung und Leistungsorientie-rung der Vergütung wurde seit der DRG-Einführungkontinuierlich verbessert; das ist unbestritten. Nach die-sem Vorbild können wir die langen Zeiträume der Ein-und Überführungsphase nutzen, um genau zu prüfen, wonoch zu leistende Entwicklungsarbeiten notwendig sind,um dieses Entgeltsystem zu perfektionieren.Unser Ziel ist es, die Voraussetzungen für einen effi-zienteren Ressourceneinsatz zu schaffen und die Vergü-tungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen zu ver-bessern. Zurzeit erfolgt bei der Vergütung keineDifferenzierung nach dem unterschiedlichen Behand-lungsaufwand für die einzelnen Patienten. Vielmehrbleibt im heutigen Entgeltsystem ein unterschiedlicherBehandlungsaufwand unberücksichtigt. Der sich für dieEinrichtungen daraus ergebenden Notwendigkeit zurMischkalkulation wollen wir mit dem neuen Entgeltsys-tem ein Ende setzen.Das heißt, mit dem Beginn der Konvergenzphasemüssen sich Einrichtungen mit zu hoch bewerteten Er-lösbudgets durchaus auch auf Erlösabsenkungen einstel-len. Umgekehrt gilt auch: Krankenhäuser mit zu geringbewerteten Erlösbudgets werden dann durch Erlöszu-wächse von diesem System profitieren können. So ge-lingt am Ende eine Umverteilung im positiven, im richti-gen Sinne, nämlich hin zu mehr Leistungsgerechtigkeitin den Häusern.Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch dieGrundlagen für eine systematische Qualitätssicherung inder psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung.Denn wir verpflichten den Gemeinsamen Bundesaus-schuss, in seinen Richtlinien die dafür erforderlichenMaßnahmen festzulegen und Indikatoren für die Beurtei-lung der Versorgungsqualität zu entwickeln. Darüber hi-naus wird der Gemeinsame Bundesausschuss in seinenRichtlinien zur Qualitätssicherung Empfehlungen zurAusstattung mit therapeutischem Personal für stationäreEinrichtungen festlegen. Das ist notwendig, weil die bis-her gültige Psychiatrie-Personalverordnung mit ihrer fi-nanzwirksamen Wirkung – das wissen wir – so nichtmehr mit dem neuen Entgeltsystem vereinbar ist, aberumgekehrt Maßstäbe zur Sicherung der Strukturqualitätunverzichtbar sind. Deshalb sind Maßstäbe für eine an-gemessene Personalausstattung in den Empfehlungendes Gemeinsamen Bundesausschusses erforderlich; daswird gewährleistet.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wir erfüllen mit dem Psych-Ent-geltgesetz, das wir Ihnen heute zur Beratung vorlegen,einen Auftrag aus der letzten Legislaturperiode, den wirmit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz im März desJahres 2009 beschlossen haben. Wir machen den Wegfrei für eine am Behandlungsaufwand orientierte Vergü-tung; denn fest steht: Menschen, die psychisch erkranktsind, die auf medizinische Versorgung in unserem Landangewiesen sind, brauchen eine sehr gute, umfassendeVersorgung. Zu ihrem Wohle streben wir diese Verände-rung im Vergütungssystem an.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Frau Hilde Mattheis. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Widmann-Mauz hat zu Recht darauf hingewiesen:Im Bereich der psychischen Erkrankungen geht es oft-mals um tragische Schicksale. Umso wichtiger ist es,dass wir mit dem Psych-Entgeltgesetz die Weichen wirk-lich richtig stellen, für Versorgungsstrukturen, die es er-lauben, auf die besonderen Bedürfnisse psychisch Er-krankter einzugehen.Richtig ist auch: Es ist ein Auftrag aus der letzten Le-gislaturperiode, der hier erfüllt werden muss. Aber wirmüssen hier die Frage beantworten, ob dieser Auftragwirklich erfüllt ist. Ich frage jetzt gleich – da spreche ichgerade auch die Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU an, die das in der letzten Legislaturperiodemit entschieden haben –, ob es sich hier wirklich umrichtige Weichenstellungen handelt für eine ordentlicheund notwendige Personalausstattung, für eine Förderungder sektorenübergreifenden Versorgung und für tagesbe-zogene Entgelte. Denn schon 2009 war klar, dass die be-sonderen Bedürfnisse von psychisch kranken Menschenauf gar keinen Fall mit den Bedürfnissen von Menschenzu vergleichen sind, die zum Beispiel wegen einesBlinddarmdurchbruchs oder nach einer Bein-OP behan-delt werden müssen. Wir fragen also: Sind die Formulie-rungen in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierungrichtig?Auf Vorschlag der damaligen GesundheitsministerinUlla Schmidt hatte die Mehrheit des Hauses beschlos-sen, ein durchgängig leistungsorientiertes und pauscha-liertes Vergütungssystem auf der Grundlage tagesbezo-gener Entgelte einzuführen.
Des Weiteren wurde beschlossen, dass in diesem Zusam-menhang zu prüfen sei, ob für bestimmte Leistungsartenandere Abrechnungseinheiten eingeführt werden könnenund wie die Leistungen der psychiatrischen Institutsam-
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Hilde Mattheis
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bulanzen nach § 118 SGB V einbezogen werden können.Vor allen Dingen hatten wir festgehalten, dass bei unse-rer Forderung nach Berücksichtigung einer sektoren-übergreifenden Versorgung – ich zitiere – „von den Leis-tungskomplexen ausgegangen werden soll, die derPsychiatrie-Personalverordnung zugrunde liegen“. Daswaren die wesentlichen Bestandteile des Krankenhaus-finanzierungsreformgesetzes. Viele andere Punkte sindin der Drucksache 16/10807 nachzulesen.Zunächst einmal stelle ich fest, dass das Ministeriumeinen ganz neuen Zeitplan aufgemacht hat: eine budget-neutrale Phase über einen langen Zeitraum, dann eineKonvergenzphase bis 2022.
Wir hatten uns vorgenommen: bis 2013. Diese langePhase birgt natürlich eine Chance. Aber wir solltenschon jetzt, nach Einbringung des Gesetzentwurfes, dieChance nutzen, einige Veränderungen vorzusehen, diedann in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werdenkönnen.Ich frage mich: Unterstützt und – was zu wünschenwäre – verbessert die vorgesehene Umstellung der Ver-gütung die Strukturen und die Qualität der Versorgungvon psychisch kranken Menschen? Wir alle wissen – Siehaben es ausgeführt –, dass wir von einem zunehmendenVersorgungsbedarf ausgehen müssen. Wir wissen, dassdie Versorgung maßgeblich durch qualifiziertes Personalzu gewährleisten ist und der Personalkostenanteil beicirca 80 Prozent liegt. Wir wissen auch, dass sich Thera-piekonzepte für Menschen mit psychischen Erkrankun-gen maßgeblich von Therapien in den Krankenhäusernunterscheiden, in denen das DRG-System gilt. Deshalbnehme ich alle Hinweise, die uns allen zugegangen sind,ernst. Es wird zu Recht auf eine hohe Übereinstimmungmit dem Krankenhausentgeltgesetz verwiesen und vorder Übertragung der Rahmenbedingungen der somati-schen Medizin auf die Versorgung psychisch Krankergewarnt. Die Wiederholung von Fehlanreizen wie beider DRG-Einführung wäre in der Psychiatrie wirklichfatal.Außerdem ist das neue Entgeltsystem nicht sektoren-übergreifend angelegt; es gibt also keine Anreize, statio-näre Behandlungen zu vermeiden. Das wird dazu führen,dass psychisch Kranke keine Alternative zu stationärenAufenthalten haben werden. Das ist nicht die Vorstel-lung von einer modernen, sektorenübergreifenden Ver-sorgung, so wie wir als SPD sie immer vertreten haben.
Wir wollen eine regionale, bedarfsgerechte Versor-gung. Psychiatrische Krankenhäuser brauchen Anreizefür den Ausbau personenzentrierter Behandlungs- undHilfesettings im außerklinischen Bereich. Die von derRegierung formulierten Prüfaufträge und die Weiterent-wicklung der Vorgaben für Modellvorhaben einer sekto-renübergreifenden Versorgung sind uns zu wenig. Wirhaben dies schon in einer Kleinen Anfrage im Juni 2010hinterfragt. Die Antworten haben uns schon damalsnicht zufriedengestellt. Sie haben uns damals in IhrerAntwort darauf hingewiesen, dass es eine unzureichendeDatengrundlage gebe. Zwei Jahre sind inzwischen ver-strichen. Von einer Weiterentwicklung habe ich nichtsmitbekommen.Das alles zeugt nicht davon, dass Sie mit diesem Ge-setzentwurf dem Grundsatz folgen: Das Vergütungssys-tem dient der Versorgung. Das will ich an einem weite-ren Beispiel deutlich machen, nämlich am Vorhaben, dieVereinbarung von erforderlichen Personalstellen nachder Psych-PV nur noch den Optionskrankenhäusern zuermöglichen und die Psych-PV zum 1. Januar 2017 end-gültig auszusetzen. Es ist zu befürchten, dass ohne einevollständige Erfüllung der Psych-PV das neue Entgelt-system zu einer dauerhaften Unterfinanzierung in derpsychiatrischen Versorgung führt.
Es gibt etliche weitere Kritikpunkte, die sicherlich imweiteren Verfahren bzw. in der weiteren Diskussionnoch aufgriffen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, wir ha-ben jetzt die Chance, auf der Grundlage des Gesetzesvon 2009 die Versorgung psychisch kranker Menschendurch ein sinnvolles Vergütungssystem zu verbessern.Diese Chance müssen wir nutzen. Das erwarte ich vorallen Dingen von Ihnen, von der CDU/CSU; denn Siehaben 2009 dieses Gesetz mit uns beschlossen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hilde Mattheis. – Nächs-
ter Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Erwin Lotter. Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Mattheis, ichfreue mich, dass es gelungen ist, mit dem Psych-Entgelt-gesetz endlich eine vernünftige und angemessene Art derAbrechnung im Bereich psychiatrischer und psycho-somatischer Einrichtungen zu entwickeln. Das bisherigeAbrechnungssystem mit Tagessätzen hat in mehrfacherHinsicht nicht funktioniert. Eine leistungsgerechte Ho-norierung fand nicht statt. Durch das Psych-Entgelt-gesetz wird die Chance auf eine gerechtere Vergütungeröffnet. Das pauschalierende, leistungsorientierte Ent-geltsystem bildet die medizinischen Leistungen deutlichbesser ab. Eine lange Einführungsphase ermöglicht denKrankenhäusern eine angemessene Eingewöhnung. Alslernendes System wird es praktische Erfahrungen inKrankenhäusern integrieren und ist offen für eine Wei-terentwicklung.Ambulante Behandlungen in Institutsambulanzen unddie Kooperation mit niedergelassenen Psychiatern und
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Dr. Erwin Lotter
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Psychotherapeuten werden gefördert. Mittelfristig wirddas Gesetz zu einer differenzierteren und qualitativhochwertigeren Behandlung psychisch Kranker führen.
Das Verfahren der Tagessätze hat die Verschiedenheitder Patientengruppen nicht berücksichtigt. Suchtkrankezum Beispiel, die sich einem Entzug unterziehen, benöti-gen Gruppentherapien, Einzelgespräche und wenigmedikamentöse Behandlung. Schizophrene Patientenhingegen benötigen intensive Untersuchungen und per-manente Betreuung und erfordern sehr viel mehr medizi-nisches Personal.Die Verweildauer im Krankenhaus ist unterschiedlichund hängt vom persönlichen Krankheitsverlauf ab. DieTagessätze werden unabhängig von der Leistung bezahltund unabhängig davon, wie intensiv die Betreuung ist.Dies führt nicht nur zu Verwerfungen zwischen denKrankenhäusern, sondern schlimmstenfalls sogar zumMissbrauch durch übertrieben lange stationäre Behand-lung. Als Psychotherapeut habe ich diese Entwicklungseit vielen Jahren mit Sorge verfolgt. Zahllose Verbändeund Organisationen haben Vorschläge für Verbesserun-gen gemacht. Diese sind in den Entwurf eines Psych-Entgeltgesetzes eingeflossen. Einrichtungen, die auf-wendige Leistungen erbringen, sollen mehr Geld be-kommen als solche, die weniger aufwendige Patientenversorgen. Das Geld soll den Leistungen folgen.
Dazu ist es notwendig, tagesbezogene Entgelte einzu-führen, die die Leistungen individuell widerspiegeln.Die Vergleichbarkeit der Einrichtungen auf der Grund-lage ihrer konkreten, jeweils notwendigen Leistungensteigt. Für innovative Untersuchungs- und Behandlungs-methoden können individuelle Vereinbarungen geschlos-sen werden. Wichtig ist, dass die Kalkulation bundesein-heitlich möglich ist.Meine Damen und Herren, viele Krankenhäuser be-fürchten, dass höhere Kosten auf sie zukommen. Sie be-fürchten eine Unübersichtlichkeit der Abrechnungen.
Dem beugt das Psych-Entgeltgesetz durch lange Über-gangsphasen vor, die eine jeweils individuelle Anpas-sung ermöglichen. Vier Optionsjahre und fünf Jahre derKonvergenzphase sind eine ausreichende Zeit, um dasSystem umfassend neu zu strukturieren.Ein ganz besonderes Anliegen ist mir aber, dass nun-mehr Modellversuche zu einer sektorübergreifenden Be-handlung möglich werden. Manchen von Ihnen mag dasHamburger Modell bekannt sein. Dies bedeutet: Kran-kenhäuser erhalten ein regionales Budget und könnenselbst entscheiden, wie viele Patienten sie vollstationär,teilstationär oder ambulant behandeln. Hierzu dienen diePsychiatrischen Institutsambulanzen, die sogenanntenPIAs. Eine flexiblere, patientennahe Behandlung wird soermöglicht. Gleichzeitig wird die Möglichkeit verbes-sert, Patienten, die die PIAs nutzen, zum Beispiel einerPsychotherapie zuzuführen. Auch Kooperationen mitniedergelassenen Fachärzten sind möglich. So werdenniedergelassene Therapeuten mit ins Boot geholt.Diesen Ansatz unterstütze ich uneingeschränkt; denner hat drei Konsequenzen: Zum Ersten liefert er einenAnreiz, die Länge der stationären Behandlung zu verrin-gern. Zum Zweiten führt er zu einer Kostenersparnis.Und zum Dritten besteht eine gute Chance, durch dieVerzahnung der Komponenten bessere Behandlungs-ergebnisse zu erzielen.Hiermit verbunden sind drei klare Anforderungen:Eine gründliche Dokumentation ist erforderlich, um zwi-schen den Behandlungsmethoden gewichten zu können.Notwendig ist eine Evaluation der sektorübergreifendenBehandlung nach klaren Kriterien bis zum Ende der Ein-führungsphase 2022, um ihre Vorteile und Probleme zuüberprüfen. Schließlich fordern wir die Stärkung der Be-gleitforschung, um diesen Ansatz im Interesse einer ste-tig besseren Behandlung laufend analysieren zu können.Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass viele Fachver-bände nach wie vor der Ansicht sind, auch das neueSystem bilde Leistungen nicht individuell genug ab. Au-ßerdem bestünde die Gefahr, dass aufgrund der demo-grafischen Entwicklung und der immer größeren Anzahlvon Menschen mit psychischen Störungen das gesamteFinanzierungsvolumen unzureichend sei. Dem halte ichentgegen: Irgendwann müssen wir mit Reformen anfan-gen. So, wie es bislang war, macht es keinen Sinn. DasPsych-Entgeltgesetz etabliert ein offenes, lernendes Sys-tem, in das Erfahrungen aus der Praxis integriert werdenkönnen. Es wird höchste Zeit, ein Vergütungssystem zuschaffen, das modernen Anforderungen entspricht.
Lassen Sie uns heute damit anfangen.
Vielen Dank, Kollege Dr. Erwin Lotter. – Nächste
Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Frau Dr. Martina Bunge. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Bunge.
Danke, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen undKollegen! Ein neues Gesetz machen wir in der Regel,wenn es Probleme gibt und Handlungsbedarf besteht.Die Vergütung psychiatrischer und psychosomatischerLeistungen in Krankenhäusern mag ein Problem sein,weil sie individuell erfolgt und dadurch schwer ver-gleichbar ist; aber die wirklichen Probleme bei der psy-chiatrischen und psychosomatischen Versorgung liegenunseres Erachtens ganz woanders.Wir müssen zuerst an die Patientinnen und Patientendenken. Das A und O dabei ist die Sicherstellung derVersorgung in hoher Qualität.
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Dr. Martina Bunge
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Dafür wird genügend und gut qualifiziertes Personal inden Kliniken gebraucht. Außerdem müssen die Barrie-ren zwischen den verschiedenen Versorgungsformen be-seitigt werden. Psychisch Kranke brauchen eine gut ab-gestimmte, integrierte Versorgung.
Der vorliegende Gesetzentwurf leistet diesbezüglichrein gar nichts. Er erschwert sogar eine gute Versorgung.Der Gesetzentwurf ist ein trauriges Beispiel dafür, waspassiert, wenn man kein bisschen über den Tellerrand hi-nausschaut. Das ist, als würde man als Reaktion auf dieErderwärmung die Produktion von Klimaanlagen for-dern. Dadurch werden die Wohnungen zwar kühler, aberes werden mehr Probleme geschaffen als gelöst.Soll die Versorgung verbessert werden, müssen am-bulante Praxen, Tageskliniken, Institutsambulanzen undKrankenhäuser zusammen gedacht werden. Es gilt, einVergütungssystem zu entwickeln, das Übergänge schafftund die Zusammenarbeit erleichtert.Wir müssen die Versorgung regional, den jeweiligenGegebenheiten entsprechend umsetzen. Wir müssen zumBeispiel fragen: Wie krank sind die Menschen vor Ort?Wie ist die Infrastruktur? Welche Versorgungsangebotegibt es? Mit dem Gesetzentwurf soll allen das gleicheHemd übergestreift werden. Dieses Hemd wird einigenbis zu den Füßen reichen und anderen nur bis zumBauchnabel.Statt die Personalverordnung, die sogenannte Psych-PV,zu modernisieren und so auszugestalten, dass Personal-standards für alle beteiligten Berufsgruppen festgeschrie-ben werden, wird Ihr Gesetzentwurf dafür sorgen, dassdie Kliniken letztlich noch weniger Personal zur Verfü-gung haben werden, als in der bestehenden Psych-PVfestgelegt ist.
Wir werden sehr wohl beobachten, was die Empfehlun-gen des G-BA – wann auch immer sie vorgelegt wer-den – bringen werden; Frau Staatssekretärin, Sie hattendies angesprochen. Wir denken, mit der Abschaffung derPsych-PV wird das Personal als Einsparquelle ersterOrdnung freigegeben. Das ist unverantwortlich.
Durch den Gesetzentwurf wird damit sogar die bereitserreichte Versorgungsqualität gefährdet.Die weiterhin geltende unerträgliche Bindung derKostenentwicklung der Krankenhäuser an die Brutto-lohnentwicklung führt zudem dazu, dass schon jetzt Per-sonal in den Kliniken abgebaut werden muss, weil dieKosten für Tariferhöhungen und die sonstigen Kostenden Einnahmen davonlaufen. Wenn Sie die Bruttolohn-bindung der Krankenkassen aufheben würden, könntenTarif- und Kostensteigerungen endlich ordentlich gegen-finanziert werden. Kommen Sie mir jetzt nicht mit demArgument, dass das Geld dafür fehlt. Würde der gesell-schaftliche Reichtum anteilig für die Sozialsysteme zurVerfügung gestellt werden, wie wir es im Zusammen-hang mit unserer Bürgerinnen- und Bürgerversicherungvorschlagen, hätten wir diese Finanzierungsproblemenicht.
In Ihrem Gesetzentwurf wird auch nicht berücksich-tigt, dass die Zahl psychischer Erkrankungen zunimmt.Frau Staatssekretärin, Sie haben es erwähnt, aber die Ur-sachen dafür sind Ihnen schleierhaft. Unsichere Arbeits-und Lebensverhältnisse, unsichere Zukunftschancen undIhre neoliberale Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftspolitiktragen unseres Erachtens maßgeblich zu psychischenBelastungen bei.
Die Folgen sollen allein die psychisch Kranken und die,die sich um sie kümmern, tragen. Das kann nicht IhrErnst sein.
Fazit: Der Gesetzentwurf bringt nichts Vernünftiges,schadet aber. Folglich darf er nicht so bleiben, wie erjetzt ist. Es ist unsere Aufgabe, ihn zu verändern. Ichdenke, wir alle müssen ordentlich daran mitarbeiten;denn sonst wird das nichts.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. – NächsteRednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist un-sere Kollegin Frau Maria Klein-Schmeink. Bitte schön,Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich würdesagen: Der Gesetzentwurf hat nicht nur einen kompli-zierten Titel, sondern es handelt sich auch um eine sehrkomplizierte Materie. Es geht um ein neues Entgeltsys-tem für psychiatrische und psychosomatische Einrich-tungen. Wer sich in die Tiefe der Paragrafen begebenhat, hat schnell erkennen müssen, dass das alles nicht soeinfach zu verstehen ist und man sehr viele Vorausset-zungen braucht, um überhaupt nachvollziehen zu kön-nen, was dort vorgeschlagen wird.Nun konnte man nach der Einbringung davon ausge-hen, dass wir einen angemessenen Vorschlag vorgelegtbekommen haben. Es wird ein Zeitraum von zehn Jahrenfür die Überführung in ein neues System vorgeschlagen;dies ist ein langer Zeitraum. Die Bundesregierung erhebtden Anspruch, einen Vorschlag für ein leistungsgerech-tes und transparentes System für die Honorierung psych-iatrischer Behandlung und Hilfestellung vorzulegen. Indem Gesetzentwurf steht gleichzeitig: Wir wollen diesektorenübergreifende Zusammenarbeit fördern. Ichgehe davon aus, dass alle hier im Raum diese Ansprücheunterstützen und sagen: Das ist das, was wir brauchen.Wir müssen uns aber auch fragen: Wird dieser Gesetz-
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Maria Klein-Schmeink
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entwurf diesem Anspruch eigentlich gerecht? Ichglaube, da besteht deutlicher Nachbesserungsbedarf.
Diesen möchte ich Ihnen ein wenig erläutern. Es gehtdarum, dass wir eine Errungenschaft zu verteidigen ha-ben, nämlich die Personalstandards, die in der Psychia-trie-Personalverordnung seit 1991 gelten. Sie sind einhohes Gut und tatsächlich einer der Qualitätsfaktoren,die wir in der psychiatrischen Versorgung im stationärenBereich vorzuweisen haben. Deshalb ist es ausgespro-chen wichtig, diese Standards in ein neues System zuüberführen.
– Genau. – Wir werden fragen müssen, ob dies gelingt.Da sind Zweifel durchaus angebracht, weil wir im Vor-lauf, als wir versucht haben, Kriterien abzuleiten, und alsdas InEK versucht hat, Kriterien für Prozedurenschlüsselzu entwickeln, gesehen haben, dass es nicht einfach ist,den aufwendigen Bedarf gerade für die Schwerst-erkrankten abzubilden.Diese Herausforderung ist noch nicht bewältigt. Wirwissen aber, dass wir in diesem Herbst auf der Grund-lage eines solchen Systems anfangen müssen, zu kalku-lieren und ein Entgeltsystem für die Optionsphase vo-rauszusetzen. Diese wesentliche Klippe ist also nochnicht genommen. Daran müssen wir noch arbeiten.Wir wissen zudem eigentlich gar nicht, inwieweit dieVorgaben der Psychiatrie-Personalverordnung in denKrankenhäusern tatsächlich eingehalten werden. Auchdazu liegen uns keine Daten vor, obwohl wir versuchthaben, sie zu erfragen. Das wird für die zukünftige Ent-wicklung allerdings ein ganz ausschlaggebender Punktsein, weil wir beim Istzustand ansetzen und davon aus-gehend das pauschalierende System entwickeln.Außerdem müssen wir den Besonderheiten der Kin-der- und Jugendpsychiatrie gerecht werden. Haben wirhier die notwendigen Vorkehrungen getroffen? Ichwürde sagen: Dieser Gesetzentwurf erwähnt diese Be-sonderheiten nicht einmal. Hier müssen wir ansetzen,und das müssen wir verändern.
Insofern gibt es großen Bedarf, genau hinzuschauen. Wirsollten Zwischenschritte vorsehen und dieses lernendeSystem tatsächlich ernst nehmen. Ich hoffe, dass wir diesim weiteren Gesetzgebungsverfahren in einem konstruk-tiven Dialog hinbekommen.Ein weiterer ganz wichtiger Punkt sind die Modell-vorhaben. Sie werden im Gesetzentwurf genannt. Auchhier gilt: Keiner von uns wird sie nicht wollen; jederwird sie wollen. Wir wissen aber: Wir haben bereits ent-sprechende Erfahrungen gesammelt, zum Beispiel in derintegrierten Versorgung, ebenso aus Modellvorhaben mitRegionalbudgets. Nur: Sind wir heute in der Lage, dieseErfahrungen tatsächlich in die Fläche zu tragen? Nein.
Unterstützt das bisher entwickelte System die Zusam-menarbeit über die Sektorengrenzen hinaus? Dafür ha-ben wir noch keine Ansatzpunkte. All das muss nochentwickelt werden, ist in diesem Gesetzentwurf abernicht angelegt. Von daher meinen wir: Es gibt noch deut-lichen Nachsteuerungsbedarf. Die Grundlage ist ganzokay; darauf kann man aufbauen. Aber es gibt, wie ge-sagt, deutlichen Nachbesserungsbedarf. Nicht nur dieFachverbände haben diesen angemahnt, –
Frau Kollegin.
– sondern auch der Bundesrat hat deutliche Hinweise
gegeben. Ich meine, der nächste wichtige Schritt muss
darin bestehen, dass wir dafür sorgen, –
Frau Kollegin!
– die psychiatrische Versorgung, die psychosoziale
Versorgung, die psychotherapeutische Versorgung und
die fachärztliche Versorgung zusammenzubringen. Dies
wird auch weiterhin die große Herausforderung sein.
Danke schön.
Der Kollege Lothar Riebsamen spricht für die CDU/
CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als wir die DRGs vor fast zehn Jahren, imJahre 2003, eingeführt haben, waren wir noch auf Vorla-gen und Muster anderer Nationen angewiesen. Nun füh-ren wir selbst ein leistungsorientiertes Vergütungssystemauch im Bereich von Psychosomatik und Psychiatrie einund gehen weg vom bisherigen kostenorientierten Ver-gütungssystem.
Damit sind wir in diesem Bereich Vorreiter. Das unter-scheidet die heutige Situation von der Situation von vorzehn Jahren. Damit schaffen wir Transparenz und Quali-tät für die Patientinnen und Patienten. Das steht für unsbei diesem Gesetz im Vordergrund.
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Lothar Riebsamen
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Wir haben einen guten und richtigen Zeitpunkt ge-wählt, um dieses Thema anzugehen. Mittlerweile habenwir seit fast zehn Jahren gute Erfahrungen mit den DRGsgemacht – das bestätigt auch die Begleitforschung –,auch wenn die Situation im Bereich der Psychiatrie einStück weit anders zu beurteilen ist; das gebe ich zu. Esgibt – das wurde heute bereits erwähnt – eine große Zahlpsychischer Erkrankungen. In den letzten zehn Jahrenwar eine hohe Steigerungsrate zu beobachten. Außerdemist festzustellen – das räume ich ein; auch das wurde be-reits gesagt –, dass zu viele Patienten im stationären Be-reich untergebracht wurden. Das gilt auch im Vergleichzu anderen europäischen Ländern. Deswegen ist eswichtig – und das bringt dieser Gesetzentwurf zum Aus-druck –, sektorübergreifend und in Versorgungsnetzenzu denken.Es gab bisher schon entsprechende Modellvorhaben.Krankenkassen und Krankenkassenverbände haben be-reits in der Vergangenheit Verträge mit einzelnen Kran-kenhäusern abgeschlossen. Genau diese sektorübergrei-fende Versorgung werden wir mit diesem Gesetzentwurfweiterentwickeln.
Hier sind wir auf einem guten Weg.
Was bedeutet mehr Transparenz für die Patienten?Weil zukünftig eben nicht mehr die Selbstkosten im Vor-dergrund stehen, muss erstmals darüber nachgedachtwerden, wie die Strukturen aussehen. Sie müssen analy-siert und optimiert werden, um eine Vergleichbarkeitherzustellen; denn einen Patienten interessiert es nicht,was ein Krankenhaus kostet, sondern einen Patienten in-teressiert es, was ein Krankenhaus kann. Deswegen ist esrichtig, dass das Geld zukünftig entsprechend der Leis-tung gezahlt wird. Die Krankenhäuser, die höherwerti-gere Leistungen erbringen, sollen zukünftig mehr Geldbekommen als die Krankenhäuser, die weniger hochwer-tige Leistungen erbringen, und das ist gerecht.Was bedeutet mehr Qualität? Der Gemeinsame Bun-desausschuss wird damit beauftragt, bis spätestens zumJahr 2017, dem Beginn der Konvergenzphase, Qualitäts-kriterien zur Sicherung der Struktur-, Prozess und Ergeb-nisqualität zu benennen. Im Bereich der Strukturqualitätgeht es um die Personalausstattung im therapeutischenBereich und um die Infrastruktur. Zur Prozessqualität istzu fragen: Welche Leistungen werden definiert? WelcheZiele werden vereinbart? In Bezug auf die Ergebnisqua-lität geht es um die Fragen: Wie sieht die Zufriedenheitder Patienten aus? Wie wird der Fortschritt der Behand-lung gemessen? – Wie gesagt: Qualität und Transparenzstehen für uns im Vordergrund.Dieser Gesetzentwurf bietet aber auch noch andereMöglichkeiten dafür, im Verlauf des Gesetzgebungsver-fahrens im gesamten Krankenhausbereich nachzujustieren.Die Krankenhäuser sind in einer teilweise schwierigen Si-tuation: Aufgrund der demografischen Entwicklung gibtes immer mehr multimorbide Patienten in den Kranken-häusern, es gibt den medizinisch-technischen Fortschritt,und die Tariferhöhungen werden voraussichtlich einegroße Belastung für die Krankenhäuser darstellen. Da-rüber hinaus kommen die Länder ihrer Verpflichtung, fürdie Investitionen aufzukommen, in der Regel leider nichtnach.
Dies hat zu einem großen Druck auf die Krankenhäu-ser geführt. Dieser Druck wird dadurch abgebaut, dassMehrleistungen erbracht werden. Die Betten werden ge-füllt. Der Deutsche Bundestag hat dem mit dem Orien-tierungswert und mit den Mehrleistungsabschlägenschon ein Stück weit entgegengewirkt. Der Orientie-rungswert gilt jedoch erst ab dem kommenden Jahr. Des-wegen halte ich persönlich es für notwendig, dass wir fürdas Jahr 2012 eine Übergangsregelung schaffen.Ich schlage deshalb vor, die durchschnittlichen Aus-wirkungen der Tariferhöhungen anteilig auf die Landes-basisfallwerte anzurechnen und die Mehrleistungsab-schläge – 30 Prozent für zwei Jahre fest – gesetzlichfestzuschreiben. Beides schafft Planungssicherheit fürdie Krankenhäuser und bringt insbesondere den kleine-ren Krankenhäusern im ländlichen Raum besonders viel,weil diese Krankenhäuser schon bisher nicht in der Lagewaren, fehlendes Geld durch Mehrleistungen in derWeise zu kompensieren, wie dies größere Krankenhäu-ser konnten.Wenn dieser Gesetzentwurf von seinem Titel her auchrecht nüchtern ist, so bietet er doch, wie aufgezeigt,wichtige Weichenstellungen. Wir gehen dies mit Augen-maß an, indem die Einführungsphase mit dem Orientie-rungswert insgesamt vier Jahre dauert. Die ersten beidenJahre ist die Einführung optional. Weitere fünf Jahrewird die Konvergenzphase dauern. Beides ist mit Anrei-zen unterlegt. Das ist vernünftig und schafft mehr Trans-parenz und Qualität in unseren Krankenhäusern.
Ich fordere Sie auf, am Gesetzgebungsverfahren kon-struktiv mitzuwirken, um im psychiatrischen und impsychosomatischen Bereich ein gutes Stück voranzu-kommen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8986 an den Ausschuss für Ge-sundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEPraxisgebühr abschaffen– Drucksache 17/9031 –
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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ZP 5 Unterrichtung durch die BundesregierungBericht des Spitzenverbandes Bund der Kran-kenkassen zur Evaluierung der Ausnahme-regelungen von der Zuzahlungspflicht– Drucksache 17/8722 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe dem KollegenDr. Gregor Gysi das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor achtJahren haben SPD und Grüne die Praxisgebühr – übri-gens mit Zustimmung von Union und FDP – eingeführt.
Die Linken waren die Einzigen, die dagegen waren undgesagt haben, dass das eine Belastung gerade der sozialSchwächsten ist, die wir uns überhaupt nicht leisten kön-nen.
2006 hatte die Linke einen Gesetzentwurf zur Ab-schaffung eingebracht. Die SPD war dagegen – und jetztzitiere ich Ihnen die Begründung –, weil die unmittelbarnach der Einführung der Praxisgebühr zu beobachtendensozialen Verzerrungen verschwunden seien. Eine Ab-schaffung der Praxisgebühr sei finanziell nicht darstell-bar.Die Grünen waren übrigens auch dagegen und be-gründeten es wie folgt: Sie sähen keinen Grund dafür,die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, weil es an negati-ven Belegen mangele.
Zudem fehle die Gegenfinanzierung.Die FDP stimmte dagegen, weil man die Praxisge-bühr nicht abschaffen könne, ohne gleichzeitig ein ande-res Instrument der Kostenbeteiligung
zu schaffen. Ein FDPler hat sich im Ausschuss aller-dings der Stimme enthalten, und zwar mit der Begrün-dung, dass der bürokratische Aufwand und die damitverbundenen Belastungen in den ärztlichen Praxen zugroß seien. Er hat also nicht an die Patientinnen und Pa-tienten gedacht. Aber immerhin!
Im Januar 2010 hat dann endlich auch HerrLauterbach die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert.Aber die SPD traute sich doch noch nicht, einen so ge-waltigen, revolutionären Schritt zu unternehmen. ImSeptember 2011 haben wir erneut die Abschaffung bean-tragt, und auch dieses Mal lehnte die SPD ab, und zwarmit der Begründung, das Ganze sei nicht zielführend. – Dashabe ich nie ganz verstanden.Die Grünen wollten mit der Abschaffung der Praxis-gebühr noch warten, bis endlich die Bürgerversicherungdurchgesetzt sei. Deshalb haben sie sich der Stimme ent-halten. Aber immerhin war das schon einmal ein Fort-schritt.Union und FDP lehnten ab. Die FDP tat dies übrigenswegen der befürchteten Mindereinnahmen für die Kas-sen.
Jetzt will auch die FDP den gesetzlich Versicherten einkleines Wahlkampfgeschenk machen
und ihnen diese 10 Euro pro Quartal erlassen. Diesmöchte sie nicht unbedingt aus sozialen Gründen, son-dern wegen der schrecklichen Bürokratie für Ärztinnenund Ärzte sowie Kassen.Herr Kubicki, der FDP-Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein, startete sogar eine Unterschriftensammlung.Ich dachte, ich spinne. Aber es ist okay.
Herr Lindner, der sich nun auch über die Bürokratie auf-regt, startet in NRW ähnliche Initiativen.Jetzt kommt aber die FDP und wirft uns, weil wir die-sen Antrag stellen, vor, wir würden Wahlkampf machen.Also, mehr Wahlkampf als den, den Sie machen, kannman sich gar nicht vorstellen.
Ich sage Ihnen: Wir können heute sofort abstimmen.Dann schaffen wir die Praxisgebühr ab. Die Kassen ha-ben genug Geld. Das ist überhaupt kein Problem.
Stimmen Sie der sofortigen Abschaffung zu. Dann be-weisen Sie, dass Sie es ehrlich meinen und dass es nichtnur Wahlkampfgetöse ist.
Ich will Ihnen allerdings auch sagen, was ich nichtmag: Wenn man als Bestandteil der Regierungskoalitionsolche Forderungen stellt, dann gibt es ganz viele, diesich die Hoffnung machen, dass das auch wirklich pas-siert. Aber die Union stimmt nicht zu, und das wissenSie auch. Also, verbreiten Sie keine falsche Hoffnung.Oder Sie stehen es durch und stimmen jetzt für die Ab-schaffung dieser Praxisgebühr.
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Dr. Gregor Gysi
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Im Übrigen: Wenn das Geld beim Bundesfinanz-minister bleibt, dann landet es eh bei den Banken.
Insofern wäre es sehr viel besser, es den Versicherten zugeben.
– Hören Sie zu. – Dass es keinerlei Steuerungswirkunghat, hat sich inzwischen herumgesprochen. Weder hatdie Zahl der Arztbesuche abgenommen, noch hat es ir-gendetwas eingebracht.Allerdings – das muss ich schon sagen – gibt es ein-zelne Betroffene, die deshalb nicht zum Arzt gegangensind oder den Arztbesuch verschoben haben. Ich habe esIhnen schon einmal erzählt: In meiner Anwaltssprech-stunde war ein Mann, der hohes Fieber hatte. Ich habeihm gesagt, dass er zum Arzt gehen müsse; ich glaube,es war der 27. Juni. Daraufhin sagte er zu mir, dass ernoch vier Tage warten wolle, um die Praxisgebühr nureinmal zahlen zu müssen.
Das ist doch der Gipfel der Unverschämtheit! In einemso reichen Land wie Deutschland muss doch jemandzum Arzt gehen können, wenn er erkrankt ist.
Deshalb hoffe ich, dass auch bei der Union endlichdie Erleuchtung kommt und die Praxisgebühr abge-schafft wird, und zwar nicht nur vor, sondern auch nacheiner Wahl. Mal sehen, wie die FDP dazu in Zukunft ste-hen wird.Danke schön.
Jens Spahn hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das war wieder eine Gysi-Show: unterhaltsam, viel Kla-mauk, aber im Endergebnis leider wenig Substanz. Des-wegen ist das am Ende auch nicht überzeugend.
Dass Sie jetzt sagen, hier würden andere Wahlkampfmachen, während Sie wenige Tage vor der Saarland-Wahl hier diesen Antrag durchdrücken, der auf der Ta-gesordnung gar nicht vorgesehen war, macht doch dieganze Absicht, die dahintersteckt, deutlich: Klamauk,Stimmungsmache, aber wenig Substanz.
Wissen Sie, gestern hat genau hier in diesem Plenar-saal in einer Debatte zu diesem Thema große Einigkeitdarüber bestanden, dass wir die gute finanzielle Lage dergesetzlichen Krankenversicherung erst einmal dazu nut-zen sollten, uns zu freuen.
Ich mache jetzt seit zehn Jahren Gesundheitspolitik. Wirhaben zum ersten Mal die Situation, dass wir nicht überDefizite und Kostendämpfung im Gesundheitswesen re-den, sondern dass wir erstmals aufgrund der guten wirt-schaftlichen Entwicklung und aufgrund der Spargesetzedieser Koalition Überschüsse im Gesundheitswesen ha-ben.Darüber hinaus war es gestern gemeinsame Überzeu-gung, zumindest von großen Teilen des Hauses, dass wirangesichts dieser Überschüsse nicht übermütig werden,sondern rücksichtsvoll, vorausschauend handeln sollten,ahnend, dass diese Zeiten nicht immer so gut bleibenmüssen und wir diese Rücklage deswegen für schlechteZeiten behalten und sie nicht leichtfertig für Wahlkampf-zwecke aufs Spiel setzen wollen.
– Das ist wieder einmal so typisch. In der vorherigen De-batte hat die Kollegin Bunge gesagt: Wir brauchen mehrGeld für Krankenhäuser. Wir wollen, dass in diesen Be-reich mehr Geld investiert wird. – Auch in der Haus-haltsdebatte über das Gesundheitswesen stellen Sie sichhier hin und sagen: Wir wollen, dass mehr Geld in dieKrankenhäuser investiert wird.
Dort soll zusätzliches Geld ausgegeben werden. – Dannhaben Sie schnell wieder einmal 1 Milliarde oder 2 Mil-liarden Euro eingeplant, die für die Prävention ausgege-ben werden sollen. Links und rechts werden dann nochein paar Geschenke verteilt; denn man muss sich ja nichtdarum kümmern, woher das Geld kommt. Das fälltschließlich vom Himmel. – Damit sind Sie immerschnell dabei. Wie das allerdings langfristig sauber fi-nanziert wird, ohne dass es dauerhaft zu wirtschaftlichenund finanziellen Problemen kommt, sagen Sie an keinerStelle.
Das ist unredlich. Deswegen sind Sie es, die sich denWahlkampfvorwurf gefallen lassen müssen.
Wir jedenfalls sind der Überzeugung, dass den Pa-tienten und den Versicherten in Deutschland am bestengedient ist, wenn wir in dieser aktuellen guten finanziel-len Situation nicht leichtfertig handeln, dass wir mittel-
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Jens Spahn
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und langfristig eine solide Finanzpolitik machen unddeswegen mit diesen Überschüssen entsprechend umge-hen.Ein anderer Punkt. Sie haben gerade dankenswerter-weise auch aus ehemaligen Positionen von Rot und Grünzitiert, als wir die Praxisgebühr gemeinsam eingeführthaben. Hinsichtlich der Steuerungswirkung können wirgerne darüber reden, wie man sie besser gestaltet. Dasind wir sofort dabei. Übrigens kann man auch bei demThema Entbürokratisierung über vieles reden. Mich är-gert es bis heute, dass die deutsche Ärzteschaft nicht be-reit ist, sich entsprechend einzubringen, etwa was dieGesundheitskarte angeht, um die Abläufe in den Praxendeutlich zu vereinfachen, indem die entsprechenden Ver-merke auf der Karte gemacht werden können.Aber es geht bei der Zuzahlung und bei der Praxisge-bühr auch darum – ich weiß, dass Sie damit ein Problemhaben, aber uns jedenfalls ist das wichtig –, deutlich zumachen, dass Gesundheit etwas wert ist, dass die guteund flächendeckende Infrastruktur unseres Landes unddie gute Qualität in der medizinischen Versorgung amEnde nicht umsonst ist, sondern dass sie einen Wert hat.Wenn etwas einen Wert hat, gehört Geld dazu, hier inForm der Praxisgebühr.
Jetzt sagen Sie: Möglicherweise können sich dasmanche Menschen nicht leisten. – Dabei lassen Sie wieimmer einen Teil der Wahrheit weg. Sie wissen wie ich,dass es Überforderungsklauseln gibt,
dass niemand mehr als 2 Prozent seines Einkommens fürZuzahlungen und Praxisgebühr insgesamt ausgebenmuss, chronisch Kranke sogar nur 1 Prozent ihres Ein-kommens. Es ist einfache Mathematik, dass 1 Prozentvon einem niedrigen Einkommen weniger als 1 Prozentvon einem höheren Einkommen ist. Deswegen ist in derganzen Systematik der Zuzahlungen und Praxisgebührenein sozialer Ausgleich enthalten.Niemand wird überfordert, aber am Ende haben wirdurch Zuzahlung, Eigenbeteiligung und Praxisgebührein Zeichen gesetzt: Gesundheit ist etwas wert; sie istnicht umsonst. Die Infrastruktur bzw. die Möglichkeit,diese Infrastruktur zu nutzen, ist etwas wert, und deswe-gen ist es insgesamt ein gutes und austariertes System.
Ich will noch etwas zu dem geschätzten Koalitions-partner sagen.
Es bleibt dabei – das habe ich gestern schon gesagt –:Mich irritiert etwas, dass die Partei, die sonst an ver-schiedenen Stellen immer mehr Eigenbeteiligung undmehr Zuzahlung fordert und über Kostenerstattung re-det, jetzt ein eingeführtes und weitgehend akzeptiertesInstrument der Zuzahlung und Kostenbeteiligung vonVersicherten ersatzlos infrage stellt. Wir sind ohne Zwei-fel – so steht es auch im Koalitionsvertrag – jederzeit be-reit, über andere Verfahren und Modelle zu reden. Dieersatzlose Abschaffung wäre aber ein falsches Signal.Wir merken schon jetzt in der ganzen Debatte daran,wie das Thema in den Medien und in der Öffentlichkeitdiskutiert wird, wie Sie gerade die Diskussion begonnenhaben und wie sie vermutlich in den nächsten 20 Minu-ten weitergeht, dass es an keiner Stelle wirklich um dieSache geht. Am Ende geht es um Klamauk, Stimmungund eine schnelle Überschrift, aber sicherlich nicht umsolide Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherungim Sinne der Versicherten.
Der Kollege Dr. Edgar Franke hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Gysi, grundsätzlich ist der Vorschlag, diePraxisgebühr abzuschaffen, vernünftig und richtig.
– Klatschen Sie nicht zu früh! – Allerdings ist der An-trag ohne eine seriöse Gegenfinanzierung rein populis-tisch.
Herr Gysi, es ist richtig: Es ist einige wenige Monateher, als wir einen fast deckungsgleichen Antrag der Lin-ken beraten haben. Aber damals, im Oktober 2011, lau-tete der Titel des Antrags – ich habe ihn mitgebracht –:„Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen – Pa-tientinnen und Patienten entlasten“.
Heute wollen Sie nur die Praxisgebühr abschaffen.
Damals ging es um 5 Milliarden Euro, die sofort finan-ziert werden sollten. Ich frage mich: Wie sieht eine se-riöse Gegenfinanzierung aus? Sie fehlt mir in Ihrem An-trag, meine Damen und Herren.
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19932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Edgar Franke
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– Bleiben Sie ganz ruhig.Die Abschaffung ist vernünftig und richtig. Es gibt imWesentlichen drei Gründe für die Abschaffung. Darinsind wir wieder einer Meinung, Herr Gysi.
Erstens. Die Praxisgebühr hat keine Steuerungsfunk-tion gehabt. Sie hat in der Tat als Steuerungsinstrumentversagt. Ziel bei der Einführung war die Vermeidung un-nötiger Arztbesuche, damit nicht jeder bei kleineren Er-krankungen zum Arzt geht. Ziel war auch, den Men-schen klarzumachen, dass Arztbesuche Geld kosten.Die Praxisgebühr hatte – das wissen alle im Saal – an-fangs Erfolg. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ob esjetzt 16, 17 oder 18 Arztbesuche pro Jahr sind,
ist ohne Belang. Die neuesten Statistiken besagen jeden-falls, dass die Steuerungswirkung entfallen ist. Im Ge-genteil: Wir kennen viele Fälle aus der Praxis, dass Pa-tientinnen und Patienten, wenn sie die Praxisgebühreinmal im Quartal gezahlt haben, vielleicht noch öfterzum Arzt gehen, und sei es, um die Frau im Spiegel oderden aktuellen Fortsetzungsroman zu lesen.
Sie ist kein Steuerungsinstrument mehr, sondern in ersterLinie – das hat auch Herr Spahn gesagt – ein Finanzie-rungsinstrument.Der zweite Grund, der für die Abschaffung der Pra-xisgebühr spricht, ist, dass sie vor allem Kranke und Ein-kommensschwache trifft und dass die Parität nicht ge-wahrt ist, weil sie allein von den Versicherten gezahltwird. Auch darin gebe ich Ihnen recht.
Der dritte Grund ist die Abschaffung der Bürokratie.Denn die Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie-und Verwaltungskosten geführt. Das haben wir gesterndiskutiert. Heute war in den Medien von 300 MillionenEuro Bürokratiekosten die Rede. Das ist eine beträchtli-che Summe. Auch sie könnte man einsparen, wenn mandie Praxisgebühr abschafft.Nun wird immer wieder behauptet – das haben auchSie, Herr Gysi, getan –, die Praxisgebühr sei von Rot-Grün und insbesondere von Ulla Schmidt eingeführtworden.
Aber wie ist die Geschichte, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der CDU/CSU, wirklich gewesen? In der Tathatte Rot-Grün damals einen Gesetzentwurf in der Pipe-line, der vorsah, Facharztbesuche mit einer Praxisgebührzu belegen. Ziel war es, die Gesundheitsversorgung effi-zienter zu machen und die Lotsenfunktion des Hausarz-tes zu stärken. Das waren unsere Gründe. Was haben Sieim Vermittlungsausschuss gemacht? Ihr damaliger Ver-handlungsführer Horst Seehofer wollte jeden Arztbesuchmit einer Gebühr belegen. Die Praxisgebühr ist damalsals Kompromiss aus den Verhandlungen im Vermitt-lungsausschuss herausgekommen. Es handelt sich alsonicht um eine Ulla-Schmidt-Gebühr, sondern eher umeine Horst-Seehofer-Gebühr.
Herr Singhammer, Horst Seehofer hat damals am nächs-ten Morgen auf der Pressekonferenz gesagt, es sei dieschönste Nacht seines Lebens gewesen. Wenn das seineschönste Nacht gewesen ist, dann möchte ich nicht wis-sen, wie seine schlimmsten Nächte aussehen.
Wie sieht – hören Sie bitte zu – die Gegenfinanzie-rung aus, Herr Gysi? Wir brauchen 2 Milliarden Europro Jahr bzw. vielleicht nur 1,5 Milliarden Euro wegender Überforderungsklausel, die Herr Spahn vorhin zuRecht angesprochen hat. Wir brauchen aber eine seriöseGegenfinanzierung. In Richtung der Koalition sage ich:Man kann nicht alles so lassen, wie es ist. Denn waswürde passieren, wenn man die 20 Milliarden Euro anLiquidität im System belassen würde? Sie würden sichnur neue Beglückungsprogramme für Ihre Fachärzteausdenken, nichts weiter.
Wenn Sie solche Programme nicht auflegten, würden Siedas Geld vielleicht Minister Schäuble geben, oder erwürde es sich holen. Wie heute zu lesen ist, muss er wie-der mehr Schulden machen. Da ist ihm sicherlich jederEuro recht. Er würde auch die Euros aus dem Gesund-heitsbereich nehmen. Da gebe ich Ihnen recht.
Ein paar konkrete Punkte zur Gegenfinanzierung. Wirkönnen die Gegenfinanzierung zunächst mithilfe derRücklagen in Höhe von 20 Milliarden Euro sicherstel-len. Die entscheidenden Fragen lauten aber, wie langedas reicht
und wie sich die Konjunktur entwickeln wird. Das sindzwei entscheidende Punkte.
Aber, lieber Herr Spahn, bis 2013 wird es noch reichen.Dann wird die SPD die Wahl gewinnen
und die Bürgerversicherung eingeführt. Dadurch werdenwir die Einnahmebasis verbreitern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19933
Dr. Edgar Franke
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Wir werden die Einnahmen auch dadurch erhöhen, dasswir die Parität wiederherstellen. Das heißt, alle zahlen inein System. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen nomi-nell den gleichen Anteil. Wenn man das macht, erzieltman höhere Einnahmen und verbreitert die Einnahmeba-sis. Dann sind solche Summen wie 2 Milliarden oder1,5 Milliarden Euro ohne Weiteres gegenzufinanzieren.Wir wollen des Weiteren die Position der Hausärztestärken. Eine hausarztzentrierte Versorgung steigert dieWirtschaftlichkeit und verbessert die Versorgung undvor allen Dingen deren Qualität. Auch hier sind Effi-zienzreserven zu heben.Letztendlich sollte man nicht vergessen: Wenn wirvom Einheitsbeitragssatz wegkommen und den Kran-kenkassen wieder Beitragsautonomie geben, dann kön-nen wir selber das System ein Stück weit refinanzieren.Gerade die FDP müsste eigentlich dafür sein, den Kran-kenkassen die Beitragsautonomie zurückzugeben. Dannwürden die Krankenkassen untereinander wieder imWettbewerb stehen.
Der momentan geltende Einheitsbeitragssatz hat zurFolge, dass kein Wettbewerb zwischen den Krankenkas-sen stattfindet. Darüber sollte gerade die FDP nachden-ken. Das kann sicherlich nicht schaden.Herr Gysi, insgesamt handelt es sich bei der VorlageIhrer Fraktion um einen populistischen Antrag der Lin-ken, um einen Antrag, der nicht ganz zu Ende gedachtist. Jetzt kommt es darauf an, aus einem populistischenGedanken einen populären und ausgereiften Antrag zumachen. Das erwarten die Menschen von uns zu Recht.Sie müssen noch zwei Wochen warten. Dann kommt derAntrag der SPD.Ich danke Ihnen.
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Lars
Lindemann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten be-reits gestern in der Aktuellen Stunde auf Initiative derSPD Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten, wie wirmit den Überschüssen in der gesetzlichen Krankenver-sicherung umgehen. Da wurde vieles gesagt, und eswurde vieles vorgeschlagen. Heute debattieren wir einenAntrag der Linken, in dem Sie, sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen von der Linken, das aufnehmen, was dieFDP seit längerer Zeit geschlossen fordert, nämlich dieAbschaffung der Praxisgebühr.
– Warten Sie doch erst einmal ab.Lassen Sie mich aber zunächst einmal zu dem Hinter-grund kommen, vor dem wir diesen Antrag hier undheute debattieren. Die schwarz-gelbe Koalition hat 2009die Regierung übernommen, und wir standen damals vorheftigen Herausforderungen. Es drohte unter anderemein Defizit von 11 Milliarden Euro im GKV-System. Danützt es wenig, lieber Kollege Franke, wenn Sie, wiegestern, Zahlen aus dem BMG durch die Reihen reichenund auf vermeintliche Rücklagen zum damaligen Zeit-punkt hinweisen. Es ging damals darum, was der GKVbei unveränderter Fortsetzung dessen, was Sie bis dahingesundheitspolitisch geleistet hatten, gedroht hätte. Da-rum ging es am gestrigen Tag.Es ist auch nicht redlich, den damals bevorstehendenEinbruch heute in Abrede zu stellen. KollegeLauterbach, der übrigens der lauteste Rufer in der vonIhnen zu verantwortenden gesundheitspolitischen Wüstewar, hat damals vor dem Hintergrund des drohenden De-fizits die Regierung wegen Untätigkeit kritisiert. UmIhre Unterstellung, dies sei alles nicht so gewesen, einfür alle Mal zu widerlegen, darf ich mit Genehmigungder Präsidentin aus Drucksache 17/1201 zitieren:Für das Jahr 2011 gehen vorsichtige Schätzungenvon einem Defizit in Höhe von mindestens 11 Mrd.Euro aus.Lieber Kollege Franke, damit dürfte diese Diskussionauch beendet sein.
Sie, Frau Bunge, haben vor diesem Hintergrund imDezember 2009 erklärt, die schwarz-gelbe Regierungschaue zu, wie die gesetzliche Krankenversicherung vordie Wand fahre. Diese Wand aus rund 20 MilliardenEuro, liebe Frau Kollegin, welche die gesetzliche Kran-kenversicherung heute stabil hält, ist ganz sicher nichtdas schlechteste Ergebnis christlich-liberaler Politik.Frau Pfeiffer vom GKV-Spitzenverband warnte da-mals vor Ausgabensteigerungen ins Uferlose. LieberKollege Franke, Sie wollen ja ganz sicher nicht unter-stellen, dass Frau Pfeiffer solche Szenarien grundlos andie Wand malt.Was hat die christlich-liberale Koalition tatsächlichgetan?
Was hat zu der heutigen, überaus positiven Situation ge-führt, dass wir überhaupt Spielräume haben, um überKorrekturen in dem System nachdenken zu können?Die Koalition hat sich darangemacht, das System aufder Finanzierungsseite neu zu ordnen. Das war der ersteBeitrag zu stabilen Verhältnissen. Sodann haben wir unsrasch der Ausgabenseite zugewandt. Insbesondere imArzneimittelbereich haben wir uns den Herausforderun-gen gestellt, vor denen Sie leider immer wieder wegge-laufen sind. Wir haben uns des Grundproblems des Arz-neimittelbereichs angenommen und mit dem AMNOGnicht nur eine Nutzenbewertung in das System einge-
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Lars Lindemann
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führt, sondern darüber hinaus die Preisbildung wiederauf den Boden der sozialen Marktwirtschaft geholt. Jetztwird über die Preise von Arzneimitteln vernünftig ver-handelt. Dies war ein klares Bekenntnis der christlich-liberalen Koalition zur sozialen Marktwirtschaft auch imGesundheitsbereich.Ich weiß, dass Ihnen das wehtut, dass Sie um solcheFragen gerne einen Bogen machen. Deswegen will ichdie Menschen in diesem Land gerne noch einmal daranerinnern, was Gerhard Schröder – das ist, auch wenn Siedas ebenfalls nicht mehr hören wollen, der mit derAgenda 2010 – damals gemacht hat. Es war der Kanzlerder SPD, der, wie man das als ordentlicher Sozialistmacht, die Pharmaindustrie zum Rotwein ins Kanzler-amt einbestellt und sich dann zu einer netten und an denbescheidenen Wünschen des Gastes orientierten Zahlungverpflichtet hat.
Ich nenne das einen verantwortungslosen Ablasshandel,meine sehr geehrten Kollegen von der SPD.
Das ist im Übrigen auch der Gerhard Schröder, der inseiner Regierungszeit mit Ihnen, liebe Kollegen von denGrünen, jede Woche mit der Vertrauensfrage gedrohtund sie dann auch zweimal gestellt hat.
Diese christlich-liberale Koalition hat bisher zweiein-halb Jahre solide Gesundheitspolitik gemacht und damitzunächst einmal die Grundlage und die Freiräume für dieheutige Diskussion geschaffen. Nun halten Sie uns mitBlick auf diese solide Situation vor, es gebe in der christ-lich-liberalen Koalition Streit über die Frage, wie mit derPraxisgebühr umzugehen ist. Ich bitte Sie, gerade Sievon den Grünen und der SPD. Sie haben sich wegen sofundamentaler Fragen wie dem Dosenpfand fast zerlegt.Deswegen glaube ich nicht, dass gerade wir von Ihnenirgendwelche Vorhaltungen entgegenzunehmen brau-chen.Ich bekenne hier ausdrücklich: Wir von der FDP sindgeschlossen für die Abschaffung der Praxisgebühr,
die keine Steuerungswirkung hat und deren Funktionsich derzeit allein auf die Einnahmeerhöhung im Systemund bürokratische Auswüchse beschränkt. Wenn es dennaber in den Reihen unseres Koalitionspartners Vorstel-lungen gibt, die Praxisgebühr beizubehalten, weil ihreine neue Steuerungswirkung beigelegt werden soll, diezu höherer Eigenverantwortung und so tatsächlich zuverantwortungsvollerem Umgang mit den begrenztenRessourcen im System führt, dann werden wir darüberselbstverständlich mit der Union sprechen. Im Laufe sol-cher Gespräche brauchen wir aber weder Belehrungenvon der Opposition noch Anträge wie diesen zur Sofort-abstimmung, den wir selbstverständlich ablehnen wer-den. Es wird bei der Frage des Umgang mit der Praxis-gebühr eine Lösung geben, die allen gesetzlichVersicherten in diesem Land nützen wird. Das ist dasCredo der gemeinsamen Politik mit der Union.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Harald Terpe hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Krankenkassenbeiträge sind das Geld der Versicherten,die meines Erachtens einen Anspruch auf verantwor-tungsvollen und zweckdienlichen Umgang mit diesenBeiträgen haben. Es bedarf also guter Gründe im Fallekumulierender Überschüsse, diese den Versicherten vor-zuenthalten.Ja, wir haben Überschüsse, vor allem weil die Versi-cherten mit dem höchsten Einheitsbeitrag der Geschichtein Vorleistung gegangen sind
und weil die konjunkturelle Entwicklung in der letztenZeit günstig verlaufen ist. Ist diese Entwicklung abernachhaltig? Das ist doch die Frage. Zumindest wissenwir, dass die Finanzierung der Sozialsysteme mit demKonjunkturverlauf atmet, wir wissen aber auch, dass sievor allem nachhaltig ausgestattet werden muss. Das Sys-tem der Zusatzbeiträge, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Union und der FDP, ist alles andere als nachhal-tig, und zwar besonders deshalb, weil es das Solidarprin-zip aushöhlt.
Aber Überlegungen nach Art der Redewendung „Derkluge Mensch baut vor“ gehören für uns natürlich auchzur nachhaltigen Betrachtung. Wir kommen nach sorg-fältiger Abwägung zu dem Schluss, dass es Spielraumfür die Abschaffung der Praxisgebühr gibt. Man könntejetzt sagen, damit wäre die Sache zu Ende, aber wir wol-len uns noch mit der FDP beschäftigen.
Das werden wir gleich machen. Ich möchte darauf hin-weisen, dass die Praxisgebühr 2004 beschlossen wurdeund die zugedachte Funktion nicht erfüllt hat. Das habenviele hier schon gesagt. Sie gehört deshalb abgeschafft.Für uns ist es wichtig, die dadurch entstehenden Einnah-meausfälle der Krankenkassen durch den Gesundheits-fonds auszugleichen oder besser noch durch den Bei-tragssatzwettbewerb der Krankenkassen, den wir gernewieder einführen wollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19935
Dr. Harald Terpe
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Die Kolleginnen und Kollegen der FDP haben vollerÜberzeugung gesagt, nichts lieber machen zu wollen, alsdie Praxisgebühr abzuschaffen. Das ist gestern und heutenoch einmal gesagt worden. Somit könnte der heutigeTag für Sie ein guter Tag werden. Sie könnten gemein-sam mit uns hier und jetzt für die Abschaffung der Pra-xisgebühr stimmen.
Dann würden wir sehen, ob es sich nur um ein Schau-spiel handelt oder ob es wirklich Ihr Wille ist. Sie warenjedenfalls schon 2004 nicht diejenigen, die sich vehe-ment gegen die Praxisgebühr gewendet haben. Vielmehrhatte Ihr damaliger Diskutant Herr Gerhardt Ihre Ge-sundheitspolitik hier begründet. Sein Konzept bestandim Wesentlichen darin, dass er die gesetzliche Kranken-versicherung durch eine kapitalgedeckte Privatversiche-rung ersetzen wollte und dass er die Beschränkung desLeistungskatalogs der solidarischen Krankenversiche-rung gefordert hat.
Warum sammeln Sie nicht einfach dafür Unterschriftenin Kiel, Neumünster und Lübeck? Ich wäre gespannt,wie die Menschen auf der Straße damit umgehen wür-den.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,ich glaube, es geht Ihnen gar nicht darum, für die Patien-ten etwas Gutes zu tun oder vielleicht die Versichertenzu entlasten. Dieser Eindruck drängt sich mir auch des-wegen auf, weil zur gleichen Zeit, in der Sie in Schles-wig-Holstein Unterschriften für die Abschaffung derPraxisgebühr sammeln, Ihr Gesundheitsminister in Ber-lin ein Kompensationsgeschäft mit dem Finanzministereingeht. Finanzminister Schäuble darf den steuerlichenSozialausgleich einsammeln,
im Gegenzug erhält Ihr Minister 200 Millionen Euro fürseine Idee einer privaten Pflegezusatzversicherung. Diegesetzlich Versicherten bezahlen also letztlich mit ihrenZusatzbeiträgen dieses Geschenk der FDP an die priva-ten Versicherungsunternehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie ha-ben jetzt gleich die Möglichkeit, sich zu beweisen unddas Schmierentheater zu beenden, indem Sie mit uns zu-sammen für die Abschaffung der Praxisgebühr stimmen.Geben Sie sich einen Ruck! Dann müssen Sie auch nichtauf den Straßen von Schleswig-Holstein herumstehenund Unterschriften sammeln.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht unser Kollege
Stephan Stracke.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe FrauPräsidentin! Diese christlich-liberale Koalition und dieGesundheitspolitik der christlich-liberalen Koalitionsind erfolgreich,
so erfolgreich, dass es schon wieder Begehrlichkeitenaus den unterschiedlichsten Bereichen gibt,
sei es aus dem Bereich der Pharmaindustrie, die den ver-schärften Zwangsrabatt wieder abmildern möchte, sei esaus der Ärzteschaft, sei es aus dem Bereich der Kranken-häuser oder sei es auch aus der Politik. Vor allem vonden Linken
kommen ja immer wieder Vorschläge, wie man das Geldmöglichst gut ausgeben könnte.Die Gesundheitspolitik unserer christlich-liberalenKoalition zeichnet sich zunächst einmal durch solide Fi-nanzen aus.
Das ist alles andere als selbstverständlich. Wir erinnernuns ja, einige wahrscheinlich etwas düsterer, daran, dassfür 2011 ein Defizit von bis zu 11 Milliarden Euro pro-gnostiziert wurde. Dieses prognostizierte Defizit habenwir nun in Überschüsse in Höhe von über 20 MilliardenEuro gewandelt.
Das ist der Erfolg der christlich-liberalen Koalition undihrer Gesundheitspolitik.
Statt Defizite, wie es beispielsweise 2003 bei Rot-Grün mit 8 Milliarden Euro der Fall war, haben wir nunÜberschüsse.
Das tut Deutschland gut, und das tut den Versichertengut.
Das ist natürlich Anlass zur Freude, weil die Versicher-ten wissen: Mit einer soliden Finanzpolitik gerade in dergesetzlichen Krankenversicherung stellen wir sicher,
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19936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Stephan Stracke
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dass unser hervorragendes Gesundheitssystem auch inZukunft gut sein wird. Genau das ist das Entscheidendefür die Patienten.Jetzt gilt es, klar und überlegt zu handeln. Da hat jadie SPD – Herr Franke hat ja gerade vorher gesprochen –entsprechenden Diskussionsbedarf in den eigenen Rei-hen. Sie sagt, sie könne jetzt dem Antrag der Linken nursehr schwer folgen, es komme ein eigener Antrag derSPD. Ich bin einmal gespannt, ob der mit Substanz un-terlegt ist.Zum Ersten gehen Sie irrtümlich davon aus, dass Sie2013 an der Regierung sein werden. Das wird nicht derFall sein, sondern diese christlich-liberale Koalition wirdihre erfolgreiche Politik zum Wohle Deutschlands fort-führen. Davon können Sie ganz sicher ausgehen.
Zum Zweiten haben Sie keinen Vorschlag gemacht,wie Sie die Abschaffung der Praxisgebühr seriös finan-zieren wollen. Keinen einzigen Vorschlag! Deswegenmuss man sich vor Augen halten: 2 Milliarden Euro tra-gen zwar für zwei Jahre, aber nicht länger. Hierbei han-delt es sich wahrscheinlich wieder um diese Hand-in-den-Mund-Politik, wie sie die Roten am liebsten ma-chen, von den Kommunisten ganz zu schweigen. Deswe-gen gehen wir diesen Weg nicht mit.Wir setzen auf eine solide Politik, weil wir genau wis-sen, dass die Reserve über einen Zeitraum von zwei Jah-ren hinaus nicht reichen wird. Deshalb können wir keineandere Position vertreten. Unsere kluge Finanzpolitik inder gesetzlichen Krankenversicherung zeichnet sich da-durch aus, dass wir Ruhe bewahren und Gelassenheit anden Tag legen. Wir lassen zunächst einmal dieses Geldbei uns.
Ein Familienvater würde genauso entscheiden. Würdeer ein angespartes Guthaben auf den Kopf hauen, wenner absehen kann, dass Ausgaben in der Zukunft anste-hen? Vermutlich. So würde Ihre Antwort lauten. Aberwenn Sie an seiner Stelle wären, würden Sie sich ganzanders entscheiden. Oder nehmen Sie einen Vorsitzen-den, dessen Verein gut gewirtschaftet hat und der durchVertragsverlängerungen, die in der Zukunft anstehen, dieSpieler seiner Mannschaft halten möchte. Wird er dieüberschüssigen Einnahmen in Form von niedrigeren Ti-cketpreisen sofort weitergeben? Nein, das wird vermut-lich nicht geschehen. Genauso handeln wir in der gesetz-lichen Krankenversicherung.Was das Gesundheitsministerium feststellt, ist dochrichtig, nämlich dass mit 5 Milliarden Euro ein ökono-misch sinnvoller Puffer für ein nachhaltig finanziertesKrankenversicherungssystem nicht erreicht ist. Ich darfdaran erinnern: 5 Milliarden Euro Puffer sind in zehn Ta-gen aufgebraucht. Ist das wirklich nachhaltig? Kann manguten Gewissens einem Abbau dieses Puffers zustim-men? Wir sagen, nein. Nach unserer Auffassung ist esder richtige Weg, zunächst einmal das Pulver trockenzu-halten und klug und überlegt zu handeln. In diesemSinne empfehle ich die Ablehnung des Antrags der Lin-ken.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zunächst zum Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 17/9031 mit dem Titel „Praxisge-bühr abschaffen“. Die Fraktion Die Linke wünscht Ab-stimmung in der Sache, die Fraktionen von CDU/CSUund FDP wünschen Überweisung an den Ausschuss fürGesundheit. Die Abstimmung über die Ausschussüber-weisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage des-halb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieÜberweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heuteüber den Antrag auf Drucksache 17/9031 nicht ab.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8722 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ewa Klamt,Albert Rupprecht , Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. PeterRöhlinger, Dr. Martin Neumann , SylviaCanel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPForschung zur Sicherung der weltweiten Er-nährung– Drucksachen 17/6504, 17/9024 –Berichterstattung:Abgeordnete Ewa KlamtRené RöspelDr. Peter RöhlingerDr. Petra SitteKrista SagerEs ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe dem KollegenThomas Rachel das Wort für die Bundesregierung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19937
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir erleben derzeit ein kontinuierlichesweltweites Wachstum der Bevölkerung. Schon mehr als7 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Diese Men-schen brauchen eine gesicherte und vielfältige Ernäh-rung. Das erfordert eine ausreichende Produktion undeine gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln.Die Produktion der Nahrungsmittel wird zunehmendvon klimatischen Veränderungen beeinflusst. WichtigeRessourcen wie beispielsweise die Böden erodieren, undAnbauflächen werden knapper. Eine der Auswirkungensind stark schwankende Preise auf den internationalenAgrarmärkten. Dies trifft häufig die Ärmsten am stärks-ten.Ernährungssicherheit für alle Menschen heißt auch,einen tatsächlichen Zugang zu Lebensmitteln zu haben.Dazu kann und will die Forschung einen Beitrag leistenund sich in den Dienst der Gesellschaft stellen. So wirdzum Beispiel in der „Nationalen ForschungsstrategieBioÖkonomie 2030“ der Bundesregierung die wichtigeAufgabe, die weltweite Ernährung zu sichern, als einesvon fünf Handlungsfeldern genannt. Ein Beispiel ist dieVerbesserung des Saatguts. Wir unterstützen die Pflan-zenzüchtungen. Erträge konnten gesteigert werden, dieQualität und die Widerstandsfähigkeit der Pflanzenkonnten verbessert werden. Wir wollen Pflanzen mit ho-her Resistenz gegen Stress entwickeln.Aber Pflanzenzüchtung ist nur ein Aspekt. So vielfäl-tig die Ursachen für eine Mangel- und Fehlernährungsind, so vielfältig müssen auch die Lösungsansätze sein.Wir brauchen unterschiedliche wissenschaftliche Diszi-plinen. Wir wollen, dass die Ergebnisse von den Bäue-rinnen und Bauern in ihrem Lebensalltag umgesetztwerden können. Auch die Verbraucherinnen und Ver-braucher sollen mit einbezogen werden. Deshalb brau-chen wir stärkere Brücken zwischen naturwissenschaftli-cher und sozialwissenschaftlicher Forschung.
Weitere Themen sind die ökologische Graslandwirt-schaft, die Vermeidung von Nachernteverlusten und dieBiodiversität von Agrarflächen.Die „Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie2030“ hat zum Ziel, ressourcenintensive und umweltbe-lastende Verfahren durch nachhaltige biologische Pro-zesse abzulösen. Bei der Frage, ob Biomasse in den Tankoder auf den Teller gehört, will die Forschung Signalesetzen.Das BMBF hat die Förderinitiative „Globale Ernäh-rungssicherung – GlobE“ entwickelt. Wer sich die Welt-hungerkarte des Jahres 2011 ansieht, der erkennt, dassdie Unterversorgung mit Nahrungsmitteln in Afrika amschlimmsten ist. In Teilen von Afrika sind rund 35 Pro-zent der Bevölkerung unterernährt. Aufgrund dieserganz besonderen Betroffenheit wurde der afrikanischeKontinent auch regionaler Schwerpunkt für die Förder-aktivitäten des BMBF.Drei Punkte der Initiative möchte ich herausheben.Erstens: Partnerschaftlichkeit und regionale Anpas-sung. Wir wollen eine partnerschaftliche Zusammen-arbeit zwischen deutschen und afrikanischen Forscherin-nen und Forschern bei der Analyse und der Auswahl desForschungsansatzes. Wir wollen, dass Wahlfreiheit überdie geeigneten Methoden und Verfahren gewährleistetwird. Die Entscheidung sollte nicht von außen bestimmtwerden, sondern sie sollte im Einklang mit den regiona-len Bedürfnissen und Strategien getroffen werden; dennForschungsergebnisse entfalten ihre Wirksamkeit nurdort, wo sie tatsächlich aufgegriffen und in der Praxisumgesetzt werden. Wir wollen die aktive Beteiligungvor Ort.
Zweitens: systemische Orientierung. Bei dem welt-weiten Nahrungssystem haben wir es mit vielen Fakto-ren zu tun: Boden, Anbauweise, Lagerung, sozialeStrukturen, Vermarktung und nicht zuletzt klimatischeFaktoren. Das System beginnt beim Mikroorganismus,der die Bodenfruchtbarkeit reguliert, und geht bis zu denglobalen Handelssystemen, welche die Agrarpreise mit-bestimmen. Wir müssen insofern die Komplexität derNahrungssysteme in den Blick nehmen. Dafür ist eineganzheitliche Systembetrachtung erforderlich. Wir ge-hen insofern über die Empfehlungen des Berichts desTAB „Forschung zur Lösung des Welternährungspro-blems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung“ hinaus.Drittens: Ressortzusammenarbeit. Wir wollen in derBundesregierung interdisziplinär zusammenarbeiten. ImRessortkreis „Welternährung“ arbeiten das Bundesland-wirtschaftsministerium – ich sehe hier den KollegenStaatssekretär Gerd Müller –, das BMZ und das BMBFbei der Verzahnung der gemeinsamen Förderinstrumentein der internationalen Agrarforschung zusammen. Diesegute Zusammenarbeit ist die Grundlage für den Wissens-transfer in die Praxis vor Ort.
In der „Strategie der Bundesregierung zur Internatio-nalisierung von Wissenschaft und Forschung“ haben wirdie Zusammenarbeit mit Schwellen- und Entwicklungs-ländern im Sinne einer globalen Verantwortung in denMittelpunkt gestellt. Das Forschungsministerium unter-stützt unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ den Auf-bau von Kompetenzzentren „Klimawandel und ange-passtes Landmanagement in Afrika“.Im Februar hat das BMBF Kooperationsverträge mitzehn westafrikanischen Ländern geschlossen und eineKooperation auf Augenhöhe vereinbart. Deutsche Wis-senschaftler erforschen mit afrikanischen Wissenschaft-lern die örtlichen Auswirkungen des Klimawandels underarbeiten konkrete Maßnahmen zum Umgang mit demKlimawandel. Für dieses Zentrum und ein vergleichba-res Zentrum im südlichen Afrika, dessen Kooperations-vertrag Frau Ministerin Schavan im April unterschreibenwird, wird das Bundesministerium für Bildung und For-schung 100 Millionen Euro bereitstellen.
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19938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
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Sie sehen: Mit diesen ganz unterschiedlichen Ansät-zen begegnen wir dem Problem der Welternährung. For-schung kann und muss einen wesentlichen Beitrag zu ei-ner verbesserten Ernährungssituation weltweit leisten.Herzlichen Dank.
René Röspel hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich darf vorab sagen: Wir sind froh, dass die Ko-alition einen Antrag zum Thema „Forschung zur Siche-rung der weltweiten Ernährung“ vorlegt. Mir ist zwarnicht ganz klar, warum die Bundesregierung mit der Dis-kussion über einen solchen Antrag beginnt, aber viel-leicht ergibt sich das ja im weiteren Verlauf der Debatte.Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass die Welt-ernährung im Sinne der Solidarität auch in der Erstenund in der Zweiten Welt eine der Hauptaufgaben ist. Wirsind uns allerdings nicht darüber einig – das waren wirauch in den letzten Jahren nicht –, wie der Weg dahin be-schritten werden sollte, die Welternährung sicherzustel-len und den Hunger weltweit zu bekämpfen.Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren. Sie schreiben:Durch Forschung und Wissenstransfer muss dieWissenschaft zum Aufbau funktionierender, an ver-änderte klimatische Bedingungen angepasste Er-nährungssysteme in den von Hunger betroffenenRegionen beitragen …Und:Produktionssteigerung und Nachernteverluste müssenauch unter Einbeziehung neuer Technologien ver-stärkt von der Forschung aufgegriffen werden. Dieseneuen Technologien sind notwendig, um modernesSaatgut, Pflanzenschutz und Düngemittel zu entwi-ckeln … Die Chancen der Grünen Gentechnik …sollten genutzt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions-fraktionen, wir finden Ihre Zielsetzung, die Welternäh-rung sicherzustellen, richtig. Wir haben in Ihrem Antragauch einige Sätze gefunden, die wir im Sinne einer ganz-heitlichen Betrachtung unterstützen können. Aber dieSprache Ihres Antrags – in ähnlicher Weise hat sich vor-hin auch der Staatssekretär für die Bundesregierung ge-äußert – lässt uns leider vermuten, dass es bei den Frak-tionen von FDP und CDU/CSU möglicherweise einenRückfall in die Zeiten und in den Duktus der letztenJahre gegeben hat. Wir haben häufig genug Anträge dis-kutiert, wie wichtig denn die Grüne Gentechnik zurRettung der Welternährung und zur Bekämpfung desHungers sei. Vielleicht war das ein Beitrag der Bundes-regierung, noch einmal hervorzuheben, dass wir durcheine Verbesserung des Saatguts zur weltweiten Ernäh-rung beitragen könnten.Herr Staatssekretär, im Zusammenhang mit der For-schungsstrategie BioÖkonomie spiegelt die Zusammen-setzung des BioÖkonomieRats – also eines wesentlichenGremiums – nicht die Intention wider, etwas für denökologischen Landbau, für Entwicklungspolitik zu ma-chen. Ich habe gar nichts gegen die Personen, aber derRat setzt sich zusammen aus den Vertretern der großenKonzerne und den Vertretern der wissenschaftlichen In-stitutionen. Dort ist man mit Technik oder Biologie be-fasst, aber nicht mit Sozialwissenschaften, und damitnicht mit der Welternährung im engeren Sinn. Genau dasist unser Kritikpunkt.
Die Sprache in dem Antrag suggeriert: Wir als westlicheWelt entwickeln die Technologie und die Methoden.Diese geben wir dann der Dritten Welt, damit sie dortAnwendung finden. Das ist der falsche Weg.
Im Ausschuss – leider nicht hier – haben wir den An-trag gemeinsam mit dem Bericht des Büros für Technik-folgenabschätzung beraten, den Sie zwar auch erwähnen– Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems –,in den Sie aber, glaube ich, nicht hineingeschaut haben.
Denn daraus ergeben sich andere Schlussfolgerungen undandere Wahrnehmungen. Ich will es plakativ sagen: ImTAB-Bericht steht: 1 Milliarde Menschen auf der Weltleidet Hunger. 1 Milliarde Menschen auf der Welt istübergewichtig und fehlernährt. Das kann man natürlichnicht pauschal saldieren, aber es zeigt einen Kernpunkt,der auch im Bericht erwähnt wird: Seit Jahrzehnten gibtes eine weltweite Überproduktion von Nahrungsmitteln.Wenn wir über ein Welternährungsproblem reden, redenwir nicht über ein Mangelproblem, sondern wir redenüber ein Armutsproblem und in erster Linie über ein Ver-teilungsproblem.
Wir sind in der Lage, genügend Nahrungsmittel zuproduzieren, und zwar für alle Menschen auf dieser Weltund noch viel mehr. Wir schaffen es aber nicht, die Er-nährung sicherzustellen, weil die Verteilung nicht funk-tioniert. Die Lösung dieses Problems wird man sicher-lich nicht in erster Linie über Technikansätze finden,sondern über gesellschaftliche und politische Ansätze.Dazu braucht man eben auch zum Beispiel die Sozial-wissenschaften.Sie hätten in den TAB-Bericht schauen sollen. Es gibtim Antrag einige Ansatzpunkte, die vernünftig sind.Aber es wird zum Beispiel auch gefordert, dass dieGrundnahrungspflanzen Mais, Reis, Weizen und Soja inden Blick genommen werden sollen. Das sind genau diePflanzen, bei denen in der Regel weltweit die Gentech-nik genutzt wird. Im Bericht des TAB – ein sehr diffe-renzierter, guter Bericht – finden Sie ein ganzes Kapitel
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19939
René Röspel
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über sogenannte vernachlässigte Kulturpflanzen. Dassind diejenigen Pflanzen, die in den betroffenen Regio-nen existieren, die nicht nur an die geografischen Stand-orte angepasst sind, sondern auch – das ist eigentlich vielwichtiger – an die dortigen sozioökonomischen Verhält-nisse; das heißt, die Bauern haben jahrhundertelang ge-lernt, mit diesen Pflanzen umzugehen. Jetzt kommt – et-was verkürzt gesagt – das neue Saatgut, die neuenwestlichen Hightechpflanzen, und sollen die Rettungbringen. Es wäre sinnvoll, zu erforschen – es gibt in die-sem Bereich einen großen Forschungsbedarf –, wie diealten Sorten, die vernachlässigten Kulturpflanzen vorOrt vernünftig und mit höherer Effizienz angebaut wer-den können.
Zweiter Punkt. Ein wichtiger Aspekt im TAB-Bericht,der überhaupt nicht erwähnt wurde – weder im Antragnoch gerade von der Bundesregierung –, ist der Bereichdes Ökolandbaus in Entwicklungsländern. Ich fand dieAussage im TAB-Bericht schon sehr spannend: DerÖkolandbau in Deutschland bringt im Vergleich zumkonventionellen Landbau nur 80 Prozent der Erträge;aber der Ökolandbau in den Entwicklungsländern bringtin der Regel 80 Prozent mehr Ertrag als der konventio-nelle Landbau.
Das hat mit der Düngesituation und anderem zu tun. Eszeigt: Hier besteht ein großer Bedarf für Forschung.
Die rot-grüne Regierung hat 2002 ein BundesprogrammÖkologischer Landbau, damals mit einem Volumen von35 Millionen Euro, gestartet. Wir stellen fest, dass dieserAnsatz heute, im Jahre 2011, um mehr als die Hälfte re-duziert ist.
Es wäre ein wichtiger Punkt, hier auch für die DritteWelt und die Betroffenen verstärkt Forschung zu betrei-ben.
Ein wichtiger Punkt ist auch der Beitrag der Klein-bauern vor Ort zur Ernährung der Region; er wird immerunterschätzt. Dazu kein Wort seitens der Bundesregie-rung oder im Antrag. Es muss leider eine private Stif-tung sein – trotzdem danke schön! –, die Stiftung Merca-tor, die zusammen mit der ETH, einer Hochschule inZürich, ein 5-Millionen-Franken-Projekt auf den Wegbringt, bei dem es darum geht, nachhaltige Landwirt-schaft und die Bedeutung von Kleinbauern in den Regio-nen einmal wirklich zu erforschen und ihre Situation zuverbessern. Man schaut auf das, was wichtig ist, nämlichdarauf, wie die Situation der Kleinbauern in den betrof-fenen Regionen verbessert werden kann. Warum machtdas eine private Stiftung? Wo ist da der Bund? Wo ist dieInitiative Ihrer Regierung in dieser Frage? Das wäre einrichtiger Ansatzpunkt gewesen.
Die mangelnde Initiative hat vielleicht damit zu tun,dass es – auch das ist ein Anregungspunkt aus dem Be-richt des Büros für Technikfolgen-Abschätzung – eineMarginalisierung der agrarwissenschaftlichen Forschungin Deutschland gibt, gerade in den Bereichen Agrarso-ziologie und Agrarökonomie. Es wird überwiegend aufdie Technik geschaut; aber die Beschäftigung mit denanderen Fragestellungen wird seit Jahren zurückgeführt:Wie wird richtig angepflanzt? Wie ist im Umfeld beson-derer geografischer oder ökonomischer Bedingungenvorzugehen? Es wäre angezeigt, eine Initiative für mehragrarwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich aufden Weg zu bringen.
Das schließt die Frage ein, wie es eigentlich gewährleis-tet werden kann, dass die Bauern einen fairen Zugang zudem bekommen, was sie selbst erwirtschaften, Stich-wort, wie es so schön auf Neudeutsch heißt: Access andBenefit Sharing.Also: Wir sehen, dass es viele Chancen und Ver-pflichtungen gibt, auch für unser Land. Wir finden, dassgerade in dem TAB-Bericht ein Füllhorn von Möglich-keiten genannt wird, die Sie hätten nutzen und in IhrenAntrag einbringen können. Das ist nicht passiert. Das be-dauern wir genauso wie die technische Orientierung desAntrags. Deswegen werden wir weiterhin einen anderen,ganzheitlicheren Weg wählen und Ihrem Antrag nichtzustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Themaist zweifelsohne ein Megathema. Denjenigen, die zumersten Mal in den Bundestag gekommen sind, und denZuschauern will ich sagen: Es ist nicht das erste Mal,dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Wir habenauch in einer der letzten Sitzungswochen mit diesemThema beschäftigt. Wir haben unter anderem über die„Nationale Forschungsstrategie Bioökonomie“ und auchüber ein Thema, das mich besonders interessiert, näm-lich die vernachlässigten und armutsassoziierten Krank-heiten, diskutiert. Denn jeder weiß, dass man nicht überErnährung sprechen kann, ohne auch über Hygiene undüber die Versorgung mit sauberem Wasser zu sprechen.
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19940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Peter Röhlinger
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Unser heutiger Antrag und die Maßnahmen der Bun-desregierung sind gedacht als Beitrag zur Bekämpfungvon Hunger und Mangelernährung. Das betrifft vor al-lem die Bevölkerung in Entwicklungsländern. Wir kön-nen das Problem in seiner ganzen Komplexität mit denjetzigen Vorlagen zwar nicht lösen, aber wir können zurLösung beitragen.Auch der TAB-Bericht konzentriert sich auf dieFrage, welchen Beitrag die Forschung zur Lösung desWelternährungsproblems leisten kann. Nun will ich fürSie kurz erklären: Was heißt TAB-Bericht? Das ist dasBüro für Technikfolgen-Abschätzung beim DeutschenBundestag. Dieses Büro erarbeitet Gutachten und stelltden Abgeordneten die Ergebnisse regelmäßig vor.
Es freut uns, dass der TAB-Bericht zum Beispiel dieFördermaßnahme „globale Ernährungssicherung“ derBundesregierung lobt. Die wissenschaftliche Kooperationmit afrikanischen Ländern ist ein vielversprechender An-satz. Hier unterscheiden wir uns, lieber Herr KollegeRöspel.
Seit zwei Jahren bemühen wir uns gemeinsam mit derBundesregierung um neue Modelle in der wirtschaftli-chen Zusammenarbeit. Es soll nicht nur Ausdruck derSolidarität sein; wir wollen den Hunger nicht allein mitder Reisschüssel bekämpfen. Vielmehr geht es uns umpartnerschaftliche Zusammenarbeit. Herr Rossmann, wirwaren gestern bei einer hochkarätig besetzten Veranstal-tung mit den Präsidenten von Max-Planck-Gesellschaftund DFG. Dort wurde bestätigt, dass genau das notwen-dig ist.
Die Max-Planck-Gesellschaft selbst führt Veranstaltun-gen durch und hat sich zum Ziel gesetzt, geeignete Insti-tute in den Ländern zu etablieren, um die Zusammenar-beit zu verbessern. Das ist der richtige Weg.
Natürlich kann das nicht von heute auf morgen aus demBoden gestampft werden, aber es ist der richtige Weg,um den Hunger in der Welt zu bekämpfen.
Wenn von Forschung und Wissenschaft die Rede ist,dann geht es um klassische Züchtungsmethoden, umSaatgutforschung, um die Züchtung von krankheitsresis-tenten Tierrassen und um die Verbesserung von biologi-schen Eigenschaften mancher Tiere und Pflanzen. Esgeht aber auch um neue Technologien. Bei der Bekämp-fung von Krankheiten handelt es sich im Sinne der Si-cherheitsforschung auch darum, dass wir uns nicht nurum die Krankheiten in Afrika und Asien kümmern. Vordem Hintergrund des Klimawandels müssen wir damitrechnen, dass einige Krankheiten aus diesen Ländern aufkurzem Wege zu uns nach Europa kommen werden.Der TAB-Bericht zeigt drei Perspektiven auf, die we-sentlich für die Fortschritte bei der Bekämpfung vonHunger und Mangelernährung sind. Es geht erstens umdie Menge der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel,es geht zweitens um die Verteilung der Lebensmittel undden Zugang dazu. Und es geht drittens um Ernährungs-gewohnheiten und um Wissen über gesunde Ernährung.Die drei Handlungsoptionen in der Forschungspolitiksind: die verstärkte Ressortkooperation bei der For-schungsförderung, mehr nutzerorientierte Forschungund kooperative „Leuchtturmprojekte“. Herr Röspel, ge-rade bei den Punkten Ressortkooperation und nutzer-orientierte Forschung geht es doch darum, dass mankeine Elfenbeintürme baut; denn damit ist der Sachenicht gedient. Vielmehr steht die Nutzerorientierung imVordergrund. Das ist für uns der richtige Ansatz.In dem Zusammenhang darf ich – auch mit Blick aufdie Uhr – als Letztes feststellen: Die Veranstaltung ges-tern hat uns bestätigt. Wir stellen auch für die nächstenJahre – wir sind ja bei den Haushaltsberatungen – so vielGeld bereit, dass wir für die Entwicklungsländer weiter-hin zuverlässige Partner sind. Darauf können wir stolzsein.
Auch unser Antrag leistet hier, davon bin ich überzeugt,einen wichtigen Beitrag.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Dem Titel des Koalitionsantrags „For-schung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“ könnteman noch zustimmen, wäre nicht die Agrarforschungseit Jahren durch massiven Personalabbau und Standort-schließungen in die Krise gespart worden. Die Linke for-dert regelmäßig eine öffentlich finanzierte Agrarfor-schung, die den weltweiten Herausforderungen ge-wachsen, die besser vernetzt und strategisch koordiniertist. Geändert aber hat sich nichts. Die Defizite werdendeshalb immer größer.Dabei hat das Büro für Technikfolgen-Abschätzung– das hier schon mehrfach genannt wurde – gerade einendringenden Perspektivenwechsel in der Welternährungs-debatte angemahnt:
weg von der Fokussierung auf reine Produktionssteige-rungen hin zur realen Verbesserung der Ernährungssitua-tion der Menschen vor Ort. Auch die Endlichkeit vonWasser, Boden und Dünger fordert dringend einen Para-digmenwechsel hin zu finanzierbaren sozial-ökologi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19941
Dr. Kirsten Tackmann
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schen Agrarkonzepten, die Ertragssteigerung vom Res-sourcenverbrauch abkoppeln. Dazu gibt es sehr inno-vative Ansätze, und zwar jenseits der Agrogentechnik,zum Beispiel selbstdüngende Pflanzen, den sogenanntenTauchreis, der Überschwemmungen überlebt, oderDurstmesser bei Pflanzen zur bedarfsgerechten Bewäs-serung.Der Koalitionsantrag aber erzählt das uralte Märchenvom Kampf gegen den Hunger durch Intensivierung derProduktion in Europa und Heilsversprechen aus demGentechlabor. Dabei ist der Produktionsmangel ein My-thos. Weltweit stehen rein rechnerisch circa 2 800 Kalo-rien pro Kopf zur Verfügung. Das ist mehr, als ein ge-sunder, aktiver Mensch braucht. Wenn die Nahrungs-mittel fair verteilt würden, gäbe es also überhaupt garkeinen Hunger.
Es gibt aber zwei riskante Trends. Erstens. Die Welt-bevölkerung wächst schneller als die Nahrungsmittel-produktion.
Zweitens. Immer weniger landwirtschaftliche Nutzflä-che ist für die lokale Ernährungssicherung verfügbar.Die Antwort der Koalition auf die mutmaßlich entste-hende Lücke bei der Versorgungssicherung ist, diesedurch Intensivierung der Produktion zu schließen.
Das ist schon angesichts der gigantischen Lebensmittel-verschwendung eine völlig absurde Debatte. Aber dieKoalition leugnet dabei die sozialen und ökologischenUrsachen von Hunger und die Mitschuld der Industrie-länder an der Hungersituation in der Dritten Welt. Ichnenne das neokolonial.
Der frühere UN-Sonderberichterstatter für das Rechtauf Nahrung, Jean Ziegler, sagte – hören Sie bitte zu! –das so:Es geht nicht darum, den Ländern des globalen Sü-dens mehr zu geben, sondern ihnen weniger wegzu-nehmen.Mangel- und Fehlernährung haben mit Armut im globa-len Süden und mit Reichtum in den Industrieländern zutun. Das will ich kurz begründen:Erstens. Armut forciert das rasante Wachstum derWeltbevölkerung. Es ist kein Naturgesetz.Zweitens. Armut hemmt die Agrarproduktion im glo-balen Süden. Sie wird durch Kriege, Abwanderung, feh-lende Zugänge zu Wasser, Boden, Saatgut und Dünge-mitteln gehemmt. Geringe Bodenfruchtbarkeit undKlimawandel können eben nicht ausgeglichen werden.Drittens. Armut führt zum Verlust von Ackerflächenzur lokalen Ernährungssicherung. Das ist so, weil Agrar-exportgüter für Biosprit, Futtermittel oder Baumwolleangebaut werden und weil der Boden in Händen auslän-discher Investoren ist. Bodenerosion und Wüstenbildun-gen tun ihr Übriges.Die Sicherung der Welternährung setzt deswegenzwingend Armutsbekämpfung voraus. Agrarforschungund Wissenstransfer sind dabei dringend gefragt. Dazugehört zum Beispiel auch die Verhinderung von Biopira-terie und Biopatenten.
Die Linke fordert deshalb folgende fünf Punkte.
Erstens. Agrarforschung muss öffentlich finanziertund auf die Verbesserung der Lebensbedingungen vorOrt ausgerichtet sein. Dazu gehören Agrarsoziologie undAgrarökonomie.Zweitens. Die Mittel für die Entwicklungszusammen-arbeit sind unverzüglich auf 0,7 Prozent des Bruttoin-landsprodukts anzuheben und gezielter für die regionaleErnährungssicherung und die Stärkung von Frauen undFrauenrechten einzusetzen.
Drittens. Spekulationen mit Agrarrohstoffen und Bo-den müssen wirksam bekämpft werden.Viertens. Das Leitmotiv der EU-Agrarpolitik mussErnährungssouveränität werden.Fünftens. Agrarimporte müssen begrenzt und fair be-zahlt werden.
Das heißt aber auch: Zur Beseitigung des Hungers inder Welt gehört die Änderung unseres Lebensstils. Alldas fehlt in dem Antrag der Koalition. Deswegen könnenwir ihm nicht zustimmen.Vielen Dank.
Der Kollege Harald Ebner hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Ja, es ist wahr: Wir stehen weltweit vor großenHerausforderungen. Wir müssen uns damit auseinander-setzen, welche Art von Ernährung eine wachsende Welt-bevölkerung braucht, wie wir diese sichern und dabei dieökologischen Lebensgrundlagen bewahren können.Im Zentrum aller Überlegungen müssen die Betroffe-nen stehen. Die Experten sind sich einig: Der Großteilder Hungernden sind Kleinbauern und landlose Land-arbeiter, genauer gesagt: Kleinbäuerinnen und landlose
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19942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Harald Ebner
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Landarbeiterinnen; denn es sind die Frauen, die in denfraglichen Ländern die Verantwortung in der Landwirt-schaft übernehmen. Das ist die Zielgruppe. Es gilt, fürdiese Menschen Lösungen und Forschungsansätze zuentwickeln.
In dem erwähnten TAB-Bericht wird diese Frage auffast 100 Seiten umfassend behandelt, so wie es die Pro-blematik erfordert. Der vorliegende Antrag der Koalitionumfasst gerade einmal zweieinhalb Seiten.
– Man könnte sagen: Klasse statt Masse. Jetzt schauenwir einmal, wo die Qualitäten liegen.Der Bericht spricht eine klare Sprache: Die bisherigeForschung setzt überwiegend auf Produktionssteigerun-gen mithilfe von externen Inputs – Kunstdünger, Pesti-zide, Hybrid- oder gar gentechnisch verändertem Saat-gut. Dabei macht der TAB-Bericht deutlich, dass solchetechnologiefixierten Ansätze die eigentlichen Adressatenoft überhaupt nicht erreichen, sondern nur lokalen Elitennutzen. Dagegen werden wichtige Forschungsfeldervernachlässigt, die laut Bericht wesentlich vielverspre-chendere und nachhaltigere Beiträge zur Welternährungliefern könnten, zum Beispiel Low-Input-Systeme wieder Ökolandbau, dem der Bericht – ich zitiere – „enormesPotenzial“ zur Ertragssteigerung und -stabilisierung be-scheinigt.
Der Einfluss von Ernährungsstilen auf die Nahrungs-mittelversorgung wird in Deutschland praktisch über-haupt nicht erforscht. Überhaupt wird der gesamte Be-reich der Nachfrageseite vernachlässigt. Es fehlt auch anForschung, die mittels echter Partizipation zuerst die Be-dürfnisse der Zielgruppe abfragt und dann angepassteLösungen entwickelt, die wirklich dem Leitbild „Hilfezur Selbsthilfe“ entsprechen. Die Worte von HerrnRachel habe ich wohl gehört, aber ich finde sie im An-trag nicht.
Inter- und transdisziplinäre Ansätze müssen Sie inDeutschland mit der Lupe suchen, ebenso Lehrstühle fürAgrarsoziologie. Es gilt, genau hier anzusetzen. Dochder Antrag beschränkt sich auf Gemeinplätze und allge-meine Forderungen, ohne die Kernanregungen des TAB-Berichts konkret aufzugreifen. Schlüsselfaktoren derWelternährung – die Situation der Kleinbauern, Gender-fragen, marginale Standorte oder Ernährungsstile – wer-den im Antrag überhaupt nicht erwähnt.Stattdessen setzt die Bundesregierung, allen voranMinisterin Aigner, ihre bisherige Agrarpolitik unver-drossen fort. Auf 3 Millionen Hektar werden in Südame-rika Futtermittel für deutsche Tierställe angebaut. Werwie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsereKleine Anfrage zur Welternährung behauptet, dass derAnbau von Futtermitteln in Entwicklungsländern für dieFleischproduktion in Europa ein Beitrag zur Welternäh-rung sei, verspielt jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeitin Welternährungsfragen.
In dem TAB-Bericht wird von einem ungeheurenUngleichgewicht hinsichtlich der Mittelausstattung vonAgrogentechnik und Ökolandbau gesprochen, und eswerden konkrete Forschungsfelder benannt, auf denenstattdessen vermehrt gearbeitet werden muss. Und da ha-ben Sie die Stirn, in Ihrem Antrag zu fordern, dass diezentralen Forschungsfelder erst einmal identifiziert wer-den müssten. Sie wollen munter weitere Prüfschleifendrehen. Sie wollen weitere wertvolle Jahre verplempernund noch einmal fragen, wo geforscht werden muss.Statt die Empfehlung des Berichts aufzugreifen, rennenSie immer noch technologiegläubig den Heilsverspre-chen der Agrogentechnik hinterher,
und das, obwohl die Bundesregierung in ihrer Antwortauf unsere Kleine Anfrage gerade erst bestätigen musste,dass die Gentechnik keinen signifikanten Beitrag zurWelternährung geliefert hat. Ich verkürze meine Redejetzt, da meine Redezeit gleich abgelaufen ist.
Wenn man die heiße Luft, die Sie in solchen Anträgenund Anfragen produzieren, zur Energiegewinnung nut-zen könnte, wäre die Energiewende schon geschafft.
Wir können und dürfen es uns aber nicht leisten, einergleichermaßen riskanten wie teuren und erfolglosenTechnologie weiterhin Millionen hinterherzuwerfen. DieWelternährungsfrage ist zu wichtig, um sie derart unse-riös in einem Kurzantrag abzuhandeln. Nach dem TAB-Bericht ist dieser Antrag eine Bankrotterklärung derschwarz-gelben Politik.
Ewa Klamt hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Nur ein Kommentar zu dem Beitrag, den wir eben
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19943
Ewa Klamt
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gehört haben. Ich sage immer: Lesen bildet. Vielleichthätten Sie den gesamten Antrag einmal sorgfältig lesensollen.
Wir haben es gehört: Im Jahr 2050 werden nach heuti-gen Berechnungen rund 9 Milliarden Menschen Nah-rung benötigen. Der Bedarf an Nahrungsmitteln wird bisdahin um 50 Prozent steigen. Bereits heute leiden fast1 Milliarde Menschen Hunger, und eine weitere Mil-liarde Menschen ist von Mangelernährung betroffen.Damit gehört die Sicherung der weltweiten Ernährung inden nächsten Jahrzehnten ganz sicher zu den drängends-ten Aufgaben für die gesamte Weltgemeinschaft undnicht allein für Deutschland.
Wir müssen also in diesem Zeitraum gewaltige An-strengungen unternehmen, um den wachsenden Bedarfan Lebensmitteln zu decken. Das Phänomen Hunger hat,wie wir wissen, verschiedene Ursachen: Klimatische, so-ziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflussendie Nahrungsmittelproduktion. Ebenso spielen der feh-lende Zugang zu Düngemitteln, brachliegende Produk-tionspotenziale oder fehlende Landnutzungsrechte eineRolle. Klassischerweise ist es Aufgabe der Entwick-lungshilfe, den betroffenen Menschen bei der Bewälti-gung dieses Problems zu helfen. Aber auch die For-schung kann und muss einen erheblichen Beitrag zurSicherung der weltweiten Ernährung und zur Entwick-lung einer nachhaltigen Agrarwirtschaft leisten.Staatssekretär Rachel hat auf die „Nationale For-schungsstrategie BioÖkonomie 2030“ hingewiesen.Meine Damen und Herren von der Opposition, vielleichtwissen auch Sie, dass diese bereits im letzten Jahr aufden Weg gebracht wurde. In dieser Strategie ist Erhebli-ches enthalten; diese haben Sie anscheinend noch nichtgelesen. Darin wird die weltweite Ernährung als einesvon fünf prioritären Handlungsfeldern genannt.
Um diese Forschungsstrategie zu flankieren, haben wirden Antrag „Forschung zur Sicherung der weltweitenErnährung“ eingebracht. Unsere Forderung ist, themen-offen im Bereich der Forschung nach Lösungen zusuchen, um die weltweit wachsende Bevölkerung ausrei-chend ernähren zu können. Eines der von uns benanntenZiele ist, eine Gesamtbetrachtung des Ernährungssys-tems zu verfolgen, welche über technisch-methodischeLösungen hinausgeht. So steht es unter Punkt II b desAntrags.
Wir wollen bewusst selbsttragende Systeme entwi-ckeln und fördern. Das soll gemeinsam mit den Partnernvor Ort in einem disziplinübergreifenden Ansatz verfolgtwerden; denn nur wenn die Kenntnisse und Erfahrungender Partner aus den betroffenen Regionen eingebundenwerden, können die Lösungsansätze erfolgreich sein.Wie wir gehört haben, wird im Antrag ein Schwer-punkt auf die afrikanischen Länder und die deutsch-afrikanischen Partnerschaften gelegt. Gerade hier gilt es,regionale Defizite in der Agrarforschung zu identifizie-ren und den Aufbau von Forschungs- und Entwicklungs-infrastrukturen vor Ort zu unterstützen. Anwendungs-orientierung ist uns dabei ein zentrales Anliegen.Aus meiner Sicht darf es bei allen Fragen zur Siche-rung der Welternährung keine Denkverbote geben. AlleLösungsansätze müssen in Betracht gezogen werden.Das beinhaltet auch, dass eine Polarisierung zwischenden verschiedenen Produktionsmethoden keinen Sinnmacht.
Bekanntermaßen wurde parallel zu unserem Antragder Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzungzum Problem der Welternährung veröffentlicht. Er zeigtuns in seiner wissenschaftlichen Ausarbeitung auf knapp200 Seiten,
dass das Problem außerordentlich komplex ist und wedermit einer Maßnahme, wie wir sie jetzt auf den Weg brin-gen, noch von Deutschland allein gelöst werden kann.Nichtsdestotrotz – ich denke, da sind wir uns alle einig –ist es wichtig, das Problem anzupacken.Ich begrüße ausdrücklich, dass das Ministerium dieFörderinitiative „GlobE“ gestartet hat, die die zentralenForderungen unseres Antrags aufgreift. „GlobE“ ist ausmeiner Sicht innovativ, methodenoffen und technologie-übergreifend. Die Initiative konzentriert sich geradenicht, meine Damen und Herren von der Opposition,ausschließlich auf Agrar- und Naturwissenschaften,sondern sucht explizit die Einbindung angrenzenderFachdisziplinen wie der Geo- und Sozialwissenschaften.Gefördert werden ausschließlich Verbundprojekte deut-scher Forschungseinrichtungen und ihrer afrikanischenPartner. Damit werden gerade bestehende Strukturen ge-zielt gestützt, aber auch neue aufgebaut.Meine Damen und Herren, wir wissen, dass jedesfünfte Kind, das heute geboren wird, hungrig aufwach-sen wird. Daher sollten wir jeden Beitrag der Forschungzur Sicherung der Welternährung unterstützen. For-schung kann und soll die wichtige Entwicklungshilfenicht ersetzen. „GlobE“ ist aber ein zentraler Bausteinbei der Sicherung der Welternährung.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
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19944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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und der FDP mit dem Titel „Forschung zur Sicherungder weltweiten Ernährung“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/9024, den Antrag auf Druck-sache 17/6504 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-mung durch die Koalitionsfraktionen und Ablehnungdurch die Oppositionsfraktionen angenommen.Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8:Beratung des Antrags der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Priska Hinz , KatjaDörner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEnergiewende und Klimaschutz solide finan-zieren – Nachtragshaushalt nutzen– Drucksache 17/8919 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund EntwicklungHierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dannist das so beschlossen.Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Sven-Christian Kindler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute diskutieren wir hier im Bundestag da-rüber, wie wir die Energiewende und den Klimaschutzim Bundeshaushalt solide finanzieren können. Diese Ko-alition hat ja einen Fonds eingerichtet, den sogenanntenEnergie- und Klimafonds. Das ist ein Schattenhaushalt,der neben dem Bundeshaushalt existiert. Nach demAtomkonsens im Sommer 2011 wurde versprochen, da-mit könne man den Energieumbau langfristig und sicherfinanzieren. Wir haben das schon damals nicht geglaubt.Schauen wir uns einmal an, was konkret passiert ist.Für dieses Jahr, für 2012, waren 780 Millionen Euro ein-geplant. Jetzt, im laufenden Haushaltsjahr, mussten dieMittel des Fonds um über 300 Millionen Euro gekürztwerden. Gestern hatten wir im Haushaltsausschuss dieEckwerteberatung zum Finanzplan. Es wurde klar: Ab2013 fehlt im Klimafonds jedes Jahr mehr als 1 Mil-liarde Euro. Das zeigt ganz klar: Dieser Klimafonds istgescheitert. Diese Bundesregierung versagt bei der Fi-nanzierung der Energiewende.
Warum funktioniert dieser Fonds nicht? Das liegt ersteinmal an seiner grottenschlechten Konstruktion. Es gibtkein Gesamtdeckungsprinzip wie im Bundeshaushalt.Der Klimafonds ist allein an die Einnahmen aus demCO2-Zertifikate-Handel gebunden. Die Bundesregierunghat damit gerechnet, dass der Preis pro Tonne CO2 indiesem Jahr 17 Euro betragen wird, obwohl er bei denHaushaltsberatungen im November letzten Jahres bei10 Euro lag. Heute liegt er bei 7 bis 8 Euro. Wir habenIhnen schon damals hier im Plenum vorgerechnet, dassdas nicht funktionieren kann, dass das scheitern wird.Sie sind trotzdem stur bei Ihrer Planung geblieben. Daszeigt noch einmal klar: Schwarz-Gelb kann nicht rech-nen, Schwarz-Gelb macht eine unseriöse und unsolideHaushaltspolitik.
So ist es leider. Ich würde mir das anders wünschen.
– Ihre Haushaltspolitik ist flach.
Was passiert jetzt konkret? Schauen wir uns das ein-mal an. Sie kürzen zum Beispiel die EKF-Mittel für dasMarktanreizprogramm von 100 Millionen Euro auf ge-nau null Euro. Das Marktanreizprogramm für erneuer-bare Wärme ist Energiewende konkret. Davon profitie-ren die Bürgerinnen und Bürger, die sich zum Beispieleine Solarheizung auf dem Dach installieren lassen oderalte, ineffiziente Wärmepumpen austauschen. Davonprofitieren auch das Handwerk vor Ort, die regionaleWirtschaft und das Klima. Deswegen ist es nicht nur kli-mapolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch fatal, dassSie beim Marktanreizprogramm den Rotstift ansetzen.
– Ja, Kollege Otto Fricke, das Programm gibt es noch,
aber um 100 Millionen Euro gekürzt. Das kostet Arbeits-plätze und Investitionen vor Ort, und das ist fatal.
Ich bin mittlerweile davon überzeugt: Schwarz-Gelbfährt die Energiewende bewusst gegen die Wand. DieSolarindustrie wird kaputtgemacht, und der Klimafondsist ein Riesenflopp. Was macht eigentlich NorbertRöttgen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19945
Sven-Christian Kindler
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Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, dann frage ichmich: Wo ist er? Was macht er gerade? Hier in Berlinwird die Energiewende von Schwarz-Gelb blockiert, undNorbert Röttgen kann sich nicht entscheiden. Ich fordereganz klar: Norbert Röttgen muss Farbe bekennen, ob ernach NRW geht oder Umweltminister in Berlin bleibt.Norbert Röttgen muss hier eine Ansage machen.
Was ist jetzt zu tun? Erstens. Wir wollen die Förder-programme wieder in einen ordentlichen Haushalt über-führen.Zweitens. Wir wollen dafür sorgen, dass die Einnah-men aus dem Zertifikatehandel zweckgebunden sind undfür den internationalen und nationalen Klimaschutz ver-wendet werden. Diese Zweckbindung kann man auch imEinzelplan 16, im Einzelplan des Bundesministeriumsfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, fest-schreiben.Drittens. Wir wollen dafür sorgen, dass der Zertifika-tepreis auf europäischer Ebene stabilisiert wird. Deswe-gen muss das Klimaschutzziel auf europäischer Ebenevon 20 auf 30 Prozent bis 2020 erhöht werden. Nach bri-tischem Vorbild wollen wir den Zertifikatepreis durcheine Mindeststeuer stabilisieren.
Viertens. Es gibt eine realistische, durchgerechneteAlternative zum schwarz-gelben Klimafondsmurks. Wirhaben den grünen Klimaschutzhaushalt vorgelegt. Darinlegen wir klar dar, dass wir Milliardeninvestitionen fürdie Energiewende brauchen, zum Beispiel für ökologi-sche Wärme und für Energieeinsparung. Dies könntenwir durch den Abbau ökologisch schädlicher Subventio-nen gegenfinanzieren. Durch entsprechende Kürzungenvon Subventionen für den Flugverkehr, für schwereDienstwagen und im Bereich der Ökosteuer können wirmehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr einnehmen.
So muss man die Energiewende finanzieren.
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Schluss.
Es ist völlig klar: Die Energiewende ist dringend not-
wendig. Sie ist auch machbar und finanzierbar, wenn
man es denn will. Diese Bundesregierung kann und will
es aber nicht.
Danke.
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari-
sche Staatssekretär Steffen Kampeter das Wort.
S
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Kollege Kindler hat gefragt, was NorbertRöttgen im Augenblick macht. Er bereitet den Regie-rungswechsel in Nordrhein-Westfalen vor. Das tut auchnot.
Herr Kindler, dazu, dass Sie sich angesichts der erschüt-ternden Regierungsbilanz, die Sie als gescheiterte Min-derheitsregierung in Nordrhein-Westfalen vorzulegenhaben – Schuldenkönigin, Handlungsunfähigkeit, vieleThemen in Nordrhein-Westfalen sind unerledigt –,
mit dieser Rede hier hinstellen, muss ich ganz ehrlich sa-gen: Schämen müssten Sie sich, wären Sie aus Nord-rhein-Westfalen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlichgeht es hier nicht um Wahlkampf, den Herr Kindler hierbetreibt, sondern um die Energiewende. Sie ist notwen-dig, greifbar und realistisch. Diese Debatte bietet die Ge-legenheit, den Unterschied zwischen der Energiewende àla Rot-Grün und der Energiewende der christlich-libera-len Koalition aufzuzeigen. Als Sie Verantwortung tru-gen, kannten Sie nur ein Wort: „Ausstieg“; dann warenSie mit Ihrem energiepolitischen Latein am Ende.
Diese Regierung organisiert den Umstieg, also den Ein-stieg in eine regenerative, nachhaltige Energieproduk-tion,
und deswegen regen Sie sich hier auf. Wir erinnern Siean Ihre Versagerbilanz in der Energiepolitik. Sie sindschlicht und ergreifend überrascht, wie gut NorbertRöttgen diese Energiewende in und für Deutschland or-ganisiert.
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19946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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Ich will als Vertreter des Finanzministeriums an die-ser Stelle eines deutlich sagen: Es geht bei der Energie-wende doch nicht nur um Geld,
sondern um den Durchsetzungswillen und die politischeUnterstützung für alle Maßnahmen. Ich hoffe, Herr Kol-lege Kindler, dass Sie und Ihre Parteigänger sich nichtdarauf beschränken, mehr Geld zu fordern. Vielmehrgeht es darum, dass Sie sich nicht verkriechen, wenn esum die unangenehmen Themen geht, beispielsweise umdie Bürgermediation beim Netzausbau.
Auch dann müssen Sie für den notwendigen Umbau derEnergieversorgung in diesem Land Flagge zeigen.
Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dassich es ausdrücklich begrüße, dass die deutsche Industriedie Politik der Bundesregierung als Chance für den In-dustrie- und Energiestandort Deutschland sieht.
Dass uns Unternehmen wie Siemens aktiv begleiten, istein Zeichen dafür, dass die Modernisierung des Indus-triestandorts mit der Energiewende ein kluger Beitragzur Politikgestaltung für das 21. Jahrhundert ist,
und darauf können wir ein Stück weit stolz sein.
Der Abgeordnete Kindler von der Opposition hat ge-sagt, es gebe dafür „so ’nen Fonds“. Er wollte das ir-gendwie als gering ausgestaltet darstellen. Meine sehrverehrten Damen und Herren – ich sage das auch an diehier Anwesenden aus unterschiedlichen Generationen –:
Dieser Fonds hat bis zum Jahre 2016 ein Volumen von9,7 Milliarden Euro.
Wenn der Kollege Kindler meint, 9,7 Milliarden Euroseien kein Beitrag, mit dem sich in der Energiepolitik et-was machen lässt, dann hat er den Bezug zu den Größen-ordnungen vollständig verloren. Das muss hier in dieserKlarheit einmal gesagt werden.
Der Energie- und Klimafonds finanziert sich aus denErträgen der Klimazertifikate. Die Klimazertifikate hätteman als Bundesfinanzminister vielleicht gerne zur allge-meinen Haushaltsfinanzierung verwenden wollen. Wirhaben aber gesagt: Das, was eingenommen wird, wirdeins zu eins in die Energiewende investiert.
Wer hier behauptet, auch nur 1 Euro, der eingenommenworden ist, sei nicht in den Energie- und Klimafonds ge-flossen, der sagt vorsätzlich die Unwahrheit.
Alle Erträge aus den Klimazertifikaten fließen in denFonds. Im Gegenteil: Wir legen sogar noch ein bisschendrauf, damit die Sache gut startet. Das ist die eigentlicheBotschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn der Kollege Kindler hier fordert, wir solltenmehr Schulden machen,
um den Klimafonds aufzustocken
– das ist ja die politische Quintessenz dessen, was Siehier sagen –,
dann rufe ich Ihnen und allen, die das sagen, zu: Schul-denfinanzierte Nachhaltigkeit ist Unsinn; denn Schul-denfinanzierung und Nachhaltigkeit schließen einanderaus. Solidität ist auch beim EKF Trumpf.
Wir konzentrieren uns bei der Neuaufstellung desEnergie- und Klimafonds auf zwei Dinge, nämlich ers-tens mit 1,5 Milliarden Euro auf das Gebäudesanie-rungsprogramm und zweitens auf die Elektromobilität.Wir glauben, dass das wichtige Zukunftsfelder sind,
auf denen wir entsprechende Investitionen unterstützenund begleiten sollten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19947
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn der KollegeKahrs hier kontinuierlich dazwischenruft. Ich wieder-hole es: Alle Erlöse aus den Zertifikaten sind vollständigin den sogenannten EKF geflossen.
Wer mehr will, der sagt eigentlich nur eines: Er willmehr Schulden.
Wir wollen Ökologie und nachhaltige Finanzpolitik inEinklang bringen, und deswegen ist die Entscheidung,den Klimafonds so auszugestalten, richtig.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Es spricht die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Das war eine erstaunliche Rede,
in der über die Solidität des Fonds geredet wurde.
Dabei sollte man vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen,
dass diese knapp 10 Milliarden Euro bis 2016, von de-
nen Sie, Herr Kampeter, gesprochen haben, nach den
jetzt vorliegenden Zahlen mittlerweile um die Hälfte zu-
sammengeschmolzen sind. Vor diesem Hintergrund sind
die Finanzierung des Fonds und die Entscheidung da-
rüber, wie wir die Energiewende und die Bekämpfung
des Klimawandels auf eine seriöse Basis stellen können,
ganz elementare Richtungsentscheidungen auch für
diese Bundesregierung. Sie sollten es zumindest sein.
Im letzten Jahr wurde im Umweltausschuss eine
ganze Menge versprochen. Uns ist erzählt worden: Die
Mittel für das Marktanreizprogramm werden erhöht. –
Im Einzelplan für Umwelt hat man sie abgesenkt. Dann
hat man gesagt: Kein Problem, wir haben ja den Ener-
gie- und Klimafonds. Aus diesem Fonds werden
100 Millionen Euro für das Marktanreizprogramm ein-
gestellt. Wir finanzieren Solarthermie. Wir finanzieren
Wärmepumpen. Wir finanzieren Pelletheizungen. Das
ist eine gute Basis für das Handwerk und gleichzeitig
klimapolitisch relevant. All das finanzieren wir aus dem
Energie- und Klimafonds.
Was passiert jetzt? Wie viel Mittel stehen im Haushalt
2012 im Bereich Energie- und Klimafonds für das
Marktanreizprogramm? Null Euro!
– Circa 300 Millionen Euro. Das ist aber weniger als im
Jahr zuvor. Sie haben die Mittel für das so wichtige
Marktanreizprogramm über die Jahre gesenkt, statt das
zu tun, was notwendig gewesen wäre, nämlich die Mittel
für dieses Programm zu erhöhen.
Das hätte dem Handwerk genutzt, dem Klimaschutz ge-
dient und die Energiewende vorangebracht.
Frau Kollegin, bevor Sie weiter ausholen: Der Kol-
lege Scheuer möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Aber ja.
Geschätzte Frau Kollegin, wir beraten gerade im Ver-
mittlungsausschuss eine wirklich wichtige Maßnahme,
die Sie blockieren, nämlich die Möglichkeit der steuerli-
chen Abschreibung bei der Finanzierung von energeti-
scher Sanierung. Das könnte das nächste Konjunkturpro-
gramm für das mittelständische Handwerk werden,
wenn Sie sich endlich bewegen würden und die Länder,
zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, etwas für den hand-
werklichen Mittelstand übrighätten. Ministerpräsidentin
Kraft blockiert seit mehreren Sitzungen die Umsetzung
dieser guten Maßnahme. Es geht darum, neben der Mög-
lichkeit zur energetischen Sanierung im Rahmen eines
KfW-Kreditprogramms die Kosten für diese Sanierung
steuerlich abzusetzen. Würden Sie mir zustimmen, dass
dies eine wichtige Maßnahme ist? Würden Sie mir einen
Ausblick geben, wann Sie diese Blockade aufgeben?
Ich halte das CO2-Gebäudesanierungsprogramm fürein wichtiges und gutes Programm. Ich frage Sie im Ge-genzug: Warum haben Sie die Mittel für dieses Pro-gramm über die Jahre kontinuierlich abgesenkt? Das istan dieser Stelle der entscheidende Punkt.
Kompensieren Sie doch die Länder für das, was Sieihnen von der Bundesebene vorschreiben, und setzen Sie
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19948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Bärbel Kofler
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Mietern und Eigentümern, die keine hohen Abschrei-bungen bei der Steuer geltend machen können, entspre-chende Anreize. Das geht nicht über eine progressiveAbschreibung. Das geht über Zuschüsse und entspre-chende Programme, zum Beispiel das KfW-Programm.Machen Sie ein solides Programm! Dann bekommen wirdas miteinander hin.
Wollen Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen
Lenkert zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin
Kofler, wir haben hier in mehreren Debatten gehört, dass
die Unionsfraktion Ihrer Ministerpräsidentin in Nord-
rhein-Westfalen vorwerfen, sie könne nicht mit Geld
umgehen.
Wenn die Ministerpräsidentin dem Vorschlag der Union
folgen und ihn übernehmen würde, wäre es dann nicht
so, dass sich die Schuldenlage Nordrhein-Westfalens
noch verschlechterte?
Ich bedanke mich für diese Frage, Herr Kollege
Lenkert. Natürlich, man kann nicht auf der einen Seite
den Ländern vorgeben, sie sollen mit ihren Haushalts-
mitteln sparsam umgehen, und auf der anderen Seite da-
für sorgen, dass die Länder weniger Steuern einnehmen.
Da muss man sich entscheiden, auch was Nordrhein-
Westfalen anbelangt.
Wir stellen fest: Die vollmundigen Ankündigungen
aus dem letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Ener-
gie- und Klimafonds sind Luftbuchungen. Sie selbst ha-
ben Ihre Prognose bis 2016 wieder korrigiert: Es soll ein
Drittel weniger an Mitteln zur Verfügung stehen. Dabei
haben Sie dies vor noch nicht einmal einem Jahr, erst vor
vier Monaten bei den Haushaltsberatungen 2012, pro-
gnostiziert.
Wenn Sie damals zwar nicht der Opposition, aber der
Warnung der Deutschen Bank geglaubt hätten, die bereits
am 30. November letzten Jahres den Verfall der Zertifi-
katspreise prognostiziert hat, hätte Sie das vielleicht zum
Nachdenken gebracht, und Sie hätten schon damals fest-
stellen können, dass all ihre Kalkulationen ungenügend
sind und dass Sie möglicherweise zusätzliche klimapoli-
tisch relevante Maßnahmen ergreifen müssten, um den
Preisverfall der Zertifikate zu bekämpfen.
Eine Maßnahme wäre, sich massiv auf europäischer
Ebene dafür einzusetzen, das EU-Klimaziel einer Redu-
zierung des CO2-Ausstoßes um 30 Prozent umzusetzen
und bei der Umsetzung der klimaschädlichen Emissio-
nen voranzugehen, statt sich vor der Verantwortung zu
drücken. Das wäre klimapolitisch sinnvoll und würde
auch den einen oder anderen Euro mehr in Ihre Kasse
bzw. in den Fonds bringen.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir mit diesen
Schattenhaushalten und Luftbuchungen aufhören und
wieder klare Verhältnisse und eine klare Einnahmesitua-
tion hergestellt werden. Die Mittel, die wir für Pro-
gramme für den Klimaschutz und die Energiewende be-
nötigen, müssen im Umweltetat eingestellt werden. Ich
erinnere an das Marktanreizprogramm, aber auch an die
Mittel für den nationalen und internationalen Klima-
schutz. Sprechen Sie mit Vertretern der deutschen
Klima- und Technologieinitiative darüber, was sie von
Ihrem Haushaltsgebaren halten und wie viel mehr sie in
letzter Zeit an Emissionsminderung hätten machen kön-
nen, wenn entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt
worden wären.
Es ist wichtig, dass die Mittel im Umwelthaushalt, im
Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung und im Etat für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
bereitgestellt werden. Wir brauchen keine Luftbuchun-
gen, sondern die notwendigen Mittel für die Energiever-
sorgung.
Danke.
Otto Fricke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehr-ten Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Rede hat deut-lich gemacht, worum es der Opposition eigentlich geht:Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! Mehr ausgeben!
– Ja, darum geht es. Hören Sie einfach mal zu, Herr Kol-lege Kindler! – Die Grünen sind nicht ungeschickt vor-gegangen. Ihr Vorschlag wird doch an den Haushaltsaus-schuss überwiesen. Das ist der Ausschuss, der sichdarum kümmern soll, dass nicht mehr Geld ausgegebenals eingenommen wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19949
Otto Fricke
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Was hören wir aber in Ihren Reden? Wir hören nur:Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! Mehr ausgeben!
Der Bürger denkt: Mensch, die von der Opposition ha-ben gute Ideen; die wollen für bestimmte Dinge Geldausgeben.
Die Bürger müssen sich darüber klar sein: Alles, was einPolitiker ausgeben will, müssen sie ihm vorher zum Bei-spiel über Steuern, Abgaben oder erhöhte Preise, etwadie Strompreise, bezahlen. Dieses versucht die Opposi-tion immer wieder zu verheimlichen. Sie kündigt an:„Wir tun Gutes!“, und kommt hinterher zu ihnen undsagt: „Aber bitte bezahlt es.“
Herr Kollege Fricke, Frau Bulling-Schröter würde Ih-
nen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Danke schön, Herr Fricke. Sie sprechen davon, dass
immer mehr ausgegeben werden soll.
Nein. Sie wollen das, nicht ich.
Ich frage Sie: Was halten Sie von dem Vorschlag,
mehr Geld einzunehmen? Wir haben das Problem, dass
die Zertifikate zurzeit sehr billig sind. Es gäbe Maßnah-
men, die wir vor allem im Umweltausschuss intensivst
diskutieren – ich gehe davon aus, dass Sie sich damit be-
fasst haben –, die Anzahl der Zertifikate auf europäi-
scher Ebene zu reduzieren, –
Das geht ab 2013 nur noch auf europäischer Ebene.
– um die Zertifikate so wieder teurer zu machen. Das
hätte eine ganze Reihe von positiven Aspekten, zum
Beispiel dass die Unternehmen wieder mehr investieren
würden.
Das besagt eine ganze Reihe von Studien. Meine Frage
ist: Sind Sie bzw. ist die Bundesregierung bereit, in die-
ser Frage tätig zu werden?
Geschätzte Frau Kollegin, was die Bundesregierungangeht, hat, glaube ich, die fulminante Rede des Kolle-gen Kampeter, der das inzwischen als Abgeordneter be-obachtet, eine Antwort gegeben.
Ich möchte Ihnen als Abgeordneter erstens sagen: Ichstimme Ihnen zu. Das Thema Cap muss man immer wie-der neu beobachten. Wir können das aber nur noch aufeuropäischer Ebene machen, wie Sie wissen, weil dasmit der 2013er-Periode nicht mehr anders möglich seinwird. Deswegen ist übrigens der von den Grünen ge-wünschte Antrag auf Vorziehung nach 2012 nicht um-setzbar; das würden wir auf europäischer Ebene nichthinbekommen. Bei der Beantwortung der Frage, wo je-weils das richtige Cap ist, werden wir bei den entspre-chenden marktwirtschaftlichen Elementen genauschauen müssen, wie wir einen fairen Markt, ein LevelPlaying Field, herstellen können. An dieser Stelle kannich Ihnen zustimmen. Nur an einer Stelle, Frau Kollegin,muss ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Da Siewünschen, dass mehr Geld eingenommen wird, sage ichIhnen als Haushälter: Es ist nicht Sinn, mehr Geld einzu-nehmen, um es dann an anderer Stelle möglichst schnellauszugeben. Der Sinn des Gesetzes und des Handelns ist– das ist wichtig; ich hätte mir gewünscht, dass das denBürgern, die jetzt zuhören, noch einmal in Erinnerunggerufen worden wäre –, den CO2-Ausstoß zu reduzieren.Sinn ist es nicht, mehr Geld einzunehmen oder mehrGeld auszugeben.
– Darf ich der Kollegin antworten, Herr Kollege Kahrs,oder darf ich selbst das nicht?
Frau Kollegin, für mich lautet die entscheidendeFrage, wie sich die CO2-Bilanz im Jahr 2011 – wir habennoch nicht alle Zahlen – und in den folgenden Jahrendarstellt. Danach werden wir bemessen, ob der EKFbzw. der CO2-Handel funktioniert.
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19950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Otto Fricke
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Das ist die Basis, auf der ich vorgehen möchte. Herzli-chen Dank für Ihre Frage.
Mich persönlich verärgert genau das: Ziel ist doch– von einer rot-grünen Regierung verhandelt –, mit CO2-Zertifikaten zu einer Reduzierung von CO2 zu kommen.Dafür hat doch Rot-Grün gesorgt. Darüber sind wir unsdoch einig, oder, Herr Kindler? Das war doch so.
– Gut. – Das Ziel ist, die CO2-Emissionen zu reduzieren.Wir wollen eine solche Reduzierung, weil diese Emis-sionen Auswirkungen auf das Klima haben bzw. weilwir aus anderen Gründen gegen eine solche Verschmut-zung sind.
Aber in dem Moment, wo die Ziele Stück für Stück er-reicht werden,
sagen Sie nicht: „Das ist in Ordnung; wir brauchen weni-ger Geld und müssen den Bürgern weniger wegneh-men“, sondern: „Dann müssen wir schauen, wie wir vonIndustrie und Wirtschaft noch mehr Geld bekommen“.
Kraftwerksbetreiber sollen nach Ihrer Ansicht nochmehr Geld zahlen. Betreiber von Feuerungsstellen miteiner Leistung von über 20 Megawatt – um diese geht esbislang – sollen möglichst noch mehr für den Zertifika-tehandel zahlen, mit der Folge, dass die Bürger – einigeschauen auf der Tribüne oder am Fernseher zu – amEnde noch mehr bezahlen müssen.
– Herr Kollege Kahrs, da Sie schon Angst hatten, vormir zu reden, und sich deshalb an das Ende der Redner-liste haben setzen lassen, sollten Sie jetzt wenigstens zu-hören. Dann können Sie später alles erklären.
Ich verspreche: Ich werde Ihnen dann gerne zuhören,wie es sich unter Parlamentariern gehört.
Was mich verwundert, ist, dass jetzt so getan wird, alswäre es eine große Katastrophe, dass die Preise der Zer-tifikate gesunken sind und wir weniger Geld zum Vertei-len haben.
Herr Trittin hat immer gesagt, das alles sei sowieso nichtso wichtig; wichtig sei nur das EEG. Für die Grünen istdas doch das Menetekel an der Wand; darum geht es.
Wissen Sie eigentlich, wie viel pro Sekunde für das EEGgezahlt wird? 400 Euro pro Sekunde! Das heißt, proMinute werden 24 000 Euro für das EEG gezahlt.
Das sind während meiner Rede über 150 000 Euro. AmEnde müssen die Bürgerinnen und Bürger zweistelligeMilliardensummen zahlen. Das ist der Kern. Es geht umdie Frage: Ist das Ziel, die CO2-Emissionen zu reduzieren,oder ist das Ziel – das scheint bei Ihnen der Fall zu sein –den Menschen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen
und es dann für die Realisierung der von Ihnen ge-wünschten Projekte auszugeben, um so zu zeigen, wietoll und gut Sie sind?
Nach Ansicht meiner Fraktion – ich habe mit demKollegen Toncar eben noch darüber gesprochen – ist esfolgendermaßen: Wer spielt die entscheidende Rolle beider CO2-Reduzierung? Ist das der Staat? Bei einem Brut-toinlandsprodukt von über 2,2 Billionen Euro und einemBundeshaushalt mit einem Volumen von rund 300 Mil-liarden Euro stellt sich die Frage: Ist es der Staat, der diewesentlichen Entscheidungen trifft? – Nein, es sind dieBürger, die Industrie und die Wirtschaft, die mit ihrenInvestitionen das Entscheidende bewirken. Bei allen not-wendigen Maßnahmen sind wir der Meinung, dass wirdafür sorgen müssen, dass Industrie und Bürger die rich-tigen Investitionen tätigen und die richtigen Entschei-dungen treffen.
Der Bürger, der heutzutage darüber nachdenkt, was erfür Nachhaltigkeit und CO2-Reduzierung tun kann, mussdie Möglichkeit haben,
eigenes Geld in ein neues Dach, eine Solaranlage, eineWärmepumpe oder eine bessere Isolierung zu investie-ren. Sie sagen, das solle er nur tun, wenn er dafür Sub-ventionen bekommt. Wir wünschen uns, dass er das auf-grund eigener Überlegungen tut. Wir wollen gerne
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19951
Otto Fricke
(C)
(B)
entsprechende Anreize setzen, aber immer im Rahmender Reduzierung.
Der Kernunterschied zwischen Ihrer Politik und unse-rer ist der folgende:
Bei unserer Politik steht, wenn das Ziel klar ist, an ersterStelle die Frage, wie ich mit dem Bürger dahin gelangenkann, wie ich dem Bürger auf seinem Weg helfen kann.Sie dagegen geben dem Bürger den Weg vor.
Dies werden wir nicht machen. Wir werden weiterhinversuchen, den Bürger, die Industrie und andere zu moti-vieren, mit ihren Investitionen CO2-Reduktionen unddadurch geringere Emissionen zu erreichen. Wenn da-durch die Zertifikatepreise sinken, haben wir genau daserreicht, was wir alle wollen: weniger Emissionen, denSchutz unserer Umwelt und einen Beitrag zur Nachhal-tigkeit.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Roland Claus hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, so leicht wie der Kollege Otto Frickedarf man es sich nicht machen. Erst korrigiert ihr die eige-nen Ziele – man kann auch sagen: brecht Versprechen –,
dann werdet ihr dabei erwischt, und dann beschimpft ihrdiejenigen, die euch erwischen und kritisieren, dass ihrmehr Schulden machen wollt.
Wir finden, der Antrag ist gut und richtig und kommtzur richtigen Zeit. Die Regierung hat gestern im Haus-haltsausschuss den Entwurf des Nachtragshaushaltesvorgelegt. Einen Nachtragshaushalt braucht man immerdann, wenn das Geld für das, was man vorhat, nicht aus-reicht. Für die Euro-Stabilisierung soll eine Menge ein-gestellt werden. Jetzt kommt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und sagt: Wenn wir schon korrigieren, dannlasst uns auch dort korrigieren, wo es sonst nochklemmt. An die Adresse der Koalition möchte ich dieFrage richten: Wie viel konstruktive Mitwirkung mussIhnen denn noch entgegengebracht werden? Das ist docheine ausgestreckte Hand, die Sie auch ergreifen sollten.
Auch wir sind der Meinung, dass der Haushalt 2012schwere Fehler in der Klimapolitik enthält, die jetzt zukorrigieren wären. Sie haben gute Programme, eigent-lich sogar die am besten funktionierenden Förderpro-gramme des Bundes regelrecht zerstört. Sie haben dieenergetische Gebäudesanierung vor den Baum gefahrenund verschiedene Sondervermögen außerhalb der zu-ständigen Ministerien geschaffen.Die Koalition wird jetzt sagen, sie habe geringfügigkorrigiert und 78 Millionen Euro nachgelegt. Aber Siebleiben weiter im falschen System; das ist hier ausdrück-lich erläutert worden. Es ist nicht so, dass die Bundesre-gierung und die Koalition nicht gewarnt worden wären.Nicht nur die Opposition im Bundestag hat sich be-schwert. Sie hätten auch die Protestschreiben der Bür-germeister – von der Linken und der CSU – mit nahezugleichlautendem Text ernst nehmen müssen. Dann hät-ten Sie diesen Mist nicht verzapft.
Einer der zuständigen Minister, Minister Ramsauer,hat auf diese Kritik mit einem Zitat von Deng Xiaopinggeantwortet,
das da hieß, ihm sei es egal, ob die Katze schwarz oderweiß sei, Hauptsache sie fange Mäuse. Wie wir jetztfeststellen, fängt da niemand nichts. Ein Förderpro-gramm geht vor die Hunde. Man sollte sich eben nicht sounkritisch kommunistischen Vordenkern aussetzen.
Die Linke steht für einen sozial-ökologischen Wandelim Denken und Wirtschaften und für eine Energiewende,die alle mitmachen können – nicht nur die Reichen. Esmuss dabei sozial zugehen, damit es, von Mehrheitenakzeptiert, auch stattfinden kann. Die Linke hat auf die-sem Weg Erfahrungen gesammelt und auch einen Anteildaran, dass es heute so etwas wie einen ostdeutschenErfahrungsvorsprung bei der Einführung erneuerbarerEnergien gibt.Die Koalition ist eingeladen zur Nachbesserung. DieAbgeordneten haben es jetzt in der Hand. Wenn der zu-ständige Umweltminister aus seinem kurzen, aber er-folglosen Wahlkampfurlaub in NRW zurück ist, habenSie als Abgeordnete etwas für den Klimaschutz und dieEnergiewende getan.Sie haben die Energiewende nicht hinbekommen.Deshalb sage ich Ihnen zum Stichwort NRW: Auch dieseWende werden Sie vergeigen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Ernst Hinsken.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Alle bisherigen Reden hierzu waren enga-giert, aber in der Sache nicht immer richtig.
Richtungsweisend waren für mich die Reden des Parla-mentarischen Staatssekretärs Kampeter und des Kolle-gen Fricke.
In diesen wurde einiges angesprochen, was Sache ist undwas heute von Bedeutung sein muss.Grundsätzlich möchte ich hier feststellen: Energie-wende mit allen Facetten ja, aber finanziell verkraftbar.
Dabei ist auch an den steuerzahlenden Bürger und Be-triebsinhaber zu denken. Die dürfen finanziell nichtüberfordert werden. Herr Kollege Fricke, ich pflichte Ih-nen bei, wenn Sie sagen: Die Hauptwörter in den Redender Oppositionssprecher waren: ausgeben, ausgeben,ausgeben.
Zwischendurch wird immer wieder geschrien: Aber wirhaben auch Deckungsvorschläge. – Hören Sie mir dochauf mit dem, was Sie bisher gebracht haben.
Das ist nicht brauchbar, das ist nicht umsetzbar, IhreVorschläge sind der Sache nicht dienlich.
Ich meine, dass wir gerade am Anfang eines schritt-weisen Umbaus unserer Energieversorgung stehen. Miteinem umfangreichen Gesetzespaket haben wir im letz-ten Sommer die Grundlagen dafür gelegt. Damit ist dieEnergiewende auf den Weg gekommen. Was wollenwir? Ab 2012 wollen wir die Erlöse aus der Versteige-rung von CO2-Zertifikaten vom Bundeshaushalt voll-ständig in den Energie- und Klimafonds verlagern,soweit diese nicht zur Finanzierung der deutschen Emis-sionshandelsstelle benötigt werden.Da gibt es für uns klare Prioritäten, die auf dem Tischliegen: erstens die CO2-Gebäudesanierung, zweitens dieWeiterentwicklung der Elektromobilität, drittens der in-ternationale Klima- und Umweltschutz und viertens dieFörderung der rationellen und sparsamen Energiever-wendung. So wollen wir die Verpflichtungsermächtigun-gen beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm und bei derElektromobilität nunmehr vollständig dem EKF zuwei-sen. Bewusst haben wir zum Beispiel das CO2-Gebäude-sanierungsprogramm als zentrales Programm zur Steige-rung der Energieeffizienz im Gebäudebereich in 2012von Kürzungen ausgenommen, setzt es doch auf finan-zielle Anreize anstatt auf Zwang und damit auf eine öko-nomisch effiziente Steigerung der Energieeffizienz. Diesverstehen wir unter Energie- und Umweltpolitik aus ei-nem Guss, aber nicht das, was Sie von den Grünen ma-chen, die Sie immer nach mehr Geld schreien, das Siedem Bürger aus der Tasche ziehen wollen. Da machenwir nicht mit. Da setzen wir klar und eindeutig dagegen.
Wir wollen in den nächsten zehn Jahren im Gebäude-bereich noch einmal 20 Prozent an Energie einsparenund bis 2050 den Primärenergiebedarf in einer Größen-ordnung von 80 Prozent reduzieren. Hierfür brauchenwir Steueranreize. Es ist ärgerlich, dass bisher Bund undLänder zu keinen Ergebnissen gekommen sind. Ich sageausdrücklich: Unser aller Aufgabe ist es, auf die Ländereinzuwirken, damit diese die Blockadepolitik endlichaufgeben. Von der steuerlichen Abschreibung bei derenergetischen Gebäudesanierung wären 80 Prozent derEigentümer von Wohnungen und Gebäuden betroffen.Das würde einen enormen Schub an Investitionen auslö-sen und die Binnenkonjunktur weiterhin stärken. Geradedas Handwerk würde davon profitieren; denn 1 Euro anFördermitteln löst mindestens das Achtfache an Investi-tionen aus. Dadurch kommt ein großer Teil der Förder-mittel zurück. Zudem könnten zwei Fliegen mit einerKlappe geschlagen werden: Es könnten Arbeitsplätzeauf dem Binnenmarkt geschaffen und die Energiewendevorangebracht werden.Ohne eine solide industrielle Basis sind die Energie-wende und der Klimaschutz nicht möglich. Wichtig ist indiesem Zusammenhang auch, dass die Industrie, die zuweiten Teilen die Emissionshandelserlöse finanziert,eine teilweise Rückerstattung braucht. Auch nach derEmissionshandelsrichtlinie sollen die Mitgliedstaatenmindestens 50 Prozent, nicht aber den gesamten Erlösfür Klimaschutz und ähnliche Maßnahmen verwenden.Für uns gilt deshalb: Engagement muss belohnt werden,sind doch in Deutschland die Energiesteuern im Ver-gleich zur EU, aber auch weltweit mit am höchsten. Dasist ein Wettbewerbsnachteil. Wir müssen auch an dasGroße und Ganze, an Arbeitsplätze und an die Wettbe-werbsfähigkeit denken.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen, sind auf dem Holzweg, wenn Sie jetzt die bei derEinführung der Ökosteuer zu Recht gewährten Steuer-entlastungen für die Industrie wieder kippen wollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19953
Ernst Hinsken
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Diese steuerlichen Entlastungen für Unternehmen desproduzierenden Gewerbes sind weder ungerechtfertigtenoch umweltschädliche Subventionen, sondern sind imInteresse der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, derVerhinderung von Standortverlagerungen sowie des Er-halts von Arbeitsplätzen dringend erforderlich.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wollte in die-ser Angelegenheit noch vieles hinzufügen, die Zeit lässtes nicht zu. Ich meine, trotz der Beschränkung auf diesewesentlichen Punkte, die ich genannt habe, abschließendsagen zu können: Merken Sie sich, verehrte Kolleginnenund Kollegen von den Grünen: Jede zusätzliche Ver-knappung des Angebots an Emissionsberechtigungenwird den europäischen Unternehmen einseitig weitereKosten aufbürden und das Risiko der Verlagerung vonProduktion und Beschäftigung erhöhen.
Herr Kollege.
Unser Vorgehen ist richtig. Wir lassen hier nicht ab,
und wir stellen die Weichen für eine positive Zukunft
auch im Energiesektor.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Johannes Kahrs von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben erlebt, wie die Abgeordneten derKoalition eine große Luftblase produziert haben, hinterder sie versteckt haben, was sie mit dem Umwelt- undKlimafonds wirklich vorhaben.
Wir haben hier die schlechteste Rede von SteffenKampeter erleben dürfen, die er je gehalten hat. Er hat javon Finanzen durchaus Ahnung, hat aber bewiesen, dasser von Umwelt überhaupt keine Ahnung hat.
Wir hatten einmal Programme wie das CO2-Gebäude-sanierungsprogramm, das Programm „EnergetischeStadtsanierung“, das Marktanreizprogramm und die Pro-gramme zur Elektromobilität. Die waren in den früherenHaushalten alle durchfinanziert. Das Geld war da.
Dann hat diese Koalition das Geld für diese Programmegenommen, es für andere Dinge ausgegeben
und dann gesagt: Als Gegenfinanzierung stellen wir dieErlöse aus CO2-Zertifikaten in einen Fonds ein. In die-sen Fonds, den Energie- und Klimafonds, haben Sie alldie Programme hineingetan, die Ihre Minister noch niegeliebt haben. Er ist zu einer großen Abladestätte vonProgrammen geworden, die wir unter Rot-Grün hochge-fahren und in der Großen Koalition gehalten haben,
die aber von CDU/CSU und FDP in der Vergangenheitnie wirklich gewollt wurden und deren Gelder sie danngekürzt haben.Nachdem Sie das Geld diesen Programmen wegge-nommen hatten, Herr Kampeter, haben Sie als Finanzie-rung eine Luftbuchung dagegengesetzt und beklagenjetzt, dass Ihre eigene Finanzierung nicht funktioniertund die Programme, die Sie alle so gerne haben wollen,jetzt leider nicht finanziert sind.
Das ist einfach unverschämt.
In der Sache stellten die Reden von Ihnen heute nichtsanderes als Ablenkungsmanöver dar. Es geht nämlichnicht darum, dass wir mehr Geld ausgeben wollen,
sondern es geht darum, dass das Geld, das früher fürdiese Programme vorhanden war, wieder zur Verfügunggestellt werden muss.
– Herr Staatssekretär, Sie gehören auf die Regierungs-bank. Ab auf Ihren Platz! –
Das, was Sie gemacht haben, ist im Ergebnis nichtsanderes als ein Ablenkungsmanöver. In Wirklichkeitwollen Sie es gar nicht. Deswegen haben wir hier alleein Problem miteinander; denn das, was Sie hier darstel-len, ist in der Sache falsch. Sie versuchen, den LeutenSand in die Augen zu streuen. Unsere Aufgabe als Op-position ist es, ganz klar zu sagen: Das wird nicht funk-tionieren.Wir halten viel von diesen Programmen.
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19954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Johannes Kahrs
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Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist von Ihnen inden letzten Jahren immer weiter zusammengestrichenworden, ebenso das Marktanreizprogramm sowie dasProgramm „Energetische Stadtsanierung“. Das habenwir doch alles erlebt.Die Kanzlerin hat sich hingestellt und hier Elektro-mobilität groß als die neue Wunderwaffe beworben.
Was ist im Ergebnis passiert? Das entsprechende Pro-gramm ist nicht ausfinanziert, weil Sie, Herr Kampeter,als Staatssekretär aus dem Finanzministerium nicht dasGeld für das, was Ihre Kanzlerin hier laufend propagiert,zur Verfügung gestellt haben.
Das ist schändlich. Wie es in der Sache war, haben wiralle erlebt: Das Geld des Bürgers war in diesen Program-men bereits angelegt – das wissen Sie, Herr Kollege –,aber Sie haben es herausgenommen. Deswegen ist das,was Sie sagen, unsinnig.Dennoch können wir Sozialdemokraten dem Antragder Grünen nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten.
– Etwas mehr geistige Trennschärfe, Herr Staatssekretär,würde Ihnen gut anstehen. – In diesem Antrag ist zwarsehr viel Gutes enthalten. Aber es wird auch gefordert,dass energieintensive Unternehmen stärker belastet wer-den sollen. Auf der anderen Seite wird von Problemenbei energieintensiven Unternehmen gesprochen, die sichdann ergeben, wenn die Strompreise erhöht werden. Dasdarf nicht sein; denn wir sind Industriestandort. Diedeutsche Industrie muss wettbewerbsfähig bleiben. Esgeht hier um Arbeitsplätze.Man muss das eine machen, ohne das andere zu las-sen. Lernen Sie von der Sozialdemokratie! Dann wissenSie, wie es geht.
Vielen Dank und noch einen schönen Tag.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8919 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine moderne und umfassende Betreu-
ungskommunikation im Einsatz
– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine kostenfreie und umfassende Be-
treuungskommunikation im Einsatz
– zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internet-Telefonie in Afghanistan
– Drucksachen 17/8895, 17/8795, 17/5908,
17/9057 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Reinhard Brandl
Lars Klingbeil
Christoph Schnurr
Harald Koch
Omid Nouripour
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Reinhard Brandl von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wenn man mit den Soldaten im Einsatzgebiet oder mitihren Familien spricht, dann weiß man, dass die Betreu-ungskommunikation, also die Möglichkeit, aus dem Ein-satzgebiet mit den Familienangehörigen zu Hause Kon-takt aufzunehmen, eines der wichtigsten Anliegenüberhaupt ist.
Früher bestand die Betreuungskommunikation vor allemaus Feldpost und Telefon. Auch heute noch gehören siezu den Kommunikationsmöglichkeiten. Aber darüber hi-naus besteht heute der Bedarf nach einigermaßen schnel-len Internetzugängen. Aber genau daran hapert es an vie-len Einsatzorten.Beschwerden über die Internetanbindung erleben wirauf jeder Reise, insbesondere auf Reisen nach Afghani-stan. Aber auch im Norden des Kosovo und auf hoher
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19955
Dr. Reinhard Brandl
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See ist die Anbindung nach Meinung vieler Soldaten,nach Meinung des Wehrbeauftragten und auch nach un-serer Meinung nicht zufriedenstellend. Wir haben das inden vergangenen Monaten im Verteidigungsausschussmehrmals thematisiert. Daraus ist der Antrag entstanden,den wir als Koalition gemeinsam mit den Fraktionen derSPD und der Grünen eingebracht haben und über denwir heute abstimmen.Das Signal, das davon ausgehen soll, ist klar: Bei demThema Betreuungskommunikation ziehen wir alle an ei-nem Strang. Ich darf mich ganz herzlich bei den Kolle-gen Schnurr und Klingbeil sowie bei der KolleginBrugger bedanken, mit denen wir diesen Antrag gemein-sam erarbeitet haben.Das Internet bietet heute Kommunikationsmöglich-keiten, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesenwären. Es geht nicht mehr nur darum, eine E-Mail ausdem Einsatzgebiet zu schreiben oder auf Webseiten zusurfen. Es gibt heute beispielsweise über Skype dieMöglichkeit, Videotelefonie durchzuführen. Genau daswollen die Soldaten und ihre Angehörigen. Die Soldatenwollen das aber nicht in einem Internetcafé quasi öffent-lich tun, wo der Kamerad auf dem Platz nebenan mit ei-nem halben Ohr zuhören kann, sondern in den Unter-kunftsgebäuden, wo die Soldaten zumindest ein wenigPrivatsphäre haben.Natürlich ist es schwierig, im Einsatzgebiet die glei-che Internetperformance wie in Deutschland zu bieten;das versteht jeder. Aber es wird dann schwierig, dieGründe für die schlechtere Performance zu erklären,wenn der Eindruck entsteht, dass andere Nationen ihrenSoldaten am gleichen Ort genau diesen Service bieten.
Wenn man sich die Details vor Augen führt, mag essachliche Gründe geben, warum es bei dem einen gehtund bei dem anderen nicht. Aber wenn das so ist, musses sehr transparent sein. Wenn der Eindruck entsteht, dieBundeswehr würde die Betreuungskommunikation ihrerSoldaten im Einsatz vernachlässigen, dann ist das für dieMotivation der Soldaten fatal.
Es ist nicht so, dass nichts passiert. Man kann sagen:Die Bundeswehr bemüht sich, dem wachsenden Bedarfder Soldaten Rechnung zu tragen. Erst im Juli 2011 hatein neuer Anbieter, Astrium, die Betreuungskommuni-kation übernommen. Aber nachdem danach das verbes-serte Angebot, das Astrium bereitstellt, immer nochnicht ausreichend war, hat es im November eine umfang-reiche Studie gegeben, wie man dieses Angebot im Rah-men des bestehenden Vertrages weiter verbessern kann.Meiner Ansicht nach ist das auch der richtige Ansatz.Jetzt eine Neuausschreibung zu fordern, würdewieder langwierige Vertragsverhandlungen nach sichziehen, der bestehende Anbieter würde nichts mehr in-vestieren, und die Infrastruktur müsste gegebenenfallsab- und neu aufgebaut werden. Es würde den Soldaten,die heute und in den nächsten Monaten im Einsatz sind,überhaupt nichts bringen. Das wäre auch schwer zu ver-mitteln. Das Ganze würde auch vor dem Hintergrundgeschehen, dass wir in Afghanistan bereits mit denAbzugsplanungen beginnen.Wir müssen also das Beste aus der Situation machen.Hier gibt es Möglichkeiten zur Verbesserung. Bisherwurden alle Standorte über Satellit versorgt. Kommer-zielle Satellitenkapazitäten, insbesondere über Afghani-stan, sind ein knappes Gut. Im Moment werden die bei-den großen Standorte Kunduz und Masar-i-Scharif überein Glasfaserkabel an das Netz der Afghan Telecom an-geschlossen. Wenn diese Leitung steht, dann kann dieAnbindung in diesen Lagern darüber verbessert werdenund die freiwerdenden Satellitenkapazitäten würden fürdie Standorte Faizabad, Taloqan oder das OP North zurVerfügung stehen.Aber die Bandbreite ist nur ein Teil des Problems.Auch die WLAN-Ausstattung in den Unterkünften mussverbessert werden. Deswegen fordern wir in unseremAntrag, dass in Zukunft von Anfang an, wenn solcheUnterkünfte aufgebaut werden, eine entsprechendeWLAN-Versorgung integriert ist. Das gehört heutzutagedazu, genauso wie der Strom- oder der Wasseranschluss.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Bundes-wehr sind die besseren Möglichkeiten der Betreuungs-kommunikation eine große Chance. Sie kann damit dieimmer häufiger werdenden Einsätze für die Soldaten undihre Familien erträglicher gestalten und damit indirektdie Akzeptanz und die Bereitschaft der Soldaten in denEinsatzgebieten erhöhen. Wir Abgeordnete fordern dieBundesregierung und die Bundeswehr auf, diese Chanceaktiv zu nutzen und die Situation für unsere Soldaten imEinsatz schnellstmöglich zu verbessern.
Dies haben wir in einem gemeinsamen Antrag zumAusdruck gebracht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,ich bitte Sie um Ihre Zustimmung dafür.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir alle kennen die Situation, dass wir mitSoldaten im Auslandseinsatz, etwa in Afghanistan, odermit Soldatinnen und Soldaten, die aus dem Auslandsein-satz zurückgekehrt sind, im Gespräch sind. Wir Politikerhören dann eine ganze Reihe von Fragen.Eine Frage, die ich häufig höre, ist: Wieso können un-sere Kameraden aus den Partnerländern kostenfrei und
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Lars Klingbeil
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unbegrenzt mit ihren Familien telefonieren? Eine andereFrage, die auch oft kommt, lautet: Warum ist es deut-schen Polizisten in Afghanistan möglich, in den Unter-kunftsgebäuden mit ihren Familien zu skypen?Es gibt eine dritte Frage, die uns alle bewegen sollte.Das ist die einfache Frage der Soldatinnen und Soldaten:Warum ist uns das nicht möglich? Aus dieser Frage höreich einen gewissen Frust heraus. Ich höre außerdem dieVermutung heraus, dass man ihnen nicht genügend Wert-schätzung entgegenbringt.Ich will Ihnen ganz offen sagen: Ich hatte noch nieeine Antwort auf diese dritte Frage. Mich hat jedoch dasVersprechen bewegt, das ich gegeben habe: Genau umdiese Herausforderung will ich mich kümmern. Heutetun wir das gemeinsam als Parlament, wir kümmern uns.Ich bin dankbar dafür, dass wir einen fraktionsübergrei-fenden Antrag auf den Weg bringen, der die Kommuni-kationsmöglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten imEinsatz verbessern soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag ist einstarkes Signal des Parlaments. Er ist ein Signal an dieSoldatinnen und Soldaten, dass wir als Parlamentarierihre Arbeit wertschätzen und ihnen Anerkennung zollenfür das, was sie tun. Er ist zugleich ein starkes Signal andie Bundesregierung, endlich für Kommunikationsmög-lichkeiten zu sorgen, die sich auf der Höhe der Zeit be-finden. Noch einmal: Hier senden wir ein starkes Signal.Die SPD hat bei vorangegangenen Haushaltsberatun-gen gefordert, erstens das kostenfreie Telefonieren zu er-möglichen und zweitens die Kapazitäten für Internettele-fonie auszubauen. Leider sind diese Anträge abgelehntworden. Es ist aber richtig, dass wir nicht zurückblicken,sondern dass wir uns zusammen auf den Weg gemachthaben und heute diesen gemeinsamen Antrag verab-schieden.Der Kollege Brandl hat es gerade angesprochen, undich kann es bestätigen: Wenn ich etwa in meiner Heimat-stadt Munster, wo es viele Soldaten gibt, die gerade inAfghanistan waren, Gespräche geführt habe, dann warenwir in den Diskussionen immer sehr schnell beim ThemaBetreuungskommunikation. Dabei ist es gar nicht viel,was die Soldatinnen und Soldaten erwarten. Es geht garnicht um Standards, wie wir sie in deutschen Großstäd-ten erleben. Die Soldatinnen und Soldaten sind sehr be-scheiden, aber sie fragen: Warum ist es nicht möglich,dass ich in meinem Unterkunftsgebäude meinen Laptopaufklappen und mit meiner Familie skypen kann? Siefragen: Warum ist es nicht möglich, dass ich mit meinerFreundin auch einmal länger als 30 Minuten kostenfreitelefonieren kann? – Wenn man sieht, dass das in ande-ren Nationen möglich ist, dann ist es umso notwendiger,dass wir diesen Antrag heute auf den Weg bringen.Wir sind seit zehn Jahren in Afghanistan, und wir allemüssen uns fragen, ob wir mit diesem Antrag nicht einbisschen spät dran sind. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu.Der technische Fortschritt hat uns aber auch neue Mög-lichkeiten eröffnet. Wir müssen uns als Politiker kritischfragen, ob wir bei vorangegangenen Vertragsverhand-lungen mit unseren Forderungen überhaupt auf die rich-tigen technischen Standards gesetzt haben.Der Deutsche Bundestag definiert heute, was er imHinblick auf die Betreuungskommunikation und dietechnischen Möglichkeiten für wichtig hält. Damit set-zen wir Standards für künftige Einsätze, die kommenkönnen. Es darf keinen Einsatz der Bundeswehr mehrgeben, der nicht auf diese Standards zurückgreift, die wirheute in dem Antrag definieren. Die in den nächsten Wo-chen anstehenden Verhandlungen mit dem Ministeriumversprechen spannend zu werden.Der Kollege Schnurr hat bei einer Pressekonferenz,die wir mit den Initiatoren des Antrags abgehalten ha-ben, gesagt: Unser Motto lautet: „Geht nicht“ gibt’snicht. Das muss, glaube ich, in den kommenden Wochendie Leitlinie für das Parlament sein.
Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünschthätte, diesen Antrag gemeinsam mit allen Fraktionen aufden Weg bringen zu können. Die Streitereien und Diffe-renzen zwischen Union und Linken können wir als So-zialdemokraten an dieser Stelle aber nicht befriedigen.Vielleicht kommen wir irgendwann zu dem Punkt, dasswir in diesem Hohen Hause Anträge, die die Bundes-wehr betreffen, auch gemeinsam verabschieden können.
Dieser Antrag sieht im Detail vor, in den Unterkunfts-gebäuden eine Technologie vorzuhalten, die Videotelefo-nie ermöglicht. Dieser Antrag fordert die Bundesregie-rung auf, ein Finanzierungskonzept vorzulegen, um dasGanze für die Soldatinnen und Soldaten kostenfrei bereit-zustellen. Wir fordern auch die Aufhebung der 30-Freimi-nuten-Regelung. Vor allem drängen wir darauf, dass dieMöglichkeit auf ausreichende Privatsphäre bei der Kom-munikation gewährleistet wird.Ich sage Ihnen: Es geht bei diesem Antrag nicht nurum die Frage der Kommunikation. Bei diesem Antraggeht es auch um die die Frage nach der Attraktivität desSoldatenberufs. Wir alle wissen doch, wie schwierig esin den kommenden Monaten und Jahren wird, ausrei-chend Nachwuchs für die Bundeswehr zu bekommen.Diejenigen, die bei der Bundeswehr ausscheiden, unddiejenigen, die aus dem Auslandseinsatz zurückkom-men, sind die wichtigsten Personen, wenn es darumgeht, Nachwuchswerbung für die Bundeswehr zu betrei-ben. Deswegen müssen wir erreichen, dass diese Solda-tinnen und Soldaten sagen: Die Politik hat sich um unsgekümmert. Die Politik nimmt uns ernst. – Wir setzenheute mit diesem Antrag ein wichtiges Zeichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist egal, ob je-mand in den ersten Einsatz geht oder in den fünften, esist egal, ob jemand nach Afghanistan oder in den
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19957
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Kosovo geht, es ist egal, ob wir von einem Mannschafts-dienstgrad oder von einem Offizier reden: Für alle dieseMenschen ist die Trennung von Familie und Freundeneine große Herausforderung. Wir haben uns deswegendarum zu kümmern, dass es eine angemessene, umfang-reiche und moderne Betreuungskommunikation gibt.Ich will mich dem Dank anschließen, der von meinemVorredner formuliert wurde. Ich will hier Herrn Brandl,Frau Brugger und Herrn Schnurr erwähnen, aber auchHerrn Koch, der an den Beratungen beteiligt war, die wirdurchgeführt haben. Ich will mich beim Wehrbeauftrag-ten bedanken, der, wie sein Vorgänger, immer wieder aufdieses Thema hingewiesen hat. Ich will mich auch beimBundeswehrVerband bedanken – ich sehe Vertreter desVerbandes oben auf der Tribüne –, der auch immer sehraktiv war, wenn es darum ging, die Betreuungskommu-nikation zu verbessern.Wir senden heute als Parlament einen Appell an dieRegierung. Unser neuer Bundespräsident hat am Sonn-tag hier geredet und gesagt: „Was für ein schöner Sonn-tag!“ Ich glaube, dies kann ein schöner Donnerstag wer-den. Herr de Maizière, Sie haben es jetzt in der Hand,unsere Vorschläge umzusetzen. Wir wünschen Ihnendabei viel Kraft. Auf unsere Unterstützung können Siesich verlassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich habe ichnoch eine Minute Redezeit; aber ich glaube, zu diesemThema ist alles gesagt. Es wird Zeit, dass wir handeln.Vielen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Schnurr für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichkann nahtlos da anschließen, wo mein Vorredner aufge-hört hat: Heute ist in der Tat ein sehr schöner Tag, weilwir ein klares Signal an unsere Soldatinnen und Soldatenim Einsatz, aber auch hier in Deutschland sowie an ihreFamilien senden. Nachdem wir im letzten Jahr das Ein-satzversorgungsgesetz auf den Weg gebracht haben, gehtes uns heute um die Verbesserung der Betreuungskom-munikation in den Auslandseinsätzen. Es ist ein klaresSignal, weil dieser Antrag aus der Mitte des Parlamenteskommt; er ist fraktionsübergreifend.Auch ich möchte gleich zu Beginn meinen Dank da-für aussprechen, dass wir diesen Antrag in sehr kon-struktiven Gesprächen, in denen es manchmal um sehrdetaillierte Ausformulierungen ging – ich hätte fast ge-sagt: wir haben beinahe über jedes Komma gesprochen –,zustande gebracht haben, in einer sehr zügigen Art undWeise. Ich möchte in diesen Dank auch all jeneKolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichenFraktionen einbeziehen, die nicht nur mit unseremKnow-how, sondern teilweise auch mit sehr spezifi-schem technischen Know-how gedient haben, beispiels-weise unseren Kollegen Jimmy Schulz.
Liebe Kollegen, wir befassen uns im Verteidigungs-ausschuss mit vielen Themen und sind immer bemüht,unseren Soldatinnen und Soldaten nach Möglichkeit einegute Ausrüstung zu bieten sowie eine persönliche Aus-stattung und Ausbildung zu gewährleisten; wir sind im-mer dabei, sie zu verbessern. In diesem Bereich hat sicheine Menge getan. Einige Maßnahmen haben viel Geldgekostet. Heute geht es um die Betreuungskommunika-tion, um eine Aufgabe, deren Realisierung nicht gleichzig Millionen Euro kostet, aber für die Truppe enormwichtig ist und einen hohen Stellenwert hat.Die Bedeutung der Betreuungskommunikation fürunsere Soldatinnen und Soldaten, aber insbesondereauch für ihre Familien ist uns allen bewusst. Ob beiTruppenbesuchen im Inland oder im Ausland: DasThema wird bei jeder Gelegenheit, an jeder Stelle ange-sprochen. Teilweise erhalten wir E-Mails und Anrufevon Familienangehörigen, die auf die verbesserungsbe-dürftige Situation hinweisen. Wir wollen – das sagen wirheute ganz deutlich – eine bessere, modernere und ange-messenere Betreuungskommunikation für unsere Solda-tinnen und Soldaten.Wurde einst hauptsächlich über Briefe via Feldpostkommuniziert, existiert heute eine Vielzahl an Kommuni-kationsmöglichkeiten: das Telefonieren, das Verschickenvon SMS, die Möglichkeiten, die über das Internet gebo-ten werden, beispielsweise das Schreiben von E-Mails,der Download von Videos oder Musik, die man sich an-schauen oder anhören kann, aber auch die Nutzung derentsprechenden Nachrichtenportale zur politischen Bil-dung, ganz besonders natürlich die Nutzung der technolo-gischen Möglichkeiten der Videotelefonie bzw. vonSkype. In unserem Antrag geht es uns heute um dieseFeldpost 2.0. Die Betreuungskommunikation ist ein wich-tiger und nicht kleinzuredender Faktor.
Meine Vorredner hatten es bereits erwähnt: Ein Blick aufandere Nationen lässt die Erwartungen unserer eigenenSoldaten steigen. Teilweise können Telefonate, sogar Vi-deotelefonate, über Dienstgeräte bzw. Dienstsatellitengetätigt werden; nicht so in Deutschland.In Deutschland wird die Betreuungskommunikationdurch einen privaten Anbieter bereitgestellt. Durch denneuen Anbieter, der im letzten Jahr beauftragt wurde, hatsich die Situation schon verbessert. Ein vergleichbarerStandard wie hier in Deutschland wird es in Afghanistanauf absehbare Zeit aber nicht geben können. Ein Unter-schied in der Übertragungsgeschwindigkeit wird bei-
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19958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Christoph Schnurr
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spielsweise immer vorhanden sein. Das dürfen wir nichtvergessen und nichts anderes versprechen.Die Notwendigkeit für weitere Verbesserungen ist of-fenkundig und besteht fort. Deshalb fordern wir in unse-rem Antrag erstens, dass die Videotelefonie in Unter-künften flächendeckend ermöglicht wird, damit inEchtzeit in Bild und Ton Kontakt zur Familie gehaltenwerden kann, dass die Soldaten sozusagen live mit ihrenFamilien oder ihrem sozialen Umfeld kommunizierenkönnen, zweitens ein Umsetzungskonzept für eine kos-tenfreie Nutzung des Internets, drittens, dass die notwen-dige IT-Infrastruktur künftig in den Unterkünften inte-griert wird, viertens, dass entsprechende Maßnahmenergriffen werden, um die Gewährleistung der Privat-sphäre von Soldatinnen und Soldaten bei der Nutzungder Videotelefonie zu verbessern, und fünftens, dass dieSoldaten im Einsatz die Möglichkeit bekommen, kosten-frei nach Deutschland zu telefonieren.
Ein Großteil unserer Soldatinnen und Soldaten befin-det sich 5 000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in ei-nem herausfordernden und gefährlichen Einsatz. Die Be-lastungen für die Familien sind enorm und kaumvorstellbar. Die Scheidungs- und Trennungsquoten spre-chen für sich. Eine moderne und zuverlässige Betreu-ungskommunikation ist auch Ausdruck einer Fürsorge-pflicht gegenüber unseren Soldaten und deren sozialemUmfeld. Ich würde mich freuen, wenn das Ministeriumnach Beschlussfassung hier im Hohen Hause eine rascheUmsetzung der Maßnahmen sicherstellen würde; dennes geht nicht nur darum, dass wir ein klares Signal an un-sere Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien senden,Herr Minister, sondern auch darum, dass das Haus wei-terhin schnell und möglichst unbürokratisch an der Um-setzung arbeitet.
Eine moderne Armee braucht mehr als gut ausgebil-dete Soldatinnen und Soldaten und gepanzerte Fahr-zeuge; eine moderne Armee muss auch auf die Wünscheder Soldaten eingehen. Wir wollen die bestmögliche Be-treuungskommunikation für unsere Frauen und Männerim Einsatz. Anders formuliert: Deutschland muss auchvom Hindukusch aus erreichbar sein.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Harald Koch.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Elektronische Kom-munikationsmedien sind für die Soldatinnen und Solda-ten im Auslandseinsatz oftmals die einzige Verbindungzur Heimat und die einzige Möglichkeit, sich frei unduneingeschränkt zu informieren.Trotz eines Anbieterwechsels im Jahr 2011 kritisierensowohl Bundeswehrangehörige als auch der Wehrbeauf-tragte weiterhin, dass das Angebot noch immer unzurei-chend ist und es den Soldatinnen und Soldaten ebennicht ermöglicht, beispielsweise per Skype mit der Fa-milie zu kommunizieren oder via Internet die neuestenNachrichten zu erhalten. Gerade dies ist aber angesichtsimmer weiter steigender Zahlen von PTBS und andereneinsatzbedingten psychischen Erkrankungen nicht nurfür die Erhaltung der psychischen Gesundheit von zen-traler Bedeutung, sondern auch zur Gewährleistung ei-ner freien, vom Bundeswehrumfeld unbeeinflusstenMeinungsbildung.Kostenloses Telefonieren und Surfen mit entspre-chenden Bandbreiten sind für die Angehörigen derStreitkräfte anderer Nationen, aber auch für stationiertePolizistinnen und Polizisten längst Standard. Das sollteauch für die deutschen Bundeswehrangehörigen gelten.Der interfraktionelle Antrag von CDU/CSU, FDP, SPDund den Grünen erkennt dieses Problem zwar, wälzt dieVerantwortung aber auf die Ministerialbürokratie ab, dieprüfen soll, ob eine kostenfreie Nutzung des Internetszukünftig möglich ist.
Aus unserer Sicht reicht es nicht aus, immer nur zu prü-fen. Was dabei herauskommt, können wir seit über zehnJahren bei der Entschädigung von Radarstrahlenopfernverfolgen. Da wird bis heute geprüft, und die Betroffe-nen warten, warten und warten.Darüber hinaus fordern wir, dass Maßnahmen ergrif-fen werden, um die Privatsphäre der Soldatinnen undSoldaten besser zu schützen und so sicherzustellen, dassdiese frei von Überwachung über ihre Einsatzerlebnisseberichten können.Abschließend noch ein Wort an alle, die nun vielleichtdie Befürchtung haben, mit unserem Antrag werde einBruch mit den friedenspolitischen Positionen der Linkeneingeleitet.
Ich mache kein Geheimnis daraus, dass einige Abgeord-nete meiner Fraktion da anderer Auffassung sind.
– Es gibt dazu entsprechende Erklärungen. – Der Auf-fassung einiger Abgeordneter von uns, dass damit dieAttraktivität des Einsatzes verbessert wird, möchte ichentgegnen: Nicht die Soldatinnen und Soldaten sind un-sere Gegner, sondern die Generäle und Politiker, die siein Kriegseinsätze schicken.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19959
Harald Koch
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Den Linken sind die sozialen Belange der Soldatin-nen und Soldaten nicht gleichgültig. So haben wir unsbeispielsweise für die bessere Versorgung der PTBS-Op-fer oder für die Entschädigung von Radarstrahlengeschä-digten eingesetzt. Ich bin der Meinung, dass es zynischist, wenn Schwarz-Rot-Gelb-Grün Soldatinnen und Sol-daten immer häufiger in immer gefährlichere Kriegsein-sätze schickt, sich dann aber nicht um die Konsequenzenfür die Betroffenen sowie deren Angehörige kümmert.Ich lehne die bisherige Praxis der Bundesregierung, Sol-datinnen und Soldaten als Kanonenfutter zu rekrutieren,genauso ab, wie ich konsequent jede Form der Kriegs-einsätze ablehne.
Nach wie vor haben die sofortige Beendigung allerBundeswehreinsätze und der unverzügliche Abzug allerTruppen oberste Priorität. Dies würde erübrigen, sich umdieses Thema zu kümmern und Mittel auszugeben.Diese Mittel könnten wir für andere, bessere Zweckeeinsetzen. Das wäre ein Gewinn für alle Seiten.Solange die Bundesregierung das aber nicht verstehenwill, setzen auch wir Linke uns für das Recht der Bun-deswehrangehörigen ein – sie werden trotz unserer Ab-lehnung mit Bundestagsmandat in diesen Krieg ge-schickt werden –, über freie und ungestörte Kommu-nikationsmöglichkeiten sowie über einen unkontrollier-ten Zugang zu Informationen zu verfügen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Agnieszka Brugger
für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede undjeder, der eine Fernbeziehung geführt hat, kennt diegroße Bedeutung von Telefon und Internet. Wir Abge-ordneten machen durch die Pendelei zwischen Berlinund Wahlkreis unsere Erfahrungen mit der räumlichenDistanz von der Familie. Ich bin mir sicher, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, dass niemand von uns auf Telefonoder Internet verzichten möchte.Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr imEinsatz sind nicht nur für einige Tage oder Wochen vonihren Familien getrennt, sondern in der Regel für meh-rere Monate. Gewalt und Gefahr gehören in dieser Zeitzum Alltag der Bundeswehrangehörigen. Mit diesemAlltag im Einsatz klarzukommen, ist eine enorme He-rausforderung; allein ist das kaum zu schaffen. Der Aus-tausch mit den eigenen Angehörigen ist unverzichtbarfür die Bewältigung der Einsatzrealität. Auch die Ange-hörigen brauchen wiederum die regelmäßige direkteKommunikation, damit sie mit der Angst um die Solda-tinnen und Soldaten auch umgehen können.Das alles ist nichts Neues; denn die Bundeswehr istseit bald 20 Jahren im Einsatz. Dabei dauern die Ein-sätze auf dem Balkan und in Afghanistan seit mehr alseinem Jahrzehnt an. Auf vielen Reisen hören wir heuteimmer wieder die gleichen Klagen. Dennoch sah sichdas Verteidigungsministerium bis heute nicht in derLage, für die Soldatinnen und Soldaten die notwendigeInfrastruktur für kostenloses Telefonieren, Mailen, Sky-pen und Simsen zu schaffen. Das ist ausgesprochen bit-ter, meine Damen und Herren.
Es ist richtig, dass wir Grünen bei Auslandseinsätzenmanchmal nicht die Meinung der Regierung teilen undleidenschaftlich über ihren Sinn und Zweck sowie überihre Ausgestaltung diskutieren. Die Frage aber, wie sichder Dienstherr um die Bundeswehrangehörigen im Ein-satz kümmert, ist von unserer Zustimmung zu diesemEinsatz unabhängig. Die Bundesregierung muss der Für-sorgepflicht nämlich bei jedem Einsatz gerecht werden.
Im Verteidigungsausschuss wurde die deutliche Ver-nachlässigung der Fürsorgepflicht wiederholt fraktions-übergreifend und auch in aller Deutlichkeit kritisiert.Eine grundlegende Verbesserung trat leider nicht ein.Im vergangenen Jahr wurde es der Fraktion der Grü-nen zu bunt. Im Mai 2011 haben wir den Antrag in die-ses Parlament eingebracht, den Soldatinnen und Solda-ten im Einsatz endlich in angemessener Qualität undVerfügbarkeit die Internettelefonie zu ermöglichen. Ichfreue mich wirklich außerordentlich, dass diese Initiativebei allen Fraktionen Anklang gefunden hat und wir nuneinen neuen Antrag einbringen, wenn auch leider nur mitvier Fraktionen. An dieser Stelle danke ich den Kollegenganz herzlich für die sehr gute Zusammenarbeit.
Ich hätte mich noch mehr gefreut, wenn wir diese Ini-tiative zu fünft ergriffen hätten. Immerhin hat sich dieFraktion Die Linke von der Kooperationsverweigerungder Unionsfraktion nicht völlig vergrätzen lassen
und in ihrem eigenen Antrag die Einigkeit in den we-sentlichen Punkten demonstriert, unter anderem – auchdas muss man sagen –, indem sie Passagen unseres ers-ten Arbeitsentwurfs wortwörtlich übernommen hat, wasuns sehr freut.
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Agnes Brugger
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Leider haben Sie aber auch – das hat Ihre Rede gezeigt –ein paar sehr polemische und weniger sinnvolle Punkteergänzt, sodass wir Ihrem Antrag nicht folgen können.
Dennoch ist diese fraktionsübergreifende Einigkeitheute ein sehr deutliches Signal an die Adresse des Ver-teidigungsministeriums: Das Parlament nimmt seineFürsorgepflicht gegenüber der Parlamentsarmee im Ein-satz sehr ernst. Es ist unser explizites Anliegen, dass dieMöglichkeiten der Kommunikation aus dem Einsatznach Hause jetzt ausgebaut und angepasst werden. Auchbei zukünftigen Einsätzen müssen die notwendigenMaßnahmen für eine funktionierende Betreuungskom-munikation von Anfang an ergriffen werden.Sicherlich, eine so umfassende Betreuungskommuni-kation kostet Geld. Im Verhältnis zu den Gesamtkosteneines Einsatzes sind die Beträge, über die wir reden, abereher klein. Es sollte uns jeden Cent wert sein, weil wirden Soldatinnen und Soldaten und ihren Familien da-durch helfen, die Zeit der Trennung zu überstehen.
Die Bundesregierung ist sehr gut beraten, diesesZeichen nicht länger zu ignorieren. Sie sollte schnellst-möglich handeln. Der Ball liegt jetzt bei Ihnen, Herrde Maizière.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Jürgen Hardt von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz ist
dies die zweite Initiative aus der Mitte des Parlaments in
dieser Legislaturperiode, die echte Verbesserungen für
die Soldaten bringt. Ich glaube, dass der 17. Deutsche
Bundestag seine Aufgabe als Hüter der Interessen der
Soldaten, insbesondere solcher im Auslandseinsatz, sehr
gut wahrnimmt. Ich finde es auch schön, dass es eine so
breite Unterstützung dieses Anliegens gibt. Dass die Re-
gierung heute hier durch den Bundesverteidigungsminis-
ter persönlich vertreten ist, ist ein gutes Zeichen dafür,
dass diese Sache auch im Verteidigungsministerium
Chefsache ist.
Ich möchte der Kollegin Brugger einen kleinen Hin-
weis geben, die nicht ganz zu Unrecht angemerkt hat,
dass die deutsche Bundeswehr in den letzten Jahren im
Hinblick auf die Kommunikation aus dem Einsatz he-
raus ein Stück zurückhing. Ich glaube, einer der Haupt-
gründe dafür war ein Vertrag mit einem entsprechenden
Anbieter, der viel zu umständlich war und eine viel zu
lange Laufzeit hatte; dieser Vertrag lief über zehn Jahre.
Ich frage mich, wie man in der heutigen Zeit im Bereich
der Kommunikationstechnik Verträge mit einer Laufzeit
von zehn Jahren abschließen kann, da man doch über-
haupt nicht weiß, wie sich die Dinge in den folgenden
zehn Jahren entwickeln. Dieser Vertrag, der, wie ich
glaube, 2001 von einer anderen Regierung geschlossen
wurde,
sollte uns lehren, so etwas nicht noch einmal zu machen;
diese Erfahrung sollten wir mitnehmen. Die Verträge,
die wir schließen, sollten etwas flexibler sein, damit wir
auf neue Entwicklungen reagieren können.
Ich glaube, dass wir alle gut daran tun, nach vorne zu
schauen.
Zu der Rede des Kollegen Koch möchte ich etwas an-
merken.
Sie haben hier dialektische Freistilübungen gemacht, um
irgendwie zu erklären, warum die Linke bei einem
Thema, das mit der Bundeswehr zu tun hat, nun doch
das eine oder andere freundliche Wort findet. Ihre Worte
müssen Sie an Ihre eigene Fraktion richten; denn uns
muss man diesbezüglich nicht überzeugen. Ich glaube,
dass die Linke gut beraten wäre, zu überlegen, ob sie
diesem Antrag nicht vielleicht doch zustimmen kann
– das hat sie beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsge-
setz auf Betreiben ihres verteidigungspolitischen Spre-
chers, Paul Schäfer, letztlich getan –, um das schiefe
Bild, das in der Öffentlichkeit durch Enthaltungen ent-
steht, ein Stück weit geradezurücken.
Herr Kollege Hardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehrcke?
Bitte schön.
Herr Kollege, erst einmal herzlichen Dank, dass Siedie Frage erlauben. – Ich möchte gern auf den Kern-punkt der Differenzen zu sprechen kommen. Wenn Sie
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Wolfgang Gehrcke
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einseitig in Richtung der Linken fragen, ob wir unsbewegen, was die Bundeswehr angeht, frage ich zurück:Werden sich die Union und die anderen Fraktionen, diediesen Antrag eingereicht haben – das gilt insbesonderefür die Grünen –, bewegen und endlich begreifen, dassdie Bundeswehr sofort aus Afghanistan abgezogen wer-den muss? Das wäre das größte Verdienst; so würde manSolidarität mit den eingesetzten Soldaten zeigen. Das istder Kernpunkt der Differenzen. Damit muss man sichauseinandersetzen.
Es muss doch auch Sie beschäftigen, wenn der Leitereines Instituts für strategische Forschung in den Nieder-landen sagt, dass der Westen diesen Krieg nicht mehrgewinnen kann, und daraus schlussfolgert, dass dieTruppen sofort abgezogen werden sollten, damit die Sol-daten und vor allen Dingen die Menschen in Afghanistannicht weiter gefährdet werden.
Das ist der Punkt, mit dem man sich auseinandersetzenmuss.
Herr Kollege, darauf möchte ich eine kurze und klare
Antwort geben. Ich hielte den sofortigen Abzug der
Bundeswehr aus Afghanistan für einen Verrat an den
Menschen,
die im Vertrauen auf unsere Unterstützung und Zuverläs-
sigkeit am Aufbau von stabilen Verhältnissen in Afgha-
nistan mitwirken. Deswegen wäre es ein großer Fehler
und eine moralische Ungerechtigkeit, wenn wir die deut-
schen Soldaten jetzt sofort abziehen würden.
Lassen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der
im Antrag nicht erwähnt wird, den ich der Regierung
aber trotzdem mit auf den Weg geben will. Wir sprechen
über Infrastruktur im Auslandseinsatz, insbesondere bei
den Landeinsätzen. Wir führen aber auch einige große
Marineeinsätze durch, insbesondere die Operation
Atalanta. Die Möglichkeiten der privaten Telefonie, des
privaten Surfens und des Skypens auf deutschen Kriegs-
schiffen sind unzureichend; naturgemäß ist das Telefo-
nieren dort noch komplizierter als an Land. Wenn eine
deutsche Fregatte die Meerenge von Gibraltar passiert,
dann stürmen die Soldaten auf das Achterdeck und ver-
suchen, mit ihren Handys über ein spanisches oder ma-
rokkanisches Telefonnetz eine Botschaft nach Hause zu
senden, weil privates Telefonieren an Bord von deut-
schen Kriegsschiffen nur sehr eingeschränkt möglich ist.
Ich würde mir wünschen, dass wir bereits bei der
Konzeption neuer Schiffe der Marine, insbesondere sol-
cher Schiffe, die gegebenenfalls für längere Auslands-
einsätze, zum Beispiel am Horn von Afrika, vorgesehen
sind, prüfen, ob wir durch technische Vorkehrungen die
Möglichkeiten des privaten Telefonierens und Surfens,
und zwar in Privatsphäre, erleichtern können. Das wäre
ein großer Fortschritt für die Soldaten im Einsatz auf
See. Ich glaube, damit würden wir allen einen großen
Gefallen tun. Es wäre schön, wenn dies berücksichtigt
würde.
In dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP,
Grünen und SPD fordern wir, dass Videotelefonie in den
Unterkünften der Einsatzgebiete flächendeckend ermög-
licht wird. Wir fordern kostenfreien Internetzugang in
den Unterkünften. Wir fordern, dass mehr Privatsphäre
ermöglicht wird, dass die Soldatinnen und Soldaten tele-
fonieren können, ohne dass ihnen dabei Kameraden über
die Schulter schauen. In diesem Antrag wird gefordert,
dass die Soldaten im Einsatz kostenlos telefonieren kön-
nen, und zwar länger als 30 Minuten pro Woche. Ein
Telefonat dauert das eine oder andere Mal länger; dies
hängt auch von der aktuellen Lebenssituation des Solda-
ten ab. Man wird nicht immer länger als 30 Minuten
telefonieren müssen, aber manchmal schon.
Ich glaube, mit diesen Forderungen haben wir der
Bundesregierung ein ordentliches, solides Auftragspaket
übermittelt, das abgearbeitet werden kann. Ich bin zuver-
sichtlich, dass wir schon bald Erfolgsmeldungen aus
dem Bendlerblock hören werden.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache17/9057 kommen, gebe ich Ihnen bekannt, dass mehrereErklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung zuProtokoll genommen werden1).Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Annahme des Antrags derFraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8895 mit dem Titel „Füreine moderne und umfassende Betreuungskommunika-tion im Einsatz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann istdie Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Frak-tionen bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten derFraktion Die Linke, die sich zum Teil enthalten und zumTeil dagegen gestimmt hat, angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/8795 mit demTitel „Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungs-1) Anlage 4
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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kommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Das ergibt kein klares Ergebnis, das wirzu Protokoll nehmen können. Ich muss diese Abstim-mung wiederholen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/8795 mit demTitel „Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungs-kommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und derGrünen bei Ablehnung eines Teils der Fraktion DieLinke angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5908 mitdem Titel „Internet-Telefonie in Afghanistan“ für erle-digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieseBeschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-punkt 6 auf:10 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, LotharBinding , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPDWeltwärts – Ein Freiwilligendienst mit Zu-kunft– Drucksache 17/8769 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausRiegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Helga Daub, JoachimGünther , Harald Leibrecht, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPWeltwärts wird Gemeinschaftswerk– Drucksache 17/9027 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Bärbel Kofler von der SPD-Fraktiondas Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, dass wir nach einer langen Evaluierungs-zeit – ich meine das durchaus positiv; denn das sprichtfür die Qualität der Evaluierung – jetzt Erkenntnisseüber „weltwärts“ vorliegen haben, die im Wesentlichendeutlich machen, was für ein positives, innovatives undneues Instrument dieser Freiwilligendienst darstellt.Gleichzeitig werden uns aber auch Vorschläge mit aufden Weg gegeben, wo wir mit Verbesserungsmaßnah-men ansetzen können. Vor genau diesem Hintergrundhaben wir als SPD-Fraktion uns entschlossen, einenAntrag einzubringen, um etwas sehr Gutes zu verbes-sern.
Es ist mit „weltwärts“ gelungen – die Evaluierungmacht das deutlich –, sehr viele junge Menschen zuerreichen. Es sind mehr als 10 000 Freiwillige – das warder Stand bis Ende 2010; jetzt sind es natürlich nochwesentlich mehr – entsandt worden – ich füge kritischhinzu, dass es noch ein paar mehr hätten sein können,wenn man haushalterisch ein bisschen mehr für das Pro-gramm „weltwärts“ gemacht hätte –, und es sind knapp250 Entsendeorganisationen beteiligt gewesen. Sie allehaben bestätigt, dass „weltwärts“ ein gutes Programmist, und die entwicklungspolitische Bildungsarbeit, dievon „weltwärts“ geleistet wird, gelobt.
Ich finde bereits das Motto des Freiwilligendienstes„Lernen durch tatkräftiges Handeln“ beachtenswert.Denn es geht darum, einen globalen Lerndienst einzu-richten, der sich von vielen anderen Austauschprogram-men unterscheidet.Es geht um das wechselseitige Lernen voneinanderund miteinander, um entwicklungsfördernd tätig seinzu können. Gerade das ist etwas, was man hätte erfin-den müssen, wenn man „weltwärts“ nicht erfundenhätte. Bereits vor 2007 – 2007 war das Jahr, in demHeidemarie Wieczorek-Zeul „weltwärts“ aus der Taufegehoben hat – gab es junge Menschen, die sich in Ent-wicklungsländern einbringen, sich dort engagieren undmit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten zu einer besserenEntwicklungszusammenarbeit beitragen wollten. Einehohe Hürde für viele von ihnen war, dass sie ihr entwick-lungspolitisches Engagement selbst finanzieren mussten.Dies war gerade für junge Freiwillige aus Familien miteinem schmalen Geldbeutel ein Problem.Genau an diesem Punkt setzt „weltwärts“ zu Rechtan. Dort wurden neue Maßstäbe gesetzt – auch mit demZuschuss, den es für Entsendeorganisationen gibt –, so-
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Dr. Bärbel Kofler
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dass die Freiwilligen jetzt nicht mehr für Kost und Logisbezahlen müssen, ein Taschengeld erhalten können undordentlich krankenversichert, also abgesichert sind.Unter diesen Voraussetzungen können sie als jungeMenschen mit gutem Gewissen auch in durchausschwierige Regionen dieser Erde geschickt werden.
In der langen Version des Evaluierungsberichts steheneinige ganz wichtige Punkte. Der Ansatz von „welt-wärts“ wird in vielem bestätigt. Es wird über die Rele-vanz der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit gespro-chen, und „weltwärts“ wird als positiver Beitrag – ichfinde, das ist besonders wichtig – in den Partnerländernvor Ort genannt. Wörtlich steht dort: Neben dem Beitragzur Arbeit der Einsatzstellen profitieren die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter, die Zielgruppen und das nähereUmfeld insbesondere durch den interkulturellen Aus-tausch. – Selbstverständlich bringt „weltwärts“ einenMehrwert für die Freiwilligen selbst und für ihre persön-liche Entwicklung. Das ist auch gut so.Es ist damit auch gelungen – diesen Ansatz hatten wir2007 ebenfalls –, gerade für junge Frauen ein Programmaufzulegen, das es ihnen ermöglicht, im Ausland einenDienst anzutreten. Wer sich erinnert, der weiß: Das wardamals noch nicht der Fall. In den meisten Fällen wur-den Auslandsdienste analog zum damaligen Zivildienstvon jungen Männern wahrgenommen.Die Evaluierung gibt uns auch einige Hinweisedarauf, wo wir noch etwas tun können und wo wir besserwerden müssen. Ein Anspruch von „weltwärts“ war,dass sich nicht nur Abiturienten und Kinder aus der bil-dungsnahen Schicht oder zum Teil auch aus der soge-nannten Bildungselite des Landes für diesen Dienst inte-ressieren können, sondern dass sich gerade Freiwillige,die einen Haupt- oder Realschulabschluss und eineBerufsausbildung haben, die also aus der Breite derBevölkerung kommen, für solch ein Programm interes-sieren und dass ihnen Angebote für ihre persönliche Ent-wicklung gemacht werden können, sodass sie die Kennt-nisse und Fähigkeiten, die sie erworben haben, inanderen Ländern einbringen können.Hier besagt der Evaluierungsbericht eines ganz deut-lich: Wir müssen an dieser Stelle besser werden. Wirmüssen auf diese Zielgruppen anders zugehen. Wir müs-sen das Programm anders bekannt machen und uns inBezug auf den einen oder anderen Punkt – das gilt viel-leicht auch hinsichtlich arbeitsrechtlicher Fragestellun-gen – noch einmal Gedanken darüber machen, wie wirhier für die jungen Menschen ein adäquateres Angebotmachen können.
Der Bericht gibt einige positive Hinweise darauf, wieman die Qualitätssicherung auch bei Entsendeorganisa-tionen vorantreiben und die Ressortabstimmung verbes-sern kann. Er beinhaltet aber auch einiges – ich betonedas noch einmal – zur finanziellen Ausstattung des Frei-willigendienstes. Auch hier gilt: Die Qualität, die wir beiden Programmen, bei der Vorbereitung, bei der Nachbe-reitung, bei der Rückkehrerarbeit und bei der Bildungs-arbeit, die die jungen Menschen leisten sollen und kön-nen, einfordern, ist so gut wie der Rahmen, den wirfinanziell abstecken. Die Zahl, die genannt wird, stammtnicht von mir und nicht von der Opposition, sondern siestammt aus dem Evaluierungsbericht. Dort wird davongesprochen, dass für dieses Programm 70 MillionenEuro notwendig sind.
Noch einige Worte zur Evaluierung selbst. Es ist viel-leicht nicht bekannt, dass diese Evaluierung bereits inder Einführungsphase von „weltwärts“ Bestandteil desKonzepts war – ich denke, es ist wichtig, das noch ein-mal darzustellen –, dass schon immer geplant war, mitEnde der Einführungsphase 2010 mit der Evaluierungdes Programmes zu beginnen. Es war nie etwas anderesgeplant, und das ist dann Gott sei Dank von einer unab-hängigen Consulting-Agentur auch so durchgeführt wor-den.Die Evaluierung ist langfristig angelegt worden, undim Rahmen dieser Datenerhebung sind über mehrereMonate in sechs Fallstudienländern flächendeckend Ent-sendeorganisationen, Freiwilligen- und Partnerorganisa-tionen befragt worden. Ihre Meinungen und Erkennt-nisse sind aufgenommen worden. In Deutschland sindinsbesondere die Erkenntnisse zur entwicklungspoliti-schen Bildungsarbeit und zur Rückkehrerarbeit aufge-nommen worden.Wir als SPD haben uns diesen Bericht sehr genau an-geschaut und wollen, dass die Erkenntnisse aus diesersehr umfangreichen Studie möglichst schnell und zügigumgesetzt werden, dass die daraus folgenden Arbeits-gruppen jetzt tätig werden und noch vor der Sommer-pause zu Ergebnissen kommen. Denn es geht darum,schnell und zügig an der Verbesserung und an der Wei-terentwicklung von „weltwärts“ zu arbeiten.Uns ist es wichtig, dass junge Menschen mit Berufs-ausbildung stärker an „weltwärts“ herangeführt werdenkönnen. Darüber hinaus wäre es wichtig, zu begreifen,dass es um interkulturelles Lernen geht, dass auch Men-schen zu uns kommen müssen, dass der Austausch überdie Grenzen in zwei Richtungen funktionieren muss,dass wir eine bessere Zusammenarbeit und einen besse-ren globalen Lerndienst erreichen können, wenn wirPartnerorganisationen einladen.
Ich habe mich gefreut, dass zu diesem Thema auchnoch ein Koalitionsantrag gestellt wurde. Wenn wir ge-meinsam zu der Wertung kommen, dass „weltwärts“ eingutes Programm ist, und wenn das fraktionsübergreifendfestgestellt wird, dann ist das positiv.Bei manchen Ihrer Forderungen frage ich mich aber,wieso Ihnen diese eingefallen sind und warum Sie dieseauch noch in den Koalitionsantrag hineinschreiben
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Dr. Bärbel Kofler
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mussten. Beispielsweise greifen Sie in Ihrem Antrag inNr. 4 die neuen Zielgruppen auf, denen Sie sich widmenwollen. Da heißt es, dass Sie Zielgruppen aus wirt-schaftsnahen Bereichen erschließen wollen.
Frau Kollegin Kofler, Ihre Zeit ist eigentlich abgelau-
fen.
Was das im Zusammenhang mit „weltwärts“ zu tun
hat, ist mir völlig schleierhaft. Nicht nur deshalb ist un-
ser Antrag der bessere. Er ist kompakter und zukunfts-
weisender. Bitte stimmen Sie dem SPD-Antrag zu „welt-
wärts“ zu.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschlandcirca 23 Millionen bürgerschaftlich Engagierte in unse-rer Gesellschaft und möchten das Interesse von Freiwil-ligen für den Entwicklungsdienst und die wirtschaftlicheZusammenarbeit wecken. Deshalb wurde 2007 das Pro-gramm „weltwärts“ eingeführt. Es richtet sich an jungeMenschen zwischen 18 und 28 Jahren. Es soll erstensdas Interesse an einem entwicklungspolitischen Engage-ment wecken, zweitens einen wirkungsvollen Beitragzur Entwicklung in den Einsatzländern leisten und drit-tens entwicklungspolitische Inlands- und Bildungsarbeitermöglichen.Wir haben dazu eine breite Palette von Entsendeorga-nisationen. Es gibt heute 6 377 anerkannte Plätze und ca.200 aktive Entsendeorganisationen. 13 000 Freiwilligesind, wenn man in Abreisen rechnet, in 80 Ländern un-terwegs; 42 Prozent sind in Lateinamerika, 37 Prozent inAfrika, 20 Prozent in Asien und 1 Prozent in Osteuropa.Die beliebtesten Länder sind Südafrika mit 1 218, Indienmit 1 053 und Peru mit 803 Abreisen.Die Arbeitsbereiche vor Ort sind der Bildungssektormit 34 Prozent, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichenmit 35 Prozent; der Gesundheitssektor, „Menschen mitBehinderung“, „Umwelt- und Ressourcenschutz“ sindweitere Einsatzfelder. Die Freiwilligen sind durch-schnittlich 12 Monate vor Ort. Sie sind in der Tat, FrauKofler, zu 61 Prozent weiblich.Die Evaluierung, die von vornherein vorgesehen war,wurde im Oktober 2011 mit sechs Länderstudien, einerStudie zur Inlands- und zur Bildungsarbeit in Deutsch-land durch die Rückkehrerarbeit und einer Onlinebefra-gung der Entsendeorganisationen, aller Freiwilligen undder Partnerorganisationen in den Fallstudienländern ab-geschlossen. Insgesamt bringt die Evaluierung ein posi-tives Ergebnis. Es heißt: Relevanz, Effizienz und weitge-hende Effektivität im Hinblick auf die Erreichung derZiele, insbesondere auf der Ebene der Freiwilligen. Dasist zunächst einmal ein gutes Ergebnis, das man so fest-halten kann.
Die Empfehlung der Evaluation ist die Fortführungund weitere Schärfung, nämlich erstens die Stärkung derArbeit mit den Rückkehrern, zweitens eine fachlich-pä-dagogische Begleitung der Freiwilligen und drittens eineEinbeziehung bisher nicht erreichter Zielgruppen. DasBMZ wird das Programm weiterführen, aber auch wei-terentwickeln. Wir begrüßen das koordinierte Vorgehenmit den Trägern einschließlich der Kirchen. Ein wichti-ger Beitrag zur Verankerung der Entwicklungspolitikwird hier geleistet.Ich darf Jürgen Deile vom Evangelischen Entwick-lungsdienst, den Koordinator der Programmsteuerungs-gruppe aus der Zivilgesellschaft, zitieren:Gemeinsam mit dem Ministerium nehmen wir dieFortentwicklung des Programms an den Punktenauf, an denen die zivilgesellschaftlichen Träger, diePartnerorganisationen sowie aktive und zurückge-kehrte Freiwillige schon seit längerem gerne ange-packt hätten.Wir bedanken uns beim Ministerium dafür, dass dieseArbeit zielgerichtet fortgeführt wird.
Die Ziele der Fortschreibung sind erstens das Schär-fen des entwicklungspolitischen Profils, zweitens die Si-cherung von Qualität und Wirkung, drittens die Verein-fachung bei Verfahren und Instrumenten und viertens dieNovellierung von Mandaten und Verantwortlichkeiten.Insbesondere bitten wir, darauf zu achten, die Subsidiari-tät zu stärken.Ich habe jetzt über den positiven Teil der Evaluationgesprochen. Wir übernehmen Verantwortung für jungeMenschen. Deswegen müssen wir auch den eher nach-denklichen Teil ansprechen. Die Freiwilligen sind durch-schnittlich 20 Jahre alt. Man kann also davon ausgehen:Sie haben noch nie allein gewohnt. Sie sind es auch nichtgewohnt, in einem fremden Land zu sein, kennen diekulturellen Sitten nicht, haben wenig Erfahrung mit derKultur. Trotz entsprechender Vorbereitung sind die Er-fahrung, die Souveränität und das richtige Gespür imUmgang mit Menschen und Situationen natürlich nochnicht so ausgeprägt wie vielleicht bei Älteren. Deswegenhatten wir zwischen 2008 und 2010 eine Abbrecherquotevon 7 Prozent; denn eine Rundumbetreuung durch Men-toren und Mitarbeiter ist vor Ort nicht realisierbar.Man muss schon sagen: Die Freiwilligen müssenselbstständig sein. Sie müssen Charakter und Persönlich-keit mitbringen. Das zeigt, dass es hier um ein sehr an-spruchsvolles Programm geht. Insofern können wir alledenen, die das Programm bisher erfolgreich durchlaufen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19965
Klaus Riegert
(C)
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haben, dafür herzlich danken und zu ihrem Einsatz gra-tulieren.
Bei einem Alter von durchschnittlich 20 Jahren kann– das ist kein Geheimnis – keine nennenswerte Berufser-fahrung vorhanden sein. Deswegen soll das Programmjetzt auch junge Menschen ohne Abitur, aber mit berufli-cher Qualifikation, das heißt mit abgeschlossener Be-rufsausbildung, ansprechen. Ich glaube, es würde sichlohnen, gezielt junge Menschen dafür zu gewinnen undsie entsprechend zu fördern.In den Länderstudien hat sich gezeigt, dass 10 Pro-zent der Jugendlichen nicht die Voraussetzungen undMotivation für das Engagement mitgebracht haben undsich vor Ort oder nach längerer Dauer des Einsatzesüberfordert gefühlt haben. „weltwärts“ deckt alle we-sentlichen Kosten. Das ist einerseits gut für junge Leute,vor allem für solche aus Familien mit schmalem Geld-beutel, aber andererseits entsteht eine Konsum- undDienstleistungserwartung gegenüber den Entwicklungs-hilfeorganisationen. Das wird zumindest aus einigen Or-ganisationen berichtet. Eine ist sogar wieder ausgestie-gen. Deshalb müssen wir einen Volunteer-Tourismusvermeiden und das Programm entsprechend fortschrei-ben.Insofern ist die Frage erlaubt, ob eine partielle Beteili-gung an den Kosten nicht ein größeres Verantwortungs-gefühl und eine höhere Wertschätzung des Dienstes zurFolge hätte, auch wenn es dann weniger, aber dafür mo-tiviertere Freiwillige gäbe. Im Evaluierungsbericht heißtes dazu – ich zitiere –:Eine Konsequenz der Fokussierung auf Qualitätkönnte ein Überdenken der quantitativen Ziele
sein.
Die SPD fordert wie immer eine Mittelerhöhung. An-sonsten sehe ich keine markanten Unterschiede zwi-schen unseren beiden Anträgen.
Wir halten einen solchen Anreiz für falsch. Wir setzenauf Qualität statt Quantität.
Wir haben in den Haushalt 2012 wie auch schon 201130 Millionen Euro eingestellt. Das entspricht circa3 500 Entsendungen im Jahr. Die Nachfrage liegt unge-fähr in derselben Höhe.Wir werden in Zukunft den Fokus auf die Programm-qualität richten und die Reduzierung des organisatori-schen und bürokratischen Mehraufwandes anstreben. DieCDU/CSU-FDP-Koalition will erstens die Durchfüh-rungsverantwortung der Zivilgesellschaft stärken, zwei-tens mittelfristig die entwicklungspolitische Begründungvon Einsatzplätzen weiter verbessern und drittens das Ge-nehmigungsverfahren im Rahmen der stärkeren Quali-tätsverantwortung für die Entsendeorganisationen ver-schlanken.Wir ermuntern durch unseren Antrag BMZ, Trägerund Kirchen, die Pläne und eingeleiteten Maßnahmenentsprechend weiterzuführen. Bereits Ende Juni sinderste Ergebnisse für die Umsetzung der Evaluierung zuerwarten.Wir danken den Engagierten für ihr Engagement undermuntern junge Leute, insbesondere solche mit Berufs-erfahrung, sich für dieses Programm zu interessieren, insAusland zu gehen und vor allem diese Erfahrung dannauch in unserer Gesellschaft einzubringen. Ich bin zu-versichtlich, dass dieses Gemeinschaftswerk gelingt, undfordere die Opposition zur Sacharbeit auf. Ich glaube,wir sind nicht so weit auseinander, wie es manchmal inanderen Fragen der Fall ist.Ich glaube, dass wir durchaus das gleiche Ziel habenund durch die Umsetzung des Evaluierungsberichtes mitden Entsendeorganisationen, den Kirchen und dem BMZeine Qualitätsverbesserung erreichen. Ich glaube, dassdas Programm „weltwärts“ einer guten Zukunft entge-gengeht.Danke schön.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Heike Hänsel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Fraktion Die Linke unterstützt den Frei-willigendienst „weltwärts“, der nun seit fünf Jahrenmehr als 10 000 jungen Menschen nach Schule oderAusbildung einen Freiwilligendienst in den Ländern desSüdens ermöglicht hat. Im Jahr 2011 gab es eine Evalu-ierung des „weltwärts“-Programms, und die Ergebnisseliegen seit Dezember in der Kurzfassung vor. Die Bun-desregierung hat leider in den Haushalten 2010 bis 2012einen finanziellen Aufwuchs für „weltwärts“ abgelehnt,aber immer mit dem Hinweis auf die ausstehenden Er-gebnisse der Evaluierung.Nun gibt es eine Evaluierung, und sie fällt ermutigendpositiv aus. Trotzdem gibt es im vorliegenden Antrag derKoalitionsfraktionen nur schöne Worte, aber keine Mit-telerhöhung. Die Mittel stagnieren weiterhin bei 30 Mil-lionen Euro jährlich. Die Linke unterstützt deshalb aus-drücklich den Antrag der SPD
und fordert eine deutliche Erhöhung der Mittel für „welt-wärts“, vor allem aber auch der Verpflichtungsermächti-gungen für die kommenden Jahre, um Finanzierungs-und Planungssicherheit für alle, für die Trägerorganisa-tionen sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, zuermöglichen.
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19966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Heike Hänsel
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Aufgrund der unsicheren Finanzierung – das ist die In-formation, die wir alle bekommen haben – war es in denletzten Jahren oftmals so, dass viele interessierte Jugend-liche abgewiesen werden mussten, die einen solchenDienst eigentlich gerne angetreten hätten.Es gibt auch Kritik am „weltwärts“-Programm. Stich-worte wie „Elendstourismus“, „zu wenig Betreuung undBegleitung vor Ort“, „Abenteueraufenthalt“ und vielesmehr sind gefallen. Die Qualität der Betreuung und Be-gleitung ist entscheidend für den gesamten Dienst. Esbedarf einer ausreichenden Finanzierung, Herr Riegert,damit sowohl Qualität als auch Quantität stimmen. Dasschlagen wir alle vor.
Für viele junge Menschen nämlich handelt es sich oft umden ersten großen Auslandsaufenthalt in ihrem Leben.Er wirkt sehr oft prägend. Das soll er auch. Deshalb isteine verantwortungsvolle Begleitung notwendig.Wir fordern zudem, dass die Nord-Süd-Ausrichtungdes Dienstes erweitert wird, um von einem gleichberech-tigten Dialog sprechen zu können. Wir wollen – so wiees die SPD in ihrem Antrag formuliert hat –, dass auchjunge Menschen aus den Ländern des Südens sowohl ei-nen Freiwilligendienst hier in Deutschland antreten kön-nen als auch vor Ort in Projekten die Möglichkeit be-kommen, gemeinsam mit einem Jugendlichen ausDeutschland Freiwilligenarbeit zu verrichten. Dadurchwürde nach unserer Ansicht ein verbesserter direkterDialog entstehen, mit der Möglichkeit des gegenseitigenVerständnisses und des Voneinanderlernens. Auch wärees wichtig, verstärkt lokale Partner in den Ländern desSüdens zu finden, die Teil sozialer Bewegungen sindund die sich vor Ort für soziale Rechte und Menschen-rechte einsetzen.
Wir fordern außerdem, dass Jugendliche – das wurdeschon erwähnt – aus allen sozialen Schichten, mit unter-schiedlichen Schulabschlüssen und unterschiedlicher be-ruflicher Ausbildung erreicht werden, zum Beispieldurch gezielte Vorstellung von „weltwärts“ an allenSchulen einschließlich Berufsschulen, Jugendeinrichtun-gen und Ausbildungsstätten. Auch muss überlegt wer-den, ob Jugendliche, die keinen Förderkreis zustandebekommen und für die eine Finanzierung durch das El-ternhaus nicht möglich ist, zusätzlich unterstützt werdenkönnen, damit eben nicht – wie leider bisher Praxis – derGeldbeutel der Eltern über einen solchen Freiwilligen-dienst im Ausland entscheidet.Ich bekomme oft Anfragen, ob ich mich einem sol-chen Förderkreis anschließen will. Ich verfolge in Web-logs, was junge Menschen vor Ort erleben und was sieberichten. Ich glaube, das ist für alle bereichernd, auchfür uns. Dieser Freiwilligendienst leistet einen konkretenBeitrag für mehr Solidarität und weltweite Verständi-gung.Danke.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Helga Daub.
Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! „welt-wärts“, der Name sagt es bereits: hinaus in die Welt, überden Tellerrand schauen. Dieser 2007 eingerichtete ent-wicklungspolitische Freiwilligendienst bekommt, gut-achterlich attestiert, ein weitgehend positives Urteil. So-mit ist es folgerichtig, dass das Programm weitergeführtwird.Ein wichtiges Anliegen dieser Bundesregierung ist es,die Entwicklungspolitik in der Mitte der Gesellschaft zuverankern. Mit „Engagement Global“ haben wir einenTräger geschaffen, mit dem breite Bevölkerungsschich-ten angesprochen und für Entwicklungspolitik interes-siert und begeistert werden sollen. Indem es besondersjunge und engagierte Menschen anspricht, kann „welt-wärts“ einen wichtigen Beitrag leisten.
Allerdings sahen die Gutachter auch Schwachstellen,die es zu beseitigen gilt; du, liebe Bärbel Kofler, hast dasschon angesprochen. So nehmen insgesamt zu wenigejunge Menschen mit Haupt- oder Realschulabschlussoder abgeschlossener Berufsausbildung an diesem Pro-gramm teil. Aber gerade die praktische Kompetenz unddie berufliche Ausbildung sind eine unverzichtbare Res-source in diesem Freiwilligenprogramm. Hier müssengezielte Maßnahmen ergriffen werden, um „weltwärts“für diese Gruppen attraktiver zu machen.Gegenwärtig wird die Aufarbeitung der Evaluierungin Arbeitsgruppen zusammen mit BMZ, Trägerorganisa-tionen und der Servicestelle „Engagement Global“ vor-genommen. Wichtig dabei sind die Sicherung von Quali-tät und Wirkung sowie die Vereinfachung der Verfahren.Das Programm ist mit circa 30 Millionen Euro ange-legt. Momentan sind durch die eingeplanten Haushalts-mittel circa 3 500 Entsendungen im Jahr finanzierbar.Dies entspricht auch der Nachfrage, die seitens der Ent-sendeorganisationen im laufenden Jahr vorgebrachtwurde.Die Forderung im Antrag der SPD, die Mittel für„weltwärts“ schon im Haushaltsjahr 2013 deutlich zu er-höhen, kommt verfrüht. Ich denke, es ist ein bewährterAnsatz, die Ergebnisse der Arbeitsgruppen abzuwarten,bevor man weitere Mittel anfordert. Nicht umgekehrt!
Auch wenn es mehr Bewerber gibt, ist zu fragen: Sinddie Haupt- und Realschüler schon berücksichtigt? Das
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Helga Daub
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müsste doch auch gerade Ihr Anliegen sein. Ich habeschon gehört, dass es das auch ist; da sind wir uns einig.„weltwärts“ soll schließlich kein Elitenprogramm sein.Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen – ich werdenicht müde, das auch in politischen Diskussionen mitden Bürgern vor Ort zu sagen –: Der Mensch beginntnicht erst mit dem Abitur.Richtig ist natürlich, dass es eine angemessene lang-fristige Finanzierung geben muss, um Angebot undNachfrage weiterhin in Einklang zu bringen, aber auchum den circa 200 Entsendeorganisationen Planungs-sicherheit zu geben.Wichtig dabei ist aber auch, dass die Erfahrungen derRückkehrer viel stärker als bisher berücksichtigt werden,der Rückkehrer, die anschließend auch im entwicklungs-politischen Bereich tätig werden sollen, damit gewon-nene Erfahrungen nicht einfach so versanden. Aber auchDoppel- bzw. Paralleleinsätze sollten vermieden werden.Eine weitere Verbesserung der Abstimmung der betrof-fenen Bundesressorts ist unabdingbar, um die Qualitätder Programmumsetzung und das optimale Erreichen derEntsendeziele – damit meine ich nicht die Orte – zu ge-währleisten.Darüber hinaus soll mittelfristig mehr Qualitätsver-antwortung von den Entsendeorganisationen übernom-men und sollen die Verfahren verschlankt werden. Dasist sinnhaft, steigert die Effizienz und verringert dieBürokratie. Auch das dürfte den Zugang für Haupt- undRealschüler erleichtern.
Als das „weltwärts“-Programm aufgebaut wurde, wardie aktive Beteiligung einer staatlichen Entsendeorgani-sation natürlich sinnvoll. Inzwischen ist das Programmhinreichend gut angekommen und angenommen, sodasszum Beispiel die GIZ sich zugunsten der Entsendeorga-nisationen schrittweise zurückziehen kann.Nur so viel noch zum SPD-Antrag: Natürlich ist einbreiter Austausch von jungen Menschen immer wün-schenswert und förderungswürdig. Aber für diejenigen,die in unser Land kommen wollen, um für ihr Heimat-land Erfahrungen zu sammeln, gibt es andere Pro-gramme. Dafür ist „weltwärts“ eigentlich nicht gedacht.Natürlich, liebe Bärbel Kofler, halten wir unserenAntrag für den besseren.
Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Ute Koczy vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „weltwärts“ – das ist eine gute Idee, „welt-wärts“ – das zieht junge Menschen an. Denn dieses ent-wicklungspolitische Freiwilligenprogramm bietet, wasviele junge Menschen nach der Schule suchen: etwasSinnvolles zu tun und gleichzeitig andere Länder undLeute kennenzulernen. Tatsächlich ist dieses Programmein Beitrag zu mehr Weltoffenheit und zu mehr Bewusst-sein für die Lebenswirklichkeit in anderen Ländern.Selbstverständlich lernen die jungen Menschen auchsehr viel über sich selbst. Das ist wichtig, und das istauch gut so.Aber ein solcher Freiwilligendienst will gut vorberei-tet, durchgeführt und nachbereitet werden. Ohne kompe-tente Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen inDeutschland mit guten Kontakten in die Partnerländerund die Fähigkeit, die Freiwilligen auch tatsächlich einersinnvollen Tätigkeit zuzuführen und diese vor Ort zubegleiten, geht es nicht.
Deshalb haben wir mit Spannung die Ergebnisse derEvaluierung erwartet. Dazu drei grundsätzliche Anmer-kungen:Erstens. Was haben die Partnerländer und die Partner-organisationen davon, wenn sie junge Menschen ohneBerufserfahrung bei sich unterbringen und ihnen zeigen,wie das Leben in anderen Ländern funktioniert? Könnendie Partner diese Unterstützung wirklich gebrauchen?Diese Fragen sind meiner Meinung nach bislang unter-belichtet. Deshalb ist es aus unserer Sicht höchste Zeit,endlich den nächsten Schritt zu gehen. „weltwärts“ darfnämlich keine Einbahnstraße, also von Deutschland indie Entwicklungsländer, bleiben. Wir fordern, dass imRahmen von „weltwärts“ auch junge Menschen aus Ent-wicklungsländern im Gegenzug nach Deutschland kom-men können.
Erfahrungen damit wurden bereits gemacht. Entsendeor-ganisationen haben hier in Pilotprojekten wichtige Er-kenntnisse gewonnen. Jetzt kommt es auf die Unterstüt-zung aus dem Ministerium an. Das muss in die Wegegeleitet werden.Zweitens. Die Evaluierung benennt ein bekanntesProblem – es ist schon angesprochen worden –: Die Teil-nehmerinnen und Teilnehmer des „weltwärts“-Pro-gramms haben einen weitgehend homogenen sozialenHintergrund. Es handelt sich fast ausschließlich um Abi-turientinnen und Abiturienten. Deshalb – das ist nichtüberraschend – lautet die Empfehlung der Evaluierung,die bislang nicht erreichten Zielgruppen zu fördern, bei-spielsweise junge Menschen mit Migrationshintergrundoder junge Erwachsene mit Hauptschul- oder Realschul-abschluss. Dafür sind neue Konzepte nötig. Die müssenjetzt aber auch vorgelegt werden.
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19968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Ute Koczy
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Drittens. Wir dürfen uns nicht auf dem bisher Erreich-ten ausruhen. Das Prinzip „Klasse statt Masse“ mussPriorität haben. Das zeigen mir die Ergebnisse der Eva-luierung von „weltwärts“. Viele Ziele werden erfüllt. Ja,das Programm hat viele Erfolge vorzuweisen. Das stehtaußer Frage. Das ist von allen hier benannt worden. Aberdie Schwachstellen müssen geregelt werden. Ich nennehier die Einarbeitung und fachlich-pädagogische Beglei-tung der Freiwilligen vor Ort, ich nenne die Visapro-bleme – die sind immer noch nicht ausgeräumt –, ichnenne die Frage der Spendenakquise, ich nenne aberauch die mangelnde Zufriedenheit der Durchführungs-organisationen im Hinblick auf die Zusammenarbeit, dieKooperation mit dem BMZ, ich nenne weiter die Über-schneidungen von „weltwärts“ mit anderen Freiwilligen-diensten der Bundesregierung.Große Fragezeichen habe ich deshalb im Hinblick aufdie quantitativen Ziele. Will das BMZ wirklich daranfesthalten, jährlich 10 000 Freiwillige zu entsenden? Ichbin skeptisch, dass das ein gutes Ziel ist, solange dieoben genannten Probleme nicht überwunden sind.Die Bundesregierung ist jetzt in der Pflicht, auf dieaufgezeigten Schwachstellen zu reagieren und nachzu-bessern. Eine Ausweitung der Zahl der Teilnehmerinnenund Teilnehmer kann erst dann erfolgen.Geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionund der SPD, in Ihren Anträgen gehen Sie auf die Ergeb-nisse und Empfehlungen der Evaluierung ein. Da teilenwir vieles, wenngleich wir mehr kritische Worte zurEvaluierung nötig gefunden hätten. Denn während Sie,Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, eine Mit-telerhöhung auf 70 Millionen Euro bereits für 2013 for-dern, lassen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Koali-tion, die Finanzierungsfrage komplett unter den Tischfallen. Da machen Sie es sich etwas zu einfach.
Wir Grünen wollen diese Evaluierung hinterfragen.Wir haben diese Fragen in Form einer Kleinen Anfrageeingereicht. Wir wollen erst die Antworten darauf ken-nen. Erst danach werden wir uns positionieren.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8769 und 17/9027 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
Hinrichtung der mutmaßlichen Metro-Atten-
täter von Minsk in Belarus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Marina Schuster von der
FDP-Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann jetzt fürdas ganze Haus hier sprechen: Wir sind zutiefst scho-ckiert über die Hinrichtung von Dmitrij Konowalow undWladislaw Kowaljow – zwei junge Männer, die beschul-digt wurden, ein verheerendes Attentat in der MinskerU-Bahn begangen zu haben, zwei junge Männer, hinge-richtet durch Genickschuss.Wir verurteilen die Todesstrafe. Wir verurteilen dieTodesstrafe weltweit –
in Belarus genauso wie im Iran, in Saudi-Arabien, inChina, in Bundesstaaten der USA, in Japan und allen an-deren Ländern, in denen die Todesstrafe nach wie vorvollstreckt wird. Wir senden auch einen klaren Appell:Die Todesstrafe gehört in all diesen Ländern – die Listedieser Länder ist lang, und leider gibt es in manchenLändern Bestrebungen, für neue Straftatbestände die To-desstrafe einzuführen – abgeschafft.
Unser Mitgefühl gilt in diesen schweren Stunden vorallem den Familien der beiden jungen Männer. Ich denkeheute ganz besonders an Frau Kowaljowa, die Muttervon Wladislaw Kowaljow. Frau Beck und ich, wir habenFrau Kowaljowa bei der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates getroffen. Sie hat uns berichtet,dass sie von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt ist;denn ihr Sohn habe sich zum Zeitpunkt des Attentats aufdie Minsker Metro gar nicht am Tatort aufgehalten.Im Prozess selbst wurden rechtsstaatliche Prinzipienmit Füßen getreten: Entlastungszeugen wurden zumSchweigen gebracht oder nicht zugelassen. Die Geständ-nisse der Verurteilten wurden offensichtlich unter Foltererpresst. Herr Kowaljow fand später den Mut, sein Ge-ständnis zu widerrufen. Indizien wurden offensichtlichmanipuliert. Ein Opfer des Anschlags sagte unmissver-ständlich aus, dass er die beiden jungen Männer garnicht am Tatort gesehen habe. Es gibt also erheblicheZweifel an der Schuldhaftigkeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundestagsabge-ordnete aller Parteien und viele andere haben versucht,Präsident Lukaschenko von der Vollstreckung der Strafe
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19969
Marina Schuster
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abzubringen. Frau Beck hat einen öffentlichen Appellinitiiert. Dafür bin ich ihr ganz besonders dankbar.
Wir müssen und wir werden immer wieder die Stimmeerheben, sei es in Deutschland, sei es beim Europarat, seies bei der EU, aber auch auf internationaler Ebene, ge-genüber allen Staaten, die die Todesstrafe vollstrecken.Vor allem aber werden wir nicht lockerlassen, wenn essich gerade um die unmittelbare europäische Nachbar-schaft handelt – und darüber hinaus um ein Regime, dasjegliche rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen tritt.Die Hinrichtungen vom 18. März sind jedoch schau-erlicherweise nur die Spitze eines Eisbergs. Die massiveUnterdrückung der Zivilgesellschaft ist ein fester Be-standteil des belarussischen Regimes. Nichtregierungs-organisationen können nur schwer ungehindert arbeiten;die meisten arbeiten aus dem Exil heraus. Als es im ver-gangenen Jahr zu Protesten kam, erlebten wir eine großeVerhaftungswelle. Nach wie vor sind Oppositionelle inHaft.Es ist immer unser Ziel gewesen, unseren NachbarnBelarus an Europa und an die Werte, für die Europasteht, heranzuführen. Dieses Ziel zu erreichen, gilt nachwie vor. Doch geben die jüngsten Entwicklungen aufden ersten Blick wenig Hoffnung in einem immer nochdiktatorisch regierten Land.Dass die EU nun mit weiteren Sanktionen reagierenwird, ist richtig. Doch wahr ist auch, dass, solange Mos-kau schützend die Hand über Minsk hält, Lukaschenkosich minimal bis gar nicht bewegen muss.
Russland ist daher aufgefordert, seinen Einfluss geltendzu machen.Unsere russischen Kollegen haben während der letz-ten Sitzung der Parlamentarischen Versammlung desEuroparates Belarus als Brudervolk bezeichnet. Sie ha-ben sogar gefordert, Belarus wieder als Mitglied imEuroparat aufzunehmen. Diesem demonstrativen Schul-terschluss muss nun auch die Wahrnehmung von Verant-wortung folgen.Die Vorgehensweise der Führung in Belarus gegendie eigene Zivilbevölkerung bestürzt uns. Doch auf einesmöchte ich aufmerksam machen: Die Revolutionen inder arabischen Welt haben gezeigt, dass Regime dannbesonders aggressiv reagieren, wenn sie sich in ihrerExistenz bedroht sehen. Lukaschenko hat seine Kartenbeim belarussischen Volk verspielt. Das Land erlebt eineseiner schwersten Wirtschaftskrisen. Hier müssen wirden Hebel geschickt ansetzen. Es geht darum, den Ba-lanceakt zwischen politischem Druck auf das Regimeund zivilgesellschaftlichem Austausch mit den Men-schen dort, die unter der Herrschaft Lukaschenkos lei-den, zu meistern. Hier leistet die Bundesregierung imVerbund mit den EU-Mitgliedstaaten vorbildliche Ar-beit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Trauer und dieWut über den Tod der beiden Männer sind heute bei unsallen zu spüren. Lähmen darf uns diese Wut allerdingsnicht; denn sonst hätte Lukaschenko sein Ziel erreicht.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Uta Zapf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist gut, dass wir diese Debatte heute hier führen können.Die SPD-Bundestagsfraktion war es, die diese Debattebeantragt hat. Aber alle Fraktionen fühlen sich gleicher-maßen betroffen. Frau Schuster, ich danke Ihnen für IhreWorte. Das waren die richtigen Worte, insbesondere mitBlick auf die Situation der Familien der Hingerichteten.Wir bekunden unser Beileid auch von dieser Stelle.Belarus ist das letzte europäische Land – Sie haben esschon gesagt –, das die Todesstrafe noch anwendet. AlleAnstrengungen, die wir unternommen haben, damitBelarus die Todesstrafe abschafft, haben nichts genutzt.Einige Zeit schien ein Moratorium möglich zu sein.Aber auch diese Hoffnung war offensichtlich trügerisch.Dass diese beiden jungen Männer so hastig hingerichtetwurden und dass Beweise offensichtlich vernichtet wur-den, wie Frau Beck uns mitgeteilt hat, zeigt, dass dieserFall rechtsstaatlichen Kriterien nicht gerecht wird.Der Vorwurf, dass Geständnisse unter Folter erpresstwurden, trifft auch in den Fällen von anderen politischenGefangenen zu, die nach der Präsidentschaftswahl imDezember 2010 im Jahr 2011 verurteilt wurden. Miss-handlungen und Folter im Gefängnis, kein Zugang zuangemessener medizinischer und anwaltschaftlicher Be-treuung, so sieht der belarussische Rechtsstaat aus. An-wälte, die politische Gefangene vertreten, geraten unterexistenziellen Druck. Sie werden aus der Anwaltschaftausgeschlossen. Politische Gefangene wie der Präsident-schaftskandidat Sannikow fürchten – das berichtet seineSchwester – aufgrund der ständigen Pression und Miss-handlung im Gefängnis um ihr Leben. Das Ziel ist es, ih-nen ein Gnadengesuch an Lukaschenko abzupressen, dasdieser als Schuldanerkenntnis wertet. Sannikows Gna-dengesuch ist gerade in den letzten Tagen mit dem Hin-weis abgelehnt worden, dass es unter Folter erpresstwurde. Das ist die größte Ironie in diesem Fall.Andere politische Gefangene, wie Nikolai Statkevich– zwei meiner Kollegen haben heute mit seiner Tochtertelefonieren können –, leben unter ganz bedrückendenVerhältnissen im Gefängnis. Nikolai Statkevich weigertsich, ein Gnadengesuch einzureichen. Er hat gesagt: Ichwill lieber sterben, als ein Gnadengesuch einzureichen. –Er sitzt jetzt in verschärfter Haft. Er darf zweimal imJahr – zweimal im Jahr; ich betone das – Besuch erhal-ten und einmal im Jahr ein Päckchen mit einem Gewicht
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19970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Uta Zapf
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von 2 Kilogramm empfangen. Er sitzt in einer feuchtenZelle von 2 mal 2 Metern. Was das für die Gesundheiteines Menschen bedeutet, brauche ich hier nicht auszu-führen.Die Situation insgesamt hat sich mittlerweile zu einerveritablen Krise zwischen der EU und Belarus ausge-wachsen. Die EU hat Sanktionen verhängt und diese am28. Februar 2012 nochmals verstärkt. Lukaschenko hatdaraufhin die EU-Vertreterin und den polnischen Bot-schafter ausgewiesen bzw. ihnen empfohlen, ihre Haupt-städte zu Konsultationen aufzusuchen. Er hat seine Bot-schafter aus Brüssel und Warschau zurückgezogen.Daraufhin riefen alle EU-Länder am 28. Februar 2012ihre Botschafter zurück. Dies ist ein absoluter Tiefpunktin den Beziehungen zwischen der EU und Belarus. Mor-gen wird die EU über eine erneute Verschärfung derSanktionen entscheiden.Alle, die sich für Belarus engagieren, sehen ein tiefesDilemma: Der Dialog, um den wir uns jahrelang bemühthaben, ist abgerissen. Es ist zweifelhaft, ob die Sanktio-nen etwas bewirken, um Belarus zu demokratischemVerhalten zu motivieren, oder ob sie die Isolation vonBelarus verfestigen. Wenn der Vorsitzende der Sozialde-mokraten im Europaparlament, Hannes Swoboda, die to-tale Isolierung Weißrusslands fordert, so ist dies ganz si-cher auch ein Reflex auf die jahrelange Düpierung derEU und anderer, die immer wieder die Hand ausge-streckt haben.Dies will ich einmal skizzieren: In den 90er-Jahrengab es ein Step-by-Step-Vorgehen der EuropäischenUnion. Man hat Angebote gemacht, wenn sich Dinge indie demokratische Richtung bewegt haben. DieserProzess war erfolglos. Dann gab es ein sehr gut ausgear-beitetes Programm der Europäischen Union – zehnPunkte zur Demokratisierung – mit umfangreichenAngeboten für Belarus, die zum Vorteil für die Bevölke-rung gewesen wären. Auch dort ist nichts passiert. Washaben wir gefordert? Rechtsstaatlichkeit, Medienfrei-heit, Versammlungsfreiheit, freie und faire Wahlen, dienie stattgefunden haben. Das waren wichtige Schwer-punkte. Unsere Stiftungen haben sich um diese Themenbemüht, ebenso die OSZE-Mission in Minsk.Das Minsk-Forum, das seit über zehn Jahren, von1997 bis 2010, jährlich stattfand, hatte sich zu einem kriti-schen Dialogforum zwischen Administration, internatio-nalen Vertretern, Abgeordneten der Nationalversamm-lung, Menschenrechtsvertretern, Vertretern der freienPresse und der Opposition sowie Wirtschaftsvertreternentwickelt. Das Minsk-Forum findet nicht mehr statt.Das OSZE-Büro ist geschlossen, unsere EU-Botschaftersind zurzeit nicht mehr vor Ort.Ich selbst arbeite seit 1998 in der Working Group onBelarus der OSZE. Wir hatten dieselben Ziele, die auchauf EU-Ebene vertreten worden sind. Wir wollten denDialog zwischen der Regierung und der Opposition un-terstützen, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und De-mokratisierung einfordern und faire und freie Wahlen er-möglichen.Es hat fünf Jahre gedauert, bis es meiner Arbeits-gruppe gelungen ist, alle gesellschaftlichen Gruppen inBelarus zu mehreren Seminaren, insgesamt drei, an ei-nen Tisch zu bringen. Damals fand ein Dialog statt. Aberdas ist seit 2010 vorbei. Jetzt wird uns der Besuch inBelarus verwehrt; wir bekommen keine Visa mehr.Die Europäische Union ist sich auch nicht einig: Lett-land und Slowenien lehnen einen harten Kurs in SachenSanktionen ab. Das bedeutet ein tiefes Dilemma; wir be-finden uns in einer Zwickmühle. Für den Fall, dass mor-gen noch strengere Sanktionen beschlossen werden,droht der Chef der belarussischen Administration, HerrMakej, es werde von der Opposition im Land nichts üb-rig bleiben. Bei Nichtverschärfung der Sanktionen aller-dings würden die politischen Gefangenen bald freigelas-sen. Diese Art von politischer Erpressung ist perfide.
Die Sanktionen sind auch in der Opposition umstrit-ten – ich glaube, wir wissen das –, und damit stehen wirvor demselben Dilemma. Es soll ein neues Angebot derausgestreckten Hand seitens der Europäischen Union ge-ben; das wurde von Kommissar Piebalgs angedeutet.Wie dieses Angebot genau aussehen wird, ist noch nichtausgemacht. Es soll jedenfalls ein Dialogprogramm fürBelarus sein. Vorgestellt wird es am 29. März, also in einpaar Tagen. Darin werden auch die Zusammenarbeit unddie Unterstützung der Zivilgesellschaft angesprochen,was bisher nicht so recht gelungen ist.Ich glaube, in der Realität sind wir heute weit von alldem entfernt, was wir uns im Zusammenhang mit Bela-rus wünschen. Trotzdem werden unsere Bemühungennicht aufhören, für Demokratie und Gerechtigkeit zukämpfen.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Ronald Pofalla.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Amvergangenen Wochenende erhielten wir die schockie-rende Nachricht von der Hinrichtung der beiden angebli-chen Metro-Attentäter von Minsk. Dmitrij Konowalowund Wladislaw Kowaljow sind tot. Sie waren in einemäußerst fragwürdigen Prozess verurteilt worden. DieRede war von zurückgezogenen Geständnissen, die un-ter Folter abgegeben waren. Rechtsmittel waren nichtmöglich.Um es klar zu sagen, damit da keine Missverständ-nisse entstehen: Die Anschläge in der Metro von Minskwaren abscheuliche Verbrechen. Sie sind durch nichts zurechtfertigen. Dennoch: Weißrussland ist Teil Europas.Und in Europa ist kein Platz für die Todesstrafe. Niewieder!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19971
Ronald Pofalla
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Ich habe mich deshalb mehrfach gegen die Vollstre-ckung der Urteile und für ein Moratorium bei der Todes-strafe eingesetzt. Zuletzt habe ich zu Beginn der vergan-genen Woche in einem langen Gespräch mit dem Leiterder weißrussischen Präsidialadministration noch einmaldarum gebeten, die Verhängung der Todesstrafe auszu-setzen und in Weißrussland zu einem Moratorium zukommen.Trotz internationaler Proteste, Appelle und Gesprächehat sich der Staatspräsident gegen eine Begnadigung ent-schieden und die Tötung angeordnet. Die Todesstrafe isteine menschenunwürdige Strafe. Sie ist nicht hinnehm-bar – egal welche Verbrechen den Angeklagten vorge-worfen werden. Und sie wird selber zu einem Verbre-chen, wenn das zugrunde liegende Verfahren, wie indiesen beiden Fällen, eine Farce ist.
Das Gute an der schon seit über 15 Jahren andauern-den Debatte zu Weißrussland ist: Wir alle hier im Deut-schen Bundestag haben ein gemeinsames Verständnisvon der Situation in Weißrussland. Vielen von uns gehtes so, dass unsere weißrussischen Gesprächspartner voneinst nun in Haft, unter Hausarrest, im Asyl sind oderkeine Ausreisegenehmigung erhalten. Es gibt Berichtevon Folter und Gewalt. Seitdem herrscht in der weißrus-sischen Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst undEinschüchterung. Auch Vertreter der Zivilgesellschaftwurden inhaftiert, das „organisierte Nichtstun“ in Grup-pen wurde verboten und unter Strafe gestellt. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, uns eint das gemeinsame Ver-ständnis, dass das, was sich insbesondere seit denVorfällen nach den Wahlen im Dezember 2010 in Weiß-russland abspielt, eine gesellschaftliche und politischeKatastrophe ist. Ich sage ganz klar und deutlich: DieseEntwicklung in Weißrussland kann und wird von uns al-len niemals akzeptiert werden.
Wir werden die Sanktionen nach und nach ausweiten,solange die weißrussische Führung nicht reagiert. Aberwir müssen auch weiterdenken. Aus meiner Sicht ist dieVorstellung unerträglich, dass dieses Unrechtsregime,das einsperrt und hinrichtet, durch die Austragung derEishockeyweltmeisterschaft im Jahre 2014 eine beson-dere Auszeichnung erfährt.
Dem Diktator und Eishockeyfan Lukaschenko ist es einpersönliches Anliegen, diese Eishockeyweltmeister-schaft in seinem Land durchzuführen. Es kann nichtrichtig sein, sie dort durchzuführen.
Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass der internatio-nale Eishockeyverband über eine Verlegung der Spielein ein anderes Land nachdenkt. Wie ich den Presseveröf-fentlichungen entnehmen kann, wird der Weltverbandbei seiner Tagung im Mai erneut über die Frage der Aus-tragung beraten und entscheiden. Ich sage: Ich wünschemir, dass diese Eishockeyweltmeisterschaft in ein ande-res Land verlegt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich beivielen von Ihnen – ich will keinen persönlich herausgrei-fen – ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedan-ken, die hier wirklich partei- und fraktionsübergreifendstattgefunden hat und auch weiter stattfinden muss.
Ich will mit drei Anmerkungen schließen, die im Zu-sammenhang mit Weißrussland von zentraler Bedeutungsind: Wir stehen auf der Seite der Menschen in Belarus,wir stehen auf der Seite der Menschenrechte, und wirstehen auf der Seite der Freiheit.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Stefan Liebich.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Esist jetzt mehrfach gesagt worden, aber ich will es, weil esso schrecklich ist, wiederholen: Der 26-jährigeWladislaw Kowaljow wurde am vergangenen Wochen-ende in Belarus durch Genickschuss hingerichtet, we-nige Tage zuvor sein mutmaßlicher Komplize DmitrijKonowalow. Ja, es war ein grauenhafter Terroranschlag,bei dem im April 2011 in einer U-Bahn in der HauptstadtMinsk 15 Menschen ums Leben kamen und 300 verletztwurden.Trotzdem ist jeder der hier genannten Vorwürfe be-rechtigt: Es gab kein rechtsstaatliches Verfahren. An derSchuld der beiden Hingerichteten bestehen erheblicheZweifel. Selbst wenn sie ohne jeden Zweifel schuldiggewesen wären, müsste unser Haus protestieren, weilwir alle gemeinsam die Todesstrafe ablehnen.
Ich finde es wichtig, dass wir dies in klarer und deutli-cher Form dem Diktator – so nennt er sich selbst –Lukaschenko und seiner Regierung mitteilen. Hierherrscht Einigkeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg.Wir unterstützen hierin den Außenminister ausdrücklich.
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19972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Stefan Liebich
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Auch Konsequenzen wären schön, allerdings bleibenkaum noch Eskalationsmöglichkeiten übrig. Darübermüssen wir ganz offen reden. Es wurde bereits daraufhingewiesen, dass die Botschafter der EuropäischenUnion – auch der deutsche Botschafter – nicht mehr imLand sind. Sanktionen gegen die politische Führung undgewalttätige Polizisten und Angehörige der Sicherheits-kräfte sind bereits verhängt worden – zu Recht. Diesenun auch auf Oligarchen und andere GünstlingeLukaschenkos auszuweiten, ist sinnvoll. Aber was dann?Die von Frau Zapf erwähnte totale Isolation, die derFraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäi-schen Parlament, der Österreicher Hannes Swoboda,vorgeschlagen hat, ist aus meiner Sicht nicht der richtigeWeg. Er sagte am Montag der dpa:Wir haben versucht, ins Gespräch zu kommen, aberdieser Weg führt in die Irre.Ich verstehe die Frustration, aber ich finde diesenWeg trotzdem falsch. Wir müssen reden, und wir dürfendie Kontakte auch in diesen schwierigen Zeiten nicht ab-brechen.
Wir diskutieren mit den Parlamentariern aus Belarus beijeder Beratung der Parlamentarischen Versammlung derOSZE, gerade erst wieder vor wenigen Wochen in Wien.Wenn wir in die Vergangenheit schauen, stellen wir fest,dass Gespräche auch naheliegen. Wer saß denn bei derUnterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1976 aneinem Tisch? Selbst 1982, als Polen das Kriegsrecht ver-hängt hat, sind die Gespräche auf der Madrider Konfe-renz der KSZE nicht abgebrochen, sondern weiterge-führt worden, und das war richtig.Wenn wir Menschenrechtsverletzungen wie solche inBelarus, die ohne jeden Zweifel besonders schlimm sind,thematisieren, dann wären wir glaubwürdiger, wenn wirauch bei anderen nicht schweigen würden.
Es passt nicht zusammen, Lukaschenko zu verurteilenund den seit 20 Jahren regierenden ehemaligen General-sekretär der Kommunistischen Partei der KasachischenSozialistischen Sowjetrepublik und jetzigen „Führer derNation“, Nursultan Nasarbajew, auf dem roten Teppichim Kanzleramt zu begrüßen.
Noch im Dezember letzten Jahres wurden streikende Ar-beiter von seinen Sicherheitskräften erschossen. Wieverliefe unsere Diskussion heute, wenn in Belarus Öl-und Gasvorkommen existierten und es ebenso reich anGold, Silber, Uran, Kupfer, Blei, Zink, Bauxit oderPhosphor wäre wie Kasachstan?Wenn wir hier im Plenum über die Vollstreckung vonTodesurteilen reden wollten – Frau Kollegin Schusterhat darauf hingewiesen –, dann hätten wir noch viel zutun. Sie ist überall schlimm, nicht nur in Europa.
25 000 Menschen warten weltweit in Todeszellen aufihre Hinrichtung. In 58 Staaten ist die Todesstrafe Ge-setz, 25 wenden sie regelmäßig an. Es sind nicht nurweit entfernt liegende Staaten, sondern viele, mit denenwir eng zu tun haben: Singapur, die Vereinigten Staatenvon Amerika und Japan.Deshalb fordert unsere Fraktion: Ächten wir die To-desstrafe weltweit. Verständigen wir uns endlich aufStandards zur Einhaltung von Menschenrechten, die wirdann auch von jenen einfordern, die gute Geschäftspart-ner sein könnten. Verurteilen wir gemeinsam das Re-gime in Minsk für die Hinrichtung der beiden jungenMänner.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Marieluise Beck vonBündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe noch nie einer Mutter schreiben müssen, derenSohn in einem vollkommen willkürlichen Prozess zumTode verurteilt und hingerichtet wurde. Ich würde auchniemals sagen, dass es sich um mutmaßliche Täter oderum mutmaßliche Komplizen handelt. Denn wer das Pro-tokoll zum Hergang des Sprengstoffattentates genau liest– jedem in unserem Ausschuss, auch Ihnen, HerrLiebich, ist es zugänglich –, weiß, dass nicht einmal diebelarussische Justiz behauptet hat, Wladislaw Kowaljowhabe sich am Tatort befunden, und dass es einen zuver-lässigen Zeugen, einen Betroffenen, gegeben hat, der be-zeugt hat, dass auch Dmitrij Konowalow nie am Tatortgesehen worden ist. Für mich sind die beiden Justizop-fer. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Vielesspricht sogar dafür, dass sie eher Opfer eines politischenVerbrechens des Lukaschenko-Regimes geworden sind.Bereits 1999 und 2000 verschwanden in Belarus vierOpponenten aus dem nächsten Umfeld von AlexanderLukaschenko. Wir sollten das wieder in Erinnerung ru-fen. Der Pourgourides-Bericht des Europarates vom Jahr2004 geht von der Exekution dieser vier Personen aus.Der Bericht stellt außerdem fest, dass die Spuren diesesVerbrechens bis in die höchsten Staatsebenen führten.Zu dieser Zeit – auch damals schon – hieß der StaatschefAlexander Lukaschenko. Es wäre also nicht das ersteMal, dass in Belarus aus politischen Motiven gemordetworden ist.Wie gehen wir nun mit diesem Belarus um? Ich weiß,es mehren sich die zweifelnden Stimmen, was den Er-folg der aktuellen Sanktionspolitik angeht. Tatsache ist,dass eine Sanktionspolitik dann ins Leere zu laufendroht, wenn sie von einem Partner unterlaufen wird. Die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19973
Marieluise Beck
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Parlamentarische Versammlung des Europarates forderteim Januar alle Mitgliedstaaten auf, die Sanktionen derEU gegen Belarus mitzutragen. Auch Russland ist Mit-glied im Europarat, und zwar freiwillig.
Russland argumentierte gegen diese Sanktionen undsagte, diese würden die Einwirkungsmöglichkeiten aufLukaschenko verschließen. Belarus sei ein Brudervolk.Diese Argumentation könnte sogar überzeugen, wennRussland alles unternommen hätte, um die Hinrichtun-gen zu verhindern. Ein Anruf aus dem Kreml hätte dembelarussischen Machthaber die Erschießungen verweh-ren können. Doch Russland hat dies nicht getan. Dassder russische Außenminister jetzt, wenige Tage nach derHinrichtung, öffentlich verkündet, es sei Zeit für einMoratorium, macht mich einfach fassungslos.
Russland unterläuft die Sanktionen. Es zieht sogar ausder Schwäche Lukaschenkos wirtschaftlichen Nutzenund konnte mit dem Erwerb von Beltransgas sein Pipe-linemonopol noch weiter ausbauen.Morgen werden die EU-Außenminister über dieErweiterung der Sanktionen gegen Belarus beraten. Esist schon gesagt worden, dass aus dem Zentrum desLukaschenko-Regimes durchsickert, dass der Diktatoreinen Deal angeboten hat: Freilassung der politischenGefangenen, falls keine weiteren Sanktionen erlassenwerden. Was bedeutet das? Das Regime erklärt damitselbst, dass es politische Gefangene hat. Außerdem er-klärt das Regime, dass es diese Gefangenen als Geiselnhält. Das nennt man gemeinhin Staatsterror.
Das Angebot des Regimes beweist allerdings auch,dass die EU-Sanktionen der Diktatur und dem Diktatoroffensichtlich wehtun. Auch wenn deutsche Unterneh-men von Sanktionen gegen Minsk betroffen wären, mussgelten: Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht vor derMoral stehen.
Ich bin dem Kollegen Pofalla sehr dankbar, dass erzur Eishockey-WM so klar Stellung bezogen hat. Wirhaben schon vor einem halben Jahr dem Deutschen Eis-hockey-Bund geschrieben und ihn gefragt, welcherSportler, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwor-tung bewusst ist, neben diesem gnadenlosen Herrscherauf dem Siegertreppchen stehen will.Belarus ist Europa. Europa ist eine Wertegemein-schaft. Der Internationale Eishockeyverband sollte sichdazu entscheiden, diesem Diktator nicht den Glanz voninternationalen Spielen, die immer auch etwas mit Poli-tik zu tun haben, zu organisieren.Schönen Dank.
Der Kollege Karl-Georg Wellmann hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-gen! Niemand von uns ist unberührt, wenn von Staatswegen Menschen getötet werden. Die Todesstrafe wider-spricht allen zivilisatorischen Errungenschaften undWerten. Es ist abstoßend, dass Belarus als einziges Landin Europa die Todesstrafe nicht nur verhängt, sondernauch vollzieht. Ich sage aber auch, dass wir alle anderenLänder, wo immer sie liegen, in denen die Todesstrafevollzogen wird, ebenso kritisieren.Es gibt in der Tat Zweifel an der Rechtsstaatlichkeitdieses Urteils. Wer der zivilisierten Staatengemeinschaftangehören will, der muss solche Zweifel eben ausräu-men. Wenn er das nicht tut, verstärkt er die Zweifel, obin diesem Prozess alles mit rechten Dingen zugegangenist.Belarus ist, was die Stellung zur europäischen Staa-tengemeinschaft angeht, an einem Tiefpunkt angelangt.Aus Minsk gibt es seit Herbst 2011 kein annähernd posi-tives Signal; im Gegenteil: Es gibt ein verschärftes Vor-gehen gegen die Opposition. Seit neuestem ist die Aus-reise von Oppositionellen erschwert. Außerdem hatMinsk, wie wir wissen, die diplomatische Krise eskalie-ren lassen, indem es erst den polnischen Botschafter unddann die EU-Vertreterin zur Ausreise aufgefordert hat.Was wir da erleben, ist auch eine Niederlage von Poli-tik. Wenn die Sozialdemokraten im Europaparlament dietotale Isolierung fordern, dann ist das erst recht eineNiederlage der Politik. Wenn man es mit so empörendenZuständen wie in Weißrussland zu tun hat, dann ist mangeneigt, emotionale Reden zu halten und sich zu empö-ren. Aber es hilft nichts. Wir müssen nach wie vor versu-chen, zu politischen Lösungen zu kommen. Wenn es soweitergeht, würde nämlich vor allem die Bevölkerung,die Zivilgesellschaft noch mehr leiden.Wir befinden uns in einer tragischen Situation – wennes nicht so ernst wäre, würde man sagen: in einer tra-gikomischen Situation –: Die EU will und wird dieSanktionen morgen verschärfen. Der Rat der Außen-minister hat aber gesagt: Wenn die politischen Gefange-nen vorher freigelassen werden, überdenken wir dasnoch einmal. Aus Minsk hörten wir heute Nachmittag,dass man bereit wäre, bis Ende März diese und jene poli-tischen Gefangenen zu entlassen und in der Folge alleweiteren, wenn die EU auf Sanktionen verzichtet. Ichwill das nicht interpretieren, um den Ton nicht noch wei-ter zu verschärfen. Gestern und heute haben viele vielesversucht. Ich habe auch gesagt, dass Freilassungen keinSignal der Schwäche von Minsk wären, sondern ein Si-gnal der Stärke und der Souveränität. Offenbar findetman in Minsk aber nicht die Kraft dazu. Leider ist offen,ob bis morgen eine Lösung erreicht werden kann oder ob
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Karl-Georg Wellmann
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Intransigenz und Sprachlosigkeit eine Lösung verhin-dern.Mit verschärften Sanktionen ist niemandem geholfen,nicht den Menschen und schon gar nicht der Opposition,auch nicht der Wirtschaft. Russische Unternehmen wür-den mit der weiteren Privatisierung belarussischerUnternehmen ihren Reibach machen. Auch dem LandBelarus und der EU wäre damit auch nicht geholfen. Dieverstärkte Hinwendung zu Russland wäre unausweich-lich – mit all den politischen Folgen, die sich daraus er-geben.Ich würde abschließend hier gerne noch die Fragestellen, ob wir genug für die Zivilgesellschaft tun. Wirhaben hier vor gut einem Jahr etwas beschlossen. Wirhaben gesagt: Lassen Sie uns die Programme zur Unter-stützung von Studenten verstärken. Frau Pieper hat ges-tern im Ausschuss gesagt, dass 99 belarussische Studen-ten mit Stipendien bei uns sind. Wir haben inDeutschland weit über 2 Millionen Studenten und deut-lich mehr als 200 000 ausländische Studierende. Gemes-sen daran sind 99 belarussische Studenten nicht viel, undim Übrigen ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.Das sagt auch der sehr kompetente Vertreter des DAADin Minsk. Er sagt, dass er erstklassige Bewerbungen vonLeuten mit einem Notendurchschnitt von 1,3 oder 1,2hat, die er ablehnen muss, weil wir nicht genug Plätzehaben. Ich habe vor einigen Tagen zusammen mit unse-rem Botschafter Weil, der ja in Berlin ist, ein Gesprächmit dem Präsidenten der Freien Universität geführt. Die-ser sagte: Mit Kusshand nehme ich weitere Studenten.Die, die ich habe, sind alle im oberen Leistungsviertel.Ich nehme gerne noch mehr. – Bei 20 000 bis 30 000Studenten ist das auch kein Kapazitätsproblem. Ein Stu-dent bei uns kostet 10 000 Euro im Jahr. Mit 1 Mil-lion Euro zusätzlich könnten wir die Zahl der belarussi-schen Studenten in Deutschland verdoppeln.
Herr Kollege Pofalla, ich weiß, dass Sie sich für dieZivilgesellschaft in Belarus sehr engagiert haben. Ichbitte Sie und die Kollegen der anderen Fraktionen: Las-sen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir in demHaushalt, der 300 Milliarden Euro umfasst, noch eine,so sage ich es einmal, lächerliche Million zusammen-kratzen. Dann könnten wir die Zahl der belarussischenStudenten verdoppeln.
Die Studenten, die wir heute bei uns ausbilden, sindTeil der zukünftigen wirtschaftlichen und politischenElite Weißrusslands. Das wäre eine sehr gute Investition.Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dass wirweitere 1, 2 oder 3 Millionen Euro mobilisieren, um et-was zu tun.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Möchten Sie die Frage von Frau Beck noch zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich habe mich, glaube ich, früh genug gemeldet. –
Herr Kollege, Ihr Vorschlag wird von uns allen unter-
stützt. Sind Sie bereit, nach Wegen zu suchen, um dafür
zu sorgen, dass diese Stipendien nicht jungen Menschen
zugutekommen, die sehr staatsnah, um nicht zu sagen im
Dienste des Staates studieren und dann hierher kommen?
Der DAAD ist nach seinen jetzigen Regularien dazu ver-
pflichtet, Stipendien im Benehmen mit den Rektoren der
auswählenden Universitäten zu vergeben. Diese sind in
Belarus alle an der kurzen Leine des KGB.
Frau Kollegin Beck, das Problem ist bekannt. Nun sa-
gen einige: Das Kind eines Funktionärs wollen wir nicht
in Sippenhaft nehmen.
Aber wir können nicht mehr tun, Frau Beck, als zusätzli-
ches Geld aufzubringen, dieses zweckgebunden an den
DAAD zu geben und den DAAD mit seinem sehr kom-
petenten Vertreter in Minsk und die Deutsche Botschaft
dort zu ersuchen, geeignete Stipendiaten auszuwählen.
Anders geht es leider nicht.
Damit schließe ich die Aussprache.Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInvestitionen in Antipersonenminen undStreumunition gesetzlich verbieten und diesteuerliche Förderung beenden– Drucksachen 17/7339, 17/8016 –Berichterstattung:Abgeordneter Roderich KiesewetterUta ZapfDr. Rainer StinnerJan van AkenKerstin Müller
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19975
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dannist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Christoph Schnurr für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2006 in
einem eigenen Antrag die weltweite Ächtung von Streu-
munition gefordert. Die Verabschiedung der Oslo-Kon-
vention im Jahr 2008 war deshalb aus unserer Sicht ein
großer Fortschritt. Allerdings – ich denke, darüber
herrscht hier im Hohen Hause Konsens – wurden mit der
Konvention nicht alle Probleme gelöst. Um es noch ein-
mal festzuhalten: Wir sind ganz klar für die Ächtung von
Streumunition.
Das zentrale Problem bleibt, dass die Besitzer der
meisten Streumunition, darunter die USA, Russland und
China, das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben.
Wäre es anders, müssten wir die heutige Debatte wohl
kaum führen. Da wir sie führen, sollten wir unser ge-
meinsames, unser eigentliches Ziel im Blick behalten.
Jedem muss bewusst sein, dass es hier um eine Verlage-
rung der Strafbarkeit geht. Kriminalisiert werden sollen
nicht mehr nur der Einsatz und die Produktion von
Streumunition, sondern kriminalisiert werden soll auch
die Vorstufe, nämlich die Finanzierung. Durch diese
Vorverlagerung müssen meiner Ansicht nach die Anfor-
derungen an ein gesetzliches Verbot streng sein. Mit an-
deren Worten: Eine gesetzliche Regelung ist nur dann
sinnvoll, wenn sie eindeutig, überprüfbar und effektiv ist
und wenn alles andere wirkungslos bleibt.
Lassen Sie mich auf diese Punkte eingehen. Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Opposition, sagen: Ja,
eine gesetzliche Regelung könnte die genannten Krite-
rien erfüllen. Als Belege nennen Sie in Ihrem Antrag
Belgien, Luxemburg, Norwegen und Neuseeland.
Sie wollen damit zeigen, dass eine gesetzliche Regelung
möglich ist. Tatsächlich zeigen aber gerade diese
Beispiele genau das Gegenteil. Egal wie man ein Investi-
tionsverbot anpackt, es ist immer mit Problemen behaftet.
Das haben uns die Vertreter dieser Länder in unter-
schiedlichen Gesprächen bestätigt.
Es ist kein Zufall, dass sich bisher gerade einmal eine
Handvoll Staaten an einem Gesetz in diesem Zusam-
menhang versucht haben. Es überrascht auch nicht, dass
sie alle sehr unterschiedlich an die Sache herangegangen
sind. Die einen verbieten Investitionen in die Hersteller-
firmen von Streumunition nur, wenn sie vorsätzlich getä-
tigt werden, die anderen nur dann, wenn diese Investi-
tionen wissentlich getätigt werden. Eindeutig und glas-
klar sind diese Formulierungen in meinen Augen nicht.
In Belgien kann das entsprechende Gesetz noch im-
mer nicht angewandt werden, weil die schwarze Liste
fehlt, und das, obwohl das Gesetz schon seit Jahren exis-
tiert. In Norwegen gibt es erst gar kein Gesetz. Der staat-
liche Pensionsfonds schließt Produzenten von Streumu-
nition zwar aus, eine Bestimmung, die private Anleger
dazu verpflichtet, gibt es aber nicht.
Kommen wir zum zweiten Punkt. Brauchen wir über-
haupt eine gesetzliche Regelung? Für Liberale ist das
eine sehr grundsätzliche Frage, weil wir glauben, dass
der Staat nicht der bessere Problemlöser ist. Für uns lie-
gen Kompetenz und Verantwortung zunächst bei der
Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Es gilt: Einsicht ist
besser als Aufsicht.
Diese Einsicht gibt es, Frau Zapf. Nach dem Abkom-
men von Oslo hat eine Reihe von Finanzdienstleistern re-
agiert und interne Richtlinien entwickelt, um Geschäfte
mit Streumunitionsherstellern auszuschließen. Die FDP-
Fraktion begrüßt das an dieser Stelle ausdrücklich.
Gleichzeitig sage ich aber auch ganz klar: Das reicht
noch nicht aus. Es reicht nicht aus, was bislang gesche-
hen ist. Aber man ist auf dem richtigen Weg.
Wir brauchen noch mehr und umfangreichere Selbst-
verpflichtungen. Das Entscheidende für uns ist aber,
dass momentan Bewegung da ist, dass es Finanzinstitute
gibt, die interne Richtlinien prüfen, erarbeiten und
implementieren. Die Finanzdienstleister wissen am bes-
ten, wie man dabei vorgehen muss. Sie überprüfen ohne-
hin jeden Kunden und jede Anlagemöglichkeit. Sie
holen Informationen von Dritten ein und können sich so
ein gutes Bild von einzelnen Unternehmen machen. Das
alles gehört zum täglichen Geschäft von Banken und
kann pragmatisch gehandhabt werden, anders als beim
Staat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auf einen
weiteren Punkt eingehen.
Herr Kollege, bevor Sie zu diesem Punkt kommen:
Möchten Sie eine Frage der Kollegin Brugger zulassen?
Ich würde ganz gerne fortfahren. – Ich will, wiegesagt, auf einen weiteren Punkt eingehen, und zwarganz konkret auf das, was Sie in Ihrem Antrag fordern.Da heißt es:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, … Unternehmen, die Antipersonenminen
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Christoph Schnurr
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und Streumunition herstellen oder entwickeln,schnellstmöglich von der öffentlichen Auftragsver-gabe auszuschließen …
Das fordern Sie in Punkt 5 Ihres Antrags. Aber, liebeKolleginnen und Kollegen: Wissen Sie eigentlich, wases bedeutet, wenn man das zu Ende denkt?
Die Bundespolizei dürfte dann keine Bell-Hubschraubermehr bei Textron kaufen.
Die Bundeswehr dürfte keine Patriots mehr bei Raytheonkaufen,
keine Navigationssysteme mehr bei Lockheed Martinund keinen Eagle mehr bei General Dynamics bestellen.Das kann nicht Ihr Ernst sein.
Was wir gemeinsam wollen, auch die FDP-Bundes-tagsfraktion, ist die weltweite Ächtung von Streumuni-tion. Dafür müssen wir uns auch bei unseren Partnern imAusland weiter einsetzen und dort für dieses Anliegenwerben. Natürlich – da sind wir einer Meinung – solltenwir auch die Investitionsfrage weiter im Blick behalten.Dazu liegen neue Zahlen auf dem Tisch. Wir sind gernebereit, auch in Zukunft über dieses Thema mit Ihnen zudiskutieren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Uta Zapf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Schnurr, ich finde es zutiefst beschämend, dass dieKoalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP heute denAntrag auf ein Verbot von Investitionen in Streumuni-tion und Antipersonenminen ablehnen werden.
Was will der Antrag? Er will sicherstellen, dassArt. 1 Abs. 1 Buchstabe c der Oslo-Konvention überStreumunition – und analog angewendet auf Antiper-sonenminen – so interpretiert wird, dass das Verbot derUnterstützung der Herstellung von Streumunition auchInvestitionen in Herstellerfirmen, direkte und indirekte,umfasst. Welchen Sinn macht es denn, wenn wir unsdamit brüsten, im Gegensatz zu den Ländern mit großenHerstellern – USA, China usw. – auf die Herstellung,den Besitz, die Anwendung, den Export und die Lage-rung dieser menschenverachtenden Waffen zu verzich-ten, uns dann aber weigern, Investitionen in Firmen, diediese geächtete Munition herstellen, ausdrücklich zuverbieten? Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c des Oslo-Überein-kommens verbietet,irgendjemanden zu unterstützen,– „unterstützen“ ist das ausschlaggebende Wort –zu ermutigen oder zu veranlassen, Tätigkeiten vor-zunehmen, die einem Vertragsstaat aufgrund diesesÜbereinkommens verboten sind.Das war ein Zitat. Der simple Menschenverstand sagtmir, dass ein Kredit, dass eine Investition sehr wohl eineUnterstützung ist. Wer wollte das denn leugnen, liebeKolleginnen und Kollegen?
Was sagt die Bundesregierung dazu? Ich zitiere ausder Antwort auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/3185. Frage 22 lautet:Teilt die Bundesregierung die Interpretation, dassdas Verbot der Unterstützung des Einsatzes, derHerstellung und Weitergabe von Streumunition jeg-liche Form von Unterstützung umfasst, also auchInvestitionen in Firmen, die Streumunition in ihremPortfolio haben?a) Wenn nein, warum nicht?b) Wenn ja, welche Konsequenzen hat das …?Jetzt zitiere ich die Antwort der Bundesregierung:
Gemäß Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c des Über-einkommens über Streumunition gilt das Verbot derUnterstützung des Einsatzes, der Herstellung undWeitergabe von Streumunition mit Blick auf alleTätigkeiten, „die einem Vertragsstaat aufgrund die-ses Übereinkommens verboten sind“. Das Überein-kommen– jetzt kommt die Überraschung –enthält jedoch kein ausdrückliches Verbot der Inves-tition …Eine Investition ist also keine Unterstützung.Ob unter das Verbot der Unterstützung des Einsat-zes, der Herstellung und Entwicklung von Streu-munition nach dem Übereinkommen im Einzelfalleine Investition in Unternehmen … fallen könnte,kann nur im Einzelfall entschieden werden.Das verstehe ich überhaupt nicht. – Außerdem schreibtsie:Zu abstrakten Rechtsfragen nimmt die Bundes-regierung grundsätzlich nicht Stellung.Ich sage: Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c ist das Verbot vonInvestitionen. Hier soll eine Entscheidung im Einzelfallnötig sein? Das verstehe ich überhaupt nicht.
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Uta Zapf
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Wir haben am 22. September 2011 einen Round Tablemit den Nichtregierungsorganisationen durchgeführt,denen ich an dieser Stelle hier noch einmal insbesonderedafür danken möchte, dass sie dieses Thema mit großerHingabe bearbeiten und uns darüber informieren, wasSache ist.
Wir haben interpretiert, ob Investitionen durch diesenWortlaut erlaubt sind oder nicht. Wenn ich es in diesemGespräch richtig verstanden habe, dann war die Auf-fassung der FDP und auch der CDU/CSU: Jawohl,diese Investitionen sind erlaubt, aber nicht wünschens-wert. – Da staunt der Fachmann.
Sie sind nicht wünschenswert. Sie setzen auf eine Selbst-verpflichtung.Lieber Herr Schnurr, haben Sie heute die Zeit gele-sen? Es ist das zweite Mal, dass die Zeit davon berichtet,wie ernst die Banken und insbesondere die DeutscheBank diese Selbstverpflichtung nehmen.
– Dann brauchen wir ein Gesetz, in dem dieses vor-geschrieben wird. – Sie haben vorhin die Länder auf-gezählt, die entsprechende Gesetze erlassen haben. Esgibt daneben aber andere Länder, wie Großbritannien,Frankreich und Australien, die sagen: Natürlich ist dasVerbot schon Teil der Konvention. Deshalb ist unserePraxis eben, dass wir dies nicht gestatten. – Vor kurzemhat die Schweiz das Streumunitionsverbot in ihremKriegsmaterialgesetz beschlossen und dabei ein Finan-zierungsverbot ausdrücklich mitbeschlossen. Das kannuns doch nicht kalt lassen. Ich könnte jetzt auch noch dieHomepage der Schweizer Tagesschau zitieren, aber dastue ich aus Zeitgründen nicht.Liebe Freunde, unsere Interpretationen sind kontro-vers. Lasst uns also einen Gesetzentwurf erarbeiten.Wenn Sie in einem solchen Gesetzentwurf einigeUnstimmigkeiten sehen sollten, dann beraten wir da-rüber. Es wäre eine große gemeinsame Tat, wenn wir unsdarauf einigen könnten, ein praktikables, aber eben pro-hibitives Gesetz zu diesem Problem auf den Weg zubringen.
Ich möchte jetzt noch einmal darauf eingehen, wasuns in der letzten Zeit in Bezug auf die Selbstverpflich-tung vorgemacht worden ist. Das war nämlich einSelbstbetrug bzw. ein Betrug der Öffentlichkeit. Auf derHauptversammlung im Mai 2011 hat Herr Kapetanovic,ein Minenräumer, sehr drastisch gezeigt, was die Folgensolcher Streumunition sind. Herr Ackermann hat betrof-fen angekündigt, man werde dieses Engagement über-prüfen und man könne zuversichtlich sein, dass dieDeutsche Bank aus diesem Geschäft aussteigen wird.Was ist passiert? Im September 2011, also etlicheMonate später, beliefen sich die Investitionen der Deut-schen Bank in entsprechende Unternehmen noch immerauf 776,53 Millionen US-Dollar. Heute beläuft sichdiese Summe laut einer Recherche der NGO FacingFinance auf sage und schreibe fast 1 Milliarde Euro anKrediten und Anleihen. Was ist nun? Hat man das Enga-gement allmählich abgeschmolzen? Komischerweisewerden die Zahlen größer.Im Februar 2012 – das ist noch nicht lange her –behauptete der Chef der Deutschen Bank, HerrAckermann, im Fernsehen, die Bank sei völlig aus derFinanzierung von Streubombenherstellern ausgestiegen.Die neue Analyse, die ich gerade erwähnt habe, hat abergenau gezeigt, dass dies gelogen war. Entschuldigung,aber ich halte das für eine Lüge und glaube nicht, dass esein Versehen war, dass er etwa die Bücher nicht richtiggelesen hat.
Ja, es ist richtig, Herr Schnurr, dass die Commerz-bank, die Sparkassen und andere Finanzinstitute restrik-tive Richtlinien eingezogen haben, dass sie die Anteilein ihren Portfolios deutlich reduziert haben und dassmanche sogar ganz ausgestiegen sind.
Damit es eine einheitliche Handhabung dieser Vor-schrift gibt und damit wir die Konvention nicht beschä-digen, lassen Sie uns mit einem Gesetz, wie es dieserAntrag vorsieht, Klarheit und Rechtssicherheit schaffen.Ich danke euch.
Der Kollege Wadephul spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Kollegin Zapf, wir müssen uns nicht injeder Debatte so einig sein wie in der vorangegangenenBelarus-Debatte.
– Na gut, Sie haben mir gerade in der Tat keinen Anlassdazu gegeben. Das gehört aber zum Alltag hier im Parla-ment, den wir verkraften müssen.Wir sind uns doch in diesem Parlament – und das wis-sen Sie auch, Frau Kollegin Zapf – völlig einig darin,dass Deutschland alles getan hat und große Anstrengun-
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Dr. Johann Wadephul
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gen unternommen hat, um die internationalen Abkom-men von Ottawa und Oslo zum Erfolg zu führen,
und dass wir uns international auch bei unseren Bündnis-partnern mit Nachdruck dafür einsetzen, dass sie diesenAbkommen beitreten. Das ist für mich ein Anlass, dieserBundesregierung für ihr Engagement ganz herzlich zudanken und ihr die Unterstützung dieses Hauses zuzusa-gen.
Deutschland hat einfachgesetzliche Maßnahmenergriffen, um das umzusetzen. Diese sind Sie gerade lei-der schlankerhand einfach so übergangen. Wir haben§ 18 a Kriegswaffenkontrollgesetz, der nicht nur denEinsatz, das Entwickeln, das Herstellen von oder dasHandeltreiben mit derartigen Antipersonenminen undStreumunition unter Strafe stellt, sondern auch die För-derung all dieser Tätigkeiten.
Frau Kollegin Zapf,
wir haben dafür eine gesetzliche Grundlage, die im Übri-gen in einem nicht unerheblichen Umfang strafbewehrtist. Die Mindeststrafe beträgt ein Jahr Freiheitsstrafe,und damit stellt das Delikt ein Verbrechen dar. Das istalso keine Kleinigkeit im deutschen Strafrecht. Sie sagenjetzt allerdings in der Debatte, CDU/CSU und FDP seiender Meinung, dass Investitionen in den Bereich den Tat-bestand der Förderung nicht erfüllen würden. So hättenSie uns in einem Gespräch verstanden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind zuvielem fähig und in der Lage und auch nicht der Mei-nung, dass wir als Parlamentarier unser Licht unter denScheffel stellen sollten, aber ob der Tatbestand der För-derung im Sinne dieses Gesetzes erfüllt ist, entscheidenin Deutschland immer noch Staatsanwälte und insbeson-dere Gerichte, aber nicht Parlamentarier.
Deswegen ist es völlig falsch, uns so etwas zu unterstel-len.
Ob es, Frau Kollegin Zapf, eine hinreichend klareRegelung ist, muss sich in der Praxis zeigen, und dassSie wiederum große Schwierigkeiten haben, Ihr Anlie-gen konkret zu formulieren, entnimmt man schon miteinem flüchtigen Blick Ihrem Antragstext.Wir sind ein Gesetzgebungsorgan. Einem Gesetzge-bungsorgan sollte man Gesetzentwürfe vorlegen. Ge-setzentwürfe können durch den Bundesrat, durch dieBundesregierung und durch Mitglieder des DeutschenBundestages eingebracht werden. Sie selber sahen sichaber nicht in der Lage, hierzu einen Gesetzentwurf zuunterbreiten,
sondern Sie ziehen sich auf die Position zurück: Hier be-steht Handlungsbedarf. Dieses Problem müsste die Bun-desregierung dadurch lösen, dass sie einen Gesetzent-wurf vorlegt. – Machen Sie das doch selber! Setzen Siesich einmal hin, und unterbreiten Sie uns einen dafürnotwendigen Gesetzesvorschlag, der stimmig ist, der denVerhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt und auch hinrei-chend konkret ist. Legen Sie einen solchen Gesetzent-wurf vor. Dann sind wir gerne bereit, darüber zu reden.
Es ist nämlich nicht trivial, um das in aller Ernsthaf-tigkeit zu sagen, Frau Kollegin Zapf, einfach zu sagen:Der von der Bundesregierung vorzulegende Gesetzent-wurf soll ein Investitionsverbot enthalten, und er sollauch alle Umgehungsmöglichkeiten ausschließen. – Ja,das hört sich schön an. Das können Sie möglicherweiseauf einer Parteiveranstaltung auch schön sagen. Das istvom politischen Willen her nachvollziehbar. Aber das inGesetzesform zu gießen, sodass später Menschen mitdem Gesetz arbeiten können und nicht nur Strafverfol-gungsbehörden, ist eine andere Sache. Vielmehr mussder vom Gesetz Betroffene im Einzelnen vorher wissen,wann er etwas Falsches macht, wann er etwas tut, wasdieses Gesetz als strafwürdig ansieht.Den Entwurf eines solchen Gesetzes zu formulieren,ist nicht besonders einfach. Im Gegenteil: Ich meine so-gar, die Umgehungsmöglichkeiten sind gesetzlich garnicht klar zu fassen. Deswegen geben Sie den Menschen,denen Sie versprechen, ihr Anliegen durchsetzen zu wol-len, Steine statt Brot. Dieser Vorschlag hilft überhauptgar nicht weiter.
Ähnliches gilt, wenn Sie sagen: Wir sollen bei der öf-fentlichen Auftragsvergabe entsprechende Unterneh-men schnellstmöglich ausschließen. Der KollegeSchnurr hat schon eine Anmerkung gemacht, wer davonalles betroffen wäre. Aus Ihren Reihen hörte man gleichZurufe: Okay, dann kaufen wir von diesen Unternehmenkein Kriegsgerät mehr. – Das mag man so sagen. Als Siein politischer Verantwortung waren, insbesondere sozial-demokratische Verteidigungsminister und Finanzminis-ter, ist all das gemacht worden. Jahrzehntelang war dasüberhaupt kein Problem.
Aber es ist natürlich klar: In dem Moment, in dem mandie Seite wechselt und auf der Oppositionsbank sitzt, istdas alles wieder ganz einfach.Aber, Frau Kollegin Zapf, wir können in unser Verga-berecht nicht einfach eine derartige Regelung aufneh-men, ohne einen Konsens in der Europäischen Union zuhaben. Das muss EU-rechtskonform sein. Es gibt über-
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Dr. Johann Wadephul
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haupt keinen Ansatz in der EU für einen entsprechendenKonsens, um eine derartige Regelung hier aufzunehmen.Sprechen Sie doch einmal mit den Franzosen und denBriten über eine derartige Frage.
Ich schaue mir dann in aller Ruhe an, ob Sie dazu in derLage sind.Deswegen bleiben wir dabei:
Eine Diskussion über diese Punkte ist notwendig. Wirschauen uns mit großer Aufmerksamkeit an, wie dieUmsetzung in anderen Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion gelingt. Der Kollege Schnurr hat darauf hinge-wiesen, dass Belgien ein entsprechendes Gesetz erlassenhat, das derzeit aber keine Zähne hat und nicht greift.Wir können uns auch gerne anschauen, wie das Ganze inLuxemburg und in Neuseeland – Neuseeland ist viel-leicht etwas relevanter – in der Realität nachher aussieht.Wir sind da ganz offen.Wir begrüßen in der Tat, dass sich die Commerzbank,Union Investment, Allianz Global Investors öffentlichdazu bekannt haben, sich aus diesem Bereich vollkom-men zurückzuziehen. Das ist gut. Das ist positiv. DieserWeg sollte fortgesetzt werden.
Lassen Sie uns bitte wegen der Ernsthaftigkeit desAnliegens keine Unterscheidung dergestalt machen: Dassind die Guten, die eine gesetzliche Regelung fordern.Das sind die Bösen, die das nicht wollen. – Die Sache istviel komplizierter als Ihr gut gemeinter Antrag, der aberaus meiner Sicht nicht besonders gut ist. Die Sache istkomplexer. Wir wollen uns bei dieser Frage nicht ausei-nanderdividieren.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Inge Höger hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Öffentli-cher Druck wirkt. Ohne öffentlichen Druck hätten wirheute keine Konvention, kein Verbot von Streumunitionund kein Verbot von Minen. Man merkt in dieser De-batte, dass CDU, CSU und auch FDP sich wohl nur öf-fentlichem Druck beugen. Deshalb brauchen wir weiter-hin öffentlichen Druck, damit dieser Konvention auchKonsequenzen folgen.
Die Übereinkommen zum Verbot von Antipersonen-minen und Streumunition sind Meilensteine für denSchutz der Zivilbevölkerung. Es sind Schritte heraus ausder Barbarei des Krieges. Aber es müssen weitereSchritte folgen.Es gibt nach wie vor zahlreiche Staaten, die Minenoder Streumunition produzieren oder einsetzen, wie dieUSA, Russland, China, Pakistan oder Israel. Wir forderndiese Länder auf, sich dem Verbot anzuschließen, damitwir zu einem wirklich umfassenden Verbot kommen.In all diesen Ländern gibt es aber auch schon Druckaus der Zivilgesellschaft gegen die Herstellung und denEinsatz von Minen und Streumunition. Diesen Initiativenfallen deutsche Finanzinstitute in den Rücken, die nach-weislich immer noch die Hersteller finanzieren. Es gehthier nicht um Peanuts, wie die Deutsche Bank in anderenFällen schon einmal gesagt hat. Es ist vor allem die Deut-sche Bank, die US-amerikanische Streumunitionsherstel-ler durch Beteiligungen, Anleihen und Kredite finanziert.Mindestens 1,6 Milliarden Euro aus deutschen Finanzin-stituten fließen in das Geschäft mit heimtückischen Mi-nen und Streubomben. Das ist ein unglaublicher Skandal.
Nach öffentlichem Druck hatte die Deutsche Bank imNovember letzten Jahres angekündigt – das wurde ebenschon gesagt –, sie werde aus der Finanzierung vonStreumunition aussteigen. Inzwischen wissen wir: DieseAnkündigung war ein leeres Versprechen. Die DeutscheBank hat bereits am Tag nach ihrer Selbstverpflichtungweitergemacht wie zuvor und kontinuierlich neue Ge-schäfte über diese Waffen abgeschlossen. Wir lernendaraus: Der Deutschen Bank zu glauben oder auf freiwil-lige Selbstverpflichtungen zu hoffen, ist ein großer Feh-ler.Notwendig sind klare gesetzliche Regelungen. Nichtnur die Produktion und der Einsatz von Minen undStreumunition, sondern auch deren Finanzierung mussverboten werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurfsoll natürlich die Bundesregierung vorlegen. Sie hat dasnotwendige Personal, um solche Gesetzentwürfe zu erar-beiten. Eigentlich sollte dies eine Selbstverständlichkeitsein. Viele Staaten haben bereits solche Verbotsregelun-gen eingeführt.Seit 2009 gibt es mit § 18 a des Kriegswaffenkontroll-gesetzes ein Verbot der Förderung von Antipersonenmi-nen und Streumunition. Leider ist darin nicht explizit dasVerbot von Investitionen verankert. Diese Lücke nutzendie Deutsche Bank und andere Finanzinstitute aus. Wirmüssen diese Lücke schließen. Meiner Ansicht nachkann man die Finanzierung von Streumunition kaum an-ders nennen als Förderung. Aber wenn das juristisch um-stritten ist, dann brauchen wir eine Präzisierung. Dannwird es höchste Zeit, dass dies geschieht.
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19980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Inge Höger
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Bereits heute könnte die Bundesregierung nach gel-tender Rechtslage alle Finanzprodukte überprüfen, diesteuerlich gefördert werden. Die Beiträge zur steuerlichgeförderten Riester-Rente sollten weder direkt noch in-direkt in Minen oder Streubomben investiert werden.Eine Prüfung findet aber nicht statt. Niemand kann des-wegen ausschließen, dass staatliche Förderung für dieRiester-Rente nicht gleichzeitig eine Förderung vonStreumunition ist. Dieser Zustand muss beendet werden.
Wir sollten noch einmal darüber reden, um was fürWaffensysteme es geht. Minen und Streumunition sindgrausam und heimtückisch. Nicht explodierte Minenoder Submunition können ganze Landstriche zu Todes-zonen machen. Diese Waffen töten noch Jahre, manch-mal Jahrzehnte nach Ende eines Krieges. Die Opfer sindüberwiegend Zivilistinnen und Zivilisten, häufig Kinderund alte Menschen. Der zivile Wiederaufbau nach einemKrieg wird dadurch zu einem lebensbedrohlichen Unter-fangen. Das Ergebnis sind immer wieder Tote und Ver-stümmelte.Dieses menschliche Elend muss für uns Verpflichtungsein, weiter Druck zu entfalten. Wir fordern die Bundes-regierung auf, endlich zu handeln und direkte und indi-rekte Investitionen in Minen und Streumunition zu ver-bieten.
Agnes Brugger hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ot-tawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminenund die Oslo-Konvention zum Verbot von Streumunitiontrennen in ihrer Entstehung etwa zehn Jahre. Dennochkann man sie als Geschwisterverträge bezeichnen; dennsie haben vieles gemeinsam. So verdanken beide ihreEntstehung in großem Maße dem unermüdlichen Enga-gement der Zivilgesellschaft, die mit viel Kraft, Vehe-menz und Kreativität für eine weltweite Ächtung dieserbarbarischen Waffen gestritten hat.
NGOs in Deutschland und weltweit verlieren nichtaus den Augen, was noch vor uns liegt. So läuft in diesenWochen zum Beispiel die Kampagne „Zeig dein Bein“,mit der auf die Situation von Minenopfern aufmerksamgemacht werden soll. Sie ruft dazu auf, durch eine kleineGeste Solidarität zu zeigen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat vorgestern in einer gemeinsamen Aktionbereits zahlreiche Beine gezeigt. Ich würde mich freuen,wenn Sie es uns gleichtun würden.Zurück zu den Gemeinsamkeiten. Beide Verträge se-hen ein strenges und umfassendes Verbot vor und wur-den von Deutschland unterzeichnet und mit dem Kriegs-waffenkontrollgesetz in nationales Recht umgesetzt.Hier treffen wir auf eine problematische Gemeinsamkeitbei der Umsetzung beider Verträge, die wir als Abgeord-nete dringend korrigieren müssen. Bei der Umsetzungdes Verbots dieser Waffen klafft eine erhebliche Geset-zeslücke. Trotz der Ächtung können deutsche Bankenund Versicherungen in Unternehmen investieren, dieAntipersonenminen und Streumunition herstellen. Nochskandalöser ist, dass solche Investitionen über dieRiester-Rente sogar staatlich subventioniert werden.Hier sind wir als Mitglieder des Deutschen Bundestagesgefragt, schnellstmöglich für Klarheit zu sorgen und eineentsprechende Gesetzesänderung auf den Weg zu brin-gen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, inzwi-schen ist es fast ein Jahr her, dass wir Grüne einen An-trag für eine solche Gesetzesänderung eingebracht undalle Fraktionen – auch und insbesondere Ihre – dazu ein-geladen haben, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten.Wir haben keinen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt,damit Sie sich nicht hinter einzelnen Formulierungenverstecken und sagen können, dass Sie ihn deswegennicht mittragen können. Aber Sie schaffen es schon, sichvon dem abstrakten Ziel zu verabschieden, wie Ihre Re-den zeigen.
Ich freue mich, dass zumindest unter den drei Opposi-tionsfraktionen hier schnell Einigkeit herrschte.Seither folgte eine Beratung der anderen. Wir tausch-ten uns mit NGOs aus und sprachen mit einem Opfer.Wir konsultierten Finanzexpertinnen und -experten,Bankenvertreter und renommierte Testinstitute. Alle be-fürworten ein gesetzliches Investitionsverbot. Doch waskam von Ihnen, meine Damen und Herren von den Ko-alitionsfraktionen? Außer leeren Worthülsen, Gedruckseund Windungen kam von Ihnen nichts. Das haben auchIhre Reden gezeigt. Sie sagen zwar, dass Sie das Errei-chen des Ziels unterstützen. Aber dann ist Ihnen alles zukompliziert und doch zu viel. Wenn die Zusammenarbeitmit der Opposition an der vermeintlichen Würde dieserRegierung kratzt, geschenkt! Es ist okay, wenn Sie esnicht mit uns machen wollen, obwohl wir uns in vielerleiHinsicht sehr kooperationsbereit gezeigt haben. HerrKollege Dr. Wadephul und Herr Kollege Schnurr, wozwischen allen Erklärungen Ihrer aufrichtigen Absichtenist Ihre Initiative? Wo ist Ihr Beitrag zur Lösung des Pro-blems?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19981
Agnes Brugger
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Oder ist Ihre Tatenlosigkeit schon das Eingeständnis,dass Sie keine guten Gesetzentwürfe machen können?Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio-nen, was Sie hier betreiben, ist aus meiner Sicht schlichtArbeitsverweigerung.
Es ist doch höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass inDeutschland zukünftig Investitionen in völkerrechtswid-rige Waffen gesetzlich verboten sind.
Es darf nicht sein, dass ein Land wie Deutschland, dasjährlich erhebliche finanzielle Mittel für die Räumungvon Antipersonenminen und Streumunition weltweit zurVerfügung stellt, Investitionen in die Produktion dieserWaffen erlaubt und teilweise sogar steuerlich fördert.Aber egal ob bei der Regulierung der Finanzmärkte, derFrauenquote oder Investitionen in völkerrechtswidrigeWaffen, wenn es um Großkonzerne oder den Finanzsektorgeht, setzt Schwarz-Gelb auf Selbstverpflichtung, obwohldas nicht funktioniert, wie man gerade in der Medienbe-richterstattung verfolgen kann. Trotz aller Selbstver-pflichtungen geht die Geschäftemacherei mit diesen bar-barischen Waffen uneingeschränkt weiter.
Es reicht einfach nicht, die Hände in den Schoß zu le-gen, abzuwarten, was andere Staaten machen, und daraufzu vertrauen, dass sich die Dinge von selbst regeln. Un-sere Aufgabe als Gesetzgeber ist es doch, nicht zurSelbstverpflichtung aufzurufen, sondern endlich fürRechtssicherheit zu sorgen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt spricht der Kollege Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns hier einig, dass der Einsatz von
Streumunition und der Einsatz von Antipersonenminen
schreckliches Leiden hervorruft und deshalb geächtet
werden muss. Es besteht auch Konsens darüber, dass wir
alle Anstrengungen unternehmen müssen, den Kreis der
Staaten, welche die Oslo-Konvention über Streumuni-
tion ratifizieren, zu erweitern.
Die Bundesregierung bringt sich sehr engagiert in
diesen Oslo-Prozess ein. Deutschland wurde beispiels-
weise die besondere Aufgabe übertragen, Koordinator
für die Bestandszerstörung zu sein.
Der Antrag, der nun die Idee formuliert, ein Investi-
tionsverbot gesetzlich zu verankern, greift zunächst ein-
mal die aktuelle Rechtslage auf, die hier mehrfach ange-
sprochen worden ist. Wir haben im Kriegswaffen-
kontrollgesetz verboten, die Herstellung von Streumuni-
tion zu fördern. Das war die Gesetzesänderung, mit der
die Konvention über Streumunition von Oslo in deut-
sches Recht umgesetzt worden ist.
Dieses Verbot der Förderung der Herstellung von
Streumunition ist mit einer Mindestfreiheitsstrafe von ei-
nem Jahr bei vorsätzlichen Verstößen belegt. Es ist rich-
tig, dass ein explizites Investitionsverbot fehlt. Aber mit
diesem Verbot der Förderung der Herstellung kann
selbstverständlich auch eine direkte Unterstützung der
Herstellung bereits nach heutigem Recht verboten sein.
Nun gibt es in der Tat einige Länder – das haben Sie
angesprochen –, die Auslegungsschwierigkeiten sehen
und versuchen, dieses gesetzliche Verbot zu präzisieren.
Aber anders, als Sie hier glauben machen wollen, gibt es
kein Land, das eine schärfere gesetzliche Bestimmung
verankert hätte, als wir sie im Kriegswaffenkontrollge-
setz haben.
Herr Kollege, eine Zwischenfrage.
Sofort. Lassen Sie mich das bitte noch ausführen. Ich
komme gleich darauf zurück.
Dort, wo man sich an schärferen gesetzlichen Rege-
lungen versucht hat, stößt man auf Probleme der Umset-
zung und der Abgrenzung. In Belgien beispielsweise
wurde bereits vor Inkrafttreten der Oslo-Konvention ein
Investitionsverbot erlassen. 2007 hat man ein Finanzie-
rungsverbot beschlossen, das die Finanzierung von Un-
ternehmen verbietet, die Antipersonenminen oder Streu-
munition herstellen, nutzen oder damit handeln.
Allerdings ist auch eine Klausel enthalten, nach der es
nicht verboten ist, in andere Bereiche eines betroffenen
Unternehmens zu investieren. Damit stehen Sie vor der
Frage der Abgrenzung, was denn nun von dem Investi-
tionsverbot erfasst ist. Im Ergebnis ist das Gesetz in Bel-
gien noch nicht umgesetzt worden, weil noch keine Ver-
ordnung dazu erlassen worden ist.
Ist jetzt der Moment?
Ich würde das gerne im Zusammenhang darstellenwollen, Frau Präsidentin.Auch Luxemburg hat ein Finanzierungsverbot erlas-sen, das die wissentliche Finanzierung von Streumuni-tion unter Strafe stellt. Wir wissen auch aus Luxemburg,
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19982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Thomas Silberhorn
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dass das Land vor erheblichen Abgrenzungsproblemensteht und deshalb eine Überarbeitung des Gesetzes plant.
Die Schweiz beabsichtigt, auch die direkte Finanzie-rung der Herstellung zu verbieten und zu verhindern,dass dieses Verbot umgangen wird.In Großbritannien hat man bereits 2009 erklärt, dassdie Oslo-Konvention mit ihrem Unterstützungsverbotnur die direkte Finanzierung von Streumunitionsunter-nehmen erfasst. Um die indirekte Finanzierung zu ver-hindern, hat Großbritannien einen Verhaltenskodex ent-wickelt, im Übrigen in Zusammenarbeit mit Nicht-regierungsorganisationen und mit Vertretern der Finanz-industrie.Die Frage eines Investitionsverbots, die hier Gegen-stand der Diskussion ist und über die auch der Unteraus-schuss Abrüstung diskutiert hat, ist ein Beleg dafür, dasswir uns über die Umsetzung der Oslo-Konvention ernst-haft Gedanken machen müssen.
Niemand aus meiner Fraktion möchte mit staatlichenMitteln, insbesondere mit Fördergeldern, die Herstellungvon geächteter Munition fördern.Wir müssen uns aber genau fragen, wie man solcheInvestitionen tatsächlich verifizierbar verhindern kannund inwieweit der Staat diesbezüglich mit Regulierungetwas erreichen kann. Gut gemeint ist eben noch nichtgut gemacht.
Ich würde dazu raten, nicht zu unterschätzen, welcheMöglichkeiten es gibt, öffentlichen Druck aufzubauen,Transparenz zu schaffen und Selbstverpflichtungen ein-zufordern. Die Anbieter von Finanzanlagen müssen dazuangehalten werden, ethische Kriterien bei der Vermö-gensanlage zu berücksichtigen. Es sind bereits einige In-stitute – von Commerzbank über Allianz Global bisUnion Investment – genannt worden, die solche Selbst-verpflichtungen eingegangen sind. Diese Beispiele bele-gen, dass Marktmechanismen, die in ihren Wirkungeneinem Investitionsverbot gleichkommen, tatsächlichgreifen und deshalb in die richtige Richtung weisen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir istwichtig, zu betonen, dass wir uns in der Zielsetzung ei-nig sind. Man kann über das Verfahren streiten, wie weitman mit gesetzlichen Präzisierungen kommt. Man darfdie Gefahren der Abgrenzungsschwierigkeiten und derNachweisprobleme nicht unterschätzen. Aber wir solltenuns auch nicht auseinanderdividieren lassen. Es bestehtKonsens, dass wir Streumunition ächten und dafür sor-gen müssen, dass die Oslo-Konvention nicht unterlaufenwird.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zum Antrag der Fraktionen der SPD,
der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem
Titel „Investitionen in Antipersonenminen und Streumu-
nition gesetzlich verbieten und die steuerliche Förderung
beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8016, den Antrag auf
Drucksache 17/7339 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von
Aufgaben im Bereich der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit auf Notare
– Drucksache 17/1469 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes
– Drucksache 17/1468 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Mechthild
Dyckmans hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Ich freue mich sehr, dass wir, die Rechtspolitiker,zu dieser schönen Stunde zusammenkommen, um einVorhaben aus dem Koalitionsvertrag anzugehen und hof-fentlich auch zügig zu Ende zu bringen.Zu Recht sind wir stolz auf unser hervorragendes Jus-tizsystem, das im europäischen Vergleich effizient undkostengünstig ist. Aber auch die Justizhaushalte bleibenvon den Sparzwängen nicht verschont. Dennoch ist es un-ser aller Bestreben, den hohen Qualitätsstandard der deut-schen Justiz trotz der zunehmenden Sparzwänge der öf-fentlichen Haushalte aufrechtzuerhalten. Die christlich-liberale Koalition hat daher als Beitrag zur Effi-zienzsteigerung und Entlastung der Justiz die Möglich-keit einer Aufgabenübertragung auf Notare im Koali-tionsvertrag vorgesehen. Dementsprechend diskutierenwir heute zwei vom Bundesrat vorgelegte Gesetzent-
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Mechthild Dyckmans
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würfe zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der frei-willigen Gerichtsbarkeit auf Notare.Eine solche Übertragung stellt nicht nur eine Entlas-tung der Justiz dar, sie stärkt auch die Stellung der No-tare in ihrer Funktion eines Rechtspflegeorgans. Notaresind unabhängige und unparteiische Betreuer der Betei-ligten. Hierzu sind sie aufgrund ihrer juristischen Aus-bildung, der erlangten Befähigung zum Richteramt undihrer Erfahrung befähigt. Für sie gelten ähnliche dienst-rechtliche Vorschriften wie für Landesjustizbeamte undRichter, und sie unterliegen der Disziplinargewalt der je-weiligen Landesjustizverwaltung. Nochmals: Notaresind Träger eines öffentlichen Amtes und Teil der vor-sorgenden Rechtspflege.Neben der Entlastung der Gerichte sollte die Aufga-benübertragung aber auch Vorteile für die Bürgerinnenund Bürger bringen. Gerade in Zeiten, in denen die Län-der immer mehr kleine Amtsgerichte zusammenlegenoder gar schließen, können die flächendeckend vertrete-nen Notare ein örtlich und zeitlich gut erreichbarer An-sprechpartner sein.
Der Vorschlag des Bundesrates zur Öffnungsklausel fürdie Übernahme sämtlicher Tätigkeiten des Nachlassge-richts erster Instanz auf die Notare hat zwar einigenCharme; denn Bürgerinnen und Bürger brauchten sich inNachlasssachen künftig nur noch an einen Ansprechpart-ner, nämlich ihren Notar, zu wenden. Hierfür ist aller-dings – und das sieht der Bundesrat genauso – eineGrundgesetzänderung notwendig, für die ich derzeitkeine Mehrheit sehe.Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich IhreAufmerksamkeit auf einige Vorschläge lenken, derenUmsetzung ohne Grundgesetzänderung möglich ist unddie ebenfalls sowohl einen Entlastungseffekt für die Ge-richte als auch eine Verbesserung für die Bürgerinnenund Bürger bedeuten würde.Im Nachlasswesen könnte den Notaren die aus-schließliche Zuständigkeit für die Verwahrung aller no-tarieller Verfügungen von Todes wegen, das heißt auchder öffentlichen Testamente, übertragen werden. Zu den-ken wäre auch an eine Übertragung der Verwahrung allerVerfügungen von Todes wegen, also auch der privat-schriftlichen Testamente. Auch die Übertragung der Er-öffnung von Testamenten und Erbverträgen auf Notareist in Betracht zu ziehen. Dabei ist allerdings zu überle-gen, ob sich die Zuständigkeit nur auf die notariellenbzw. die vom Notar verwahrten Verfügungen von Todeswegen oder eben auch wieder auf alle Verfügungen vonTodes wegen beziehen soll.Eine klare Zuständigkeitsregelung könnte zudem da-durch geschaffen werden, dass Notaren das gesamte Erb-scheinsantragsverfahren, also die Aufnahme von Erb-scheinsanträgen und eidesstattlichen Versicherungen,übertragen wird.Eine bundeseinheitliche Regelung ist auch – so siehtes der Gesetzentwurf schon vor – hinsichtlich der Auf-nahme von Nachlassverzeichnissen sinnvoll. Diese Auf-gabe wird bereits in einigen Ländern von Notaren erfolg-reich durchgeführt. Das Gleiche gilt auch für Nachlass-auseinandersetzungen, die ebenfalls bereits in einigenLändern von den Notaren vermittelt werden.Des Weiteren könnten Notare neben den Nachlassge-richten auch Ausschlagungs- und Anfechtungserklärun-gen entgegennehmen.Es ist auch daran zu denken, dass in Randbereichenanderer Rechtsgebiete eine Aufgabenübertragung aufNotare sinnvoll ist, ohne dass es dafür einer Grundge-setzänderung bedarf. Ich möchte hier als auf die Notarezu übertragenen Aufgaben nennen: die Anerkennung no-tarieller Vollmachtsbescheinigungen als Nachweisvor-lage für Grundbuchämter und Registergerichte, aberauch die ausschließliche Prüfung, das heißt das Ob, überdie Erteilung weiterer vollstreckbarer Ausfertigungen ei-ner notariellen Urkunde. Dieses Prüfungsrecht obliegtnämlich bisher den Amtsgerichten. Schließlich wäreauch eine Aufgabenübertragung bei Wechsel- undScheckprotesten denkbar.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicherim Rechtsausschuss noch ausführlich darüber diskutie-ren müssen, wie wir die Aufgabenübertragung im Ein-zelnen ausgestalten.
Wir sollten aber die Chancen zur Entlastung der Ge-richte nutzen, die sich durch diese Übertragung ergeben.Ich wiederhole es: Auch die Bürgerinnen und Bürgerwerden von diesen Maßnahmen profitieren.Sehr genau werden wir uns allerdings auch ansehenmüssen, ob und wo wir Übertragungen durch Länderöff-nungsklauseln umsetzen. Im Interesse der Beteiligtensollte es nicht zu einer unübersichtlichen Zersplitterungdurch unterschiedliche Handhabung in den Ländernkommen.Gestatten Sie mir noch zum Schluss den Hinweis da-rauf, dass eine Forderung aus dem Gesetzentwurf derLänder bereits erfüllt ist: Das Zentrale Testamentsregis-ter wird bereits seit dem 1. Januar 2012 erfolgreich beider Bundesnotarkammer geführt.Meine Damen und Herren, ich freue mich auf kon-struktive Beratungen im Rechtsausschuss.Schönen Dank.
Der Kollege Burkhard Lischka hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-schäftigen uns heute Abend mit zwei Gesetzentwürfendes Bundesrates, die im Wesentlichen die Organisationdes Nachlasswesens in unserem Land betreffen. Solche
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19984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Burkhard Lischka
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Gesetzentwürfe, so finde ich, sollten wir zunächst ein-mal sehr ernst nehmen und auch sorgfältig prüfen; denndie Länder sind immerhin diejenigen hier im Land, diein erster Linie die Justiz vor Ort organisieren und dafürsorgen müssen, dass die Justiz bis in den letzten Winkelunseres Landes gut funktioniert. Wenn dann die Ländermit ihrer besonderen Nähe und Erfahrung Vorschlägeunterbreiten, was man möglicherweise beim Nachlass-wesen verbessern und verändern kann, dann sind wir,wie ich glaube, gut beraten, uns ernsthaft mit diesen Vor-schlägen auseinanderzusetzen und diese Gesetzentwürfenicht vorschnell beiseitezuschieben.Für die SPD-Fraktion kann ich sagen: Wir werdendiesen Gesetzentwurf sehr sorgfältig prüfen. Wir könnenuns beispielsweise vorstellen, dass die Notare künftigdie zentrale Stelle für die Bearbeitung von Erbscheinsan-trägen werden. Das ist eine Aufgabe, die sie schon heuteohne Fehl und Tadel wahrnehmen. Da stellt sich in derTat die Frage, ob es in Zukunft noch sinnvoll ist, dasszwei Stellen – neben den Notaren sind es derzeit auchdie Nachlassgerichte – für Erbscheinsanträge zuständigsind. Meine Erfahrung ist, dass diese doppelte Zustän-digkeit für die Bürgerinnen und Bürger oftmals verwir-rend ist und in der Praxis nicht selten dazu führt, dass sievon einer Stelle zur anderen geschickt werden. Einealleinige Zuständigkeit der Notare in diesem Bereicherscheint uns auf den ersten Blick durchaus sinnvoll undbürgerfreundlich, und sie könnte in der Tat unsere Nach-lassgerichte entlasten.Ein zweites Anliegen des Bundesrates in diesemGesetzentwurf – Frau Kollegin Dyckmans, Sie haben esbereits angesprochen – ist inzwischen umgesetzt wor-den, nämlich ein zentrales und modernes elektronischesTestamentsregister einzuführen. Auch das war ein sinn-voller Schritt. Mit Blick darauf, wie das in anderen euro-päischen Ländern organisiert ist, sage ich, dass dieserSchritt überfällig war. Seit dem 1. Januar gibt es dieseszentrale Testamentsregister. Ich habe mich darüber er-kundigt und kann sagen, dass es gut läuft. Das zeigt diehohe Kompetenz der Notare in diesem Bereich.Skeptisch sind wir allerdings gegenüber Vorschlägendes Bundesrates, alle Nachlasssachen komplett auf dieNotare zu übertragen, diese also quasi zum Nachlassge-richt erster Instanz zu machen; denn die Entscheidungbeispielsweise in strittigen Erbscheinverfahren ist Auf-gabe der klassischen Rechtsprechung. Dafür gibt es Ge-richte.
Diese Aufgabe sollte auch bei den Gerichten verbleiben.Es ist eine Stärke des deutschen Rechtssystems, dassStreitfälle in einem transparenten, offenen und gericht-lich geordneten Verfahren und nicht in irgendwelchenHinterzimmern entschieden werden. Dabei sollte es nachdem Willen der SPD-Fraktion auch bleiben.Wir nehmen aber gerne Ihr Gesprächsangebot an undwerden – ich habe es schon gesagt – die Dinge sorgfältigprüfen. Es gibt den einen oder anderen Ansatzpunkt,über den wir gemeinsam nachdenken sollten. Ich bin mirsicher, dass wir hier zu einer Lösung kommen, die nichtnur die Bundesländer zufriedenstellt, sondern vor allenDingen auch unsere Bürgerinnen und Bürger.Herzlichen Dank.
Andrea Voßhoff hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich begrüße es außerordentlich, dass es gelungenist, nunmehr die beiden vorliegenden Gesetzesinitiativendes Bundesrates auf die parlamentarische Tagesordnungdes Bundestages zu setzen. Damit ist das Thema derÜbertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligenGerichtsbarkeit auf Notare endlich auch beim Bundesge-setzgeber angekommen, und, wie ich finde, zu Recht.Seit sicher gut sieben Jahren verfolge ich mit nachhalti-gem Interesse das in der Rechtspolitik und der Justizdurchaus umstrittene Thema der Frage: Was sind Kern-aufgaben der Justiz? Und: Gibt es im Lichte knapperwerdender öffentlicher Kassen Handlungsbedarf für einenachhaltige Entlastung der Gerichte? Dies kann zumBeispiel durch Übertragung verschiedener, bislang – wiees im Gesetzentwurf des Bundesrates formuliert ist –„den Gerichten zugewiesener Aufgaben aus dem Be-reich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die Notare er-reicht werden“.Dieses Thema ist in den zuständigen Fachkreisenüber Jahre sehr kontrovers behandelt worden. Das gehörtbei dieser Thematik dazu. Deshalb begrüße ich es, dasssich der Bundestag endlich damit beschäftigt.Der Bundesrat will mit seinen beiden Gesetzentwür-fen eine langjährige Diskussion beenden. Wer dieseDiskussion verfolgt hat, weiß, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe getagt hat und dass verschiedene Initiati-ven ergriffen worden sind. Der Bundesrat will jetzt dieVorschläge, über die sich Länder und Bund geeinigt ha-ben, auf die gesetzgeberische Zielgerade bringen. Auchwenn zu befürchten ist – Frau Kollegin Dyckmans undHerr Kollege Lischka haben es schon angesprochen –,dass es der Regierungskoalition wohl nicht gelingenwird, die erforderliche Zweidrittelmehrheit in diesemHause für die notwendige Grundgesetzänderung zu er-reichen, finde ich es trotzdem richtig und gut, dass wirüber diese Gesetzentwürfe debattieren und schauen, wasauf Bundesebene möglich ist. Ich freue mich, Herr Kol-lege Lischka, dass die SPD signalisiert, das sorgfältigprüfen zu wollen, und sich daran durchaus konstruktivbeteiligen will. Das war nicht immer die Haltung derSPD. Insofern ist das außerordentlich zu begrüßen.Ich möchte zu dem Thema einige Gedanken aus Sichtder Union darlegen. Über die Details werden wir in denAusschüssen intensivst beraten. Mir ist es auch wichtig,etwas zum Thema Justiz insgesamt zu sagen. Der Bun-desarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19985
Andrea Astrid Voßhoff
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CDU hat im Jahr 2006 ein immer noch aktuelles Posi-tionspapier erstellt. Ich finde, es wurde dort sehr treffendfestgestellt – ich zitiere –: Erstens.Die Justiz hat eine zentrale Rolle in unserem demo-kratischen, freiheitlichen und sozialen Staats-wesen. Ihre Funktion liegt vor allem in der Gewähr-leistung von Rechtssicherheit und Rechtsfriedendurch eine unabhängige Rechtsprechung. … Justizist nicht nur eine zentrale Staatsaufgabe, sondernzugleich auch ein immer wichtiger werdenderStandortfaktor im globalen wirtschaftlichen Wett-bewerb.Zweitens.Seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschlanderfüllt die Justiz diese Aufgaben in hervorragenderWeise. Sie hat maßgeblich zu einem hohen rechts-staatlichen Standard beigetragen, von dem Bürger,Wirtschaft und öffentliche Verwaltung profitieren.Nach wie vor braucht sich die Justiz in Deutschlandim internationalen Vergleich nicht zu verstecken.Die Rechtsprechung in Deutschland hat eine hoheQualität. Diese gilt es zu erhalten.
Drittens.Die unbestreitbaren Leistungen– so der BACDJ –der Vergangenheit dürfen jedoch nicht den Blickdarauf verstellen, dass sich die Rahmenbedingun-gen geändert haben. Die Justiz ist Teil der Gesell-schaft, diese Gesellschaft befindet sich in einemgrundlegenden Wandel. Maßstab für staatlichesHandeln ist deshalb nicht mehr das Wünschens-werte, sondern das unabdingbar Notwendige; selbstdieses zu finanzieren ist schwierig.Viertens. Aus dieser Situation folgt:Justiz schützt vor Unrecht; sie schafft Rechtssicher-heit und Rechtsklarheit. Diese rechtsstaatlichenGrundbedingungen und auch die Effekte hieraus fürGesellschaft und Wirtschaft sind unverzichtbar. Füreine auf qualitativ hohem Niveau arbeitendeRechtspflege ist die Justiz auch weiterhin auf eineangemessene finanzielle Ausstattung angewiesen.Diese Feststellung, meine Damen und Herren, istnach wie vor mehr als aktuell. Parteiübergreifend wer-den sich alle Rechtspolitiker sehr schnell darüber einigsein, dass wir den von den Finanzministern auch derLänder gestarteten Versuchen, auch die Justizhaushaltedem Spardiktat zu unterwerfen, immer wieder entgegen-treten müssen.
Aber diese Haltung darf die Augen nicht davor ver-schließen, dass strukturelle und nachhaltige Reformenauch in der Justiz unumgänglich sind. Hinter dieser all-gemeinen Feststellung können wir uns sicher alle finden,und sie ist auch unstreitig. Spannend wird es, wennstrukturelle Reformen konkret werden. Damit sind wirbei der Initiative des Bundesrates.Wie halten wir es mit der Frage, zur Entlastung derJustiz Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit aufNotare zu übertragen? Ich fand es sehr passend, dass derVorsitzende des Deutschen Notarvereins, Dr. Vossius,das einmal schön plakativ umschrieben hat, indem er da-von sprach, die „Vertriebsstrukturen der Ware Recht zureformieren“ und wie es gelingen kann, „die Ware Rechtnäher an den Kunden zu bringen“. Ich finde den Ver-gleich nicht nur treffend, er dokumentiert auch, worumes eigentlich gehen sollte: In Zeiten knapper öffentlicherKassen, was in manchen Ländern auch mit Schließungen– das ist hier schon gesagt worden – von Gerichtsstand-orten einhergeht, sollten wir alles daransetzen, eine bür-gernahe und flächendeckende Justizversorgung sicher-zustellen.Der Gesetzentwurf des Bundesrates will genau hierzueinen Beitrag leisten und hat vorgeschlagen – dies istheute erwähnt worden –, diverse justizielle Aufgabenaus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf dieNotare zu übertragen. Die freiwillige Gerichtsbarkeit– das wissen die Juristen – steht neben der streitigen Ge-richtsbarkeit und betrifft die Bereiche der Rechtsfür-sorge und der vorsorgenden Rechtspflege. Auf einemFachkongress im Jahr 2005 hat Professor Dr. Kirchneraus Berlin zur Historie der freiwilligen Gerichtsbarkeitsinngemäß gesagt, dass die Justiz – das sagt der Name –diese Aufgaben freiwillig übernommen hat. Ich zitiereihn:Freiwillige Gerichtsbarkeit hieß, das waren Aufga-ben, die keine Rechtsprechungsaufgaben waren unddie die Justiz freiwillig übernommen hat. … DerGerichtsbarkeit wurden bestimmte Aufgaben des-halb übertragen, nicht weil sie auf Rechtsprechungspezialisiert ist, sondern weil ihre Unabhängigkeitverfassungsgemäß gewährleistet ist.Gerade deshalb finde ich auch die Überlegungen derLänder konsequent und richtig, darüber nachzudenken,wie dieses für die Bürger so wichtige Rechtsgebiet ge-stärkt werden kann, wie es seinen Zweck besser errei-chen kann und wie unser qualitativ hoch angesehenesJustizwesen auch in diesem Bereich noch effektiver undbürgernäher gestaltet werden kann.Die Vorschläge der Länder führen in die richtigeRichtung. Ich teile die hier schon genannte Skepsis, wasdie Übertragung sämtlicher Tätigkeiten der Nachlassge-richte auf die Notare betrifft. Ich denke auch – es sindhier schon die Gründe genannt worden; diese teile ich –,es handelt sich um ein Unterfangen, das das Ziel nichterreichen wird. Über alle anderen Problemfelder kannman reden.Ebenfalls wurde bereits gesagt, dass wir als Koalitionschon im Bereich „Aufgabenübertragung auf Notare“tätig geworden sind, und zwar mit dem Testamentsregis-ter. Das muss ich hier nicht weiter ausführen. Es zeigt,dass wir das Thema nicht nur aufnehmen, sondern auchnach Möglichkeiten suchen, im Sinne der Bürger effek-tiv und effizient für eine verbesserte und bürgernahe Er-ledigung justizieller Aufgaben zu sorgen.
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19986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Andrea Astrid Voßhoff
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Des Weiteren ist auch über die Position und die Stel-lung der Notare sehr intensiv gesprochen worden; auchdas brauche ich eigentlich nicht zu wiederholen. Ich fandeinen Vergleich, den ich vor einiger Zeit gehört habe,sehr gut, dass nämlich der Notar – Träger eines öffentli-chen Amtes – laut dieser Definition im Grunde derverlängerte Arm der Justiz ist. Deshalb kann man dieAufgabenverlagerung auf Notare auch nicht als „Privati-sierung“ bezeichnen, vielmehr agiert der Notar in derFläche sozusagen als verlängerter Arm der Justiz.Über die Qualität und die Arbeit der Notare inDeutschland ist, glaube ich, hinreichend viel gesagt wor-den – zu Recht, wie ich finde. Demzufolge ist es allerMühe wert und sinnvoll – einen Anfang hat die christ-lich-liberale Koalition mit der Aufsetzung dieses Gesetz-entwurfes gemacht –, wenn wir uns mit den einzelnenPunkten auf Bundesebene sehr intensiv auseinanderset-zen. Wir sehen – das scheint sich ja abzuzeichnen –, dasses für eine Grundgesetzänderung keine Mehrheit gebenwird. Gleichwohl – das hat auch die Kollegin Dyckmansvorgetragen – gehen wir davon aus, dass es eine Vielzahlvon Aufgaben gibt, über die wir reden sollten und dieauch ohne Grundgesetzänderung umsetzbar sein könnten.Meine Damen und Herren von der Opposition, ichhöre, dass Sie sich daran konstruktiv beteiligen wollen.Das können wir nur begrüßen. Ich sagte es bereits: ImSinne einer bürgernahen und effizienten Justiz ist es alle-mal sinnvoll, dieses Thema aufzugreifen und zu einemguten Ergebnis zu bringen.Vielen Dank.
Jens Petermann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchen Initiativenwir uns hier befassen dürfen. Einige Bundesländer wol-len mit diesem Gesetzentwurf, letztlich auf dem Rückender Bürgerinnen und Bürger, ihre Justizverwaltung ver-schlanken. Eine Reihe von Aufgaben, die bisher von denGerichten erfüllt werden, soll zukünftig auf die Notareverlagert werden. Die Länder wollen auf die WeiseSach- und Personalkosten einsparen.Sicher wurde diese Idee nicht in den Justizministe-rien, sondern bei den Sparkommissaren der Finanz-ministerien geboren. Ich frage mich zum wiederholtenMal, welchen Stellenwert die Justizministerien als zu-ständige Organisatoren der rechtsprechenden Gewalt in-nerhalb der Landesregierungen haben. Man hat immerwieder den Eindruck, dass sie das 13. Rad am Wagensind.Das ganze Vorhaben hat aber auch Züge eines Schild-bürgerstreiches. Die Kostendeckung der Nachlassge-richte, deren Aufgaben auf die Notare übergehen sollen,liegt bei weit über 100 Prozent. Damit wäre der Einnah-meverlust für die Justiz bei einem Wegfall der Aufgabenhöher als eine denkbare Einsparung bei Personal- oderSachkosten.
Da stellt sich automatisch die Frage, welche Ideologiehinter diesem Plan steckt. Wollen die Bundesländerernsthaft eine der wenigen Einnahmequellen der Justizprivatisieren? Offensichtlich ja; denn sie versprechensich höhere Steuereinnahmen durch höhere Gewinne beiden Notaren. Das wäre ganz offensichtlich ein Geschäftzulasten Dritter, nämlich der rechtsuchenden Bürgerin-nen und Bürger, die letztlich die Zeche zahlen werden.Das wird mit der Linksfraktion nicht zu machen sein.
Die Folge wäre: Nachlassverfahren würden erheblichteurer als bisher. Ein Erbscheinverfahren kostete damitmindestens 19 Prozent mehr. Das nicht kostendeckendeBeschwerdeverfahren sowie das kostenfreie Erinne-rungsverfahren sollen bei den Amtsgerichten verbleiben,während die lukrativen Teile des Nachlassverfahrens aufdie Notare übertragen werden sollen.Die mögliche Freisetzung von Personal wird letztlichnur das Bedürfnis der Sparfanatiker auf Stellenstreichun-gen befriedigen, die Personalausstattung an den Gerich-ten jedoch keinesfalls verbessern. Die Finanzministerwerden die Stellen kassieren und zugleich höhere Steu-ereinnahmen erreichen, während die Einnahmen undAufgaben im Justizressort wegbrechen. Daraus ergebensich neue Argumente für die Diskussion um die Schlie-ßung von Gerichtsstandorten; da bin ich mir ziemlich si-cher. Das sollten sich die Justizminister, also die in derExekutive verankerten Sachwalter der dritten Gewalt, ei-gentlich nicht bieten lassen.
Die Bürgerinnen und Bürger haben einen gesetzlichenJustizgewährungsanspruch. Eine weitere Aushöhlungdurch Privatisierungen werden wir nicht akzeptieren.Die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Justiz darf durchweitere Privatisierungen nicht gefährdet werden.
Die Länder haben gemerkt, dass ihr Vorhaben mitdem Grundgesetz kollidieren wird, und wollen es darumgleich mit ändern; davon war hier schon mehrfach dieRede. Ich hoffe, dass das Vorhaben in diesem Haus keineMehrheit findet; das zeichnet sich bereits jetzt, in derersten Lesung, ab. Für diesen Schildbürgerstreich, liebeKolleginnen und Kollegen, lohnt es sich nun wirklichnicht, das Grundgesetz anzutasten.Der Gesetzentwurf suggeriert, dass es für den Bürgerzukünftig nur noch einen besonders qualifizierten An-sprechpartner für Erbsachen gibt: die Notariate. Da dieseaber auch beratend tätig werden, besteht ein Interessen-konflikt; Notare kann man nicht zu ihrem eigenen Kon-trollorgan machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19987
Jens Petermann
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Herr Stadler, an das Haus der Justizministerin gerich-tet: Ich denke, Ihnen wird sicher daran gelegen sein, dasses so bleibt, wie es ist. Ich hoffe, dass Sie helfen, dasVorhaben zu beerdigen. Denn diese Vorschläge führenzu einer schlechteren Ausstattung der Gerichte und zueiner Verteuerung justizieller Dienstleistungen für dieBürgerinnen und Bürger. Das ist diesmal mit Links nichtzu machen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ingrid Hönlinger hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundesrat beabsichtigt, mit den beiden Gesetzent-
würfen, über die wir heute hier im Bundestag debattie-
ren, Aufgaben aus dem Bereich der staatlichen Justiz
– es geht vor allem um Nachlasssachen – auf privat tä-
tige Notare zu übertragen. Damit bringt der Bundesrat
zwar nicht das Grundgerüst des deutschen Rechtssys-
tems ins Wanken, aber er rüttelt doch an einer der tra-
genden Säulen unseres Verfassungssystems: an der Jus-
tiz als staatliche Kernaufgabe.
Der Bundesrat erklärt, die Änderungen seien sowohl
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger als auch im Sinne
der Justiz. Wenn wir die Gesetzentwürfe an ihrer Bürger-
freundlichkeit messen, dann ergibt sich bei Nachlasssa-
chen folgendes Bild: Bisher können Erben ihren Erbschein
beim Nachlassgericht beantragen. Die Erbscheinserteilung
ist mehrwertsteuerfrei. Geht die Zuständigkeit für die Er-
teilung von Erbscheinen auf Notare über, fällt Mehrwert-
steuer an. Das heißt im Klartext, dass der Erbschein direkt
um 19 Prozent teurer wird. Das ist sicher nicht im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger, meine Damen und Herren.
Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Familienvater
verstirbt und hinterlässt eine Witwe und drei Kinder.
Nach geltendem Recht beantragen die Erben den Erb-
schein beim Nachlassgericht am letzten Wohnsitz des
Erblassers. Nach der vom Bundesrat vorgeschlagenen
Änderung entfällt das Amtsgericht als zentrale Anlauf-
stelle. Alle vier Beteiligten aus unserem Beispielsfall
können zu unterschiedlichen Notaren gehen. Das hat zur
Folge, dass das Verfahren aufgesplittert wird und für alle
unüberschaubar wird. Dazu kommt auch noch, dass
diese Regelung nicht einheitlich für das Bundesgebiet
gelten soll: Die Länder sollen entscheiden können, ob sie
die Neuregelung einführen wollen oder nicht. Das führt
dann zu einer endgültigen Rechtszersplitterung. Es ent-
steht ein Flickenteppich, der für die Bürgerinnen und
Bürger völlig undurchsichtig ist. Ein solches Vorhaben
können wir Grünen nicht unterstützen.
Messen wir die Gesetzentwürfe an ihrer Entlastungs-
funktion für die Justiz, die der Bundesrat ebenfalls als
Begründung vorbringt, so zeigt sich Folgendes: Gerade
in Nachlasssachen arbeiten die Gerichte in den Ländern
vollständig kostendeckend. Sie erzielen sogar Einnah-
men, die über den Ausgaben liegen. Hinzu kommt, dass
die Verfahrensordnung an den Nachlassgerichten von
dem System der freiwilligen Gerichtsbarkeit geprägt ist.
Hier gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Dieser sorgt da-
für, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen
aufklärt und damit die Rechtsuchenden unterstützt.
Diese Fürsorgefunktion ist die Grundlage dafür, dass das
Vertrauen der Rechtsuchenden in unsere funktionierende
und kompetente Gerichtsbarkeit sehr ausgeprägt ist. Da
stellt sich mir schon die Frage: Warum sollen wir ein
staatliches System, das funktioniert und zudem kosten-
deckend arbeitet, privatisieren?
Völlig unberücksichtigt lässt der Gesetzentwurf die
Folgen für die Gerichte selbst. Sollten die Nachlasssa-
chen auf Notare übertragen werden, gehen auch die da-
zugehörigen Akten auf das Notariat über. Das bedeutet
in der gerichtlichen Praxis: Andere Abteilungen der
Amtsgerichte, die auf die Akten angewiesen sind, zum
Beispiel Betreuungs-, Register- oder Insolvenzabteilun-
gen, müssen die Akten beim Notar anfordern und zum
Amtsgericht transportieren lassen. Das kann zu erhebli-
chen Verfahrensverzögerungen führen, die wiederum zu-
lasten der Bürgerinnen und Bürger gehen.
Aus all diesen Gründen sieht die Richter- und Rechts-
pflegerschaft keinen Mehrwert in den Gesetzentwürfen,
weder für die Justiz noch für die Bürgerinnen und Bür-
ger. Auch mir bleibt der praktische Vorteil des Gesetz-
entwurfs rätselhaft. Die Justiz, die entlastet werden soll,
sieht keinen Nutzen in der Neuregelung. Der Bürger
trifft auf Rechtszersplitterung und muss letztlich mehr
Kosten tragen; denn beim Notar fällt Mehrwertsteuer an.
Eine nicht zu erwartende Entlastung der Justiz hat eine
zu erwartende Belastung der Bürgerinnen und Bürger
zur Folge. Einem solchen Gesetzentwurf können wir
Grünen nicht zustimmen.
Danke.
Der Kollege Christoph Strässer hat seine Rede zuProtokoll gegeben.1) Insofern schließe ich die Ausspra-che.1) Anlage 5
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19988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 17/1469 und 17/1468 an dieAusschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnungfinden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatz-punkt 8 auf:14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Movassat, Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEDie deutschen Kolonialverbrechen im ehema-ligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermordanerkennen und wiedergutmachen– Drucksachen 17/8767, 17/8971 –Berichterstattung:Abgeordnete Hartwig Fischer
Heidemarie Wieczorek-ZeulMarina SchusterStefan LiebichHans-Christian StröbeleZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Beziehungen zwischen Deutschland undNamibia stärken und Deutschlands histori-scher Verantwortung gerecht werden– Drucksache 17/9033(neu) –Hierzu ist es vorgesehen, eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort derKollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die schrecklichen Gräueltaten, die im Namen des Kai-
serreichs an den Volksstämmen der Herero, Nama, Da-
mara und San verübt worden sind, kann man durch
nichts ungeschehen machen. Wir bekennen uns zu unse-
rem schweren historischen Erbe und der daraus erwach-
senden Verantwortung Deutschlands gegenüber Nami-
bia. Wir bedauern zutiefst die schrecklichen Gräueltaten.
Deswegen ist es richtig, dass sich der Bundestag in den
vergangenen Jahren immer wieder mit diesem Thema
befasst hat; denn die Erinnerung daran darf nicht ver-
blassen.
Dass es Deutschland und Namibia in Anbetracht un-
serer beschämenden Vergangenheit dennoch gelungen
ist, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, ist
eine große kulturelle, politische und auch entwicklungs-
politische Leistung unserer Nationen und der jeweiligen
Regierungen. Erst vor kurzem konnte ich eine namibi-
sche Delegation treffen. Es war ein sehr offenes Ge-
spräch, in dem Punkte der Zusammenarbeit angespro-
chen worden sind, zum Beispiel die Visapolitik und
wirtschaftliche Investitionen. Mein Kollege Michael
Kauch, stellvertretender Vorsitzender der Parlamenta-
riergruppe SADC-Staaten, wird noch ausführlich darauf
eingehen.
Deutschland hat Namibia bei den dringlichen Heraus-
forderungen der jeweiligen Zeit stets unterstützt. So war
es auch die intensive Unterstützung des damaligen Au-
ßenministers Hans-Dietrich Genscher, der sich für die
Resolution 435 der Vereinten Nationen eingesetzt hat,
die von südafrikanischer Mandatsherrschaft zu namibi-
scher Unabhängigkeit führte. Deutschland leistete zu-
dem finanzielle Starthilfe und gilt als größtes Geberland
der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns mit der
wichtigen Frage auseinandersetzen, wie wir unserer his-
torischen Verantwortung gegenüber Namibia heute am
besten gerecht werden können, dann könnte das dadurch
geschehen, dass wir die enge politische, kulturelle, wirt-
schaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit
weiter intensiv fortführen. Wir setzen auf verschiedene
Projekte, zum Beispiel auf die Förderung von Gemeinde-
entwicklung, kleinbäuerlicher Viehzucht, ländlicher Was-
serversorgung, Grundbildungsinfrastruktur und ländli-
chem Wegebau.
Es ist in dem Antrag der SPD und der Grünen auch
erwähnt worden, dass die Sonderinitiative – die Nami-
bian-German Special Initiative – nicht immer reibungs-
los und auch nicht so verläuft, wie wir uns das damals
vorgestellt haben. Es wurden ja 20 Millionen Euro be-
reitgestellt. Ich denke, es wäre sehr an der Zeit, dass wir
klären, worin die Ursachen liegen, damit davon ein
neuer Impuls ausgehen kann. Daran sollten wir ganz
konkret arbeiten.
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich es gut fände,
wenn wir weiterhin dazu auch über die Fraktionen hin-
weg im Dialog bleiben würden.
Vielen Dank.
Das Wort hat Heidemarie Wieczorek-Zeul für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Anfang März hat uns eine Delegation des namibischenParlamentes – Sie haben es erwähnt, Frau Schuster – hierim Deutschen Bundestag besucht. In all den Gesprächen– alle Fraktionen haben daran teilgenommen – haben wirzugesagt: Wir möchten endlich eine gemeinsame Parla-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19989
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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mentarierdelegation einsetzen, die gemeinsam die Ver-gangenheit aufarbeitet, die aber auch die gemeinsame Zu-kunft zwischen den Parlamenten und den Menschen inunseren beiden Ländern voranbringt.
Ich bitte Sie alle, dass Sie dieser Initiative zustimmen.In dem Antrag, den wir, die SPD-Bundestagsfraktion,und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grüneneingebracht haben, anerkennen wir die schwere Schuld,die – ich zitiere – „deutsche Kolonialtruppen mit demVerbrechen an den Herero, Nama, Damara und San aufsich geladen haben“ und betonen, „wie Historiker seitlangem belegt haben, dass der Vernichtungskrieg in Na-mibia von 1904–1908 ein Kriegsverbrechen und Völker-mord war“.Wir sagen:Der Deutsche Bundestag betont deshalb die fort-dauernde Verantwortung Deutschlands für die Zu-kunft Namibias.Und:Der Deutsche Bundestag bittet die Nachfahren derOpfer des im deutschen Namen geschehenen Un-rechts und zugefügten Leids an ihren Vorfahren umEntschuldigung.
Da diese koloniale Vergangenheit im öffentlichen Be-wusstsein – übrigens gilt das auch für die Schulen – oftnicht bekannt ist, will ich noch einmal daran erinnern: Diedeutschen Kolonialherren hatten Ende des 19. Jahrhun-derts die Bevölkerung im heutigen Namibia von ihremLand vertrieben. Als sich die Herero dagegen wehrten,führten die Truppen des Generals von Trotha gegen sieund die Nama einen Vernichtungskrieg. In seinem be-rüchtigten Schießbefehl befahl General von Trotha, jedenHerero – auch Frauen und Kinder – zu erschießen. DieÜberlebenden der Schlacht am Waterberg 1904 wurden indie Wüste getrieben. Sie verhungerten, sie verdursteten.Die Überlebenden wurden in Lager verschleppt und zurZwangsarbeit gezwungen. Viele Tausende haben dieseungeheure Brutalität nicht überlebt.Ich habe für die Bundesregierung in Namibia im Jahr2004 an der Gedenkfeier zum 100. Jahrestag teilgenom-men und in meiner Rede gesagt: Die damaligen Gräuel-taten waren das, was heute als Völkermord bezeichnetwerden würde. Und: Der General von Trotha würdeheutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt werden.Ich habe damals gesagt:Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen Vaterunserum Vergebung unserer Schuld.
Die Bitte um Vergebung wurde vom späteren namibi-schen Präsidenten Pohamba – damals war er noch Land-wirtschaftsminister – und vom Vertreter der HereroRiruako, angenommen.Ich habe damals die Verdoppelung der Mittel fürdeutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Namibia an-gekündigt. Dies habe ich umgesetzt, soweit mir dasmöglich war. Ich habe auch einen zusätzlichen Hilfs-fonds vorgesehen. Die Mittel sollten vor allem für dieEntwicklung in den Gebieten eingesetzt werden, in de-nen die heutigen Nachfahren der Volksgruppen leben,die besonders unter dieser deutschen Unterdrückung lei-den mussten. Diese Versöhnungsinitiative und die ge-plante Unterstützung für die betroffenen Gebiete sindaber nur langsam vorangekommen. Das wurde in denletzten Jahren offensichtlich verschleppt. Der Dialogzwischen den Parlamenten sollte neue Impulse bringen.Der Unterschied zwischen dem Antrag von SPD undGrünen und dem Antrag der Linksfraktion besteht darin,dass wir formelle Wiedergutmachungs- oder Entschädi-gungszahlungen, insbesondere individuelle, nicht fürsinnvoll und möglich halten. Wir sind dem Land Nami-bia als Ganzem verpflichtet. Individuelle Wiedergut-machungszahlungen sind ohnehin nicht möglich. Ichmöchte auch sagen, dass ich in all meinen Gesprächenmit den beteiligten Gruppen in Namibia immer wiederfestgestellt habe, dass es ihnen nicht um Reparationszah-lungen oder finanzielle Wiedergutmachung geht, son-dern darum, dass die Ungerechtigkeit, die ihre Vorfahrenerfahren haben, als solche beim Namen genannt und an-erkannt wird. Deshalb fordern wir die Bundesregierungauf, ihre bleibende Verantwortung für Namibia, „diepolitische und moralische Verantwortung für das histori-sche Unrecht zu übernehmen“ und das öffentlich anzuer-kennen.
In der letzten Debatte zu diesem Thema – das war dieerste Lesung des Antrags der Linksfraktion – ist vonsei-ten der CDU/CSU argumentiert worden, diese Verbre-chen könne und dürfe man nicht „Völkermord“ nennen.Ja, es ist richtig, dass die Konvention der Vereinten Na-tionen über die Verhütung und Bestrafung des Völker-mords erst 1948 beschlossen wurde. Das darf uns aberdoch nicht daran hindern, zu sagen: Das, was damals,1904 und danach, begangen wurde, nennen wir heuteVölkermord. So unzweideutig sollten wir es bezeichnen.
In unserem Antrag verlangen wir, ein weiteres düste-res Erbe der deutschen Geschichte endlich aufzuklären.In dem Vernichtungskrieg gegen die Herero begingendie damaligen deutschen sogenannten Rassenforscherein anderes widerwärtiges Verbrechen, indem sie sterbli-che Überreste von Gefallenen, Hingerichteten oder inden Zwangslagern Umgekommenen nach Deutschlandverschleppten, um sie zu konservieren. Es ist eineSchande für unser Land, dass es erst im September desletzten Jahres gelang, 20 Schädel dieser Menschen einerDelegation der Nachfahren der Herero zu übergeben.Diese Delegation kam zur Übergabe der Schädel nach
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19990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Berlin. Es befinden sich aber weitere sterbliche Über-reste in den Asservatenkammern deutscher Universitä-ten. Es muss in unser aller Interesse liegen, alle dieseGebeine in würdiger Form nach Namibia zu überführen.
Wir müssen die Wissenschaftler in Deutschland unter-stützen, die sich dieses Anliegen zur Aufgabe gemachthaben. Über 100 Jahre ist das her; aber es ist noch immernicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Ich hoffesehr, dass diese Debatte dazu beiträgt.Ich möchte an dieser Stelle insbesondere an den nami-bischen Bischof Kameeta erinnern, der im September ineinem bewegenden Gottesdienst hier in Berlin aus An-lass der Rückführung der Gebeine in der St.-Matthäus-Kirche der Opfer gedacht hat. Ich habe diesem Gottes-dienst beigewohnt. Bischof Kameeta hat gesagt – ichhabe seine Worte ins Deutsche übersetzt –:An die politischen Entscheider in Deutschland:Lassen Sie Ihre Gleichgültigkeit und das Verdrän-gen beiseite. Es geht um eine bessere, ehrliche, ver-trauensvolle, respektvolle Beziehung zwischenNamibia und Deutschland. Übernehmen Sie mora-lische und ethische Verantwortung für das, was vorhundert Jahren geschah, und sprechen Sie es un-zweideutig aus.Wir als Deutscher Bundestag sollten – das ist das Zieldes Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Bi-schof Kameetas Worte ernst nehmen. Wir fordern dieBundesregierung auf, dies endlich zu tun. Ich bin ganzsicher: Wir werden gemeinsam mit den Kolleginnen undKollegen in Namibia für eine gute Zukunft zusammenar-beiten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Egon Jüttner für die
CDU/CSU-Fraktion
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Alle Mitglieder des Hohen Hauses teilen dieBeurteilung, dass während der deutschen Kolonialzeitzwischen 1884 und 1915 schreckliche Dinge in Deutsch-Südwestafrika passiert sind. Den traurigen Höhepunktstellt dabei die brutale Niederschlagung des Aufstandesder Herero, Nama und Damara dar, in deren Folge Zehn-tausende Menschen auf grausamste Weise umkamen.Als im August 1904 der Aufstand der Herero niederge-worfen wurde, floh der größte Teil von ihnen in die fastwasserlose Kalahari-Wüste, wo sie mitsamt ihrenFrauen, Kindern und Rinderherden verdursteten.
– Ja. – Von rund 80 000 bis 100 000 Herero im Jahre1904 lebten 1911 nur noch 15 130. Die verbrecherischeund menschenverachtende Vorgehensweise bei der Nie-derschlagung der Revolte der Herero war bezeichnendfür die Denkweise der damals Verantwortlichen. Schondie Rhetorik der damals Handelnden, allen voran der alsVernichtungsbefehl in die Geschichte eingegangene„Aufruf an das Volk der Herero“ des verantwortlichenGenerals Lothar von Trotha, lässt uns heute erschaudernund beschämt uns zutiefst. Gefangene Herero und Namawurden von den Deutschen in eigens für sie errichteteKonzentrationslager gebracht. In diesen Lagern breitetensich schnell Krankheiten aus, die Tausende von Todes-opfern forderten. Nicht einmal die Hälfte der Gefange-nen überlebte den Aufenthalt in den Konzentrationsla-gern.Die umfassende Verurteilung der damaligen Ereig-nisse ist eine parteiunabhängige Konstante deutscherAußenpolitik. So wurden sowohl im Jahr 1989 unter derCDU/CSU-geführten Bundesregierung als auch im Jahre2004 unter der sozialdemokratisch geführten Bundesre-gierung weitreichende Anträge beschlossen, die dasdeutsch-namibische Verhältnis betreffen. In diesen An-trägen bekennen sich die Antragsteller zu Schuld undVerantwortung. Diese vom Bundestag verabschiedetenAnträge besitzen selbstverständlich auch für die heutigeBundesregierung volle Gültigkeit und stellen den Weg-weiser für ihre Namibia-Politik dar.Wir stehen nach wie vor zu unserer historischen undmoralischen Verantwortung für Namibia, wie sie bereitsmit der Entschließung des Bundestages im Jahre 1989zum Ausdruck gebracht worden ist. Wir stehen zu derbesonderen Beziehung Deutschlands zu Namibia. Soheißt es beispielsweise auf der Homepage des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung – ich zitiere –:Die Bundesregierung bekennt sich zu der besonde-ren historischen und moralischen Verantwortungvon Deutschland für Namibia. Der Deutsche Bun-destag hat in seiner Namibia-Entschließung von1989 das Konzept der besonderen VerantwortungDeutschlands gegenüber Namibia geprägt und inseiner Entschließung von 2004 ausdrücklichbekräftigt. Dieser Verantwortung wird die Bundes-regierung durch eine verstärkte bilaterale Zusam-menarbeit, vor allem in der Entwicklungszusam-menarbeit, gerecht.
Dieses Bekenntnis macht deutlich, dass sich die Bun-desrepublik Deutschland, an der Spitze die Bundesregie-rung, der historischen Verantwortung Deutschlands fürdie Ereignisse im ehemaligen Deutsch-Südwestafrikabewusst ist und zu ihrer Verantwortung steht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19991
Dr. Egon Jüttner
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Aus dieser Verantwortung ergeben sich die Verpflichtun-gen für die Gegenwart und für die Zukunft, denen sichdie Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit dennamibischen Partnern stellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die vonDeutschland eingegangenen Verpflichtungen zeigen,dass sich Deutschland seiner Vergangenheit stellt unddaraus Konsequenzen zieht. Diese schlagen sich im Ver-hältnis Deutschlands zu Namibia nieder. Integraler Be-standteil, tragende Säule und Ausdruck der besonderenBeziehungen zwischen Namibia und Deutschland ist da-bei, wie ich schon sagte, die Entwicklungspolitik. Seitder Unabhängigkeit Namibias vor 22 Jahren stehtDeutschland in einem besonderen Verhältnis zu Nami-bia, was die Entwicklungszusammenarbeit betrifft. Er-wähnt sei die seitherige Summe der deutschen Entwick-lungshilfe, die fast 700 Millionen Euro beträgt. Damit istNamibia nicht nur afrikaweit Spitzenreiter im Hinblickauf die deutschen Zuwendungen pro Einwohner. Viel-mehr war Namibia mit 15,80 Euro pro Kopf imJahre 2010 auch das Land, das weltweit die höchste Ent-wicklungshilfeleistung pro Einwohner erhielt.Im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenar-beit werden Fachkräfte entsandt und beispielsweise fürden Transportbereich Ausbildungsprogramme erarbeitet.Auch das Straßennetz wird verbessert. Bisher wurdenfast 1 000 Kilometer Straße mit deutscher Unterstützunggebaut oder erneuert. Im Jahre 2007 wurde die deutsch-namibische Sonderinitiative begonnen, für die Deutsch-land 20 Millionen Euro bereitgestellt hat. Mit diesenMitteln werden Maßnahmen der Kommunalentwicklungin den Siedlungsgebieten derjenigen Volksgruppen fi-nanziert, die unter der deutschen Kolonialherrschaft be-sonders gelitten haben. Die Sonderinitiative bezieht sichsowohl auf Armutsbekämpfung als auch auf die Förde-rung der Begegnung und Verständigung in bestimmtenRegionen Namibias.Der großen Bedeutung der deutschen Entwicklungs-hilfe, aber auch deutscher Investitionen sind sich beideRegierungen bewusst. Eine der größten Auslandsinvesti-tionen in Namibia ist das Zementwerk der deutschen Un-ternehmensgruppe Schwenk mit einem Investitionsvolu-men von 250 Millionen Euro. Für dieses Werk, das rund300 direkte und 2 000 indirekte Arbeitsplätze geschaffenhat, wurde im Jahre 2009 in Anwesenheit des Staats-präsidenten von Namibia der Grundstein gelegt. Im Fe-bruar 2010 nahm dann Bundesminister Dirk Niebel imRahmen seiner ersten Reise nach Namibia als Entwick-lungshilfeminister gemeinsam mit dem Premierministeram Richtfest für dieses Werk teil. Im Februar des ver-gangenen Jahres schließlich wurde das Werk in Anwe-senheit des Staatspräsidenten, des Premierministers undzahlreicher Mitglieder der namibischen Regierung inBetrieb genommen. Eine derart prominente offizielleBeteiligung von namibischer Seite zeigt die große Aner-kennung Namibias für das deutsche Engagement imwirtschaftlichen Bereich.Im kulturellen Bereich, um nur ein weiteres Beispielzu nennen, gibt es ebenfalls eine gute Zusammenarbeitzwischen Deutschland und Namibia. Bereits imJahre 1991 wurde ein bilaterales Kulturabkommen zwi-schen beiden Ländern geschlossen. Es umfasst weitrei-chende Kooperationen in den Bereichen Hochschule,Sprachförderung, Medien, Film, Literatur und Sport.Aus dem Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amtswurden bisher Projekte mit einem Volumen von fast1 Million Euro gefördert. Das Spektrum reicht von derRestaurierung der Felsmalereien am Brandberg bis hinzur Dokumentation mündlich überlieferter Stammestra-ditionen. Auch die deutsch-namibische Sportförderungist erwähnenswert. Ihre Schwerpunktaufgaben liegen inder Jugendförderung und in der Trainerausbildung.
Namibische Übungsleiter werden an der DFB-Sport-schule in Hennef und an der Universität Leipzig aus-gebildet.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich zulassen?
Ich möchte meinen Vortrag zu Ende führen; danke
schön.
Die deutschsprachige Gemeinschaft in Namibia
zeichnet sich durch ein aktives Kulturleben aus. Zeitun-
gen und Rundfunkprogramme zeugen von der tiefen
Verankerung der deutschen Sprache in Namibia. Hierzu
tragen auch zehn Schulen bei, an denen muttersprachli-
cher Deutschunterricht angeboten wird, und über
30 Schulen, an denen man Deutsch als Fremdsprache
lernen kann. Dies alles wird von der Bundesregierung
aktiv unterstützt.
Die Partnerschaft zwischen dem Land Bremen und
Namibia, die Städtepartnerschaften der Hauptstadt Wind-
huk mit Berlin, Bremen und Trossingen sowie der wach-
sende Tourismussektor mit über 80 000 deutschen Tou-
risten pro Jahr sind weitere Beispiele für die lebendigen
Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia.
Meine Damen und Herren, wir sollten alles tun, um
diese guten bilateralen Beziehungen nicht nur zu erhal-
ten, sondern möglichst auch weiter auszubauen, und wir
sollten das hohe Niveau der Entwicklungszusammenar-
beit ohne Wenn und Aber beibehalten; denn die Ent-
wicklungszusammenarbeit ist eine der tragenden Säulen
der besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und
Namibia.
Ich danke Ihnen.
Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort fürdie Fraktion Die Linke.
Metadaten/Kopzeile:
19992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Dr. Jüttner, ich habe mich bei weiten Teilen Ihrer Rede
gefragt, was Sie uns hier eigentlich sagen wollen. Wir
sprechen über eines der dunkelsten Kapitel der deut-
schen Geschichte, und darauf muss es heute Antworten
geben.
Zwischen 1904 und 1908 beging das deutsche Kaiser-
reich in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika,
dem heutigen Namibia, einen Völkermord. Deutsche
Soldaten ermordeten etwa 100 000 Menschen. Dieser
Teil unserer Geschichte wird gerne vergessen. Die
Frankfurter Rundschau schrieb zur Verdrängungskultur:
Welche Schande für ein Land, das sich auf seine
Vergangenheitsbewältigung so viel zugutehält.
Heute, einen Tag nach dem namibischen Unabhängig-
keitstag, wollen wir als Linke mit unserem Antrag zum
damaligen Völkermord einen Beitrag gegen das Verges-
sen, gegen die Schande und für Versöhnung leisten.
In der Kolonie Deutsch-Südwestafrika erhoben sich
1904 die Herero gegen die deutschen Besatzer. Sie woll-
ten ein Ende von Rassismus, Willkür und Unterdrü-
ckung. Die Vergeltung des Kaiserreichs war grausam.
Die Völker der Herero, Nama, Damara und San wurden
systematisch vernichtet. Sie wurden erschossen, erhängt,
oder man trieb sie in die Wüste und ließ sie dort verdurs-
ten. Viele starben in Konzentrationslagern und durch
Zwangsarbeit.
Was damals passierte, ist ein Verbrechen, eine
Schande. Dass sich die deutsche Politik bis heute wei-
gert, die damaligen Geschehnisse überhaupt einmal als
Völkermord zu benennen, ist ebenfalls eine Schande.
Mit vorgeschobenen rechtlichen Argumenten weigert
sich die Bundesregierung bis heute, die moralisch-histo-
rische Verantwortung zu übernehmen. Eine Schande ist
auch, dass es bis heute keine offizielle Entschuldigung
gab. Zwar hat sich die damalige Ministerin Wieczorek-
Zeul 2004 mit bewegenden und guten Worten entschul-
digt; aber keine Regierung hat diese Worte je als offiziel-
len Standpunkt übernommen. Stets wurde betont, es han-
dele sich um private Äußerungen. Auch das ist Teil der
fortgesetzten deutschen Schande.
Noch heute leiden die Herero und Nama unter den
Folgen der brutalen deutschen Kolonialzeit, beispiels-
weise bei Landfragen. Wiedergutmachung sollte hier an-
setzen. Man sollte einen Beitrag leisten, um die bis heute
vorhandenen strukturellen Nachteile auszugleichen.
Weil der rot-grüne Antrag die Wiedergutmachung aus-
klammert und unser Antrag weitergehend ist, werden
wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthal-
ten.
Herr Dr. Jüttner, Sie haben hier den Aspekt Wieder-
gutmachung mit der Entwicklungszusammenarbeit ver-
mischt. Das muss aber strikt getrennt werden.
Entwicklungshilfe ist immer an Bedingungen ge-
knüpft, die der Geber einseitig vorgibt. Klar sind Son-
derinitiativen und Entwicklungsgelder gut gemeint; aber
alle Beteiligten müssen einbezogen werden: Deutsch-
land, Namibia und die Nachkommen der Opfer. Versöh-
nung lässt sich nämlich nicht einseitig diktieren, sondern
erreicht man nur im Dialog.
Wir müssen auch hierzulande unsere Hausaufgaben
machen. Es ist eine Schande, dass heute noch Straßen in
unseren Städten nach Kolonialverbrechern benannt sind.
Wir brauchen Schulbücher, die über diese Verbrechen
und ihre Ursachen aufklären. Wir brauchen eine Bundes-
stiftung, um die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten.
Leider wird auch die heutige Abstimmung die
Schande weiter verlängern; denn beide vorliegenden An-
träge wird die Koalition ablehnen. Aber Sie halten es
nicht einmal für nötig, etwas Eigenes vorzulegen. Das ist
ein unwürdiger Umgang mit diesem wichtigen Thema.
Sie schaden so weiterhin den deutsch-namibischen
Beziehungen.
Hoffnung macht zumindest die Zivilgesellschaft in
Deutschland. Über 100 Initiativen haben einen Appell an
den Deutschen Bundestag unterschrieben. Vor der De-
batte organisierten diese eine Demonstration vor dem
Deutschen Bundestag unter dem Motto „Entschuldigung
sofort! Völkermord verjährt nicht!“.
Heute hat der Deutsche Bundestag die Chance, einen
Beitrag zur echten Versöhnung zu leisten. Lassen Sie uns
gemeinsam etwas gegen die anhaltende Schande tun.
Danke schön.
Uwe Kekeritz hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünendas Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19993
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(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Wir besprechen heute sicherlich ein sehr
wichtiges Thema. Ich möchte der Linken danken, dass
sie dieses Thema auf die heutige Tagesordnung gesetzt
hat.
Es stellt sich die Frage, warum die Aufarbeitung der
Gräueltaten in Namibia vor über 100 Jahren nicht schon
längst vollzogen wurde. Dafür mag es viele Gründe ge-
ben, und darüber müssen wir sehr intensiv nachdenken.
Warum auch immer: Wahrheit muss Wahrheit bleiben.
Es ist Deutschlands Pflicht, den Völkermord in Namibia
als solchen auch zu bezeichnen
und Namibia in einem würdigen Rahmen um Verzeihung
zu bitten. Nur so können wir eine tragfähige Grundlage
für eine gute und gemeinsame Zukunft mit Namibia le-
gen. Es ist für mich nicht akzeptabel, wenn dies mit for-
maljuristischen Argumenten verweigert wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Sitzung
des AwZ erinnern, in der sich die Vertreter der Regie-
rungskoalition auf die Konvention von 1948 berufen ha-
ben. Diese sei nach dem Völkermord verabschiedet wor-
den, und deswegen könne man nicht von Völkermord
reden. Ich denke, das ist nicht zu tolerieren. Völkermord
ist nämlich zunächst einmal gar kein juristisches Pro-
blem. Es ist ein menschliches Problem,
ein ethisches und ein moralisches Problem. Menschlich-
keit und Gerechtigkeit müssen dem kulturellen Bewusst-
sein entspringen und individuell im Kopf und im Herzen
verankert sein. Wenn das gegeben ist, dann ist eine Auf-
arbeitung durchaus möglich.
Paragrafen eignen sich eben nicht dazu, Verantwor-
tung loszuwerden. Wir müssen uns dieser stellen. Mit
formaljuristischen Argumenten hätte Deutschland – da-
rüber muss man sich klar sein – auch den Holocaust
nicht akzeptieren müssen, und das ist ein undenkbarer
Fall.
Wir sprechen heute auch über die Frage der morali-
schen und ethischen Integrität und das Selbstbewusstsein
Deutschlands. Die Beantwortung der Fragen zeigt, dass
wir uns nicht hinter Paragrafen verstecken können – und
auch nicht wollen. Feigheit vor der eigenen Vergangen-
heit kann keine deutsche Position sein.
Zur Aufarbeitung der deutsch-namibischen Ge-
schichte müssen wir die 2004 von der damaligen Minis-
terin Wieczorek-Zeul beispielgebende Aktion – dafür
möchte ich Ihnen noch heute danken; Sie haben damit
Geschichte geschrieben –,
die begonnene Versöhnungsinitiative, wieder aufgreifen.
Es muss natürlich auch geklärt werden, warum die da-
mals gesteckten Ziele nicht erreicht wurden. Ich gehe
jetzt nicht näher auf die Versöhnungsinitiative ein; Frau
Wieczorek-Zeul hat sie schon erklärt.
SPD und Linke haben immer darauf hingewiesen, wer
denn nun von namibischer Seite am Dialog mit den
Deutschen beteiligt sein muss. Ich möchte dies ergän-
zen: Auch die Frage, wer auf deutscher Seite beteiligt
sein soll, muss transparent und vor allen Dingen sinnvoll
entschieden werden.
Ich bin der Meinung, dass die Ergebnisse des Aussöh-
nungsdialogs sowohl im deutschen als auch im namibi-
schen Parlament würdig und feierlich öffentlich gemacht
werden müssen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Aber ich will das schon jetzt laut und deutlich sagen.
Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, dass wir
einen Schlussstrich ziehen. Wir alle haben den perma-
nenten Auftrag, beizutragen, dass schwere Menschen-
rechtsverletzungen zukünftig verhindert werden.
Wir müssen deshalb auch dafür sorgen, dass bereits in
unseren Schulen der Grundstein zu einer verantwor-
tungsbewussten Erinnerungskultur gelegt wird.
Wir müssen weg von der Verdrängungskultur.
Mit dem hoffentlich gemeinsam verabschiedeten An-
trag und mit der Versöhnungsinitiative senden wir ein
klares, weltweit vernehmbares Signal, dass Verbrechen
gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Kein Despot
darf sich jemals wieder in Sicherheit wiegen. Wir sollten
also heute kein Signal der Schwäche in die Welt senden.
Darum bitte ich Sie im Interesse der Würde Deutsch-
lands und einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit Nami-
bia um die Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön.
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben Verantwortung vor der Geschichte, und wir habenVerantwortung für die Zukunft. Verantwortungsüber-nahme für die Vergangenheit zeigt sich in der Über-nahme von Verantwortung durch Handeln, nicht alleindurch Worte. Deshalb finde ich es schon befremdlich,wenn hier gesagt wird, die Debatte über die bilateraleZusammenarbeit unserer beiden Länder gehöre nichtzum Thema. Es gehört zum Thema;
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19994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Michael Kauch
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denn die Übernahme der Verantwortung für die Vergan-genheit zeigt sich eben auch in den besonderen Bezie-hungen, die wir mit Namibia haben, die wir dadurch zei-gen, dass dieses Land pro Kopf der Bevölkerung diegrößte Hilfe im Rahmen der Entwicklungszusammenar-beit Deutschlands mit Afrika erhält. Das zeigt sich darin,dass unsere Länder auch kulturell weiterhin verbundensind. Kein Land in Afrika, keine ehemalige Kolonie inAfrika hat noch so viele Wurzeln deutscher Traditionund deutscher Kooperation, wie das in Namibia der Fallist.
Herr Kollege Kauch, der Kollege Liebich möchte Ih-
nen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Kauch, Sie haben recht: Die binationale
Zusammenarbeit ist ein Thema. Aber Worte – damit ha-
ben Sie eingeführt – spielen auch eine wichtige Rolle.
Deswegen interessiert mich tatsächlich und ganz im
Ernst: Was hindert die FDP-Fraktion eigentlich daran,
sich für einen Völkermord, den sie bereit ist, so zu nen-
nen, zu entschuldigen?
Die Kollegin Schuster hat die Frage nach der histori-
schen Schuld und der historischen Verantwortung unse-
res Landes für Namibia beantwortet.
Ich glaube, dass der Deutsche Bundestag in seinen Reso-
lutionen, die übrigens zum Teil in rot-grüner Regie-
rungszeit verabschiedet worden sind, hierzu die treffen-
den Worte gefunden hat. Ich finde es unpassend, wie hier
parteipolitisch instrumentalisiert wird.
– Lieber Kollege, wenn beispielsweise Frau Wieczorek-
Zeul, der ich das persönliche Engagement abnehme
und deren Worte, die sie damals gefunden hat, ich sehr
beeindruckend finde, gemeinsam mit der Fraktion der
Grünen einen Antrag stellt, deren damaliger Außen-
minister erklärt hat: „Das ist die Privatmeinung von Frau
Wieczorek-Zeul“, dann zeigt das, dass es keine Frage
der Fraktionszugehörigkeit ist, welche Worte man findet,
sondern dass es darum geht, dass alle Bundesregierun-
gen an ihrer Wortwahl und ihrer völkerrechtlichen Ein-
schätzung festgehalten haben. Das ist eben keine partei-
politische Auseinandersetzung.
Deshalb sollten wir uns der Frage widmen, wie wir
für die Zukunft vorankommen können, um dem namibi-
schen Volk deutlich zu machen, dass wir unsere histori-
sche Verantwortung und unsere besonderen Beziehun-
gen tatsächlich als solche anerkennen. Das Erste ist,
glaube ich, dass wir Anwalt Namibias in Europa sein
müssen. Ein Punkt ist sicherlich die Frage der Visapoli-
tik, also wie wir namibische Staatsbürger im Schengen-
Raum und namibische Geschäftsleute behandeln. Es ist
weder in unserem Interesse, noch ist es fair und ange-
messen gegenüber einem Land, das nicht nur deutsche
Kolonie war, sondern für das wir als Land auch beson-
dere Schuld und Verantwortung tragen.
Das muss sich ändern. Wir können das nicht alleine
tun, sondern wir müssen uns im Schengen-Raum dafür
einsetzen, dass die Visapraxis für die namibischen
Staatsbürger verbessert wird.
Wir müssen die umfangreiche Entwicklungszusam-
menarbeit fortführen und intensivieren. Wir müssen
auch darauf achten, dass insbesondere die Landstriche
Namibias Berücksichtigung finden, wo Herero, Damara
und Nama leben. Ich war diesen Januar in Damaraland
und weiß, dass es eine der ärmsten Regionen des Landes
ist. Deshalb muss man bei der Zusammenarbeit darauf
achten, dass die Hilfe genau dort landet.
Wenn wir wie 2004 aus der Sonderinitiative Projekte
finanzieren, dann müssen wir auch darauf achten, dass
dies beispielsweise im Rahmen der Landreform den
Menschen zugutekommt, die dort leben. Es ist nicht ak-
zeptabel, wenn Mittel vergeben werden, mit denen Men-
schen aus Windhuk Land kaufen, und diejenigen, die vor
Ort leben, vertrieben werden. Auch bei der Umsetzung
dieser Projekte gibt es Probleme. Das zeigt, dass wir
noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinkommen
wollen.
Das sind Dinge, die wir im Blick auf die Vergangen-
heit berücksichtigen müssen, aber eben auch im Blick
auf die Zukunft. – Da will jemand eine Zwischenfrage
stellen.
Das ist nicht mehr möglich. Sie ignorieren schon eine
ganze Weile das Minuszeichen.
Frau Präsidentin, ich möchte als einziger Vertreter derParlamentariergruppe der SADC-Staaten in der Debattenur auf einen Punkt eingehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19995
(C)
(B)
Nein, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kom-
men.
Ich würde mich freuen, wenn dieses Parlament we-
nigstens in der nächsten Wahlperiode eine Deutsch-
Namibische Parlamentariergruppe einsetzen würde. Wir
haben besondere Beziehungen zu diesem Land. Sie ma-
chen auch besondere Lösungen im Rahmen der Parla-
mentariergruppen erforderlich.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Die deutschen Kolonialverbrechen im
ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord an-
erkennen und wiedergutmachen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/8971, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/8767 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.
Zusatzpunkt 8. Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/9033 mit dem Titel „Die Beziehun-
gen zwischen Deutschland und Namibia stärken und
Deutschlands historischer Verantwortung gerecht wer-
den“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ab-
gelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-
– Drucksache 17/8987 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Günter Lach für die
Unionsfraktion, Gabriele Fograscher für die SPD-Frak-
tion, Serkan Tören für die FDP-Fraktion, Frank Tempel
für die Fraktion Die Linke und Wolfgang Wieland für
die Fraktion Die Grünen.
Es ist uns allen bekannt, dass die Struktur der deut-schen Waffenverwaltung äußerst heterogen und komplexist. Insgesamt sind gegenwärtig fast 600 dezentrale Waf-fenbehörden in den Ländern und Kommunen mit der Re-gistrierung und Archivierung im Zusammenhang mitdem Waffengesetz befasst. Sie arbeiten mit unterschied-lichen Systemen und sind nicht miteinander vernetzt.Darunter gibt es Waffenbehörden, die noch keine Waf-fendatei in elektronischer Form führen, sondernherkömmliche Karteikarten nutzen. Darüber hinausexistieren bisher auch keine einheitlichen Standards beiErfassung, Speicherung und Archivierung waffenrechtli-cher Daten. Dies soll sich mit der Einführung des Natio-nalen Waffenregisters in Deutschland nun ändern.Die Schaffung eines computergestützten NationalenWaffenregisters spätestens bis zum 31. Dezember 2014ist ein klarer Auftrag der EU-Waffenrichtlinie für alleMitgliedstaaten der EU. Diesem Auftrag kommt dieBundesregierung nun mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf nach. Mit § 43 a des Waffengesetzes wurden dieVorgaben der EU in nationales Recht umgesetzt. Dabeisind wir über die Mindestvorgaben der EU-Waffenricht-linie hinausgegangen und haben uns zum Ziel gesetzt,das Waffenregister in Deutschland bereits zwei Jahrefrüher, bis zum 31. Dezember 2012, zu errichten.In einer zweiten Stufe, beginnend 2013, sollen die Re-cherchemöglichkeiten weiter ausgebaut werden und In-formationen von Beschussämtern sowie vonseiten derWirtschaft, Waffenhersteller und Waffenhändler, einbe-zogen werden. Ab 2014 ist dann in einer dritten Stufeauch die elektronische Abwicklung von Verwaltungsvor-gängen vorgesehen.Mit der Errichtung des Nationalen Waffenregistersmachen wir in Deutschland einen entscheidendenSchritt zur Modernisierung des Waffenwesens. Es wer-den verbindliche Standards für die gesamte Waffen-verwaltung eingeführt, um den legalen privaten Waffen-besitz in Deutschland zu erfassen. Ziel ist es dabei,wesentliche Informationen über eine Waffe und derenVerbleib zentral zu speichern. Dafür sollen für mindes-tens 20 Jahre Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber, Serien-nummer von Waffen sowie Namen und Anschriften vonLieferanten und der Person, die die Waffe erwirbt oderbesitzt, registriert und gespeichert werden. Unter Beibe-haltung der föderalen Strukturen werden die in bisher577 lokalen Waffenbehörden erfassten Informationennun aufbereitet und in eine zentrale Datenbank über-führt. Die Datenerfassung und -aktualisierung wird da-bei weiterhin von den örtlichen Waffenbehörden vorge-nommen werden. Von dort werden die Daten übersichere Netze ans Nationale Waffenregister übermittelt.Erstmals wird dadurch die genaue Anzahl der legalenWaffenbesitzer und Schusswaffen in einer Datei nationalerfasst.Zur Aktualität der Daten trägt auch die Einbeziehungder Meldebehörden bei. So werden Vorgänge wie der
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19996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Günter Lach
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Umzug einer Person durch eine erleichterte Abwicklungschneller im Waffenregister vermerkt. Der schnellere In-formationsfluss ist auch im Fall von Überlassen und Er-werben von registrierten Waffen gewährleistet. Häufigsind in diesen Fällen dann zwei unterschiedliche Waf-fenbehörden zuständig. So erhält die für den Erwerberzuständige Stelle durch einen automatischen Daten-aktualisierungshinweis bereits frühzeitig Kenntnis vondem Vorgang. Diese Mechanismen unterstützen die Waf-fenbehörden vor Ort.So ist es mit dem neuen elektronischen Waffenregistermöglich, den Verbleib jeder legalen, erlaubnispflichti-gen Waffe nachzuvollziehen, und zwar stets aktuell undumgehend abrufbar. Mit Blick auf die Abfragemöglich-keit zeigt sich neben der Modernisierung ein weitererNutzen eines zentralen Waffenregisters.Dadurch wird die tägliche Arbeit der zuständigen Be-hörden, sei es Polizei, Verfassungsschutz oder Justiz, be-deutend erleichtert. Über das Nationale Waffenregisterist jederzeit schnell und unkompliziert ein Zugriff aufalle Daten möglich. Dies ist vor allem außerhalb der Bü-rozeiten der zuständigen Stellen wie am Abend und anden Wochenenden von Vorteil. Bislang ist eine Abfragebei der Vielzahl von Waffenbehörden ungeheuer aufwen-dig und zeitintensiv, weil jede Anfrage an eine der577 Waffenbehörden gestellt werden muss. Mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird dieArbeit der Behörden in Zukunft um ein Vielfaches er-leichtert. Damit leistet die Bundesregierung einen Bei-trag dazu, Straftaten in Zukunft noch effektiver verfolgenund aufklären zu können.Das Nationale Waffenregister leistet damit einenwichtigen Beitrag zur weiteren Gewährleistung der in-neren Sicherheit. Besonders in außerordentlichen undunvorhersehbaren Situationen sind aktuelle und schnellabrufbare Informationen zum besseren Schutz unsererBevölkerung enorm wichtig. Uns allen sind die schreck-lichen Amokläufe von Winnenden und Erfurt noch im-mer im Gedächtnis, und wir werden diese auch niemalsvergessen können. In solch dramatischen Fällen wieAmokläufen, aber auch bei Geiselnahmen und anderenGewalttaten brauchen die Sicherheitsbehörden sofortigeund umfassende Informationen über Täter und Bewaff-nung. Dadurch können Gefahrenlagen von den Einsatz-kräften besser beurteilt und die angemessenen Maßnah-men zum Schutz der Betroffenen und zur Sicherheitunserer Polizeibeamten ergriffen werden. Aktualität undVerfügbarkeit von Informationen sind in diesen Situatio-nen entscheidend. Hier dient die Errichtung des Natio-nalen Waffenregisters vor allem der Gefahrenabwehrund bietet mehr Sicherheit.Mit der zentralen Abfrage- und Recherchemöglich-keit zu den im Privatbesitz befindlichen erlaubnispflich-tigen Schusswaffen über das Nationale Waffenregisterwird eine langjährige polizeiliche Forderung nun reali-siert.Im vorliegenden Errichtungsgesetz wird genau abge-grenzt, wer mit welchen Rechten was sehen darf. Dabeiwerden die Daten prinzipiell nur auf Anfrage übermit-telt. Vorgesehene Nutzer sind die Waffenbehörden, dieBundes- und Länderpolizei, Justiz- und Zollbehörden,der Verfassungsschutz von Bund und Ländern, der Bun-desnachrichtendienst und der Militärische Abschirm-dienst. Bei jeder Anfrage tragen die ersuchenden Stellendie Verantwortung hinsichtlich der Zulässigkeit der Da-tenübermittlung. Das grundsätzlich vorgesehene Verfah-ren zur Datenabfrage ist die Einzelauskunft. Dabei istdas Objekt umfassend bekannt. Für die Datenabfragemüssen Mindestangaben zum Objekt gemacht werden.Um besonders polizeiliche Ermittlungen zu erleichternund zu beschleunigen, werden in dringenden Fällen undbei mangelhafter Informationslage Gruppenauskünfteanhand spezifischer Merkmale ermöglicht. Zu diesenbesonderen Fällen zählen beispielsweise Situationen miteiner gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben, Gesund-heit oder Freiheit einer Person. Das dritte Verfahrenund ein zentraler Vorteil bei der Ausgestaltung des Na-tionalen Waffenregisters ist das automatisierte Verfah-ren. Um den Datenabruf möglichst effizient zu gestalten,können diese Stellen die Eilfälle sofort abrufen. Durchdie verbesserte Informationslage und die somit erleich-terte Lagebeurteilung tragen wir wesentlich zum Schutzder Betroffenen und unserer Einsatzkräfte bei.Vor dem Hintergrund der Sensibilität von personen-bezogenen Daten wird bei der Errichtung des Nationa-len Waffenregisters großer Wert auf Datensicherheit undDatenschutz gelegt. Die bereits heute hohen Anforde-rungen, die an die Waffenbehörden diesbezüglich ge-stellt werden, bekommen durch die große Menge des zuerwartenden waffenrechtlichen Datenbestands hier einebesondere Bedeutung. Für Datenübermittlungen undAuskünfte aus dem Nationalen Waffenregister sind aus-schließlich Verwaltungsnetze zugelassen. Eine Kommu-nikation mit der zentralen Komponente über das Inter-net ist ausgeschlossen. In Abstimmung mit demBundesamt für die Sicherheit in der Informationstech-nik, BSI, wird vom Bundesverwaltungsamt, BVA, als Re-gisterbehörde der Einsatz obligatorischer Verschlüsse-lungstechniken vorgegeben. Weiterhin muss jedeörtliche Waffenbehörde ein IT-Sicherheitskonzept erstel-len und bestehende Maßnahmen zur Datensicherheit ge-gebenenfalls ausbauen. Diese hohen Sicherheitsanfor-derungen sind vor dem Hintergrund der komplexenföderalen Struktur unabdingbar.Strenge Maßstäbe gelten auch für die abfragendenStellen. Erstens werden bei Statistiken und Auswertun-gen keine personenbezogenen Daten verarbeitet. Zwei-tens ist die Datenabfrage auch in Eilfällen und beim au-tomatisierten Verfahren nur nach strengen Vorgaben zunutzen. So ist beispielsweise bei jeder Abfrage ein Ver-wendungszweck anzugeben. Hierbei müssen die abfra-genden Stellen sicherstellen, dass die Übermittlung derInformation zulässig ist. Drittens hat die Registerstellestrikt vorgegebene Protokollierungspflichten. Dadurcherfolgen die Datenschutzkontrolle, die Datensicherungund die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Daten-verarbeitung. Jede Nutzung darf ausschließlich mit demdafür entwickelten Datenaustauschstandard „XWaffe“erfolgen.Deutschland gehört zu den Ländern mit den schärfs-ten Waffengesetzen weltweit. Die Hürden zum ErwerbZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19997
Günter Lach
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von legalen Feuerwaffen in Deutschland sind sehr hoch.Wer eine Waffe erwerben und besitzen möchte, muss dasgesetzliche Mindestalter haben sowie ein entsprechendesBedürfnis nachweisen, zum Beispiel als Sportschützeoder Jäger. Damit verbunden sind hohe Anforderungenan Aufbewahrung, Zuverlässigkeit und persönliche Eig-nung. Hinzu kommt eine Prüfung von Sachkunde undUmgang mit Waffen. Auch wenn in der Kriminalstatistiklegale Waffen bei Gewaltverbrechen kaum eine Rollespielen, so kann durch die Erfassung legaler Waffenbe-sitzer bereits ein Sicherheitsgewinn erzielt werden.Uns liegt hier ein Entwurf vor, der die Anforderungender EU erfüllt und das Waffenwesen in Deutschlandsinnvoll weiterentwickelt und modernisiert. Von einemaktuellen und jederzeit abrufbaren Register profitierenvor allem auch unsere Polizeibeamten. Denn insbeson-dere die Sicherheitsbehörden werden so bei der Bewälti-gung von Einsatzlagen und bei polizeilichen Ermittlungenunterstützt. Vielleicht ist das Nationale Waffenregisterauch ein erster Schritt hin zu einer internationalen Do-kumentation des gesamten Lebenszyklus einer Waffe,ähnlich wie die Fahrgestellnummer im Bereich der Au-tomobilherstellung. So könnte der Strom von Waffen aufden illegalen Markt besser kontrolliert und verringertwerden. Denn dies sollte unser aller Ziel sein. Die Redu-zierung von illegalen Waffen ist ein weiterer Schritt zumehr Sicherheit in unserer Gesellschaft.
In der Richtlinie 2008/51/EG des Europäischen Par-laments und des Rates vom 21. Mai 2008 heißt es inArt. 4 Abs. 4: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge,dass spätestens bis 31. Dezember 2014 ein computerge-stütztes zentral oder dezentral eingerichtetes Waffenre-gister eingeführt und stets auf dem aktuellen Stand ge-halten wird, in dem jede unter die Richtlinie fallendeWaffe registriert ist, und das den zuständigen Behördenden Zugang zu den gespeicherten Daten gewährleistet.In diesem Waffenregister werden für mindestens20 Jahre Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber, Seriennummersowie Namen und Anschriften des Lieferanten und derPerson, die die Waffe erwirbt oder besitzt, registriertund gespeichert.“Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der dem Bun-destag am 14. März 2012 zugeleitet wurde, soll dieseEU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden.Gerne hätten meine Fraktion und ich uns bereits frü-her mit diesem Gesetzentwurf befasst, doch leider hatdas zuständige Bundesinnenministerium den Text Mitteletzten Jahres nur dem Bundesrat und den Koalitions-fraktionen zugeleitet. In einer schriftlichen Frage zu die-sem Zeitverzug erklärte der Parlamentarische Staatsse-kretär Schröder, dass die förmliche Beteiligung derFraktionen im Rahmen der Ausschussberatungen statt-finden werde. Das ist ein grober Verstoß gegen die Ge-meinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, diein § 48 Abs. 2 vorschreibt, dass ein Gesetzentwurf, wenner den Ländern zugeleitet wird, auch den Geschäftsstel-len der Fraktionen zur Kenntnis zu geben ist. Das ist indiesem Falle nicht geschehen. Ich fordere das BMI auf,das Parlament künftig zu respektieren und sich an dierechtlichen Vorschriften zu halten.Bei der letzten Novellierung des Waffenrechts 2009haben wir in § 43 a festgeschrieben: „Bis zum 31. De-zember 2012 ist ein Nationales Waffenregister zu errich-ten, in dem bundesweit insbesondere Schusswaffen, de-ren Erwerb und Besitz der Erlaubnis bedürfen, sowieDaten von Erwerbern, Besitzern und Überlassern dieserSchusswaffen elektronisch auswertbar zu erfassen undauf aktuellem Stand zu halten sind.“Es ist gut, dass das Waffenregister zwei Jahre früherkommt, als die EU-Richtlinie es fordert. Ein solches Re-gister ist längst überfällig.Derzeit gibt es in Deutschland rund 570 Waffenbe-hörden, die untereinander nicht vernetzt sind. Um diesemiteinander zu vernetzen, müssten die Funktionalitätund der Datenbestand denselben Anforderungen ent-sprechen. Das ist nicht der Fall. Damit aber die Sicher-heitsbehörden im Einsatzfall Zugriff auf diese für sie imErnstfall lebenswichtigen Daten haben, müssten sie mitallen 577 Waffenbehörden vernetzt sein. Das ist nichtpraktikabel und auch zeitlich nicht leistbar.Das zu errichtende nationale Waffenregister, dasbeim Bundesverwaltungsamt angesiedelt werden soll,soll nun alle Daten zusammenführen, die Erhebung derDaten soll aber weiterhin hin bei den Waffenbehördenliegen. Dadurch werden erstmals in Deutschland ver-lässliche Daten über die Anzahl von Besitzern und lega-len Waffen vorliegen.Der gesamte Lebenszyklus einer legalen, erlaubnis-pflichtigen Waffe wird vom Hersteller bis zum Endbesit-zer mit allen Angaben unter anderem zu Modell und Ka-liber nachvollziehbar sein. Lange Ermittlungsverfahrender Polizei werden so überflüssig. Bereits vor einemEinsatz können die Sicherheitsbehörden dann abfragen,ob sie am Einsatzort mit legalen Waffen zu rechnen ha-ben.Die im Nationalen Waffenregister überörtlich ver-netzten Waffendaten werden den Waffenbehörden desBundes und der Länder sowie auch der Polizei zur Ver-fügung stehen, die damit auf verlässliche, überregionaleInformationen zu Waffen, Erlaubnissen und deren Inha-bern zugreifen können.Das Waffenregister soll in drei Stufen aufgebaut wer-den. Bis Ende dieses Jahres soll das zentrale Waffen-register aufgebaut und mit den dezentralen Systemen derWaffenbehörden verbunden werden. So werden alle Da-ten zusammengeführt, und bundesweite Abfragen wer-den ermöglicht.In der zweiten Stufe sollen der Datenbestand gerei-nigt, Hersteller und Händler eingebunden und die Re-cherchemöglichkeiten ausgebaut werden. Ab 2014 sol-len dann Onlinelösungen für die Bürgerinnen undBürger eingerichtet werden.Waffenrecht ist ein sehr emotionales Thema. JedeVeränderung der geltenden Vorschriften führt zu ange-regten Diskussion, sowohl auf der Seite der legalen Waf-fenbesitzerinnen und Waffenbesitzer als auch auf derZu Protokoll gegebene Reden
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19998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Gabriele Fograscher
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Seite der Bürgerinnen und Bürger, die keine Waffen be-sitzen. Das ist auch bei dem Vorhaben, ein NationalesWaffenregister zu erstellen, so. In den einschlägigen Fo-ren, in denen sich Waffenbesitzer austauschen, wird ge-gen das Waffenregister Stimmung gemacht.Meine Fraktion und ich unterstützen die Errichtungdieses Waffenregisters. Das tut auch die Gewerkschaftder Polizei. Der GdP-Vorsitzende Bernhard Witthaut er-klärte dazu: „Wir hoffen, dass das Gesetz zügig be-schlossen wird und in Kraft treten kann. Es ist für diePolizei überlebenswichtig, bei einer Fahndung oder voreinem Einsatz schnell erfahren zu können, ob sie Perso-nen antreffen, die über – zumindest legale – Waffen ver-fügen oder ob Waffen im Haus sind. Dabei hilft die ge-plante zentrale Leitstelle.“Durch das Waffenregister wird niemand kriminali-siert oder unter Generalverdacht gestellt.Wenn wir heute über das Waffenrecht diskutieren,sollten wir auch überlegen, wie es verhindert werdenkann, dass Rechtsextremisten legal Waffen erwerbenkönnen. Nach § 5 Waffengesetz gelten Antragsteller wieWaffenbesitzer als unzuverlässig, wenn sie Bestrebun-gen gegen die verfassungsmäßige Ordnung verfolgenoder unterstützen. Ihnen kann die Zuverlässigkeit aber-kannt bzw. gar nicht erst zuerkannt werden.Das Land Nordrhein-Westfalen plant eine Initiativezur Änderung des Waffengesetzes. Bisher gebe es keineRegelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern, um Er-kenntnisse über die Verfassungsfeindlichkeit des Antrag-stellers einer waffenrechtlichen Erlaubnis erlangen zukönnen, erklärte der NRW-Innenminister Jäger. Deshalbmüsse der Verfassungsschutz bei der waffenrechtlichenZuverlässigkeitsprüfung zukünftig immer beteiligt wer-den.Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt diesen Vor-schlag.
Auf der heutigen Tagesordnung steht ein Gesetzent-wurf der Bundesregierung zur Einrichtung eines Natio-nalen Waffenregisters. Worum geht es bei diesem neuenRegister, und müssen wir so etwas in Deutschland ein-führen?Mit der Einrichtung dieses Nationalen Waffenregis-ters kommen wir internationalen, europäischen und na-tionalen Verpflichtungen nach. Auf internationalerEbene ist dies das Übereinkommen der Vereinten Natio-nen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität,genauer gesagt die Bekämpfung des unerlaubten Waf-fenhandels. Auf europäischer Ebene sind dies zweiRichtlinien, die Teil der Umsetzung des Übereinkom-mens der Vereinten Nationen sind und auf europäischerEbene zu einer Kontrolle des Erwerbs und des Besitzesvon Waffen führen werden. Schließlich wird mit dem Ge-setzentwurf auch eine Verpflichtung aus dem deutschenWaffengesetz umgesetzt, die uns dazu verpflichtet, bisEnde 2012 ein computergestütztes Nationales Waffenre-gister einzuführen.Worum geht es nun im Einzelnen? Man könnte sich jadie Frage stellen: Wie werden denn bisher die legalenWaffen in privater Hand registriert und verwaltet? Bisjetzt scheint doch auch alles wunderbar funktioniert zuhaben.Derzeit gibt es insgesamt 577 Waffenbehörden inDeutschland, von denen jede für sich die legalen Waffenregistriert und verwaltet. Eine einheitliche Lösung gibtes in Deutschland bis heute nicht. Dies wiederum führtzu dem Umstand, dass niemand eigentlich genau weiß,wie viele legale Waffen es in Deutschland überhauptgibt. Mit der nun geplanten Einführung des nationalenRegisters bekommen wir diesbezüglich Klarheit.Zudem werden die 577 Waffenbehörden in Deutsch-land auf einen einheitlichen Stand gebracht. Insellösun-gen, ob auf Papier oder digital, wird es dann nicht mehrgeben. Mit dem neuen digitalen System bekommtDeutschland eine einheitliche Verwaltung legaler Waf-fen und der dazugehörigen waffenrechtlichen Erlaub-nisse. In einem modernen Staat sollte so etwas eigentlichStandard sein.Diese moderne Art der Verwaltung der Waffen wirdsowohl für staatliche Stellen als auch für den Bürger ei-nen Mehrwert bringen. Staatliche Stellen sind schnellerin der Lage, waffenrechtliche Abfragen im Rahmen ihrerErmittlungen und Aufgaben durchzuführen. Dies wirdsicherlich in dem einen oder anderen Fall Ermittlungenim Rahmen von Verbrechen beschleunigen. Aber auchWaffenbesitzer, die bei Jagden oder bei sportlichen Ver-anstaltungen ihre Waffen vertauscht haben, könnendiese schneller wieder zurücktauschen. Die bisher lang-wierigen Abfragen bei anderen Waffenbehörden werdenwegen des Registers zukünftig entfallen.Bei einer zentral geführten Datenbank wird der eineoder andere sicherlich Befürchtungen bezüglich der Si-cherheit der sehr sensiblen Daten haben, die dort ge-führt werden. Hierzu möchte ich anmerken, dass wir alsFDP im Bereich der Datensicherheit ein ganz besonde-res Augenmerk darauf legen werden, dass diese neueDatenbank den höchsten Sicherheitsansprüchen genü-gen wird.Sie sehen, Sicherheit und eine moderne und effizienteStaatsverwaltung liegen uns Liberalen am Herzen. Woimmer möglich, werde ich mich dafür einsetzen, dass dieSicherheit der Bürger an oberster Stelle steht. Allerdingslehne ich reine Symbolpolitik ab.Apropos Symbolpolitik: Rot-Grün ist derzeit dabei, inBremen einen Feldzug gegen Jäger und Sportschützenzu planen. Zunächst wurde der Senat durch die Bürger-schaft der Hansestadt aufgefordert, die Einführung ei-ner Waffensteuer zu prüfen. Diese Idee hat der BremerSenat nun gestoppt. Begründet wurde dies damit, dassder fiskalische Nutzen einer solchen Steuer in keinemVerhältnis zu dem Aufwand steht, der für die Eintreibungder Steuer nötig wäre. Zudem fürchtet der Senat einmögliches Prozessrisiko, welches die Einführung einerWaffensteuer nach sich ziehe würde. Nun ist eine Ge-bühr für die Kontrolle der Legalwaffenbesitzer in Höhevon 150 Euro im Gespräch. Die Zielrichtung ist aber dieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19999
Serkan Tören
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gleiche wie bei der angedachten Steuer. GesetzestreuenJägern und Schützen will man das Hobby bzw. ihre Ar-beit vermiesen und sie auf diesem Wege zur Abgabe ih-rer Waffen zwingen. Aber glaubt denn jemand ernsthaft,dass Deutschland sicherer wird, wenn Jäger und Schüt-zen aufgrund hoher Gebühren ihre Waffen notgedrungenabgeben? Dies ist eine Illusion. Die Gefahr geht von denillegalen Waffen aus, die in Deutschland zirkulieren.Dies zeigt jede Statistik. Legalwaffenbesitzer sind nichtdie Gefahrenquelle in Deutschland.Kommen Sie mit Ideen, die eine echte Steigerung derSicherheit oder einen anderen Mehrwert bringen. Da-rüber können wir immer reden. Dieses neue NationaleWaffenregister wird allen Beteiligten vieles erleichtern.Darum unterstützen wir als FDP die Einführung des Re-gisters.
Waffen stellen ein hohes Gefährdungspozenzial für
die Gesellschaft dar. Deshalb ist der Eingriff in verfas-
sungsmäßige Rechte von Bürgerinnen und Bürgern zum
Beispiel in das informelle Selbstbestimmungsrecht, das
mit der Einrichtung des Nationalen Waffenregisters ein-
hergeht, durchaus angemessen. Für den Einsatz von
Polizeikräften ergibt sich aus dem Wissen um das Vor-
handensein von Waffen ein deutlicher Sicherheitsge-
winn. In meiner kriminalpolizeilichen Tätigkeit gab es
des Öfteren Situationen, in denen die Einsatztaktik mit
dem Wissen um das Vorhandensein von Waffen, zum Bei-
spiel bei Hausdurchsuchungen zu Anklagen schwerer
Kriminalität, durchaus anders ausgefallen wäre.
Der Staat hat nun einmal eine Fürsorgepflicht gegen-
über seinen Beamtinnen und Beamten. Mit der Einrich-
tung des Waffenregisters nimmt er dieses war. Weiterhin
wird es möglich, den Lebensweg von Waffen nachzuvoll-
ziehen und somit Verstöße gegen das Waffenrecht oder
gar das Verschwinden von Waffen im illegalen Markt er-
heblich zu erschweren. Ein zusätzlicher Effekt ist der
verringerte Aufwand in den Waffenbehörden und ein
schnellerer Zugriff auf die Daten. Bisher mussten
577 Behörden abgefragt werden, um Informationen zu
einer Waffe oder zu Waffenbesitzern zu erhalten. Der
Datenabgleich zwischen den Behörden bei Umzug von
Besitzern, bei Verkauf oder bei der Überlassung von
Waffen war fehlerbehaftet und der Eintrag mit Verzöge-
rungen verbunden.
Zu Anfang sagte ich, dass der Eingriff in die Grund-
rechte, der mit diesem Register verbunden ist, verhält-
nismäßig sei. Das rechtfertigt aber nicht, dass die Koali-
tionsfraktionen und der Bundesrat den Datenschutz
wieder einmal hintenanstellen.
Was soll zum Beispiel diese locker gehandhabte auto-
matisierte Abfragemöglichkeit? Eine einmalige Bean-
tragung ist für eine Institution ausreichend, um letztlich
einen immerwährenden Datenbankzugriff zu erhalten.
Geht es nach der Stellungnahme des Bundesrates, soll
sogar die Begründungspflicht von Übermittlungsersu-
chen wegfallen. Dann gäbe es keinerlei Überprüfbarkeit
der Rechtmäßigkeit von Abfragen. Diese liegt laut Ge-
setz bei der abrufenden Behörde. Dies ist an sich schon
problematisch, weil eine Selbstkontrolle von Institutio-
nen üblicherweise wenig effektiv ist. So bleibt also eine
rein technische Protokollierung, welche das allgemeine
Zugriffsrecht, aber nicht die Rechtmäßigkeit der einzel-
nen Abfrage überprüft.
Die im Gesetz vorgesehene Zugriffsmöglichkeit für
Geheimdienste ist nun gar nicht mehr nachvollziehbar.
Wieso sollten Institutionen, die keine Strafverfolgungs-
behörden sind, die keine Hausdurchsuchungen vorneh-
men und niemanden in Gewahrsam bringen dürfen, Zu-
griff erhalten? Aber solcherlei Fragen sind den meisten
Innenministerien dieser Bundesrepublik offensichtlich
völlig fremd. Konsequenterweise will dann auch der
Bundesrat in seiner Stellungnahme die letzten Beschrän-
kungen des Zugriffs der Geheimdienste auf das Waffen-
register aus dem Gesetzentwurf verbannen. Da kann
man nur noch sarkastisch nachfragen, ob dann wenigs-
tens die Überprüfung der „persönlichen Eignung“ von
vorbestraften Rechtsextremen besser realisiert werden
wird.
Verschiedene Prinzipien des Datenschutzes sind Ih-
nen, sehr geehrte Kollegen der Regierungskoalition, of-
fensichtlich unbekannt. Auf jeden Fall haben Sie diese
nicht wirklich verinnerlicht. Datenminimierung, Zu-
griffsbeschränkung auf die wirklich betroffenen Behör-
den, äußere und innere Kontrolle von Zugriffsberechti-
gungen bei anbietenden und abfragenden Behörden,
inhaltliche Protokollierung und damit rechtliche Nach-
prüfbarkeit – alles Dinge, die nicht wirklich gewährleis-
tet werden. Datenschutz wird bei Ihnen offensichtlich
nur noch als Behinderung der Ermittlungsarbeit und
nicht als Element unserer demokratischen Grundord-
nung wahrgenommen.
Trotz des sinnvollen Ansatzes kann die Bundestags-
fraktion der Linken diesem Gesetzentwurf in der vorlie-
genden Form nicht zustimmen. Wir werden uns enthal-
ten.
Als Grüner steht man der Einführung neuer Dateienja zunächst grundsätzlich skeptisch gegenüber. Dennallzu oft wird da mehr der Sammeltrieb befriedigt, alsauf die Verhältnismäßigkeit geachtet. Dann wird einegrundsätzlich zweckdienliche Datei mit so vielen Hin-tertüren versehen und mit so vielen Eintragungsgründenaufgeblasen, dass sie ihren Zweck kaum noch erfüllt,aber die Grundrechte erheblich beeinträchtigt werden.Das Nationale Waffenregister, die Datei, über die wirheute reden, kann ich trotz dieser skeptischen Grundhal-tung nur begrüßen. Nicht, weil es um Schützen undJäger geht und wir deren Rechte nicht so ernst nähmen– das Gegenteil ist der Fall –, sondern weil es um Waffengeht, also um potenziell tödliches Gerät.Bisher werden Waffen nur lokal registriert, und invielen Kommunen liegt bei den zuständigen Ämtern eini-ges im Argen – zu geringe Ausstattung und Mängel inden Verfahren führen zu reichlich Defiziten im Vollzug.Das kann nicht so bleiben, das muss besser werden,auch im Sinne dieses Gesetzes.Zu Protokoll gegebene Reden
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20000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Wolfgang Wieland
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Durch bundesweite Zusammenführung der Datenüber Waffen, die entsprechenden Erlaubnisse und Ein-schränkungen entsteht für jede Waffe gewissermaßeneine Biografie; für jede Schusswaffe lässt sich feststel-len, wo sie sein sollte. Es wird also ein für alle interes-sierten Behörden zugängliches Verzeichnis geschaffen,mit dem im Bedarfsfall festgestellt werden kann, ob aneinem bestimmten Ort Waffen zu vermuten sind, obaufgefundene Waffen legal besessen werden und wo sieherkommen.Das ist – das sei hier auch gesagt – kein Allheilmittel.Die Erfahrungen mit einem verbesserten Waffenregisterin Hamburg waren gut, und wir haben die Hoffnung,dass auch dieses Nationale Waffenregister einen ent-sprechenden Mehrwert schafft. Das Register wird nichtreichen, um die Problematik illegaler Waffen zu beseiti-gen; aber es wird dazu beitragen, legale Waffen besserkontrollierbar zu machen und Missbrauch vorzubeugen.Ich möchte an dieser Stelle auch ganz klar sagen: Esgeht hier nicht darum, eine Datei zu schaffen, weil wirdie Betroffenen für grundsätzlich verdächtige und ge-fährliche Personen halten würden. Wir wissen, dassSchützen und Jäger in aller Regel sehr verantwortungs-voll mit ihren Waffen umgehen. Es geht uns nicht um dieKontrolle der Waffenbesitzer, es geht uns um die Kon-trolle der Waffen. Denn Sportwaffen können immer auchzu Mordwaffen werden; das wird niemand bestreitenkönnen. Und weil das so ist, weil Waffen dieses tödlichePotenzial haben, sind auch die Einrichtung einer sol-chen Datei und die genaue Registrierung der Waffennötig. Dabei gilt natürlich auch für alle Waffenbesitzerdas Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wirwerden mit Argusaugen darüber wachen, dass die Be-stimmungen des Datenschutzes genau eingehalten wer-den. Das ist und bleibt unser Grundsatz, und das istnicht abhängig vom Thema oder von den Betroffenen.Ich war kürzlich in Brake. Dort haben Schüler zumGedenken der Toten des Amoklaufes von Winnenden einMahnmal entworfen und gebaut. Dort ist mir einmalmehr klar geworden: Wir können bei Schusswaffen nie-mals davon absehen, dass es im Zweifelsfall, im Fall ei-ner versagenden Kontrolle und des Missbrauches, Toteund Schwerverletzte gibt.Das Nationale Waffenregister ist ein Baustein imKampf gegen eine tödliche Gefahr. Die Beteiligung derEU an den Initiativen der UNO zur Bekämpfung desweltweiten Kleinwaffenhandels ist ein weiterer, sehrwichtiger Baustein. Denn das birgt die Chance, endlichetwas gegen illegale Kleinwaffen zu tun, die in riesigenStückzahlen auf der Welt kursieren und erheblich zurKriminalität mit Schusswaffen, zum bewaffneten Mordund Totschlag beitragen.Wir müssen, last, but not least, unser eigenes Waffen-recht weiter verbessern. Dazu haben wir Grüne Vor-schläge vorgelegt, die wir bald in einer Anhörung imInnenausschuss diskutieren werden. Da geht es um Be-schränkungen von großkalibrigen Waffen, um die ge-trennte Lagerung von Munition und Waffen und umweitere Maßnahmen. Unsere Forderung nach einemNationalen Waffenregister schickt sich die Regierung jajetzt immerhin zu erfüllen an.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8987 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich fortfahre,bitte ich diejenigen, die dringend Gespräche führen müs-sen, dies draußen zu tun und sonstige Umgruppierungen,die notwendig sind, so vorzunehmen, dass wir gleichzei-tig weiterhin abstimmen können.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-folgen– Drucksache 17/8796 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden der Kollegin Halina Wawzyniak sowie derKollegen Norbert Geis, Burkhard Lischka, SebastianEdathy, Jörg van Essen und Volker Beck.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8796 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEhrlicher Dialog über europäische Grund-werte und Grundrechte in Ungarn– Drucksache 17/9032 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union zu dem1) Anlage 6
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20001
Vizepräsidentin Petra Pau
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Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas ungarische Mediengesetz – EuropäischeGrundwerte und Grundrechte verteidigen– Drucksachen 17/4429, 17/8710 –Berichterstattung:Abgeordnete Karl HolmeierMichael Roth
Joachim SpatzThomas NordManuel SarrazinNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeMichael Roth für die SPD-Fraktion.
Schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Das Prinzip der Nichteinmischungin die inneren Verhältnisse eines Landes ist ein Reliktdes 19. und des 20. Jahrhunderts. In einem vereinigtenEuropa, in der Europäischen Union gibt es die Pflichtzur Einmischung,
und zwar in allen Bereichen, in denen unsere Grund-werte infrage oder zur Disposition gestellt werden. Inder Europäischen Union, die maßgeblich von der Bereit-schaft zum Kompromiss lebt, gibt es einen Bereich, indem es niemals Kompromisse geben darf. Dabei geht esum die Frage, wie wir mit Demokratie, Rechtsstaatlich-keit und der Freiheit umgehen. Hier muss es einen staa-ten- und bürgerinnen- und bürgerübergreifenden Kon-sens geben. Leider ist dieser Konsens in einem Land,dem wir uns seit vielen Jahrzehnten freundschaftlichverbunden fühlen, nicht mehr gegeben. Deshalb ist esgut, dass wir nun – wenn auch zu später Stunde – imDeutschen Bundestag über die derzeitige politische Lagein Ungarn sprechen.
Niemand der Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen und SPD stellt infrage, dass die unga-rische Regierung – um diese geht es im Kern – nicht de-mokratisch legitimiert ist. Selbstverständlich ist dieseRegierung demokratisch legitimiert. Sie verfügt übereine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Wenn man abereine solche eindeutige parlamentarische Mehrheit be-sitzt, entsteht daraus gerade in einem Land, das politischund gesellschaftlich vermutlich so gespalten ist wie keinzweites in der Europäischen Union, ein großes Maß anVerantwortung, Brücken zu bauen, zu versöhnen undKonsens zu stiften. Die Bereitschaft, das Land wieder zueinen, vermisse ich. Insofern werden MinisterpräsidentOrban, seine Regierung und die ihn tragenden Parteienihrer Verantwortung für Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit nicht gerecht.
Wenn wir in diesen Tagen zu Recht ganz strengeMaßstäbe an diejenigen anlegen, die bereit und gewilltsind, der Europäischen Union beizutreten, müssen diesestrengen Maßstäbe doch erst recht für die Staaten gelten,die seit Jahren oder auch seit Jahrzehnten der Europäi-schen Union angehören. Es kann auch im Nachhineinkeine Rabatte geben.Insofern haben wir es als unsere Pflicht angesehen,nachdem nun endlich auch die Europäische Kommissionaktiv geworden ist, die Debatte darüber zu führen, wasschiefläuft und wie es in Ungarn baldmöglichst wiederbesser laufen könnte.Die Kommission hat mehrere Vertragsverletzungsver-fahren eingeleitet. Sie wird damit nicht nur ihrer Verant-wortung als Hüterin der europäischen Verträge gerecht,sondern sie ist insbesondere auch Hüterin der Grund-werte und der Demokratie in der Europäischen Union.Wenn es denn richtig ist, dass es diesbezüglich keine Ra-batte und Kompromisse geben kann, verdient die Euro-päische Kommission die uneingeschränkte Unterstüt-zung des Deutschen Bundestages.
Nun weiß ich ja, welche Bedenken, auch hier im Ple-num, wieder vorgebracht werden: Das sei doch alles garnicht so schlimm, und man müsse das doch nicht über-treiben. Das seien doch alles ganz normale Entwicklun-gen. Die Regierung habe vielleicht in der einen oder an-deren Frage ein wenig überzogen oder vielleicht einwenig zu schnell agiert.Es geht eben nicht allein um die Mediengesetze. Esgeht nicht allein um die Unabhängigkeit der Justiz. Esgeht nicht allein um die Rolle des Datenschutzes. Esgeht nicht allein um bestimmte Elemente der Verfas-sung, die uns befremdlich erscheinen. Und es geht nichtallein um das Zustandekommen von Gesetzen.In der Summe ist das, was wir seit 2010 in Ungarn er-leben, gefährlich für die Demokratie.
Und deshalb muss es zum Thema gemacht werden.Selbstverständlich üben wir als Bürgerinnen und Bür-ger Deutschlands, die Ungarn viel zu verdanken haben,mitnichten Kritik an der ungarischen Bevölkerung. Wirüben Kritik an denen, die derzeit in Ungarn in der politi-schen Verantwortung stehen. Ich habe nicht den Ein-druck, dass es seitens der Regierung und seitens des Mi-nisterpräsidenten auch nur ein Quäntchen Einsichtgegenüber dem gibt, was derzeit in der EuropäischenUnion diskutiert wird.
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20002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Michael Roth
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Ich darf aus einem Interview zitieren, das kürzlich ineiner renommierten deutschen Zeitung veröffentlichtwurde, die mitnichten im Verdacht steht, ein Organ derLinken oder der Linksradikalen in Europa zu sein. Dortsagt Orban: Wir werden „von der internationalen Linkenradikal attackiert. Aber die internationale Rechte … be-schützt uns.“Wenn er mit der internationalen Rechten Frau Merkelund die CDU/CSU meint, dann mag er wohl recht haben.Aber wenn er von der internationalen Linken spricht,dann frage ich mich allen Ernstes, wen er damit eigent-lich meint. Meint er damit die Europäische Kommissionmit 27 Mitgliedern, von denen, wenn man großzügig ist,gerade einmal sechs der europäischen Sozialdemokratieangehören? Meint er damit vielleicht den EuropäischenRat? Meint er damit das Europäische Parlament? In kei-ner dieser Institutionen, geschweige denn in der großenMehrzahl der Mitgliedstaaten verfügt – ich darf sagen:leider – die Sozialdemokratie und damit die demokrati-sche Linke über eine parlamentarische und politischeMehrheit.Wenn Sie sich einmal die deutsche Medienlandschaftanschauen, dann sehen Sie, dass auch die Zeitungen undRundfunkanstalten massive Kritik üben, die nicht imVerdacht stehen, irgendeine Nähe zu den sogenannteninternationalen Linken zu haben.
Insofern kann ich überhaupt nicht verstehen, dass esin Ihren Reihen so viele gibt, die abwiegeln, das Ganzein rosaroten Farben malen und meinen, das verteidigenzu müssen, was andere, die sich nicht sozialdemokra-tisch oder grün schimpfen, offensiv und immer wiederdeutlich kritisieren.Ebenso peinlich und beschämend finde ich es, wennHerr Orban versucht, Brüssel mit Moskau gleichzuset-zen und eine Brücke von der Sowjetunion zur Euro-päischen Union zu schlagen. Das ist eine Beleidigungunseres gemeinsamen Europas und dessen, wofürDeutschland und Ungarn seit über 20 Jahren gemeinsameinstehen, nämlich des demokratischen, föderalen undrechtstaatlichen Europas.
Ungarn ist nicht der Sündenbock in Europa. Deshalbist es auch nicht ein Fehler, jetzt die aktuellen Miss-stände in Ungarn anzuprangern. Ich will aber selbst-kritisch hinzufügen: Es war ein Fehler, bei einer Reihevon Infragestellungen von Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit in anderen Mitgliedstaaten in der EuropäischenUnion, beispielsweise in Italien, zu lange und zu beharr-lich geschwiegen zu haben. Hier hätten wir früher unddeutlicher Kritik üben müssen. Insofern kann ich den ei-nen oder anderen Ungarn verstehen, der uns fragt: Wa-rum habt ihr zu den Vorgängen geschwiegen, die in dengroßen Mitgliedstaaten abgelaufen sind, und warum übtihr jetzt alleine an Ungarn Kritik?Wenn wir Kritik an der ungarischen Regierung üben,muss das präjudizieren, dass wir zukünftig gemeinsamimmer wieder deutliche Worte finden, wenn es um dieVerteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeitgeht. Diese ungarische Regierung hat das Land in einepolitische und wirtschaftliche Isolation geführt. Wennwir auch Gesprächsbereitschaft gegenüber der ungari-schen Regierung und gegenüber der Zivilgesellschaftzeigen – das sollte aus meiner Sicht eine pure Selbstver-ständlichkeit sein –, dann heißt das, dass wir zwar ver-stehen wollen, aber das heißt nicht, dass wir für allesVerständnis haben dürfen.Anlässlich des 20-jährigen Geburtstags des deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrages hätte ich mir ge-wünscht, dass wir in dieser Frage einen breiten parla-mentarischen Konsens hätten finden können. Aber leiderwaren die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP nicht dazu bereit, obwohl es auch Vertreterinnenund Vertreter in der Bundesregierung gegeben hat – icherinnere an die deutlichen Worte der Kritik von Staats-minister Hoyer, und ich erinnere an das engagierte Auf-treten des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregie-rung Markus Löning –, die Kritik geübt haben. Ichbedaure, dass Sie trotz dieser klaren und deutlichenWorte nicht dazu bereit waren, mit uns einen gemeinsa-men Antrag zu formulieren. Das ist mehr als schade.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Johann
Wadephul das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ihre Einleitung, Herr Kollege Roth, hat gezeigt,dass Sie in einer Rechtfertigungssituation sind. Sie ha-ben sich selber in diese Sackgasse hineingeritten, undwir werden Ihnen nicht heraushelfen. Es ist vollkommenklar, dass wir in Europa uns unter Freunden bewusstsind, was wir miteinander gemeinsam haben. Mit denUngarn haben wir Deutsche sehr viel gemeinsam. An al-lererster Stelle sind wir ihnen für das dankbar, was sie1989 geschafft haben. Sie haben den Eisernen Vorhangdurchschnitten und eine entscheidende Voraussetzungdafür geschaffen, dass der Eiserne Vorhang fallen konnteund dass Deutsche von Deutschland Ost nach Deutsch-land West kommen konnten. Dafür sind wir den Ungarnnach wie vor dankbar.
In diesem Geiste sollten wir die Diskussion hier mitei-nander führen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20003
Dr. Johann Wadephul
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Das schließt nicht aus, dass insbesondere dazu beru-fene Organisationen auf europäischer Ebene auch dieMitgliedstaaten kritisch beurteilen, wie das gang undgäbe in der Europäischen Union ist, wie das jetzt auchdie EU-Kommission gegenüber Ungarn mit einigen Ver-tragsverletzungsverfahren, die sie angekündigt hat, ge-macht hat und wie wir alle das erleben können. Die Bun-desrepublik Deutschland hat das schon erlebt. Ich hoffenicht, dass es bei der Vorratsdatenspeicherung dazukommt. Wir unternehmen Anstrengungen, damit es nichtgeschieht. Das ist ganz normal. Dass sich alle Mitglied-staaten immer wieder an den europäischen Werten mes-sen lassen müssen und dass man darauf aufmerksammacht, ist klar. Dass auch die Venedig-KommissionPunkte in Ungarn kritisiert hat, ist auch vollkommenklar. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates freue ich mich darüber. Auch das isteine Institution, die dazu da ist, so etwas zu kritisierenund Punkte anzusprechen.Wofür wir hier im Deutschen Bundestag aber nicht dasind – das ist der Fehler, den die Opposition hier macht,Herr Kollege Roth –, ist: Wir sind nicht die bessere un-garische Opposition. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wirmachen hier nicht ungarische Innenpolitik und verteilen,wie Sie es gerade gemacht haben, Zensuren dafür, wasHerr Orban jetzt gerade richtig oder falsch macht.
Ich will Ihnen etwas vorhalten. Wir haben heute einSchreiben des Bundes Ungarischer Organisationen inDeutschland, der mehr als 120 000 Mitglieder hat, be-kommen.
Darin werden wir ganz herzlich auf Folgendes aufmerk-sam gemacht – ich erlaube mir, mit Ihrer freundlichenGenehmigung, Frau Präsidentin, zu zitieren –:Völlig unzutreffende Schlagworte, Verallgemeine-rungen, der Rassismusverdacht und an den Haarenherbeigezogene historische und aktuell politischeVergleiche werden bemüht, um die mit überwältigen-der Mehrheit demokratisch gewählte bürgerlich-christliche ungarische Regierung und auch dengrößten Teil der ungarischen Wähler in die rechts-radikale, totalitäre Ecke zu rücken. Dies offenbartnicht nur eine völlige Unkenntnis des ungarischenParteienspektrums, es ist auch zutiefst beleidigend,wenn man dem Freund und Bündnispartner die de-mokratische Gesinnung abspricht und nicht glaubenmöchte, dass für ihn die europäische Werteordnungzur fundamentalen Grundüberzeugung gehört.
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Sarrazin?
Ja.
Frau Präsidentin! Verehrter Kollege Wadephul, zu-
nächst muss ich Ihnen leider mitteilen, dass dieser Brief
uns bisher nicht erreicht hat. Es wäre sicherlich freund-
lich, wenn Sie ihn uns zustellen könnten. Es ist auch in-
teressant, dass Sie hier die Botenrolle übernehmen, statt
uns Ihre eigenen Formulierungen vorzutragen.
Ich möchte Sie aber doch fragen, wie Sie vor dem
Hintergrund Ihrer Ausführungen hinsichtlich der Rolle
des Deutschen Bundestags als neuer Opposition die Ant-
wort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Drucksachen-
nummer 17/8709 bewerten. Hier steht:
Die Bundesregierung hat wiederholt ihrer Sorge
über die innenpolitischen Entwicklungen in der
Republik Ungarn Ausdruck verliehen, so zuletzt
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle, … und der Sprecher der Bundesregie-
rung
usw. usf.
Ich fahre weiter unten fort:
Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass
die Europäische Kommission erklärt hat, ihre Prü-
fung nicht auf gesetzestechnische Details zu be-
schränken, sondern die europäischen Grundwerte in
diese Prüfung einzubeziehen.
Ist damit die schwarz-gelbe Bundesregierung die bes-
sere ungarische Opposition?
Nein, das ist sie nicht, lieber Herr Kollege Sarrazin.Ich werde Ihnen gerne diesen offenen Brief zur Verfü-gung stellen, der heute in meinem Büro eingegangen ist.Ich weiß nicht, wie der Verteiler aussah. Ich glaube, esist sinnvoll, dass Sie einbezogen werden und davon auchKenntnis nehmen; da stehen nämlich noch weitere inte-ressante Dinge drin.
Ich habe vorhin ganz klar gesagt – ich habe auchnichts von dem zurückzunehmen, was vorher von derBundesregierung gesagt wurde –, dass natürlich Punkteangesprochen werden können. Aber in der Art undWeise, wie das mit Ihrem neuerlich vorgelegten Katalogpassiert, in dem einzelne politische Projekte aus der un-garischen Innenpolitik dezidiert herausgegriffen werden,geht das nicht. Außerdem wollen Sie, dass sich der Deut-schen Bundestag zu diesen einzelnen Punkten eine Mei-nung bildet, und versuchen, uns zu überreden, dem auchnoch zuzustimmen. Das hieße ja, dass wir hier ungari-
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20004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Johann Wadephul
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sche Innenpolitik betrieben. Dazu sind wir nicht da. Daslehne ich nach wie vor klar ab, lieber Herr Sarrazin.
Ich bin vielmehr der Auffassung – um das fortzuset-zen –, dass die Ungarn selber sehr gut in der Lage sind,ihre Sachen miteinander zu besprechen und zu klärenund auch in den Institutionen einer Lösung zuzuführen.Was Sie verschwiegen haben – auch der Kollege Rothhat bedauerlicherweise vergessen, darauf einzugehen –,ist, dass das, was der vormalige Staatsminister des Aus-wärtigen Amtes Hoyer hier zum Mediengesetz ange-sprochen hat, mittlerweile durch eine Entscheidung desungarischen Verfassungsgerichtes weitgehend erledigtist; denn viele Regelungen, über die man in der Tat – dashat Herr Hoyer vollkommen zu Recht getan – kritischdenken und die man auch infrage stellen konnte, sindmittlerweile durch das ungarische Verfassungsgericht fürunwirksam erklärt worden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wirk-lich nicht unsere Angelegenheit, uns in dieser Art undWeise einzumischen. Wir sollten vielmehr zur Kenntnisnehmen, was die Ungarn selber geschafft haben underreicht haben – und das ist gut so.Im Übrigen hat sich beispielsweise die im ungari-schen Mediengesetz enthaltene Vorschrift der sogenann-ten Ausgewogenheit der Berichterstattung – das ist jaauch ein Punkt, den wir hier alle miteinander sehr kri-tisch gesehen haben – mittlerweile so ausgewirkt, dassauch die Regierungspartei darunter gelitten hat. Das öf-fentlich-rechtliche Fernsehen wurde im Juni 2011 vonder Medienaufsicht zu einer Geldbuße verurteilt, weil inihm die Meinung der Regierungspartei zu stark zur Gel-tung gekommen ist. Das ist also eine Angelegenheit, beider durchaus Ausgewogenheit herrscht.Man kann die ungarische Mediengesetzgebung, dienicht unseren Wertvorstellungen hundertprozentig ent-spricht – das ist ja vollkommen klar – –
– Sie müssen auch einmal darüber reden, was vorher inden ungarischen Medien los gewesen ist. Jeden Tagwurde Gewaltverherrlichung bis hin zur Pornografie ineinem großen Ausmaß ausgestrahlt.
– Herr Kollege, wir haben doch auch in Deutschlandeine Medienaufsicht.
Wir bekennen uns doch bei aller Medienfreiheit auch inDeutschland dazu, dass nicht jedes Kleinkind schon Ge-waltfilme und Pornografie im Vorabendprogramm sehensoll. Das gehört ebenfalls zu unserem Kulturgut. Glei-ches muss doch auch in Ungarn möglich sein.
Herr Kollege Roth, Sie haben sich selber des Fehlersgeziehen, dass Sie sich um Italien nicht schon früher ge-kümmert haben. Sie hätten sich aber – diese Einsichthabe ich bei Ihnen vermisst – schon früher um Ungarnkümmern müssen. Was ist nämlich in Ungarn los gewe-sen? In Ungarn hat eine sozialistische Regierung dasLand in den Bankrott gewirtschaftet.
– Ich sage Ihnen, dem europapolitischen Sprecher derSPD-Bundestagsfraktion, dass diese Regierung in Un-garn die EU-Kommission nach Strich und Faden belo-gen hat. Ich erinnere an die berühmte Balaton-Rede desfrüheren sozialistischen ungarischen Ministerpräsiden-ten. Darauf haben Sie im Deutschen Bundestag über-haupt nicht reagiert. Auf dem Auge waren Sie blind.
– Frau Kollegin, angesichts der Tatsache, dass man inder Vergangenheit nicht reagiert hat, kann man sichheute nicht als der große Ankläger hinstellen. Sie hättenschon früher einschreiten müssen. Jetzt sieht es sehr da-nach aus, dass Sie sich über das Wahlergebnis ärgern.
Es hat eine klare Mehrheit für diese Regierung in Un-garn gegeben. Sie sollte sich an europäischen Wertenorientieren. Die europäischen Institutionen sollten ein-schreiten, wenn es nötig ist.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Stefan
Liebich das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Wadephul, Sie haben gesagt, dass der Bundestagnicht die Organisation sei, die dazu berufen ist, sich mitungarischer Innenpolitik zu befassen. Mir fällt aber eineOrganisation ein, die sich mit den Thesen von ViktorOrban befassen könnte, und das ist die EuropäischeVolkspartei, dessen stellvertretender Vorsitzender Orbanist.
Das heißt, alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion sindin der Partei, in der Viktor Orban, der Regierungschefvon Ungarn, stellvertretender Vorsitzender ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20005
Stefan Liebich
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Auch ich habe das große Interview von Viktor Orbanin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – ichnenne jetzt den Namen, Herr Roth – mit Entsetzen gele-sen. Dabei sind mir einige „Schmuckstückchen“ aufge-fallen. Ich will einmal folgende Stelle zitieren:Es gibt nämlich eine Auslegung der europäischenGeschichte, der europäischen Zukunft, wonach wiraus der Religiosität in die Säkularisation, aus demtraditionellen Familienmodell in Richtung verschie-denartiger Familienmodelle und aus den Nationenin Richtung Internationalismus oder zur Integrationmarschieren. Was ich denke, geht klar in die andereRichtung.Wenigstens ist er ehrlich. Er beschreibt das Europa,das er erreichen möchte. Wenn Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU, dieses Europa wollten,dann würde ich mir wirklich Sorgen machen.
Ich weiß es besser; denn wir führen viele Diskussionen.Ich würde mir daher wünschen, dass Sie diese Diskus-sion mit Viktor Orban in Ihrer gemeinsamen Partei, alsoin der Europäischen Volkspartei, führen.
– Es ging in diesem Fall gar nicht um die FDP. Sie sindso fair und stehen selbst bei Punkten fest zusammen, beidenen Sie inhaltliche Differenzen haben. Das finde ichsehr solidarisch von Ihnen.
Ich will noch erwähnen, dass mir die Position des Kolle-gen Hoyer, die hier schon gelobt worden ist, deutlichsympathischer war. Ich hoffe, dass dieser Teil in der FDPimmer noch vor Ort ist und zu diesem Thema etwas sagt.Das angesprochene Mediengesetz lohnt eine genauereDebatte. Es ging dort nicht einfach um die Bekämpfungvon Pornografie, sondern es ging darum, dass staatlicheKontrolle von Medien in einem Maße eingeführt werdensollte, die jeder Beschreibung spottet. Bevor es nun zueinem entsprechenden Zwischenruf kommt, will ich sa-gen: Gerade aufgrund der Geschichte unserer Partei undunserer Vorgängerpartei weiß ich, dass staatliche Kon-trolle von Medien der grundfalsche Weg ist.
Deswegen ist es vollkommen richtig, dass die Europäi-sche Union gegen diese Politik Protest einlegt.Aber es geht nicht nur um das Mediengesetz. Es gehtauch um die vorgelegte Verfassung. Einen Tag, nachdemsie in Kraft getreten ist, protestierten 100 000 Menschendagegen. Diese Verfassung und vor allem das Verfahrenbieten tatsächlich Anlass zur Kritik. Es kann doch nichtsein, dass sich einige Fidesz-Parteifunktionäre eineVerfassung ausdenken und diese dann, nur weil man imMoment eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat,durchdrücken.Was wurde nicht alles in diese Verfassung geschrie-ben! Beispielsweise wird in der Verfassung – dies wirdnun kein Weg sein, den die FDP gehen will – der Ein-kommensteuersatz festgeschrieben, damit er künftignicht mehr geändert werden kann. So etwas ist absurd;es ist eine Einschränkung parlamentarischer Gestal-tungsmöglichkeiten. So etwas sollten wir nicht hinneh-men.
Die Linksfraktion insgesamt fand es daher sehr rich-tig, dass ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitetwurde. Wir sind froh, dass sich auch die Bundesregie-rung für dieses Verfahren ausgesprochen hat.
Orbans Europa von Religion, Nation und Familiewollen wir nicht.
Wir lassen uns auch nicht das Recht nehmen, das hier imDeutschen Bundestag zu thematisieren. Wir wollen einedemokratische, eine soziale und eine friedliche Europäi-sche Union auf der Basis gleicher Rechte. Ich hoffe, dassdie Debatten, die wir hier führen, eine Kritik formulie-ren, die auch bei den Ungarinnen und Ungarn ankommt.Ich finde den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen daher sehr richtig.
Wir unterstützen ihn sehr gerne.Auch der neu vorgelegte Antrag beider Fraktionengeht in die richtige Richtung. In diesem Antrag ist daskleine Wort „endlich“ eingefügt worden. Man erwartetalso, dass die Bundesregierung „endlich“ deutlich macht,dass etwas getan werden muss. Ich verstehe das als sub-til formulierte Kritik, die wir teilen. Ich finde, dies ist ge-nau der richtige Weg.Ich bitte die CDU/CSU, ihre Verteidigungspolitik in-frage zu stellen. Ich glaube, dass ihre Fidesz-Partei-freunde mit ihrer gegenwärtigen Politik keine Verteidi-gung verdienen. Ich hoffe, dass wir zu einem gemein-samen europäischen Weg zurückkehren.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege JensAckermann das Wort.
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20006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ungarn und Deutschland verbinden besondereBeziehungen. Das wird natürlich auch in Symbolendeutlich. Ich möchte darauf hinweisen, dass auf der Au-ßenseite des Reichstages eine Plakette in deutscher undungarischer Sprache angebracht ist. Es ist ein einmaligesSymbol, das die besondere Freundschaft unserer Völkerzum Ausdruck bringt. Es ist angesprochen worden: Wirhaben den Ungarn viel zu verdanken. Die deutsche Wie-dervereinigung wäre so nicht möglich gewesen, wenndie Ungarn nicht das erste Glied zerschnitten hätten. Da-mit haben sie den Eisernen Vorhang, die Mauer, brüchiggemacht. Daran muss man erinnern.
Heute reden wir über, leider nicht mit Ungarn.
Ungarn ist ein Mitglied der EU und gehört zu unserereuropäischen Wertegemeinschaft, die durch Freiheit undDemokratie geprägt ist. Die Ungarn sind ein besondersfreiheitsliebendes Volk. Dies wird in der Geschichtedeutlich – die Ungarn sind Freiheitskämpfer –: 1848,1956, aber auch 1989. Daran möchte ich erinnern.
Jetzt zum Jahr 2012. In der letzten Zeit wurde vielKritik an der Politik der ungarischen Regierung geübt.Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die große Mehr-heit der Mandate unbestritten in freien, gleichen und ge-heimen Wahlen zustande gekommen ist. Sowohl an derLegalität als auch an der Legitimität dieser Mehrheit be-steht keinerlei Zweifel.Ungarn ist ein Land, welches über eine mit großerMehrheit demokratisch gewählte Regierungspartei ver-fügt. Eine solch große Unterstützung im Volk wünschtsich jede Regierung. Die Tatsachen darf man den Un-garn nicht zum Vorwurf machen. Eine solch großeMehrheit ist allerdings stets Verpflichtung, mit ihr sensi-bel umzugehen.Es sind Zweifel angebracht – darauf möchte ich hin-weisen –, ob die ungarische Regierung das nötige Fin-gerspitzengefühl gezeigt hat. Sicher gab es seit 2010Maßnahmen und Vorkommnisse, die zu kritisieren sind.Große Reformen sind angegangen worden, zum Beispielder Abbau des Haushaltsdefizits oder die Weiterentwick-lung des Rentenversicherungssystems. Ich erlaube mir,darauf hinzuweisen, dass die ungarische Regierung tat-kräftig das angepackt hat, was wir momentan von ande-ren Euro-Ländern erwarten: umfassende strukturelle Re-formen.Ein so wichtiges Gesetz wie das Mediengesetz zu mo-difizieren, ist eine umfangreiche Arbeit. Das Ganze birgtdie Gefahr, Fehler zu machen. Solche Fehler sind auchangesprochen worden. Der Antrag von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen ist leider über ein Jahr alt. Inzwischengab es positive Bewegungen und Veränderungen. Nachder Kritik der Europäischen Kommission hat die Regie-rung mehrere Paragrafen des Gesetzes zu Beginn desJahres 2011 korrigiert. Trotzdem hat das Verfassungsge-richt Ungarns noch bestimmte Punkte aufgegriffen. Dieszeigt, dass das demokratische System in Ungarn funktio-niert.Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts Un-garns am 19. Dezember 2011 wurden einige Punkte alsnicht verfassungskonform erklärt: Verpflichtung zur Of-fenlegung der Quellen. Das Institut des Beauftragten fürMedien verstößt gegen die Pressefreiheit und ist über-flüssig. Bei der Aufklärung eines Falls darf der Medien-rat bei den Medienanbietern nicht um mehr Daten als nö-tig bitten, um weitere Ermittlungen zu führen. – DieFraktion der FDP hat sich kritisch über solche Passagengeäußert. Deshalb begrüßen wir besonders die Entschei-dung des Verfassungsgerichts, nach der die Quellen derJournalisten geschützt werden müssen.
In dem Antrag, der heute diskutiert wird, geht es auchum den ungarischen Radiosender Klubradio, der kriti-sche Berichte über die Regierung sendet. Nach einerEntscheidung des Gerichtes in Budapest vom März die-ses Jahres war die Vergabe der Frequenzen an einen an-deren Sender nicht korrekt. Es wurde deutlich gemacht:Das demokratische System funktioniert auch hier. Es be-stehen gute Chancen, dass Klubradio weiterhin sendenund seine Frequenzen behalten kann. Das bestätigt sogarder Generaldirektor von Klubradio. Damit wird ein aku-tes Problem in der Debatte um die oppositionellen Me-dienmöglichkeiten gelöst.Ich komme zu den Vertragsverletzungsverfahren. DieEuropäische Kommission hat im Januar dieses Jahresauf drei Gebieten ein Vertragsverletzungsverfahren ge-gen Ungarn eingeleitet: erstens wegen Missachtung derUnabhängigkeit der Zentralbank, zweitens wegen Miss-achtung der Unabhängigkeit der Justiz – Pensionierungvon Richtern durch Herabsetzung des Renteneintrittsal-ters – und drittens wegen Missachtung der Unabhängig-keit von Datenschutzbeauftragten. Die Verfahren aufdem zweiten und dritten Gebiet laufen derzeit noch.Beim ersten Punkt, Zentralbank, gibt es unterschiedlicheAuffassungen zwischen der Kommission und der ungari-schen Regierung. Die Diskussionen sind noch nicht ab-geschlossen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn manmit dem Finger auf andere zeigt, so weisen immer dreiFinger auf einen selbst zurück. Ich möchte daran erin-nern: Das Thema Unabhängigkeit des Datenschutzbe-auftragten hat uns im Jahre 2010 ebenfalls eine Rüge ausLuxemburg beschert. Gegen Deutschland laufen derzeit80 weitere Vertragsverletzungsverfahren. Das anzumer-ken, gehört zur Ehrlichkeit dazu. Wir sollten hier nichtmit zweierlei Maß messen.Herr Kollege Roth, Sie haben die Rechtsstaatlichkeitangesprochen. Das ist ein hohes Gut, das wir verteidigenwollen. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Ungarn:ein Land mit 10 Millionen Einwohnern; Nordrhein-Westfalen: ein Land mit 17 Millionen Einwohnern. Dorthat die rot-grüne Regierung versucht, einen Haushalt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20007
Jens Ackermann
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vorzulegen, der eindeutig verfassungswidrig ist, und da-rüber abstimmen zu lassen. So viel zur Rechtsstaatlich-keit von Rot-Grün.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vorhin istdas Thema Freundschaft angesprochen worden. In die-sem Zusammenhang möchte ich darum bitten, dass wirfair, sachlich und mit der entsprechenden Würde mit un-seren Freunden und Partnern umgehen. Wir können dieKritikpunkte ansprechen, allerdings sachlich und ver-bindlich im Ton. Dann, denke ich, können wir zu einervertrauensvollen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu-rückkehren. Wir sollten hier im deutschen Parlamentkeine ungarische Innenpolitik vertreten.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Manuel Sarrazin das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Zunächst kann man diesem Hause nicht vorwerfen,nicht auch mit Ungarn zu reden. Ohne die ungarischeBotschaft jetzt zu sehr loben zu wollen, kann ich sagen:Es gibt wohl kaum einen Botschafter, der so sehr dafürsorgt, dass wir mit allen Meinungen im Dialog sind.Deswegen kann der Vorwurf, wir redeten nur über undnicht mit Ungarn, dieses Haus nicht wirklich treffen.Herr Wadephul, ich muss vor allem die ungarische Bot-schaft davor schützen, dass diese Behauptung hier so imRaume stehen bleibt.
Wir haben mit diesem Antrag ein Interesse an derVersachlichung der Debatte. Wenn Sie ihn lesen, merkenSie das auch. Entschuldigung, aber Sie haben bei dieserDebatte dieses Interesse ad absurdum geführt und allemöglichen Argumente bemüht, anstatt dem sehr konno-tierten und prononcierten Stil dieses Antrags folgen. Dasfinde ich schade.Ich kann mich allem anschließen, was Sie über dieGeschichte Ungarns und Deutschlands gesagt haben. Ichwürde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Vereidi-gung von Joachim Gauck morgen ohne Ungarn eigent-lich nicht denkbar wäre; da sind wir uns einig. Ichmöchte aber auch darauf hinweisen, dass Jagland, derGeneralsekretär des Europarates, heute in der FAZ sagt– Zitat –:… es gehe nicht darum, Ungarn von außen Regelnaufzudrängen: „Es geht um Verpflichtungen, dieUngarn sich selbst auferlegt hat …“
Das ist richtig. Wir alle haben den Vertrag von Lissabonund die Beitrittsakten unterschrieben. Damit haben wiruns zu den europäischen Werten aus dem EUV und ausder Grundrechte-Charta bekannt.Wir haben zusammen mit der SPD diesen Antrag vor-bereitet, weil wir uns um diese Grundwerte und Grund-rechte in Ungarn Sorgen machen.
Mit diesen Sorgen stehen wir eben nicht allein da. Ichmuss Ihnen sagen: Da geht es nicht nur um das Medien-gesetz. Nach Verabschiedung der neuen Verfassung imApril 2011 hat das Auswärtige Amt in Person von HerrnHoyer formuliert:Unsere im Zusammenhang mit den Mediengesetzenaufgekommenen Befürchtungen werden mit derheute verabschiedeten Verfassung – und ihrem Zu-standekommen – bestärkt statt entkräftet.Es ist doch eine eindeutige Sache, dass wir eigentlichgar nicht so weit voneinander entfernt sind. Wenn wiruns mit diesem Antrag aber eindeutig im Rahmen derHaltung der Bundesregierung befinden, frage ich mich:Warum konnten CDU/CSU und vor allem die FDP beider Entwicklung dieses Antrags eigentlich nicht mitma-chen? Das ist mir wirklich ein Rätsel.
Es geht in unserem Antrag nicht darum, über einzelneungarische Gesetze zu sprechen oder der ungarischenRegierung zu erklären, wie man Politik macht. Es gehtdarum, dass wir uns als Teil der Europäischen Unionüber Grundwerte und Grundrechte in der EU Gedankenmachen müssen. Wer behauptet, dass solch eine Debattenicht hierher gehört, hat etwas nicht verstanden.
Die EU ist nicht einfach ein Verbund souveräner Natio-nalstaaten; wir sind eine Gemeinschaft, die auf Wertenbasiert. Zur Funktionsfähigkeit der europäischen Demo-kratie gehört auch, dass die Demokratien in den Mit-gliedstaaten funktionieren.Wir machen uns ganz konkrete Sorgen. Ich könnte Ih-nen drei Beispiele vortragen, werde es aber zeitlich nichtschaffen. Ein Punkt ist mir dennoch sehr wichtig: dieRechte der parlamentarischen Opposition. Ich bin oft inBudapest gewesen; viele Gäste aus Budapest sind hier.Die Opposition legt uns immer wieder dar, dass die neueHausordnung des Parlaments dazu führt, dass Gesetzenicht mehr adäquat beraten und diskutiert werden kön-nen, bevor sie verabschiedet werden.
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20008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Manuel Sarrazin
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Die neue Regelung in der Hausordnung, nach der jetzt24-mal im Jahr ein gesamtes Gesetzgebungsverfahren,von der Einbringung eines Gesetzes bis zu seiner Verab-schiedung, innerhalb von 24 Stunden stattfinden kann,erscheint doch nicht nur uns abstrus. Wie kann da nochwirkliche Beratung stattfinden? Auch Ihre Kollegen vonFidesz und KDNP teilen diese Skepsis; aber Sie trauensich nicht, hier einmal Stellung zu beziehen. Das findeich schade.
Die Kardinalgesetze in Ungarn sind nichts Neues. Esist meiner Ansicht nach aber auch eine neue Qualität,dass jetzt auch die sogenannte Flat Tax unter die altePraxis der Kardinalgesetze fällt. Es würde gerade unsgut anstehen, das zu benennen. Denn meiner Ansichtnach sollte die Hürde der Zweidrittelmehrheit grundsätz-lich nur bei Änderung der Verfassung oder ähnlich weit-reichender Regelungen notwendig sein. Ich halte es fürschwierig, wenn künftig gewählten Parlamentsmehrhei-ten möglicherweise nicht mehr die Verfügung über dasBudget möglich ist, weil ein wesentlicher Teil der Ein-nahmeseite der Kontrolle des Parlaments entzogen ist.Das halte ich für ein aufkommendes Demokratiepro-blem.
Das ist kein Ungarn-Bashing, sondern schlicht und ein-fach Sorge aus Interesse an dem Land.Abschließend möchte ich sagen: Wir möchten einenfairen Dialog über die Vereinbarkeit der gesamten geän-derten ungarischen Rechtsordnung mit den Grundwertender EU. Wir wollen diesen Dialog versachlichen und unsmit einem unabhängigen Bericht sozusagen ein Gesamt-bild verschaffen, auf dessen Grundlage wir uns gemein-sam Gedanken machen und einen fairen Dialog führenkönnen. Die besondere Freundschaft zu Ungarn heißt,dass wir einen Dialog führen; Kritik und offene Wortesind für uns Teil dieser Freundschaft.Danke sehr.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Karl Holmeier aus der Unionsfraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Sie, die Ungarn, haben dem Freiheitswillen derDeutschen Flügel verliehen.Dieses Zitat stammt von unserer Bundeskanzlerin, an-lässlich eines Besuches in Ungarn im Jahre 2009. UnsereKanzlerin hat recht: Ungarn war immer ein freiheitslie-bendes Volk. Gerade wir Deutschen haben den Ungarnaufgrund dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken.
Ich wage, zu sagen, dass die deutsche Einheit ohnedas Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheitnicht möglich gewesen wäre.
Das scheinen einige inzwischen völlig vergessen zu ha-ben. Seit dem Regierungswechsel im Jahre 2010 siehtsich Ungarn heftiger Kritik ausgesetzt, vor allem vonsei-ten der deutschen Opposition. Der ungarischen Regie-rung wird vorgeworfen, dass die europäischen Grund-rechte verletzt sowie Demokratie und Rechtstaatlichkeitmissachtet werden.
Statt heuer im Jubiläumsjahr des deutsch-ungarischenFreundschaftsvertrages einen Antrag zur Würdigungdieser Freundschaft einzubringen, haben die Opposi-tionsfraktionen im Deutschen Bundestag nichts Bessereszu tun, als unsere ungarischen Freunde zu brüskierenund ihnen das Verständnis von Demokratie und Recht-staatlichkeit abzusprechen.
Ich kann Ihnen nur ans Herz legen: Finden Sie aufden Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Umgang zu-rück.
Hören Sie auf, durch pauschale Kritik ein ganzes Volkan den Pranger zu stellen.
Das gilt erst recht für das ungarische Volk, dem wirDeutsche historisch in ganz besonderer Weise verbundensind.
Wenn Sie sachliche Kritik anbringen möchten, tun Siedas bitte in direktem Dialog mit den ungarischen Kolle-gen.
Ja, in Ungarn regiert eine Zweidrittelmehrheit. DieRegierungspartei wurde von der Bevölkerung mit über-wältigender Mehrheit gewählt.
Dieses Ergebnis hatte seinen Grund in der katastropha-len Bilanz der Vorgängerregierungen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20009
Karl Holmeier
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Das demokratisch zustande gekommene Ergebnis solltejeder respektieren. Mit der jetzigen Mehrheit ist dieRegierung Orban in der Lage, jahrelang aufgeschobeneReformen anzustoßen, und das tut sie auch. Sicher sto-ßen die zahlreichen Reformen und ihre schnelle Umset-zung bei dem einen oder anderen auf Kritik. Das ist haltso in einer Demokratie – und das ist auch gut so.
Zum Teil ist die Kritik in der Sache sogar berechtigt.Aber der Deutsche Bundestag hat nicht darüber zu befin-den, ob die Verfassung und die Gesetze anderer Ländergegen EU-Recht verstoßen.
Darum kümmert sich derzeit die Europäische Kommis-sion und, wenn es notwendig ist, gegebenenfalls derEuropäische Gerichtshof.Es ist inakzeptabel und aus meiner Sicht ein diploma-tischer Fehltritt erster Güte, einen anderen Staat aufzu-fordern, seine eigene Verfassung einem Dritten zurÜberprüfung vorzulegen.
Das widerspricht jedem Selbstverständnis eines souverä-nen Staates.
Wir alle sollten die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dassden Kritikern im In- und Ausland nach wie vor einegroße Mehrheit von ungarischen Bürgerinnen und Bür-gern gegenübersteht, die die ungarische Regierungspoli-tik befürworten. Auch das gibt es.
Ich mahne daher dringend dazu, diese Menschen nichtvor den Kopf zu stoßen. Noch einmal: Finden Sie aufden Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Umgang zu-rück.
Ich möchte an dieser Stelle auf ein paar Tatsachen hin-weisen und die Rechtswirklichkeit darstellen. Ich weißnicht, wie viele der Kritiker sich die ungarische Verfas-sung einmal angesehen haben. Wer sich die Mühe macht,wird feststellen, dass Ungarn über eine Verfassung ver-fügt, die ausführlich die Grundrechte und Grundfreiheitenanerkennt und diese festschreibt. An dem Bekenntnis zuGott und zum Christentum in der ungarischen Verfassungkann ich nichts Anstößiges erkennen.
Das gehört ohne Zweifel zur europäischen Geschichteund findet daher auch im deutschen Grundgesetz seineNiederschrift.Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass das ungarischeVerfassungsgefüge intakt ist, ist das vielfach gescholteneMediengesetz. Das ungarische Verfassungsgericht hatwesentliche Teile dieses Gesetzes kassiert und damitgezeigt, dass Meinungsfreiheit und Pressefreiheit inUngarn nach wie vor gelten.
Die Regierung muss das Urteil jetzt umsetzen, und siehat zugesichert, es zu tun. Das Ergebnis werden dann diezuständigen Organe beurteilen, unter anderem auch dieEuropäische Kommission, aber nicht der Deutsche Bun-destag.
Das gilt im Übrigen auch mit Blick auf die eingeleite-ten Vertragsverletzungsverfahren. Tatsache ist, dass esnichts Ungewöhnliches ist – das wurde schon angespro-chen –, wenn die Europäische Kommission Vertragsver-letzungsverfahren einleitet. Auch gegen Deutschlandlaufen zahlreiche solcher Verfahren.Tatsache ist, dass Ungarn zu den Fragen der Europäi-schen Kommission ordnungsgemäß Stellung genommenund Änderungen angeboten hat. Tatsache ist auch, dasszwischenzeitlich bei einem Großteil der Fragen einKompromiss gefunden werden konnte. Davon ist in demAntrag der Opposition allerdings keine Rede. Es wirdoffenbar auch ausgeblendet, dass sich der Punkt zumZentralbankgesetz weitgehend erledigt hat. Die beidenübrigen Verfahren laufen noch, und ich halte es für unan-gemessen, sich seitens des Deutschen Bundestages indieses Verfahren einzumischen. Vor allem finde ich esanmaßend, die Europäische Kommission ermuntern zuwollen, hier ordnungsgemäß und gründlich zu prüfen.Ich denke nicht, dass die Kommission derart weise Rat-schläge von der Opposition braucht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammen-fassend muss ich leider feststellen, dass der angeblichehrliche Dialog, den die Opposition hier führen möchte,alles andere als ehrlich ist. Es mangelt vor allem starkam notwendigen Respekt gegenüber einem befreundeteneuropäischen Land und dessen Menschen. Leidererkennt der Antrag die Tatsachen auch nicht in der gebo-tenen Ehrlichkeit an. Ich bitte Sie daher, den Antragabzulehnen.
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20010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Karl Holmeier
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Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche einen schönen Abend.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9032 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das ungarische
Mediengesetz – Europäische Grundwerte und Grund-
rechte verteidigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8710, den
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4429 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Presse-Grosso gesetzlich verankern
– Drucksache 17/8923 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Georg
Nüßlein, Wolfgang Börnsen, Martin Dörmann, Ulla
Lötzer und Tabea Rößner sowie des Parlamentarischen
Staatssekretärs Hans-Joachim Otto.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8923 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Martina Bunge, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Streichung des Begriffes „Rasse“ aus der deut-
schen Rechtsordnung und internationalen
Dokumenten
– Drucksache 17/4036 –
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden von Dr. Stephan Harbarth, Gabriele Fograscher,
Christoph Strässer, Stephan Thomae, Halina Wawzyniak
und Jerzy Montag.
Die Ächtung und Bekämpfung von Rassismus jederArt ist nicht nur Ziel unserer Politik, sondern zugleichAuftrag unserer Verfassung.Wir als Union bekennen uns klar und unmissver-ständlich zu einem respektvollen Miteinander aller Men-schen in unserem Land. Wir wenden uns gegen jedeForm der Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus undAntisemitismus. Wir müssen und werden alles dafür tun,dass in unserer Gesellschaft hierfür kein Platz ist. DerKampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Intoleranzmuss Markenzeichen unserer wehrhaften Demokratiesein. Dies setzt viele Maßnahmen voraus. Nur einigeseien genannt:Bei Kindern und Jugendlichen muss nicht nur dasDemokratiebewusstsein gestärkt werden, um sie vor Ex-tremismus jeglicher Art zu schützen. Sie müssen auch zutolerantem Verhalten erzogen werden.Wir müssen den Opfern extremistischer Gewalttatenmehr Aufmerksamkeit staatlicherseits entgegenbringenund Opferorganisationen unterstützen.Vor allem bedürfen diejenigen, die der Gefahr rassis-tischer Übergriffe ausgesetzt sind, auch des Schutzesdurch unseren Staat.Wichtig bei der Bekämpfung von Fremdenfeindlich-keit und Rassismus ist nicht zuletzt auch das ehrenamtli-che Engagement aus der Mitte unserer Gesellschaft. Fürdie vielen Zeichen der Hoffnungen in diesem Zusam-menhang sagen wir herzlichen Dank.Der von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag,der darauf abzielt, den Begriff Rasse aus der deutschenRechtsordnung und internationalen Dokumenten zustreichen, stellt jedoch kein taugliches Instrument derBekämpfung von Rassismus dar.Gerade aufgrund der deutschen Geschichte haltenwir es für den falschen Weg, diese Begriffe zu streichen.Die nationalsozialistischen Rassentheorien und der na-tionalsozialistische Rassenwahn erfordern, dass wirdurch den Wortlaut unserer Verfassung und unserer ein-fachen Gesetze klarstellen: Für Rassentheorien undRassenwahn gibt es in unserer Gesellschaft ebenso we-nig Platz wie für die Diskriminierung und Benachteili-1) Anlage 7
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Dr. Stephan Harbarth
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gung von Menschen aus rassistischen Motiven. Diessollten wir in unserer Verfassung und unseren Gesetzenbewusst und ausdrücklich betonen. Nicht ohne Grundhaben die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die dieNazidiktatur selbst erlebt hatten, Art. 3 unserer Verfas-sung denn auch so deutlich formuliert.Klar ist für uns dabei auch: Wir machen uns Theo-rien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiede-ner menschlicher Rassen zu belegen, nicht zu eigen. Beiuns ist für derartiges Gedankengut kein Raum.Den Antrag der Fraktion Die Linke werden wir ab-lehnen.
Gestern war der Internationale Tag gegen Rassismus.
Der 21. März wurde 1967 von den Vereinten Nationen
zum „Internationalen Tag zur Überwindung des Rassis-
mus“ deklariert. Gerade nach dem Bekanntwerden der
schrecklichen Mordserie der Zwickauer Terrorzelle ha-
ben viele Organisationen, Vereine und Gruppen den
gestrigen Tag genutzt, um ein Zeichen gegen Rassismus
zu setzen.
In Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz heißt es: „Nie-
mand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstam-
mung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und
Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politi-
schen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wer-
den.“ Dieser Grundrechtsartikel verwendet immer noch
den Begriff Rasse. Von vielen Seiten der Gesellschaft
wird schon seit mehreren Jahren gefordert, diesen Be-
griff aus der deutschen Verfassung zu streichen und
durch eine andere Formulierung zu ersetzen. Diese For-
derung wurde auch gestern erneut geäußert.
In der Vergangenheit wurden Menschen in unter-
schiedliche Rassen eingeteilt, und es wurden gute und
schlechte Rassen unterschieden. Rassentheorien wurden
herangezogen, um Hierarchien, Unterdrückung, Aus-
grenzung bis hin zur Gewalt und Ermordung von Juden
zu rechtfertigen. So wurden zum Beispiel die Sklaverei
und die Rassentrennung in Südafrika damit begründet,
dass die „weiße Rasse“ die überlegene sei.
Im Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie
stand der Rassenkampf. Es wurde behauptet, dass es hö-
herwertige und minderwertige Rassen gebe.
Bei der Einteilung von Menschen in Rassen ging man
davon aus, dass Rassen sich nicht nur biologisch, also
durch körperliche Merkmale, unterscheiden, sondern
auch durch feststehende und unveränderbare Merkmale
hinsichtlich ihrer Mentalität, ihres Charakters und ihrer
Intelligenz.
Die Einteilung des Menschen in Rassen entspricht
nicht dem Stand der Wissenschaft, schon gar nicht men-
schenrechtlichen Standards. Es gibt keine menschlichen
Rassen. Eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe der
UNESCO-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und
Diskriminierung“ am 8. und 9. Juni 1995 in Österreich
hat eine Erklärung zur Existenz menschlicher Rassen
abgegeben. Darin heißt es: „‚Rassen‘ des Menschen
werden traditionell als genetisch einheitlich und unter-
einander verschieden angesehen. Diese Definition
wurde entwickelt, um menschliche Vielfalt zu beschrei-
ben, wie sie zum Beispiel mit verschiedenen geografi-
schen Orten verbunden ist. Neue, auf den Methoden der
molekularen Genetik und mathematischen Modellen der
Populationsgenetik beruhende Fortschritte der moder-
nen Biologie zeigen jedoch, daß diese Definition völlig
unangemessen ist.“
Und weiter heißt es in dieser Erklärung von 1995:
„Rassismus ist der Glaube, daß menschliche Populatio-
nen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozia-
lem Wert unterscheiden, so daß bestimmte Gruppen ge-
genüber anderen höherwertig oder minderwertig sind.
Es gibt keinen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg,
mit dem dieser Glaube gestützt werden könnte. Mit die-
sem Dokument wird nachdrücklich erklärt, daß es keinen
wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche
Vielfalt mit den starren Begriffen ‚rassischer‘ Kategorien
oder dem traditionellen ‚Rassen‘konzept zu charakterisie-
ren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff
‚Rasse‘ weiterhin zu verwenden.“
Deshalb unterstützen wir als SPD-Bundestagsfrak-
tion grundsätzlich das Anliegen, den Begriff Rasse aus
deutschen Gesetzestexten zu streichen.
Dazu heißt es in einer Ausarbeitung des Deutschen
Instituts für Menschenrechte mit dem Titel: „… und wel-
cher Rasse gehören Sie an?“: „Daher sollte der Begriff
‚Rasse‘ keine Verwendung mehr in Gesetzestexten fin-
den. Dies umso mehr, als Gesetzestexte zur Bewusst-
seinsbildung beitragen können und eine gewisse
Vorbildfunktion haben sollten. Die Vorbildfunktion
rechtlicher Texte wird in jedem Fall dann relevant, wenn
es um menschenrechtliche Anliegen geht wie die Be-
kämpfung von Diskriminierung und Rassismus.“
Dennoch werden wir als SPD-Bundestagsfraktion
dem Antrag der Linksfraktion nicht zustimmen; wir wer-
den uns enthalten.
Die von den Linken vorgeschlagene Formulierung
„ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ anstatt
des Begriffs Rasse ist unbefriedigend, weil sie den
Schutzbereich der Norm einengt.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion folgen der Argu-
mentation des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Deshalb befürworten wir die Formulierung „rassisti-
sche Diskriminierung“. Mit dieser Begrifflichkeit in der
deutschen Verfassung würden wir uns klar und deutlich
von jeglicher Art Rassismus distanzieren.
Der Antrag der Linken wird heute keine Mehrheit er-
halten. Damit ist das Thema für uns aber nicht erledigt.
Wir werden versuchen, eine mehrheitsfähige Lösung
herbeizuführen, um den Begriff Rasse aus der deutschen
Rechtsordnung zu streichen.
Es ist eine absurde Paradoxie, dass gerade Gesetzeund Texte gegen Rassismus den Begriff Rasse immernoch benutzen. Das führt zu seltsam anmutenden stilisti-Zu Protokoll gegebene Reden
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schen Verrenkungen. So heißt es in der EU-Richtliniezur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzesohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft
: „Die Europäische Union weist
Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz ver-schiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. DieVerwendung des Begriffs ‚Rasse‘ … impliziert nicht dieAkzeptanz solcher Theorien.“ Aber warum verwendetman den Begriff, wenn man sich gleichzeitig dafür recht-fertigen und die weitere Verwendung begründen muss?In der deutschen Übersetzung der AllgemeinenErklärung über Bioethik und Menschenrechte derUNESCO-Generalkonferenz von 2005 heißt es: „DieÜbersetzung dieser Erklärung wurde leicht angepasstim Hinblick auf den Begriff ‚Rasse‘, der in Anführungs-zeichen gesetzt wurde. Dieser veraltete Sprachgebrauchsuggeriert fälschlich die tatsächliche Existenz verschie-dener menschlicher Rassen, was nach einhelliger wis-senschaftlicher Überzeugung und gemäß vieler Veröf-fentlichungen der UNESCO nicht zutrifft.“ Auch hierscheint sich der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes,vom dem die Übersetzung stammt, nicht ganz wohl mitden Begrifflichkeiten gefühlt zu haben.In vielen wissenschaftlichen Texten wird der BegriffRasse in Anführungszeichen gesetzt oder sehen die Ver-fasser sich gezwungen, eine ergänzende und klarstel-lende Fußnote einzufügen.Der Begriff Rasse ist nicht neu und wird auch in denRechtsordnungen anderer Länder angewendet. InDeutschland ist der Begriff aber extrem historisch be-lastet. So wird der Begriff in Deutschland in Wissen-schaft und Rechtsprechung sehr reflektiert benutzt.Trotzdem müssen Gerichte und Parlamente immer wie-der herausstellen, dass sie das Konzept der „Rasse“selbstverständlich ablehnen, auch wenn sie den Termi-nus verwenden. Das zeugt von Sensibilität, aber auchvon einem Unbehagen. Zu Recht, denn der Begriff derRasse ist von Biologie und Anthropologie als wissen-schaftliches Konzept desavouiert. Allein rassistischeTheorien gehen von der Annahme aus, dass es unter-schiedliche menschliche Rassen gebe. Durch die Ver-wendung des Begriffs wird die Vorstellung von der Exis-tenz menschlicher Rassen am Leben gehalten. HeinerBielefeldt, ehemaliger Direktor des Deutschen Institutsfür Menschenrechte, hat deshalb zu Recht darauf hinge-wiesen, dass der Begriff Rasse nicht „unschuldig“ ver-wendet werden kann.Der Ausarbeitung des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz la-gen laut der Kommentarliteratur zum Grundgesetz imWesentlichen die Zielvorstellungen der Vergangenheits-bewältigung des Rassismus und die Vermeidung seinerWiederholung zugrunde. Die Akten des Parlamentari-schen Rates lassen nicht erkennen, dass der Begriff derRasse bei Einführung des Grundgesetzes und des Art. 3Abs. 3 Grundgesetz problematisiert wurde. Ob bei Bera-tungen des Parlamentarischen Rates Alternativbegriffediskutiert wurden, ist ebenfalls nicht ersichtlich. DieFormulierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetzwurde aus der badischen Verfassung übernommen.Doch diese Formulierung in der Verfassung führt zueinem eklatanten Widerspruch. Nach der augenblickli-chen Lage müssen Opfer im Falle rassistischer Diskri-minierung geltend machen, aufgrund ihrer „Rasse“diskriminiert worden zu sein. Sie müssen sich gewisser-maßen selbst einer vermeintlichen „Rasse“ zuordnenund werden so gezwungen, selbst rassistische Termino-logie und rassistisches Gedankengut verwenden zu müs-sen.Die UNESCO hat sich schon 1995 in einer Erklärunggegen den Rasse-Begriff gewendet, ebenso das Europäi-sche Parlament im Jahre 1997, und auch das DeutscheInstitut für Menschenrechte empfiehlt, den Begriff ausdeutschen Rechtstexten zu entfernen. Andere staatlicheInstitutionen wie die Antidiskriminierungsstelle desBundes verwenden den Begriff bereits nicht mehr.Gesetzestexte tragen auch zur Bewusstseinsbildungbei und sollten eine Vorbildfunktion haben. Dass diesauch möglich ist, zeigen bereits mehrere europäischeLänder wie Schweden, Finnland und Österreich, die al-ternative Begrifflichkeiten nutzen.Die finnische Verfassung sieht zum Beispiel den Be-griff Herkunft statt Rasse vor. Im schwedischen Gesetzzur Umsetzung der Richtlinie 2000/43/EG wird auf „eth-nische Zugehörigkeit“ Bezug genommen. Der Begriffder Rasse findet auch hier keine Verwendung. In Frank-reich ist in unterschiedlichen Rechtsvorschriften von dervermuteten Rasse die Rede. Im Gegensatz zur Richtlinie2000/43/EG verzichtet das österreichische Gesetz auchganz auf den Begriff. Noch mehr Details können derAusarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bun-destages „Zur Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ auf eu-ropäischer und nationaler Ebene“ entnommen werden,die ich angesichts der Bedeutung, die wir dem Themabeimessen, in Auftrag gegeben hatte.Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, indem sie den Begriff aus dem Grundgesetz und anderenGesetzestexten streichen will. Dieser Intention ist ausden genannten Gründen grundsätzlich zuzustimmen.Deshalb lehnt meine Fraktion den Antrag auch nicht ab.Es sprechen aber zwei Gründe gegen eine Zustimmungzu diesem Antrag. Zum einen fordert der Antrag, dasssich Deutschland auf internationaler Ebene dafür ein-setzen soll, dass der Begriff Rasse keine Aufnahme inDokumente mehr findet und schrittweise entfernt wird.Das ist zwar richtig. Aber erst sollte Deutschland mitgutem Beispiel vorangehen und die eigene Rechtsord-nung sprachlich modernisieren. Zum anderen – und dasist der entscheidendere Grund – ist der alternative For-mulierungsvorschlag juristisch so nicht annehmbar. DerAntrag fordert, den Begriff Rasse durch „ethnische, so-ziale und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Die „so-ziale Herkunft“ wird im Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3Grundgesetz aber schon durch das Merkmal „Herkunft“abgedeckt, so wie „territoriale Herkunft“ durch „Hei-mat“ abgedeckt ist. Eine doppelte Erwähnung ist über-flüssig und führt zu Abgrenzungsschwierigkeiten.Fraglich bleibt außerdem, ob „ethnische Herkunft“den Begriff Rasse juristisch und sprachlich ersetzenkann. Dadurch könnte der Schutzbereich verengt wer-Zu Protokoll gegebene Reden
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den. Benachteiligungen, die an die tatsächliche odervermeintliche Ethnie einer Person anknüpfen, sind nachderzeitiger Auffassung in einigen Kommentaren nur einTeilaspekt des Diskriminierungstatbestandes „Rasse“.Aus sprachlicher Sicht stellt sich zudem die Frage, obman einen Begriff nicht durch einen ähnlichen Begriffwieder ersetzt.Zu überdenken ist – so wie es das Deutsche Institutfür Menschenrechte vorschlägt –, grundsätzlich von„rassistischer Diskriminierung“ zu sprechen. Dadurchwird verdeutlicht, dass es keine Rassen gibt, sonderndiese rassenideologische Vorstellung nur von außen ver-breitet wird. Für Art. 3 Grundgesetz Abs. 3 Grundgesetzschlägt das Institut für Menschenrechte konkret vor:„Niemand darf rassistisch oder wegen seines Ge-schlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seinerHeimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösenoder politischen Anschauungen benachteiligt oder be-vorzugt werden.“ Dieser Vorschlag ist eine denkbareLösung. Es gilt in jedem Fall, eine Regelung zu finden,die den sachlichen Gehalt des Grundrechts nicht ein-engt.Doch über Detailformulierungen brauchen wir heutenicht beraten, denn die Koalition scheint das Grund-anliegen des Antrags nicht zu tragen, was ich bedauere.Schon im Dezember 2010 stellte sich bei der Umsetzungdes Rahmenbeschlusses zur strafrechtlichen Bekämp-fung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Ras-sismus und Fremdenfeindlichkeit die Frage, ob und wiedie Begriffe Rasse bzw. rassisch in § 130 StGB aufge-nommen werden sollte. CDU/CSU und FDP hatten un-seren Wunsch abgelehnt, für eine Klarstellung im Gesetzzu sorgen, zumindest den Begriff Rasse in weiteren Be-ratungen kritisch zu hinterfragen und nach Alternativenzu suchen, was bedauerlicherweise zurückgewiesenwurde.In meiner Position als Sprecher der SPD-Bundes-tagsfraktion für Menschenrechte unterstütze ich die For-derung, den Begriff Rasse aus den deutschen Rechtstex-ten sukzessive zu streichen, letztlich auch aus demKontext unseres Grundgesetzes. Dabei ist darauf zu ach-ten, dass eine Alternativformulierung keine Verschlimm-besserung darstellt. Aus diesem Grunde kann ich michdeshalb nur enthalten. Ich würde aber jeden Vorstoß zurSuche einer gemeinsamen interfraktionellen Lösung be-grüßen.
Ihrem Antrag, die Formulierung Rasse aus Gesetzes-und Dokumentationstexten zu streichen, sehr geehrteKolleginnen und Kollegen der Linken, können wir Libe-rale nicht zustimmen.Wir müssen uns klarmachen, dass es bei der Debatteum ein Wort geht. Und ein Wort selber kann nicht ver-werflich sein, sondern lediglich die Bedeutung, die wirdiesem Wort beimessen.Der Begriff Rasse muss nicht zwangsläufig negativsein. Erforscht man den Begriff näher, so stößt man beimUrsprung des Wortes Rasse darauf, dass es vom lateini-schen Wort radix – Wurzel – abstammt. Übersetzt mannun den Begriff in diesem Sinne, so kann man die Ver-wendung der Formulierung auch so verstehen, dass derVerwender „stolz auf seine Wurzeln“ ist. Der Begriff istzunächst wertneutral und erhielt in der Geschichtedurch missbräuchliche Verwendung den zwielichtigenBeigeschmack.Für die FDP-Fraktion möchte ich in aller Deutlich-keit festhalten, dass wir uns mit großer Entschlossenheitgegen jede Form von Diskriminierung, Intoleranz undAusgrenzung in unserer Gesellschaft wenden.Genau das will auch unsere Rechtsordnung. Damitunser Recht das ausdrücken kann, muss man dem Ge-genstand einen Begriff geben. Wir vertreiben das Bösenicht aus der Welt, indem wir unsere Sprache der Mög-lichkeit berauben, es auszudrücken und beim Namen zunennen.Wollte man nun den Begriff in Dokumentartexten,Rechtstexten und sogar im Grundgesetz ändern, müsstenwir dabei das Telos betrachten, mit dem dieser Begriff indas Grundgesetz aufgenommen wurde. Die geistigenSchöpfer des Grundgesetzes haben, aufgrund der nega-tiven Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus,ganz bewusst die Gleichheit der Rassen und das Verbotder Rassendiskriminierung in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetzformuliert und fixiert. Damit wurde der Begriff Rassepositiv hervorgerufen und besonders gedeutet. DemArt. 3 des Grundgesetzes ist nicht ansatzweise eine Ak-zeptanz von Rassekonzeptionen zu entnehmen. Die Vor-schrift unterstellt nicht, dass es Rassen gebe, sondernverbietet, Menschen aufgrund einer etwa behauptetenRasse zu benachteiligen oder zu bevorzugen.Auch eine Änderung der Formulierung von § 1 desAGG ist nicht gerechtfertigt. Der Begriff Rasse im AGGist von der Antirassismusrichtlinie vorge-geben, deren Umsetzung das AGG unter anderem dient.Im Rahmen der Verhandlungen zu dieser Richtliniewurde die Frage der Formulierung, die auch wir heutedebattieren, von den Mitgliedstaaten eingehend disku-tiert. Dabei kam man überein, an dem Begriff Rasse fest-zuhalten, weil dieser den sprachlichen Anknüpfungs-punkt zu dem Begriff Rassismus bildet. Dies hatSignalwirkung. Und diese Signalwirkung soll zur konse-quenten Bekämpfung rassistischer Tendenzen genutztwerden.Vielleicht ist die Verwendung des Begriffs Rasse nichtmehr wissenschaftlich zu begründen; jedoch sollte diesepositive Entwicklung des Begriffs weitergetragen wer-den. Der Antrag von Ihnen, meine Damen und Herrender Linken, würde diesen besonderen Schutz schmälern.Er zielt politisch nur darauf ab, Aufmerksamkeit zu erre-gen.Gerade wir Freien Demokraten sind der Freiheit unddem Schutz des Grundgesetzes besonders verpflichtetund lehnen Ihren Antrag deswegen ab. Wichtiger, alsüber Formulierungen zu streiten, wäre es, über konkreteVerbesserungsmöglichkeiten, Aktionen und Hilfen fürOpfer von Rassismus zu sprechen.Zu Protokoll gegebene Reden
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20014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
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Die Versuche, Menschen in Rassen zu unterscheiden,
gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhun-
dert unterteilte der Philosoph Christoph Meiners die
Menschheit in die schöne weiße und die hässliche
dunkle Rasse.
Der biologisch-wissenschaftliche Begriff Rasse
jedoch ist ein rechtes Kind des 19. Jahrhunderts. Er ist
das Geistesprodukt der Sozialstatistik, Phrenologie,
Physiognomik, Anthropologie und später der Eugenik –
allesamt modische oder auch zum Teil Pseudowissen-
schaften dieser Zeit.
Der Begriff Rasse – angewendet auf Menschen – be-
inhaltet die Idee, dass diese sich nach optischen Krite-
rien wie Hautfarbe, Knochen, Winkel, Größen, später
Gene, biologisch in Gruppen klassifizieren lassen. Eine
der Hauptstützen moderner Rassentheorien wurde das
Konzept des Sozialdarwinismus.
Aus der Klassifizierung folgte die Hierarchisierung,
und von da waren es nur noch kleine Schritte hin zur
Diskriminierung, Misshandlung, zur Sanktionierung von
Vernichtungsfeldzügen gegen Menschen, die anders
aussehen, sprechen, eine andere Kultur haben, andere
Sitten pflegen.
Lange bevor das Hitler-Regime die Macht übernahm,
hatten zahlreiche Rassefanatiker Thesen propagiert, die
auf Völkermord abzielten. Aber erst die Nationalsozia-
listen setzten die Übermenschfantasien, die Rassetheo-
rien, die sozialdarwinistischen Leitvorstellungen und
den immer stärker gewordenen Rassismus, der sich mit
dem Antisemitismus verband, in eine unvergleichlich
grausame Praxis um.
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte und in Kennt-
nis dessen, dass der Begriff Rasse – bezogen auf
Menschen – längst wissenschaftlich widerlegt, histo-
risch überholt und ideologisch extrem belastet ist, gehe
ich davon aus, dass unser Antrag, diesen Begriff aus der
Rechtsordnung und allen internationalen Dokumenten
zu streichen, die Zustimmung aller Bundestagsabgeord-
neten finden wird.
Wir beziehen uns mit diesem Antrag auf die Antiras-
sismusrichtlinie 2000/43 EG und darauf, dass auf Ini-
tiative der UNESCO bereits 1995 eine Erklärung be-
schlossen wurde, sich ganz vom Rassebegriff zu
verabschieden. Andere Staaten sind der damit verbunde-
nen Aufforderung, auf die Verwendung des Begriffs
Rasse zu verzichten, längst nachgekommen.
In Deutschland steht er noch immer in vielen Geset-
zestexten, zum Beispiel im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3
Satz 1, wo es heißt: „Niemand darf wegen seines
Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner
Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens,
seiner religiösen oder politischen Anschauungen be-
nachteiligt oder bevorzugt werden.“
Es ist nicht zeitgemäß, nicht angemessen und zu-
gleich beschämend, dass wir in unserer Verfassung wei-
terhin vom Vorhandensein verschiedener menschlicher
Rassen ausgehen. Sprache ist verräterisch, im Schlech-
ten wie im Guten. Wir stehen in der Pflicht, im geschrie-
benen und gesprochenen Wort zu verraten, dass wir die
richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen haben.
Der Vorschlag meiner Fraktion lautet, den Begriff
Rasse durch die Formulierung „ethnische, soziale und
territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Die ist zwar länger
als ein Wort, aber so viel Zeit muss und sollte ab jetzt im-
mer sein.
Der Blut- und Rassenwahn der Nationalsozialistenwar ideologische Grundlage der Euthanasie, der Ver-nichtung der Sinti und Roma und des ungeheuerlichenMenschheitsverbrechens der Auslöschung des europäi-schen Judentums im Holocaust. Millionen von Men-schen sind, zum Teil nach unbeschreiblichen Qualen,wegen dieses Wahns ermordet worden.Die Blut- und Rassenlehre der nationalsozialisti-schen Bewegung, die nach 1933 als Rassegesetzgebungin das deutsche Recht integriert wurde, basiert auf zweiBehauptungen. Erstens soll die äußerliche Unterschied-lichkeit von Menschen nach Hautfarbe und Gesichtsaus-druck unter anderem auf sogenannten verschiedenenRassen von Menschen beruhen, und zweitens soll es einewesensmäßige, qualitative Unterschiedlichkeit diesersogenannten Rassen geben.Der Antrag der Linken führt richtig aus, dass solchePseudotheorien wissenschaftlich widerlegt sind.Gibt es angesichts dieser ungeheuerlichen geschicht-lichen Belastung und unzweifelhaften wissenschaftli-chen Widerlegung noch Gründe, im Alltag und in derUmgangssprache am Gebrauch des Wortes Rasse im Be-zug auf Menschen festzuhalten? Ich meine nicht. Es istviel mehr als nur ein Ausdruck einer „political correct-ness“, wenn wir alle auch in unserer Kommunikationzum Ausdruck bringen, dass die Einteilung von Men-schen nach Rassen falsch ist und bei uns der Vergangen-heit angehört. Nicht umsonst forderte die UNESCO be-reits 1950, in der Umgangssprache das Wort Rasse imBezug auf Menschen nicht mehr zu verwenden.Allerdings, bis heute und auch noch in der Zukunft,gibt es – nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt –Menschen, die dem Rassenwahn anhängen und diesenauch aggressiv und kämpferisch propagieren. Gegendiese Menschen und ihr menschenverachtendes Treibenhilft es nichts, selbst auf den Gebrauch des Wortes Rassekonsequent zu verzichten und es durch andere Begriffewie zum Beispiel ethnische Herkunft zu ersetzen.Schauen wir uns an, wo und in welchem Zusammen-hang in völkerrechtlichen Verträgen, im europäischenRecht und auch in unserer Rechtsordnung der Begriffder Rasse verwendet wird.Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet alleMitglieder „auf den Grundsatz der allgemeinen Achtungder Menschenrechte für alle ohne Unterschied derRasse“. Die Erklärung der Menschenrechte der UNOproklamiert die „Gleichheit aller Menschen ohne ir-gendeinen Unterschied, etwa nach Rasse“. Die Erklä-Zu Protokoll gegebene Reden
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rung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1960verurteilt den Kolonialismus und alle damit verbunde-nen Praktiken der Rassentrennung, und in der Erklärungder VN vom 20. November 1963 wird „die Beseitigungjeder Form von Rassendiskriminierung“ gefordert.Die europäischen Verträge wenden sich ausdrücklich„gegen jegliche Diskriminierung aus Gründen derRasse“ und die Charta der Grundrechte „gegen Diskri-minierungen wegen der Rasse“.Das Grundgesetz erklärt unmissverständlich: „Nie-mand darf wegen … seiner Rasse … benachteiligt oderbevorzugt werden.“Allen diesen Festlegungen liegt zugrunde, dass sienicht affirmativ den Begriff der Rasse als richtig undvorgegeben übernehmen, sondern alle verurteilen undgeißeln die unterschiedliche und damit diskriminierendeBehandlung von Menschen, die mit der Begründung vor-genommen wird, sie würden unterschiedlichen Rassenangehören.Schon im Jahre 1966 heißt es im Rassendiskriminie-rungsbeseitigungs-Übereinkommen, in dem übrigensauch von zu bekämpfenden Unterscheidungen gespro-chen wird, die auf der „Rasse beruhen“, unmissver-ständlich, dass „jede Lehre von einer auf Rassenunter-schiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlichfalsch, moralisch verwerflich sowie sozial ungerechtund gefährlich ist“.Wenn wir uns gegen Rassismus – wo auch immer undin welcher Form auch immer – wehren wollen, kommt esdarauf an, das Übel beim Namen zu nennen. Dies ist dereinzige Grund, am Gebrauch des Wortes Rasse festzu-halten. Ihn auch im Zusammenhang mit der Bekämpfungvon Rassismus tilgen und durch politisch korrekte Worteersetzen zu wollen, ist nicht zielführend und kann imschlimmsten Fall von Rassisten als Signal verstandenwerden, dass ihr paranoider Rassenwahn nicht mehr ge-ächtet und verfolgt wird.Deshalb folgen wir auch nicht der Forderung derLinken, den Begriff der Rasse aus allen internationalenDokumenten zu entfernen, ganz abgesehen von der völ-ligen Unmöglichkeit der Durchsetzung solcher Forde-rungen.Erkennbar basiert der Antrag der Linken auf zweiVeröffentlichungen des Deutschen Instituts für Men-schenrechte. Im Gegensatz zu dem Antrag der Linkenheißt es jedoch in diesen Veröffentlichungen ausdrück-lich, dass „es nicht ausreichend erscheint, den Begriffder Rasse einfach wegzulassen und allein auf andere Be-griffe wie ‚ethnische Herkunft‘ oder ‚soziale Zugehörig-keit‘ abzustellen“.Auch der Verweis der Linken auf die Deklaration vonSchlaining gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminie-rung aus dem Jahr 1995 ist verfehlt. Sie fordert die Ab-kehr vom „veralteten ‚Rassen‘-Konzept“ und seine Er-setzung „durch Anschauungen und Schlussfolgerungenauf der Grundlage des heutigen Verständnisses geneti-scher Vielfalt in ihrer Anwendung auf die menschlicheBevölkerung.“ Dies ist etwas anderes als die Forderung,auf den Begriff Rasse beim Kampf und der Ächtung desRassismus und von Rassisten zu verzichten.So gut gemeint der Ansatz der Linken ist, sich von jeg-licher Rassenideologie im Bezug auf Menschen zu verab-schieden und in Zukunft nicht mehr von Rassen im Bezugauf Menschen zu sprechen, so falsch und kontraproduk-tiv scheint uns der Ansatz, in allen Völkerrechtsverträ-gen, im europäischen Recht und im Grundgesetz dasWort Rasse zu streichen und durch „ethnische, sozialeund territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Damit nehmenwir diejenigen, die von Rassen reden und rassisch diskri-minieren, aus dem Fokus und ermuntern Rassisten, ihrUnwesen weiter zu treiben. Einem solchen Antrag wer-den wir nicht zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4036. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheit-
lichen Nutzen von Medizinprodukten besser
gewährleisten
– Drucksache 17/8920 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dietrich
Monstadt, Dr. Marlies Volkmer, Jens Ackermann, Kathrin
Vogler und Dr. Harald Terpe.
Wir debattieren heute einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der Mängel des bestehenden Zulassungs-und Überwachungsverfahrens kritisiert und Konsequen-zen aus dem Skandal um die Brustimplantate des franzö-sischen Herstellers PIP vorschlägt. Der Antrag beruftsich dabei auch auf die Häufigkeit von Revisionsopera-tionen bei Endoprothesen. Des Weiteren fordert derAntrag, eine frühe Nutzenbewertung bei neuen Untersu-chungs- und Behandlungsmethoden im SGB V einzufüh-ren, als Voraussetzung der Erstattungsfähigkeit.In der Tat gehört es zur Verantwortung des Gesetzge-bers, zu prüfen, wo sich in dem Geschehen Mängel desgeltenden Medizinprodukterechts erkennen lassen undwelche Verbesserungsansätze sich daraus ableiten las-sen. Unser gemeinsames Ziel muss sein, ähnlichen Fäl-
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Dietrich Monstadt
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len in der Zukunft möglichst vorzubeugen oder diese we-nigstens rascher aufzudecken, um die Gefährdung undSchädigung weiterer Menschen zu verhindern.Bevor wir Lösungsvorschläge diskutieren, müssenwir uns die Fakten und die Rechtslage ins Bewusstseinrufen.Medizinprodukte werden, je nach Zweckbestimmungder Produkte und dem Gefährdungspotenzial für denPatienten, den vier Risikoklassen I, IIa, IIb oder III zu-geordnet. Brustimplantate und Endoprothesen, die inden Körper des Patienten implantiert werden, gehörenzur Klasse III. Sie sind sogenannte Hochrisikoprodukte,für die ein höchstmögliches Sicherheitsniveau erforder-lich ist.Medizinprodukte unterliegen in der EuropäischenUnion keinem behördlichen Zulassungsverfahren, son-dern erlangen ihre Verkehrsfähigkeit nach den Regelndes „new approach“. Bei Medizinprodukten der höchs-ten Risikoklasse III führt der Hersteller unter Einbezie-hung einer Benannten Stelle eine Konformitätsbewer-tung durch. Die Benannte Stelle wiederum ist von demEU-Mitgliedstaat, in dem sie ansässig ist, akkreditiert.Das geltende regulatorische System für Medizinpro-dukte hat sich aus meiner Sicht grundsätzlich bewährt.Skandale mit Medizinprodukten der Klasse III zeigenjedoch, dass dieser Ansatz, der auf Verantwortungsbe-wusstsein und Vertrauenswürdigkeit der Herstellerbasiert, nicht geeignet ist, unseriöse oder kriminellePraktiken rechtzeitig aufzudecken. Dies gibt Anlass, dasvorhandene Instrumentarium auf nationaler und euro-päischer Ebene daraufhin zu prüfen, wie kriminellemHandeln Einzelner besser vorgebeugt bzw. wie solchesHandeln durch Überwachung möglichst rasch aufge-deckt werden kann.Beim PIP-Skandal ist Kern des Geschehens ein bis-lang ungekanntes Maß an krimineller Energie aufseitender Herstellerfirma. Der Hersteller PIP hat mit erhebli-cher krimineller Energie etwa 75 Prozent seiner Produk-tion mit einem nicht der CE-Zertifizierung des Original-produktes entsprechenden Material vermarktet. DerBenannten Stelle TÜV Rheinland wurden bei Audits dieeinwandfreien 25 Prozent der Produktion vorgeführt.Unbestritten ist, dass der französische Hersteller sichvorsätzlich kriminell verhalten und in Betrugsabsichtgegen Gesetze und andere Vorschriften verstoßen hat.Vor diesem Hintergrund ist zu klären, welche Bedeu-tung das kriminelle Handeln von PIP hinsichtlich derRegelung des Inverkehrbringens von Produkten derKlasse III hat.Eine andere Regelung des Marktzugangs – etwa dasim vorliegenden Antrag geforderte behördliche Zulas-sungsverfahren anstelle des seit 25 Jahren praktizierten„new approach“ – hätte dieses vorsätzliche kriminelleVerhalten nicht mit Sicherheit verhindert. Denn auch ei-ner Zulassungsbehörde hätte der Hersteller eine ge-fälschte Dokumentation und eine unbedenkliche Probevorlegen können, so wie er es gegenüber dem TÜVRheinland getan hat. Die Problematik liegt daher nichtin den Voraussetzungen für das erstmalige Inverkehr-bringen, sondern in der Kontrolle der laufenden Produk-tion und der Überwachung der Anwendung.Der TÜV Rheinland als Benannte Stelle sowie deut-sche und französische Behörden haben sich im Konfor-mitätsbewertungsverfahren bzw. bei der Überwachung,soweit ich es übersehen kann, korrekt verhalten.Nach der Information durch die französische Behördehat das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel undMedizinprodukte dem jeweiligen Informationsstand ent-sprechend gehandelt. Die gegenwärtige Empfehlung desBfArM lautet, Implantate des Herstellers PIP in jedemFall entfernen zu lassen.Natürlich wird jetzt die Frage gestellt, ob man dasGefährdungspotenzial der betroffenen Brustimplantatenicht früher hätte erkennen können.Die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung
verpflichtet unter anderem Händler, Ärzte und
Krankenhäuser, die „Medizinprodukte beruflich odergewerblich betreiben oder anwenden“, zur Meldung von„Vorkommnissen“. Die Definition eines „Vorkommnis-ses“ steht in § 2 Nr. 1 MPSV: Danach ist „‚Vorkommnis‘eine Funktionsstörung, ein Ausfall oder eine Änderung derMerkmale oder der Leistung oder eine Unsachgemäßheitder Kennzeichnung oder der Gebrauchsanweisung einesMedizinprodukts, die unmittelbar oder mittelbar zum Tododer zu einer schwerwiegenden Verschlechterung desGesundheitszustands eines Patienten, eines Anwendersoder einer anderen Person geführt hat, geführt habenkönnte oder führen könnte“.Die Ruptur eines Brustimplantats, das Auslaufen bzw.Ausschwitzen des Silikongels und gesundheitliche Fol-gen wie die Bildung schmerzhafter Lymphknoten, dieeine operative Entfernung der Implantate erforderlichmachen, genügen der Definition eines „Vorkommnis-ses“. Sie müssen daher entsprechend den Regelungender Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung gemel-det werden.Legt man die Schätzung von 7 500 in Deutschland mitPIP-Implantaten versorgten Frauen zugrunde, wie diesauch der vorliegende Antrag annimmt, so hätten 75 Pro-zent von ihnen – das sind 5 625 Frauen – ein Implantatmit dem nicht der CE-Zertifizierung entsprechenden Si-likongel erhalten.In Frankreich waren laut BfArM mehr als 1 000 Fällevon gerissenen PIP-Brustimplantaten gemeldet worden;die Gesamtzahl von Patientinnen mit PIP-Brustimplan-taten liegt dort bei 30 000. Rechnet man dieses Verhält-nis von Meldungen zu Implantaten auf die deutsche Zahlder PIP-Implantate um, so wären 250 gemeldete Ruptu-ren zu erwarten.Dennoch wurden in Deutschland bis zum 22. Dezem-ber 2011, über 14 Jahre nach dem erstmaligen Inver-kehrbringen der PIP-Implantate, nur insgesamt 19 Fällevon Rupturen gemeldet, was auf ein hohes Meldedefizithindeutet. Die Verringerung dieses Meldedefizites dientdem Schutz von Patienten und gegebenenfalls Anwen-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20017
Dietrich Monstadt
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dern, da die Bundesoberbehörde frühere und konkretereProduktwarnungen aussprechen kann.So hätte ein pflichtgemäßes Meldeverhalten bereitsder ersten Vorkommnisse die Behörden zum Handelnveranlassen können. Die Verwendung der gefährlichenImplantate hätte schon vor Jahren eingestellt werdenkönnen. Ein pflichtgemäßes Meldeverhalten hätte ver-hindern können, dass weiterhin über viele Jahre hinwegweitere Tausende Frauen mit PIP-Implantaten versorgtund damit hohen Gesundheitsrisiken sowie jetzt der Ex-plantation ausgesetzt wurden.Die tatsächliche Erfüllung der in der MPSV veran-kerten Meldepflicht dient der Sicherheit und demGesundheitsschutz der Allgemeinheit. Daher ist zureffektiveren Durchsetzung der Meldepflichten die Medi-zinprodukte-Sicherheitsplanverordnung um eine Buß-geldvorschrift zu ergänzen, die sich an der entsprechen-den Vorschrift der GCP-Verordnung orientieren sollte.Gegen eine solche Sanktion zur Absicherung der Mel-depflicht werden immer wieder Einwände vorgebracht.So dürfe etwa ein Arzt bei einem Vorkommnis, das ent-weder auf einem Produktfehler oder aber einem von ihmzu verantwortenden Behandlungsfehler beruhen kann,nicht durch die Sanktion zur Erfüllung seiner Melde-pflicht und damit quasi zur Selbstanzeige verpflichtetwerden. Wäre dieser Einwand tragfähig, so wäre nichtnur die Sanktion, sondern bereits die Meldepflicht selbstabzulehnen.Das Interesse eines Arztes, eine mögliche Strafverfol-gung wegen Körperverletzung oder Tötung oder einenHaftpflichtfall zu vermeiden, kann nicht das öffentlicheInteresse an der Sicherheit von Medizinprodukten über-wiegen.Im Übrigen würde sich gerade der Arzt, der ein Vor-kommnis nicht gemeldet hat, in einem möglichen Ge-richtsverfahren dem Verdacht aussetzen, die Erfüllungseiner Meldepflicht zur Verdeckung eines Behandlungs-fehlers unterlassen zu haben.Zwei weitere Einwände gegen eine Sanktionsbeweh-rung der Meldepflicht sind, dass aus Angst Meldungenvollkommen unterbleiben bzw. dass es zu einer Flut vonBagatellmeldungen kommt. Beide Befürchtungen teileich nicht.Ein weiteres wichtiges Element ist die Überwachungdurch die zuständigen Landesbehörden, die eben nicht erstdann tätig werden sollen, wenn bereits zahlreiche Men-schen gesundheitlich geschädigt worden sind. Von daherist es richtig und begrüßenswert, dass nach der neuen, imDezember vom Bundeskabinett verabschiedeten Medizin-produkte-Durchführungsvorschrift, MPGVwV, die zustän-digen Behörden anlassunabhängig zu inspizieren haben.Dabei können beispielsweise bei Herstellern, Handelund Gesundheitseinrichtungen Stichproben von Medi-zinprodukten genommen werden.Auch sollten Benannte Stellen zu unangekündigtenFertigungsstättenkontrollen mit Stichprobenziehungensowohl im Fertigungsprozess als auch bereits vermark-teter Produkte verpflichtet werden. Damit dies für in derganzen EU verkehrsfähige Produkte Wirkung entfaltet,bedarf es klarer Vorgaben im europäischen Recht.Darüber hinaus wäre es sinnvoll, im europäischenRecht stichprobenartige Kontrollen direkt vor der An-wendung bzw. der Implantation des Medizinproduktesvorzuschreiben. Solche Kontrollen sind bei Arzneimit-teln seit 1968 vorgesehen. Apotheker sind verpflichtet,Fertigarzneimittel stichprobenweise zu überprüfen, unddas Ergebnis ist in einem Prüfprotokoll festzuhalten.Nach geltendem europäischem Recht kann der Her-steller eines Medizinproduktes der Klasse III zwischenzwei Konformitätsbewertungsverfahren wählen. Einer-seits gibt es die EG-Baumusterprüfung nach Anhang IIIder MDD, wobei die Benannte Stelle die Produktdoku-mentation prüft und auch am Produkt selbst Prüfungendurchführt.Im Gegensatz dazu wird bei der EG-Konformitäts-erklärung nach Anhang II der MDD das Produkt von derBenannten Stelle nur anhand des vom Hersteller einge-reichten Dossiers bewertet. Zusätzlich erfolgt eine re-gelmäßige Überprüfung des Qualitätssicherungssystemsdes Herstellers durch die Benannte Stelle. Wichtig ist,dass bei der Konformitätserklärung das Produkt selbstvon der Benannten Stelle nicht geprüft wird. Im Interesseder Sicherheit von Patienten und der Vertrauenswürdig-keit europäischer Medizinprodukte sollte jedoch dieBaumusterprüfung für die Klasse III obligatorisch wer-den. Dafür ist eine Änderung des europäischen Rechtserforderlich.Schließlich erscheint es unerlässlich, dass nicht nurdie Benannten Stellen zur Meldung von Vorkommnissenan die zuständigen Behörden verpflichtet sind, sondernauch umgekehrt die Benannten Stellen von den Behör-den unterrichtet werden, falls eines der von ihnen be-werteten Produkte auffällig wird.Die Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU/CSU hat imJanuar in Brüssel mit den Kollegen im EuropäischenParlament und mit Kommissar Dalli über sinnvolleVerbesserungen des Medizinprodukterechts beraten.Schriftlich haben wir gegenüber Kommissar Dalli noch-mals insbesondere auf die anwendungsnahe Stichpro-bennahme abgehoben.In seiner Antwort hat sich Kommissar Dalli für Stich-proben und unangekündigte Audits der BenanntenStellen ausgesprochen. Für die Überarbeitung der euro-päischen Richtlinien kündigt er die Stärkung der Markt-überwachung durch die zuständigen nationalen Behör-den und ein europäisches Referenzlabor zur Testung vonIVF-Diagnostika und Hochrisikoprodukten an.Ich habe einige Ansätze vorgestellt, die geeignet sind,ähnlichen Fällen wie dem PIP-Skandal in der Zukunft soweit wie möglich vorzubeugen. Wir werden in der christ-lich-liberalen Koalition und in Zusammenarbeit mit un-seren Partnern auf EU-Ebene die geeigneten Umset-zungswege sorgfältig prüfen.Der heute vorliegende Antrag von Bündnis 90/DieGrünen ist von anderer Qualität als der im Februar ein-gebrachte Antrag der Linken. Über einige VorschlägeZu Protokoll gegebene Reden
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20018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dietrich Monstadt
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kann man in eine ernsthafte Diskussion einsteigen, bei-spielsweise über den Aufbau von Registern. Anderen imvorliegenden Antrag erhobenen Forderungen, wie etwadem behördlichen Zulassungsverfahren, kann ich michnicht anschließen. Aber ich anerkenne, dass die Autorensich bemüht haben, Schlüsse aus dem Geschehen zu zie-hen und Vorschläge zu erarbeiten, die man diskutierenkann.Es wird in naher Zukunft eine Sachverständigenanhö-rung zu dem Antrag der Linken stattfinden, der sich al-lerdings darauf beschränkt, die Kostenbeteiligung vonPatienten bei Folgeerkrankungen medizinisch nichtindi-zierter Schönheitsoperationen abzuschaffen. Dem Plen-arprotokoll vom 9. Februar kann man entnehmen, dassalle anderen Fraktionen die Auffassung teilen, als ein-zige Konsequenz aus dem PIP-Skandal sei dies völligungenügend.Wir sollten daher die Zeit sinnvoller nutzen und diegeplante Anhörung zu den tatsächlich relevanten Fra-gen des Medizinprodukterechts nach dem PIP-Skandaldurchführen. Die christlich-liberale Koalition ist zu ei-ner offenen, am Ziel der Patientensicherheit orientiertenDebatte bereit.
Aktuell befinden sich etwa 400 000 Medizinprodukteauf dem Markt, jährlich gelangt eine vierstellige Anzahldazu. Das potenzielle Gesundheitsrisiko einiger dieserProdukte ist mit dem von Arzneimitteln durchaus ver-gleichbar. Trotzdem gelten selbst für den Marktzugangvon Medizinprodukten hoher Risikoklassen bislang an-dere Anforderungen als für Medikamente. Sie werden alstechnische Güter betrachtet und nicht als medizinische,daher wird ein CE-Siegel als ausreichend betrachtet.Mit dem Kennzeichnen erklärt der Hersteller, dass seinProdukt den geltenden Anforderungen genügt. Dafür hater in einem sogenannten Konformitätsverfahren einerBenannten Stelle gegenüber nachgewiesen, dass diegrundlegenden Anforderungen des Medizinproduktege-setzes eingehalten werden, dass das Medizinproduktsicher ist und dass es die ihm zugeschriebenen medizini-schen Leistungen erbringt.Ein Großteil der Medizinprodukte fällt in eine nied-rige Risikoklasse. Das sind etwa Spatel, Rollstühle, Ver-bände und Ähnliches. Bei diesen Produkten funktioniertdas aktuell praktizierte Verfahren.Bei Medizinprodukten höherer Risikoklassen wieStents, Herzschrittmacher und Endoprothesen ist zwareine klinische Bewertung Pflicht, diese liefert aber meis-tens keine Informationen darüber, wie sich Medizinpro-dukte im menschlichen Körper verhalten. Das haben wirzuletzt bei den Metall-auf-Metall-Hüftprothesen gese-hen, die im Körper giftige Metall-Ionen freisetzen, wel-che das Krebsrisiko erhöhen und Leber, Milz und Nierenbelasten.In Zusammenhang mit den betrügerischen Handlun-gen eines französischen Unternehmens werden zurzeitÄnderungen des Medizinprodukterechts verstärkt disku-tiert, die schwarz-gelbe Regierung ist jedoch bislang un-tätig geblieben. Dies zeigt sich insbesondere am Beispielder Überarbeitung der Medizinprodukte-Durchführungs-vorschrift. Diese wurde mit der letzten Novelle des Me-dizinproduktegesetzes im März 2010 beschlossen, einEntwurf liegt seit Dezember 2011 vor, mit einer Umset-zung ist dieses Jahr nicht mehr zu rechnen. Vermutlichkönnen wir zum Thema Medizinprodukte in dieser Legis-laturperiode von der Regierung nichts mehr erwarten.Dieses Versagen der schwarz-gelben Koalition istdurch nichts zu entschuldigen. Die Fragen, die wir unsstellen müssen, sind schließlich offensichtlich: Wie kön-nen in Zukunft Betrugsversuche durch Hersteller vonMedizinprodukten unterbunden, bzw. früher aufgedecktwerden? Welche grundsätzlichen Änderungen an denbestehenden gesetzlichen Regelungen zur Zulassungund Überwachung von Medizinprodukten sind notwen-dig, um ihre Sicherheit zu erhöhen?Die Fraktion der Grünen hat mit dem vorliegendenAntrag einige gute Antworten auf diese Fragen vorge-legt. Wir sehen es ebenfalls als notwendig an, dass dasZulassungsverfahren für Medizinprodukte der hohen Ri-sikoklassen geändert wird. Allerdings wollen wir nichtauf die Benannten Stellen verzichten, sie verfügen überdie notwendige Ausstattung und Expertise, um Herstel-ler und Produkte zu überprüfen.In anderen Punkten stimmen wir den Antragstellernjedoch zu. Die Erstattungsfähigkeit von neuen Produk-ten muss sich an ihrem Nutzen für die Patientinnen undPatienten orientieren.Die verpflichtende Veröffentlichung aller Studiener-gebnisse, auch der negativen, im Deutschen Register fürKlinische Studien, ist sowohl im Arzneimittelbereich alsauch bei den Medizinprodukten längst überfällig. DerForderung nach einer verpflichtenden ausreichendenProdukthaftpflichtversicherung für Hersteller von Medi-zinprodukten hoher Risikoklassen wird von uns ebenfallsbegrüßt. Ein verbindliches Register zur Langzeitüber-wachung von implantierten Medizinprodukten und einebessere Umsetzung der geltenden Meldepflichten beiVorkommnissen im Zusammenhang mit Medizinproduk-ten sind auch aus unserer Sicht notwendig. Leider blei-ben die letzten beiden Punkte im vorliegenden Antrag et-was unkonkret. Wir sollten uns die Gründe für unter-bleibende Meldungen ansehen und prüfen, mit welchenMaßnahmen das Meldeverhalten deutlich verbessertwerden kann.Nun wurden von allen Seiten, auch von den Grünen,immer wieder Maßnahmen zur strengeren Überwachungdes Herstellungsprozesses gefordert. Diese Forderungist richtig und Änderungen sind hier dringend notwen-dig. Allerdings fehlen im vorliegenden Antrag Vor-schläge, wie mit bereits im Markt befindlichen Produk-ten umgegangen werden soll. Ich erinnere Sie an diehohe Zahl bereits zugelassener Produkte. Hier schlum-mern immer noch potenzielle Risiken für die Patientin-nen und Patienten. Auch kriminellen Unternehmen kannman nur durch unangekündigte Kontrollen und Stich-proben aus verkauften Produkten auf die Spur kommen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20019
Dr. Marlies Volkmer
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Ein Vorschlag von Ihnen hat mich dann aber wirklichverwundert. So sollen die Voraussetzungen geschaffenwerden, um Angaben zu implantierten Medizinproduk-ten auf der elektronischen Gesundheitskarte der Patien-tinnen und Patienten speichern zu können. Verwundertwar ich nicht über die Idee an sich, die aus meiner Sichtdurchaus vernünftig ist. Damit ließe sich langfristig aufeinen separaten Implantat-Ausweis verzichten. Im Not-fall, beispielsweise bei einer Einlieferung ins Kranken-haus, wären die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ein-facher informiert.Nein, es wundert mich, dass dieser Vorschlag von dergleichen Fraktion kommt, die in den letzten Wochen vor-rangig dadurch aufgefallen ist, dass sie die fraktions-übergreifend getroffene Lösung zur Speicherung der Or-ganspendebereitschaft auf der elektronischen Gesund-heitskarte aus Datenschutzgründen infrage stellt.Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass sich die Regierung,der es offensichtlich an guten Ideen mangelt, einige derhier präsentierten Vorschläge zu Herzen nimmt.
Im letzten Monat hatte bereits die Linksfraktion ver-sucht, mit dem Thema der fehlerhaften Brustimplantatezu punkten. Dieser Antrag bezog sich auf die Finanzie-rung von Folgekosten ästhetischer Eingriffe, wie zumBeispiel des Einbaus von Brustimplantaten. Ein Antrag,der sehr ärgerlich war, da er sich ein Folgethema desSkandals herauspickte, ohne auf dessen mögliche Ursa-chen oder Konsequenzen einzugehen.Der von Bündnis 90/Die Grünen eingereichte Antraggeht da schon weiter. Sie fordern eine bessere Gewähr-leistung der Sicherheit, Wirksamkeit und des gesund-heitlichen Nutzens von Medizinprodukten. Das ist schonmal eine löbliche Absicht. Leider merkt man jedochauch diesem Antrag die Folgen aktionistischer Reflexean. Gründlichkeit vor Schnelligkeit sollte das Prinzipsein, wenn wir die Konsequenzen aus diesem Skandalziehen, und nicht umgekehrt.Im Antrag wird ja auch auf die kriminelle Energie desHerstellers in Frankreich hingewiesen. Aufgrund diesereingesetzten kriminellen Energie ist die Aufarbeitungdieses Skandals zunächst eine Frage des Strafrechts. Ichwünsche mir, dass die französischen Strafgerichte hierein Zeichen setzen, das zukünftig andere davon abhält,aus reinem Gewinntrieb die Gesundheit von TausendenMenschen aufs Spiel zu setzen. Im Übrigen finden Kri-minelle, die es darauf anlegen, immer einen Weg, selbstdas beste und strengste Kontrollsystem zu überlisten.Dieser Skandal muss uns veranlassen, zu überprüfen,was bei uns besser gemacht werden muss, um in Zukunftdie Wahrscheinlichkeit solch krimineller Handlungen zuverringern oder diese früher aufzudecken und die Pa-tientensicherheit insgesamt zu verbessern. Schnell-schüsse aus der Hüfte, so wie seinerzeit der Antrag derLinksfraktion oder wie heute der vorliegende Antrag derGrünen, helfen uns da nicht weiter.Wir dürfen zukünftig jedoch nicht zulassen, dassdurch eine Überbürokratisierung der Zulassungs- undKontrollverfahren medizinische Innovationen langsamerals bisher zu den Patienten kommen. Denn wir müssenuns vor Augen führen, dass der Primärzweck medizini-scher Produkte – dazu gehören eben auch Brustimplan-tate – nicht die Verschönerung des Körpers ist, sonderndas Lindern menschlichen Leids und von Schmerzen.Lassen Sie mich auf den Antrag genauer eingehen.Der Antrag schießt über das Ziel hinaus. Bei dem Skan-dal waren Fragen der Sicherheit berührt. Sie stellenaber gleich den gesundheitlichen Nutzen von Medizin-produkten und dessen Bewertung infrage und in denMittelpunkt der Betrachtung. Mit dem Antrag stellt derAntragsteller aufgrund der Kriminalität eines Einzelneneine ganze Branche unter Generalverdacht. Die darausresultierenden Reflexe sind nicht im Sinne der Versor-gungsqualität und Sicherheit der Patienten.Im Antrag wird gefordert, das bestehende Zertifizie-rungssystem über die sogenannten benannten Stellendurch ein rein staatliches Zulassungsverfahren zu erset-zen. Damit ziehen die Antragsteller ein weiteres Mal diefalschen Konsequenzen. Wir sind uns doch darin einig,dass hohe kriminelle Energie im Spiel war. Warum stel-len Sie dann an die Spitze des Forderungskataloges einneues Zulassungsverfahren? Kriminelle Energie kannman doch eher über ein revidiertes Überwachungs- undKontrollverfahren bekämpfen.Bereits heute müssen die Hersteller von Medizinpro-dukten der hohen Risikoklassen sehr hohe Anforderun-gen erfüllen: Risikoanalyse, ein umfassendes Manage-mentsystem, wie mit diesen Risiken umgegangen wird,klinische Prüfungen zu Sicherheit, Effektivität und Evi-denz. Bereits vor über eineinhalb Jahren haben wir mitder Verordnung zur Prüfung von Medizinprodukten ei-nen weiteren Baustein hinzugefügt, mit dem man jedochauch nicht in der Lage ist, kriminelles Fehlverhaltenauszuschließen. Das System der klinischen Prüfungenist bei weitem nicht perfekt, aber viele Experten sagen,dass es mit dem von Arzneimitteln qualitativ ebenbürtigsei.Ein strengeres und bürokratisches Zulassungsverfah-ren birgt ebenso wie die geforderte Einführung einerfrühen Nutzenbewertung von Medizinprodukten die Ge-fahr, dass innovative und hilfreiche Medizinprodukte inZukunft langsamer auf den Markt kommen und Leid undSchmerzen verspätet lindern können. Bei der Weiterent-wicklung unseres Zulassungs- und Kontrollsystems soll-ten das Kriterium der Versorgungsqualität und der Fä-higkeit, Leiden zu mindern, auf einer Stufe mit demKriterium der Sicherheit stehen.Für problematisch erachtet meine Fraktion auch dieletzte Forderung des Antrages, nach der die Herstellerimplantierbarer Produkte zu umfassenden Produkthaft-pflichtversicherungen oder vergleichbarer Deckungs-vorsorge verpflichtet werden sollen. Die meisten verant-wortungsbewussten Firmen haben doch bereits so etwas.Oder wollen Sie den Umfang der Versicherung erhöhen?Dann wäre es der typische Reflex der Grünen und ande-rer hier im Haus, die Wirtschaft möglichst stark zu belas-ten. Auch diese Regelung führt letztlich zu einer Ein-schränkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen,Zu Protokoll gegebene Reden
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20020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Jens Ackermann
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da Mittel, die für zusätzliche Produkthaftpflichtversiche-rungen und die Deckungsvorsorge benötigt werden, inder Forschung fehlen würden. Eine mögliche Verteue-rung der Produkte müsste letztlich auch die Solidarge-meinschaft der Krankenversicherten bezahlen – mitallen Konsequenzen für die Höhe des Krankenkassenbei-trags und die gesamte Leistungsfähigkeit des Systems.Die Forderung nach einer Pflichthaftpflicht führt unsein weiteres Mal vor Augen, dass die Grünen den Skan-dal um die fehlerhaften Brustimplantate nicht verstan-den haben. PIP hätte eine noch so hohe Haftpflichtversi-cherung haben können. Diese hätte niemals gezahlt, daes sich um Betrug, um Vorsatz handelte. Auch mit dieserForderung würde keine Verbesserung der Situation er-reicht.Wenn wir über mögliche Belastungen der Herstellersprechen, sollten wir deren wirtschaftliche, aber auchmedizinische Bedeutung nicht vergessen. Wir sprechenhier über eine mittelständisch geprägte Branche, die170 000 Menschen Arbeit bietet. Die qualitativ hoch-wertigen Produkte dieser Branche sind im Interesse derPatientensicherheit und der medizinischen Versorgungs-qualität in Deutschland, in Europa und der ganzen Welt.Wir alle hier im Haus sind uns einig darin, dass Kon-sequenzen aus dem Skandal um die fehlerhaftenBrustimplantate gezogen werden müssen. Uneinig sindwir uns darin, in welchem Umfang diese Konsequenzengezogen werden müssen und wo wir im System ansetzenmüssen.Lassen Sie mich als Gegenentwurf kurz meine Gedan-ken zu den notwendigen Konsequenzen ausführen. Wiebereits dargelegt, war es aus meiner Sicht vorrangig einÜberwachungsproblem, das diesen Skandal ermöglichthat. Dementsprechend sollten wir zunächst hier anset-zen. Bereits heute haben die benannten Stellen die Mög-lichkeit, unkontrolliert die Produktionsstätten aufzusu-chen – zur Kontrolle, ob das, was zertifiziert wurde, unddas, was produziert wird, einander gleichen oder vonei-nander abweichen. Darum sollte man vielleicht zu-nächst bei den benannten Stellen beginnen und diesestärker beaufsichtigen bzw. vor ihrer Benennung stren-gere Maßstäbe anlegen. Vielleicht hätten wir danachzwar in der EU weniger als die bisher 70 bis 80, aberdafür leistungsstärkere und solche, die die Sicherheitder Medizinprodukte besser gewährleisten könnten.Auch die zuständigen Landesbehörden haben bereitsheute die Möglichkeit zu unangemeldeten Kontrollen.Hier mangelt es an Koordinierung und Informationsaus-tausch untereinander. Vermutlich auch an der Manpower,um alle Kontrollmöglichkeiten auszunutzen.Was mich auch verwunderte, waren beobachteteMängel im Meldewesen seitens der Anwender von Medi-zinprodukten. Hier sind nicht alle Beteiligten immer ih-ren vorhandenen Meldepflichten nachgekommen. Hiersehe ich erheblichen Optimierungsbedarf. Dieser solltesich aus meiner Sicht nicht in einer Verschärfung derMeldepflicht oder einer Sanktionsbewehrung nieder-schlagen. Angemessener wäre dabei eine bessere Infor-mation der Anwender, zum Beispiel im Rahmen der Aus-und Fortbildung sowie durch die Fachgesellschaften.Wir sollten diesen Antrag im Ausschuss sachlich be-sprechen; denn er beinhaltet Dinge, die auch sinnvollsein könnten. Ich werde mir in der Ausschussarbeit gernein Bild dazu machen. In der jetzigen Form führt er abernicht dazu, die Sicherheit von Medizinprodukten inDeutschland und Europa zu verbessern.
Vor drei Monaten tauchten in den Medien er-schreckende Berichte auf. Hunderttausende von Frauenwurden Opfer schadhafter Brustimplantate, die aufkriminelle Weise weltweit vertrieben wurden. Diegesundheitlichen, psychischen und finanziellen Folgenfür diese Frauen sind erheblich. Dieser Skandal hatauch hier im Parlament eine Debatte darüber ausgelöst,dass Medizinprodukte künftig deutlich strenger reguliertwerden müssen. So wurden schnell Forderungen laut,dass die Messlatte für Herzklappen, Hüftprothesen undBrustimplantate ähnlich hoch gelegt werden sollte wiefür Arzneimittel.Doch ganz so einfach sind die Regelungen für Zulas-sungskriterien und für Kontrollen nach der Zulassungvon Arzneimitteln nicht auf Medizinprodukte zu übertra-gen. Darum müssen wir uns hier darüber unterhalten,welche sinnvollen Maßnahmen zur Verbesserung derSicherheit und des Nutzens von Medizinprodukten hof-fentlich noch in dieser Legislaturperiode Eingang in dasMedizinproduktegesetz und in die europäischen Richt-linien finden, im Interesse der Patientinnen und Patien-ten. Dazu sehe ich in mehreren Fraktionen positiveAnsätze, wenngleich es teilweise nicht nur im DetailUnterschiede gibt.Die Linke meint: Die Zertifizierung könnte sinnvol-lerweise wie bei den Arzneimitteln durch eine Behördeund nicht durch private Unternehmen erfolgen. Und:Eine reine Dokumentenprüfung darf jedenfalls für Pro-dukte höherer Gefahrenklasse nicht ausreichen; dasProdukt selbst muss untersucht und begutachtet werden.Für Medizinprodukte der Klassen II b und III sollte eineBewertung des patientenrelevanten Nutzens oder aucheine Kosten-Nutzen-Bewertung als Grundlage für dieErstattungsfähigkeit in der GKV erwogen werden.Schließlich muss im Zentrum stehen, was den Patientin-nen und Patienten wirklich hilft.Insbesondere will die Linke strengere Kontrollenauch bei bereits eingeführten Artikeln. Staatliche Auf-sichtsbehörden sollen unangemeldete Stichprobendurchführen – und zwar in der gesamten Produktions-und Lieferkette, vom Hersteller über den Zulieferbetriebbis zum OP-Tisch –, und bei höheren Gefährdungsklas-sen auch verdachtsunabhängig.Wenn es trotzdem zu Schädigungen kommt, muss dieRegulierung patientenfreundlicher erfolgen. Erweite-rungen bei der Produkthaftpflichtversicherung und auchdie Einführung eines Haftungsfonds sind hier zu überle-gen. Darum hat die Linke auch einen Antrag für eineZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20021
Kathrin Vogler
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schnelle Entschädigung der Opfer des PIP-Skandalsvorgelegt.Durch Einrichtung von Medizinprodukteregistern – ei-nes für alle in den Körper verbrachten Implantate undeines für alle Schadensmeldungen – könnten Unregel-mäßigkeiten schneller auffallen, könnten die betroffenenPatientinnen und Patienten rascher informiert undandere vor Schaden bewahrt werden. Wichtig wäredabei, dass auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzteihrer Meldepflicht besser nachkommen. Zudem wollenwir die Informationspflichten der Ärztinnen und Ärzteerweitern, damit die Patientinnen und Patienten gesund-heitliche Risiken durch die Medizinprodukte besser ein-schätzen können.Wir begrüßen, dass auch aus anderen Fraktioneneine Verbesserung der Studienlage angeregt wird. Dasfordert die Linke schon seit Jahren, aber hier im Hauswurden Forderungen der Linken nach einem Studien-register und nach einem öffentlich finanzierten unab-hängigen Studienfonds immer abgelehnt.Insgesamt gehen einige Überlegungen der Opposi-tionsfraktionen in die gleiche Richtung. Selbst bei derCDU/CSU wird über schärfere Kontrollen für Medizin-produkte nachgedacht. Und der französische Gesund-heitsminister, der Chef der europäischen Arzneimittel-aufsichtsbehörde und der oberste Arzneimittelprüfer inDeutschland fordern strengere Regelungen für Medizin-produkte.Nur Gesundheitsminister Bahr und seine FDP stehenbislang treu und tapfer an der Seite der Industrie undlehnen strengere Zulassungskriterien und Kontrollen ab.Herr Bahr, wenn demnächst die Revision der europäi-schen Medizinprodukterichtlinien ansteht und eineeuropaweite Regelung, den Marktzugang von Medizin-produkten zu verschärfen, an Ihnen scheitert, dannbekommen Sie vielleicht vom Verband der Medizinpro-duktehersteller den goldenen Herzkatheter für Ihre Ver-dienste um das Wohl der Gesundheitswirtschaft verlie-hen, aber um die Belange der Patientinnen undPatienten machen Sie sich so nicht verdient.Die Linke meint: Die Interessen der Patientinnen undPatienten haben Vorrang vor Wirtschaftsinteressen.Gesundheit ist keine Ware!
Offenbar muss leider immer erst etwas passieren, da-mit sich etwas zum Positiven verändert. Der Skandal umdie mangelhaften Brustimplantate der französischenFirma PIP hat deutlich gemacht, dass das Überwa-chungssystem für Medizinprodukte vermutlich in ganzEuropa nicht so funktioniert, wie es die Patientinnenund Patienten erwarten dürfen. Neben erheblicher kri-mineller Energie ist auch eine monate- wenn nicht jahre-lange Gedankenlosigkeit und Verantwortungsschwächebei vielen Behörden offenbar geworden. Spätestensdurch das Marktverbot für PIP-Implantate April 2010war den deutschen Länderbehörden bekannt, dass mitden französischen Implantaten etwas nicht stimmt. Abererst im Dezember 2011 haben sie angefangen, sich zumBeispiel einen Überblick darüber zu verschaffen, wel-chen Patientinnen und Patienten eigentlich ein solchesImplantat eingesetzt wurde.Natürlich ist es richtig, ausgehend von diesen Erfah-rungen, die Marktüberwachung und die Kontrollen zuverbessern und den Benannten Stellen zum Beispiel dieMöglichkeit zu geben, unangemeldet bei den Herstellernvon Implantaten Prüfungen durchzuführen. Auf dieseWeise lassen sich sicher Schlampereien oder kriminellesTreiben wirksamer verhindern. Aber werden wir damitdem Problem gerecht? Wir meinen: Nein. Die Problemebei den Medizinprodukten sind nur zu einem Teil man-gelnder Kontrolle geschuldet. Wir müssen leider fest-stellen: In dem ganzen System von Überwachung undZulassung von Medizinprodukten und speziell von Im-plantaten steckt der Wurm drin.Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen illustrieren.Vor wenigen Tagen war in dem Fachjournal „Lancet“ein Artikel über metallene Hüftimplantate zu lesen. DieForscher haben in einer mehrjährigen Studie unter Ein-beziehung von fast 400 000 Hüftoperationen herausge-funden, dass es bei der Verwendung dieser Prothesenvermehrt zu erheblichen Komplikationen bei den betrof-fenen Patientinnen und Patienten gekommen ist. Berich-tet werden Zerstörungen des Knochens, Schädigungendes umliegenden Gewebes und das Versagen des Im-plantates. Gleichzeitig zeigten die wenigen überhauptvorhandenen Studien, dass diese Hüftendoprothesenüberhaupt keinen Vorteil gegenüber herkömmlichenProdukten haben. Im August 2010 musste ein Herstellersein Produkt aufgrund erhöhter Revisionsraten vomMarkt nehmen. Die Probleme waren dem Hersteller al-lerdings schon seit Jahren bekannt.Ohnehin sind die Revisionsraten bei Hüft-, aber auchbei Endoprothesen erheblich. Neuere Untersuchungenauf der Grundlage von GKV-Routinedaten zeigen, dass3,45 Prozent aller Hüftendoprothesen innerhalb vonzwei Jahren nach der Implantation ausgetauscht werdenmussten. Ursächlich waren in fast 70 Prozent der Fällemechanische Komplikationen. Unter den 390 000 imJahr 2010 eingebauten Hüft- oder Knieendoprothesenwaren immerhin 37 000 Wechseloperationen.Ein weiteres Beispiel: Im Jahre 2007 wurde in denUSA eine große Studie veröffentlicht, die zeigte, dass derNutzen von Gefäßprothesen, so genannten Stents, beiErkrankungen der Herzkranzgefäße gegenüber der al-leinigen medikamentösen Therapie zumindest in be-stimmten Fällen – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdigist. Die Patientinnen und Patienten in der Studie hattendurch die Verwendung der Gefäßprothese überhauptkeinen Vorteil, weder war die Überlebensrate höhernoch konnte die Herzinfarktrate gesenkt werden. Eineähnliche Studie aus dem Jahr 2006, in der es ebenso umden Einsatz von Implantaten bei Herzerkrankungenging, konkret um so genannte Ballonkatheter, konnteebenfalls keinen Vorteil gegenüber der medikamentösenTherapie aufzeigen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass wiruns zu wenig damit beschäftigen, welchen Nutzen be-stimmte implantierbare Medizinprodukte eigentlich ha-ben.Zu Protokoll gegebene Reden
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20022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Harald Terpe
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Und ich will Ihnen noch ein drittes Beispiel nennen.Seit einigen Jahren wird zur Behandlung von Schmerzeninfolge einer teilweisen oder vollständigen Wirbelfrak-tur sowie zur Stabilisierung der Wirbel Zement in die be-troffene Körperregion gespritzt. Neuere Studien zeigenjedoch, dass bei diesem Vertebroplastie genannten Ver-fahren das Risiko von Frakturen in benachbarten Wir-beln ansteigt. Andere Studien zeigen, dass die schmerz-lindernde Wirkung dieser Methode nicht größer ist alsbei Verwendung eines Placebos.Dieses alles legt den Schluss nahe: Mit schärfererÜberwachung und Kontrolle allein, wie es sich offenbarBundesregierung und Medizinproduktehersteller ge-meinsam auf die Fahne geschrieben haben, kommen wirda überhaupt nicht weiter. Es darf nicht länger sein,dass hochinvasive Herzkatheter genauso behandelt wer-den wie Kondome oder gar Stützstrümpfe.Prothesen, Herzkatheter und andere implantierbareMedizinprodukte sind mit ähnlichen gesundheitlichenRisiken verbunden wie Arzneimittel. Wir brauchen alsoein vergleichbar gestaltetes Zulassungsverfahren wiebei den Arzneimitteln.Deshalb fordern wir, implantierbare Medizinprodukteschon vor dem Marktzugang genauer unter die Lupe zunehmen und anstelle der CE-Kennzeichnung für dieseProdukte eine zentrale Zulassung beispielsweise durchdas BfArM oder die Europäische Arzneimittelbehördeeinzuführen.Die derzeit von den Herstellern bei der Zulassung derImplantate vorzulegenden Studien sind überhaupt nichtausreichend, um Auskunft über Nutzen, therapeutischeWirksamkeit und Risiken zu geben. Wir brauchen daherauch höhere Anforderungen an die Studien, die die Her-steller bei der Zulassung vorlegen müssen. Das betrifftbeispielsweise die Dauer der Studien und die Anzahl dereinzubeziehenden Patientinnen und Patienten. Soweitdies im Einzelfall möglich und sinnvoll ist, müssen auchrandomisierte Studien zur Voraussetzung bei der Zulas-sung gemacht werden.Nötig ist zudem ein verbindliches Register für alleImplantate. Auch hier kann ich nicht erkennen, warumsich die Bundesregierung so vehement dagegen sträubt,ein verbindliches Register einzuführen. Die Vorteile ei-nes solchen Registers liegen auf der Hand. In Schwedenkonnte die Revisionsrate nach Einführung eines solchenRegisters nahezu halbiert werden. Durch eine langfris-tige Marktbeobachtung kann schnell erkannt werden,wenn sich bei einem Produkt die Komplikationenhäufen. In Verbindung mit einem wirksameren Vigilanz-system für Medizinprodukte kann die zuständige Medi-zinproduktebehörde dann schnell die nötigen Konse-quenzen ziehen und das Produkt vom Markt nehmen.In unserem Antrag sind noch weitere Vorschläge ent-halten, auf die ich hier nicht vertiefend eingehenmöchte. Wir brauchen beispielsweise auch eine bessereNutzenbewertung für neue Untersuchungs- und Behand-lungsmethoden. Es kann nicht sein, dass Gelder der so-lidarischen Krankenversicherung für fragwürdige Be-handlungsmethoden ausgegeben werden.Wir müssen zudem gewährleisten, dass Patientinnenund Patienten vor der Implantation einer Prothese um-fassend über die Risiken aufgeklärt werden.Die Bundesregierung und ganz konkret die Koali-tionsfraktionen müssen nun die Frage beantworten, obsie bereit sind, Patientinnen und Patienten durch eineumfassende Reform der EU-Medizinprodukterichtlinienwirksamer vor gesundheitlichen Risiken insbesonderedurch implantierbare Medizinprodukte zu schützen.Wenn sie wie angekündigt nur ein bisschen an den Kon-troll- und Überwachungsverfahren herumdoktern, set-zen sie sich dem Vorwurf aus, die Interessen der Medi-zinproduktehersteller über die der Patientinnen undPatienten zu stellen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8920 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim
Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Reisen für Kinder und Jugendliche ermögli-
chen – Förderung sicherstellen und „Aktions-
plan Kinder- und Jugendtourismus in
Deutschland“ weiterentwickeln
– Drucksache 17/8924 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden
von Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Gabriele Hiller-
Ohm, Helga Daub, Jörn Wunderlich und Markus Tressel.
Wir freuen uns, dass nach unserem Koalitionsantragzum Kinder- und Jugendtourismus vom Januar 2012jetzt im März auch die SPD einen eigenen Antrag zu die-sem Thema vorgelegt hat. Und wir freuen uns, dass nunauch die SPD die große wirtschaftliche, pädagogischeund soziale Bedeutung von Kinder- und Jugendreisenerkannt hat.Wer als junger Mensch, ganz gleich ob als Gast ausdem In- oder aus dem Ausland, die Qualitäten des Reise-lands Deutschland kennenlernt, wird diese auch alsErwachsener zu schätzen wissen.Der Jahresumsatz von Reisen in Jugendherbergen,Schullandheime, Kinderferienlager, Jugendhotels sowieEinrichtungen kirchlicher und privater Träger liegt bei12 Milliarden Euro. Allein die 10,2 Millionen Über-
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Marlene Mortler
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nachtungen in Jugendherbergen bewirken eine Wirt-schaftsleistung von etwa 1 Milliarde Euro.Obwohl Kinder- und Jugendreisen helfen, den Touris-musstandort langfristig attraktiv zu halten, wird ihreBedeutung leider noch oft unterschätzt. Im Gegensatz zuanderen Tourismussegmenten können sie auch dazu bei-tragen, wichtige pädagogische Ziele zu erreichen.Solche Reisen ermöglichen Kindern und Jugendlichenintensive Gruppenerfahrungen, das Kennenlernen dereigenen Heimat sowie den wertvollen frühzeitigen Kon-takt mit anderen Ländern und Kulturen. Auch Angebotefür gesunde Ernährung und Bewegung gehören zu denpädagogischen Aspekten dieser Reisen. Deshalb ist eineweitere Verbesserung der Qualität von Kinder- undJugendreisen eine wichtige gesamtgesellschaftlicheAufgabe. Wir freuen uns, dass genau diese Punkte jetztauch von der SPD in ihren Antrag übernommen wurden.Eine besondere Unterstützung sollte dem Ziel desDeutschen Jugendherbergsverbandes gelten, den wiebei Klassenfahrten leider noch sehr geringen Anteil vonMigranten zu erhöhen, deren Einbindung in entspre-chende Gemeinschaftserlebnisse auch gesamtgesell-schaftlich wichtig ist.Wie im SPD-Antrag zu Recht ausgeführt wird, fördertdie Bundesregierung bereits mit erheblichen MittelnFort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveran-staltungen, die internationale Jugendarbeit, den Bauvon Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten so-wie von Jugendherbergen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich für einenoch intensivere Unterstützung bei der internationalenVermarktung, der Vernetzung und Kooperation jugend-touristischer Angebote und den möglichen Aufbau einerInternetplattform ein. Auch die Qualifizierung von imKinder- und Jugendtourismus tätigen Mitarbeitern undehrenamtlichen Helfern soll weiter gefördert werden. Essoll geprüft werden, wie eine bessere Vernetzung undKooperation bei den Anbietern jugendtouristischer An-gebote erreicht und unterstützt werden kann. Die Bun-desregierung soll auch an geeigneter Stelle auf die Ein-satzmöglichkeiten des neuen Bundesfreiwilligendienstesin jugendtouristischen Einrichtungen hinweisen. Einigedieser Punkte, die wir in unserem Koalitionsantrag auf-gelistet haben, sind im SPD-Antrag aber leider nochnicht einmal erwähnt.Und ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, über Ihre Forderung, dass die Bundes-regierung den 2002 ins Leben gerufenen „AktionsplanKinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiter-entwickeln soll. Denn dieser sogenannte AktionsplanKinder- und Jugendtourismus ist kein wirklicherAktionsplan, sondern lediglich der Titel eines im Bun-destag beschlossenen Antrags der damaligen rot-grünenKoalitionsfraktionen. Es ist also kein Aktionsplan derBundesregierung, und es gibt weder gegenwärtig nochgab es früher einmal einen entsprechenden Haushaltsti-tel im Bundeshaushalt. Eine Weiterentwicklung diesesAktionsplans durch die Bundesregierung ist also garnicht möglich.Der damalige „Aktionsplan“ beschreibt verschie-dene Maßnahmen zur Qualitäts- und Quantitätssteige-rung und sieht vor, dass die Bundesregierung im Touris-muspolitischen Bericht Stellung zum Stand derUmsetzung des Aktionsplans nimmt. Dieser Aufforde-rung ist die Bundesregierung bereits auf vielfältigeWeise nachgekommen. So wurden im Rahmen derSteigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Tourismuswirtschaft zwei Grundlagenunter-suchungen zur Datenlage des Kinder- und Jugendtouris-mus sowie Veranstaltungen des BundesForum Kinder-und Jugendreisen e. V. unterstützt. Mit diversen Einzel-maßnahmen aus dem Kinder- und Jugendplan desBundes wurde die Arbeit an bundesweiten, trägerüber-greifenden Fragen der Qualität des Kinder- und Jugend-reisens mit jährlich bis zu 450 000 Euro gefördert. Dazuzählen Fort- und Weiterbildungsangebote, Informa-tions- und Beratungstage sowie Publikationen. Außer-dem wurde gemeinsam mit der Stiftung DeutscheJugendmarke die bundesweite, trägerübergreifendeKlassifizierung von Kinder- und Jugendunterkünften inDeutschland gefördert.Mit dem Beschluss der Bundesländer für bundesein-heitliche Qualitätsstandards der Jugendleitercard imJuni 2009 konnte ein weiteres Ziel des Aktionsplans er-reicht werden.Darüber hinaus kommen viele Maßnahmen des Bun-des im Jugendbereich dem Jugendtourismus zugute. Sosind im Bundeshaushalt 2012 beim Kinder- und Jugend-plan des Bundes für die internationale JugendarbeitZuschüsse und Leistungen an Länder und Träger und fürAufgaben der freien Jugendhilfe in Höhe von 20,3 Mil-lionen Euro veranschlagt.Für den deutsch-französischen und den deutsch-polnischen Jugendaustausch ist ein Betrag von insge-samt 15,2 Millionen Euro vorgesehen. Bis heute konntedamit rund 8 Millionen jungen Deutschen und Franzo-sen sowie mehr als 2 Millionen jungen Deutschen undPolen die Teilnahme an Austauschprogrammen und Ein-zelmaßnahmen ermöglicht werden. Auch wir wissen,dass mittlerweile nicht mehr alle Anträge für Gruppen-austauschprogramme, Einzelstipendien und andereProjekte gefördert werden können. Es ist aber fraglich,inwieweit eine weitere, grundsätzlich sicherlich wün-schenswerte Aufstockung dieser bereits erheblichenMittel – wie im SPD-Antrag gefordert – angesichts derangespannten Haushaltslage wirklich realistisch ist. Wirsind ja nicht in Nordrhein-Westfalen!Ich möchte noch darauf hinweisen, dass auch einedeutsch-israelische Jugendbegegnung – vom DeutschenJugendherbergswerk organisiert – jährlich in beidenLändern stattfindet. Sie wird ebenfalls aus Mitteln desKinder- und Jugendplans des Bundes gefördert. Außer-dem werden der Bau, der Erwerb, die Einrichtung unddie Bauerhaltung von zentralen oder überregionalen Ju-gendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie vonJugendherbergen pro Jahr mit jeweils 5 Millionen Eurounterstützt.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,auch wir fordern in unserem Koalitionsantrag eine Auf-Zu Protokoll gegebene Reden
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20024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Marlene Mortler
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listung, welche Bundesländer eigene Aktionspläne zumKinder- und Jugendtourismus aufgestellt haben und mitwelchen Maßnahmen dieser Bereich jeweils gefördertwird. Denn die Zuständigkeit für viele Punkte liegt beiden Bundesländern. Aber wir teilen nicht Ihre Auffas-sung, dass eine bessere Förderung des Kinder- undJugendtourismus nur dann gelingen kann, wenn alleLänder solche Aktionspläne aufstellen.Angesichts der Kritik der SPD an unserem Koali-tionsantrag in der Plenumsdebatte im letzten Monat sindwir enttäuscht, wie wenig Substanz der SPD-Antragselbst enthält und wie wenig eigene konkrete Vorschlägegemacht werden. Wir hoffen, dass dies bei den Beratun-gen im Tourismusausschuss nachgeholt wird, damit wirgemeinsam den wichtigen Bereich der Kinder- undJugendreisen weiter stärken können.
Es ist gerade sechs Wochen her, dass wir hier im Ple-num über Kinder- und Jugendtourismus diskutiert ha-ben. Grundlage der damaligen Debatte war unser An-trag der Koalitionsfraktionen, mit dem wir eine Reihevon Vorschlägen vorgelegt haben, mit denen wir denKinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiterfördern wollen.Heute debattieren wir wieder über dieses Thema –weil inzwischen auch die SPD dieses Thema erkannt hat.Es ist gut, dass auch Sie sich jetzt diesem Thema wid-men, nachdem wir im vergangenen Monat herausgear-beitet haben, welch große Bedeutung der Kinder- undJugendtourismus in Deutschland hat: sowohl in wirt-schaftlicher Hinsicht, wenn ich allein an über 10 Millio-nen Übernachtungen in Jugendherbergen mit einerWirtschaftsleistung von etwa 1 Milliarde Euro denke,aber auch hinsichtlich der sozialen und pädagogischenBedeutung dieses Segments für junge Menschen.Bei der damaligen Debatte hat die SPD-Fraktiongroß ausgeholt und unseren Antrag in Bausch und Bo-gen verdammt. Angesichts der großen Sprüche, die Siedamals gewagt haben, ist das Ergebnis Ihres heute vor-gelegten Antrages aber reichlich mickrig.Zunächst fällt auf, dass Sie mit finanziellen Forderun-gen beginnen. Dies mag alles schön und wünschenswertsein – aber Haushaltsberatungen haben wir heute nicht,und wir alle sollten uns davor hüten, unabhängig vonHaushaltsberatungen, unabhängig von der Notwendig-keit, auch Finanzierungsvorschläge vorzulegen, einfachneue Erwartungen zu wecken, was alles finanziert wer-den könnte.Stattdessen stehen wir doch heute vor der Aufgabe,mit möglichst effizientem Mitteleinsatz möglichst vielepositive Anreize zu setzen. Und es geht um inhaltliche,um qualitative Entwicklungen, nicht nur darum, mög-lichst viel Geld zu versprechen.Dabei leisten wir, leisten die Bundesregierung unddie Koalition, im Bundeshaushalt bereits viel für denKinder- und Jugendtourismus. Ich habe darauf bereitsin der Debatte am 9. Februar hingewiesen. Meine Kolle-gin Marlene Mortler wird darauf noch in ihrem Debat-tenbeitrag eingehen.Ein wichtiges Ziel für den Kinder- und Jugendtouris-mus ist aus unserer Sicht eine bessere Vernetzung derAkteure. Darauf sind wir in unserem Antrag eingegan-gen. Dies wollen wir unterstützen, zum Beispiel auchdurch einen Aufbau einer gemeinsamen Internetplatt-form „Jugendtourismus in Deutschland“. Dies halte ichallemal für zielführender als den Vorschlag der SPD-Fraktion, eine interministerielle Arbeitsgruppe und ei-nen einheitlichen Ansprechpartner in der Regierung zuschaffen. Abgesehen davon, dass wir mit dem Touris-musbeauftragten, Staatssekretär Ernst Burgbacher, be-reits einen einheitlichen Ansprechpartner für alle Ange-legenheiten des Tourismus in der Regierung haben, derseine Arbeit sehr gut macht, müssen wir nicht mehrBürokratie bewegen oder in den Ministerien neue Ar-beitsgruppen bilden, sondern wir müssen die handeln-den Akteure in der Branche zusammenbringen und un-terstützen. Darum geht es; das möchten wir befördern.Im Antrag der SPD-Fraktion vermisse ich zahlreicheThemen, die wir mit unserem Antrag aufgegriffen haben.Wir beschäftigen uns mit der inhaltlichen Fortentwick-lung von Klassenfahrten, auch wenn dies die originäreKompetenz der Bundesländer ist. Aber wenn wir uns mitdem Thema Kinder- und Jugendtourismus befassen,dann gehört dazu, dass wir entsprechende Anregungengegenüber den Bundesländern mit ansprechen.Es geht uns auch um die Qualifizierung, um Aus- undFortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auchder ehrenamtlichen Helfer im Kinder- und Jugendtouris-mus. Wir sprechen auch das Thema von Sexualität undsexueller Gewalt an. Ein sicherlich schwieriges Thema,das aber leider in der Vergangenheit spektakulär nega-tive Schlagzeilen gemacht hat. Gerade dies ist ein wich-tiger Aspekt in der Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterim Jugendbereich. Hier müssen wir die Sensibilität allerBeteiligten schärfen und die Initiativen, die es dankens-werterweise bereits gibt, unterstützen.Wir sprechen auch die Vernetzung von Jugendfreizeit-einrichtungen, Jugendhilfe und Schulen an, die für unsein wichtiges Thema ist.Außerdem thematisieren wir die Einsatzmöglichkei-ten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugendtou-ristischen Einrichtungen. Der Bundesfreiwilligendiensthat sich als Ersatz für den ausgelaufenen Zivildienst alswahres Erfolgsmodell herausgestellt und kann geradefür jugendtouristische Einrichtungen neue Perspektivenbieten.Alle diese Themen vermisse ich im Antrag der Sozial-demokraten.Stattdessen heben Sie ab auf den „Aktionsplan Kin-der- und Jugendtourismus in Deutschland“, den es abereigentlich gar nicht gibt. Es gibt lediglich einen Bundes-tagsbeschluss aus dem Jahr 2002, aber auch die dama-lige SPD-geführte Bundesregierung hat keinen eigenenAktionsplan aufgelegt. Aus dem, was 2002 im Bundestagbeschlossen wurde, ist viel umgesetzt worden. Sie bean-tragen lediglich, dass die Bundesregierung über dieZu Protokoll gegebene Reden
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Ingbert Liebing
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Umsetzung berichten möge. Da sind wir schon deutlichweiter. Wir haben in unserem Antrag bereits zahlreicheMaßnahmen aufgelistet, um zu zeigen, was die vergan-genen Bundesregierungen und die heutige Bundesregie-rung für den Kinder- und Jugendtourismus leisten, auchauf der Basis des damaligen Bundestagsbeschlusses.Der SPD-Antrag enthält also nette finanzielle Ver-sprechungen, die aber ungedeckte Schecks sind, büro-kratische Vorschläge und Berichtsanforderungen. EchteInhalte fehlen.Angesichts der Fundamentalkritik, die die SPD in dervergangenen Debatte an unserem Antrag geübt hat, istdies ein mageres Ergebnis.Dies ist umso bedauerlicher, als Sie in der Begrün-dung zu Ihrem Antrag sehr wohl viele gute Ansätze auf-geschrieben haben, die sich mit unseren Vorstellungendecken. Schließlich sind wir in der Zielsetzung ja auchnicht auseinander, dass der Kinder- und Jugendtouris-mus ein wichtiges touristisches Segment darstellt, dasssich die Anstrengungen lohnen, diesen Bereich weiter zuunterstützen und fortzuentwickeln, aber dass auch be-reits viel auf dem Weg ist, sowohl staatlicherseits alsauch seitens der vielen Akteure im Kinder- und Jugend-tourismus: seien es zum Beispiel die Jugendherbergenmit über 1 000 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern, gemeinnützige Vereine und Organisatio-nen oder Unternehmen, die sich in diesem Bereich enga-gieren und attraktive Angebote machen.Dies alles lohnt, in den Ausschussberatungen vertie-fend über dieses Thema zu diskutieren. Dies wollen wirtun, und ich freue mich auf die gemeinsamen Beratun-gen.
Wir sprechen heute über ein ganz bedeutendesThema: Es geht um Kinder- und Jugendreisen. Die SPD-Fraktion hat dazu einen wegweisenden Antrag vorge-legt.Warum muss uns dieses Thema am Herzen liegen?Wir alle wissen: Reisen ist für die Entwicklung von Kin-dern und Jugendlichen sehr wichtig. Wir SPD-Abgeord-nete wollen, dass alle Kinder unabhängig vom Geldbeu-tel der Eltern reisen können.Klar ist: Wer schon als Kind Erfahrungen in anderenRegionen und Ländern sammeln konnte, hat einen deut-lichen Bildungsvorsprung. Wenn junge Menschen durchDeutschland reisen, lernen sie ihr eigenes Land kennen.Im Ausland erfahren sie früh eine Menge über andereLänder, Menschen und Kulturen.Reisen verbindet und macht toleranter. Auch das wis-sen wir. Deshalb ist es so wichtig, Kindern und Jugend-lichen sehr früh die Möglichkeit zu geben, sich fern vonzu Hause einmal in einer neuen Rolle auszuprobieren.Das stärkt die persönliche Entwicklung und das sozialeVerhalten. Das macht Kinder selbstbewusster und stark.Klassenfahrten und andere Gruppenreisen tragenauch dazu bei, dass Integration und der Zusammenhaltim eigenen Klassenverband gefördert werden.Natürlich brauchen wir für Kinder- und Jugendreisenbesonders gute und pädagogisch hochwertige Angebote.Attraktive Unterkünfte in reizvoller Umgebung tragenstark zum Erfolg einer Reise bei. Zum Glück gibt es vielegemeinnützige Einrichtungen, die sich dies auf ihre Fah-nen geschrieben haben. Jugendverbände, Sportvereineund Kirchen leisten hier wichtige Arbeit. Die Angebots-palette von gemeinnützigen, aber auch von gewerb-lichen Kinder- und Jugendreisen ist breit und vielfältig.Es ist beeindruckend, wie viele Einrichtungen wir inDeutschland haben. Ich zähle einige auf: 530 Jugend-herbergen, 400 Naturfreundehäuser, 350 Schulland-heime, 920 Häuser in konfessioneller Trägerschaft.Hinzu kommen zahlreiche Jugendbildungs- und Jugend-begegnungsstätten. Sie alle stehen für preiswerten,nachhaltigen und pädagogisch wertvollen Jugend-urlaub.Die SPD-Fraktion setzt sich dafür ein, dass alle Kin-der und Jugendlichen unabhängig vom Einkommen derEltern reisen können. Wir wissen, dass Kinder ausarmen Elternhäusern sehr viel schlechtere Bildungs-chancen haben als Kinder aus wohlhabenderen Eltern-häusern. Das ist eine große Ungerechtigkeit. Nun gibt eseine Studie, die sagt, dass deutlich weniger Jugendlicheaus einkommensschwachen Haushalten verreisen undsich dadurch nicht wie andere Kinder weiterbilden kön-nen. Dies verstärkt die Kluft bei den Chancen weiter.Das dürfen wir nicht hinnehmen! Das müssen wirändern!Auch die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDPhaben einen Antrag zum Kinder- und Jugendtourismusvorgelegt. Die Überschrift des Antrags lautet „Kinder-und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern“.Stellen Sie sich vor: Ich habe mich darüber gefreut, alsich dies gesehen habe. Toll, dachte ich, die machen malwas für unsere Kinder.Als ich den Antrag dann aber gelesen habe, war ichschon nach wenigen Sätzen ernüchtert. Ich hatte erwar-tet, dass es um Förderung geht. So steht es ja in derÜberschrift. Und wo Förderung draufsteht, muss auchFörderung drin sein! Das ist aber überhaupt nicht derFall.Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU undFDP, Sie machen keine Aussage darüber, wie viel Gelddie Bundesregierung in den nächsten Jahren in die Handnehmen soll, um Qualitätsangebote zu sichern und neuezu entwickeln. Besonders schlimm finde ich, dass Sienoch nicht einmal Ihre Rotstiftattacke bei den Jugend-herbergen zurücknehmen. Diese Geschichte verschwei-gen Sie. Wir haben das nicht vergessen! Im letzten Haus-halt wollten Sie die Gelder für den Bau und dieErhaltung von Jugendherbergen und Bildungsstätten umsage und schreibe 40 Prozent kürzen! Nur durch unserenkraftvollen Einsatz konnten wir dies verhindern. Gekürzthaben Sie – wenn auch nicht um 40 Prozent – dann abertrotzdem.Unglaublich ist dabei auch, dass Sie in Ihrem Antragschreiben, dass die überregionalen Jugendbildungsstät-ten und Jugendherbergen pro Jahr mit 5 Millionen EuroZu Protokoll gegebene Reden
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20026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Gabriele Hiller-Ohm
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unterstützt werden. Diese Zahl ist schlichtweg falsch! Esist viel weniger Geld. Ich fordere Sie auf: Stellen Sie diesrichtig!Sie selbst sagen, die Jugendherbergen müssen ihreHäuser in Schuss halten, damit Kinder und Jugendlichesich dort wohl fühlen. Gleichzeitig hauen Sie den Bil-dungsstätten und Jugendherbergen aber das Geld fürnotwendige Investitionen weg. Das geht gar nicht! Siestreuen den Menschen Sand in die Augen. So fördern Sieden Kinder- und Jugendtourismus nicht.Zum Glück gibt es die SPD. Mit unserem Antrag brin-gen wir die Bundesregierung wieder auf den richtigenWeg. Wir wissen, worauf es ankommt: Ohne Moos nixlos!Wir fordern erstens, den Haushaltstitel, den Siegekürzt haben, wieder auf 5 Millionen Euro anzuheben.Wir wollen, dass die Jugendherbergen und Bildungs-und Begegnungsstätten vernünftig planen können.Zum Zweiten fordern wir, dass die Bundesmittel fürden Kinder- und Jugendtourismus in voller Höhe erhal-ten bleiben. Also: Hände weg vom Rotstift!Drittens. Wir wollen den internationalen Jugendaus-tausch stärken. Uns liegen die Beziehungen zu unserenNachbarn Polen und Frankreich besonders am Herzen.Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, gemein-sam mit der französischen und der polnischen Regie-rung hierfür das nötige Geld zur Verfügung zu stellen.Ein wichtiges Anliegen ist uns viertens, den vor zehnJahren von Rot-Grün aufgelegten „Aktionsplan Kinder-und Jugendtourismus in Deutschland“ fortzuführen undweiterzuentwickeln. Hiermit haben wir in den erstenJahren viel angeschoben. Leider ist der Aktionsplanunter Schwarz-Gelb ins Stocken geraten. Wir wollen denMotor wieder anwerfen.Nun ist ja nicht nur der Bund für einen guten Kinder-und Jugendtourismus verantwortlich. Auch die 16 Bun-desländer – von Schleswig-Holstein bis Bayern – sindgefordert. Es muss eine gute Abstimmung erfolgen, unddie einzelnen Aktivitäten müssen stärker miteinanderverzahnt werden. Über die Fortschritte soll die Bundes-regierung dann in ihrem Tourismuspolitischen Berichtregelmäßig Auskunft geben. Da ist noch viel Musik drin!Die Angebote können noch weiter verbessert werden.Gesundheit ist auch für Kinder und Jugendliche ein gro-ßes Thema geworden. Hier brauchen wir noch mehrAngebote. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-klärung hat mit ihrer Jugendaktion „GUT DRAUF“einen guten Aufschlag gemacht.Dann gibt es noch einen weiteren Bereich, in dem wirbesser werden können. Wie sieht es mit den vielen haupt-amtlichen und ehrenamtlichen Betreuerinnen undBetreuern im Kinder- und Jugendtourismus aus? StellenSie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,genügend Geld und Power bereit, damit sie sich ver-nünftig qualifizieren und weiterbilden können? Nein,das tun Sie nicht. Auch hier muss eindeutig mehrgeschehen. Wir brauchen feste Mindeststandards füralle Veranstalter, ob gemeinnützig oder gewerblich.Fünftens ist uns wichtig, die vorhandenen Kompeten-zen im Kinder- und Jugendtourismus zusammenzuführenund die verschiedenen Zuständigkeiten innerhalb derBundesregierung zu bündeln. Jetzt ist es so, dass vieleMinisterien zuständig sind, und selbst in den einzelnenMinisterien gibt es wieder unterschiedliche Ansprech-partner. Das geht so nicht! Dieses unübersichtlicheWirrwarr muss gelichtet werden! Wir wollen, dass eseinen festen Ansprechpartner gibt, an den sich Vereine,Verbände und alle Akteure wenden können. Sie sollensich nicht länger im Dschungel der Ministerien verirren.Wichtig ist uns auch eine bessere Zusammenarbeitder einzelnen Ministerien beim Kinder- und Jugendtou-rismus. Deshalb schlagen wir die Einrichtung einerinterministeriellen Arbeitsgruppe vor.Mit unseren Forderungen schaffen wir eine solideGrundlage für hochwertigen Kinder- und Jugendtouris-mus. Kein Kind darf dabei auf der Strecke bleiben. Bil-dung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.Deshalb haben wir uns dafür eingesetzt und durchge-setzt, dass ein- und mehrtägige Klassenfahrten für Kin-der aus armen und einkommensschwachen Familienvom Staat bezahlt werden. Das ist uns wichtig, denn wirwollen, dass alle Kinder gute Chancen erhalten. Bil-dungsgerechtigkeit darf kein leeres Wort bleiben!Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat in jedemJahr ein bestimmtes Motto. Im kommenden Jahr wirddies das „Junge Reiseland Deutschland“ sein. Kinderund Jugendliche sollen besonders angesprochen wer-den. Ich freue mich sehr darüber und hoffe, dass diesesMotto uns gemeinsam anspornen wird.Ich freue mich, mit Ihnen im Tourismusausschuss wei-ter zu diskutieren, und werbe schon an dieser Stelle:Schließen Sie sich unserem Antrag an!
Es gibt Beratungspunkte auf der Tagesordnung desHohen Hauses, die sich eigentlich schon von selbst erle-digen. Dieser Punkt gehört dazu. Nicht etwa, weil dasThema unwichtig ist. Der Kinder- und Jugendtourismusist sehr bedeutsam, und deswegen hatten wir als Koali-tionsparteien erst vor wenigen Wochen einen Antragdazu eingebracht und mehrheitlich beschlossen. Vorherhatte sich der Tourismusausschuss ausgiebig damit be-schäftigt, und auch die SPD hatte bei dieser Gelegenheitihre Standpunkte vertreten.Besonders pikant finde ich allerdings, dass in derBegründung des Antrags, der hier auf dem Tisch liegt,schon Argumente dafür gegeben werden, warum ereigentlich obsolet ist. Dort ist beispielsweise von demThemenjahr „Junges Reiseland Deutschland“ die Rede,das uns die Deutsche Zentrale für Tourismus auch aufder diesjährigen ITB vorgestellt hatte. Die Vielfalt derAngebote an Kinder- und Jugendreisen in Deutschlandwird ebenso erwähnt wie der Aufwärtstrend bei Jugend-herbergen und die steigenden Umsatzzahlen generell.Worum geht es also heute?Wieder einmal wollen die Sozialdemokraten ihre alt-bekannten und längst verworfenen Instrumente auspa-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20027
Helga Daub
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cken. Hier soll ein Haushaltstitel angehoben werden,dort sollen Bundesmittel erhöht werden, Statistiken er-stellt und neue bürokratische Positionen geschaffenwerden. Das alles kostet ein Heidengeld! Mit Verlaub:Wohin diese Form von SPD-Politik führt, sehen wir jagerade in NRW.Unverändert richtig bleibt: Kinder und Jugendlichewerden als bedeutende Zielgruppe für die Reisebranchehäufig unterschätzt. Beim Reisen entwickeln die jungenMenschen den Blick für Neues und anderes. Die sozialeKompetenz wird gestärkt oder auch erst richtig erlernt,denn zunehmend sind die Jugendlichen in der FamilieEinzelkinder. Nie mehr im Leben ist der Mensch so lern-fähig und aufnahmebereit wie gerade in der Jugend, undgerade deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugend-tourismus mehr in den Fokus zu nehmen. Das wir dastun wollen, ist aber längst klar. Die Initiative der DZTbeweist das. Insgesamt hilft die öffentliche Hand an vie-len Stellen bereits heute bei notwendigen Finanzierun-gen. Mit McPom, einem speziellen Angebot für Klassen-und Jugendreisen aus Mecklenburg-Vorpommern, gibtes ein Beispiel dafür, was auf Länderebene noch allesgetan werden kann. An diesem Beispiel könnten sichauch andere Bundesländer orientieren und evaluieren,welche touristischen Angebote für Kinder und Jugendli-che vorhanden sind und wo Verbesserungen möglichsind. „Action am Strand“, Rangertouren im Wald oder„Paddeln statt Pauken“ sind Ideen, die sich nicht nur inMecklenburg-Vorpommern umsetzen lassen. Man musseben nur einmal genau hinsehen.Ich will mich an dieser Stelle nicht wiederholen, ver-weise aber auch noch einmal beispielhaft auf die Ent-wicklung eines einheitlichen Qualitätssiegels. Das Bun-desForum Kinder- und Jugendreisen hat deswegen fürdie Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystemsunsere Anerkennung verdient. Die positiven Rückmel-dungen aus dem ganzen Land sprechen für sich. Mittler-weile sind nach Angaben des Forums über 400 Häuserin Deutschland beteiligt. Hinzu kommt nun noch eineZertifizierung der Rahmenbedingungen für Reisebeglei-ter. Die bessere Vernetzung von Vermittlung steht eben-falls bereits auf dem Programm.Richtig bleibt: Die Bundesregierung wird diesenwichtigen touristischen Bereich weiter unterstützen;finanziell – aber auch dort, wo es gilt, die ausgetretenenPfade zu verlassen und Neues zu wagen. Aber Gießkan-nenpolitik à la SPD bringt uns auch beim Kinder- undJugendtourismus nicht weiter. Gute Ideen sind gefragt,und die waren in dem bereits beschlossenen Koalitions-antrag längst enthalten. Wir sehen deswegen überhauptkeinen Grund, jetzt diesem überflüssigen Antrag derSPD zuzustimmen.
Unsere Fraktion hält es für richtig, dass sich derBundestag zum zweiten Mal in diesem Jahre mit demThema Kinder- und Jugendreisen befasst. Der Antragder Koalition vom Februar vermittelte dazu ohnehin nurden Eindruck einer Pflichtübung anlässlich der jährli-chen Internationalen Tourismusbörse.Die Linksfraktion beobachtet seit längerem, dass indiesem wichtigen Tourismussektor bei weitem nicht nurResultate vorhanden sind, die mit der Elle des Umsatzesgemessen werden können – wie Sie es, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, meist tun. Auch wirwissen natürlich, dass 20 Prozent aller InlandstouristenJugendliche und junge Erwachsene sind, die der deut-schen Tourismuswirtschaft jährlich zu einem Umsatzvon 12 Milliarden Euro verhelfen. Das reicht uns abernicht!Wir meinen, auch die Qualität von Kinder- und Ju-gendreisen, die die Koalition einseitig in die Verantwor-tung der Träger von Kinder- und Jugendreisen delegiertund zwischen den Zeilen ihres Antrags mit Kritik belegt,ist nicht der einzige Punkt, dem unsere ganze Aufmerk-samkeit gelten muss. Insofern freuen wir uns, dass derSPD-Antrag einen Teil der wirklichen Probleme an-spricht.Wir sind alarmiert, wenn wir zur Kenntnis nehmenmüssen, dass Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel derHaushalte, in denen Kinder unter 16 Jahren leben, ausfinanziellen Gründen unerschwinglich sind. Dies ermit-telte das Statistische Bundesamt im Rahmen der Unter-suchung „Wie leben Kinder in Deutschland?“ für dasJahr 2008. Das bedeutet für rund 4 Millionen jungerMenschen erhebliche Defizite an geistiger Bildung, kul-turellem Austausch, Gesundheits- und Erholungsmög-lichkeiten. Diese Zahlen verwundern nicht. So legte derParitätische Wohlfahrtsverband erst unlängst dar, dassjedes siebte Kind unter 15 Jahren von Hartz IV lebt, inOstdeutschland sogar jedes vierte. Und wenn inDeutschland jeder vierte Arbeitnehmer im Niedriglohn-sektor arbeiten muss, dann wirkt sich das unmittelbarauf die Familienbudgets aus.Es gehört zu den Verdiensten des BundesForum Kin-der- und Jugendreisen, BuFo, im Rahmen einer umfas-senden Studie wichtige soziale Aspekte des Kinder- undJugendtourismus in die öffentliche Debatte gebracht zuhaben. Danach verreisen deutlich weniger Jugendlicheaus einkommensschwachen Haushalten – im Vergleichzu allen anderen Jugendlichen – einmal im Jahr. Gleich-zeitig wurde nachgewiesen, dass die Zahl öffentlich ge-förderter Kinder- und Jugendreisen seit Jahren rückläu-fig ist. Es geht also nicht allein um Qualität auf diesemGebiet – wofür sich im Übrigen Tausende Ehrenamtli-che und oft schlechtbezahlte Hauptamtliche – Jahr fürJahr mit hohem Einsatz bemühen.Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die sozialeSpaltung unserer Gesellschaft vor dem Tourismus nichthaltmacht und seit einigen Jahren auch im Kinder- undJugendtourismus angekommen ist. Dem ist mit der Wie-derholung des Koalitionslippenbekenntnisses zur Teil-habe aller Bevölkerungsschichten am Tourismus nichtabzuhelfen. Hier sind Taten gefragt, die zu Veränderun-gen führen. Und die kosten Geld!Allein mit Prüfaufträgen, Appellen, Absichtserklä-rungen, Anregungen und Hinweisen an Dritte, wie siedie Koalition in ihrem Antrag vom Februar inflationärverbreitete, ist wenig zu bewegen. Aber braucht mandenn mehr? Wo doch die Regierung laut eigenem AntragZu Protokoll gegebene Reden
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20028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Jörn Wunderlich
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im Wesentlichen genug für Kinder- und Jugendreisentut. Ich nenne das Veränderungswillen bei Verhaltens-starre.Denn die Bundesregierung tut nichts, um wenigstensein paar der – von Trägern und Verbänden, aber auchvon der Opposition – geforderten Schritte in die Wege zuleiten. Hierzu gehört unter anderem der Aufbau eineraussagekräftigen Statistik zu Kinder- und Jugendreisen,die nach unserer Auffassung in eine generell notwendigeStatistik zu sozialen Aspekten des Tourismus eingebettetsein sollte. Auch hier hat das BundesForum Kinder- undJugendreisen mit seiner Studie bereits Vorarbeit geleis-tet. Der SPD-Fraktion ist völlig zuzustimmen, wenn sieeine Evaluierung des „Aktionsplanes Kinder- und Ju-gendtourismus“ und dessen Weiterentwicklung in Zu-sammenarbeit von Bund und Ländern fordert. Eineganze Reihe der in diesem Antrag gestellten Forderun-gen können wir unterstützen.Wie notwendig eine Bündelung der Kompetenzen imBereich des Kinder- und Jugendtourismus und eine Ver-besserung der interministeriellen und länderübergrei-fenden Zusammenarbeit der für Kinder- und Jugendrei-sen verantwortlichen Institutionen sind, hatte dieKoalition selbst peinlich offenbart. So waren den Verfas-sern bestimmte positive Entwicklungen zum Beispiel aufdem Gebiet des Qualitätsmanagements für Jugendüber-nachtungsstätten überhaupt nicht bekannt. Sonst hätteman im Antrag darauf verweisen und auf eine bundes-weite Übernahme dieser Erfahrungen orientieren müs-sen, statt allgemein über Qualität zu schwafeln.An dieser Stelle sei mir eine Frage an die Koalitionund die Vertreter der Regierung erlaubt: Warum habenSie auf den reichen Erfahrungsschatz der Akteure aufdem Gebiet der Kinder- und Jugendreisen verzichtet undhinter verschlossenen Türen mit einigen wenigen denAntrag erstellt? Welches Interesse hatten Sie an einemVerzicht auf eine gemeinsame Diskussion? Beschämendkommt für mich hinzu, dass die heute Ausgeschlossenenmorgen den Aktionsplan umsetzen sollen.Die Hauptaufgaben einer Regierungskoalition beimThema Kinder- und Jugendreisen können doch nicht da-rin bestehen, Auflistungen zu erstellen, Bundesländerauf positive Effekte hinzuweisen und Prüfaufträge anzu-regen. Die Absicht der Antragsteller war klar: Alles darfmöglichst wenig, am besten gar nichts kosten!Aber sozialer Tourismus ist – wie auch der SPD-An-trag zeigt – nicht zum Nulltarif zu haben. Von der Regie-rungskoalition hätte man schon erfahren wollen, welcheWeichen im Haushalt anders gestellt werden müssten,um allen Kindern und Jugendlichen künftig jährlich eineerlebnisreiche Urlaubsreise zu ermöglichen, und wasgetan werden soll, um den besorgniserregenden Trenddes Rückgangs öffentlich geförderter Kinder- und Ju-gendreisen umzukehren.Vielleicht können wir heute dazu etwas erfahren?Wie wäre es, wenn sich die Bundesregierung zu einerkonzertierten Aktion gemeinsam mit den Bundesländernunter dem Motto „Alle Familien und Kinder sollen rei-sen können!“ entschließen könnte? Es ist doch bekannt,dass sich bereits sieben der sechzehn Bundesländer vonder Förderung von Familienreisen verabschiedet haben.Wir möchten an dieser Stelle einige weitere Forderun-gen und Vorschläge an die Bundesregierung richten, dieunmittelbar aus der Tätigkeit einer Reihe von Trägernfür Kinder- und Jugendreisen resultieren und die überdie Forderungen der SPD hinausgehen. Dazu gehört:den Anspruch auf Kinder- und Jugendreisen im SGBfestzuschreiben und die entsprechenden Mittel dafür be-reitzustellen; den „Aktionsplan Kinder- und Jugendrei-sen“ zu evaluieren und fortzuschreiben; die Mittel fürindividuelle und institutionelle Förderung von Kinder-und Jugendreisen aufzustocken; darunter fällt auch,Klassenfahrten wieder in der schulischen Bildung zuverankern und die Lehrer entsprechend vorzubereiten;die Qualifizierung von Begleitern im Bereich Kinder-und Jugendreisen, die sich um Kinder und Jugendlichemit Behinderung kümmern, besonders zu unterstützen;pädagogisch wertvolle Programme für Kinder- undJugendreisen zu fördern, breiter anzuwenden und in die-sem Zusammenhang den Erfahrungsaustausch zu inten-sivieren; die Qualitätsentwicklung im Kinder- und Ju-gendtourismus durch die Einführung gesetzlicherMindeststandards auf der Grundlage bereits vorliegen-der Erfahrungen zu stärken; Grundlagen für die wissen-schaftliche Begleitung von Kinder- und Jugendreisen zuschaffen; die Inklusion auf dem Gebiet von Kinder- undJugendreisen umfassend zu fördern und die dafür erfor-derlichen materiellen und finanziellen Voraussetzungenzu schaffen; politische Lösungen für die Sicherung dererforderlichen Arbeitsplätze im Bereich Kinder- und Ju-gendreisen im Zusammenhang mit der Einführung vongesetzlichen Mindestlöhnen zu schaffen.Auf welchen Boden werden wohl diese Forderungenbei der Koalition fallen? Wer sich dem internationalenTrend des Sozialtourismus mit dem Argument verwei-gert, Deutschland tue bereits genug, damit auch Men-schen mit geringen finanziellen Möglichkeiten reisenkönnen, bei dem werden sie sicher auf taube Ohren sto-ßen – nicht aber in der Öffentlichkeit, die die Debattendes Bundestages verfolgt.Nicht nur die Linken waren es, sondern auch derWirtschafts- und Sozialausschuss der EU, der die Mit-gliedstaaten seit längerem auf ihre Verantwortung fürdie soziale Dimension des Tourismus hinweist. Wir alsLinksfraktion unterstützen deshalb den Antrag der SPD,weil wir nicht hinnehmen wollen, dass sich im Touris-mus eine Zweiklassengesellschaft etabliert und verfes-tigt, nur noch jede zweite Familie verreisen kann undErholungsurlaube immer kürzer werden.Ihnen von der Regierungskoalition kann ich auf densogenannten guten Weg nur mitgeben: Greifen Sie dieVorschläge und Forderungen der Opposition auf, undstellen Sie damit unter Beweis, dass Sie den europäi-schen Zug des Sozialtourismus noch nicht völlig ver-passt haben.
Die Tourismuspolitik im Bundestag zeigt immer wie-der, dass wir uns über Parteigrenzen hinweg einigenZu Protokoll gegebene Reden
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Markus Tressel
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können. So war das in der Vergangenheit auch beim Kin-der- und Jugendtourismus, wo stets das Interesse an in-terfraktionellen Verhandlungen bestand. Vonseiten dergrünen Bundestagsfraktion besteht dieses Interesse auchweiterhin, nicht zuletzt, weil wir mit dem Aktionsplaneine erfolgreiche Basis im Jahr 2002 gelegt haben. Dieerhobenen Zahlen und Erkenntnisse, mit denen wirheute argumentieren, sind maßgeblich darauf zurückzu-führen. Ich hoffe, dass die Initiative der SPD dazu führt,sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und ein politi-sches Signal aus der Mitte des Deutschen Bundestageszu senden.Der Antrag der Koalition hat eine schöne Prosa, abereinen – um es ganz freundlich zu formulieren – ausbau-fähigen Forderungsteil. Aber das soll nicht heute im Fo-kus stehen. Denn der heutige Antrag der SPD geht inseinen Forderungen schon weiter. Das zeigt: Die Zu-wendung aus der Opposition kann nur guttun. Wir sehenjedoch weitere Punkte, die wir gerne gemeinsam mit Ih-nen diskutieren würden. Denn es fehlen weiterhin einigewichtige Zielstellungen. Der vorliegende Antrag derSPD weist zumindest in der Begründung darauf hin,dass wir eine soziale Dimension zu beachten haben. Ei-ner Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge be-steht für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche inDeutschland die Gefahr, nicht am Kinder- und Jugend-tourismus teilnehmen zu können. Betroffen von Armutsind oft junge Menschen, die in Familien leben, in denendie Eltern arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen,welche einen Migrationshintergrund haben, welche kin-derreich sind oder die aus Alleinerziehenden bestehen.Die Teilhabe am Reisen unterstützt jedoch eine gesundeEntwicklung von Kindern und Jugendlichen. Über diepositiven Effekte von Kinder- und Jugendreisen bestehtaber ohnehin Konsens. Deshalb lassen sie uns diesesZiel gemeinsam erreichen. Wenn wir es denn wirklichernst meinen, müssen wir gemeinsame Antworten fin-den, anstatt uns im politischen Klein-Klein zu streiten.Ich muss auch darauf aufmerksam machen, dass unsereKolleginnen und Kollegen in den Ländern hier entschei-dende Rollen einnehmen. Es wäre also dringend gebo-ten, im Rahmen einer Bund-Länder-Koordinierung fürgemeinsame Ziele zu werben. Ich muss Ihnen nicht er-klären, dass es wichtig wäre, wenn alle Fraktionen desDeutschen Bundestages eine solche Initiative unterstüt-zen würden. Sie kennen die Mehrheitsverhältnisse in denLändern. Es wäre also nicht allein des politischen Pro-zesses wegen äußerst hilfreich, hier interfraktionell zuagieren.Ich habe es vor wenigen Wochen gelassen, und ichunterlasse es auch heute, genauer auf den Antrag einzu-gehen. Dazu bleibt in den Ausschüssen genug Zeit.Stattdessen möchte ich neben der Bedeutung eines inter-fraktionellen Antrags auch die Ziele grüner Politik dar-legen.Wir wollen, dass auch Kinder und Jugendliche auseinkommensschwachen Familien am Tourismus teilneh-men können. Das betrifft mehr als 70 Prozent der Kinderund Jugendlichen. Sie nehmen schon heute deutlich we-niger an Reisen teil. Auch öffentlich geförderte Kinder-und Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext vonKinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf dieinternationale Jugendarbeit seit den 1990er-Jahrenrückläufig. Es wundert daher nicht, dass die Urlaubsin-tensität der Deutschen bis zu 13 Jahre ein Rekordtief seitseiner Erfassung erreicht hat. Um dem wirkungsvoll zubegegnen, helfen keine Prüfaufträge. Da hilft nur ge-meinsames Agieren!Wir brauchen zudem Maßnahmen im Bereich Ernäh-rung, Verpflegung, Gesundheitsvorsorge, Präventionund nachhaltiger Bildung. Heutzutage gibt es doppelt soviele übergewichtige sowie adipöse Kinder und Jugend-liche wie vor 20 Jahren. Wir müssen auch Antworten aufden „Sauftourismus“ finden. 35 Prozent der jungen Er-wachsenen als auch 35 Prozent der Jugendlichen ohneBegleitung wählen Spaß-, Fun- und Partyurlaub.Was wir brauchen, ist eine Sensibilisierung für bun-desweite Qualitätsstandards. Höchstens 5 Prozent derUnterkünfte sind mit dem Qualitätssiegel Kinder- undJugendreisen zertifiziert. Weitere Siegel sind „QMJ Si-cher Gut!“, „Mit Sicherheit pädagogisch!“ und „GUTDRAUF“. Sie alle sind kaum bekannt.Qualität und Nachhaltigkeit gehören zusammen.Doch knapp 50 Prozent der Schüler fällt nichts zumThema Nachhaltigkeit ein, und nachhaltige Angebote imKinder- und Jugendreisebereich liegen unter 10 Pro-zent.Wenn wir den Kinder- und Jugendreisesektor stärkenwollen, müssen wir seine zunehmende ökonomische Be-deutung in den Vordergrund stellen. Das kann allerdingszu einer wachsenden Kommerzialisierung des Sektorsführen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders proble-matisch, wenn gemeinnützige Träger unter einer drama-tischen Senkung öffentlicher Förderung um 30 Prozentleiden.Wir brauchen auch Kenntnisse über den Zustand derEinrichtungen im Kinder- und Jugendreisebereich. Esherrscht aber nicht nur Unwissenheit über den Zustandder Einrichtungen, es fehlen auch weiterhin geeigneteMaßnahmen. Das Einzige, was wir quantifizieren kön-nen, ist die Zertifizierung der Häuser: Nur 300 von6 000 bis 8 000 sind zertifiziert. Wir haben also einigesvor uns.Die Qualifizierung der meist ehrenamtlichen Betreue-rinnen und Betreuer inklusive einer Bescheinigung istebenso vonnöten wie der bundesweite Erwerb der Ju-gendleitercard. Seit Juni 2009 gibt es bundeseinheitlicheQualitätsstandards der Jugendleitercard, und mittler-weile besitzen circa 300 000 Ehrenamtliche das Doku-ment. Das müssen wir weiter konstruktiv begleiten.Über die internationale Dimension ist bislang weniggesprochen worden. Ein Ausbau der Beziehungen zu denEU-Staaten und den Nachbarländern ist aber wichtig.Durch das EU-Aktionsprogramm „JUGEND“ wurdenvon 2006 bis 2010 13 Millionen Euro für Deutschlandbereitgestellt. Es werden auch etwa 400 000 Jugendli-che durch Förderprogramme des Familienministeriumserreicht. Dazu muss man in diesem Zusammenhang überStiftungen, Erasmus, InWEnt gGmbH, DED, Auslands-Zu Protokoll gegebene Reden
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BAföG, Freiwilligendienstprogramme und vieles mehrdiskutieren.Der Austausch von Kinder und Jugendlichen, insbe-sondere von Schulklassen muss gestärkt werden. EinWettbewerb, den man mit positiven Zielen wie Nachhal-tigkeit, Qualität, Ernährung, Bewegung etc. verbindensollte, würde auch die Kinder und Jugendlichen bei derAusgestaltung einer solchen Reise unterstützen und siespielerisch lehren, sich damit auseinanderzusetzen. Dasbetrifft im Übrigen etwa 2 Millionen Schülerinnen undSchüler, die im Rahmen einer Schulfahrt pro Jahr verrei-sen. Das bringt etwa einen Umsatz von 300 MillionenEuro. Doch laut Experten ist auch hier die Tendenz fal-lend.Ich komme zum Schluss: Der Kinder- und Jugendtou-rismus steht erst am Anfang einer notwendigen
Entwicklung. Das Ziel, allen Kindern und Jugendlichendie Teilhabe am Reisen zu ermöglichen, ist noch langenicht erreicht. Lassen Sie uns zusammenarbeiten sowiekonstruktiv und erfolgversprechend auf dieses Ziel hin-arbeiten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8924 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger
Veit, Daniela Kolbe , Petra Ernstberger,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des aufenthalts- und freizügigkeits-
rechtlichen Ehegattennachzugs
– Drucksache 17/8921 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Europarecht beim Ehegattennachzug umsetzen
– Drucksache 17/8610 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir nehmen auch hier die Reden zu Protokoll. Das
betrifft die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel,
Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Sevim Dağdelen und
Memet Kilic.
Als der SPD-Kollege Dieter Wiefelspütz vor wenigenWochen bei einer Veranstaltung mit vielen Leitern derGoethe-Institute aus aller Welt im Rahmen einer Podiums-diskussion Ihre Initiative zur Abschaffung der verpflich-tenden Deutschkenntnisse vor dem Ehegattennachzugpräsentierte, da war die Reaktion völlig eindeutig:Kopfschütteln, bei einigen Entsetzen. Nach der Veran-staltung kamen etliche von diesen Leitern der Goethe-Institute zu mir und sagten ganz klar, dass sie zwar nichtStammwähler der CDU/CSU seien, aber dass wir mitdiesem Instrument der Vorintegration einen sehr wichti-gen Schritt für einen wirklich nachhaltigen Integrations-prozess unternommen haben und sie deshalb für dasVorgehen und den Kurswechsel der SPD kein Verständ-nis haben.Nur zur Erinnerung: Wir haben in der Zeit der Gro-ßen Koalition die verpflichtenden Deutschkenntnissevor dem Ehegattennachzug gemeinsam eingeführt. DieSPD nimmt jetzt Abschied von einer erfolgreichen Neu-ausrichtung in der Integrationspolitik. Sie liefern mit Ih-rem Gesetzentwurf und vor allem mit Ihrer Begründungdafür einen integrationspolitischen Offenbarungseid ab.Frei nach Margot Käßmann: Nichts ist gut in Ihrem An-trag, und vor allem stimmt nichts von den Argumenten,mit denen Sie ihn begründen. Wenn man das liest, wasSie da aufgeschrieben haben, könnte man glauben, Sieseien in einen langjährigen integrationspolitischen Tief-schlaf verfallen.Ihr zentrales Argument lautet: Die nachziehendenEhegatten können Deutsch doch im Inland nach ihremUmzug lernen. Das ist nun wirklich abwegig. Unserezentrale Überlegung in der Zeit der Großen Koalitionfür die Einführung des Sprachnachweises war doch ge-rade die Erfahrung aller, die sich in Sachen Integra-tionskursen auskennen, dass wir nun leider gerade die,die es am nötigsten hätten, mit unserem Angebot nichterreichen. Das sind doch gerade die, die in abgeschotte-ten Verhältnissen leben und in deren LebensalltagDeutsch leider keine Rolle spielt. Das sind gerade dieFamilien, in denen auch die in Deutschland geborenenKinder aufwachsen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen,wodurch sie von vornherein schlechtere Chancen inSchule und Ausbildung haben.Das können wir uns angesichts unserer demografi-schen Entwicklung aber nicht mehr leisten. Weil es unsum ein echtes Zusammen- und nicht Nebeneinanderle-ben geht, müssen wir in jede Migrantenfamilie die klareBotschaft aussenden: Ohne Deutsch geht es nicht!Es ist sehr unehrlich, wenn Sie in der Begründung Ih-res Antrags darauf verweisen, dass der Besuch der Inte-grationskurse verpflichtend sei. Das ist theoretisch rich-tig. Sie wissen aber genauso gut wie ich, dass wegen desEU-Assoziierungsabkommens und aus anderen rechtli-chen Gründen es praktisch nicht möglich ist, einen Ehe-gatten wieder des Landes zu verweisen, weil er seinerPflicht zum Besuch eines Integrationskurses nicht nach-gekommen ist. Insofern ist die Verpflichtung ein eherstumpfes Schwert.
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Reinhard Grindel
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Und Sie wollen es in der Praxis doch auch gar nichtanwenden: Es ist der Gipfel der Unehrlichkeit, wenn Siejetzt plötzlich davon sprechen, dass mit der Verschär-fung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre 2011 die Über-prüfung der Einhaltung der Verpflichtung zum Besuchdes Integrationskurses „effektiver wurde“, wie Sie jetztplötzlich in ihrem Antrag schreiben. Als wir die letzteÄnderung des Aufenthaltsgesetzes im vergangenen Jahrdebattiert haben, da haben Sie genau das noch kritisiertund uns vorgeworfen, wir würden unsere ausländischenMitbürger mit Katalogen von Sanktionen traktieren. IhrAntrag und Ihre Argumentation sind von vorne bis hin-ten falsch und unehrlich.Es ist ebenso nur schwer erträglich, wie Sie mit derFrage umgehen, ob es denn verfassungsrechtlich zuläs-sig sei, von den nachziehenden Ehegatten vor der Ein-reise einfache Deutschkenntnisse zu verlangen. Ich habenoch sehr genau im Ohr, wie diejenigen in der SPD, dieschon immer für eine andere Ausländerpolitik standen,wie Herr Edathy etwa, uns prophezeit haben, wir wür-den mit diesem Instrument sowieso vor dem Bundesver-fassungsgericht scheitern. Das Gegenteil ist eingetrof-fen: Die Karlsruher Richter haben dieses wichtigeInstrument der Integration und der Verhinderung derZwangsehe für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.Das erwähnen Sie am Rande Ihres Antrags und schrei-ben dann, die eigentlich zutreffende Auffassung hättendie von Ihnen in der Anhörung bestellten Sachverständi-gen vertreten, die unsere Vorschrift für verfassungswid-rig erklärt hätten. Zu Deutsch: Ein Professor und eineVerbandsvertreterin legen das Grundgesetz zutreffenderaus als das Bundesverfassungsgericht. Da fällt mir derzutreffende Spruch ein: Ideologen sind Menschen, diesich auch von Tatsachen nicht beirren lassen.Das alles wäre ja nicht ganz so schlimm, wenn Sie nichtIhre ausländerpolitische Ideologie auf dem Rücken insbe-sondere von Frauen, aber auch von vielen jungen Män-nern austragen würden, die das Angebot der Goethe-Insti-tute und vieler anderer Schulen und Sprachkursanbieterdankbar annehmen.Das war ja gerade das Ergebnis der Tagung der Lei-ter der Goethe-Institute, von der ich eingangs berichtethabe: Es gab keinen Einzigen, der nicht gesagt hätte,das sei richtig, was wir an Maßnahmen der Vorintegra-tion beschlossen hätten. Die Sprachkurse sind deshalbwertvoll, weil unsere zukünftigen Mitbürger eben nichtnur die deutsche Sprache erlernen, sondern auch sehrviel über unser Land, über Lebensgewohnheiten, unsereKultur und unsere Gesetze erfahren. Durchgehend wirduns berichtet, dass die Teilnehmer für die Vorbereitungauf das ihnen doch so fremde Land dankbar sind.Was soll die abwegige Frage nach belastbarem empi-rischem Material, wie viele Zwangsehen denn nun kon-kret verhindert worden sind? Sie wissen ganz genau,dass es solche Statistiken naturgemäß nicht geben kann.Aber die Berichte der oftmals ja weiblichen Kurslehrersind eindeutig und sie sind positiv. Sie berichten auchvon einer erstzunehmenden Zahl von jungen Frauen, dieabsichtlich durch die Prüfung fallen, um nicht nachDeutschland verheiratet zu werden.Es muss doch eigentlich auch für jedermann nach-vollziehbar sein, dass die besten Hilfs- und Beratungs-angebote in Deutschland völlig leerlaufen, wenn eineFrau sich am Telefon noch nicht einmal Hilfe holenkann, wenn sie familiärer Gewalt ausgesetzt ist. Natür-lich ist es ganz klar ein wirksames präventives Mittel ge-gen Zwangsehen, wenn die in Deutschland lebenden undmeist fundamentalistisch geprägten Familien wissen:Da kommt eine junge Frau, die kann Deutsch, und sieweiß um ihre Rechte und unsere Gesetze. Es ist völligunverständlich, dass Sie jungen Frauen, die wir stärkenmöchten, denen wir Selbstvertrauen vor dem für sie oft-mals schwierigen Umzug nach Deutschland geben,diese Unterstützung verweigern wollen.Es ist außerdem wirklich dreist und unehrlich, wennSie die Ungleichbehandlung zwischen den Frauen, de-nen wir einfache Deutschkenntnisse abverlangen, undsolchen Frauen beklagen, die aus Ländern stammen, mitdenen Visafreiheit besteht. Es sind die Vertreter der SPDbei den damaligen Koalitionsverhandlungen gewesen,der Kollege Wiefelspütz und unser damaliger KollegeBürsch, die genau auf diese Regelung gedrängt haben.Ihre Argumentation war damals, dass wir, wegen desschon seinerzeit von Ihnen beklagten mangelnden Zu-zugs von hochqualifizierten Arbeitskräften, mit den ver-pflichtenden Deutschkenntnissen für die Ehegatten eineweitere Hürde für die Zuwanderung auf den deutschenArbeitsmarkt aufbauen würden.Wenn Sie heute in Ihrem Antrag schreiben, dass vonder Staatsangehörigkeit dieser nachziehenden Ehegat-ten nicht automatisch auf einen geringeren Integrations-bedarf geschlossen werden kann, dann haben Sie völligrecht. Aber das war damals gerade unser Argument, dasSie nicht gelten lassen wollten.Von mir aus können wir diese Privilegierung sofortaufheben, weil es in der Tat widersprüchlich ist, dasseine Türkin ohne Deutschkenntnisse zwar nicht zu einemTürken nachziehen dürfte, aber zu einem Japaner. Die-sen Widerspruch hat uns aber die SPD in den Koali-tionsverhandlungen eingebrockt. Die CDU/CSU wolltedas noch nie!Sie dramatisieren auch die angeblichen Problemebeim Spracherwerb im Ausland. In nahezu allenHauptherkunftsländern gibt es auch in kleineren StädtenSprachkursangebote. Gerade im Falle der Türkei hateine Reihe von Rückkehrern aus Deutschland sich durchdie Gründung kleiner Sprachschulen sogar eine wirt-schaftliche Existenz aufgebaut. Die sehr verzweigten fa-miliären Netzwerke führen auch dazu, dass es kein Pro-blem darstellt, einen gewissen Zeitraum bei Verwandtenin größeren Städten zu leben und dort Deutsch zu lernen.Es gibt vielfältige mediale Sprachkursangebote, die vonden in Deutschland lebenden Ehegatten zur Verfügunggestellt werden können, und auch die Deutsche Wellebietet im Internet einiges.Es ist auch kein Versagen unserer Visastellen im Aus-land, in denen hochprofessionell gearbeitet wird, wennzwischen dem Besuch des Sprachkurses und dem Umzugnach Deutschland zum Teil mehrere Monate liegen und,wie Sie in Ihrem Antrag erwähnen, die Deutschkennt-Zu Protokoll gegebene Reden
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Reinhard Grindel
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nisse wieder verloren gehen. Zunächst einmal ersetztder Spracherwerb im Ausland ja nicht die Verpflichtungzum Besuch eines Integrationskurses im Inland. Das Ni-veau, das im Ausland erreicht werden muss, ist A1 nachdem europäischen Referenzrahmen. Das Niveau, das amEnde des Integrationskurses erreicht worden sein soll,ist B1, wie Sie ja sehr genau wissen. Wir müssen einfachvon den Familien verlangen, dass sie den Umzug nachDeutschland etwas gewissenhafter vorbereiten und alleDokumente vorliegen, wenn der Ehegattennachzug be-antragt wird. Die Unvollständigkeit der Dokumente istin aller Regel das Problem. Im Grunde sollte derSprachkurs erst zu einem Zeitpunkt begonnen werden,zu dem alle anderen notwendigen Unterlagen vorliegen.Dann kann es zwischen Ende des Sprachkurses und Er-teilung des Visums zur Einreise nach Deutschland sehrschnell gehen. Ansonsten sind die Kommunen vor Ortaufgefordert, für einen schnellen Besuch von Integra-tionskursen nach dem Umzug zu sorgen.Was Sie hier vortragen, sind doch alles vorgescho-bene Argumente. Sie wollen mit Ihrer Haltung jetzt beiden Landtagswahlen und später bei der Bundestags-wahl, insbesondere bei türkischstämmigen Wählern,Stimmen abgreifen. Das ist das einzig wahre Ziel, dashinter Ihrem Antrag steckt.Das ist nun wirklich schlimm: Auf der einen Seite hatdie SPD nicht den Mumm, Herrn Sarrazin aus der SPDauszuschließen, weil man weiß, dass er eben geradeauch in der SPD-Wählerschaft auf Resonanz stößt, unddie will man nicht verprellen. Auf der anderen Seitewollen Sie gleichzeitig die Stimmen von Integrationsver-weigerern einkassieren, denen die Verpflichtung zumDeutschlernen ein Dorn im Auge ist. Das hat alles mitseriöser Politik nichts mehr zu tun, und deshalb lehnenwir Ihren Antrag ab.
Zwar ist richtig: Die Regelung des Spracherwerbsvor Ehegattennachzug, die wir mit unserem heute einge-brachten Gesetz abschaffen wollen, wurde unter derGroßen Koalition eingeführt und somit notgedrungenauch von uns mitgetragen. Viele von uns – ich gehörteauch dazu – haben aber insbesondere die Einführungdes Kriteriums Spracherwerb damals schon für falschgehalten und das an dieser Stelle wiederholt zum Aus-druck gebracht.Dass die meisten von uns dem Gesetz dennoch zuge-stimmt haben, lag einzig und allein darin, dass dieKompromisse, insbesondere die Verschärfungen imFamiliennachzug, der „Preis“ für die erstmalige Ein-führung einer gesetzlichen Altfall- und Bleiberechts-regelung waren.Die Einführung dieses Spracherwerbserfordernissesim Jahre 2007 sollte neben der Verbesserung der Inte-grationschancen für nachziehende ausländische Ehe-gatten vor allem ein Mittel zur Bekämpfung von Zwangs-ehen sein; so lautete die Begründung der CDU. Heute,fünf Jahre nach Einführung der Regelung, fehlen weiter-hin jedwede empirische Belege dafür, dass dieses Zielmit der Einführung des Spracherfordernisses vor Ein-reise erreicht worden wäre. Ein Gesetz aber, dessen er-klärtes Ziel nicht erreicht wird, hat keine Berechtigungund muss entweder abgeschafft oder modifiziert werden.Das geltende Recht führt zudem in vielen Fällen zuunverhältnismäßigen und, wie wir meinen, nicht mitArt. 6 Grundgesetz vereinbaren Härten. So gibt es invielen Ländern gar keine Goethe-Institute, oder die In-stitute sind zu weit vom Wohnort entfernt. Dies wiede-rum kann zu unüberwindbaren finanziellen Belastungenführen, wenn aufgrund der großen Entfernung zumWohnort eine Wohnung in Kursnähe angemietet undgleichzeitig die Arbeitstätigkeit am Wohnort aufgegebenwerden muss. Dazu kommen dann noch die Kurskostenselbst, die gemessen an den Lebenshaltungskosten imHerkunftsland häufig recht hoch sind. Dabei wird meistaus dem Blick verloren, dass es sich hier nicht allein umaus der Türkei stammende nachzugswillige Ehegattenhandelt. Als Beispiel möchte ich vielmehr eine in Vollzeitarbeitende Fabrikarbeiterin an der ostsibirischen Be-ringsee nennen. Sie hat bis zum nächsten Goethe-Institutin Novosibirsk eine Anfahrt von 6 000 Kilometer Luft-linie. Sollte sie dann noch ein Kind alleine erziehen,steht sie endgültig vor unüberwindbaren Hindernissen.Nicht erst seitdem der EuGH das in seinem Urteil vom4. März 2010 in der Rechtssache Chakroun – C-578/08 –festgestellt hat, ist es so, dass „der den Mitgliedstaateneröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einerWeise genutzt werden“ darf, „die das Richtlinienziel – dieBegünstigung der Familienzusammenführung – und diepraktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigenwürde.“Genau das ist jedoch geltende Rechtslage bei uns undmit Art. 6 Grundgesetz und Art. 8 EMRK nur sehrschwer vereinbar, die beide Ehe und Familie unter denbesonderen Schutz des Staates stellen.Zwar haben das Bundesverfassungsgericht und dasBundesverwaltungsgericht festgestellt, dass die Rege-lung des Spracherfordernisses vor Einreise nachDeutschland sowohl mit dem Grundgesetz als auch mitder Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist.In einem Kostenbeschluss wurde vom Bundesverwal-tungsgericht kürzlich jedoch angedeutet, dass diesenationale Rechtsprechung im Lichte der EuGH-Ent-scheidung wohl nochmals überprüft werden müsse.In den vergangenen fünf Jahren haben Berichte vonRechtsanwälten und Verbänden sowie zahlreiche Peti-tionen von Einzelpersonen gezeigt, dass es viele Men-schen gibt, denen das Leben ihrer Ehe aufgrund des fürdie Zusammenführung geforderten Spracherfordernis-ses auf unbestimmte Zeit unmöglich gemacht wird. Die-ser konkret gelebten und von Menschen in unserem Landtäglich erfahrenen Not können und wollen wir uns nichtverschließen.Dennoch sagen wir deutlich: Ausländische Ehepart-ner müssen Deutsch lernen, aber eben erst hier inDeutschland – und zwar mit dem Ziel der Prüfung deszwei Stufen höheren Sprachniveaus B1. Nur so könnensie sich in Deutschland integrieren. Das Aufenthaltsge-setz verpflichtet sie, sich unverzüglich nach ihrerZu Protokoll gegebene Reden
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Rüdiger Veit
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Einreise in Deutschland zu einem Integrationskurs an-zumelden. Das ist geltendes Recht, und das soll auch sobleiben.Aber wir wollen das Erfordernis des Spracherwerbsvor Einreise auch noch aus einem anderen Grund ab-schaffen: Es führt zu großen Ungleichbehandlungen undinsbesondere zu einer deutlichen Inländerdiskriminie-rung. Wenn ein in Deutschland lebender Ausländer zuder Gruppe von Ausländern gehört, die visumsfrei nachDeutschland einreisen dürfen, dann muss der nachzie-hende Ehegatte keine Deutschkenntnisse bei Einreisenachweisen. Wenn also beispielsweise ein Türke zuseiner in Deutschland lebenden koreanischen Ehefrauziehen möchte, muss er vor der Einreise kein Deutschlernen; der türkische Ehemann, der mit seiner inDeutschland lebenden deutschen Ehefrau zusammen-leben möchte, muss dies jedoch vor Einreise tun.Aus dem EuGH-Urteil Metock folgt, dass die EU-Mit-gliedstaaten schon seit 2008 im Anwendungsbereich derFamilienzusammenführungsrichtlinie keine eigenenRegelungen die Familienzusammenführung betreffendeinführen können. Die brasilianische Ehefrau eines inDeutschland lebenden Franzosen muss demnach keinenDeutschtest vor Einreise machen, die brasilianischeEhefrau eines Deutschen kann jedoch nur mit Sprach-kenntnissen zu ihrem Ehemann ziehen.Und schließlich – so berichten Verbände und Sprach-schulen – vergehen zwischen Bestehen des Deutschtestsim Ausland und der Erteilung des Visums und der Ein-reise nach Deutschland häufig Monate. In dieser Zeitvergessen viele Menschen das Erlernte wieder, weil siees nicht anwenden können. In Deutschland beginnen siedann nicht selten bei Null, und viel Mühe und Zeit sindfür wenig Nutzen investiert worden.Aus den dargelegten Gründen halten wir das Sprach-erwerbserfordernis vor Einreise für ungeeignet, über-flüssig, mehrfach diskriminierend und europarechtswid-rig.Hartfrid Wolff (FDP):Die SPD hat in gemeinsamer Regierungskoalition mitder Union den Sprachnachweis für den Ehegattennach-zug eingeführt. Dass sich die SPD jetzt, ein halbes Jahr-zehnt später, davon distanziert, ist wohl als reine Taktikzu bewerten. Sollte die SPD wieder einmal regieren,wird sie anders reden als jetzt in der Opposition.Dass von Personen, die ein Visum zum Zwecke desEhegattennachzuges nach Deutschland beantragen, dieFähigkeit zur Verständigung in deutscher Sprache „aufeinfache Art“ verlangt wird, ist nicht nur zumutbar, son-dern sogar ganz im Sinne der Zuwanderer.In der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hin-sichtlich des Erwerbs und des Nachweises der erforder-lichen Sprachkenntnisse gab es anfänglich Berichteüber eine Anwendungspraxis, die die Antragsteller vorzusätzliche, in Einzelfällen unzumutbare Hürden stellt.Inzwischen hat eine Evaluierung ergeben, dass es mitt-lerweile vielfältige Möglichkeiten gibt, Deutsch im Her-kunftsland zu lernen. So hat sich die Anzahl der öffentli-chen und privaten Sprachlernzentren erhöht. Was dieAbnahme der notwendigen Sprachprüfung vom Niveau„Start 1“ betrifft, sind neben den Goethe-Instituten eineReihe anderer Institutionen, wie telc, eine Tochter desDeutschen Volkshochschul-Verbands e. V., prüfungsbe-rechtigt. Diese sind insbesondere auf dem Balkan und inder Türkei vertreten, woher eine hohe Zahl von Perso-nen stammt. Ebenso wird das österreichische Sprachdi-plom anerkannt.In den wichtigsten Herkunftsländern, zum BeispielTürkei, Kosovo und Russische Föderation, gibt es auchin ländlichen Gebieten Privatschulen und Privatlehrer,die Deutsch anbieten. Ferner gibt es kostenlose Inter-netdeutschkurse der Deutschen Welle und weitereSelbstlernkurse.2009 haben weltweit 65 Prozent der Teilnehmer dieSprachprüfung bestanden; bei Teilnehmern, die zuvoreinen Sprachkurs des Goethe-Instituts besucht hatten,lag die Bestehensquote sogar bei 81 Prozent.Dem Deutschen bleibt es ferner unbenommen, seinenausländischen Ehepartner persönlich zu unterstützen.Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierungnichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keineSprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familien-angehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Fami-liennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgernkeine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlunglässt sich nicht ganz vermeiden, ist in Relation zu demZiel der verbesserten Integration jedenfalls als nachran-gig anzusehen.Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Siesind aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Spra-che, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratieund Rechtsstaat sind das für alle geltende Fundamentunserer Gesellschaft.Die Linken wie die Sozialdemokraten wollen, wie sieauch mit den vorliegenden Anträgen zeigen, etwas ande-res: Sie wollen die Abschaffung der Nachzugsregelung.Damit werden sie, wie immer mit solchen Anträgen zurMigrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern inDeutschland erschweren, indem sie falsche Erwartun-gen wecken und statt Engagement nur Anspruchsdenkenfördern.Wir wollen weiter die Möglichkeiten verbessern, imAusland Deutsch zu lernen.Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stetsgemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Auch wennSPD und Linke das nicht wahrhaben wollen: Art. 6Grundgesetz ist von den Vätern und Müttern des Grund-gesetzes nie als Freibrief für unkontrollierte und bedin-gungslose Zuwanderung nach Deutschland gedacht ge-wesen. Bis heute wird er von der Rechtsprechung auchnicht so interpretiert.Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom30. März 2010 – das auch im Gesetzent-wurf erwähnt wird – entschieden, dass die Regelung zumSprachnachweis beim Ehegattennachzug in der gelten-den Form verfassungsgemäß und mit europäischemZu Protokoll gegebene Reden
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Hartfrid Wolff
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Recht vereinbar ist. Das Gericht hat ausdrücklich da-rauf hingewiesen, dass die Regelung auch ohne allge-meine Härtefallregelung mit dem Grundgesetz vereinbarist und dass der Erwerb einfacher Deutschkenntnisse imHerkunftsland auch nicht deshalb unzumutbar sei, weildie türkische Klägerin des Ausgangsverfahrens An-alphabetin ist.Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist durcheinen Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungs-gerichts vom 25. März 2011 nocheinmal bestätigt wordenIch finde es befremdlich, dass die SPD mit ihren ge-genteiligen Ausführungen meint, das Verfassungsgerichttadeln zu müssen.Die Oppositionsparteien verwenden jeden beliebigenVorgang aus der Zuwanderungspolitik, um einer unge-steuerten Zuwanderung das Wort zu reden. WachsendenBelastungen für die sozialen Sicherungssysteme und an-steigende Ausländerfeindlichkeit nehmen sie dafür billi-gend in Kauf.Wenn etwa die SPD zur Untermauerung der Deutsch-lernpflicht von nachgezogenen Ehegatten eine entspre-chende Sanktionierung fordern würde, wäre sie glaub-würdiger.Wir sollten doch so ehrlich sein, gemeinsam anzuer-kennen, dass abgeschottete Migrantenbiotope mit Ehe-gattenimport aus unseren gesellschaftlichen Wertenfernstehenden Zonen nicht unbedingt zu einem friedli-chen Zusammenleben in Deutschland beiträgt.Die FDP hat ihre Kritikpunkte an der Ehegattennach-zugsregelung nie versteckt, hält das Integrationszielaber für übergeordnet. Wenn die Oppositionsparteienendlich einmal nicht nur mit Anträgen der vorliegendenArt um Migrantenstimmen buhlen, sondern auch die An-liegen des friedlichen Zusammenlebens und der Be-kämpfung der Gettobildung ernst nehmen wollten, wä-ren ihre Initiativen ernst zu nehmen.Wir Liberalen gestalten dagegen die Zuwanderungs-politik mit der Union neu. Statt politischer Nachsicht mitIntegrationsfehlleistungen einerseits und daraus resul-tierenden Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwan-derer andererseits wollen wir eine Steuerung derZuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, trans-parenten und gewichteten Kriterien, die die Integra-tionsziele klar benennt und einfordert. Wer dauerhafthier leben und Bürgerrechte ausüben will, muss Deut-scher werden wollen.Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohneWenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kulturdes Willkommens, die nicht falsche Versprechungen aufKosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per-spektiven eröffnet: für die, die nicht nur „territorial“nach Deutschland kommen, sondern auch in unseremLand und unserer Gesellschaft wirklich ankommen wol-len.Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu ler-nen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oder Linke,für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, denennur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werdenkann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort„Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden sollen.Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgenmuss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigen-den Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderun-gen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlichpositiv denken. Wir brauchen eine Kultur der Anerken-nung für diejenigen, die das geschafft haben. Wir haltenintegrierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für einegroße Bereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglück-wünschen diejenigen, die sich erfolgreich integriert ha-ben! Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sinddankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland ent-schieden haben.
Am 1. März lief die Frist zur Stellungnahme zumGrünbuch der EU-Kommission zur EU-Familienzusam-menführungsrichtlinie ab. Die Linke hat, wie zahlreicheandere Verbände und die Bundesregierung auch, eineentsprechende Stellungnahme abgegeben. Die Um-setzung der Familienzusammenführungsrichtlinie inDeutschland im Jahr 2007 und insbesondere die Sprach-anforderungen beim Ehegattennachzug durch CDU/CSU und SPD haben wir damals wie heute scharf kriti-siert. Namentlich der Fraktion Die Linke habe ich dieEU-Kommission aufgefordert, ein Vertragsverletzungs-verfahren gegen die Bundesregierung einzuleiten, weildie jetzige deutsche Rechtslage und Praxis eindeutig ge-gen die geltende Richtlinie, die Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofes und die Auslegung derRichtlinie durch die EU-Kommission widersprechen.Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichst um-fassendes Recht auf Familienzusammenführung ein, dasinsbesondere auch nicht von der wirtschaftlichen undsozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht wer-den darf. Insofern sehen wir auch einige Anforderungender Richtlinie, etwa zur Lebensunterhaltssicherung, kri-tisch, die im Grünbuch nicht infrage gestellt werden. DieUmsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie inDeutschland im Jahr 2007 kritisieren wir aber insbeson-dere deshalb, weil sie dazu genutzt wurde, um den Fami-liennachzug nach politischen Nützlichkeitserwägungendes Aufnahmelandes einzuschränken. Die Neuregelungder Sprachnachweise im Ausland wirkt sozial ausgren-zend. Sie trifft insbesondere wirtschaftlich, sozial undbildungsbenachteiligte Menschen, ältere Menschen, An-alphabetinnen und Analphabeten und die ländliche Be-völkerung mit schwierigem Zugang zu Sprachkursenusw. Die von der deutschen Gesetzeslage gefordertenmündlichen und schriftlichen Sprachkenntnisse auf demNiveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenz-rahmens für Sprachen stellen nach Kenntnis derLinksfraktion die höchsten Anforderungen in der Euro-päischen Union dar. Die Behauptung der damaligenschwarz-roten Bundesregierung, die Neuregelung solleangeblich dem Kampf gegen Zwangsverheiratungen
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nicht vorlegen.Auch die FDP ist der Ansicht, die Regelung ist pro-blematisch, weil sie auf die Staatsangehörigkeit desStammberechtigten und nicht des nachziehenden Ehe-gatten abstellt. Darüber hinaus ist auch sie der Mei-nung, dass die Regelung unverhältnismäßig ist, weil derErwerb von Sprachkenntnissen für die Ehegatten im
Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gespro-chen werden. Der Spracherwerb in Deutschland ist vielleichter, schneller, günstiger und weniger belastend fürdie betroffenen Familien als im Ausland. Grundsätzlichist die Teilnahme an Integrationskursen in Deutschlandsogar seit 2005 verpflichtend und kann mit Mitteln desVerwaltungszwangs durchgesetzt werden.Abschließend möchte ich auf drei Umsetzungs-verstöße im deutschen Recht hinweisen:Erstens. Das Spracherfordernis beim Ehegattennach-zug verstößt gegen die Familienzusammenführungs-richtlinie. Das ergibt sich aus der Entscheidung desEuGH in der Rechtssache Chakroun sowie für assozia-tionsrechtberechtigte türkische Staatsangehörige ausder Entscheidung des EuGH in der Sache Toprak. Dieshat die Europäische Kommission in einer schriftlichenStellungnahme vom Mai 2011 in dem Verfahren Imranvor dem EuGH bezüglich der dem deutschen Recht ver-gleichbaren niederländischen Regelung festgestellt. DieRichtlinie verbiete es den Mitgliedstaaten, Sprachtestsals „Bedingung“ zu verstehen, von der das Recht aufFamilienzusammenführung selbst abhängig ist.Zweitens. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetzsetzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zumFamiliennachzug in der Regel voraus, dass der Lebens-unterhalt gesichert ist. Nur im Ausnahmefall darf nachdeutschem Recht von der Voraussetzung der Lebensun-terhaltssicherung abgesehen werden. Nach der Chak-roun-Entscheidung darf die mangelnde Lebensunter-haltssicherung nicht zu einer Regelnachzugssperreführen. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allenFällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennach-zug eine Einzelfallabwägung.Drittens. Gemäß § 29 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz kannder Zugang zum Arbeitsmarkt für nachgezogene Ehegat-ten von Drittstaatsangehörigen für einen Zeitraum vonbis zu zwei Jahren eingeschränkt werden. Die Familien-zusammenführungsrichtlinie berechtigt die Mitglied-staaten, Bedingungen aufzustellen, nach welchen Fami-lienangehörige aus Drittstaaten eine Erwerbstätigkeitausüben können. Gemäß Art. 14 Abs. 2 der Familienzu-sammenführungsrichtlinie dürfen diese Bedingungenjedoch nur eine Frist von zwölf Monaten vorsehen, inder die Mitgliedstaaten eine Arbeitsmarktüberprüfungdurchführen können, bevor sie den Familienangehöri-gen die uneingeschränkte Ausübung einer Erwerbstätig-keit gestatten.Wir sollten nicht warten, bis das Bundesverfassungs-gericht oder der Europäische Gerichtshof uns aufträgt,die geltenden Regelungen aufzuheben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8921 und 17/8610 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind auch
diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Novelle des Bundesberggesetzes und anderer
Vorschriften zur bergbaulichen Vorhaben-
genehmigung
– Drucksache 17/9034 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wir nehmen die Reden zu diesem Tagesordnungs-
punkt zu Protokoll. Dies betrifft Andreas G. Lämmel,
Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Eva Bulling-Schröter
und Oliver Krischer.
Im Januar hatten wir bereits über einen Antrag derGrünen debattiert, der den Bergbau in Deutschland wirt-schaftlich zum Erliegen bringen würde. In eine ähnlicheRichtung geht nun der vorliegende Antrag der Linken.Der Antrag der Grünen war keine Überraschung under entsprach in seiner teils wirtschaftsfeindlichen Aus-richtung auch sicher allen Erwartungen. Dass nun aus-gerechnet die Linken einen solchen Antrag einbringen,ist doch überraschend, wenn nicht grotesk. Ihre großeVorgängerpartei, die SED, hat über 40 Jahre brutalenRaubbau an Kultur, Mensch und Natur in Ostdeutsch-land betrieben, und nun fordern ausgerechnet Sie Me-chanismen zur Konfliktregelung, welche „die Interessender Umwelt und der vom Abbau betroffenen Menschenund Unternehmen angemessen berücksichtigt“. AusIhrer Feder ist diese Forderung nicht notwendig, da diesim gegenwärtigen Berg- und Umweltrecht bereits sovorgesehen ist. Dies gilt ebenso für die von Ihnen gefor-derten Umweltverträglichkeitsprüfungen, UVP. Sie sug-gerieren, in Deutschland gäbe es keine Abwägung zwi-schen den Interessen der Anwohner, des Bergbaus undder Umwelt. Das ist schlicht unzutreffend.Bevor ich auf den Inhalt Ihres Antrages zu sprechenkomme, muss ich aber auf die Glaubwürdigkeit des An-tragsstellers eingehen. Unter der Verantwortung derVorgängerpartei der Linken, der SED, wurden in der
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Andreas G. Lämmel
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ehemaligen DDR unter rücksichtsloser Zerstörung vonKultur, Mensch und Natur Rohstoffe abgebaut. Die zweigroßen Sünden lauten Uran- und Braunkohleabbau.Erstens zum Uranabbau der Wismut in Sachsen undThüringen. Bis 1990 wurden in dicht besiedelten Gebie-ten circa 230 000 Tonnen Uran abgebaut und in dieSowjetunion geliefert. Die Hinterlassenschaften warencirca 3 700 Hektar radioaktiv kontaminierte Halden undBetriebsflächen. 300 Millionen Kubikmeter Bergmate-rial wurden gefördert und auf 48 Halden abgelagert.160 Millionen Kubikmeter schadstoff- und uranbelasteteSchlämme wurden produziert. Nach der Wiedervereini-gung wurde der Abbau sofort gestoppt und erste Sanie-rungskonzepte ausgearbeitet, diese fehlten zu DDR-Zeiten völlig.Aus dem Haushalt des Bundes wurden bis Ende 20115,6 Milliarden Euro ausgegeben, um diese gewaltigenUmweltzerstörung zu korrigieren. Manche Sanierungs-projekte werden noch bis 2020 dauern. Bis 2040 werdendie Sanierungsmaßnahmen insgesamt voraussichtlich7,1 Milliarden Euro gekostet haben.Zweitens zum Braunkohleabbau. Hier war das Bildähnlich verheerend wie beim Uranabbau. 120 000 Hek-tar durch Tagebau und Braunkohleveredlungsanlagenzerstörte Landschaft, extrem hohe Pro-Kopf-Belastungan Schwefeldioxid und Staub, dazu schwerwiegendeEingriffe in den Wasserhaushalt der Abbauregionen unddie Verklappung von Abbauresten und Industrieabfällenin ausgebeuteten Tagebauen.Nun alle Notwendigkeiten der Sanierung aufzuzäh-len, sprengt den zeitlichen Rahmen, daher nur dreiPunkte: Das Defizit an Grundwasser in den ostdeut-schen Braunkohlerevieren betrug 12,7 Milliarden Ku-bikmeter. 100 000 Tonnen industrielle Rest- und Schad-
215 Tagebaurestlöcher wurden vorgefunden. Der Bundsowie die Länder Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben für die Sanierung dieserHinterlassenschaften seit 1990 bis 2012 fast 9,1 Milliar-den Euro ausgeben.Von den Zerstörungen kultureller Güter sowie dermenschlichen Gesundheit habe ich noch gar nichtgesprochen. Allein im Uranbergbau sind knapp 9 000Bergleute mit Berufskrankheiten durch ionisierte Strah-lung – Klartext: Lungenkrebs – und 38 000 Menschenmit bergbautypischen Krankheiten anerkannt.All die Maßnahmen zur Sanierung und Renaturierungwurden erst nach 1990 unter Geltung des neuen Berg-rechts möglich. Die freiheitlich-demokratische Markt-wirtschaft hat die ökologischen Verbrechen der sozialis-tischen Planwirtschaft geheilt. Vielleicht bedenken Siedas bei der Linken, wenn Sie mal wieder nach neuenWegen in den Kommunismus suchen.Inhaltlich erwähnt der Antrag wenigstens die wirt-schaftliche Bedeutung der Verfügbarkeit von Rohstoffen,jedoch wird diese Bedeutung im Forderungsteil nichterneut aufgegriffen. Stattdessen unterbreiten Sie Vor-schläge, die entweder längst Realität sind oder denBergbau in Deutschland bis zur praktischen Undurch-führbarkeit einschränken würden. Sie erwähnen nicht,dass ein in Deutschland einheitliches Bergrecht in die-ser Form seit den frühen 80er-Jahren besteht. Das Berg-recht wurde seit seinem Inkrafttreten 1982 ständig anumweltrechtliche Vorgaben, insbesondere denen desEU-Rechts, angepasst. Auch in der ständigen Rechtspre-chung der Gerichte wurden keine Differenzen zwischendem Bergrecht und bestehenden umwelt- oder verfah-rensrechtlichen Regelungen angemahnt.Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck, dieRohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies geschiehtnatürlich unter Abwägung der Interessen Dritter, primärder ansässigen Bevölkerung und der Natur. So ist seit1990 für größere Vorhaben die Durchführung einesPlanfeststellungsverfahrens inklusive Umweltverträg-lichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung obliga-torisch. Speziell für den Braunkohlenbergbau ist nochdas raumordnerische Braunkohlenplanverfahren vorge-sehen, welches mehrere Jahre in Anspruch nimmt undunter Durchführung von Umweltprüfungen, Öffentlich-keitsbeteiligung und auf Basis von zahlreichen Gutach-ten die gesamtheitliche Abwägung der Braunkohlenge-winnung im Tagebau mit allen anderen berührtenBelangen vollzieht. Die Wiedernutzbarmachung derErdoberfläche nach erfolgtem Abbau ist ein weltweiteinmaliger Bestandteil eines Bergrechts. 98 Prozentaller Umsiedlungsfälle werden gütlich geregelt, undGrundabtretungsverfahren werden vermieden. Das gel-tende Bergrecht erfüllt also seinen Zweck: Es schafft be-reits Ausgleich zwischen den Interessen der Menschen,der Natur und der Rohstoffgewinnung. Viele der Forde-rungen sind daher überflüssig.Besonders fragwürdig und wirklichkeitsfremd ist IhreForderung unter Punkt 8. Bergbauprojekte sind kapital-intensive Unternehmungen, die sich oft über Jahrzehnteerstrecken und daher umfassende Rechtssicherheit be-nötigen. Eine ständige Überprüfung erteilter Genehmi-gungen, wie von Ihnen gefordert, steht dem aber entge-gen. Sie würden jede Investitionsentscheidung imBergbau de facto verhindern. Auch verhindern Sie damitRechtssicherheit und Klarheit für die Betroffenen, umdie es Ihnen doch vordergründig geht.Wir benötigen Bergbau zur Gewährleistung der Roh-stoffversorgung und zur Sicherung des Know-hows inDeutschland. Das geltende Bergrecht berücksichtigt da-bei die Interessen anderer Beteiligter.Erneut empfehle ich Ihnen Urlaub in Sachsen. Dortkönnen Sie in der Lausitz beobachten, wie aus altenBraunkohletagebauen touristische Destinationen entste-hen und sich die Natur vom Raubbau der Planwirtschafterholt. Oder fahren Sie ins Erzgebirge und lassen Siesich zeigen, wie die Menschen vor Ort mit Stolz dieTradition des Bergbaus pflegen und die Folgen derDevastierung einer Landschaft wegen eines fehlendenBergrechts fast nicht mehr zu finden sind. Belehrungenvon den Linken sind in dieser Frage weder notwendignoch glaubwürdig.Zu Protokoll gegebene Reden
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Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einer Re-
vision des Bergrechts. Auslöser der Debatte ums Berg-
recht ist die aktuelle Situation beim unkonventionellen
Erdgas. Das geltende Bergrecht verfügt aus unserer
Sicht über Unzulänglichkeiten bei den Regelungen zur
Aufsuchung und Förderung. Daher haben wir einen ent-
sprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag einge-
bracht, der sich mit der Transparenz und der Umwelt-
verträglichkeit von Fördermethoden beim Fracking be-
schäftigt.
Im Antrag der Fraktion Die Linke finden wir für eine
mögliche Weiterentwicklung des deutschen Bergrechts
einige gute Ideen, jedoch sind da auch Mängel.
In Deutschland bildet der industrielle Sektor das
Fundament für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Eine Grundlage für diesen industriellen Kern ist die Ver-
sorgung mit Rohstoffen und Materialien. Deutschland
gehört zu den größten rohstoffverbrauchenden Ländern
weltweit. Die deutsche Wirtschaft ist auf die Nutzung
heimischer Rohstoffe angewiesen, denn sie macht uns
unabhängiger von Rohstoffimporten. Und: Deutschland
ist nicht rohstoffarm. In Deutschland werden jährlich
Tonnen von Sanden, Erden, Tonen oder Kohle abgebaut.
Von den nichtmetallischen Rohstoffen stammen vor al-
lem Kali- und Steinsalz sowie der größte Teil der Steine
und Erden aus heimischer Produktion. Damit decken wir
größtenteils unseren Bedarf. Bei den fossilen Ener-
gierohstoffen importieren wir dagegen circa 98 Prozent
des Erdöls, 87 Prozent des Erdgases und etwa 77 Pro-
zent der Steinkohle. Vor dem Hintergrund des steigenden
Anteils erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung
– Wind, Photovoltaik – und der damit verbundenen hö-
heren Volatilität müssen wir mindestens für eine Über-
gangszeit andere nichtvolatile Stromerzeugungsarten
nutzen, um eine stabile und sichere Stromversorgung zu
garantieren. Dabei kann der Fokus nicht allein auf Gas-
kraftwerke gelegt werden.
Die SPD sieht auch die Konkurrenzen zwischen Roh-
stoffabbau und anderen Nutzungen des Bodens und des
Untergrunds. Jedoch legen wir großen Wert auf eine
echte Güterabwägung im Sinne eines fairen Chancen-
Risiken-Vergleichs.
Ich hatte es schon in der letzten Debatte gesagt: Der
deutsche Bergbau und damit auch das deutsche Berg-
recht verkörpern eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte.
Die enorme Beschäftigungsentwicklung, der Auf-
schwung der Bergbauregionen oder der schnelle Wie-
deraufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wären ohne die
Nutzung der energetischen und nichtenergetischen Roh-
stoffe aus heimischen Lagerstätten nicht möglich gewe-
sen. Wir sehen aber auch, dass manche Teile des histo-
risch gewachsenen Bergrechts trotz mancher Weiterent-
wicklung nicht mehr in eine moderne, aufgeklärte und
an Teilhabe interessierte Gesellschaft zu passen schei-
nen. Eine Überarbeitung muss deshalb angemessene
Regelungen zu Transparenz und frühzeitig beginnender
Bürgerbeteiligung enthalten. In unserer Gesellschaft
spielen heute, im Gegensatz zu der Zeit, aus der das Ur-
sprungsberggesetz stammt, umwelt- und wasserrecht-
liche Aspekte eine wichtige Rolle. Diesen Aspekten muss
Rechnung getragen werden.
Im Antrag der Linken sind konkrete Änderungspunkte
aufgeführt. Bei einer möglichen Weiterentwicklung des
deutschen Bergrechts sollten wir über die Aufteilung der
Bodenschätze in grundeigene und bergfreie diskutieren.
Auch können wir über die Planungs- und Genehmi-
gungsverfahren sprechen. Aber wir sollten uns in der
Diskussion keine Denkblockaden auferlegen.
Der SPD ist wichtig, dass am Ende eines Verfahrens
eine rechtsgültige Entscheidung steht, die den berechtig-
ten Interessen der betroffenen Menschen und der betrof-
fenen Unternehmen gerecht wird. Dies erzeugt Rechtssi-
cherheit und schafft Vertrauen. Wir sehen die Heraus-
forderung darin, eine Beschleunigung der Verfahren mit
einer Verbesserung von Transparenz und Bürgerbeteili-
gung zu verbinden.
Es gibt viel zu besprechen. Und: Wir sollten uns zu
den verschiedenen Aspekten weiteren Sachverstand ein-
holen. Daher werden wir im Wirtschaftsausschuss eine
Anhörung durchführen.
Das Einzige, was Sie können, ist – wie immer – for-dern. Was wir hingegen ständig erreichen, ist – wie im-mer – fördern.Fördern ist besser für alle – auch für unsere Rohstoff-versorgung. Nur so macht es Sinn!Sie verlangen in Ihrem Antrag, ein neues Bergrechtmüsse vor allem auf Konfliktvermeidung setzen. Esmüsse sich bei der Genehmigung von Bergbauvorhabenan den Planfeststellungsverfahren orientieren. Es sollzudem den Erfordernissen der RohstoffversorgungRechnung tragen. Ebenso soll es auch die Interessen derUmwelt und der vom Abbau betroffenen Menschen be-rücksichtigen.Sie fordern, dass die Gewinnung der unter Siedlun-gen liegenden Bodenschätze ausgeschlossen ist – es seidenn, es bestehe mit den Grundstückeigentümern undNutzungsberechtigten sowie den betroffenen KommunenEinvernehmen. Einfach gesagt: Ein einziger Mieter sollIhrer Meinung nach die Arbeitsplätze Hunderter, wennnicht gar Tausender – wie zum Beispiel in der Schwar-zen Pumpe in der Lausitz – behindern, blockieren undletztendlich vernichten können. Dies erklären Sie bitteden Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in der Lau-sitz besser selbst.Außerdem soll auf geförderte Bodenschätze eine För-derabgabe von mindestens 15 Prozent erhoben werden.Na klar! Hier höre ich das alte und leidige Lied der ewi-gen Umverteilung. Zuerst wird ostentativer Neid ge-schürt, dann folgt das Abschöpfen – natürlich aus ver-meintlich sozialen Gründen. Der Umstand allerdings,dass Rohstoffgewinnung mit erheblichen Investitionenund Zeitaufwand zu tun hat, ist Ihnen fremd.Fragen Sie doch mal bei den Bergbauingenieurennach, die gerade im Osten Deutschlands neue Lagerstät-ten erschließen. Die werden Ihnen was erzählen!Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20039
Klaus Breil
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Tatsächlich erfolgt Rohstoffgewinnung in Deutsch-land seit vielen Jahrzehnten sachgerecht und im Ein-klang mit umweltrechtlichen Belangen sowie unter Wah-rung der Interessen der betroffenen Menschen.Den ordnungspolitischen Rahmen hierfür stellt – au-ßerordentlich erfolgreich – das Bundesberggesetz. Esschafft Planungs- und Rechtssicherheit und ermöglichtso letztlich hohe Investitionen zur Verbesserung der Ver-sorgungssicherheit durch Nutzung heimischer Lager-stätten. So sichert das Bundesberggesetz den Erhalt vonWertschöpfungsketten im Inland und setzt wichtige Ak-zente zur Beschäftigungssicherung – insbesondere instrukturschwachen Regionen der Bundesrepublik.Auch das dürfte Ihnen bekannt sein: Wir sind in vie-len Bereichen auf den Import von Rohstoffen angewie-sen, sei es bei der Versorgung der Metall- und Elektroin-dustrie, der Deckung des Bedarfs an Erdöl und Erdgasoder der Entwicklung von Hochtechnologie.Auch kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, die Produktion von leistungs- und zukunftsfähi-gen Windenergieanlagen und Brennstoffzellen nichtohne die Einfuhr spezifischer Rohstoffe aus. Damit sindschon heute erhebliche Teile der deutschen Wirtschaftder Ergiebigkeit globaler Lagerstätten sowie der gesell-schaftlichen und politischen Stabilität in den jeweiligenRegionen ausgesetzt.Zudem haben sich in den letzten Jahren, vor allemdurch das Gebaren Chinas, die Bedingungen an denWeltmärkten für Rohstoffe durchaus verschlechtert. Zu-mindest in Teilen dient die Nutzung heimischer Ressour-cen somit auch der Kompensation globaler Entwicklun-gen. So kann beispielsweise gerade die Braunkohle inZeiten sich weltweit verknappender Energieressourcenund damit verbundener Preissteigerungen stabilisie-rende Effekte hervorrufen.Auch deren Verwendung im Rahmen der stofflichenUmwandlung von chemischen Erzeugnissen, wie Coal toLiquids oder Coal to Gas, ist eine gewisse Bedeutungbeizumessen. Insgesamt steht damit die Nutzung eigenerBodenschätze im öffentlichen Interesse und sollte nichtvernachlässigt werden.Bergbau war und ist immer eine Anpassung an natur-bedingte Verhältnisse der Lagerstätte. Gerade deshalbkommt der frühzeitigen und gründlichen Betrachtungder Auswirkungen durch Inanspruchnahme von Flächeneine besondere Bedeutung zu.Verantwortungsvolle öffentliche Planung führt in derRegel zu einer sukzessiven und parallel verlaufendenWiedernutzbarmachung der beanspruchten Gebiete.Dadurch liegt der zur Rohstoffgewinnung in Anspruchgenommene Flächenanteil in Deutschland seit langemkonstant bei 0,2 Prozent der Landesfläche.Nachweislich ermöglicht diese Vorgehensweise auchdie Chance zur Bereinigung früherer Fehlentwicklungenund die Anwendung neuester Erkenntnisse in Bezug aufLandschaftsgestaltung sowie den Natur- und Arten-schutz. Auf die so in der Bundesrepublik zahlreich ent-standenen Naturschutzflächen, Biotope, Gewässer, Ver-kehrswege und Naherholungsgebiete sei an dieser Stelleverwiesen.Gerade die im Bundesberggesetz enthaltenen Vorgabenhinsichtlich der Durchführung von Umweltverträglich-keitsprüfungen im Zuge des Planfeststellungsverfahrensoder das vorgelagerte raumordnerische Braunkohlen-planverfahren – um nur zwei Punkte aufzugreifen –haben hieran maßgeblichen Anteil. Ergänzend sei hierangemerkt, dass bergbauliche Planungen und Entschei-dungen sich nicht isoliert an Regelungen des Bundes-berggesetzes orientieren. Vor allem die Landes- und Re-gionalplanung ist in hohem Maße gefordert.Das Bundesberggesetz, BBergG, besteht seit 1980. Inseiner mehr als 30-jährigen Historie wurde es mehrfachund umfassend an neue Vorgaben und Erfordernisse,insbesondere aus dem Bereich des Umweltrechts, sowieeuropäische Richtlinien angepasst. Nicht zuletzt hatauch die richterliche Rechtsprechung in dieser Zeit prä-gend auf das Bergrecht eingewirkt. Im Ergebnis weistdas deutsche Bergrecht ein hohes Niveau von Schutz undVorsorge für Umwelt und Betroffene auf, was auch imAusland bereits zu positiven Einschätzungen geführthat.Auch in Zukunft wird sich das deutsche Bergrecht anveränderte Bedingungen anpassen. Wie in der Vergan-genheit werden diese Änderungen sachdienlich und mitAugenmerk erfolgen.Forderungen, die darauf hinauslaufen, Bergbauakti-vitäten unmöglich zu machen oder zumindest stark zuverzögern, lehnen wir jedoch entschieden ab.
Das Bergrecht ist rechtlich etwas für Spezialistinnenund Spezialisten; kaum jemand kennt sich damit wirk-lich aus. Praktisch hat es aber für viele Menschenenorme Folgen. Das gilt insbesondere für die Kohlere-gionen in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Saarland. Denn das Bergrechträumt der Förderung von Bodenschätzen systematischVorrang vor allen anderen Interessen ein, seien es dieder Grundstückseigentümerinnen und Grundstücks-eigentümer, von Mieterinnen und Mietern oder von Um-welt- und Landschaftsschutz.Gerade infolge von Tagebauen verlieren viele Men-schen die ihnen vertraute Heimat und Arbeit. GanzeDörfer werden umgesiedelt, riesige Landstriche werdenlange Zeit zu Wüsten. Aber auch beim Abbau etwa vonSalzen in den Kaliregionen Thüringens und Hessensschafft das Vorrecht des Bergbaus jede Menge Konflikte;denken wir nur an die Versalzung der Werra.Längst überfällig ist darum ein modernes Bergrecht,das zwei Funktionen erfüllen muss: Es muss zum einender Notwendigkeit der Rohstoffgewinnung und den Be-sonderheiten des Bergbaus Rechnung tragen, zum ande-ren aber viel stärker als bisher die Interessen von An-wohnern und Umwelt berücksichtigen.Für eine solche Novelle hat sich unter anderem derFrankfurter Rechtsanwalt Dirk Teßmer stark gemacht.Zu Protokoll gegebene Reden
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Eva Bulling-Schröter
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Seine Thesen lagen in vielen Punkten dem vor wenigenWochen eingebrachten Antrag der Grünen zugrunde. Siesind auch wesentliche Grundlage unseres Antrags. Ge-meinsam ist beiden Anträgen darum die Kernforderung,den automatischen Vorrang des Abbaus von Rohstoffenvor allen anderen Interessen zu beenden. Dafür soll un-ter anderem künftig ein Planfeststellungsverfahren mitUVP anstelle der bisherigen Verfahren treten.Zudem soll das vorgelagerte Bergwerkseigentum ab-geschafft werden. Abbaurechte sollen erst dann an Un-ternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau in einemdemokratischen Verfahren beschlossen wurde, und zwarunter Abwägung aller Interessen und nach einer sorgfäl-tigen Umweltverträglichkeitsprüfung – und keinen Tagvorher.Gemeinsam ist beiden auch die Forderung nach mehrTransparenz sowie nach mehr Beteiligungs- und Klage-möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger sowie fürVerbände und Kommunen. Ferner soll in Haftungs- undEntschädigungsfragen künftig die Position der Anwoh-nerinnen und Anwohner deutlich gestärkt werden.Es gibt aber auch Differenzen zum Grünen-Antrag.Die Linke möchte beispielsweise den Unterschied imBundesberggesetz zwischen sogenannten grundeigenenund bergfreien Bodenschätzen abschaffen. Zu den erstengehören beispielsweise eine Reihe wertvollerer Minera-lien wie Bauxit, Glimmer oder hochwertiger Quarz. Siegehören heute den Grundstückseigentümern. Zu denzweiten gehören Kohle, Gas, Erze oder Salz, die als„herrenlos“ gelten, was man auch als Gemeineigentumbezeichnen kann. Dazu sollen auch sämtliche grundei-genen Bodenschätze, die gegenwärtig außerhalb desBundesberggesetzes behandelt werden – wie minerali-sche Massenrohstoffe, also Kiese, Sande, Naturstein etc. –,dem reformierten Bundesberggesetz unterworfen wer-den. Auch diese gehören gegenwärtig den Grundeigen-tümern.Mit unserer Regelung würden in Deutschland künftigsämtliche Bodenschätze dem Bundesberggesetz unterlie-gen, wobei alle Bodenschätze als bergfrei definiert wür-den. Dies hätte zwei Folgen: Zum einen wären alleBodenschätze Gemeineigentum. Zum anderen würdegleichzeitig der Abbau jeglicher Bodenschätze einemPlanfeststellungsverfahren mit UVP unterworfen. DieGrünen wollen zwar auch den Unterschied zwischenbergfreien und grundeigenen Bodenschätzen abschaf-fen. Ihr Antrag lässt aber leider offen, welche Rechts-grundsätze nun zum Tragen kommen sollen: die fürbergfreie oder die für grundeigene Bodenschätze?Zudem knüpft die Linke im Gegensatz zu den Grünendie Genehmigungsvoraussetzung für einen Abbau unterbesiedeltem Gebiet an streng nachzuweisende Ausnah-metatbestände. Künftig soll also vom Vorhabenträgernachgewiesen werden, dass ein unabweisbarer volks-wirtschaftlicher Bedarf für den Rohstoff besteht. Zudemmuss der Abbau tatsächlich alternativlos sein.Wir finden diese Konstruktion wichtig und überzeu-gend, weil sie beispielsweise verhindern könnte, dassneue Braunkohletagebaue genehmigt werden, die nochweit nach 2040 laufen würden. Denn für diese Zeit kanndavon ausgegangen werden, dass Strom und Wärme fastvollständig regenerativ bereitgestellt werden können.Braunkohle braucht dann kein Mensch mehr, höchstensnoch ein paar wenige flexible Gaskraftwerke.Unser Antrag hat, ähnlich wie der der Grünen, nochzahlreiche weitere Reformvorschläge, die ich hier imEinzelnen nicht darstellen möchte. Dafür haben wir jadie Ausschüsse. In diesem Zusammenhang freuen wiruns auf die Anhörung zu unseren beiden Bergrechtsan-trägen nach Ostern. Denn bei allen Unterschieden istklar: Das stellenweise mittelalterlich anmutende deut-sche Bergrecht gehört überarbeitet – und zwar gründ-lich, umfassend und zügig.
Es ist nicht einmal ganz zwei Monate her, dass wiruns zum letzten Mal hier im Plenum mit dem ThemaBergrecht beschäftigt haben. Damals haben wir überunseren Antrag zu demselben Thema debattiert und ihnin die Ausschüsse überwiesen. Wir freuen uns, dass dieLinke diese Zeit sinnvoll genutzt hat, um unseren Antragzu weiten Teilen abzuschreiben und hier nun als ihren ei-genen Antrag einzubringen. Es wird Sie daher auchnicht verwundern, dass wir als Bündnis 90/Die Grünendem Antrag der Linken grundsätzlich positiv gegenüber-stehen. Ich freue mich, dass die Debatte über eine Ände-rung des Bergrechts offensichtlich endlich in Gangkommt und wir nicht mehr die Einzigen sind, die einegrundlegende Reform des deutschen Bergrechts fordern.Dieses Thema bewegt nicht nur die Menschen in den tra-ditionellen Kohleabbaugebieten Nordrhein-Westfalens,des Saarlandes und der Lausitz, sondern auch die Men-schen an vielen anderen Orten in Deutschland, an denenBodenschätze abgebaut werden. Dies geschieht nämlichan mehr Orten, als man gemeinhin denkt, und das Bun-desberggesetz, kurz das Bergrecht, ist dort immer wiederder Ausgangspunkt für politische und gesellschaftlicheDebatten.Genau wie wir fordern die Linken in ihrem Antrag dieBeweislastumkehr, eine häufigere und stringentere An-wendung der Umweltverträglichkeitsprüfung als Instru-ment zum Schutz von Mensch und Natur in der Pla-nungsphase bergbaulicher Vorhaben, und die Linkefordert auch eine viel stärkere Transparenz und Einbe-ziehung der Bevölkerung in die Genehmigungsprozesse.Diese und viele weitere Punkte sind dringend notwen-dig, um das deutsche Bergwerk an die Rahmenbedin-gungen einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhun-derts anzupassen. Es gibt kaum ein Projekt ohnetiefgreifende Konflikte, für deren Lösung das seit über30 Jahren nicht mehr entscheidend geänderte Bergrechtmit in großen Teilen noch älteren Rechtsgrundsätzen,die ausschließlich auf die Rohstoffgewinnung ausge-richtet sind, eher Hindernis als eine Hilfe ist.Das heißt nicht, dass wir als Bündnis 90/Die Grünenin Deutschland keinen Bergbau mehr haben wollen: InDeutschland gibt es eine lange Bergbautradition. Ohneden Bergbau wäre in den vergangenen Jahrhundertenund Jahrzehnten die wirtschaftliche EntwicklungZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20041
Oliver Krischer
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Deutschlands so nicht möglich gewesen. Auch wenn derBergbau heute nicht mehr so eine große wirtschaftlicheRolle spielt, wird der Abbau von Bodenschätzen auch inZukunft in Deutschland ein wesentlicher Bestandteil derÖkonomie sein und sein müssen. Doch die dafür gel-tende Rechtsgrundlage ist nicht mehr zeitgemäß. Sie istin Teilen regelrecht aus der Zeit gefallen. Moderne Bür-gerbeteiligung, Transparenz, Interessenabwägung sindbeinahe Fremdworte bei der Genehmigung von Berg-bauvorhaben und deren Umsetzung.Um es auf den Punkt zu bringen: Das deutsche Berg-recht ist geprägt von einem starren Über- und Unterord-nungssystem. Das heißt, dem öffentlichen Interesse desBergbaus wird weitgehend Vorrang vor anderen Belan-gen, Interessen und Rechten, insbesondere denen Priva-ter, eingeräumt. Eine gleichwertige Interessenabwägungin der Planungs- und Genehmigungsphase findet fak-tisch nicht statt. Es ist längst überfällig, dass der Gesetz-geber diese Probleme angeht und Abhilfe schafft. DieAnforderungen an das deutsche Bergrecht werden wei-ter zunehmen, je stärker auch heimische Bodenschätzedurch steigende Weltmarktpreise wieder in den Fokusder bergbautreibenden Unternehmen rücken. Darüberhinaus werden immer mehr Anforderungen durch neueTechnologien wie die Nutzung der Geothermie, die För-derung von unkonventionellem Erdgas oder die Errich-tung großer Erdgasspeicher an den Untergrund gestelltwerden. Dafür ist das Gesetz in seiner derzeit gültigenFassung jedoch überhaupt nicht ausgelegt. Nach unse-rer Auffassung steht das deutsche Bergrecht daherzurzeit von mehreren Seiten unter Druck, und eine An-passung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts er-scheint dringend erforderlich.Eines müssen mir die Antragsteller von der Linken imVerlauf der Debatte in den Ausschüssen aber noch er-klären: Während Sie hier die Umsiedlung von Menschenim Rahmen bergbaulicher Vorhaben nahezu komplettverbieten möchten, arbeiten Ihre Parteigenossen inBrandenburg eifrig daran, neue Tagebaue für denBraunkohleabbau zu genehmigen, und haben dabeiauch mit Umsiedlungen offenbar keinerlei Probleme.Diese wären im Falle der geplanten und auch von derLinken geforderten Tagebaue Jänschwalde-Nord undWelzow-Süd nämlich erforderlich und würden ganzeDörfer für immer auslöschen. Knapp 2 000 Leute wärendavon allein in diesen beiden Gebieten betroffen. Auchdie Tatsache, dass das Deutsche Institut für Wirtschafts-forschung, DIW, vor kurzem durch eine Studie nochmalsbelegt hat, dass für den Betrieb der Braunkohlekraft-werke in Brandenburg der Aufschluss neuer Tagebauenicht erforderlich ist, da die vorhandenen Tagebaue aus-reichen, um die Kraftwerke bis zu deren Lebensende zubeliefern, ist offenbar kein Grund für den brandenburgi-schen Wirtschaftsminister der Linken, diese Vorhabenabzusagen. Dieses Vorgehen der Linken in Brandenburglässt aus meiner Sicht leider ernsthaft am tatsächlichenWillen der Linken zweifeln, die Inhalte dieses Antragsauch umzusetzen, wenn es vor Ort darauf ankommt.Da ich im Grundsatz aber viele Übereinstimmungenmit unserem Antrag zum Thema Bergrecht sehe, freueich mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9034 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind offensicht-
lich damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Volker Beck ,
Marieluise Beck , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine engere Kooperation mit Georgien
– Drucksache 17/8778 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt neh-
men wir zu Protokoll. Dies betrifft die Kolleginnen und
Kollegen Manfred Grund, Florian Hahn, Franz Thönnes,
Birgit Homburger, Wolfgang Gehrcke und Viola von
Cramon-Taubadel.
Es ist ja durchaus verdienstvoll, die Aufmerksamkeitdes Hohen Hauses auf Georgien zu lenken. Georgien istein wichtiger Partner für uns. Es ist ein Land von großerstrategischer Bedeutung. Das gilt nicht nur für seine Be-deutung als Transitland für Energielieferungen, sondernauch für seine Lage in einer Region, die nach wie vorvon zwischen- und innerstaatlichen Konflikten geprägtwird wie sonst keine Region im euroatlantischen Raum.Es ist keine Frage: Georgien trägt besonders schweram postsowjetischen Erbe, an den Konflikten, die derZerfall der Sowjetunion hinterlassen hat. Dabei ist esein Land, dessen gerade jüngere politische Entwicklungdurch Ambivalenzen gekennzeichnet blieb. In Georgienhaben sich beeindruckende Reformprozesse vollzogen.Die Fortschritte sind bemerkenswert: beim Zugewinn aninternationaler Wettbewerbsfähigkeit, bei der Bekämp-fung der Korruption, bei der Gewährleistung vonRechtssicherheit. Eine Folge sind ebenso beachtlicheWachstumsraten. Wer weiß, wie lähmend Korruptionund fehlende Rechtssicherheit sich in anderen Ländernauf die Entwicklungs- und Zukunftschancen ganzer Ge-sellschaften auswirken, der kann die Bedeutung dieserFortschritte gar nicht überschätzen.Zugleich aber haben politische Reformen mit derwirtschaftlichen Entwicklung nicht überall Schritt ge-halten. Allerdings scheint mir der vorliegende Antrag inWortwahl und Kritik auch verschiedentlich über das Zielhinauszuschießen. Nicht jede Aussage ist so nachvoll-ziehbar; und man fragt sich gelegentlich, durch welcheQuellen sie gestützt werden.Zugleich war sicher die Außenpolitik Georgiens nichtimmer glücklich. Das wird man sagen können, ohne imDetail die Frage nach den Ursachen und Anlässen des
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20042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Manfred Grund
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Krieges von 2008 zu diskutieren. Das wird man sagendürfen, obgleich einzuräumen ist, dass die Lage Geor-giens eine ungleich schwierigere, eine ungleich unsiche-rere ist als die Lage Deutschlands in Europa und derWelt.Zugleich mag man kritisieren, wie es der vorliegendeAntrag tut, dass pragmatischere Ansätze bei der Bewäl-tigung der Konflikte um Abchasien und Südossetien grö-ßere Fortschritte bei der Annäherung der betroffenenGesellschaften versprechen.Auch darin pflichten wir der Intention des vorliegen-den Antrages bei: Natürlich unterstützen wir eine engereZusammenarbeit. Das zu sagen, ist für Georgien nichtganz so selbstverständlich, wie es für viele in diesemHause klingen mag. Tatsächlich ist bei vielen Menschenin Georgien der Eindruck entstanden, in der deutschenPolitik stünde die Unterstützung für Georgien hinterdem Interesse an den Beziehungen zu Russland zurück.Hier besteht sicher Klärungsbedarf gegenüber dengeorgischen Partnern.Gleichwohl fragt man sich bei dem vorliegenden An-trag: Wo ist der inhaltliche Mehrwert? Es finden sichdarin nicht weniger als 30 Forderungen, doch in vielennichts Neues. Natürlich unterstützen wir eine engere An-bindung Georgiens an die EU. Es liegt auch auf derHand, dass Georgien über das Recht verfügt, einen An-trag auf Mitgliedschaft in der EU zu stellen. Doch wasbedeutet diese Aussage politisch: eine Beitrittsperspek-tive oder nicht? Grundsätzlich meine ich, wir müssenuns von dem Entwicklungspfad der bisherigen Erweite-rungsprozesse lösen. Vielleicht wird künftig keine Bei-trittsperspektive mehr am Beginn eines langjährigenVerhandlungs- und Implementierungsprozesses stehen,sondern der Beitritt dann konkret verhandelt, wenn dieKriterien erfüllt sind.Ähnlich vage wie bei der Frage der EU-Mitglied-schaft bleibt der Antrag in seinen Aussagen zur NATO-Mitgliedschaft. Dass Georgien der NATO beitretenkann, wurde bereits beim Gipfel in Bukarest beschlos-sen. Dass zugleich gefordert wird, ein solcher Beitritts-wunsch solle zurückhaltend behandelt werden, daraufhat man sich ebenfalls bereits damals verständigt. Spä-testens seit dem Georgien-Krieg gibt es in dieser Hin-sicht auch einen breiten Konsens im Bündnis. Nur, wasnutzt es, dies zu wiederholen?Diese Vag- und Halbheiten entsprechen ja an sich nurden Realitäten. Es ist nicht weniger und nicht mehr alseine Situationsbeschreibung. Nur rechtfertigt das ebennoch keinen Antrag. Ebenso verhält es sich mit denmeisten anderen Aussagen sowie den meisten Forderun-gen. Mehr noch: Viele dieser Forderungen sind ja be-reits mittelbar oder unmittelbar Regierungspolitik. Sobeispielsweise in den eben erwähnten Fragen der EU-Annäherung und NATO-Mitgliedschaft. Hier wird vonder Bundesregierung gefordert – und damit implizit alsDesiderat kritisiert –, was tatsächlich bereits getanwird. Dem können wir nicht zustimmen.Darüber hinaus verliert sich jede sinnvolle Stoßrich-tung in der Vielzahl der Forderungen und in ihrer Band-breite; und diese Bandbreite erstreckt sich zudem nichtnur auf spezifisch georgische Fragen, sondern zum Teilauch auf die grundsätzliche Konzeption europäischerund deutscher Politik. So beispielsweise, wenn gefordertwird, im Rahmen des ENPI die Bekämpfung der ländli-chen Armut zu verstärken oder im Rahmen des verhan-delten Freihandelsabkommens stärker soziale und öko-logische Fragen zu prüfen. Wer vollumfänglich alleProbleme zu lösen versucht, löst am Ende keines.Dabei gibt es in dem Antrag durchaus eine Anzahldiskussionswürdiger Punkte, nicht zuletzt im Blick aufden Umgang mit den Konflikten um Abchasien und Süd-ossetien. Hier wäre ein stärker zielgerichteter Antragwohl sinnvoller gewesen. Dabei hätte es auch Sinn ma-chen können, erst einmal den interfraktionellen Dialogzu suchen.
Seit fast genau 20 Jahren bestehen nun diplomatischeBeziehungen zwischen Deutschland und Georgien. Sowar es die Bundesrepublik Deutschland, die damals alserstes europäisches Land die georgische Unabhängig-keit anerkannt hat.Nach wie vor pflegen wir diese enge Bindung. DieZusammenarbeit reicht vom studentischen Austausch bishin zu wirtschaftlicher Kooperation. Allein im letztenJahr ist der bilaterale Handel um 46 Prozent gegenüberdem Vorjahr gewachsen. Darüber hinaus ist Deutsch-land nach den USA zweitwichtigster Geber von Mittelnin der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit Ge-orgien.Georgien strebt eine weitere Annäherung an dieEuropäische Union und an die NATO an. Das ist gut,und wir unterstützen diese Bemühungen nach Kräften.Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft verhandelndie Europäische Union und Georgien seit knapp zweiJahren über ein Assoziierungsabkommen. Gesprächeüber ein Freihandelsabkommen beginnen alsbald.Auch wird sich die Bundesregierung als Fürsprecherhinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens ver-wenden. Das hat Bundesminister Westerwelle auf seinerReise nach Tiflis in der letzten Woche noch einmal be-tont. Deutschland betätigt sich außerdem schon langeals Vermittler im Hinblick auf eine friedliche Konfliktlö-sung für die georgische Republik Abchasien. Schon we-nige Tage nach Beendigung des georgisch-russischenKrieges besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel imAugust 2008 Tiflis.Deutschland gehörte zu den ersten Staaten, die Geor-gien nach Ausbruch des Krieges humanitäre Hilfe leiste-ten. Die Bundesregierung sagte bei der Brüsseler Ge-berkonferenz im Oktober 2008 33,7 Millionen Euro fürhumanitäre Projekte zugunsten der Opfer und Vertriebe-nen und zur Unterstützung des Wiederaufbaus im Landzu. So konnten mit deutscher Unterstützung in Gori naheSüdossetien Häuser gebaut werden.Am 15. September 2008 fasste die EU den Beschluss,eine Beobachtungsmission nach Georgien zu entsenden.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20043
Florian Hahn
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Auch hierbei hat sich Deutschland von Anfang an aktivbeteiligt und sogar den Missionsleiter gestellt.Die Kaukasus-Initiative des Bundesministeriums fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung för-dert die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeitder südkaukasischen Republiken Aserbaidschan, Arme-nien und Georgien. Die Maßnahmen im Rahmen derKaukasus-Initiative sollen sowohl zur wirtschaftlichenund sozialen Entwicklung der Länder im Südkaukasusbeitragen als darüber hinaus auch einen spezifisch deut-schen Beitrag zum Konfliktabbau und zur Krisenpräven-tion in der Region leisten.All diese Initiativen zeigen Wirkung. Deshalb ist dervorliegende Antrag in vielem, was Bundesregierung undEuropäische Union unternehmen, redundant und des-halb abzulehnen.Ich möchte jedoch nicht versäumen, darauf hinzuwei-sen, dass es wichtig ist, die russisch-georgischen Bezie-hungen zu verbessern. Sicherlich ist dies kein einfachesUnterfangen; dennoch lohnt es sich – nein, es ist für alleSeiten absolut notwendig, daran zu arbeiten.Staatspräsident Saakaschwili hat am 23. November2010 in einer Rede vor dem Europäischen Parlamentund in rechtlich verbindlichen Briefen an den VN-Gene-ralsekretär und an internationale Organisationen einenVerzicht auf den Einsatz von Gewalt bei der Wiederher-stellung der territorialen Integrität Georgiens erklärt.Ich sehe dies als zukunftsweisenden Ansatz für eine re-gionale Kooperation.Ferner freue ich mich darüber, dass auf wirtschaftli-chem Gebiet eine Annäherung stattfindet. Die russi-schen Investitionen in Georgien sind von 2 MillionenUS-Dollar im Jahre 2009 auf 5,3 Millionen US-Dollarim ersten Quartal 2010 gestiegen.Der Antrag der Grünen konstatiert zu Recht, dassnach wie vor große Missstände in Georgien im Wahl-recht sowie bei der Durchführung von Wahlen zu ver-zeichnen sind. Fehlende Wählerlisten, Missbrauch ad-ministrativer Ressourcen und Vorteilsnahme durch dieRegierung sind leider noch an der Tagesordnung.Hier fordere ich die georgische Regierung entschie-den auf, ihre Hausaufgaben zu machen! Im Oktober2012 stehen Parlamentswahlen an, die Präsident-schaftswahlen folgen dann im nächsten Jahr. Diese müs-sen nach demokratischem Vorbild gestaltet werden. Diesist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende De-mokratie, und nur so kann es eine weitere Annäherungan die EU geben.
Es gibt keinen Zweifel: Die Situation in und um Geor-gien gibt weiterhin Anlass zur Unzufriedenheit. Das ge-orgische Interesse mit seinem Beitrittsgesuch an dieNATO und der stärkeren Anbindung an die EU wird mitunvermindertem Nachdruck artikuliert, nicht zuletzt voneiner Delegation des georgischen Parlaments, die EndeFebruar dieses Jahres den Deutschen Bundestag be-suchte. Und man setzt dabei insbesondere auf die Unter-stützung Deutschlands.Die Richtung ist klar: Georgien will zum Westen undzu Europa. Georgien will Distanz zu Russland.Ebenso wie die Tatsache, dass Georgien 2008, wie esder spätere Bericht der vom Europäischen Rat einge-setzten, unabhängigen internationalen Untersuchungs-kommission vom 30. September 2009 ausdrückt, denKrieg mit Russland begonnen hat, es seit 2008 zwar ei-nen Sechspunkteplan zum Waffenstillstand mit Russlandgibt, der allerdings bis heute nicht vollständig umgesetztist, so steht natürlich auch die Anerkennung Abchasiensund Südossetiens durch Russland einem stabilen unddauerhaften friedlichen Nebeneinander beider Staatenim Wege. Auch die damalige „unverhältnismäßige Re-aktion“ Russlands, wie es in dem oben genannten Be-richt heißt, ist für Georgien eine nicht zu vergessendegeschichtliche Erfahrung. Während ihres Besuches ha-ben die georgischen Parlamentarier gleichfalls zumAusdruck gebracht, dass durch eine erneute WahlWladimir Putins zum Präsidenten der Russischen Föde-ration die Herausforderungen zum Aufbau des notwen-digen Vertrauens mit Sicherheit nicht geringer werden.Umgekehrt ist aber ebenso klar: Ohne Russland wirdes keine Lösung der bestehenden Problematik geben.Die engen Kooperationsgeflechte sowohl auf der wirt-schaftlichen, kulturellen, sozialen und zivilgesellschaft-lichen Ebene mit der EU ebenso wie die Formen derZusammenarbeit mit der NATO bedingen die Lösungs-findung mit Russland. Sie sind gleichzeitig auch gute Vo-raussetzungen hierfür. Derzeit kann niemand aufgrundder internen politischen Prozesse nach den Wahlen inRussland genau sagen, welche konkrete Ausrichtungkünftig die Politik des neuen Präsidenten und der russi-schen Regierung sowohl innenpolitisch im Umgang mitden neuen Oppositionsbewegungen und den Reformer-fordernissen wie auch außenpolitisch haben wird. Beiletzterem dürfte eher davon ausgegangen werden, dasskaum mit wesentlichen Veränderungen zu rechnen ist.Dennoch muss es dass Ziel sein, daran zu arbeiten, dasssich die Beziehungen zwischen beiden Ländern normali-sieren. Den diesbezüglichen Äußerungen von Bundes-außenminister Guido Westerwelle während seiner Süd-kaukasus-Reise im März 2012 ist hier zuzustimmen.Georgien aber ist vor allem innenpolitisch gefordert.Inzwischen kann durchaus die Vermutung aufkommen,dass die politische Führung unter PräsidentSaakaschwili sich in erster Linie auf die Konsolidierungund Zentralisierung ihrer Macht konzentriert. Parla-ment und Medien sehen sich einer immer stärkeren Kon-trolle ausgesetzt. Die georgische Medienlandschaftvermittelt den Eindruck, nicht wirklich frei und pluralis-tisch zu sein. Die beiden wichtigsten privaten Fernseh-sender Imedi TV und Rustavi 2, die zusammen einenMarktanteil von über 60 Prozent haben, sowie der staat-liche öffentliche Rundfunk gelten als regierungstreu, ge-ben der Opposition wenig Sendezeit und verzichten weit-gehend auf kritische Berichterstattung.Opposition und Kritiker fühlen sich immer stärkervon der Regierung bedrückt. So leidet bereits seit zweiZu Protokoll gegebene Reden
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20044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Franz Thönnes
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Jahren die Gewerkschaftsbewegung im Land unter denVersuchen, sie auszuschalten. Bei der gewaltsamen Auf-lösung von Oppositionsprotesten im Mai 2011 kamenfünf Menschen ums Leben, es gab Hunderte Verhaftun-gen und zahlreiche Fälle von Folter und willkürlicherPolizeigewalt. Ende Dezember 2011 wurden Gesetze zurNeuregelung der Parteien- und NGO-Finanzierung imParlament beschlossen. Der Eindruck, dass hierdurchdie Opposition und die kritische Zivilgesellschaft von fi-nanziellen Zuwendungen abgeschnitten werden sollen,ist weiterhin vorhanden.Nach dem neuen Parteienfinanzierungsgesetz sindZuwendungen von Unternehmen und Organisationen anParteien generell verboten. Parteien können nur nochZuwendungen von Privatpersonen erhalten, jedochnicht mehr als 60 000 GEL – circa 27 000 Euro – proJahr. Mitgliedsbeiträge sind auf 1 200 GEL – circa500 Euro – pro Jahr und Parteimitglied begrenzt. Be-sonders kritisch einzuschätzen ist ein Paragraf, der dasFinanzierungsverbot auf solche Organisationen aus-dehnt, die direkt oder indirekt mit politischen Parteienverbunden sind. Diese Regelung verstärkt die Möglich-keiten, gegen unliebsame NGOs und ihre Unterstützervorzugehen. Internationale Organisationen sind auf-grund dieser Regelung gezwungen, ihre Kooperation mitkritischen NGOs zu überprüfen und möglicherweise ein-zustellen.Anlass für die Neuregelung war der überraschendeEintritt des georgischen Milliardärs Bidzina Ivanishviliin die Politik, der im Dezember 2011 die politische Or-ganisation „Georgian Dream“ gründete. Von Beobach-tern wird er nicht zuletzt aufgrund seiner stabilen öko-nomischen Situation und seinen unterschiedlichengesellschaftlichen Verbindungen als ernstzunehmendepolitische Konkurrenz für die derzeitige Regierung an-gesehen. Inzwischen wurde ihm die georgische Staats-bürgerschaft entzogen und eine Kandidatur für ein poli-tisches Amt damit vorerst unmöglich gemacht.Außerdem wurden eine Untersuchung gegen die ihm ge-hörende Cartu-Bank eingeleitet, Gelder beschlagnahmtund Kunden angehalten, zu anderen Banken zu wech-seln. Durch die erwähnte Neuregelung der Parteien-finanzierung sollte zudem verhindert werden, dass derMilliardär sein Privat- oder Firmenvermögen zurFinanzierung seiner Partei nutzen kann. Bereits vierTage nach Inkrafttreten der neuen Finanzierungsregelnwurde „Georgian Dream“ aufgefordert, ihre Finanzengegenüber einer neu errichteten Kontrollbehörde offen-zulegen. Die autoritären Maßnahmen gegen Ivanishviliund der Versuch, seine Kandidatur unter allen Umstän-den zu verhindern, zeigen, dass die derzeitige Regierungnoch erhebliche Schwierigkeiten mit einem offenen Plu-ralismus und wirkungsvollen demokratischen Strukturenhat. Ein weiterer Ausdruck hierfür dürfte auch die 2012erfolgte Verlegung des Parlaments in das vier Autostun-den von der Hauptstadt Tiflis und damit vom Regie-rungssitz entfernte Kutaisi sein. Ein Parlament im Ab-seits kann keine Regierung wirksam kontrollieren.Angesichts dieser kritischen innenpolitischen Ent-wicklungen, aber ebenso aufgrund der zu Beginn bereitserwähnten außenpolitischen Bedingungen und Konflikt-potenziale ist der Prozess der Annäherung Georgiens andie EU ebenso wie bei der Unterstützung seines NATO-Beitrittsgesuchs mit Augenmaß und höchster politischerSensibilität zu gestalten.Deshalb ist bei einer Debatte wie dieser zu fragen:Welche konkrete Botschaft wollte BundesaußenministerWesterwelle dem georgischen Staatspräsidenten bei sei-nem Besuch im März 2012 anlässlich des 20-jährigenBestehens der diplomatischen Beziehungen zwischenGeorgien und Deutschland übermitteln? Was heißt es,wenn in diesem Zusammenhang der Außenminister er-klärt, er wolle „aktiver Fürsprecher“ bei der Annähe-rung Georgiens an die euroatlantischen Strukturen sein?Was versteht er genau, wenn er Stabilität und Rechts-sicherheit als Voraussetzungen hierfür betrachtet?Wir sehen es mit kritischem Blick, wenn die Bundes-regierung unter Bezug auf die im Oktober 2012 anste-henden Parlamentswahlen und die 2013 stattfindendenWahlen des Präsidenten bereits jetzt große Fortschrittesieht und glaubt, dass Georgien auf diesem Weg weitervoranschreite. Selbstverständlich müssen sich Deutsch-land und die EU weiter für den Aufbau einer starken undlebendigen Demokratie in Georgien einsetzen. Die SPD-Bundestagfraktion wird hierzu ihre Beiträge leisten. Al-lerdings überwiegen derzeit unserer Ansicht nach je-doch mehr die Mängel als die geringen Fortschritte.Deswegen kommen wir auch in Bezug auf die Frage derAnnäherung an die euroatlantischen Strukturen zu einerkritischeren Einschätzung.Wichtig und davon unbenommen ist und bleibt dieweitere Einbindung Georgiens in die Politik der Östli-chen Partnerschaft. Diese Form der europäischenNachbarschaftspolitik bringt Georgien näher an die EU,sowohl auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene.Hier geht es um die Bereiche Demokratie und gute Re-gierungsführung, Wirtschaft, Energie und den direktenKontakt zwischen den Menschen. Dort ist noch ein er-heblicher Spielraum für Fortschritte, insbesondere inenger Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichenVertretern vor Ort, durch den Austausch von Know-howund gegenseitigen Erfahrungen.Auch die Europäische Union erkennt zwar die Bestre-bungen Georgiens zur Annäherung an die EU und seineSelbstverpflichtung, eine stabile Demokratie aufzu-bauen, ebenso wie seine Fortschritte bei der Moderni-sierung von Staat und Gesellschaft an. Sie fordert aberunter Bezugnahme auf die anstehenden Parlaments- undPräsidentschaftswahlen von Georgien, dass diese nachinternational anerkannten demokratischen Standardserfolgen müssen. Diese Entwicklung müsse man in Ge-orgien bis zu den Wahlen sehr genau beobachten. Unab-dingbar sei die Stärkung der demokratischen Strukturenwie Pluralismus, Versammlungsfreiheit, Meinungsfrei-heit und gleicher Zugang zu Medien sowie eine unab-hängige Justiz.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wirheute in erster Lesung behandeln, ist ein umfassenderForderungskatalog, in dem viele Themen und Bereicheder engeren Kooperation mit Georgien engagiert aufge-griffen werden. Inwieweit die Bundesregierung auf dieseZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20045
Franz Thönnes
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Forderungen in den Ausschussverhandlungen eingehenwird, bleibt offen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dieBeratungen entsprechend der ausgeführten Sichtweisekonstruktiv-kritisch begleiten.
Deutschland und Georgien feiern in diesem Jahr
20 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen ihren
Ländern. In dieser Zeit gab es eine stetige Intensivie-
rung der Zusammenarbeit und Annäherung Georgiens
an die Europäische Union und die NATO. Die FDP hat
diesen Kurs stets ausdrücklich unterstützt. Wie wichtig
dieser Bundesregierung die Beziehungen zu Georgien
sind, hat der Bundesaußenminister mit seiner Reise in
den Kaukasus Mitte März noch einmal unterstrichen.
Vor allem hat Georgien stets ein großes Interesse an
einer Mitgliedschaft in der NATO erkennen lassen. Die
NATO hat im September 2008 in Bukarest beschlossen,
dass Georgien ein NATO-Beitritt in Aussicht gestellt
wird.
Georgiens Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit in
Afghanistan und sein vielfältiges Engagement in der
europäischen und transatlantischen Staatengemein-
schaft kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.
Auch die Bundesregierung will auf dem Chicagoer Gip-
fel im Mai dieses Jahres dieses beachtliche Engagement
Georgiens würdigen.
Ein zentraler Punkt bleiben die regionalen Konflikte.
Leider sind nach wie vor keine großen Fortschritte in
Abchasien und Südossetien gemacht worden, trotz inten-
siven Engagements der Europäischen Union im Rahmen
der Beobachtermission EUMM und der Östlichen Part-
nerschaft. Die Region bleibt gespalten, trotz vielfältiger
Bemühungen und Kontakte zur Konfliktlösung.
Es werden bereits heute wesentliche Anstrengungen
gemeinsam unternommen, um die Situation zu verbes-
sern. Deutschland ist beispielsweise als größter Bei-
tragszahler der EU an dem Programm Confidence Buil-
ding Early Response Mechanism, COBERM, das von
der Europäischen Kommission durchgeführt wird, betei-
ligt. Es wurde dadurch unter anderem ein Verbindungs-
mechanismus zwischen den De-facto-Behörden in Ab-
chasien und der Regierung in Tiflis eingerichtet.
Insofern sind die nötigen Anstrengungen bereits in vol-
lem Gange und müssen nicht etwa von den Grünen in ei-
nem Antrag angemahnt werden.
Die völkerrechtliche Anerkennung Abchasiens und
Südossetiens durch Russland ist und bleibt unzulässig.
Völkerrechtlich sind beide Gebiete eindeutig georgi-
sches Staatsgebiet. Die territoriale Integrität Georgiens
ist – aus meiner Sicht – auch weiterhin ein zentraler
Punkt, der nicht verhandelbar ist.
Immerhin gibt es seit Ende letzten Jahres wenigstens
eine gewisse Bewegung. Georgien hat Ende letzten Jah-
res dem Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation
zugestimmt und somit seine Bereitschaft zur Koopera-
tion demonstriert. Das Angebot der Wiederaufnahme di-
plomatischer Beziehungen von Russland an Georgien
vor wenigen Wochen ist nun ein Schritt Russlands hin
zum Abbau der Spannungen.
Gleichwohl bleibt nach wie vor die vollständige Ein-
haltung der Waffenstillstandsvereinbarungen vom Au-
gust 2008 und des Implementierungsabkommens vom
September 2008 offen. Hierzu zählt der Rückzug der rus-
sischen Truppen auf die vor Ausbruch der Feindseligkei-
ten im August 2008 eingenommenen Positionen. Hier
gilt es auch weiter in Gesprächen auf Russland einzu-
wirken, seinen Verpflichtungen vollständig nachzukom-
men.
Wichtig bleibt weiterhin die Forderung nach freiem
Personenverkehr zwischen den Sezessionsgebieten und
Georgien. Auch hier muss sich Russland bewegen.
Wir werden auch weiterhin die Beziehungen zu Geor-
gien stärken und das Land bei den Reformen und in sei-
ner weiteren Entwicklung unterstützen. Dies haben wir
unter anderem durch eine Vereinbarung und Erleichte-
rungen im Visaverfahren getan. Die Schaffung von Visa-
freiheit zwischen Georgien und der Europäischen Union
bleibt weiter unser Ziel.
Der von den Grünen vorgelegte Antrag ist ein erneu-
ter Anlass zur Beschäftigung mit der Region, der jedoch
nicht nötig gewesen wäre. Denn die Region steht für uns
ohnehin im Fokus deutscher Außenpolitik.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen, dass sich dieBundesregierung für eine engere Kooperation mit Geor-gien einsetzen soll, dies vor allem auch über die EU.Eine gute Kooperation mit Georgien und anderen Län-dern der Kaukasus-Region ist sinnvoll und nötig. NeueAufrüstung, Abbau demokratischer Rechte, die Gefahrbewaffneter Konflikte muss ausgeschlossen werden. DerAntrag von Bündnis 90/Die Grünen zu Georgien be-inhaltet viel Kritisches zur Lage in Georgien und zurdeutschen Kaukasus-Politik. Das ist vernünftig und un-terstützenswert. Glaubwürdiger allerdings wäre es,wenn sich die richtige Kritik nicht nur auf die schwarz-gelbe Regierungszeit beschränken würde, sondern dieRegierungszeit Schröder/Fischer mit einbezöge.Der Kaukasus-Raum war geschichtlich und ist aktuellin hohem Maße umkämpft. Immer ging es in dieserRegion um den Zugriff auf Naturressourcen, die inGeorgien selbst weniger, aber in der Region in großemUmfang vorhanden sind. Georgien ist wichtig alsTransitland auch für die Energieversorgung, als politi-sches und kulturelles Zentrum, als eine der Mächte, diein dieser Region um Hegemonie kämpfen. Diese Zusam-menhänge auszublenden, wie es zum Teil im Antraggeschieht, hieße, eine falsche Politik fortzusetzen. EinBlick in den Antrag „Keine NATO-Erweiterung – Sicher-heit und Stabilität mit und nicht gegen Russland“ derLinken vom 3. Dezember 2008
könnte für den Erkenntnisfortschritt sinnvoll sein.Der Antrag der Grünen enthält leider keinen fri-schen, neuen Gedanken. Er stellt zu Recht fest, dass Ge-orgien den Krieg gegen Russland begonnen hat. Das istmutig, aber nicht ganz neu. Er blendet aber die AnalyseZu Protokoll gegebene Reden
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20046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Wolfgang Gehrcke
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aus, was die georgische Politik zu diesem irrationalenSchritt ermuntert hat. Ist es nicht so, dass die USA in derBush-Regierungszeit und bis heute Georgien aufgerüstethat? Ist es nicht so, dass allein das Versprechen, Mit-glied der NATO werden zu können, zum georgischenAbenteuer ermuntert hat? Gehört es nicht zu einer ver-nünftigen Politik, festzuhalten, dass die Ausweitung derNATO in den südlichen Raum der ehemaligen Sowjet-union alle Einkreisungsängste in Moskau bestärkenmuss? Der NATO-Mitgliedschaft Georgiens ist eineprinzipielle Absage zu erteilen, weil sie das strategischeGleichgewicht im euro-asiatischen Raum extrem verän-dern würde. Eine solche Festlegung vermeidet der grüneAntrag. In der NATO-Frage agieren die Grünen, speziellauch mit diesem Antrag, nach dem Motto: Wasch mirden Pelz, aber mach mich nicht nass.Keine ganz neue, jedoch eine hochentscheidendeFrage wäre das Verbot aller Waffenexporte in den kau-kasischen Raum. Die Linke ist für ein prinzipielles Ver-bot von Waffenexporten. Eine solche Haltung wollen wirden Grünen ja gar nicht abnötigen und erwarten sieauch nicht von ihnen. Aber eine Festlegung, an die Kon-fliktländer Georgien, Aserbaidschan und Armenien wer-den keine Waffen exportiert, unabhängig davon, ob daszur Zeit praktisch geschieht oder nicht, ist trotzdem not-wendig. Als Mitglied der NATO trägt Deutschland nichtnur für das eigene Verhalten, sondern für die Gesamtheitder NATO-Politik Verantwortung.Zu einer neuen Politik im Kaukasus-Raum würdeauch gehören, Grundlagen für eine Konferenz fürSicherheit und Zusammenarbeit zu schaffen. Die Staa-tengebilde Abchasien und Südossetien sind von derMehrheit der Staaten nicht anerkannt, und sie sind,genau wie der Kosovo, völkerrechtswidrig zustande ge-kommen. Nichtsdestotrotz sind sie eine Realität. Wie sollalso damit umgegangen werden? Wie soll sich künftigdas Verhältnis Georgien – Russland entwickeln? Wärenicht auch hier der Rückgriff auf eine Konzeption „Wan-del durch Annäherung“ angesagt? Erste Schritte sindgegangen worden. Der Antrag spricht sich in diese Rich-tung aus. Wäre, das intensiver zu befördern, nicht Auf-gabe eines solchen Antrages? Georgien hat über 1 000Soldaten in der ISAF-Mission in Afghanistan und plant,2012 weitere Soldaten zu entsenden. Bis zum 1. Septem-ber 2011 sind in Afghanistan zehn georgische Soldatenzu Tode gekommen. Dazu schweigt der grüne Antrag.Das wundert mich nicht. Wäre es nicht ein solidarischerRat an die georgische Politik, die georgischen Soldatenaus Afghanistan abzuziehen? Einen Antrag zu formulie-ren, der solche Fragen nicht ausspart, sondern sie the-matisiert, wäre ein interessanter Beitrag zur deutschenAußenpolitik.Der grüne Antrag konzentriert sich auf die Europäi-sche Union. Aber diese wird so zeitlos geschildert wieein blauer Faltenrock. Haben wir es nicht mit einer Eu-ropäischen Union in einer tiefen Krise zu tun? Und darfman der Frage, wie kooperationsfähig die EU derzeitist, völlig ausweichen?Nun hat der Westen, hat die EU und hat die deutschePolitik ja in der Vergangenheit nicht wenig Einfluss aufdie Entwicklung Georgiens genommen. Die sogenannteRosenrevolution wurde vom Westen massiv unterstützt.Dieser bisherige Einfluss des Westens hat jene Ergeb-nisse gezeitigt, die Sie zutreffend kritisch benennen. Siemüssen feststellen, dass die Bilanz der demokratischenEntwicklung gemischt ist. Die Bekämpfung der Korrup-tion, die Polizeireform, die Reform der Steuergesetzge-bung und die Verbesserung der Investitionsbedingungendurch Privatisierung und Marktliberalisierung haben inden letzten Jahren Fortschritte erzielt. Aber es bestehenMissstände beim Wahlrecht und in der Durchführungvon Wahlen, das Justizwesen ist nicht demokratisch undunabhängig, es gibt autoritäre Tendenzen, die Wirkungs-möglichkeiten der Opposition, der Medien und der Zivil-gesellschaft sind eingeschränkt. Anders ausgedrückt:Das, was die europäischen multinationalen Konzerne,die Energieriesen interessiert, das funktioniert. Wasnicht funktioniert, ist die Demokratie für die Menschenin Georgien. Und die Bevölkerung verarmt. Entwicklunggibt es für das Kapital; die Menschen haben keinen Ein-fluss auf ihre Zukunft.Die Linke steht für Schutz der Souveränität der Staa-ten, für das Recht auf eigenständige Entwicklung undNichteinmischung. Im Interesse einer friedlichen Ent-wicklung der Region und Georgiens unterstützen wir dieBemühungen um eine ständige Konferenz für Sicherheitund Zusammenarbeit im Kaukasus. Wir sind der Mei-nung, dass der Kaukasus nicht in erster Linie für unsereEnergiesicherheit zuständig ist, sondern dass wir – un-ter strikter Beachtung der Gleichberechtigung undNichteinmischung – mithelfen müssen, den kaukasischenGesellschaften eine unabhängige Entwicklung in Si-cherheit zu ermöglichen.Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi habenfür Russland einen hohen ökonomischen und emotiona-len Stellenwert. Ich gebe zu, dass ich kein Freund derwachsenden Kommerzialisierung von Sportereignissenund des damit verbundenen Kampfes um nationalesPrestige bin; im Gegenteil. Aber den Anlass der Olympi-schen Winterspiele in der Region ernst zu nehmen undVorschläge zu unterbreiten, dass nicht nur ein olympi-scher Friede gewahrt wird, sondern um die Olympi-schen Spiele in Sotschi herum hinsichtlich des Friedensver- und gehandelt wird, dass vertrauensbildende Maß-nahmen stattfinden, daraus muss mehr als ein Appell andie russische und georgische Politik werden.Der vorliegende Antrag der Grünen spricht en détailviele wichtige Fragen an, die auch die Linke stellt,drückt sich aber um wichtige politische Probleme undstrategische Ausrichtungen. Darüber werden wir mitden Antragstellern und allen Fraktionen streiten.
Mit großem Interesse haben wir die Reise von Bun-desaußenminister Westerwelle in der vergangenen Wo-che in den Südkaukasus verfolgt. Wir freuen uns, dass erbei seinen Gesprächen in Tiflis für eine verstärkte regio-nale Kooperation geworben hat. Das war ganz in unse-rem Sinne.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20047
Viola von Cramon-Taubadel
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Deutschland und die EU müssen sich weiter für denAufbau „einer starken und lebendigen Demokratie inGeorgien“ einsetzen. In einer Rede an der NationalenUniversität von Tiflis hat der Minister die Vision eines„paneuropäischen Raumes der Freiheit, Sicherheit,Rechtsstaatlichkeit und des Wohlstands“ skizziert. Neh-men wir den Anspruch des Bundesaußenministers beimWort!Wer jedoch eine solche Vision in den Raum stellt,sollte vorher die Kriegswunden von 2008 heilen. Mit derAnerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien undSüdossetien sowie der Nichtumsetzung des vereinbartenAbzugs der russischen Armee aus den Sezessionsgebie-ten erscheinen die Hürden für eine Annäherung an Russ-land derzeit noch unendlich hoch.Der zivilen EU-Beobachtungsmission EUMM – imMoment die einzige internationale Präsenz zur Überwa-chung und Mediation des Konflikts – wird dazu von denDe-facto-Regierungen der Zugang verweigert. Die Gen-fer Gespräche bringen keine Fortschritte und laufensich regelmäßig fest.Mit diesem Antrag möchten wir einen Beitrag leisten,um die starren Fronten aufzuweichen: Alle beteiligtenSeiten müssen sich aufeinander zu bewegen. Hilfreichsind aus unserer Sicht Projekte, die unterhalb dertatsächlichen Statusfrage ansetzen. Wir wollen dieMenschen in den Regionen zueinander bringen und ver-trauensbildende Maßnahmen intensivieren – mit denvorhandenen Mitteln der Außen- und Auswärtigen Kul-turpolitik.Gleichzeitig müssen die Menschen im Südkaukasusauch spüren, dass sie im Kerneuropa willkommen sind.Dafür müssen wir ihnen deutlich mehr anbieten als bis-her.Erst wenn die Menschen aus Georgien ohne großeHürden nach Europa kommen können, können sie vonden Erfahrungen der parlamentarischen Demokratie di-rekt lernen.Daher werten wir die im Rahmen der EU-Mobilitäts-partnerschaft am 1. März 2011 in Kraft getretene Visali-beralisierung für ausgewählte Personenkreise als erstenSchritt, sehen diesen jedoch kaum als hinreichend an:Wenn sich die Georgierinnen und Georgier nicht ent-täuscht von der EU abwenden sollen, muss deutlichmehr passieren als die Halbierung der Visakosten undder erleichterte Zugang für kleine Kreise der Bevölke-rung. Wir möchten eine zeitnahe Umsetzung der Visa-freiheit für alle Georgierinnen und Georgier.Innenpolitisch hat Georgien bei der Bekämpfung derKorruption einige Erfolge erzielt. Darauf sollte aufge-baut werden. Mittlerweile scheint allerdings die Reform-bereitschaft eher erlahmt zu sein. Die RegierungSaakaschwili klammert sich an ihre Macht. Mit repressi-ven Methoden baut sie stärker auf Machterhalt als aufinhaltliche Überzeugung der eigenen Bevölkerung. DerDruck auf die politische Opposition nimmt zu.Internationale Nichtregierungsorganisationen wieAmnesty International berichten von einer verstärktenKontrolle der Oppositionspolitiker und parteiloser Un-terstützerinnen und Unterstützer. Sie werden vom Rech-nungshof befragt. Allerdings dienen diese Befragungenweniger der Aufklärung steuerrechtlicher Vergehen,sondern sind vielmehr Teil einer politischen Einschüch-terungsstrategie. Die Opposition hat verstanden, ihreKräfte zu bündeln und sich mit einem alternativen Pro-gramm zu präsentieren. Das macht sie erstmals für denamtierenden Präsidenten gefährlich.Die Parlamentswahlen in diesem Jahr sind ein echterLackmustest. Sie werden Aufschluss darüber geben, wel-che Schritte Georgien auf dem Weg zur Demokratie be-reits gegangen ist und welche noch zu gehen sind.Beispielhaft dafür steht die Reform des Wahlrechts:Vieles von dem, was die Venedig-Kommission bemängelthatte, konnte aufgegriffen und umgesetzt werden. Nunmuss man sehen, wie sich das Beschwerde- und Anfech-tungsverfahren, die neu zugeschnittenen Wahlbezirkeoder auch das System der Wahlkampfberichterstattungbei den ersten Wahlen bewähren.In den zurückliegenden Wahlen gab es zahlreiche Be-schwerden seitens der Oppositionsparteien über denMissbrauch administrativer Mittel und Ressourcendurch die Regierungspartei. Aber erst mit einer ord-nungsgemäß abgelaufenen Wahl zeigt sich, ob ein Landwirklich den Weg in die Richtung einer Demokratie be-schritten hat. Erst wenn tatsächlich gleiche Bedingun-gen für alle Kandidatinnen und Kandidaten herrschen,wenn es adäquaten Medienzugang für die Oppositionlandesweit gibt, dann wird auch in Georgien davon ge-sprochen werden können, dass es sich um freie und faireWahlen handelt.Darüber hinaus ist das Justizwesen immer noch Aus-gangspunkt für Kritik. Bislang werden die Richter aufzehn Jahre gewählt. Angekündigt wurde hier nun eineReform bzw. eine Verfassungsänderung für die Zeit nachden Präsidentschaftswahlen von 2013, die die Ernen-nung von sämtlichen Richtern auf Lebenszeit vorsieht.Mit einer solchen Reform ließe sich die Unabhängigkeitder Justiz sicherlich verbessern.Allerdings ist die Quote der Freisprüche mit 0,2 Pro-zent im internationalen Vergleich immer noch unfassbarniedrig. Von einer unabhängigen Justiz kann kaum ge-sprochen werden, wenn bei den Urteilen fast ausnahms-los den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprochenwird.Ähnlich wird die Lage von den Vertretern der jungenRechtsanwälte Georgiens eingeschätzt, die die Urteilegegen Oppositionelle und Aktivisten nach den regie-rungskritischen Demonstrationen 2009 analysiert hat-ten. Offenbar wurden sie nach einem einheitlichenMuster verurteilt: Als Zeugen waren ausschließlichPolizisten geladen, Prozesse wurden auffallend schnellabgewickelt, und das Urteil in der zweiten Instanz wichin keinem der Fälle von dem der ersten ab. Auch an die-ser Stelle trat eine gewisse Ernüchterung über die Unab-hängigkeit des Justizsystems ein.Damit bleibt die von Bundesminister Westerwelleskizzierte Vision eines „paneuropäischen Raumes derZu Protokoll gegebene Reden
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20048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Viola von Cramon-Taubadel
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Freiheit, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und des Wohl-stands“ vorerst viel Wunschdenken, aber umso mehrwird eine intensivere Zusammenarbeit mit Georgien be-nötigt, die das Land auch tatsächlich zu weiteren Refor-men stimuliert.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8778 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth , Dr. Sascha Raabe, Lothar
Binding , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Behinderung und Entwicklungszusammenar-
beit – Behindertenrechtskonvention umsetzen
und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv
gestalten
– Drucksache 17/8926 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Dies betrifft
Klaus Riegert, Karin Roth, Helga Daub, Dr. Ilja Seifert
und Uwe Kekeritz.
Die UN-Behindertenrechtskonvention will sicherstel-len, dass Menschen mit Behinderungen den gleichenmenschenrechtlichen Schutz erhalten wie Menschenohne Behinderungen. Sie schafft somit keine Sonder-rechte, sondern konkretisiert die universellen Men-schenrechte für die Bedürfnisse und Lebenslagen behin-derter Menschen. Im Zentrum steht das Recht aufGleichbehandlung, Teilhabe und Selbstbestimmung.Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonven-tion und das Zusatzprotokoll als einer der ersten Staatenam 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Februar2009 ratifiziert. Seit Ablauf der 30-Tage-Frist am26. März 2009 sind die UN-Behindertenrechtskonven-tion und das Zusatzprotokoll für Deutschland verbind-lich.Die Einhaltung der Menschenrechte hat für die Ko-alitionsfraktionen und die Bundesregierung einen äu-ßerst hohen Stellenwert. Im Menschenrechtskonzept hatdas Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung die Menschenrechtsorientierungder Entwicklungszusammenarbeit zur verbindlichenVorgabe gemacht. Die Strategie des BMZ beruht auf derFörderung sowohl spezifischer Menschenrechtsvorha-ben als auch der Querschnittsverankerung des Men-schenrechtsansatzes in allen Sektoren und Schwerpunk-ten der EZ.Der Weltbehindertenbericht belegt: Die meisten Men-schen mit Behinderungen haben schlechtere Chancenauf Gesundheitsversorgung, Schul- und Berufsbildungund wirtschaftliche Teilhabe. Sie werden in den Entwick-lungsländern häufig diskriminiert und ausgegrenzt.Viele der weltweit über 1 Milliarde Menschen, die eineBehinderung haben, leben in Armut. In Entwicklungs-ländern hat unter den ärmsten 20 Prozent der Bevölke-rung jeder Fünfte eine Behinderung. Ihre Behinderungist nicht nur auf ihre körperlichen, sensorischen odergeistigen Beeinträchtigungen zurückzuführen, sondernauf ein Umfeld, das ihnen die gesellschaftliche Teilhabeverwehrt.Menschen mit Behinderungen werden weder in derMillenniumserklärung noch in den Millenniumsentwick-lungszielen – MDG – ausdrücklich erwähnt. Deshalb istes notwendig und richtig, die Einhaltung der Menschen-rechte von Menschen mit Behinderungen in der Entwick-lungszusammenarbeit zu thematisieren. Wenn wir Men-schen mit Behinderungen nicht in unsere Arbeit miteinbeziehen, werden wir die Millenniumsentwicklungs-ziele nicht erreichen.Eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit fördertGleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Be-hinderung. Wir betrachten sie als aktive Partner bei derUmsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nurProgramme für Menschen mit Behinderungen. Wir stre-ben an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Menschenmit Behinderungen zugänglich sein müssen.Die Aufforderung im SPD-Antrag, den „twintrack“-Ansatz weiter auszubauen und messbar zu ma-chen, diesen Ansatz haben wir längst verinnerlicht. Un-sere Botschaft lautet: Entwicklung inklusiv gestalten!Unser Menschenrechtskonzept sieht vor, dass dieDurchführungsorganisationen in Zukunft Vorhaben aufmenschenrechtliche Auswirkungen und Risiken prüfenmüssen. Weiter verbessern wir menschenrechtliches Mo-nitoring und Evaluierungen.Das BMZ unterstützt in vielen Partnerländern dieTeilhabe von Menschen mit Behinderungen in Entwick-lungsprojekten.In Sierra Leone und Äthiopien werden beispielsweiseMenschen mit Behinderungen in Beschäftigungsförde-rungsmaßnahmen einbezogen.In Vietnam, Indonesien und Kambodscha berät diedeutsche Entwicklungszusammenarbeit nationale Regie-rungen, wie der Zugang von Menschen mit Behinderun-gen zu Gesundheitsdienstleistungen und sozialen Siche-rungsprogrammen verbessert werden kann.In Chile hat die deutsche Entwicklungszusammenar-beit die Behörden dabei unterstützt, das nationale Sys-tem zur Früherziehung inklusiv für Kinder mit Behinde-rungen zu gestalten. Durch das Projekt wurden über2 200 behinderte Kinder im ganzen Land in Regelkin-dergärten aufgenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20049
Klaus Riegert
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Nach dem Erdbeben in Haiti hat die deutsche Ent-wicklungszusammenarbeit für Tausende Familien Über-gangsunterkünfte gebaut. Dabei wurde besonders aufdie Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ge-achtet.Wir haben uns im Dezember bei unserem Haiti-Dele-gationsbesuch ein Projekt der Christophel Blindenmis-sion, CBM, angesehen. Da wird schon einiges geleistet.Aber, es war auch zu sehen, dass es noch eine Menge zutun gibt. Darüber hinaus konnten im Rahmen von öffent-lichen Beschäftigungsprogrammen auch Menschen mitBehinderungen ein zusätzliches Einkommen verdienen.In allen deutschen Maßnahmen des Wiederaufbaus inHaiti werden die Rechte von Menschen mit Behinderun-gen berücksichtigt.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit arbeiteteng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusam-men. Eine besondere Rolle kommt dabei der Förderungvon Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mitBehinderungen zu.In Tansania, Kambodscha und Vietnam hat das BMZdie Einbeziehung von Behindertenverbänden in natio-nale Armutsreduzierungsprozesse unterstützt.In Haiti werden Organisationen behinderter Men-schen mit Trainings und Workshops zu einer besserenpolitischen Teilhabe befähigt.In Bangladesch werden solche Gruppen bei der Er-stellung lokaler Aktionspläne zur Umsetzung der Behin-dertenrechtskonvention beteiligt.Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ 188 spezifische Pro-jekte mit einem Gesamtvolumen von knapp 54 MillionenEuro gefördert.Neben spezifischen Projekten wird das Thema Inklu-sion zunehmend in bilateralen Vorhaben querschnitts-mäßig berücksichtigt. Für die querschnittsmäßige Ver-ankerung bei der Beauftragung von Programmen gibt esnoch kein systematisches Monitoring. Die bestehendeInformationsgrundlage ist daher begrenzt. Möglichkei-ten zur besseren Datenerfassung werden zurzeit unter-sucht.Das BMZ fördert derzeit mindestens 14 inklusiv ge-staltete Entwicklungsmaßnahmen in Afghanistan, Bang-ladesch, Chile, Haiti, Indonesien, Indien, Sierra Leone,Tansania und Usbekistan.In Folge der Ratifikation der Konvention hat die Bun-desregierung am 15. Juni 2011 den „Nationalen Ak-tionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung derUN-Behindertenrechtskonvention “ beschlossen.Mit dem Aktionsplan regen wir einen Prozess an, der inden kommenden zehn Jahren nicht nur das Leben derrund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderungen inDeutschland maßgeblich beeinflussen wird. Der Natio-nale Aktionsplan der Bundesregierung, NAP, enthält imAnhang mehrere Maßnahmen auf die sich das BMZ ver-pflichtet hat. So ist die Entwicklung einer BMZ-Strategiezur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in derEntwicklungszusammenarbeit angekündigt.Deutschland gehört zu den ersten europäischen Län-dern, die sich einen eigenen Aktionsplan zur Stärkungder Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rah-men der Entwicklungspolitik geben. Die BMZ-Strategiesoll das Format eines Aktionsplans haben. Unsere Par-lamentarische Staatssekretärin im Bundesministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,Gudrun Kopp, hat am 2. Februar 2012 im Rahmen des3. Runden Tisches zur Inklusion von Menschen mit Be-hinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit dieEckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt und diese mitVertretern der Zivilgesellschaft, Vertretungsorganisatio-nen von behinderten Menschen und anderen wichtigenStakeholdern diskutiert.Nächste konkrete Schritte bei der Entwicklung desAktionsplans sind die Entwicklung konkreter Maßnah-men, ein erster Gesamtentwurf sowie eine Expertenan-hörung. Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abge-schlossen sein und dann in die Umsetzung gehen.Auch im weiteren Erstellungsprozess ermöglichenwir der Zivilgesellschaft ein hohes Maß an Beteiligung.Die VENRO AG Behinderung und Entwicklung ist dasprominenteste Gremium in der Zivilgesellschaft, dassich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungenin der Entwicklungszusammenarbeit befasst. Die Ar-beitskontakte sind gut und konstruktiv.Meine Damen und Herren Sozialdemokraten: Siemüssen uns nicht auffordern, die Zivilgesellschaft an derErarbeitung der BMZ-Strategie zu beteiligen. Wir tundies bereits! Dieses gemeinsame Engagement werdenwir mit einem eigenen Antrag würdigen und unterstüt-zen!
Weltweit leben 1 Milliarde Menschen mit einer Behin-derung. Das sind rund 15 Prozent der Weltbevölkerungund weit mehr Menschen, als man bisher annahm. Etwa80 Prozent der Menschen mit Behinderungen weltweitleben in den Entwicklungsländern. Menschen mit Behin-derungen haben einen erschwerten Zugang zu medizini-schen Dienstleistungen und Arbeit, sie sind aus vielenLebensbereichen ausgeschlossen und erfahren gravie-rende Menschenrechtsverletzungen. Dennoch wurdenMenschen mit Behinderungen nicht in den Millenniums-entwicklungszielen erwähnt. Dies muss sich ändern.In einer Broschüre des Vereins „Behinderung undEntwicklungszusammenarbeit“ wird ein Afrikaner mitBehinderung wie folgt zitiert: „In den reichen Ländernkämpfen Menschen mit Behinderung für ein selbstbe-stimmtes Leben und für bessere Unterstützung. In denarmen Ländern kämpfen die Menschen um Nahrung undWohnung.“ Das bringt es auf den Punkt. Noch etwas zu-gespitzter kann man sagen: Die Menschen mit Behinde-rung kämpfen ums blanke Überleben, und ihre Chancensind noch schlechter als die der Menschen, die nicht zu-sätzlich eine Behinderung haben.Im Jahr 2000 hat sich die Weltgemeinschaft auf diesogenannten Millenniumsentwicklungsziele geeinigt,mit denen man bis zum Jahr 2015 die weltweite ArmutZu Protokoll gegebene Reden
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20050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Karin Roth
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halbieren will. Aber Menschen mit Behinderung wurdennicht erwähnt, obwohl sie von jedem einzelnen Ziel an-gesprochen sind.Ziel 1: Halbierung der Zahl der Menschen, die in ex-tremer Armut leben. Ein Fünftel dieser Menschen, sowird geschätzt, hat eine Behinderung.Ziel 2: Bildung. Nach UNESCO-Schätzungen gehencirca 90 Prozent der Kinder mit Behinderung nicht zurSchule.Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter. Frauen undMädchen mit Behinderung sind sozusagen doppelt dis-kriminiert: als Frau und als Behinderte. Frauen mit Be-hinderung werden weit häufiger Opfer sexueller Über-griffe.Ziel 4: Kindersterblichkeit. Die Sterblichkeit von Kin-dern mit Behinderung liegt weltweit bei 80 Prozent.Ziel 5: Müttergesundheit. Komplikationen währendder Schwangerschaft und bei der Geburt führen häufigzu Behinderungen bei Mutter und/oder Kind.Ziel 6: Im Kampf gegen Aids werden Menschen mitBehinderung weitgehend ausgeschlossen, weil man bei-spielsweise häufig annimmt, sie seien sexuell nicht aktiv.Gleichzeitig sind aber – siehe Ziel 3 – Frauen und Mäd-chen mit Behinderung einem deutlich höheren Risikoausgesetzt, Opfer sexueller Gewalt zu werden.Ziel 7: Umweltschutz. Ein Drittel aller Krankheiten,die eine Behinderung verursachen können, werdendurch Umweltrisiken ausgelöst.Und, last but not least, Ziel 8: Globale Partnerschaftfür Entwicklung. Dies bedeutet auch, dass Menschen mitBehinderungen in alle Strategien und Programme auf-genommen werden, nicht nur als Begünstigte, sondernauch als Mitwirkende.Wenn es eines Beweises bedurfte, warum die Behin-dertenrechtskonvention der Vereinten Nationen längstüberfällig war, dann reicht ein Blick auf die Millen-niumsziele. Aber es reicht eben nicht, dass diese Kon-vention seitens der Bundesregierung ratifiziert wurde.Sie muss auch umgesetzt werden.Erst auf Druck von Zivilgesellschaft und Oppositionhat die Bundesregierung die internationalen Aspekte imNationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Behinder-tenrechtskonvention aufgenommen. Minister Niebelkündigte 2010 zwar vollmundig eine Strategie für eineinklusive Entwicklungszusammenarbeit an; diese liegtaber noch immer nicht vor. Wenn es gut läuft, wird jetzt,fast drei Jahre später, ein erster Entwurf vorliegen. All-gemein wird wahrgenommen, dass das Engagement derMinisteriumsleitung in dieser Frage weit hinter dem fürWirtschaftskooperationsprojekte zurücksteht.Und wie man hört, gibt es auch noch keinerlei Plänefür eine Finanzierung des Ganzen. Dabei ist es genaujetzt Zeit, politische Entscheidungen durch finanzielleRessourcen im Rahmen des Haushalts 2013 zu treffen.Deswegen fordern wir die Aufnahme einer Zielgröße„Menschen mit Behinderung“ in den Einzelplan 23 –jetzt.Wir brauchen eine inklusive Entwicklungszusammen-arbeit. Die Broschüre des Vereins „Behinderung undEntwicklungszusammenarbeit“ in einfacher Sprachestellt dies mit klaren Worten dar: „Inklusiv bedeutet:Für alle Menschen gleich. Für Menschen mit und ohneBehinderung. Entwicklungs-Zusammen-Arbeit bedeutet:Die reichen und die armen Länder arbeiten zusammen,damit das Leben in den armen Ländern besser wird. Essoll dort allen Menschen besser gehen. Menschen mitund ohne Behinderung. Alle Menschen sollen einen gu-ten Beruf haben. Sie sollen ein selbstbestimmtes Lebenführen. Sie sollen am Leben in der Gesellschaft teilneh-men können.“Klarer lassen sich die Ziele, auch die Ziele unseresAntrags, kaum ausdrücken.Inklusion wird auch bei den Durchführungsorganisa-tionen noch immer als Randthema wahrgenommen. Diepraktische Umsetzung der Belange von Menschen mitBehinderungen bleibt hinter der theoretischen Berück-sichtigung in Konzepten und Strategien der staatlichenEZ zurück. Ein wirksames Monitoring fehlt, ebenso wiebelastbare Daten und wissenschaftliche Erkenntnisseüber wirkungsvolle Maßnahmen der Inklusion.Es muss also dringend gehandelt werden. Auf inter-nationaler Ebene muss die Bundesregierung insbeson-dere für zwei Dinge Sorge tragen. Zum einen muss dieSituation von Menschen mit Behinderung bei derRio+20-Konferenz behandelt werden. Zum anderenmuss die Situation von Menschen mit Behinderungen so-wohl in den Millenniumszielen verankert werden alsauch fester Bestandteil des Nachfolgeprozesses nach2015 werden.Auf nationaler Ebene geht es darum, die Entwick-lungszusammenarbeit in allen Bereichen inklusiv zu ge-stalten.Ihr sonst üblicher Ablehnungsgrund eines Antragsder SPD – er sei zu lang und es gebe zu viele Forderun-gen – kann diesmal nicht greifen. Deswegen schauen Siesich den Antrag an, und überlegen Sie ganz genau, obSie wirklich gute Argumente haben, um diese Forderun-gen abzulehnen, und wie Sie dies den Betroffenen erklä-ren.
Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und de-ren Umsetzung in der Entwicklungszusammenarbeit istohne Zweifel ein Thema, welches wichtig ist. Da sind wiruns hier im Haus alle einig.Für die Liberalen ist Behinderung ein Menschen-rechtsthema. Schon zu Beginn dieser Legislaturperiodehat das BMZ deutlich gemacht, dass wir die Realisie-rung der Menschenrechte wieder stärker in den Mittel-punkt deutscher Entwicklungspolitik stellen werden. DieRechte von Menschen mit Behinderungen sind hierbeiein besonderes Anliegen.Menschen mit Behinderungen sind weltweit eine derGruppen, deren Menschenrechte am eklatantesten miss-achtet und verletzt werden – besonders aber in Entwick-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20051
Helga Daub
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lungsländern. Ob es um Arbeitsplätze, Bildungschancenoder den Zugang zu medizinischer Versorgung geht:Überall finden sich Benachteiligungen für Menschen mitBehinderung.Die von Deutschland 2009 ratifizierte VN-Behinder-tenrechtskonvention wird von uns auch in der Entwick-lungszusammenarbeit als Verpflichtung und Leitgedankefür die Arbeit am Nationalen Aktionsplan empfundenund zugrunde gelegt.Bevor ich auf den Stand des Nationalen Aktionsplanseingehe, sei mir ein Wort der Verwunderung an Sie, liebeKolleginnen und Kollegen der SPD, gestattet: Ich emp-finde es als, gelinde gesagt, seltsam, wenn in einem lau-fenden Prozess bereits das Ergebnis infrage gestelltwird. Sie schreiben über die angekündigte Strategie füreine inklusive Entwicklungszusammenarbeit, es sei „frag-lich, ob diese ausreichend konkret und vom gesamtenBMZ getragen sein wird, um zu effektiven Fortschrittenzu führen, zumal bisher auch keinerlei Aussagen zurFinanzierung gemacht wurden. Zudem wäre auch einexplizites Engagement des Bundesministers notwendig,damit sowohl das BMZ als auch die Durchführungsor-ganisationen dem Thema die notwendige Priorität ein-räumen.“Den aktiv Beteiligten eines Entstehungsprozesses vonvornherein zu unterstellen, sie würden nicht hinter demErgebnis dieses Prozesses stehen, das muss leider alsreines Oppositionsgebaren eingestuft werden. Schade –bei diesem so wichtigen Thema.Und der Bundesregierung, insbesondere dem BMZ,zu unterstellen, nicht explizit engagiert zu sein, wird ins-besondere auch unserer Parlamentarischen Staatssekre-tärin Gudrun Kopp nicht gerecht, die sich dieses Themasmit Leidenschaft angenommen hat und aktiv an allenSchritten des Nationalen Aktionsplans mitwirkt.Ihr Antrag, so gut er sicherlich gemeint war, ist völligüberflüssig. Denn mit Ihren Forderungen rennen Siedoch bereits weit geöffnete Türen ein.Das offensichtlichste Beispiel ist die Forderung, dieZivilgesellschaft müsse bei der Erarbeitung der BMZ-Strategie eingebunden werden. Das ist sie doch! DasBMZ hat von Beginn an Wert darauf gelegt, das großeEngagement der Zivilgesellschaft nicht nur zu würdigen,sondern Interessensvertretungsgruppen ein hohes Maßan Beteiligung zu ermöglichen. Die VENRO-AG „Be-hinderung und Entwicklung“ ist das wohl bekanntesteGremium in der Zivilgesellschaft, das sich mit der Inklu-sion von Menschen mit Behinderungen in der Entwick-lungszusammenarbeit befasst. Die Arbeitskontakte sindgut und konstruktiv.Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abgeschlos-sen sein und dann in die Umsetzung gehen. Natürlichhätten wir uns schon vor Jahren einen solchen Aktions-plan gewünscht; aber erst unter liberaler Führung hatdas Ministerium mit der konkreten Umsetzung begon-nen. Nach der Erarbeitung einer Gliederung mit strate-gischen Zielen im Oktober 2011 folgten mehrere Exper-tenworkshops und Runde Tische mit allen Beteiligten.Noch vor dem Sommer sollen die konkreten Maßnahmenim Rahmen des Aktionsplans entwickelt sein, um imSommer, wiederum unter Einbeziehung auch der zivilge-sellschaftlichen Experten, den ersten Gesamtentwurf ab-zustimmen.Schon jetzt brauchen wir uns mit unserem Engage-ment nicht zu verstecken: Im Jahr 2009 hat das BMZüber den Titel für private Träger 22 behinderungsspezi-fische Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund4 Millionen Euro gefördert; das ist im Vergleich zu 2008fast eine Verdopplung.Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die humanitäreHilfe an. Hier hat das BMZ mit der Förderung des Wie-deraufbaus in der Region rund um die Stadt Léogâne aufHaiti meines Erachtens sehr gute Arbeit geleistet. Schonbei der Prüfmission war ein Experte dabei, der vor Ortmit behinderten Menschen gesprochen hat, um ihre Per-spektive bei der Projektplanung zu berücksichtigen. Beider Umsetzung bei allen Aktivitäten wurde darauf ge-achtet, dass auch Menschen mit Behinderungen daranteilhaben können; sei es bei der Katastrophenvorsorge,der Stärkung lokaler Akteure oder der wirtschaftlichenUnterstützung der lokalen Bevölkerung.Weitere Beispiele sind vom BMZ geförderte inklusivgestaltete Projekte in Afghanistan, Bangladesch, Chile,Haiti, Indonesien, Sierra Leone, Tansania und Usbeki-stan.In einem Punkt gebe ich Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen der SPD, recht: Es muss noch viel mehr fürMenschen mit Behinderung in der Entwicklungszusam-menarbeit getan werden.Daher freue ich mich auf die Ergebnisse der intensi-ven Arbeit am Aktionsplan des BMZ – und darauf, ge-meinsam mit Ihnen und allen Kollegen in diesem Hausan der Umsetzung mitzuwirken.
Über 800 Millionen Menschen in den sogenanntenEntwicklungsländern leben mit unterschiedlichstenBeeinträchtigungen. Kriege, Wasser- und Nahrungs-mangel, Epidemien, Naturkatastrophen und fehlendemedizinische Versorgung sind Ursachen für einen über-proportional großen Anteil von Menschen mit chroni-schen Krankheiten und Behinderungen an der Bevölke-rung. Insbesondere betrifft es Kinder und Jugendliche.Schlechte gesundheitliche und soziale Versorgung,eingeschränkter Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit,fehlende Barrierefreiheit in der gesamten Infrastrukturund geringe Möglichkeiten für die Entwicklung emanzi-patorischer Behindertenbewegungen schränken dieMöglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens in Würdeund umfassender Teilhabe massiv ein. Es dürfte für alleFraktionen unstrittig sein: Menschen mit Behinderun-gen zählen zu den am meisten benachteiligten und ärms-ten Gruppen in Entwicklungsländern.Gern möchte ich an dieser Stelle auf ProfessorStephen W. Hawking in seinem Vorwort zum WeltberichtBehinderung von WHO und Weltbank – in der vom Bun-destag gefertigten Übersetzung – verweisen: „DieserZu Protokoll gegebene Reden
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20052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Ilja Seifert
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Bericht … beschreibt die verschiedenen Barrieren, de-nen Menschen mit Behinderungen begegnen – in derHaltung, beim physischen Zugang und im finanziellenBereich. Diese Barrieren abzubauen, liegt im Rahmenunserer Möglichkeiten.“Deswegen freue ich mich, dass die SPD mit ihrem An-trag das Thema Behinderung und Entwicklungszusam-menarbeit in Verbindung mit der UN-Behindertenrechts-konvention, vor allem der Art. 11 und 32, auf dieTagesordnung gesetzt hat. Die Linke teilt das Anliegendieses Antrages.Die Behindertenrechtskonvention wurde vor überfünf Jahren in der UN-Vollversammlung angenommenund ist seit dem 26. März 2009 in Deutschland geltendesRecht. Gute Worte – sogar von der Bundesregierung –zum Thema gibt es durchaus. Auch die wenigen Hand-lungsempfehlungen und Maßnahmen im NationalenAktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung derUN-Behindertenrechtskonvention sind nicht falsch. Ge-braucht werden aber mehr Veränderungen im wirkli-chen Leben: im Denken und im Handeln von Politik,Wirtschaft und allen anderen Bereichen der Gesell-schaft. Die Belange von Menschen mit Behinderungenwerden noch zu oft als Ressortpolitik – Soziales – miss-verstanden, anstatt sie zum inklusiven Bestandteil in al-len Bereichen von Politik und Gesellschaft zu machen.Dabei denke ich unter anderem auch an die politi-schen Stiftungen mit ihren zahlreichen Auslandsbüros.Hier passiert meines Erachtens noch zu wenig. Ichkenne aber auch schon gute Beispiele. So gibt es bereitsmehrere erfolgreiche Aktivitäten des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau zur Einbeziehung vonBehindertenverbänden in Veranstaltungen sowie bei derSetzung von behindertenpolitischen Themen. Auch vor-handene und künftige Städtepartnerschaften bilden einnicht gering zu schätzendes Potenzial in diesem Bereich.In der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es inArt. 32: „Die Vertragsstaaten anerkennen die Bedeutungder internationalen Zusammenarbeit … und treffen diesbe-züglich geeignete und wirksame Maßnahmen, zwischen-staatlich sowie … in Partnerschaft mit den einschlägigeninternationalen und regionalen Organisationen und der Zi-vilgesellschaft, insbesondere Organisationen von Menschenmit Behinderungen … um a) sicherzustellen, dass die inter-nationale Zusammenarbeit, einschließlich internationa-ler Entwicklungsprogramme, Menschen mit Behinde-rungen einbezieht und für sie zugänglich ist ...“Als Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenver-bandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung undWürde“ e. V., ABiD, durch meine Mitarbeit im Deut-schen Behindertenrat, DBR, im European Disability Fo-rum, EDF, und die internationale Zusammenarbeit mitmehreren Behindertenverbänden, vor allem aus Osteu-ropa, weiß ich sehr gut, wie oft die Belange von Men-schen mit Behinderungen in der Außen- und Entwick-lungspolitik „vergessen“ werden und wie oft auch dieEinbeziehung von Vertretern der Behindertenbewegung„vergessen“ wird.Wann waren denn einmal Vertreterinnen und Vertre-ter von Behindertenverbänden aus Deutschland in denRegierungsdelegationen der Kanzlerin oder des Außen-ministers oder des Ministers für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung oder anderer Mitglieder derBundesregierung? Ich sehe da vor allem Wirtschaftsver-treter. Und in welchen bilateralen oder multilateralenVereinbarungen mit anderen Staaten spielen Projektezur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventioneine Rolle? Alle meine diesbezüglichen Anfragen an dieBundesregierung in den letzten Jahren wurden mit einerFehlmeldung beantwortet.Laut Bundesminister Niebel geht es bei langfristigerEntwicklungszusammenarbeit um den Schutz der Men-schenrechte und die Stärkung von Eigenverantwortungund Selbsthilfekräften in den Entwicklungsländern. HerrMinister: Die UN-Konvention ist ein Menschenrechts-dokument! Deswegen erwarte ich von Ihnen und dergesamten Bundesregierung spür- und messbare Verän-derungen bei der Förderung der Zusammenarbeit zwi-schen und mit den Behindertenverbänden in den Ent-wicklungsländern und Deutschland.Dieser Aspekt, liebe Kolleginnen und Kollegen derSPD, kommt in Ihrem Antrag viel zu kurz. Sie reden fürund über Menschen mit Behinderungen. Das Prinzip„Nichts über uns ohne uns!“ zieht sich leider nichtdurch Ihren Antrag.Solche Zusammenarbeit kann davor schützen, in an-deren Ländern die gleichen Fehler zu machen, wie wires in Deutschland taten. Dazu gehören unsere Erfahrun-gen mit Aussonderungseinrichtungen.Zu unkonkret sind mir im SPD-Antrag die mit den in-haltlichen Forderungen verbundenen Konsequenzen fürden Bundeshaushalt. Natürlich muss man auch über diegesellschaftlichen Ursachen von Behinderungen undunsere Verantwortung dafür reden: zum Beispiel durchWaffenexporte. Entwicklungszusammenarbeit muss ge-sellschaftliche Ursachen von Behinderungen zumindestminimieren.Lassen Sie mich zum Schluss an einem Beispiel nochetwas zur Hilfe zur Selbsthilfe sagen. Bei meinen Reisenin Länder Osteuropas sehe ich viele technisch und mo-ralisch verschlissene, in Deutschland ausgesonderteBusse, Straßenbahnen und auch für die Beförderung vonMenschen mit Behinderungen vorgesehene Autos. DieseBusse und Straßenbahnen sind natürlich nicht barriere-frei und die „Behindertentransporter“ entsprechen un-seren Sicherheitsanforderungen in keiner Weise. Das istkeine Entwicklungszusammenarbeit, die hilft, Menschenmit Mobilitätsbeeinträchtigungen eine Teilhabe am Le-ben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Schrottentsor-gung unter dem Deckmantel der Nächstenliebe unddamit auch noch Geld verdienen, das ist für mich Heu-chelei.
„Breaking barriers to include!“ Unter diesem Mottostand der erste Weltbericht Behinderung, den die WHOund die Weltbank im vergangenen Jahr gemeinsam ver-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20053
Uwe Kekeritz
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öffentlicht haben. Der Bericht hat erstmals umfassenddas Thema Behinderung beschrieben, analysiert undpolitisch bewertet. Mit diesem Bericht wurde ein wichti-ges Zeichen gesetzt und das Thema Behinderung endlichauf die internationale Bühne gebracht.15 Prozent der gesamten Weltbevölkerung leben miteiner Behinderung; das sind über 1 Milliarde Menschen.Etwa 80 Prozent dieser Menschen leben in Entwick-lungsländern und haben kaum Zugang zu medizinischenRehabilitationsmaßnahmen oder Bildung; ihre Situationist prekär. Was oft vergessen wird: Die Situation vonFrauen mit Behinderung ist besonders dramatisch; sieerleben oftmals eine doppelte Benachteiligung.Armut und Behinderung sind zwei Faktoren, die sichwechselseitig beeinflussen. Einerseits sind Menschenmit Behinderung in Entwicklungsländern meist bitter-arm. 90 Prozent aller Kinder mit Behinderung habendort keinerlei Zugang zu Bildungsangeboten. Sie findenspäter keine Arbeit und bleiben ihr Leben lang vom ge-sellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Andererseitssind viele Krankheiten, die Behinderungen auslösen, ar-mutsbedingt und könnten bei einer angemessenen Be-handlung gelindert oder gar geheilt werden.Daher muss das Thema Inklusion in der Entwick-lungszusammenarbeit endlich systematisch berücksich-tigt werden. Der vorliegende Antrag der SPD fordertganz richtig, Inklusion als Querschnittsaufgabe in allenBereichen der deutschen und der internationalen Ent-wicklungszusammenarbeit zu verankern. Deshalb unter-stützen wir auch diesen Antrag.Dieses Ziel muss sowohl bei der Arbeit der Durchfüh-rungsorganisationen als auch bei der Förderung vonProjekten privater und kirchlicher NGOs unbedingt ge-währleistet sein. Die Strategie des Bundesministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungzur Inklusion von Menschen mit Behinderung, die schonlange angekündigt, aber leider noch immer nicht in Ar-beit ist, muss einen echten Paradigmenwechsel herbei-führen und verbindlich sein!Das deutsche Engagement für behinderte Menschendarf nicht zu einem Papiertiger verkommen; stattdessenmuss bei jedem Projekt hinterfragt werden: Werden dieBelange der Menschen mit Behinderung ausreichend be-rücksichtigt, werden sie besonders gefördert? Es ist da-rüber hinaus sicherzustellen, dass das neu geschaffeneEvaluierungsinstitut bei seiner Tätigkeit auch diesen As-pekt besonders berücksichtigt und überprüft, inwieweitman dem Anspruch der Integration gerecht wird. Dazumuss die Bundesregierung diesen Bereich auch mit an-gemessenen finanziellen Mitteln ausstatten. Anders kanndas Motto des Weltberichts Behinderung nicht umgesetztund können die Rechte der Menschen mit Behinderungnicht gewahrt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8926 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind offensicht-
lich auch damit einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für eine Stärkung der breit aufgestellten euro-
päischen Grundlagenforschung – Keine finan-
ziellen Einschnitte beim Europäischen For-
schungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts
ITER
– Drucksachen 17/3483, 17/9025 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
René Röspel
Dr. Martin Neumann
Dr. Petra Sitte
Sylvia Kotting-Uhl
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden von Dr. Stefan Kaufmann, René Röspel, Klaus
Hagemann, Dr. Peter Röhlinger, Dr. Petra Sitte, Sylvia
Kotting-Uhl.
Der vorliegende Antrag der SPD mit dem Titel „Füreine Stärkung der breit aufgestellten europäischenGrundlagenforschung – Keine finanziellen Einschnittebeim Europäischen Forschungsrat zugunsten des Ein-zelprojekts ITER“ vom 27. Oktober 2010 ist mittlerweileüberholt. Es hat keine Einschnitte beim EuropäischenForschungsrat zugunsten von ITER gegeben. Im Gegen-teil: Der Horizon-2020-Entwurf der EU-Kommissionsieht richtigerweise eine deutliche Steigerung der Mittelfür den Europäischen Forschungsrat vor.Zum besseren Verständnis möchte ich jedoch zu-nächst das ITER-Projekt vorstellen:Beim ITER-Projekt handelt es sich um den Internatio-nalen Thermonuklearen Experimental-Reaktor, ITER,im französischen Cadarache. Beteiligt an dem Projektsind außer der Europäischen Union auch China, Indien,Japan, Südkorea, Russland und die USA. Mit 45,5 Pro-zent trägt die EU als Sitzland den Hauptteil der Kosten.ITER soll die technische und ökonomische Machbarkeitder Energiegewinnung aus Kernfusion demonstrieren.Die Vorteile einer solchen Energiegewinnung wärenzahlreich:Erstens. Die für den Fusionsprozess nötigen Grund-stoffe – Deuterium, das in natürlichem Wasser enthaltenist, und Tritium, das aus Lithium gewonnen wird – sindnahezu überall auf dieser Welt vorhanden.
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20054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Stefan Kaufmann
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Zweitens. Die Fusionstechnik hat eine extrem hoheEnergiekonzentration zur Folge und benötigt im Gegen-satz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehrwenig Fläche.Drittens. Klimatische Schwankungen haben – wieauch bei der Kernspaltung – keinerlei Einfluss auf dieFusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für dieGrundlastversorgung von Ballungsräumen sowie derGroßindustrie.Viertens. Bei der Kernfusion entstehen praktisch kei-nerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Energie-form. Wir dürfen daher die Kernfusion – anders als Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in IhremAntrag – nicht gegen die Förderung erneuerbarer Ener-gien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei harter in-ternationaler Konkurrenz um Wertschöpfungschancenliegt die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandortin der Forschung. Die Fortführung von ITER hat alsonichts damit zu tun, die Förderung erneuerbarer Ener-gien oder Forschungsausgaben in diesem Bereich zu-rückzufahren. Im Übrigen ist die Kernfusion aufgrundder faktisch unbegrenzten Verfügbarkeit der verwende-ten Brennstoffe den erneuerbaren Energien gleichzustel-len.Fünftens. Die Kernfusionstechnologie bietet auchjenseits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbre-chende Entwicklungsmöglichkeiten. Es entstehen Inno-vationen und Entwicklungen, die ohne diese Forschungkaum zustande gekommen wären. Zahlreiche technolo-gische Nebenprodukte und spin-off-fähige Entwicklun-gen sind im Zuge der Kernfusionsforschung entstanden.Dazu zählen Entwicklungen im Bereich der Supraleiter,der Prallplatten, der Materialforschung, der Fabrika-tionsprozesse, der Halbleitertechnologie, der Gesund-heitsforschung, der Mikrowellentechnologie, derMagnettechnologie, der Hochleistungsbremsen, derLuft- und Raumfahrt und vieles mehr. Sie selbst be-schreiben in Ihrem Antrag die Fusionsforschung als ei-nen – ich zitiere – „spannenden Forschungsbereich“,dessen Vorteile „die dafür langfristig verfügbaren Res-sourcen und die relative Umweltverträglichkeit im Ver-gleich zur Kernspaltung“ sind.An anderen Stellen in Ihrem Antrag lässt sich jedocheine Distanz zum ITER-Projekt erkennen, die Ihre Un-terstützung des Gesamtprojekts zumindest infrage stellt.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang daran erin-nern, dass der ITER-Vertrag unter der rot-grünen Regie-rungszeit ausgehandelt wurde. Heute wollen Sie davonselbstverständlich nichts mehr wissen. Dabei stehen wirauch in internationaler Verantwortung. Das bietetChancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobach-tung aus. Die Partnerstaaten beobachten sehr genau,wie sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zu-kunftsweisenden Projekt verhält. Ständige Forderungenseitens der SPD nach finanziellen Einschränkungen fürdas ITER-Projekt sind dabei wenig hilfreich. Zudemmüssen die Auswirkungen auf die europäische For-schungszusammenarbeit und die deutschen Fusionspro-jekte in Garching und Greifswald bedacht werden. DieHelmholtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe,vor allem aber das IPP in Garching, haben bisher über-proportional von den Euratom-Mitteln für ITER profi-tiert. Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz be-droht, ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswaldbzw. dem Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspek-tive.Dieses Zukunftsprojekt ITER haben Sie in Ihrem An-trag mit dem Europäischen Forschungsrat, ERC, ver-knüpft. Ihre Einschätzung, dass beide Projekte unmittel-bar miteinander zusammenhängen, kann ich nicht teilen.Der Europäische Forschungsrat wurde vor allem aufBetreiben der Bundesregierung mit dem 7. Forschungs-rahmenprogramm im Jahre 2007 eingeführt. Innerhalbkürzester Zeit hat sich der ERC in der europäischenForschungslandschaft als ein vorbildliches Modell fürdie Förderung der Grundlagenforschung etabliert.Diese Entwicklung ist zu begrüßen, und ich denke, wiralle setzen uns für eine weitere Stärkung des ERC ein.Erst gestern haben bei einer Veranstaltung zu Horizon2020 von DFG und MPG in der Vertretung der Europäi-schen Kommission in Deutschland alle Podiumsteilneh-mer betont, wie wichtig die geplante deutliche Aufsto-ckung der Mittel für den ERC ist.Nun aber zu den einzelnen Forderungen der SPD inIhrem Antrag:Ihre erste Forderung, „sich auf europäischer Ebeneweiter dafür einzusetzen, dass der ERC so weit als mög-lich frei von administrativen Hürden der EuropäischenKommission arbeiten kann und ein wirklicher Bottom-up-Ansatz verwirklicht wird“, wurde erfüllt. Genau da-für haben wir uns eingesetzt.Ihre zweite Forderung, „dafür zu werben, dass dieadministrativen Hürden bei der Begutachtung und Aus-zahlungen der Fördergelder durch den ERC auf ein Min-destmaß zurückgefahren werden“ – auch unter demStichwort „Vereinfachung“ zu subsumieren –, wirdebenfalls fraktionsübergreifend geteilt.Ihre dritte Forderung, „darauf hinzuarbeiten, dassdas europäische Forschungsbudget innerhalb des8. Forschungsrahmenprogramms insgesamt erhöht unddabei der ERC verstärkt bedacht wird“, wird aller Vo-raussicht nach erfüllt. Das Budget für Horizon 2020 sollnach dem aktuellen Entwurf der EU-Kommission vonetwa 55 auf 80 Milliarden Euro steigen. Das Budget desEuropäischen Forschungsrates wird dabei besondersstark erhöht: von etwa 7,5 auf 13,2 Milliarden Euro.Dies ist besonders erfreulich und wird sicherlich auchfraktionsübergreifend begrüßt. In diesem Punkt ist IhrAntrag also eindeutig überholt.Ihre vierte Forderung, „sicherzustellen, dass die jetztfür ITER ausgehandelten Mehrkosten die absolute Fi-nanzierungsobergrenze bleiben“, wird ebenfalls von derRegierungskoalition geteilt. Maßgeblich auf deutscheInitiative gehen die Schlussfolgerungen des Europäi-schen Rates aus dem Juli 2010 zurück, die das Ziel einerbesseren Kostenkontrolle und einer Verbesserung desManagements bei ITER verfolgen. So wurde eine Kos-tendeckelung für den Euratom-Anteil auf 6,6 MilliardenEuro beschlossen. Das Management von ITER wird re-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20055
Dr. Stefan Kaufmann
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gelmäßig evaluiert, strenge Aufsichtskommissionenwurden eingerichtet, die die Finanzsituation kritisch be-obachten und alle Prüfungsberichte kritisch begleitensollen.Auch in der Realität wurden seitdem zahlreiche Ver-besserungen in der Struktur und beim Kostenmanage-ment erreicht. Dazu zählt auch die für den europäischenAnteil zuständige Agentur Fusion for Energy, F4E, mitSitz in Barcelona. Das Management wurde ausgetauschtund Kontroll- und Überprüfungsmechanismen instal-liert. Außerdem wurde ein Projektbegleiter etabliert, derdie Auftragsvergabe kontrolliert. Auch das Controllingwurde verbessert. Insgesamt wurden die Gremien perso-nell erheblich umbesetzt. Die Forderungen der Bundes-regierung sind dabei weitestgehend umgesetzt worden.Im Ergebnis sind die Ausschreibungsbedingungen fürdeutsche Unternehmen zum Beispiel in Haftungsfragendeutlich verbessert worden. Auch bei Transparenz undVergabepraxis können Fortschritte festgestellt werden.An einigen Punkten müssen wir jedoch weiter arbeiten.Hinsichtlich der Finanzierungslücke bei ITER vongut 1,3 Milliarden Euro für die Jahre 2012 und 2013wurde nach langen und sehr zähen Verhandlungen imDezember 2011 im Trilog ein Ergebnis erreicht:100 Millionen Euro stammen aus den Haushaltslinienfür ITER aus dem Haushaltsjahr 2012; die Obergrenzeder Verpflichtungsermächtigungen in Haushaltskate-
insgesamt 840 Millionen Euro angehoben. Im Gegenzugwerden die Verpflichtungsermächtigungen von 650 Mil-lionen Euro aus dem Haushalt 2011 und 190 MillionenEuro aus dem Haushalt 2012 abgesenkt. Diese Mittelentstammen den Haushaltskategorien 2
und der Haushaltskategorie 5 ; 360 Millio-nen Euro kommen aus Mitteln, die im EU-Haushalt 2013innerhalb der Obergrenzen des mehrjährigen Finanz-rahmens bereitzustellen sind. Dies ist aus forschungs-politischer Sicht mit Blick auf wichtige, laufende Pro-jekte eine angemessene Verteilung. Für die langfristigeFinanzierung von ITER nach 2013 ist noch offen, obdiese aus dem EU-Forschungsetat erfolgt oder ob dieAusgaben dort gedeckelt werden, sodass Finanzierungs-risiken zulasten der Mitgliedstaaten gehen würden.Stimmt die SPD der Europäischen Kommission etwa zu,wenn diese das ITER-Projekt außerhalb des mehrjähri-gen Finanzrahmens, MFR, finanzieren will? Die Mit-gliedstaaten hätten nur geringen Einfluss, müssten aberfür die Finanzierungsrisiken voll haften. Diese Positionist nicht unsere. Wer die Verantwortung trägt, muss auchdie finanziellen Mittel bereitstellen. Wir als CDU/CSU-Fraktion unterstützen die Bundesregierung in ihrerPosition, dass Zuständigkeit und Verantwortung zusam-mengehören.Ihre fünfte Forderung, „dafür Sorge zu tragen, dassITER nicht auf Kosten gut funktionierender und auch in-ternational als innovativ bewerteter Institutionen undProjekte finanziert wird“, können wir ebenfalls unter-schreiben. Bisher ist mir kein derartiges Beispiel be-kannt. Für den Europäischen Forschungsrat gilt dies jaausdrücklich nicht, wie ich bereits zuvor ausgeführthatte.Ihre sechste und siebte Forderung, „dafür Sorge zutragen, dass ITER nicht auf Kosten der Erforschung undNutzung der erneuerbaren Energie und der Energieeffi-zienz finanziert wird, sondern diese Bereiche ebenfallsstärker ausgebaut werden“, sowie Ihre Aufforderung,dass wir uns dafür einsetzen mögen, „dass für alle Pro-jekte und Institutionen im Forschungsbereich, die jetztaufgrund von ITER finanzielle Einschränkungen hin-nehmen müssen, es im nächsten Haushalt mindestens ei-nen gleichrangigen finanziellen Ausgleich geben wird“,zeigen Ihre bereits erwähnte Distanz zum ITER-Projekt.Völlig ohne finanzielle Einschränkungen werden dieMehrkosten des ITER-Projekts nicht finanziert werdenkönnen. Außerdem müssen wir auch der Realität Rech-nung tragen. Natürlich war es sinnvoll, den europäi-schen Finanzierungsbeitrag zu ITER nicht zuletzt auf In-tervention der Bundesregierung auf 6,6 Milliarden Eurozu deckeln. Aber es handelt sich hier schließlich umSpitzentechnologie mit höchsten Qualitätsansprüchen.Was nützt es, wenn wir die Kosten reduziert haben, derReaktor am Ende aber nicht funktioniert?Ihre achte Forderung, „Lösungen zu finden, wieITER verstärkt durch privatwirtschaftliche Gelder mit-finanziert werden kann“, ist zutreffend. Allerdings mussimmer wieder darauf hingewiesen werden, dass es sichhier um Grundlagenforschung handelt. Wenn Sie kon-krete Vorschläge oder sogar Angebote vorliegen haben,werden wir diese gerne unterstützen.In Ihrer neunten Forderung wiederholen Sie sich ein-mal mehr. Es bleibt festzuhalten: Ihr Versuch, den Euro-päischen Forschungsrat und das ITER-Projekt gegen-einander auszuspielen, ist nicht gelungen. Vielmehr hatsich gezeigt, dass Versuche, eine Verknüpfung zwischendem Europäischen Forschungsrat und dem ITER-Pro-jekt herzustellen, unberechtigt und nicht zielführendsind.Somit können wir zusammenfassen: Das Grundanlie-gen der SPD – Stärkung des Europäischen Forschungs-rates und eine ausgewogene Finanzierung des ITER-Projekts – ist richtig, jedoch bereits umgesetzt. Sie ze-tern – die Regierungskoalition handelt. Das ist der Un-terschied. Dementsprechend wäre es eher an der Zeit,dass Sie die Regierungskoalition auch einmal für ihregute Arbeit loben! Ich empfehle die Ablehnung des vor-liegenden Antrags.
Wer aktuell durch die Bundestagsgebäude geht, findetin der Halle des Paul-Löbe-Hauses eine Ausstellung derDeutschen Forschungsgemeinschaft, DFG. Dort wirdanhand verschiedener Exponate gezeigt, was für unter-schiedliche Projekte die DFG aktuell in Deutschlandfördert. Dabei können wir Beispiele aus der Geisteswis-senschaft genauso wie aus den Natur- oder Ingenieur-wissenschaften bewundern. Alle vorgestellten Projektehaben gemeinsam, dass sie exzellente Ansätze verfolgenund der Grundlagenforschung zuzurechnen sind. Dabeihandelt es sich also um Ansätze, die – zumindest im An-Zu Protokoll gegebene Reden
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20056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
René Röspel
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satz – keine direkte Anwendung versprechen. Da magsich der eine oder andere fragen, ob denn das überhauptsinnvoll sei. Die Antwort lautet ganz klar: Ja! Denn wasuns heute „unnütz“ erscheint, kann morgen bereits dieGrundlage für einen technischen oder gesellschaftlichenDurchbruch bedeuten. Selbst Aristoteles, Al-Chwarizmi,Galileo oder Newton hätten sich wohl niemals träumenlassen, dass aufgrund ihrer wissenschaftlichen Arbeitenim Bereich der Gravitation einmal Flugzeuge durch denHimmel fliegen würden. Glück für uns, dass diese gro-ßen Wissenschaftler sich ganz dem Erkenntnisgewinnverschrieben hatten.Vielleicht zeigt dieses Beispiel bereits, wie wichtigund gesellschaftlich notwendig die Förderung derGrundlagenforschung ist. In Deutschland haben sichbesonders die DFG und die Max-Planck-Gesellschaftdieser Aufgabe verschrieben. Leider existieren ähnlicheStrukturen aber nicht in allen europäischen Ländern.Deshalb spielt die europäische Förderung der Grundla-genforschung eine so wichtige Rolle.Vor fünf Jahren wurde unter deutscher EU-Präsident-schaft der Europäische Forschungsrat, ERC, eingerichtet.Die deutsche DFG stand dabei Pate. Der ERC fördert ex-zellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissen-schaftler sowie bereits etablierte Spitzenforscherinnenund -forscher bei ihrer Grundlagenforschung in Europa.Einziges Kriterium ist die Exzellenz. Im aktuell laufen-den 7. europäischen Forschungsrahmenprogramm sindfür diese Förderung 7,5 Milliarden Euro für den Zeit-raum von 2007 bis 2013 eingestellt. In nur fünf Jahrenhat sich der ERC in der weltweiten Wissenschaftsge-meinschaft einen exzellenten Ruf aufgebaut. Und das zuRecht! Deshalb ist es nur folgerichtig, dass im derzeitdiskutierten Nachfolgeprogramm Horizon 2020 für denERC eine Budgetverdoppelung eingeplant ist.Heute diskutieren wir aber auch über ein zweites Pro-gramm der Grundlagenforschung, welches durch euro-päische Gelder finanziert wird: das Fusionsforschungs-projekt ITER. Hierdurch sollen grundlegende Fragen imBereich der Fusion und Energiegewinnung geklärt wer-den. Durch die bisherigen Arbeiten haben wir durchausinteressante Erkenntnisse gerade im Bereich der Mate-rialforschung gewonnen. Die Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler haben aber noch einen weiten Weg vorsich. Das wäre noch hinzunehmen, wenn dieses Projektnicht solche enormen Kosten verursachen und unsgleichzeitig Ressourcen in anderen drängenden Berei-chen fehlen würden.In der letzten Zeit gab es die berechtigte Befürchtung,dass die aktuellen Mehrkosten bei ITER durch dieBeschneidung anderer europäischer Grundlagenfor-schungsbereiche gegenfinanziert werden könnten. Dieswäre unverantwortlich. Soweit wir wissen, hat der ein-stimmige Widerstand, auch aus diesem Haus, dies ersteinmal verhindert. Die Finanzierungsdebatte ist abernoch nicht vom Tisch. Aktuell wird in Brüssel darüberdiskutiert, ob und, wenn ja, wo sich die Finanzierung fürITER in neuen EU-Budgets wiederfinden wird. Um Kon-kurrenz zu anderen Forschungsbereichen zu vermeiden,wäre meiner Meinung nach ein eigener Titel innerhalbdes EU-Haushaltes der transparenteste Platz für dieITER-Finanzierung.Die öffentliche Förderung der Grundlagenforschungauf nationaler und europäischer Ebene ist richtig undmuss ausgebaut werden. Das bisher vorgelegte Konzeptfür Horizon 2020 zielt dabei in die richtige Richtung. Esmuss aber auch zukünftig verhindert werden, dass einBereich, in diesem Fall die Fusionsforschung, auf Kos-ten aller anderen Bereiche und Strukturen vorangetrie-ben wird. Dafür werden wir uns als Sozialdemokratin-nen und Sozialdemokraten auch weiterhin einsetzen.
Die Fusionsforschung kann langfristig einen Beitragfür die Energiesicherheit in Europa bieten. Die For-schung auf diesem Feld ist eine der zentralen Heraus-forderungen der Zukunft. Der Fusionsreaktor ITER istaber nur ein Teil dieses Forschungsfeldes – und deshalbwollen wir diese Form der Energiegewinnung nicht umjeden erdenkbaren Preis erforschen und finanzieren.Die Kosten für dieses Projekt sind in den vergange-nen Jahren immer weiter gestiegen – von 2,7 MilliardenEuro bei der Vertragsunterzeichnung auf 7,2 MilliardenEuro, die zuletzt verhandelt wurden. Einige Kritiker ge-hen bereits jetzt von weit höheren Summen aus. Spät undhoffentlich nicht zu spät hat die Frau BundesministerinSchavan einen Kostendeckel von 6,6 Milliarden Euroauf europäischer Ebene vereinbart.Im mittelfristigen Finanzrahmen, der sich derzeit inVerhandlungen auf europäischer Ebene befindet, istITER nicht enthalten. Es soll für die Finanzierung einNebenhaushalt geschaffen werden, der die Mitgliedstaa-ten mit Beiträgen stärker in die Pflicht nehmen würdeals bisher. Das ist nicht akzeptabel. Der Fusionsreaktorist ein Paradebeispiel für das, was ein europäischerMehrwert genannt wird – ein Projekt, das die Europäi-sche Union finanziert, weil es allen Mitgliedstaaten zu-gutekommt und keiner es alleine finanzieren kann. Des-halb ist es nur richtig, europäische Mittel aus einemeuropäischen Haushalt dafür zu verwenden. Doch birgtdieses Vorgehen auch Risiken. Wenn ITER als Teil desEuropäischen Forschungsrahmens behandelt wird, wirddieses Projekt einen großen Teil der Mittel binden – Mit-tel, die für andere Forschungsvorhaben nicht zur Verfü-gung stehen. Wir sehen die große Gefahr, dass damitverschiedene Forschungsfelder der Zukunft gegeneinan-der ausgespielt werden.Will man sich wirklich an den Finanzdeckel halten,dann werden Reformen bei den Managementstrukturenunumgänglich. Es kann beispielsweise nicht hingenom-men werden, dass den Vertretern des Bundes im Auf-sichtsrat der europäischen ITER-Agentur „Fusion forEnergy“ keine detaillierten Informationen in finanziel-len Fragen vorliegen. So ist es kein Wunder, wenn dasProjekt teurer und teurer wird. Eine solche Aufsichts-funktion innerhalb der Agentur muss auch der übertra-genen Verantwortung gemäß wahrgenommen werden.Trotz der enormen Summen, die für die Entwicklungdes Fusionsreaktors bereitgestellt werden, kommt dieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20057
Klaus Hagemann
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deutsche Industrie bislang kaum vor. Die Ausschreibun-gen für die Entwicklung einzelne Komponenten gingenbisher fast ausschließlich an andere europäische Bewer-ber. Auf unsere Anfrage hin musste das Bundesministe-rium für Bildung und Forschung einräumen, dass erstein niedriger Millionenbetrag für Aufträge an deutscheUnternehmen und Forschungsinstitute ging. Bei Aus-schreibungen in Höhe von insgesamt 1,3 MilliardenEuro ist das für den Technologie- und Wissenschafts-standort Deutschland eine einzige Enttäuschung.Es genügt nicht, wenn die Bundesregierung beklagt,dass die Beteiligung der deutschen Industrie an den Ver-gabeverfahren bislang nicht zufriedenstellend gelöst istund auf Einwerbungen in späteren Projektphasen hofft.Frau Schavan muss endlich aus ihrer Zuschauerrolleherauskommen und hierzulande umgehend schlagkräf-tige und professionelle Managementstrukturen auf-bauen. Nur so lässt sich eine dem Wirtschafts- undForschungsstandort Deutschland und den gezahltenfinanziellen Beiträgen angemessene industrielle Beteili-gung an dem Fusionsprojekt erreichen. Der Haushalts-ausschuss hat dazu auf Drängen der SPD bereits 2008einen Return-on-Investmentplan von der Bundesregie-rung eingefordert.
Es ist gut, dass ITER hier regelmäßig auf der Tages-
ordnung steht, damit wir dieses Großprojekt nicht aus
den Augen verlieren. Heute ist ein SPD-Antrag an der
Reihe.
Sie sprechen in Ihrem Antrag wichtige Fragen an.
Die Kostensteigerungen sind erheblich, und wie sich das
weiter entwickelt, ist schwer vorherzusagen. Wann wir
kommerziell Elektroenergie aus der Kernfusion nutzen
können, können wir auch noch nicht aufs Jahr genau da-
tieren. Sicher ist, dass noch ein gutes Stück Forschungs-
arbeit vor uns liegt. Der Zeitplan hierfür ist Ihnen allen
bekannt. ITER soll Anfang 2020 fertiggebaut sein und
bis 2030 zeigen, dass ein energielieferndes Fusionsfeuer
unter kraftwerksähnlichen Bedingungen möglich ist.
Richtig ist auch: Bei der Bewältigung der Herausfor-
derungen der Energiewende wird ITER noch keinen Bei-
trag leisten.
Ich freue mich darüber, dass Sie in Ihrem Antrag trotz
dieser angesprochenen Probleme ITER nicht grundsätz-
lich infrage stellen. Und ich freue mich ebenso darüber,
dass Sie die europäische Grundlagenforschung und die
Arbeit des Europäischen Forschungsrates so positiv be-
werten. Es geht hier um sehr viel Geld, aber es geht
auch um Spitzenforschung und um wissenschaftliche Ex-
zellenz. Das sind Zukunftsthemen für Europa wie für
Deutschland. Dass die wichtigste Oppositionspartei das
nicht grundsätzlich anders sieht als die Koalition, ist
meiner Meinung nach sehr erfreulich und zeugt von ei-
nem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein.
Demgegenüber möchten Linke und Grüne bei ITER
am liebsten aussteigen. Das hat sich auch in der gestri-
gen öffentlichen Anhörung im Europaausschuss zu den
Themen Euratom-Vertrag und ITER wieder gezeigt. Den
Linken missfällt außerdem, dass für vom Europäischen
Forschungsrat geförderte Projekte nur Qualität als Kri-
terium zählt. Sie würden daneben gerne noch regionalen
Proporz berücksichtigen und eine Frauenquote einfüh-
ren. Das wäre aus unserer Sicht weder zielführend noch
zukunftsweisend. Glücklicherweise stehen solche Über-
legungen nicht zur Diskussion.
Die SPD befürchtet, dass die weitere Finanzierung
von ITER zulasten der vom Europäischen Forschungs-
rat geförderten Projekte gehen könnte. Das wäre aller-
dings ein Schritt in eine ganz falsche Richtung. Das darf
nicht passieren und das wird auch nicht passieren, da
können Sie sicher sein! Im Gegenteil, die Projektförde-
rung soll im Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020
weiter ausgebaut werden.
Ich halte in diesem Zusammenhang den Vorschlag
der EU-Kommission für sehr interessant, für ITER ein
eigenes Forschungsprogramm im Rahmen des Euratom-
Vertrages zu implementieren.
In der Tat, die Kostensteigerung bei ITER ist be-
trächtlich, aber sie ist nicht etwa willkürlich, sondern es
gibt dafür handfeste Gründe. Dazu gehören die ganz
normale Inflation ebenso wie die Entwicklung der Roh-
stoffpreise auf dem Weltmarkt, aber auch Anpassungen
und Weiterentwicklungen in der Planung, „Re-Design“,
sowie die Berücksichtigung von neuen Erkenntnissen in
der Physik. Dass das Projektmanagement nicht immer
und überall optimal funktioniert, spielt zweifellos eben-
falls eine Rolle. Dennoch: Wir halten ITER und die Fu-
sionsforschung nach wie vor für sinnvoll, und wir halten
an dem Ziel fest, Kernfusion langfristig als Energie-
quelle nutzbar zu machen. Wir tragen auch weiterhin mit
eigenen Vorschlägen sowohl zur Verbesserung des Pro-
jektmanagements als auch zur Deckelung der Kosten
dazu bei, die Akzeptanz für ITER wieder zu erhöhen.
Auch dies ist eine Voraussetzung für den Erfolg.
Wie die Mehrkosten finanziert werden können, wird
derzeit ausgehandelt. Wir treten dafür ein, sie durch
Umschichtung innerhalb des EU-Haushalts zu bestrei-
ten. Wir wollen weder, dass die nationalen Haushalte
damit belastet werden, noch wollen wir eine Sonder-
finanzierung neben und außerhalb des EU-Haushalts;
solche Vorschläge der EU-Kommission lehnen wir ab.
Dass die höheren ITER-Kosten aus dem Forschungsrah-
menprogramm mitfinanziert werden, ist jedoch ebenso
wenig vorgesehen wie eine Reduzierung der Projektför-
derung durch den Europäischen Forschungsrat. Der
vorliegende Antrag ist deshalb gegenstandslos.
Seit Fertigstellung des heute debattierten Antrags voreinem Jahr hat sich beim Problem der explodierendenKosten beim Bau des Fusionsreaktors ITER nichts ver-ändert. Wir müssen mit nicht geplanten Mehrausgabenvon satten 2,7 Milliarden Euro rechnen; 1,3 Milliardenmuss der EU-Haushalt schon in den kommenden zweiJahren zusätzlich stemmen. Infolgedessen sollen alleindieses Jahr 100 Millionen Euro auf Kosten anderer For-schungsprojekte im Haushalt des 7. Forschungsrahmen-programms eingespart werden. Da der immer teurerZu Protokoll gegebene Reden
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20058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012
Dr. Petra Sitte
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werdende ITER auf Dauer den EU-Haushalt sprengt,soll er nach derzeitigem Planungsstand daraus komplettherausgenommen und ab 2014 über einen zwischen-staatlich vereinbarten Extrahaushalt finanziert werden.Ein außer Kontrolle geratenes Projekt auf diese Weiseaußerhalb der Kontrolle des EU-Parlaments zu platzie-ren, ist kein Weg, der von Zukunftsfähigkeit des Projektszeugt.Die finanziellen Rahmenbedingungen sind also an-haltend schlecht. Völlig gekippt ist inzwischen die vonAnfang an umstrittene Zweckmäßigkeit der Vision„Fusionsenergie“. Denn nach Fukushima ist selbst beieingefleischten Befürwortern der Kernenergie als Kli-maretter die Überzeugung in die Brüche gegangen, dasswir mit einem Mix aus Kohle, Öl, Kernenergie und denErneuerbaren bis 2050, 2060 oder 2070 auskommen, bisdann möglicherweise der Stern der Fusionsenergie amHorizont aufgegangen ist. Der Schock von Fukushimadrückt nun beim Ausbau und bei der Erforschung erneu-erbarer Energiequellen und Speichertechnologien deut-lich auf die Tube. Zur notwendigen Energiewende kannITER das nächste halbe Jahrhundert lang nichts beitra-gen, bindet aber immer mehr Mittel, die für andereForschung und Entwicklung fehlen. So entspricht Kern-fusion im 6. Energieforschungsprogramm der Bundes-regierung mit 0,6 Milliarden Euro für die Jahre 2011 bis2014 fast der Hälfte der gesamten Förderung der erneu-erbaren Energien. Dazu hat sogar die regierungseigeneExpertenkommission für Forschung und Innovation,EFI, in ihrem aktuellen Jahresgutachten dringend ange-mahnt, eine Diskussion über Sinn und Zweck dieser Aus-gaben zu führen.Die drohenden Versorgungsengpässe in Großregio-nen nach Abschaltung von Kernkraftwerken in Japanoder Deutschland zeigen zugleich, wie anfällig Energie-versorgung ist, wenn sie aus Großanlagen zentralisierterfolgt. Das Projekt ITER zielt im Ergebnis jedoch eben-falls auf Mammutanlagen, die an wenigen Orten die Ver-sorgung und die Preispolitik bestimmen werden.Insgesamt teilen wir die Grundkritik des SPD-Antrags an ITER, finden die Schlussfolgerungen aberäußerst inkonsequent. Angesichts begrenzter finanziel-ler Ressourcen und der Dringlichkeit der Energiewendeschlägt aus Sicht der Linken die Stunde für eine Bera-tung über den Ausstieg aus ITER.Erfreulicher sehen mit Stand von heute die Aussichtenfür die Grundlagenforschung auf europäischer Ebeneaus. Der Europäische Forschungsrat ERC fällt, andersals befürchtet, offenbar nicht dem Sparzwang wegenITER zum Opfer, da der aktuelle Entwurf für das 8. For-schungsrahmenprogramm eine Verdopplung der Mittelfür den ERC vorsieht. Da das Forschungsbudget der EUfür die sieben Jahre ab 2014 um insgesamt 46 Prozentsteigt, sind fast 100 Prozent Aufwuchs für den ERC einklares Signal für die Stärkung der wissensgetriebenenund nach dem Bottom-up-Prinzip ausgewählten For-schung.Kritisch sieht meine Fraktion aber nach wie vor, dassder Entwurf für das 8. FRP nicht auf die in Evaluationendargelegte, mehrfach ungerechte Förderpraxis des ERCeingeht. Mit keinem Wort werden Maßnahmen für dieErhöhung der geringen Erfolgsquote von Frauen er-wähnt, obwohl es beispielsweise in Deutschland mitGleichstellungsstandards bei der DFG, die Patin für denERC gestanden hat, gute Erfahrungen gibt. Immerhinwird die regional äußerst ungerechte Verteilung gese-hen.Die neuen EU-Beitrittsländer kommen beim ERC bis-lang kaum zum Zuge und begleiten die Ausweitung desERC-Budgets mit entsprechender Skepsis. Beim gestri-gen parlamentarischen Abend zum Horizont 2020, alsodem 8. Forschungsrahmenprogramm, sprach der Leiterder Generaldirektion Forschung und InnovationenSmits nunmehr davon, dass an Verfahren gearbeitetwerde, um Mitgliedsländer mit weniger entwickeltenForschungsstrukturen beim ERC ins Boot zu holen, ohnean den Exzellenzkriterien zu rütteln. Dass aber auch dieletzteren Teil des Problems sind, weil sie ein ganz enggefasstes Modell von Wissenschaftlerkarrieren prämie-ren, hatte sogar die anwesende Wissenschaftlerin be-mängelt, der es selbst schließlich gelungen ist, eines derbegehrten Forschungsstipendien des ERC zu bekom-men. Der ERC kann also durchaus weiter von untennach oben im Sinne des Bottom-up-Prinzips verbessertwerden.
Letzte Woche war ich anlässlich des Jahrestages derReaktorkatastrophe von Fukushima in Japan unterwegs.Die Eindrücke dieser Reise und die Gespräche mit denMenschen vor Ort haben mich einmal mehr in meinerÜberzeugung bestärkt, dass atomare Technologien derVergangenheit angehören müssen und die Zukunft derEnergieversorgung in den erneuerbaren Energien, inmehr Energieeffizienz und größerer Energieeinsparungliegt. Der beschlossene Atomausstieg ist dabei ein wich-tiger Schritt.Diese Entwicklung sollte sich allerdings auch in derenergie- und forschungspolitischen Ausrichtung derBundesregierung widerspiegeln. Das Gegenteil könnenwir derzeit beobachten. Die schwarz-gelbe Bundes-regierung fährt mit der geplanten Kürzung der Solarför-derung die Energiewende gegen die Wand und unter-stützt stattdessen weiterhin das Milliardengrab ITER.Dieses Projekt wird keine Lösung für die Energie-probleme der Zukunft bieten.Denn selbst wenn das sehr optimistische Ziel, im Jahr2050 mit dem Fusionsreaktor mehr Energie zu produzie-ren als zu verbrauchen, erreicht werden könnte, gehtdieses Ansinnen am Prinzip der Nachhaltigkeit völligvorbei. Bis 2050 müssen es die Industrienationengeschafft haben, mit einem wesentlich geringeren Ener-giebedarf auszukommen und ihre Energieproduktion auf100 Prozent Erneuerbare umzustellen. Nur so könnenwir den Erhalt einer für alle lebenswerten Erde errei-chen. 2050 brauchen wir keine Massen von teuer pro-duzierter Energie mehr, die Erneuerbaren werdenunschlagbar billig sein.Die ständig steigenden Ausgaben, die für den Kern-fusionsreaktor anfallen, begrenzen die notwendigen In-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20059
Sylvia Kotting-Uhl
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vestitionen für erneuerbare Energien und Effizienz. Indiesen Bereichen müssen viel mehr Forschungsmittelaufgewendet werden, denn dort können sie bereits kurz-fristig einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele undder Energieversorgungssicherheit leisten.Die Baukosten für ITER explodieren und werdenheute auf insgesamt 16 Milliarden Euro geschätzt. Dereuropäische Beitrag wird sich von ursprünglich 2,7 Mil-liarden Euro auf 7,2 Milliarden Euro verdreifachen,wobei der vom Rat vorgesehene Kostendeckel von6,6 Milliarden Euro nicht zu halten sein wird. Allein2012 und 2013 müssen Ausgaben in Höhe von 1,3 Mil-liarden Euro aus dem jeweiligen EU-Haushalt bestrittenwerden, Geld, das die Haushalte der EU-Mitgliedstaa-ten in schwierigen Zeiten sinnlos belastet und in anderenForschungsbereichen sinnvoller ausgegeben werdenkönnte.Da hilft es auch nicht, wenn das Europäische Parla-ment mit immer neuen Kompromissen und Umschichtun-gen weitere Finanzierungsmöglichkeiten auf den Wegbringt oder die EU-Kommission ab 2014 wegen derGrößenordnung des ITER-Projekts und potenziellenKostenüberschreitungen eine Finanzierung über einenzwischenstaatlichen Fonds außerhalb des mehrjährigenFinanzrahmens anstrebt. Diese vermeintliche Lösungzur Finanzierung von ITER ist eine Mogelpackung, denndas Problem wird nur verlagert. Das haben jetzt sowohlder EU- als auch der Finanzausschuss erkannt und demBundesrat empfohlen, in seiner Entschließung zur Ände-rung des Euratom-Vertrags Bedenken gegen dieses Vor-gehen anzumelden.Um die europäische Forschung und ihren Beitrag zurEnergiewende nicht weiter zu bremsen, brauchen wireine klare Position, die den Ausstieg aus dem ProjektITER einfordert. Die Unterstützung der Bundesregie-rung für ITER ist ein energie- und forschungspolitischesVersagen auf ganzer Linie. Noch ist es jedoch nicht zuspät, den Großteil der immensen Baukosten sinnvollerzu investieren. Dieses aus Steuergeldern finanzierteFass ohne Boden gehört versenkt und die frei werdendenMittel in Forschungsvorhaben in den Bereichen Erneu-erbare, Effizienz und Energieeinsparungen investiert.Der EU-Energiekommissar und Handlanger der Atom-lobby Günter Oettinger sollte seine Lektionen endlichlernen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9025, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3483 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der Fraktion der SPD bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die gute Zusam-
menarbeit bei den letzten Tagesordnungspunkten.
Ich berufe den Deutschen Bundestag zur gemeinsa-
men Sitzung mit dem Bundesrat anlässlich der Vereidi-
gung des Herrn Bundespräsidenten auf morgen, Freitag,
den 23. März 2012, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.