Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle ganz besonders herzlich.
– Alle, ausnahmslos, selbstverständlich. Wir können jaeinmal sehen, ob es noch Anlässe für besonders ausge-suchte Begrüßungen gibt.Jedenfalls müssen wir vor Eintritt in die Tagesord-nung noch eine Wahl durchführen, weil der KollegeKorte aus dem Kuratorium der „Stiftung Archiv derParteien und Massenorganisationen der DDR“ aus-scheidet. Auf Vorschlag der Fraktion Die Linke soll alsneues ordentliches Mitglied der Kollege Stefan Liebichberufen werden. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu? –Das ist der Fall. Dann ist der Kollege in das Kuratoriumder Stiftung gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPDTarifeinheit sicherstellen – Tarifzersplitterungvermeiden
ZP 2 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWahl der vom Deutschen Bundestag zu benen-nenden Mitglieder des Deutschen Ethikratsgemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes– Drucksache 17/8881 –ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKEZivilcourage gegen Nazis stärkenVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Ich mache wie immer auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der am 1. März 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Arbeit und Soziales zur Mit-beratung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Hochqualifizierten-Richtlinie derEuropäischen Union– Drucksache 17/8682 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesSind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offen-sichtlich so. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis f:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDorothee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Miriam Gruß, NicoleBracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPGeschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf– Drucksache 17/8879 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichberechtigung in Entwicklungsländernvoranbringen– Drucksache 17/8903 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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c) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAngelika Graf , Wolfgang Gunkel,Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPDAnerkennung und Wiedergutmachung desLeids der „Trostfrauen“– Drucksache 17/8789 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendd) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFrauen verdienen mehr – Entgeltdiskriminie-rung von Frauen verhindern– Drucksache 17/8897 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugende) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungErster GleichstellungsberichtNeue Wege – Gleiche ChancenGleichstellung von Frauen und Männern imLebensverlauf– Drucksache 17/6240 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Gesundheitf) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring,Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion DIE LINKEGeschlechtergerechte Besetzung von Füh-rungspositionen der Wirtschaft– Drucksachen 17/4842, 17/8830 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Stephan HarbarthElisabeth Winkelmeier-BeckerDr. Eva HöglMarco BuschmannJens PetermannIngrid HönlingerNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Bundesministerin Dr. Kristina Schröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasvergangene Jahr war in mehrfacher Hinsicht ein wichti-ges Jahr für Frauen. In Deutschland ging es dabei vor al-len Dingen um die Frage, wie wir mehr Frauen Chancenauf Führungspositionen eröffnen können. Wir haben hartum den besten Weg gerungen, und wir werden auch wei-terhin darum ringen. Ich denke, die unterschiedlichenPositionen dabei sind klar; da müssen und da werden wirauch nicht drum herumreden.Wir können heute wieder vor allen Dingen darüber re-den, was alles nicht geht. Besser wäre es, in den Mittel-punkt zu stellen, was möglich ist.
Und da stellen wir fest: Allein durch die Debatten, diewir, auch in diesem Parlament, immer wieder geführt ha-ben, ist in den Unternehmen eine Menge in Bewegunggekommen.
Wenn ich mit den Personalvorständen der DAX 30spreche, dann sagen die mir etwa, dass ihr Wort heute in-nerhalb des Unternehmens ein ganz anderes Gewicht hatals noch vor wenigen Jahren. Vor kurzem wurden sienoch belächelt, wenn sie zum Thema Frauenförderunggesprochen haben. Heute werden die Personalvorständeum Strategien gebeten.Die Flexiquoten für alle Führungsebenen unter demVorstand, die durch die DAX 30 im Jahr 2011 eingeführtwurden, waren ein wichtiger Schritt in Richtung faireChancen. Leider haben diesen Fortschritt nur wenige ge-würdigt. Viele haben sich über die Zielmarken sogar lus-tig gemacht. Damit sind sie genau denjenigen in den Rü-cken gefallen, die in den Unternehmen den Wandelgestalten.
Dabei ist es doch viel schwieriger, den Frauenanteil inallen Führungsebenen auf 25 Prozent zu erhöhen alszum Beispiel nur im Vorstand, der vielleicht nur vierKöpfe umfasst. 25 Prozent von 500 hilft mehr Frauen als25 Prozent von 4.
Deshalb sage ich: Wir dürfen hier keine reine Elitendis-kussion führen, sondern es geht um faire Chancen füralle Frauen in Führungspositionen.Meine Damen und Herren, ein wichtiges Jahr fürFrauen war das vergangene Jahr aber auch außerhalbDeutschlands. Vor gut einem Jahr begann in Tunesiendas, was wir heute arabischer Frühling nennen. Fastüberall kämpfen Frauen in vorderster Reihe für Freiheit,Teilhabe und Demokratie.
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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– Wenn Sie das erheiternd finden, finde ich das interes-sant. – Sie riefen über Facebook und Twitter zu Demon-strationen auf. Sie prangerten in ihren Blogs gesell-schaftliche Missstände an. Sie gingen genauso wieMänner für ihre Rechte auf die Straße. Sie ließen sichnicht einschüchtern von Gewalt und Terror. Sie spürten,dass es auf ihre Kraft ankommt im Ringen um gesell-schaftlichen Fortschritt.Ich war deshalb gestern anlässlich des Weltfrauenta-ges gemeinsam mit Abgeordneten in Tunesien. Wir wa-ren in Tunesien, um uns selbst ein Bild von den Entwick-lungen zu machen; denn ich bin überzeugt: Wenn Frauenin der arabischen Welt es schaffen, ihre Rechte durchzu-setzen, dann ist das ein Signal für Frauen in der ganzenWelt.
Der letzte Friedensnobelpreis ging an drei Frauen, diein ihren Ländern die Gesellschaft verändert haben. Das-selbe Selbstbewusstsein, dieselbe Kraft habe ich gesternin Tunesien gespürt. Wir haben aber auch Skepsis undÄngste gespürt, das Gewonnene wieder zu verlierenoder sogar einen Rückschritt zu erleben.
– Es spricht für sich, wie Sie darauf reagieren, meine Da-men und Herren.
Ich habe mit Präsident Marzouki gesprochen, der we-gen seines Engagements für Freiheitsrechte jahrelang imExil lebte. Ich habe mit weiblichen Mitgliedern der ver-fassunggebenden Versammlung gesprochen, die hart da-rum ringen, ob die Scharia tragender Teil der Verfassungwird. Ich habe mit Frauenrechtlerinnen gesprochen, dieseit den 80er-Jahren fordern, dass Frauenrechte vorbe-haltlos gelten. Und ich habe jungen Bloggerinnen zuge-hört. Diese jungen Frauen haben mit ihren Tastatureneine Diktatur erschüttert und sturmreif geschrieben. Jetztwollen diese Frauen ihr Land mit gleichen Rechten undguten Chancen in einer freien Demokratie aufbauen.Diese Frage stellt sich in vielen Ländern, gerade aucham Internationalen Frauentag. Deutschland steht hinterall den Frauen in der Welt, die sich in ihren Ländern fürGleichberechtigung, für Demokratie und für Menschen-rechte einsetzen.
Auch in Deutschland ist Gleichberechtigung derFrauen noch nicht überall verwirklicht, obwohl sie seitüber 60 Jahren im Grundgesetz steht. Doch ihre Veran-kerung im Grundgesetz hat es ermöglicht, über Jahr-zehnte hinweg kontinuierlich an ihrer Verwirklichung zuarbeiten. Ohne dieses permanente Ringen um Gleichbe-rechtigung wäre es um Wohlstand, um Zusammenhalt,um Demokratie in unserer Gesellschaft sicherlich sehrviel schlechter bestellt.Ich denke, die Botschaft, die am heutigen Internatio-nalen Frauentag von Deutschland ausgehen sollte, lautet:kein gesellschaftlicher Fortschritt ohne faire Chancen fürMänner und Frauen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Ziegler für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Das war’s also von unserer Frauen-ministerin!
– Unser Fraktionsvorsitzender ist hier im Raum.
Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir Gleichstel-lungspolitikerinnen hier im Deutschen Bundestag eben-falls über dieses Thema, nämlich den InternationalenFrauentag, diskutiert. Damals war es der 100. Frauentag,den wir hier im Plenum gewürdigt haben – über alleFraktionsgrenzen hinweg. Wir alle waren uns einig: Wirmüssen Frauenrechte auch heute noch erkämpfen – alsoim Gegensatz zur Ministerin, die das nicht tut –, weil sieuns nicht in den Schoß fallen.Was hat sich denn in dem einen Jahr getan? Nichts!Die Bundesregierung hat das wichtige Feld der Gleich-stellungspolitik völlig brachliegen lassen. Wir sind voneiner Gesellschaft, in der Frauen und Männer die glei-chen Verwirklichungschancen haben, ebenso weit ent-fernt wie 2011. Die Probleme kennen wir alle. DerGleichstellungsbericht, auf den sich die Ministerin ei-
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Dagmar Ziegler
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genartigerweise überhaupt nicht bezogen hat, der aberGrundlage der heutigen aktuellen Debatte ist,
führt uns diese Defizite kompakt und schmerzlich vorAugen. Die Rahmenbedingungen für Frauen stimmennicht, und das gilt für alle Bereiche.„Menschen müssen essen, aber Frauen deshalb nichtkochen“, hat einmal eine feministische Journalistin ge-sagt.
Das lässt sich beliebig fortsetzen: Familien müssen bes-ser finanziell unterstützt werden, aber Frauen deshalbnicht von Erwerbsarbeit ferngehalten werden.
Männer müssen gerechten Lohn bekommen, aber Frauendeshalb nicht mit Niedriglöhnen und Minijobs abge-speist werden.
Unternehmen müssen rentabel arbeiten, aber Frauen des-halb nicht systematisch von Führungsfunktionen abge-halten werden.
Frauen sind in Deutschland strukturell benachteiligt.Das Unbehagen darüber wächst aber – unter uns Abge-ordneten hier im Bundestag, aber auch in weiten Teilender Gesellschaft. Es vergeht mittlerweile kaum eine Wo-che, in der nicht ein gleichstellungspolitisches Themadie Schlagzeilen bestimmt:Am 26. Februar hatten 250 Journalistinnen ihre meistmännlichen Chefs mit der Forderung nach einer Frauen-quote für Führungsfunktionen in Verlagen und Redaktio-nen konfrontiert.Am 1. März hat das Gremium, das die Bundeskanzle-rin in Sachen Forschung und Innovation berät, die Ab-schaffung des Ehegattensplittings und den Verzicht aufdas Betreuungsgeld angemahnt.
Am 5. März hat die EU-Kommissarin Viviane Redingeine EU-weite Frauenquote in Aussicht gestellt, weilFreiwilligkeit nichts oder so gut wie nichts gebracht hat.
Die einen sehen den Innovationsstandort Deutschlandin Gefahr, wenn Fachkräfte fehlen. Sie wollen deshalbden Schatz heben, den die vielen Millionen Frauen dar-stellen, die trotz vielfach guter Ausbildung nicht odernicht in vollem Umfang erwerbstätig sind. Die anderenwollen endlich das Versprechen unserer Demokratie aufgleiche Lebenschancen unabhängig vom Geschlecht ein-lösen. Die Motive mögen also unterschiedlich sein; einigsind sich aber fast alle über den Weg: Wir brauchen eineaktive staatliche Gleichstellungspolitik. Wir brauchengesetzliche Lösungen.
Nur die Bundesregierung sieht das nicht. Es ist wie imMärchen von Frau Holle: Gesetzliche Regelungen hän-gen wie eine überreife Frucht am Baum und rufen unse-rer Ministerin Schröder zu: „Ach, schüttel mich, ach,schüttel mich, wir sind lange überfällig!“ Doch unsereMinisterin verschließt Augen und Ohren und geht belei-digt am Baum vorbei.
Schlimm ist, dass Sie diesen Realitätsverlust mit fata-len politischen Fehlentscheidungen kombinieren. Sielassen nicht vom Betreuungsgeld, obwohl alle Stimmenvehement vor diesem Instrument warnen.
Statt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, willMinisterin von der Leyen den Irrweg Minijobs sogarnoch ausweiten.
Die Bundeskanzlerin schaut dem Treiben desinteressiertzu. Sie lässt sich viel lieber in Europa hofieren, als zuHause die Kärrnerarbeit zu machen.
Meine Fraktion hat die Kärrnerarbeit gemacht. Wirhaben überzeugende und umsetzbare Konzepte entwi-ckelt. Wir haben Antworten, um beim KitaausbauTempo zu machen. Wir stehen für einen gesetzlichenMindestlohn von mindestens 8,50 Euro. Wir haben In-strumente entwickelt, mit denen in Betrieben gleicheLöhne von Frauen und Männern verwirklicht werdenkönnen – gesetzlich und verbindlich. Und morgen wer-den wir hier einen Gesetzentwurf für eine 40-Prozent-Quote in Aufsichtsräten und Vorständen debattieren.
Ich könnte Ihnen, Frau Ministerin, jetzt zurufen: Grei-fen Sie doch unsere Konzepte einfach auf und setzen Siesie um!
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Dagmar Ziegler
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Wir alle wissen: Das werden Sie nicht tun. Ihnen, FrauMinisterin, könnte ich auch zurufen: Machen Sie dochendlich Ihre Hausaufgaben! – Aber auch das werden Sienicht tun. Ich glaube, selbst die Kolleginnen und Kolle-gen aus der Koalition erwarten nicht wirklich, dass Siesich noch in eine feurige Frauenrechtlerin und patentePolitikerin verwandeln könnten.Ich will aber Ihnen, den Parlamentarierinnen und Par-lamentariern, etwas zurufen: Lassen Sie uns über Frak-tionsgrenzen hinweg das Gemeinsame betonen! Einigsind wir uns doch darin, dass wir eine gesetzliche Quotefür Frauen in Führungspositionen brauchen – und ebennoch in diesem Jahr; denn im Jahr 2013 werden vieleAufsichtsräte neu gewählt.
Parlamentarierinnen haben doch schon in der Vergan-genheit die eine oder andere gesetzliche Regelung, diefür Frauen einen Fortschritt gebracht hat, gemeinsamund solidarisch erzielt. Und daran waren jeweils auchviele Männer beteiligt. Das war bei den Regelungen zumSchwangerschaftsabbruch, dem Rechtsanspruch auf ei-nen Kindergartenplatz im Jahr 1992 und dem Verbot vonVergewaltigungen in der Ehe, das seit 1997 gilt, der Fall.Lassen Sie uns solche Beispiele zum Vorbild nehmen!Lassen Sie uns für eine gesetzliche Quote gemeinsamMehrheiten im Deutschen Bundestag gewinnen! LassenSie uns gemeinsam ein weiteres Frauenrecht erkämpfen!Die Zeit läuft.
Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin Bracht-
Bendt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Mit-telpunkt unseres Antrages heute zum InternationalenFrauentag steht Geschlechtergerechtigkeit im Lebens-verlauf.
Das klingt etwas sperrig. Der Begriff spiegelt aber genaudas wider, wo es in der Lebenswirklichkeit heute hakt.Deshalb legt die christlich-liberale Koalition mit demvorliegenden Antrag bewusst den Finger in die Wunde.
Gleichstellungspolitik ist für uns Lebensverlaufspolitik,das heißt, dass wir als Koalition auf die Veränderungenwesentlicher institutioneller und soziokultureller Rah-menbedingungen mit klaren Konzepten reagieren wol-len.
– Frau Humme, Sie haben vielleicht auch noch die Mög-lichkeit, etwas zu sagen.Die Zeiten der Einverdienerfamilie, in denen derMann das Geld verdient und die Frau Hausfrau und Mut-ter ist, sind bekanntlich vorbei. Ob Bankkauffrau, Jour-nalistin oder Wissenschaftlerin: Nur noch selten hängenFrauen heute ihren Beruf an den Nagel, um sich aus-schließlich um Familie und Haushalt zu kümmern. Da-bei geht es keineswegs immer um den Wunsch nach be-ruflicher Karriere und Selbstverwirklichung. Häufigreicht ein einziges Gehalt gar nicht aus, um über dieRunden zu kommen.Moderne Gleichstellungspolitik muss heute eine Ant-wort geben auf die vielfältigen Lebensverläufe vonFrauen und Männern. Phasen des Lebens in einer Part-nerschaft, des Alleinerziehens oder der Arbeitslosigkeitkönnen sich abwechseln. Frauen entscheiden sich in derFamilienphase häufig dafür, Teilzeit zu arbeiten. Kurz-fristig ist das die Chance, um den Spagat zwischen Fa-milie mit kleinen Kindern und Beruf hinzubekommen.Jungen Frauen muss aber klar sein, dass dies keine Dau-erlösung sein sollte, um später nicht in Altersarmut ab-zurutschen.Dabei muss berücksichtigt werden, dass der oder dieEinzelne nicht unbedingt immer freiwillig die Weichenfür einen anderen Lebensverlauf neu stellt. Der Verlustdes Arbeitsplatzes und die berufliche Neuorientierungkönnen das Leben ziemlich durcheinanderbringen – oderwenn der Ehepartner krank wird und zu Hause gepflegtwerden muss oder die an Demenz erkrankte Mutter.Was die Situation von pflegenden Angehörigen be-trifft, hat die Koalition mit dem neuen Familienpflege-zeitgesetz ja schon einen wichtigen Meilenstein gesetzt.Sie können nun im Beruf kürzer treten, um für krankeAngehörige da zu sein, ohne ganz ohne Einkommen da-zustehen und ohne später in Altersarmut abzurutschen.Dieses Gesetz ist ein wichtiger erster Schritt auf demWeg zu Geschlechtergerechtigkeit. Unser Wunsch ist,dass nicht mehr vor allem Frauen, sondern auch mehrMänner als bisher Verantwortung in der Pflege überneh-men.
Aber es gibt noch mehr zu tun. Deshalb bin ich frohüber die aufschlussreichen Erkenntnisse des ErstenGleichstellungsberichtes, der die Grundlage für unserenAntrag bildet. Darin heißt es
– hören Sie bitte mal zu –: Um Geschlechtergerechtig-keit zu erreichen, müssen zunächst die Ursachen, die fürdie Schieflagen verantwortlich sind, gezielt benanntwerden. Dazu gehört, dass Kinder kein Karrierehinder-nis sein dürfen. Es ist kein Geheimnis: Immer noch ver-zichten gut ausgebildete Frauen auf ihre Karriere, weil
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Nicole Bracht-Bendt
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es keine zuverlässige und vor allem keine auf ihre Be-dürfnisse zugeschnittene Kinderbetreuung gibt.
Die Bundesregierung hat mit dem Rechtsanspruch aufeinen Kitaplatz für unter Dreijährige einen wichtigenBeitrag geleistet. Jetzt sind die Länder und die Kommu-nen in der Pflicht, ebenso die Unternehmen. BerufstätigeEltern wünschen sich in ihrem Beruf mehr Freiräumeund flexiblere Arbeitszeiten – mehr Zeitsouveränität,wie wir das im Antrag nennen.
Ich bin sicher, dass deutlich mehr Frauen leitendePositionen wahrnehmen könnten und würden, wenn sichVäter mehr Zeit für die Familie nehmen würden. Lautden Aussagen von jungen Männern wollen sie das auch.Eine Veränderung ist also festzustellen. Es hakt abernoch an einigen Stellen. Zwar ist es ein gutes Signal,dass 25 Prozent der Väter Elternzeit in Anspruch neh-men, aber es besteht weiterhin Nachholbedarf, an derAkzeptanz in Beruf und Gesellschaft zu arbeiten. Da-rüber sind wir uns ja einig. Dass Väter mehr Zeit zuHause bei der Familie haben, scheitert aber teilweise da-ran, dass sich eine Familie das schlicht nicht leistenkann, weil das Gehalt der Mutter nicht ausreicht, umüber die Runden zu kommen. Deshalb besteht Hand-lungsbedarf bei der Entgeltgleichheit. Dabei setzen wirauf Transparenz und Eigeninitiative, und nicht wie Sievon der Opposition auf staatliche Bevormundung.
Noch ein Stichwort: Präsenzkultur. Unsere skandina-vischen Nachbarn machen es uns vor. In Norwegen undSchweden ist es nichts Besonderes, wenn der leitendeMitarbeiter am Nachmittag seine Kinder von der Kitaabholt. Ziel liberaler Politik ist die Chancengesellschaftmit Wahlfreiheit. Hören Sie gut zu! Der Gleichstellungs-bericht bestätigt einmal mehr, dass Chancen und Risikenimmer noch ungleich auf die Geschlechter verteilt sind.Berufliche Verwirklichungschancen nehmen immernoch in erster Linie Männer wahr, während Pflegeaufga-ben weiterhin meistens von Frauen geleistet werden.Hier liegt in unserer Gesellschaft noch einiges im Argen.
Denn eine Chancengesellschaft – und die streben wir an –basiert auf Respekt und Anerkennung für die Leistung inder Familie, und nicht nur für Erfolge im Beruf.Meine Damen und Herren, der Gleichstellungsberichtthematisiert, wie Frauen und Männer in eine nachteiligeSituation geraten, und zeigt Wege, wie sie wiederherauskommen. Das unterstützen wir. Ein besonderesAugenmerk richte ich dabei auf die Ursachen der Ent-geltunterschiede zwischen Männern und Frauen. Ge-haltsunterschiede bei gleicher Qualifikation aufgrunddes Geschlechts sind aus liberaler Sicht in keiner Weisehinnehmbar.
Gleichstellung heißt für mich aber auch, Jungen undMädchen zu motivieren, bei der Berufswahl neue Wegezu gehen. Wenn es uns gelingt, mehr Mädchen für tech-nische Berufe zu begeistern und mehr Jungen für sozialeBerufe wie zum Beispiel Erzieher, dann kommen wirdem Ziel einer geschlechtergerechten Gesellschaft ent-schieden näher.Ganz herzlichen Dank.
Die Kollegin Yvonne Ploetz erhält nun das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Den Internationalen Frauentag, Herr Präsident, liebeKolleginnen und Kollegen, feiern wir heute zum101. Mal. In meiner Fraktion sind heute nur Frauen an-wesend. Wir sind die erste reine Frauenfraktion in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Damit wollen wir heute ein starkes Zeichen dafür setzen,dass wir Frauen die Männerdomänen – nicht nur in derPolitik – ganz problemlos meistern.
Die Männer der Linksfraktion machen heute ein Ta-gespraktikum, und zwar in einem sogenannten typischenFrauenberuf.
Sie werden das würdigen, was Frauen in DeutschlandTag für Tag leisten.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sorgt für Tu-mult. Ich will Ihnen aber sagen: Bei der Emanzipationmüssen alle mit, Frauen wie Männer.
Leider ist das noch nicht bei allen angekommen. Sicher-lich kennen auch Sie sehr wenige Kfz-Mechanikerinnenoder Lufthansa-Managerinnen. Dafür gibt es vieleschlechte Gründe, zum Beispiel altbackene Unterneh-menskulturen oder die traditionellen Geschlechter- undBerufsbilder. Sie aufzubrechen, genau darum muss esuns gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Yvonne Ploetz
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Damit sind wir auch bei der Debatte, die derzeit dieFrauenpolitik bestimmt, nämlich die mittlerweile durch-aus salonfähig gewordene Forderung nach einer Frauen-quote in Führungsetagen. Da wurde Berlin in dieser Wo-che von Brüssel überholt: EU-Justizkommissarin Redinghat angekündigt, dass es eine EU-weite Regelung zu ei-ner verbindlichen Frauenquote geben soll. Sie hat genauzur richtigen Zeit ein Signal gesendet, nämlich einen Tagnachdem die FDP in einem Zwergenaufstand
Familienministerin Schröder umgepustet hat und dieFlexiquote in Ablage P wie Phrasen abgelegt wurde. Ichweiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich peinlicher findensoll: diese bisslose Flexiquote oder das kampflose Ein-knicken der Frauenministerin in Frauenfragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, 2012 istes an der Zeit, dass Old-Boys-Networks und Business-machos nicht mehr einen Notausknopf in den Fahrstüh-len drücken können, in denen Frauen in die Führungseta-gen fahren;
ihr Aufstieg muss eine Selbstverständlichkeit sein. So-lange das nicht so ist, lassen wir uns in unserer Forde-rung nach einer 50-Prozent-Quote nicht beirren.
Für viele Frauen ist Aufstieg aber wirklich noch einereine Utopie. Sie haben ganz andere, viel existenziellereProbleme. Da ist zum Beispiel Katharina L. aus Mün-chen. Sie ist Altenpflegerin, und das seit Jahren. Sie trägteine enorme Verantwortung für die Menschen, die siepflegt, und leistet körperliche Schwerstarbeit. Trotzdemist die Wertschätzung für ihre Arbeit nicht sonderlichhoch. Sie hat keinerlei Aufstiegschancen, und sie ver-dient rund 1 000 Euro weniger als zum Beispiel ein Ma-schinenbauer. Mir kann wirklich niemand erklären, wo-her dieser Lohnunterschied kommen soll.
Deshalb fordern wir, die Linke, wie es so schön in Kölnheißt: Mehr Cash in de Frauentäsch!
Wir fordern, dass Frauen wie Katharina endlich in denFokus der frauenpolitischen Debatte in Deutschlandkommen.
Genau deshalb lenken unsere Männer heute die Auf-merksamkeit gezielt dahin. Gregor Gysi ist beispiels-weise in einer Kita, Uli Maurer beim Friseur,
und Steffen Bockhahn putzt in Rostock.
Ich wette, sie werden dort enorm gute Arbeit leisten underfahren, mit welchen Problemen die Friseurin, die Rei-nigungsfrau, die Erzieherin und viele andere zu kämpfenhaben.Es ist doch so: Frauen regeln den Haushalt, erziehendie Kinder, unterstützen den Partner und versorgen dieEltern. Sie leiten das berühmte kleine Familienunterneh-men. Sie geben richtig viel und bekommen richtig wenigzurück. Ich glaube, damit muss heute endlich Schlusssein.
Da halte ich es mit einer ganz mutigen Feministin ausdem Saarland, Marlies Krämer, die für die Frauen denMännern sagt:Wir wollen die Hälfte derbezahlten Arbeit und MachtWir geben dafür die Hälfteder unbezahlten Hausarbeit
Wie sieht es denn auf dem Arbeitsmarkt aus? Die Er-werbsquote von Frauen ist gestiegen, aber hauptsächlichdurch die Zunahme von Teilzeitarbeit, und das, obwohlein Großteil der Teilzeitarbeitnehmerinnen viel lieberVollzeit arbeiten würde. Die Aussage des Geschäftsfüh-rers des Handelsverbands Deutschland am letzten Frau-entag, die Frauen wollten solche prekären Beschäftigun-gen, finde ich überhaupt nicht nachvollziehbar.
Es ist doch erwiesen: Junge Frauen machen die besse-ren Abschlüsse, leisten aber den Löwenanteil an denrichtig schlecht bezahlten Minijobs. Akademikerinnenscheint es im Sonderangebot zu geben. Alleinerziehendestehen oftmals wirklich ganz allein da und haben richtigAngst vor Armut und Prekarität, und zwar für Mutterund Kind. Um hier zu helfen, wäre doch eines ganzwichtig: eine gut ausgebaute Infrastruktur in der Kinder-betreuung. In Dänemark werden 64 Prozent der unterdreijährigen Kinder ganztags betreut. Nur so geht dochdie Gleichung von Beruf und Familie wirklich für jedenund jede auf.
Will man das gesamte Knäuel, das es an Problemengibt, entwirren, dann gibt es dafür sogar einen Leitfaden.Das ist das Sachverständigengutachten für den ErstenGleichstellungsbericht der Bundesregierung. Darin sinddie Herausforderungen Punkt für Punkt aufgelistet. Umnur einige Beispiele zu nennen: Sie müssen dafür sor-gen, dass Pflege- oder Erziehungszeiten anerkannt wer-den, dass Niedriglohnfallen endlich beseitigt werden,dass der Mindestlohn eingeführt wird, dass das Ehegat-tensplitting abgeschafft wird und dass mit einem Ent-geltgleichheitsgesetz mit dem katastrophalen Lohnunter-schied zwischen Männern und Frauen endlich Schluss
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19524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Yvonne Ploetz
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gemacht wird. Sie müssen doch nur Ihr eigenes Gutach-ten lesen und umsetzen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. – Für all das möchten wir
heute als Fraktion ein Zeichen setzen. Liebe Kolleginnen,
liebe Frauen, nach 101 Jahren ist viel erreicht. Doch es
gibt noch viel zu tun. Deshalb frei nach Astrid Lindgren:
Lasst euch nicht unterkriegen! Seid frech und wild und
wunderbar!
Vielen Dank.
Renate Künast ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Erst hatte ich gedacht, ichkönnte sofort zu der doch bemerkenswert schlechtenRede der Ministerin Stellung nehmen.
Aber nun muss ich mich vorher noch mit einigen Wortenan Sie wenden, Frau Ploetz.
Ihre Rede empfinde ich als Frau – das empfinden sogardie Männer; das gilt zumindest für die in unserer Frak-tion – als eine ganz tolle Vorführung zum 101. Frauen-tag. Jetzt wissen wir, dass Ulrich Maurer heute endlichdazu kommt, zum Friseur zu gehen. Das ist auch logisch,weil es bei Gysi keinen Sinn machen würde. Aber washat das mit dem Frauentag zu tun? Ich verstehe es nicht.
Wir haben ein Schaltjahr. Das hat 366 Tage. Vielleichtkönnten die Jungs ihr Praktikum an irgendeinem anderender 365 Tage machen – notfalls auch am Wochenende;da haben wir nämlich keine Sitzung.
Nun zur Rede der Ministerin. Wenn ich so richtig ge-mein wäre, würde ich aus meinem Herzen keine Mörder-grube machen, Frau Schröder, und sagen: Die Rede warso beachtenswert, dass sie unbedingt ins Archiv vonAlice Schwarzer, in den FrauenMediaTurm, gehört.
Dieses Archiv wird aber nur von wenigen Besucherin-nen pro Jahr aufgesucht, sodass es schade wäre. Es soll-ten doch mehr Frauen und auch mehr Männer, die sichfür Gleichstellung interessieren, von dieser Rede wissen.Sie haben hier in aller Ruhe vorgetragen, welches dieSorgen der Frauen auf dem Globus sind und welchenFreiheitskampf sie führen. Wir wissen das. Ich habe zumBeispiel zuletzt Frau Tawakkul Karmann aus dem Jemen,eine der drei – nicht zwei – Nobelpreisträgerinnen, ge-troffen. Wissen Sie, was sie sagte? Sie sagte: Wir brau-chen eure ganz konkrete Unterstützung. Frau Schröder,ich habe kein einziges Wort von konkreter Unterstützungfür diese Kämpferin gehört.
Sie haben geschrieben, dass Sie den tunesischen Präsi-denten, vor dem auch ich Respekt habe, getroffen haben.Aber wo war das Programm?Man könnte viel dazu sagen, wie viel Unterstützungdiese Frauen brauchen. Es gibt Arbeitssklavinnen. Esgibt Genitalverstümmelung. Es gibt Frauen, die deswe-gen Unterstützung brauchen, weil nach einer Revolutionund Umwälzungen letztendlich doch wieder nur dieMänner die entsprechenden Positionen übernehmen.Kein Wort zu irgendeinem Programm! Deshalb war dieRede dürftig.
Im Übrigen gibt es Arbeitssklavinnen auch hier inDeutschland und in Europa. Sie gab es sogar in Bot-schaften in Berlin. Es gibt auch hier in DeutschlandGenitalverstümmelung. Kein Wort von Ihnen dazu! Des-halb war das nicht die Rede, die die Frauen dieses Lan-des erwartet und verdient haben.
Es ist der 101. Frauentag – es ist das Jahr 2012, wirsind im 21. Jahrhundert –, und wir reden immer nochdarüber, dass Frauen, die erwerbstätig sein wollen undmüssen, keine Kindergartenplätze finden. Wir redenimmer noch über die Frage, wie Frauen in Führungseta-gen kommen; denn das ist unser gutes Recht. Wir redenimmer noch darüber, dass Frauen für gleiche Arbeitweniger Gehalt bekommen.Wenn wir in diesem Land unterwegs sind, begegnenuns in allen Gehaltsgruppen beeindruckende Frauen, dietrotz schlechter Infrastruktur ihre Frau stehen und ihrenAlltag meistern. Denen können und müssen wir heuteangesichts der Lage in Deutschland unseren Respektaussprechen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19525
Renate Künast
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Auch in der Wissenschaft arbeiten viele Frauen. Wis-senschaftliche Mitarbeiterinnen und Juniorprofessorin-nen bekommen teilweise nur befristete Verträge, sie wer-den schlecht bezahlt, und es gibt kein ausreichendesBetreuungsangebot für ihre Kinder, obwohl sie sich ineiner Lebensphase befinden, in der sie Kinder haben, diebetreut werden müssen. Auch bei alleinerziehenden Leh-rerinnen mit einer halben Stelle reicht das Gehalt nicht.Hinzu kommt, dass das Angebot der Kindergärten sehrschlecht ist. Sie haben große Schwierigkeiten, ihren All-tag zeitlich zu organisieren, und müssen durch dieGegend hetzen. Es gibt Friseurinnen, die sagen: Ichwürde den Job ja gerne machen, aber von 5 Euro dieStunde kann ich nicht leben.Selbst Frauen in Spitzenpositionen in der Wirtschaftmüssen sich in unserem Land, wenn sie sich für einenAufstieg bewerben, immer wieder die Frage anhören:Können Sie das überhaupt? – Im Jahr 2012 ist das einunhaltbarer Zustand in Deutschland.
Deshalb freue ich mich, dass Frauen auch aus diesemHaus parteiübergreifend die Berliner Erklärung formu-liert haben. Ich wünsche mir, dass möglichst vieleFrauen und auch Männer diese Erklärung unterschrei-ben.
Ich habe mich, ehrlich gesagt, sogar mehr gefreut, alsich erfahren habe, dass es die Aktion „Pro Quote“ gibt,die von jungen Journalistinnen und Journalisten insLeben gerufen wurde. Wir wissen doch: In den Zeitun-gen wird zwar über die Situation der Frauen berichtet,aber in den Chefetagen der Verlage sitzen trotzdem im-mer noch nur Männer. Auch in diesem Bereich könntesich etwas ändern.
Als Aktivität in den nächsten 365 Tagen wünsche ichmir, dass wir uns endlich der Umsetzung der Forderung„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widmen und den inDeutschland herrschenden Lohnunterschied beseitigen.
Die OECD hat festgestellt: In keinem europäischenLand ist der Lohnunterschied zwischen Frauen undMännern so groß wie in Deutschland, er beträgt nämlich21,6 Prozent. Das ist beschämend. Was sagt Frau vonder Leyen dazu? Sie gibt zwar viele Interviews, aberdazu habe ich von ihr nichts gehört. Von der FDP wageich gar nicht erst zu sprechen. Dabei war sie früher eineZeit lang Bürgerrechtspartei; sie hätte sich also für glei-che Löhne einsetzen müssen.
Wir bringen einen Antrag zur Entgeltgleichheit ein.Das ist der Anfang. Wir müssen uns auch bewusstmachen, wie viel Lohn in den sogenannten Frauenberu-fen gezahlt wird. Erzieherinnen, Hebammen, Pflegerin-nen und Verkäuferinnen leisten zentrale Beiträge fürunsere Gesellschaft. Bei Schlecker stehen derzeit über10 000 Frauen vor der Kündigung. Wo ist denn da Frauvon der Leyen? Viele Frauen arbeiten in schlecht bezahl-ten, prekären Verhältnissen. Frau von der Leyen, wo isteigentlich die Qualifizierungsgesellschaft, die Sie diesenFrauen anbieten?
Mein letzter Punkt: die Quote. Sie hat uns alle langeZeit beschäftigt, und sie wird uns auch noch eine Zeitlang beschäftigen. Ich finde es ernüchternd, dass es andieser Stelle nicht weitergeht, aber wir bleiben dran. Ichhabe alle Vorstände der DAX-30-Unternehmen ange-schrieben. Von einem der vier großen Energieversorgerbekam ich einen Brief, der einen Satz enthielt, den icheinmal vorlesen möchte: Das Schlimmste, was denFrauen passieren kann, ist, dass Damen in Positionengesetzt werden, die sie möglicherweise nicht ausfüllenkönnen.
In großer Übereinstimmung mit wahrscheinlich allenFrauen aus den Fraktionen sage ich: Die Frauen unseresLandes sind bereit. Gerade nach der Bankenkrise 2008,nach der Euro-Krise und allen Krisen danach sind wirbereit, die Debatte aufzunehmen, ob wir die Aufgabenausfüllen können oder nicht. Wir sind bereit, uns einemWettbewerb mit den Männern zu stellen; denn schlechterkann es gar nicht werden.
Mein letzter Gedanke, Herr Präsident. – Dieses Parla-ment hat einen Auftrag. Es kann nicht sein, dass es inunserem Land so viele Frauen mit exzellenten Schulab-schlüssen, Berufsabschlüssen und Hochschulabschlüs-sen gibt, und am Ende trotzdem immer die Männer ein-gestellt werden. Ich schlage vor: Widmen wir uns einmalden Themen Quote und Personalfindung; denn wennFrauen in den Schulen und in der Ausbildung bessersind, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns endlichum die Bestenauslese kümmern. Es kann nicht sein, dassdie Auslese darin besteht, einfach immer nur Männereinzustellen.
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19526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Renate Künast
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Wir tragen in diesem Haus eine Verantwortung. Die-ses Haus hat 620 Abgeordnete. Im Jahr 2012 haben dieFrauen dieses Landes eine Erwartung.
Frau Kollegin.
Sie erwarten, dass dieses Haus den Mut hat, notfalls
fraktionsübergreifend eine Initiative zu ergreifen – ich
verweise in diesem Zusammenhang auf frühere Initiati-
ven: Organspende, Stammzellforschung, Patientenverfü-
gung und Abtreibung, also § 218 StGB –, die den Frauen
zu mehr Rechten verhilft, und zwar noch in diesem Jahr.
Ingrid Fischbach erhält jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich kann nicht umhin, kurz auf meineVorrednerinnen einzugehen. Frau Ziegler, Sie habenviele positive Beispiele aus dem Bereich der Gleichstel-lungspolitik und der Frauenpolitik genannt. Sie habenerwähnt, was vom Parlament umgesetzt wurde. Siehaben nur vergessen, zu sagen, dass wir daran immerbeteiligt waren.
Wir haben immer mitgemacht. Alles, was umgesetztwurde, ist mithilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktionumgesetzt worden.
– Die großen Maßnahmen sind mit uns umgesetzt wor-den. – Das zeigt, und das ist wichtig: Wir können unsereVorhaben nur gemeinsam umsetzen.Über einige der Kritikpunkte, die Sie in Ihrer Redegenannt haben, kann man reden. Frau Ziegler, man mussaber auch feststellen, dass der Erste Gleichstellungs-bericht nicht unter Rot-Grün erstellt worden ist. Dahaben Sie etwas verpasst. Er liegt heute auf dem Tisch.Diesen Bericht hat die Familien- und Frauenministerinauf den Weg gebracht. Das muss man der Fairness halbersagen.
– Frau Humme, Sie sind immer beteiligt; das weiß ich ja.Aber Sie dürfen manchmal auch Vorreiter sein. In derOpposition sind Sie immer sehr schnell mit dem Wort.Aber wenn Sie in Regierungsverantwortung standen,haben Sie sich immer schnell von starken Worten desKanzlers – Stichwort „Gedöns“ – zurückhalten lassen.Da waren Sie dann nicht so durchschlagskräftig, wie Siees eigentlich sein sollten.
Seien wir doch ehrlich: Wir haben verschiedene Pro-bleme zu lösen. Sie hatten diese Probleme, und wir habendiese Probleme. Wir müssen sehen und erkennen – da-rauf möchte ich zu Beginn meiner Rede hinweisen –,dass wir es nur gemeinsam schaffen können. An dieserStelle muss ich feststellen, dass Sie, meine Kolleginnenvon der Linken, ein ganz falsches Beispiel gesetzt haben.Gleichstellungspolitik ist keine Frauenpolitik, und sie istohne Männer überhaupt nicht zu machen. Sie habenheute ein vollkommen falsches Signal gesetzt. Das gehtüberhaupt nicht.
Frau Künast, ich habe gemerkt, dass Sie die Sache mitdem Archiv von Alice Schwarzer in NRW getroffen hat.Sonst hätten Sie keinen Satz darüber verloren.
Wenn wir über das Problem des Wiedereinstiegs vonFrauen in den Beruf reden, wenn wir über Entgeltun-gleichheit reden – ich richte mich damit an die Grünenund die SPD –, dann müssen wir auch über die damitverbundenen Probleme sprechen. Ein solches Problemist die mangelhafte Kinderbetreuung. Sie mahnen zuRecht an, dass der Ausbau der Kinderbetreuung für unterDreijährige nicht schnell genug vorangeht. In Nord-rhein-Westfalen zum Beispiel haben Sie jetzt alle Mög-lichkeiten der Welt, die Sache voranzubringen. Ich bitteSie im Sinne eines gemeinsamen Handelns: Tun Sie das!Sehen Sie zu, dass die Zahlen besser werden! Das wäreein großes Ding für die Frauen. So können Sie die Ver-einbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit wirklich vo-ranbringen.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es nichthinnehmbar, dass Frauen in Deutschland – das ist wirk-lich ein großes Manko – heute im Durchschnitt immernoch weit über 20 Prozent weniger verdienen als Män-ner.
Auch diesbezüglich brauchen wir CDU/CSU-Frauen unsnicht zu verstecken, Frau Ferner. Wenn ich darübernachdenke, welche Initiativen auf den Weg gebrachtwurden, fällt mir auf, dass dies in der Zeit der GroßenKoalition und in dieser Legislaturperiode der Fall war.Wir wollen Transparenz in der Lohngestaltung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19527
Ingrid Fischbach
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– Das können Sie ja machen. Aber das machen wir nicht.Wir bieten Logib-D und den eg-check. Wir wollen, dasstransparent ist, was Unternehmen den beschäftigtenFrauen und Männern zahlen. Es gibt entsprechenderechtliche Vorgaben.
Es dürfte also gar nicht passieren, dass Frauen wenigerverdienen als Männer. Es passiert aber trotz der rechtli-chen Vorgaben. Das heißt, wir müssen die Schlupflöcherausfindig machen, sie klar benennen und schließen.Wenn es sein muss, wenn es gar nicht anders geht, müs-sen wir auch mit einer gesetzlichen Initiative dagegenvorgehen; das ist überhaupt keine Frage.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Gründe, die zu die-sen Entgeltungleichheiten führen, beseitigt werden. Ichhabe gerade schon gesagt, dass ein Grund die Unterbre-chung der Erwerbstätigkeit von Frauen ist. Wir müssenalso darüber nachdenken, wie wir mit den Erwerbsunter-brechungen umgehen, und dafür sorgen, dass sie kürzerwerden und dass Frauen schneller und ohne Einkom-mensverlust in den Beruf zurückkehren können. Daswird unser Ziel sein.Das heißt, wir müssen die Frauen beim Wiederein-stieg stärker unterstützen. Auch da brauchen wir unsüberhaupt nicht zu verstecken. Die „Perspektive Wieder-einstieg“ ist unter der Familienministerin auf den Weggebracht worden. Wir sagen: Es ist wichtig, dass FrauenUnterstützung erhalten. Ganz wichtig in diesem Zusam-menhang – darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen –sind die haushaltsnahen Dienstleistungen. Diese müssenwir stärker ausbauen, damit Frauen und Männer, die zu-rück in den Beruf wollen, sie in Anspruch nehmen kön-nen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass diejeni-gen, die diese Dienstleistungen ausüben, einenvernünftigen und fairen Lohn erhalten.
Ich komme zum letzten Punkt; meine Redezeit neigtsich dem Ende zu. Wie gehen wir mit der Bewertung vonKindererziehungs- und Pflegezeiten um? Unserer Frak-tion ist ganz wichtig, dass wir den Frauen, die große Er-werbsunterbrechungen hatten und in einem Alter sind, indem sie nicht mehr viel eigene Vorsorge treffen können,das Signal geben, dass wir ihre Situation im Blick haben.Wir müssen zum Beispiel die Anerkennung der Kinder-erziehungszeiten in der Rente verbessern, vor allen Din-gen für die Kinder, die vor 1992 geboren sind.
Wir müssen deutlich machen, dass Kindererziehung undPflege gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, FrauHumme. Deswegen müssen wir im Bundestag darübersprechen. Wir müssen Antworten auf diese Fragen fin-den und den Frauen, die diese Arbeit leisten, Anerken-nung zollen. Das ist wichtig und, ich denke, unser allerZiel.Ich habe mit der Aussage, dass Gleichstellungspolitiksowohl Männer als auch Frauen angeht, begonnen. Frau-enfragen sind immer, egal wie wir es drehen, auch Män-nerfragen.
Wir brauchen die Männer, um die Probleme zu lösen undMehrheiten für entsprechende Maßnahmen zu finden.Eines ist uns dabei klar: Gleichberechtigung hat immermit Rechten, aber auch mit Pflichten zu tun; diese betref-fen Männer und Frauen.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Christel Humme
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!230 Seiten dick ist das Sachverständigengutachten zumErsten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Aufdiesen 230 Seiten wird dargelegt, was in Deutschland imBereich der Gleichstellungspolitik fehlt und was wir un-bedingt tun müssen. Die Stellungnahme der Bundesre-gierung dazu ist sehr dünn.
Weniger Interesse am Thema Gleichstellung kann dieBundesregierung eigentlich nicht zum Ausdruck brin-gen.
Frau Fischbach, ich dachte, dass Sie dieses Gutachteneinmal zur Hand nehmen und einen Antrag dazu schrei-ben werden.
– Es ist richtig, Sie haben einen Antrag geschrieben, aberSie haben nicht eine einzige Forderung dieses Gutach-tens aufgegriffen,
obwohl Ihnen dieses Gutachten Handlungsempfehlun-gen auf dem Silbertablett präsentiert, die Sie einfach nurhätten übernehmen müssen.
Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen ha-ben uns sehr über das Gutachten gefreut; denn es bestä-tigt, dass unser Kurs zur Gleichstellung der richtige ist.Unser Kurs hat die gleichberechtigte Teilhabe vonFrauen und Männern – in diesem Punkt gebe ich Ihnen
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19528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Christel Humme
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vollkommen recht – im Erwerbs- und Familienlebenzum Ziel.Was ist die Kernforderung dieses Gutachtens? Es for-dert von uns Politikerinnen und Politikern eine konsis-tente Gleichstellungspolitik, die den gesamten Lebens-verlauf in den Blick nimmt. Erstens fordern dieSachverständigen eine Abkehr von starren Rollenbil-dern. Frauen wollen nicht mehr nur Zuverdienerinnensein und Männer nicht immer nur die Haupternährer.Sie fordern zweitens eine Abkehr von alten Struktu-ren. Denn sie sind es, die die Frauen in Deutschlandnach wie vor benachteiligen, und nicht, wie Sie, FrauSchröder, aber auch die Kanzlerin häufig unterstellen,die Frauen selbst, weil sie nicht mutig genug sind.
Last, not least fordern sie von uns, dass wir die richti-gen politischen Weichen stellen, und zwar von Anfangan und ohne Zickzackkurs. Wir müssen vermeiden, dasswir heute Vorteile gewähren, die später, zum Beispiel beider Rente, zu Nachteilen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-rungsfraktionen, wie lauten Ihre Antworten darauf? InIhrem Antrag jedenfalls finde ich dazu nichts;
denn dann müssten Sie sich klar vom Modell der Zuver-dienerin verabschieden. Aber ich glaube, dazu fehlt Ih-nen der Mut. Das war in der Vergangenheit so und istauch jetzt so.
Im letzten Jahr fand eine Veranstaltung zu diesemGutachten statt, an der auch die Vorsitzende der Sach-verständigenkommission, Frau Professor Klammer, teil-genommen hat. Sie ist gefragt worden, welche Themendie Politikerinnen und Politiker ihrer Meinung nach zu-erst angehen sollten, wenn sie den gesamten Forderungs-katalog des Gutachtens abarbeiten wollten. Sie hat ge-sagt: Minijobs und Ehegattensplitting. – Ich denke, dasist richtig so. Denn wir wissen: Minijobs sind weiblich,verfestigen die Zuverdienerrolle und führen unausweich-lich in die Armut; das haben wir heute schon mehrfachgehört.Die überwiegende Mehrheit der erwerbstätigenFrauen arbeitet in schlecht bezahlter Teilzeit oder innoch schlechter bezahlten Minijobs. Für immer mehrFrauen ist der Minijob die einzige Erwerbsquelle; daskommt fatalerweise hinzu. Dabei wollen die Frauenmehr arbeiten. Sie wollen Vollzeit arbeiten und vor allenDingen finanziell auf eigenen Füßen stehen. Was tunSie? Statt sich um diese Frauen und ihre Wünsche zukümmern, wollen Sie die Minijobs sogar ausweiten. Dasist meiner Ansicht nach ein fataler Irrweg.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, zu Recht erhebtdie Kommission auch die Forderung, das Ehegattensplit-ting zu reformieren. Wir Sozialdemokratinnen und So-zialdemokraten sehen das genauso. Denn zusammen mitder Steuerklasse V signalisiert das Ehegattensplitting:Frauen, bleibt doch zu Hause! Denn dann hat euer Ehe-mann als Alleinverdiener einen großen Steuervorteil.Selbst die von der Bundesregierung eingesetzte Ex-pertenkommission „Forschung und Innovation“ hat dasEhegattensplitting in ihrem Bericht zum Fachkräfteman-gel, den sie in der letzten Woche vorgelegt hat, alsschädlich bezeichnet und gegeißelt. Sie machte deutlich,dass es vornehmlich für Frauen Anreize schafft, keineroder nur einer geringen Beschäftigung nachzugehen.Genau diese Kritikpunkte aufzugreifen, wäre der rich-tige Ansatz. Sie sollten darüber nachdenken und auch imSteuerrecht etwas tun. Sie sollten das Ehegattensplittingreformieren und eine Reform der Minijobs durchführen.Aber beides packen Sie nicht an. Sie lassen die Frauenmit ihrem lebenslangen Armutsrisiko allein. Mehr noch:Sie verschärfen das Problem und schütten Öl ins Feuer;denn Sie wollen gleichzeitig das Betreuungsgeld einfüh-ren.Ich denke, alles zusammen – eine Ausweitung derMinijobs, das Betreuungsgeld und keine Änderungen imSteuerrecht – wird dazu führen, dass Sie alte Rollenbil-der und alte Strukturen zementieren und – das ist wich-tig, festzuhalten – schon jetzt die falschen Weichen stel-len. Frau Bracht-Bendt, ich bin der festen Überzeugung:An dieser Stelle betreiben Sie staatliche Bevormundung;
denn Sie tun genau das Gegenteil von dem, was im Gut-achten vorgeschlagen wird.Liebe Frau Ministerin, in Ihrem Buch werden wir le-sen können – das haben Sie angekündigt –, dass Ihneneine Gesellschaft vorschwebt, in der Frauen und Männerendlich frei entscheiden können, wie sie leben wollen.
Wenn das Ihr politischer Kompass ist,
dann frage ich mich, warum Sie alles dafür tun, die her-kömmliche Rollenverteilung von Frauen und Männernbeizubehalten. Hören Sie doch auf, den Menschen Wahl-freiheit vorzugaukeln, aber eine anders ausgerichtetePolitik zu machen!Ich appelliere an Sie: Lesen Sie den Gleichstellungs-bericht sehr sorgfältig und aufmerksam! Nehmen Sie diebeschriebenen Handlungsoptionen ernst! Wir brauchenkeinen Rahmenplan – er liegt uns jetzt eigentlich vor –,sondern einen konkreten Aktionsplan für Gleichstellung,und zwar so schnell wie möglich, damit Sie in Ihrer Poli-tik nicht schon jetzt die falschen Weichen stellen und dieRisiken in den Lebensläufen der Frauen erhöhen. WeitenSie die Minijobs nicht aus, und stoppen Sie das Betreu-ungsgeld! Investieren Sie in Betreuungsplätze! SchaffenSie für die Frauen mit einer verbindlichen Quote einenZugang zu den Chefetagen! Verabschieden Sie ein Ent-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19529
Christel Humme
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geltgleichheitsgesetz, wie wir es bereits gefordert habenund wie es die Grünen heute fordern! Führen Sie einenMindestlohn ein, der den vielen Frauen im Niedriglohn-sektor hilft! Machen Sie endlich eine konsistente Gleich-stellungspolitik!
Nun erhält der Kollege Patrick Döring das Wort für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
und die Einzelne sind Grund und Grenze liberaler Poli-
tik. In einer offenen Gesellschaft ist die Gleichberechti-
gung von Mann und Frau eine Selbstverständlichkeit.
In einer offenen Demokratie müssen alle, die in der poli-
tischen Realität Verantwortung tragen, sich diesem Ziel
verpflichtet fühlen. Wir tun das.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in
der Frage, wie man dieses Ziel erreicht, sind wir uns aber
nicht immer einig. Es ist natürlich nur konsequent, ge-
schätzte Kollegin Humme, dass Sie ein Entgeltgleich-
heitsgesetz fordern. Ich rufe der Kollegin Künast zu:
Ihre Rede haben Sie, was den Inhalt anbelangt, am fal-
schen Ort gehalten. Wir müssen mit den Arbeitgeberin-
nen und Arbeitgebern sowie mit den Arbeitnehmerin-
nen- und Arbeitnehmervertretern sprechen, damit es
nicht zu einer ungerechten Entlohnung in den Unterneh-
men kommt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
Herr Kollege Döring, darf Ihnen der Kollege Beck
eine Zwischenfrage stellen?
Unbedingt.
Bitte schön, Herr Beck.
Sie sprachen davon, dass die Geschlechtergerechtig-
keit und die Gleichstellung von Mann und Frau eine li-
berale Selbstverständlichkeit sei. Da diese Punkte für Sie
so selbstverständlich sind, möchte ich Sie fragen – ich
weiß es nämlich nicht –: Wie hoch ist eigentlich der
Frauenanteil in Ihrer Fraktion?
Geschätzter Kollege Beck, das wissen Sie ganz ge-nau, weil Sie es vorhin noch im Handbuch nachgeschauthaben. Ich gebe aber offen zu, dass wir noch daran arbei-ten müssen, mehr Frauen in Parlamenten zu haben.
Geschätzter Herr Kollege, 25 Prozent der Abgeordne-ten im Deutschen Bundestag sind weiblich. Wir sehenaber auch in einigen Landesverbänden wie zum Beispielin meinem Landesverband, im Landesverband Nieder-sachsen, dass man auch ohne Quote fast eine 50-50-Si-tuation herstellen kann. Viele Kolleginnen und Kollegenbewerben sich um Mandate, geschätzter Kollege Beck.In einer Demokratie ist es aber nun einmal so, dass dasWahlverhalten nicht so steuerbar ist, wie das vielleicht inIhrer Partei der Fall ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich persönlich glaube, dass Sie denjungen, gut ausgebildeten und engagierten Frauen inDeutschland zu wenig zutrauen. Sie trauen – bei allemRespekt – einer neuen Generation von Verantwortungs-trägern in Unternehmen und Wissenschaft zu wenig zu.Ich jedenfalls nehme wahr, dass es heute in den Unter-nehmen – egal ob groß oder klein – eine Selbstverständ-lichkeit ist, nicht mehr in den antiquierten Rollenbildernzu denken, die Sie hier zum Teil vorgetragen haben.
Junge Frauen und junge Männer wissen, dass sie ge-meinsam Unternehmen gestalten können. Dafür müssenwir die Rahmenbedingungen verbessern, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Dazu gehört in ganz besonderer Weise die Vereinbar-keit von Familie und Beruf. Deshalb ist es besondersbedauerlich, dass heute kein Vertreter der Länder anwe-send ist. Ich selbst habe mich in meiner unternehmeri-schen Verantwortung sehr intensiv darum bemüht, Kin-derbetreuungsplätze im Unternehmen zu schaffen. Fürein mittelständisches Unternehmen ist es aber schlichtunmöglich, die Standards einzuhalten, die in manchenLändern gelten. Dies gilt zum Beispiel für abgehängteWaschbecken und abgehängte Klos, die kleine Kinder zuHause auch nicht haben. Diese muss man aber in einemUnternehmenskindergarten vorhalten. Wir müssen wegvon dieser Vorstellung, wenn wir wollen, dass Unterneh-men Betreuungsplätze schaffen, die der Arbeitsrealitätder Frauen entsprechen, also nicht auf einen Zeitraumvon 9 bis 12 Uhr beschränkt sind.
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19530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Patrick Döring
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Frau Kollegin Humme, ich habe mich über Ihre Argu-mentation sehr gewundert. Als der Gesetzentwurf, indem das Recht auf Teilzeit festgeschrieben wurde, indiesem Hause von Rot-Grün eingebracht und verab-schiedet wurde, ist das von den Vertretern der damaligenKoalition als herausragender gleichstellungspolitischerFortschritt verkauft worden. Ich bin der festen Überzeu-gung, dass flexible Arbeitszeiten – Teilzeit heißt nichtnur halbtags, sondern auch Dreiviertelstellen oder90-Prozent-Stellen – den Unternehmen und auch denFrauen in den Unternehmen guttun. Deshalb habe ichIhre Argumentation überhaupt nicht verstanden. Übri-gens nutzen auch zunehmend mehr Männer diese Mög-lichkeit in den Unternehmen, liebe Kolleginnen undKollegen.
Nein, gesetzliche Regelungen sind nicht alles. Des-halb ein letztes Wort:
Wir setzen auf Verantwortung, Initiative und Selbst-bestimmung.
Wer die Zusammensetzung der Vorstände und Aufsichts-räte von Aktiengesellschaften verändern will, der sollteschon morgen von den DAX-30-Unternehmen jeweilseine einzelne Aktie erwerben und auf deren Hauptver-sammlungen die Reden halten, die Sie hier gehaltenhaben; denn dort wird entschieden, und zwar immer bes-ser, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Cornelia Möhring
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist heute tatsächlich das erste Mal, dass ein Gleichstel-lungsbericht der Bundesregierung im Deutschen Bun-destag diskutiert wird, und es ist überhaupt das ersteMal, dass es so einen Gleichstellungsbericht gibt.Nun könnte Hoffnung aufkeimen, dass es zukünftigum die Gleichstellung von Frauen und Männern besserbestellt sein wird. Aber dazu kann ich an dieser Stellenur sagen: „Pustekuchen“, obwohl vor einem Jahr, alsdas Sachverständigengutachten vorgestellt wurde, auchdas Lob aus der Bundesregierung groß war. Es wurde alsMeilenstein gefeiert, und aus dem gesamten Ministeriumwar zu hören, wie wunderbar es doch sei, dass die Le-bensverläufe von Frauen und Männern nun systematischverglichen würden.Tatsächlich haben das Sachverständigengutachtenund die darin enthaltenen Handlungsempfehlungengroße Begeisterung hervorgerufen, nämlich bei Frauen-verbänden, bei Gleichstellungsbeauftragten, bei Ge-werkschaften und auch bei vielen von uns hier. Ichbetone aber: Dies bezog sich auf das Gutachten derSachverständigenkommission und deren Handlungs-empfehlungen und nicht auf das, was die Bundesregie-rung daraus schlussfolgert, oder die Maßnahmen, die sieeventuell angeschoben hat.
Seitdem tragen Sie die Methode, die Lebensverlaufs-perspektive zu betrachten, wie eine Monstranz vor sichher. Natürlich ist es richtig, dass man, wenn man sich dieLebensverläufe von Männern und Frauen anguckt, zuganz anderen Schlussfolgerungen kommt, als wenn mannur einen bestimmten Teil ihres Lebens herausgreift. Siehandeln aber in keiner Weise nach den Erkenntnissen,sondern sogar völlig entgegengesetzt. Sie kommen ausUntersuchungen, aus Prüfungen und aus Erhebungenüberhaupt nicht mehr heraus.
Dafür will ich Ihnen auch einige Beispiele nennen.Alle Experten sind sich darüber einig, dass die Alters-armut – besonders auch die von Frauen – zunehmenwird. Welchen Impuls gibt unsere Ministerin? Es solleine Untersuchung darüber in Auftrag gegeben werden,wie sich unterschiedliche Lebenswege auf die Alters-sicherung auswirken. Ich kann Ihnen dazu nur sagen:Das Geld können Sie sich sparen bzw. sollten Sie in so-ziale Projekte stecken.
Das Ergebnis lautet nämlich: Wer in seinem Leben zwi-schen seinen Erwerbszeiten immer wieder arbeitslos ist,wer wegen der Betreuung von Kindern und Angehörigenlängere Zeiten nicht erwerbstätig sein kann oder wer inTeilzeit oder zu Niedriglöhnen arbeiten muss, der wirdim Alter von Armut bedroht sein. Das ist so sicher, wiezwei mal zwei vier ist, und es ist sicher, dass davon über-wiegend Frauen betroffen sind.
Ein weiteres Beispiel, das hier auch schon angeklun-gen ist: Alte Rollenbilder von dem, wie eine gute Frauund wie ein guter Mann sein soll, behindern die Gleich-stellung. Eine gute Möglichkeit, solche alten Rollen-bilder aufzubrechen, ist – das wird auch im Gutachtenempfohlen –, wenn sich junge Väter mehr um ihre Kin-der und um die Sorgearbeit kümmern können. VieleMänner wollen das auch. Anstatt aber das Elterngeldauszubauen, mehr Vätermonate zu ermöglichen undneue Anreize zu schaffen, tun unsere Regierungsparteienwas? Sie treiben neue Varianten der Herdprämie voran,zuletzt in Form des Betreuungsgeldes. Das verfestigtaber alte Rollenbilder und ist eher eine Reanimation derHausfrauenrolle und alles andere als Gleichstellungs-politik oder emanzipatorisch.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19531
Cornelia Möhring
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Eine zentrale Handlungsempfehlung der Sachverstän-digen dreht sich um das Thema „Arbeit in Minijobs“.Jede fünfte erwerbstätige Frau und jeder zehnte erwerbs-tätige Mann arbeiten inzwischen ausschließlich in Mini-jobs. Das „Mini“ bezieht sich dabei nicht auf die einge-setzte Arbeitszeit; die ist bei Minijobberinnen manchmalnämlich sehr ausufernd. Das „Mini“ bezieht sich nochimmer auf die Bezahlung und auf die Rente im Alter, dienämlich zwangsläufig auch sehr mini ausfällt.Im Gutachten – das wurde schon betont – wird daraufhingewiesen, dass dann, wenn man es mit der Reduzie-rung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten im Be-schäftigungssystem ernst meint, die Abschaffung vonMinijobs ein zentrales Element einer entsprechendenPolitik sein muss. Was tut die Bundesregierung? Sieignoriert diese Empfehlung und beschließt die Auswei-tung der Minijobs und die Anhebung der Zuverdienst-grenze.Würde man den Gleichstellungsbericht wirklich ernstnehmen und wesentliche Schritte in der Gleichstellungs-politik für Frauen und Männer wollen, dann bräuchtenwir keine weiteren Untersuchungen, sondern müsstenlediglich die Handlungsempfehlungen der Sachverstän-digen in Gesetze umwandeln,
zum Beispiel in ein Gesetz für einen flächendeckendengesetzlichen Mindestlohn, in ein Gesetz zur Umwand-lung von Minijobs in sozialversicherungspflichtigeArbeit oder in ein Gesetz für eine solidarische Renten-versicherung.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundes-regierung hat gleichstellungspolitisch schon lange dasHandtuch geworfen. Es wird Zeit für eine andere.
Bevor die Kollegen von SPD und Grünen jetzt frohlo-cken: Das schaffen auch Sie nicht ohne die Linke.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Müller-Gemmekefür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegenund Kolleginnen! Stellen Sie sich vor, eine Frau gehteinkaufen, beim Bezahlen nimmt die Kassiererin dieZeitschrift und reißt erst einmal ein paar Seiten heraus.Dann behält sie eine von vier Bananen, und vom Kuchenbekommt die Frau auch nur drei Viertel. Der Mannhinter ihr an der Kasse bekommt hingegen den ganzenKuchen.Das hört sich absurd an; doch dieses Bild ist nichtmeiner Fantasie entsprungen. Es ist aus einem kurzenVideo der EU-Kommission, das auf unkonventionelleWeise darstellt, was bei uns traurige Realität ist. DennFrauen verdienen in Deutschland noch immer wenigerals Männer. Es ist also an der Zeit, dass wir gemeinsamdiese Entgeltdiskriminierung beenden; denn Frauen ver-dienen mehr.
Entgeltdiskriminierung funktioniert oft unmittelbarund direkt, beispielsweise wenn eine Abteilungsleiterinals Nachfolgerin eines Mannes mit gleicher Qualifizie-rung und derselben Berufserfahrung 300 Euro wenigerverdient. Hier wird der Grundsatz „Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit“ missachtet. Das ist ungerecht und nichtakzeptabel.
Schwieriger aufzudecken ist die mittelbare Entgelt-diskriminierung, wenn es also um den gleichen Lohn fürgleichwertige Arbeit geht. Sie verbirgt sich in Regelun-gen, die nicht zwischen Männern und Frauen unterschei-den und dennoch auf Männer und Frauen unterschiedlichwirken. Besonders diskriminierungsanfällig sind dabeidie Kriterien, mit denen Arbeit bewertet wird.Wenn ein Mann beispielsweise auf dem Bau Steineschleppen muss, dann wird diese Kraftanstrengungselbstverständlich bezahlt, das Heben und Umbetten alskörperliche Belastung bei Frauen in der Pflege hingegennicht. Auch die emotionalen Belastungen in Frauenberu-fen werden häufig nicht bewertet und somit auch nichtbezahlt.Entgeltdiskriminierung ist also Realität, obwohl imGrundgesetz, im AGG und im Europarecht die Gleich-stellung und das Verbot der Entgeltdiskriminierung ver-ankert sind. Im 21. Jahrhundert muss damit endlichSchluss sein.
Selbstverpflichtungen und Freiwilligkeit haben zunichts geführt. Die Entgeltlücke ist sogar noch größergeworden. Deshalb fordern wir Grünen mit unseremAntrag ein eigenständiges Gesetz gegen Entgeltdiskrimi-nierung. In einem ersten Schritt sollen die Tarifpartnerund Betriebe verbindlich überprüfen und nachweisen,dass tarifliche und nichttarifliche Entgeltregelungendiskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Das reicht abernicht aus. Die Betriebe und der öffentliche Dienst müs-sen auch die Umsetzungspraxis überprüfen. Denn dieAnwendung darf vor Ort nicht wieder zu neuen Diskri-minierungen führen.Bei der Überprüfung setzen wir – anders als die Bun-desministerin – auf analytische Arbeitsbewertungsver-fahren. Entscheidend ist, dass die Kriterien transparentund nachvollziehbar sind, die Tätigkeiten ihrem Wesennach beurteilt werden und die Kriterien somit diskrimi-nierungsfrei gewählt sind, also endlich für Frauen undMänner gleichermaßen gelten.
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19532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Beate Müller-Gemmeke
(C)
(B)
Bei Überprüfungen allein wollen wir es aber nicht be-lassen: Selbstverständlich müssen entdeckte Diskrimi-nierungen auch beseitigt werden. Deshalb soll die Anti-diskriminierungsstelle des Bundes eine Kontrollbefugniserhalten. Wir brauchen auch Sanktionen und insbeson-dere ein Verbandsklagerecht. Denn wir brauchen einwirksames Gesetz und keinen zahnlosen Tiger.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, im Gleich-stellungsbericht „Neue Wege – Gleiche Chancen“ stehtdie Überprüfung mit Arbeitsbewertungsverfahren imFazit. Wir Grüne haben mit unserem Antrag die Vor-schläge konkretisiert. Wir nehmen also die Autorinnenernst. Dies erwarten wir jetzt auch von der Bundesregie-rung; denn Frauen verdienen mehr.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder einWeltfrauentag, wieder ein Jahr vorbei. Wie in jedem Jahrziehen wir in unserem Parlament frauenpolitischeBilanz. Der Brennpunkt unserer Gleichstellungsdebatteliegt in diesem Jahr beim Thema „Frauen in Führungs-positionen“. Nach dem letzten Jahr, als wir – das wurdeschon erwähnt – 100 Jahre Weltfrauentag gefeiert haben,ist hier trotz zahlreicher Beteuerungen und guter Vor-sätze leider zu konstatieren, dass sich sehr wenig getanhat. So ist der Anteil von Frauen in Toppositionen ledig-lich um 2 Prozentpunkte gestiegen. Das Thema ist sehrfrustrierend. Die Strukturen sind stark verkrustet, undder Widerstand in der Wirtschaft ist noch immer sehrheftig. So ist es ein bemerkenswert negatives Signal,dass im Januar auf der Siemens-Hauptversammlung eine30-Prozent-Frauenquote mit 93 Prozent der Stimmenabgeschmettert wurde. 93 Prozent der Stimmen, so vielEinigkeit würde ich mir bei manch anderen Themenwünschen.Wir stellen jedes Jahr erneut fest, dass Frauen die bes-seren Abschlüsse machen und mittlerweile die soge-nannten richtigen Fächer studieren. Zudem hatten dieUnternehmen seit der Vereinbarung von 2001 elf JahreZeit – also länger als die von uns geforderten zehn Jahre –,weibliche Nachwuchskräfte zu fördern und einen ent-sprechenden Pool aufzubauen. Vor diesem Hintergrundfreue ich mich – wenn auch noch viel Wasser den Mainhinunterfließen wird, wie es bei uns heißt – auf Unter-stützung aus Brüssel. Frau Reding sagt, sie möge zwardie Quote nicht, brauche sie aber für Ergebnisse. Ichdenke, ganz genau darauf kommt es an.Enttäuscht bin ich daher über die Aussage, die Dis-kussion müsse vertagt werden.
Ich glaube, wir haben die Diskussion schon zu lange ver-tagt. Früher wurde in Deutschland – das ist an die SPD-Fraktion gerichtet – Basta-Politik betrieben. Diese habenwir mittlerweile überwunden. Wir müssen uns daher mitden Themen gut auseinandersetzen. Es ist wichtig, denDruck aufrechtzuerhalten und gemeinsam für einegleichberechtigte Teilhabe zu kämpfen.Selbstverständlich arbeiten wir auch an anderen The-men der Gleichstellungspolitik. Ich bin über den ErstenGleichstellungsbericht der Bundesregierung sehr froh;den hat die Union in Auftrag gegeben, und auf denbezieht sich unser heutiger Antrag. Dieser Bericht ist einMeilenstein der Frauenpolitik.
– Aber Sie müssen zugeben, dass die CDU/CSU zumGroßteil die Bundesregierung stellt.
Wenn Sie sich unseren Antrag genau durchlesen – hörenSie zu; das ist wichtig; ich bin sicher, dass darüber Kon-sens im ganzen Haus besteht –, dann stellen Sie fest,dass wir unter anderem fordern, den Gleichstellungs-bericht zu institutionalisieren. Ich denke, dieser Forde-rung kann sich jeder anschließen.Der Gleichstellungsbericht zeigt, dass es in allenEtappen des Lebensverlaufs noch viel zu tun gibt.Frauen unterbrechen ihr Berufsleben noch immer – auchim Jahr 2012 – häufiger und länger als Männer, um sichum die gemeinsamen Kinder oder um pflegebedürftigeAngehörige zu kümmern, und zwar nicht immer nur umdie eigenen Eltern, sondern oft auch – wie es für Frauentypisch ist – um die Schwiegereltern. Frauen ermögli-chen Männern oftmals gerade durch dieses Engagementden beruflichen Aufstieg und nehmen dabei Einkom-menseinbußen für sich selbst in Kauf.Die Kollegin Fischbach hat es bereits angesprochen:Ein besonderes Problem stellt daher die Alterssicherungdar. Wir müssen aber auch über Minijobs reden. Frauenhaben häufig Minijobs und – das ist ein menschlichesPhänomen – berücksichtigen oft nur die aktuelle Situa-tion. Sie sagen sich: Wenn ich beispielsweise im März,April oder Mai 2012 einen Minijob habe, dann habe icherst einmal keine Abzüge. Das scheint wunderbar zusein. Aber das ist wenig vorausschauend. Denn was pas-siert im Alter? Ein Minijob ist oft nur eine vorüberge-hende Lösung. Die aus dem Moment heraus betrachtetenVorteile sind nämlich langfristig mit großen Nachteilenverbunden.Deswegen ist es jetzt an uns – das tun unsere beidenFraktionen auch –, uns zu überlegen, wie wir die Forde-rungen aus dem Gleichstellungsbericht gezielt umsetzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19533
Dorothee Bär
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– Wir werden es tun. Wir werden uns mit diesem Gleich-stellungsbericht auseinandersetzen.Natürlich dürfen wir im Rahmen einer ehrlichen Be-standsaufnahme – Sie haben ja gemerkt, dass ich auchmit Kritik nicht spare – nicht übersehen, dass wir in an-deren Bereichen schon sehr viel erreicht haben. DerAusbau der Kinderbetreuung läuft auf Hochtouren. Daist mein eigenes Bundesland, Bayern, federführend mitdabei.
Es gibt das Elterngeld, das nach wie vor ein ganz großesErfolgsmodell ist und auf das wir wahnsinnig stolz sind,und wir machen Programme für den Wiedereinstieg.Bevor Herr Trittin noch einmal so genussvoll lacht:Schauen Sie sich einmal die rot-grüne Regierung inNRW an. Dort läuft es nämlich mit Abstand am schlech-testen in ganz Deutschland, was den Ausbau der Kinder-betreuung betrifft.
Sie müssen Ihren zuständigen Damen, die dort an derRegierung sind, vielleicht noch einmal ein bisschen An-schub geben; denn es kann nicht sein, dass NRW dasGeld, das wir als Bund zur Verfügung stellen, überhauptnicht abruft, sodass die Kinder in Nordrhein-Westfalen,die es in vielen Bereichen nötig haben, nicht die Chancehaben, eine adäquate, gute und qualitativ hochwertigeKinderbetreuung zu bekommen.
Zurück zu dem, was wir schon erreicht haben: Wirhaben gute Programme zum Wiedereinstieg, dazu, wirk-lich wieder gut in den Beruf hineinzukommen; auch dasist ein Topthema. Ich würde mir auch wünschen, dass dieUnternehmen noch wesentlich mehr beispielsweise aufneue Medien setzten, um eine Abkoppelung, die geradein der Schwangerschaft bzw. im Mutterschutz entstehenkann, gar nicht erst zuzulassen. Diese Möglichkeitenwerden noch zu wenig genutzt.Mit unserem Hilfetelefon, das wir für Frauen in Not-situationen eingerichtet haben, haben wir ebenfalls wirk-lich Gutes auf den Weg gebracht.Sie sehen also, wir haben an einigen Stellen schonsehr viel getan. Selbstverständlich gibt es noch sehr vielmehr zu tun. Ich bin mir aber sicher, dass keine jungeFrau und selbstverständlich auch kein junger Mann nochLust hat, sich im Zusammenhang mit der Gleichstellungnoch einmal um 10 oder 20 Jahre vertrösten zu lassen.Von meiner Seite aus kann ich Ihnen nur sagen: Wirwollen das anpacken. Ich möchte diese Rede 2013 nichtmehr halten.Vielen Dank.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Karin Roth für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist erfreulich, dass wir in diesem Parlament dazuin der Lage sind, am heutigen Internationalen Frauentagmit dem Blick nach außen eine gemeinsame Strategieund gemeinsame Forderungen festzulegen. Ich dankedeshalb meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Ko-alitionsfraktionen sehr dafür, dass sie gemeinsam mitdem Bündnis 90/Die Grünen und der SPD heute einenAntrag zur Gleichberechtigung der Frauen in den Ent-wicklungsländern vorlegen.In diesem Antrag wird zu Recht darauf hingewiesen,dass 70 Prozent der Armut in den Entwicklungsländernweiblich ist. Das heißt, dass das, was wir heute auch fürunser Land konstatieren – wir beklagen immer noch,dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-wertige Arbeit“ nicht gilt und dass der Zugang vonFrauen zu höheren Positionen in unserem Land nichtmöglich ist –, in verschärftem Maße natürlich geradeauch für Frauen in Entwicklungsländern und insbeson-dere für Frauen in Schwellenländern gilt.Da reicht eine Reise nach Tunesien nicht aus, um zusagen, dass man unter Berücksichtigung der Scharia jaein bisschen weitergekommen ist. Ich glaube, das ist einbisschen zu wenig für die Gleichstellungspolitik, die wirhier wollen.
Wir wollen die Gleichstellung von Frauen überall:politisch, sozial und wirtschaftlich. Deshalb bin ich sehrfroh, dass wir in diesem Antrag deutlich zum Ausdruckgebracht haben, dass der Zugang der Frauen in die Poli-tik, in die Verwaltung und in die Justiz Vorrang habenmuss und dass wir vor allem besondere Regelungenbrauchen. Ich weiß, dass sich einige Männer in den Ko-alitionsfraktionen schwergetan haben, weil das ThemaQuote natürlich ein Reizthema ist – keine liberale Selbst-verständlichkeit, versteht sich. Daher haben wir uns da-rauf geeinigt, das so zu formulieren.Ich bin dankbar dafür, dass man anerkennt, dass esohne eine Frauenquote nicht geht; das gilt sowohl für dieWirtschaft wie für die Politik. Für uns, die Sozialdemo-kraten, steht natürlich fest, dass die Frauenquote notwen-dig ist, um die gläserne Decke zu durchbrechen. Andersgeht es nicht, meine Damen und Herren, vor allen Din-
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19534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Karin Roth
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gen liebe Kolleginnen und Kollegen; das wissen wir. Esgeht um Macht, es geht um Einfluss. Jawohl, wir Frauenwollen Einfluss, wir Frauen wollen Macht, auch in die-sem Parlament.Ich freue mich, dass wir uns auch darüber verständigthaben, Gewalt gegen Frauen in den Entwicklungslän-dern nicht nur nicht zu akzeptieren, sondern sie auch an-zuprangern und durch Programme zu bekämpfen. Wennman sich unseren Antrag anschaut, sieht man, was wirwollen: zum Beispiel vonseiten des Bundesministeriumsfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ei-nen Gender-Aktionsplan, der mit der EuropäischenUnion abgestimmt ist, damit wir die Frauen in den Ent-wicklungsländern in allen Bereichen, in der Wirtschaft,in der Politik, gemeinsam voranbringen.
Offensichtlich hat dieses Thema, Gender, eine beson-ders aggressiv machende Wirkung, insbesondere beiMännern der Koalition. Herr Brüderle, dass Sie sich über-haupt hierherwagen, ist eine unglaubliche Geschichte.
Ich habe mir sagen lassen, dass Herr Kauder und Sienicht bereit waren, eine Gender-Strategie mitzutragen,weil Gender etwas ist, was man eigentlich nicht versteht.
Frau Kollegin Roth, wenn es so wäre, würde das aber
sein Recht des Zutritts zum Plenarsaal nicht aushebeln.
Herr Präsident, ich schlage vor: Denken Sie über ein
solches Verbot nach.
Frau Bär, Sie haben gesagt, Sie wollten in 2013 nicht
noch einmal eine Rede halten müssen, in der Sie Glei-
ches beklagen müssten. Ich gebe Ihnen recht. Ich bin si-
cher, dass die Kolleginnen in den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP in den nächsten zwölf Monaten noch
viel Überzeugungsarbeit leisten werden, um die Herren
ihrer Fraktionen und ihrer Parteien davon zu überzeu-
gen, dass Gender bedeutet, dass Frauen überall den glei-
chen Zugang zu allen Positionen, zu allen Möglichkeiten
in Schule, Beruf und Ausbildung usw. haben. Wenn sie
das nicht wollen, dann kann man ihnen nicht helfen.
Aber dann müssen sie wirklich darüber nachdenken, ob
sie eigentlich noch auf der Höhe der Zeit sind. Ich würde
sagen: Das sind sie nicht.
Jetzt zum guten Schluss. Wir haben im Bereich der
Entwicklungspolitik gemeinsam sehr viel vor. Ich muss
sagen: Eines hat mich ein bisschen gestört, nachdem ich
den Antrag 17/8903 heute Morgen auf meinen Schreib-
tisch bekommen hatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen, ich danke Frau Pfeiffer und
Frau Wöhrl und ich danke Frau Dr. Christiane Ratjen-
Damerau dafür, dass sie diesen Antrag unterschrieben
haben. Normalerweise müssten Sie, Herr Brüderle, Herr
Kauder und Frau Hasselfeldt es sein, die einen solchen
Antrag unterschreiben; aber sie haben es nicht getan.
Das ist schade; das ist zu bedauern. Wir lassen uns aber
nicht auseinanderdividieren. Dieser Antrag ist so gut,
dass er umgesetzt werden muss. Ich gehe davon aus,
dass uns dieses Parlament in dieser Frage unterstützt, da-
mit wir in der Entwicklungspolitik einen Schritt weiter-
kommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erhält die Kollegin Ratjen-Damerau für die FDP-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen
und Herren! Frau Roth, ich greife nur kurz auf, was Sie
gesagt haben, und möchte mich bei Herrn Brüderle be-
danken, dass er heute gekommen ist und sich meine
Rede zu dem von mir unterzeichneten Antrag anhört.
Herzlichen Dank, Herr Brüderle!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wargestern mit einigen Kollegen in Tunesien.
– Herr Brüderle, jetzt wollen wir uns auf diesen Antragkonzentrieren.
Das geht alles zulasten meiner Redezeit, Herr Brüderle.
Kollegen und ich waren gestern mit der Bundesminis-terin in Tunesien. Wir sprachen dort mit Frauen, ohnedie die Revolution in Tunesien nicht möglich gewesenwäre. Diese Frauen haben mutig und stark in das revolu-tionäre Geschehen eingegriffen. Sie sind bei Diskussio-nen vertreten und schreiben Manifeste. Sie haben auchjetzt noch eine starke Stimme und setzen sich für dieRechte der Menschen, insbesondere für die Chancen-gleichheit der Frauen, ein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19535
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
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Ich muss sagen: Ich war sehr beeindruckt von den jun-gen Frauen, die gut ausgebildet und mutig sind und überdas Internet ihre Meinungen und ihre Freiheitsgedankenverbreiten.Faire Chancen für Frauen sind die Voraussetzung fürFrieden, Sicherheit und Wohlstand in einer Gesellschaftund in der gesamten Welt. Frauen sind der Schlüssel derEntwicklung von Gesellschaften. Dort, wo Frauen weit-gehend gleichberechtigt leben können, entwickeln sichGesellschaften schneller. Das Wirtschaftswachstumnimmt zu, und die Armut wird verringert.Die Weltbank hat nachgewiesen, dass Länder, in de-nen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen beiErziehung, Beschäftigung und Eigentumsrechten geringsind, weniger Probleme mit Unterernährung und Kinder-sterblichkeit haben. Die Wirtschaft dieser Entwicklungs-länder wächst schneller, und sie werden verantwortungs-voller regiert.Verbesserte Bildungs- und Lebenschancen für Frauentragen außerdem zu einer bewussten Familienplanungund zu einer Verminderung des Bevölkerungswachstumsbei. Außerdem ist bewiesen, dass von Frauen erarbeite-tes Geld zu einem größeren Teil der Familie zugute-kommt als das von den Männern erarbeitete Geld.Doch Frauenrechte sind nicht nur ein volkswirtschaft-licher Faktor oder eine Frage des Wirtschaftswachstums.Die Forderungen und Ansprüche der Frauen sind ein un-verzichtbares und völkerrechtlich verankertes Menschen-recht. Es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen inEntwicklungsländern dieselben Rechte – im Familien-recht, im Landrecht, im Scheidungsrecht oder im Erb-recht – besitzen. Es müsste selbstverständlich sein, dassihre körperliche Gesundheit und Unversehrtheit genausowertvoll sind wie die der Männer.
Und es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen diegleichen Möglichkeiten und Chancen haben wie Män-ner.Doch 70 Prozent der extrem armen Menschen sindFrauen, und zwei Drittel dieser Personen sind Analpha-beten. Die Gesundheit und die sexuelle Selbstbestim-mung der Frauen in vielen Teilen der Welt werden weniggeachtet. Jede Minute stirbt eine Frau an den Folgen ei-ner zum Teil ungewollten Schwangerschaft oder Geburt.Frauen besitzen in den Entwicklungsländern nur 2 Pro-zent der Landfläche, und sie besetzen weltweit nur17 Prozent der Parlamentssitze. Diese Beispiele zeigen,dass wir zwar einen weltweiten Konsens über die Bedeu-tung der Frauen haben, dieser aber noch nicht zu einemumfassenden Wandel bei den Rechten und Möglichkei-ten geführt hat.Daher fordern wir, die Entwicklungspolitikerinnender FDP, der CDU/CSU, der SPD und der Grünen, in un-serem interfraktionellen Antrag, dass die Bundesregie-rung die Weltgemeinschaft noch stärker als bisher beider Umsetzung der Ziele auf dem Weg zur Gleichbe-rechtigung von Mann und Frau unterstützt
und dass sie bei der Auswahl ihrer Instrumente in derEntwicklungspolitik darauf achtet, dass diese aufGleichberechtigung hinwirken und die Belange derFrauen und Mädchen eine angemessene Berücksichti-gung finden.
Wir fordern außerdem unsere Partnerländer auf, dass sieVerantwortung übernehmen, ihrer Verantwortung ge-recht werden und insbesondere den weiblichen Teil ihrerBevölkerung vor Gewalt und Ungerechtigkeit schützen.Uns allen ist gerade am Weltfrauentag schmerzlichbewusst, dass viele Frauen und Mädchen noch immer anUnterdrückung und Diskriminierung leiden. Für mich istes daher besonders wichtig, dass wir diesen Antrag nichtals Regierungskoalition, sondern als Entwicklungspoliti-kerinnen über die Fraktionsgrenzen hinaus stellen, dasswir uns mit den Frauen in den Entwicklungsländern soli-darisch zeigen und dass wir zusammenarbeiten, wenn esdarum geht, uns für alle Mädchen und Frauen in derWelt einzusetzen.An dieser Stelle danke ich ganz besonders meinenKolleginnen Sabine Weiss, Ute Koczy und Frau Roth fürdie tolle, sehr kollegiale und nette Zusammenarbeit.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Nadine Schöndas Wort.
Nadine Schön (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasBild der tunesischen Revolution ist das Bild einer jungenFrau auf den Schultern eines jungen Mannes inmittender protestierenden Menschenmenge, in ihren Händenein Transparent. Das Bild der tunesischen Revolution istweiblich. Das haben uns gestern die Aktivistinnen in Tu-nis deutlich gemacht. Der Stolz und die Überzeugungder tunesischen Frauen, für die richtige Sache gekämpftzu haben, waren bei unseren Gesprächen gestern deut-lich zu spüren.Was aber auch zu spüren und wirklich mit Händen zugreifen war, war Angst: Angst vor der Gefahr des Rück-schritts, gerade jetzt in der Phase der Transformation inTunesien, Angst davor, dass im neuen tunesischen
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19536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Nadine Schön
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Rechts- und Verfassungssystem die Scharia geltenkönnte und Frauenrechte hintangestellt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr bewusst wurdemir bei diesen Gesprächen am Vortag des Weltfrauen-tags: In keinem Land der Welt ist Gleichberechtigungerreicht. Auch im Jahr 2012 kämpfen überall auf derWelt Frauen um Gleichberechtigung und Partizipation.Nirgends ist das Erreichte sicher.
Deshalb finde ich es gut, dass wir heute neben dernationalen Perspektive auch einen Antrag mit der globa-len Perspektive beraten. Liebe Kollegen, auch wenn Siesich eben darüber lustig gemacht und das bagatellisierthaben: Uns ist es nicht egal, wie es den Frauen in derWelt ergeht, und deshalb reden wir heute sowohl überdas Nationale als auch über das Globale.
Deutschland spielt eine wichtige Rolle in der globalenGleichstellungspolitik. Wir sind ein anerkannter und re-spektierter Partner für viele Länder bei Projekten, zumBeispiel auch bei der neuen Organisation UN Women.Deshalb bekennen wir uns mit diesem Antrag geradeauch zu unserer Verpflichtung gegenüber dieser Organi-sation, sowohl finanziell als auch organisatorisch. Dasist am heutigen Tag ein starkes Zeichen.Wir sind international auch Vorbild: Vorbild mit unse-rer modernen Methode, mit unserem modernen Ansatzin der Gleichstellungspolitik, nämlich der Gleichstel-lungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive.
Lebensverlaufsperspektive heißt: Wir richten unsereGleichstellungspolitik nicht an Momentaufnahmen ausund schon gar nicht nach einem einzigen Praktikumstagin einem Frauenberuf. Wir betrachten die langfristigenFolgen von Lebensentscheidungen von Frauen und Män-nern. Allzu oft – das zeigt auch der Gleichstellungsbe-richt – haben von Frauen und Männern gemeinsamgetroffene Entscheidungen im Lebensverlauf einseitignegative Auswirkungen auf Frauen, so etwa beimThema Entgeltungleichheit oder auch bei der Rente.Deshalb ist das gezielte Betrachten der konkretenLebensverlaufsperspektive wichtig, wenn es darum geht,die richtigen Maßnahmen zu treffen.
Bisher können wir bei den Themen Entgeltgleichheitund Rentensituation nicht zufrieden sein.
Wir können auch mit der politischen Partizipation aufallen Ebenen nicht zufrieden sein. „Wer nervt mehr alsClaudia?“ ist eine wirklich gute Aktion der Grünen.Wir können auch mit dem Anteil von Frauen in Füh-rungsetagen der Wirtschaft nicht zufrieden sein – einThema, das gerade in den letzten Tagen wieder intensivdiskutiert wird. Wir müssen uns zusammen mit der Wirt-schaft doch ehrlich fragen, ob wir wirklich die Europäi-sche Union brauchen, um in Deutschland zu mehrFrauen in Führungspositionen zu kommen.
Wir müssen uns zusammen mit der Wirtschaft fragen,wie attraktiv wir eigentlich für ausländische weiblicheFachkräfte sind, wenn sie in den Führungsetagen derdeutschen DAX-Unternehmen nur geschlossene Sys-teme, nahezu ohne Frauen, vorfinden. Wie attraktiv sindeigentlich technische Berufe, wenn es keine weiblichenVorbilder gibt? Welche Signale senden wir an Frauenmeiner Generation, die motiviert ins Berufsleben star-ten? Ich will nicht, dass meine Generation die nächsteist, die an der gläsernen Decke hängen bleibt. Ich will,dass Politik und Wirtschaft das Thema Frauen in Füh-rungspositionen noch heute angehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles das sindPunkte, bei denen wir wirklich unzufrieden sind, was wiram heutigen Weltfrauentag auch artikulieren sollten.Was wir aber nicht machen sollten und was uns wirklichkeinen Schritt weiterbringt, ist, gegenseitige Beschimp-fungen, Diffamierungen und die Unterstellung auszu-sprechen, es würde uns nicht um die Rechte der Frauengehen, wie wir das heute wieder in vielen Reden erlebthaben. Um den richtigen Weg in der Sache kann manstreiten, aber gegenseitige Diffamierungen sind garan-tiert der falsche Weg.
Der zweite Fehler, den wir nicht machen sollten, ist,das Erreichte als selbstverständlich zu nehmen. Wirhaben in den vergangenen Jahren viel erreicht, etwa beider Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch beimSchutz von Frauen vor häuslicher Gewalt und – ganzaktuell im letzten Jahr – vor Zwangsheirat.Wir haben weitere Verbesserungen erarbeitet, etwadas Chancengleichheitsgesetz, das bundesweite Hilfs-telefon – ein ganz wichtiges Thema für Frauen in Not –und auch Partizipationsmöglichkeiten in allen Bereichengeschaffen. Wir sind an vielen Punkten dran, und auchdas sollte am heutigen Tag erwähnt werden.
An einem Tag wie dem Weltfrauentag sollten wir diePunkte nennen, bei denen wir unzufrieden sind; wir soll-ten aber auch die Erfolge benennen, und wir sollten dieErfolge nie für selbstverständlich halten, sei es hier inDeutschland, in Tunesien oder weltweit. Das ist meinAnliegen am heutigen Weltfrauentag. Deshalb danke ichan dieser Stelle allen, die sich beruflich, ehrenamtlichoder einfach tagtäglich im Alltag dafür einsetzen, dass esmehr Gleichberechtigung in Deutschland gibt.Herzlichen Dank an Sie alle.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19537
Nadine Schön
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Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die Sozialdemokratie war immer auch international
aufgestellt. Eines der wichtigsten Ziele der politischen
Arbeit von August Bebel war, gegen Vorurteile zu kämp-
fen, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entge-
gengestanden haben. Er hatte vor 133 Jahren recht, und
er hat es heute leider immer noch. Das zeigen uns die
jährlichen Debatten um den Internationalen Frauentag.
Von der Ministerin habe ich diesbezüglich leider wenig
gehört. Ich frage mich: Wie will sie Gleichstellung
umsetzen? Welche Rezepte bietet sie an? Das hätte sie
uns heute sagen müssen.
Die Internationalen Frauentage haben regelmäßig
zwei Schwerpunkte: auf der einen Seite der Kampf
gegen die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben
und im gesellschaftlichen Leben und auf der anderen
Seite die Situation von Frauen, die Opfer von Gewalt
geworden sind. Zum ersten Themenbereich ist schon
viel gesagt worden. Ich kann meinen Vorrednerinnen,
die sich gegen strukturelle Benachteiligung ausgespro-
chen haben, die dagegen kämpfen und sich zum Beispiel
für ein generelles Gleichstellungsgebot in der Privatwirt-
schaft einsetzen, für ihre Aussagen, die über die Landes-
grenzen hinaus wahrgenommen werden sollten, auch aus
menschenrechtlicher Sicht nur gratulieren und sie darin
bestärken.
Chancengleichheit durch Bildung und der Anspruch
auf gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit sind
weltweit Fundamente, auf die sich das Selbstbewusst-
sein von Frauen gründet. Dieses Selbstbewusstsein und
die Stärke brauchen Frauen auf der ganzen Welt, um
einen Platz im Leben zu finden und ihn zu verteidigen.
Besonders perfide ist es, dieses Selbstbewusstsein zu
brechen. Da bin ich beim Thema Gewalt gegen Frauen.
Hier bin ich bei vielen anderen Bereichen, die in diesem
Zusammenhang mit der schlechten Situation von Frauen
angesprochen werden müssen.
Eine Bemerkung zu der Reise nach Tunis: Man hätte,
denke ich, wie wir es im Menschenrechtsausschuss
immer getan haben, die Gespräche vor der Revolution
führen müssen und nicht erst danach.
Gewalttätiges Vergehen an Frauen ist zum Beispiel
seit Urzeiten ein brutales Mittel, den Kriegsgegner zu
demütigen. Diese Art der Kriegsführung gab es in den
Weltkriegen – dokumentiert zum Beispiel in der Ausstel-
lung „Verbrechen der Wehrmacht“ – und auch in den
Bürgerkriegen der letzten Jahrzehnte.
Ich möchte die Debatte zum Anlass nehmen, auf eine
Gruppe von Frauen aufmerksam zu machen, die bis heute
um ihre Anerkennung und ihre Ehre kämpft, nämlich die
sogenannten Trostfrauen. Sie sind heute über 80 Jahre alt.
Im Zweiten Weltkrieg waren sie junge Mädchen, die
jüngsten waren elf, zwölf Jahre alt. Die Japaner, Verbün-
dete Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, haben sie aus
einer Reihe von asiatischen Ländern verschleppt. Sie
mussten in Militärbordellen japanischen Soldaten dienen.
Zu dem körperlichen Leid kam die Scham. Erst im Jahre
1992 haben diese Frauen es gewagt, an die Öffentlichkeit
zu treten. Seit 20 Jahren bemühen sie sich um Anerken-
nung, Wiedergutmachung und eine offizielle Entschuldi-
gung. Ich denke, der Mut ist bewundernswert. Ich kann
die Bundesregierung nur auffordern, auf die japanische
Regierung einzuwirken – 67 Jahre nach dem Ende des
Krieges –, allen überlebenden Frauen Entschädigungen
zu zahlen und die staatlichen Archive für eine transpa-
rente, öffentliche Aufarbeitung zu öffnen. Ich bin sicher,
auch die UN-Sonderberichterstatterin für sexuelle
Gewalt gegen Frauen in Konflikten wäre Ihnen, liebe
Bundesregierung, für eine solche Initiative sehr dankbar.
Noch eine Anmerkung an Herrn Döring – er hat uns
schon verlassen, vielleicht können Sie ihm das ausrich-
ten –: Die Frauenquote der FDP-Fraktion beträgt
24,7 Prozent – für den Fall, dass die Frage noch einmal
gestellt wird und er sie nicht beantworten kann.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Sabine Weiss hat nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! „Lassen Sie unsFrauen das Gemeinsame suchen“; Kollegin Ziegler, dashaben Sie gegen Ende Ihres Beitrags heute gesagt. Diesgeht aber nicht – das hat auch meine Vorrednerin, FrauSchön, betont – mit gegenseitigen und zum Teil unhalt-baren Vorwürfen. Wenn Sie in diesem Zusammenhangunsere Bundeskanzlerin erwähnen, möchte ich hier ein-mal deutlich und klar sagen: Wir können doch froh undstolz sein, dass wir mit ihr eine Frau an unserer Spitzehaben, die sich für unser Land gerade gegen die Männerin dieser Welt durchsetzt.
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19538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Sabine Weiss
(C)
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An die Kolleginnen der Linken auch von mir einekleine Anmerkung: Wenn Sie heute Ihre Männer von derDebatte ausschließen oder zum Friseur schicken,
dann hat das nichts mit Gleichstellung zu tun. Das istnicht unser Ansatz. Das wollen wir nicht, und schon garnicht uniformiert, ob mit lila Schal oder anderswie.
Heute haben wir den Internationalen Frauentag; undals Entwicklungspolitikerin möchte ich im Rahmen die-ser Debatte einen Blick auf die armen Länder dieserErde werfen. Frauen in vielen Teilen dieser Welt könnenvon dem, was wir hier mittlerweile erreicht haben, nurträumen. Armut, Bildungs- und Chancenlosigkeit sowieKrankheit haben in vielen Teilen der Welt ein überwie-gend weibliches Gesicht. Welche Chancen ein dort gebo-rener Säugling bekommen wird, entscheidet sich viel zuhäufig dadurch, welche Gene er hat: xx oder xy, alsoMädchen oder Junge. Besonders dramatisch ist die Si-tuation von behinderten Frauen, denen wir deutlich mehrAufmerksamkeit und Unterstützung schenken müssen.
Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, und ohne dieBeteiligung von Frauen ist nirgendwo ein Staat zumachen. Die Benachteiligung von Frauen wird oft aus-schließlich mit Kultur und Tradition begründet.Ich möchte hier und heute auf einen Aspekt eingehen,der mir besonders am Herzen liegt – eine Menschen-rechtsverletzung, die so grausam ist, dass ich nie müdewerde, sie überall und immer wieder anzuprangern: dieweibliche Genitalverstümmelung. 150 Millionen Frauenweltweit sind genitalverstümmelt. Unter der Entfernungder äußeren Geschlechtsorgane leiden die Frauen einLeben lang, körperlich und seelisch, wenn sie überhauptüberleben.Die Genitalverstümmelung ist in etlichen Entwick-lungsländern nicht unter Strafe gestellt; in anderen stehtsie offiziell unter Strafe, wird jedoch nicht verfolgt. DieTradition ist alt, und nach wie vor herrscht in etlichenLändern die Einstellung, dass nur eine beschnittene Fraueine gute Frau ist. Ich kann und will mich nicht damitabfinden, dass weiterhin 3 Millionen Mädchen pro Jahrdiese Tortur erleiden müssen.
Wir müssen weitere Maßnahmen gegen diese unsäglichePraxis vorantreiben. Dazu gehört es zum Beispiel auch,Beschneiderinnen dabei zu unterstützen, ein anderesAuskommen zu finden und unsere Partnerländer in derImplementierung einer Ächtung der Genitalverstümme-lung zu beraten.Wir senden mit unserem Handeln in Deutschland Si-gnale an die Frauen in den Entwicklungsländern aus.Wenn man in Deutschland beispielsweise die Genital-verstümmelung mit einem eigenen Straftatbestand unterStrafe stellen würde, wäre das meines Erachtens einwichtiges gesellschaftspolitisches Zeichen und auch einSignal für die Entwicklungsländer, in denen Genitalver-stümmelung eben nicht unter Strafe steht.
Ich freue mich, dass wir heute am Weltfrauentageinen überfraktionellen Antrag zum Thema „Gleich-berechtigung in Entwicklungsländern voranbringen“präsentieren können; denn dies zeigt, wie wichtig diesesThema für uns alle ist, und auch, wie sehr uns die Situa-tion der Frauen und Mädchen am Herzen liegt. Gleich-stellung – oder wie immer man es auch nennen mag – istimmer ein Schlüsselthema, hier bei uns und in aller Welt.Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, nicht hier undauch sonst nirgendwo auf dieser Welt.
Ich kann für mich, für viele Frauen, aber auch für vieleMänner sagen: Was immer auch nötig ist, um die Le-bensbedingungen von Frauen in Entwicklungsländernins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken – wir sinddabei.Herzlichen Dank.
Erika Steinbach ist die letzte Rednerin zu diesem Ta-
gesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerWeltfrauentag ist natürlich auch immer Anlass, auf dasspezifische Leid von Frauen hinzuweisen. Frau KolleginGraf hat vorhin zu Recht darauf hingewiesen, dass es ja-panische Bordelle gegeben hat, in denen 100 000 bis200 000 Frauen zur Prostitution gezwungen wordensind. Der größte Teil der Opfer waren Koreanerinnen.Sie stammten aber auch aus anderen Ländern, aus China,Taiwan, den Philippinen, Indonesien, aber auch aus Ja-pan selbst. Das Leid dieser Frauen ist wirklich uner-messlich. Viele starben an den Folgen von Krankheit,Folter und Hunger oder durch Erschöpfung. Die Frauen,die diese Hölle der Zwangsbordelle überlebt haben,überstanden häufig das Nachfolgende nicht: Sie fühltensich voller Scham und Schande und nahmen sich selbstdas Leben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19539
Erika Steinbach
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Die Angehörigen der Toten wie die Überlebendenbrauchen unser Mitgefühl. Aber, Frau Kollegin Graf, ei-nes dürfen wir nicht übersehen – wir dürfen die Augendavor nicht verschließen –: Weltweit wurde und wird lei-der auch heute noch das Mittel der Vergewaltigung alsKriegsmittel eingesetzt. Die sexuelle Gewalt gegenFrauen nahm in den Kriegen des 20. Jahrhunderts er-schreckende Ausmaße an. Es ist nicht nötig, nach Asienzu schauen: Stalins Rote Armee
hat weit mehr als 2 Millionen Frauen, Mädchen und Kin-der vergewaltigt, Baltinnen, Polinnen, Deutsche, Unga-rinnen, Ukrainerinnen, russische Zwangsarbeiterinnen.Allein in Budapest sollen nach Einmarsch der Roten Ar-mee Schätzungen zufolge 100 000 Frauen vergewaltigtworden sein. Man schätzt die Zahl der deutschen verge-waltigten Frauen auf etwa 1,9 Millionen. Nur sind dieZahlen gar nicht exakt zu benennen, weil sehr vieleFrauen nicht darüber reden können. Es gelingt ihnennicht, dieses Trauma abzuschütteln.In den 90er-Jahren mussten wir auf dem Balkan fas-sungslos beobachten, dass diese Pest der Kriegsführungimmer noch vorhanden ist. Afrika ist heute ein beredtesBeispiel dafür, was sich auf diesem Felde abspielt. DieOpfer werden traumatisiert. Damit trifft man die Men-schen, aber auch die Seele eines jeden Volkes.Die Menschenrechtsverletzungen an den „Trost-frauen“ – so werden die japanischen Opfer genannt –sind mit Entschädigungszahlungen alleine in keinerWeise zu heilen. Die Aufarbeitung, die in Japan inzwi-schen beginnt, muss innerhalb der japanischen Gesell-schaft erfolgen. Aber, meine lieben Kolleginnen undKollegen von der SPD, ausgerechnet zum ersten Jahres-tag der japanischen Erdbebenkatastrophe mit dem nach-folgenden Tsunami und 15 000 Toten bringen Sie einenAntrag ins Plenum ein, der dieses schwer geschlageneLand wegen eines Vergehens aus der Mitte des 20. Jahr-hunderts an den Pranger stellt. Ich finde das absolut in-stinktlos, weil es dabei um ein generelles Thema geht; esist kein spezifisch japanisches Thema. Suchen Sie sicheinen anderen Zeitpunkt aus!
Eines müssen wir auch sehen: Die Mahnungen an Ja-pan sind wohlfeil, solange man die Augen davor ver-schließt, in welchen unvorstellbaren Dimensionen aufunserem europäischen Kontinent Massenvergewaltigun-gen als Mittel der Politik und der Kriegsführung einge-setzt worden sind. Nichts davon ist aufgearbeitet.Meine liebe Kolleginnen und Kollegen von den So-zialdemokraten, fordern Sie doch Ihren Exbundeskanz-ler Gerhard Schröder auf, zu seinem Lupenreinen-De-mokraten-Freund Putin zu gehen und ihn zu bitten, dieGräuel der Roten Armee an Frauen, Mädchen und Kin-dern aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen. Dann tunSie ein gutes Werk.
Ich biete Ihnen aber gerne an, dass wir unter denFraktionen einen gemeinsamen Antrag zu dieser Ge-samtthematik machen. Das alleine auf Japan zu fokus-sieren, finde ich zu diesem Zeitpunkt schlichtweg unan-ständig.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8879, 17/8789, 17/8897 und
17/6240 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8903 mit dem
Titel „Gleichberechtigung in Entwicklungsländern vo-
ranbringen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Antrag ist
mit breiter Mehrheit angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 f geht es um die Be-
schlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Geschlechterge-
rechte Besetzung von Führungspositionen der Wirt-
schaft“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf der Drucksache 17/8830, diesen Antrag
der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Diese Beschlussempfehlung ist mehrheit-
lich angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Ein Jahr Fukushima – Die Energiewende muss
weitergehen
– Drucksache 17/8898 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auch hier ist interfraktionell eine Debattenzeit von
90 Minuten vorgesehen. – Offenkundig gibt es darüber
Einvernehmen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Sonn-tag jährt sich eine dreifache Katastrophe. Ein Erdbebenund ein Tsunami zerstörten weite Teile der Küste Japans.20 000 Menschen kamen ums Leben. Mehrere TausendMenschen sind bis heute vermisst. Unsere Gedanken
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19540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Jürgen Trittin
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sind an diesem Tag bei den Opfern und ihren Angehöri-gen.Das Erdbeben und der Tsunami haben nicht nurSchiffe an Land gespült, sondern auch sechs Reaktorenbei Fukushima so beschädigt, dass man sie nicht mehrunter Kontrolle bekam. In mindestens drei dieser Reak-toren kam es zur Kernschmelze. Wir haben es mit einemdreifachen Super-GAU zu tun. Das Undenkbare, das Un-vorstellbare trat ein.Ein Jahr nach dieser Katastrophe leben heute noch320 000 Menschen in Notunterkünften. Nur der aller-kleinste Teil von 23 Millionen Tonnen Schutt konnte bis-her geräumt werden. Viele Kommunen weigern sich, denSchutt auf ihre Deponien zu nehmen, weil sie fürchten,er sei radioaktiv verseucht.Die dreifache Katastrophe aus Erdbeben, Tsunamiund Super-GAUs brachte unendliches Elend und Leid.Sie brachte aber nicht nur Leid, sondern war auch eineökonomische Katastrophe. Die Münchener Rück bezif-fert die Schäden auf 210 Milliarden Euro und spricht vonder größten Naturkatastrophe überhaupt.Fukushima war auch eine ökologische Katastrophe.Das Norwegian Institute for Air Research hat errechnet,dass die in Fukushima freigesetzte Menge an Radioakti-vität die größte zivile Freisetzungsmenge in der Ge-schichte der Menschheit war.Und was war die Reaktion? Die Betreiberfirma Tepcound die japanische Regierung reagierten so wie immer,wenn es um Atomkraft geht, und von einem solchen Ver-halten in Deutschland konnten wir erst heute Morgen lei-der wieder bezüglich der verrosteten Atommüllfässer inBrunsbüttel lesen. Es wird verschwiegen und abgewie-gelt. Die Folge in Japan war: Es wurde zu spät und vielzu zögerlich evakuiert. Bis heute sind weite Teile desLandes radioaktiv verseucht. Das gilt nicht nur für dieunmittelbare Nachbarschaft, auch in der MillionenstadtTokio haben wir Werte, die eine Belastung aufzeigen.Das Verschweigen und Beschönigen geht bis heuteweiter. Menschen wird versprochen, sie könnten zurück-kehren, dabei ist derzeit gerade mal ein Reaktor notdürf-tig mit einem Zelt abgedeckt. Nach wie vor tritt Radio-aktivität aus. Die Katastrophe ist einfach nicht vorbei.Überall noch werden Lebensmittel verkauft, die selbstdie nach oben manipulierten Grenzwerte überschreiten.Wann und wie mit dem Rückbau begonnen wird, istungewiss. Sie müssen sich klarmachen: Mit dem Rück-bau des Reaktors Three Miles Island in den USA konnteerst 30 Jahre nach der Katastrophe überhaupt begonnenwerden. Von einer baldigen Rückkehr der Menschenkann also leider nicht die Rede sein.Fukushima hat die Einstellung der Menschen zurAtomkraft weltweit verändert. Italien lehnte in einemVolksentscheid den Einstieg in die Atomenergie ab, inder Schweiz wurde ein Neubauverbot beschlossen, undselbst in Frankreich gibt es in Umfragen Mehrheiten ge-gen den Neubau von Atomkraftwerken. In Japan lieferngerade einmal zwei der 54 Atomkraftwerke Strom; derRest wurde vom Netz genommen, weil sich niemandtraut, die Verantwortung dafür zu übernehmen.Die Katastrophe traf in Deutschland eine Regierungim atompolitischen Blindflug. Sie hatte gerade beschlos-sen, die Laufzeiten über 2040 hinaus zu verlängern.Durch Fukushima wurde die Bundesregierung von derAnti-AKW-Bewegung, von Grünen, von Sozialdemo-kraten und von Linken gezwungen, eine Halse in derAtomenergiepolitik hinzulegen; sie musste in vollerFahrt die Richtung wechseln. Sie haben vor knapp einemJahr die acht ältesten Kraftwerke stillgelegt. Sie wollenbis 2022 aussteigen. Das rot-grüne Ausstiegsgesetzwurde reaktiviert.In Deutschland gibt es jetzt einen Konsens über denAusstieg. Ich sage sehr deutlich: Das ist gut so, und wirbegrüßen das.
Aber wir haben in Deutschland noch keine Energie-wende; vielmehr sind wir an manchen Stellen Zeuge ei-ner schwarz-gelben Konterrevolution gegen die Energie-wende.
Wer die Energiewende wirklich will, der muss für denAusbau erneuerbarer Energien, für mehr Energieeffi-zienz und für Energieeinsparung sorgen. Aber was tunSie? Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energiendurch Ihre EEG-Novelle abwürgen.
Sie blockieren seit einem Jahr ein verbindliches Energie-effizienzziel der EU von 20 Prozent, obwohl Ihre eigeneKanzlerin dieses Ziel in der EU durchgesetzt hat. Siesind dagegen, dass das, was die Bundeskanzlerin durch-setzt, in Europa verbindlich wird. Sie verweigern ein eu-ropäisches, ambitioniertes Klimaschutzziel von 30 Pro-zent bis 2020. Die Folge sind billige CO2-Zertifikate undein Wiederanstieg des Ausstoßes von CO2 aus Braun-kohlekraftwerken. Das nenne ich eine energiepolitischeBankrotterklärung.
Sie zerstören Investitionssicherheit. Erst treiben Sieden Strompreis nach oben, indem Sie die Energiever-schwendung in Großbetrieben durch Haushalte undkleine Handwerksbetriebe subventionieren lassen. AlsSie dann feststellen müssen, dass die Preise sehr starkgestiegen sind, behaupten Sie, dass Sie das EEG novel-lieren müssen. Die Wahrheit ist: Ohne diese Beschlüssewäre die EEG-Umlage gesunken und nicht gestiegen.Der Preistreiber im Erneuerbare-Energien-Gesetz istnicht der Bereich der erneuerbaren Energien, er heißtschlicht und ergreifend Rösler.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19541
Jürgen Trittin
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Lieber Kollege Kauch, Sie behaupten, es ginge Ihnenum den Preis bzw. die Kostendämpfung. Wenn das so ist,dann frage ich mich: Warum senken Sie besonders denAnteil der preiswertesten Form der Energieerzeugungdurch Photovoltaik auf Freiflächen ab? Nein, es geht Ih-nen nicht um den Preis. Sie wollen am Ende den Ein-speisevorrang für erneuerbare Energien abschaffen. Des-wegen gibt es nicht mehr 100 Prozent Einspeisung. Siewollen schlicht und ergreifend mehr Strom von RWEund Eon. Sie wollen mehr Strom aus Kohlekraftwerkenstatt mehr Strom aus Wind und Sonne im Netz haben.Das ist Ihr Plan.
Mit dem Atomausstieg hat Deutschland den richtigenWeg eingeschlagen. Die Welt schaut auf dieses Land.Wir müssen hier zeigen, dass wir in der Lage sind, dieEnergieerzeugung eines großen, wichtigen Industrielan-des auf eine erneuerbare, effiziente und sparsame Basiszu stellen. Dafür brauchen wir mehr als den Ausstieg.Dafür brauchen wir die Energiewende. Sie gefährdendiese Energiewende durch das Desinteresse des Umwelt-ministers, durch die aktiven Bemühungen des frosch-fressenden Teils Ihrer Koalition.
Die Energiewende ist machbar: mit einem konsequen-ten Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien, mitInvestitionen in Speicher und Netze, mit Energieein-sparung und mit verbindlichen Energieeffizienzzielen.Diese Lehre aber haben Sie aus Fukushima noch zuziehen.
Nächster Redner ist der Kollege Michael Paul für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am11. März des letzten Jahres, 14.46 Uhr Ortszeit, gab esvor der Küste Japans, 130 Kilometer vor Sendai, einErdbeben mit der Stärke 9,0 auf der Richterskala. Daswar eines der stärksten Erdbeben, das jemals gemessenwurde. Circa eine Stunde später traf eine Tsunamiflut-welle auf das Festland, zwischen 7 und 15 Meter hoch.Über 15 800 Menschen starben, 3200 werden noch heutevermisst. Über 6000 Menschen wurden infolge desErdbebens und des Tsunamis verletzt. Über 350 000Menschen verloren ihr Heim, davon 80 000 im Umkreisdes Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi. Große Flächensind immer noch kontaminiert, radioaktiv belastet. Dassind die schrecklichen Folgen des 11. März 2011 inJapan. Im Namen meiner Fraktion spreche ich dem japa-nischen Volk unser tief empfundenes Mitgefühl für daserlittene, unendliche Leid aus.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen halte ich es auchheute, ein Jahr später, für unangemessen, die Ereignissein Japan allein auf den Reaktorunfall in Fukushima undden Kernenergieausstieg hierzulande zu reduzieren.Heute, ein Jahr später, wissen wir: Im KernkraftwerkFukushima lagen Meerwasserpumpen zur Kühlung derReaktorblöcke samt elektrischem Antrieb nur 5 Meterüber dem Meeresspiegel. Auch die Dieselgeneratorenfür den Notstrom für alle Blöcke der Anlage Fukushimalagen im selben Raum nebeneinander, ebenfalls nur5 Meter über der Wasserlinie. Die Türen des Reaktor-gebäudes waren nicht gegen eindringendes Wasser gesi-chert, sodass die Pumpen und Generatoren ausfielen, alssie überflutet wurden, was letztlich dazu führte, dass eszur Kernschmelze in drei Blöcken des Kraftwerkes kam.Heute wissen wir: Es gab in den letzten 510 Jahren al-lein 16 Tsunamis mit über 10 Meter Wellenhöhe. Dasheißt, statistisch tritt ein solcher Tsunami mit einer sol-chen Wellenhöhe in Japan etwa alle 30 Jahre auf. DieSchutzmauer der Anlage in Fukushima war so konstru-iert, dass sie einer Flutwelle von maximal nur 5,70 Meterstandhalten konnte. Es sind also massive Fehler bei derAuslegung der Anlage gemacht worden. Um es ganzklar zu sagen: Diese Anlage hätte so niemals an dieserStelle errichtet werden dürfen.
Anders als unmittelbar nach dem Beben wissen wirheute: Hier wurden die Regeln für die erforderlicheSchadensvorsorge grob nicht eingehalten. Das hat nichtsdamit zu tun, dass sich das sogenannte Restrisiko ver-wirklicht hat; denn „Restrisiko“ – das sagt auch dasVerfassungsgericht – heißt, dass eine der Technik inne-wohnende Gefahr verwirklicht wird, die vom mensch-lichen Erkenntnisvermögen nicht erfasst ist. Dass einKernkraftwerk an der Küste des Pazifiks einem Tsu-nami, mit dem in dieser Gegend der Welt etwa alle30 Jahre zu rechnen ist, standhalten muss, erschließt sichjedem; dies geht sicher nicht über das menschlicheErkenntnisvermögen hinaus. Mit Restrisiko hat das alsonichts zu tun.
Vor diesem Hintergrund können wir alle froh sein,dass dort – über die fürchterlichen Folgen des Erdbebensund des Tsunamis hinaus – radiologisch, also durchradioaktive Strahlung bedingt, nicht mehr passiert ist. Inder letzten Woche war der langjährige Vorsitzende derStrahlenschutzkommission, Professor Michel, bei uns imUmweltausschuss. Auch er hat festgestellt: Durch radio-aktive Strahlung gab es in Japan keine Toten und keineVerletzten.
Auch in Zukunft, Herr Bülow, wird es weder bei der Be-völkerung noch bei den Arbeitern im Kraftwerk gesund-
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Dr. Michael Paul
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heitliche Auswirkungen durch radioaktive Strahlung ge-ben,
vorausgesetzt die von der japanischen Regierung ergrif-fenen Maßnahmen werden fortgesetzt.
Dass Sie von der SPD und von den Grünen ausge-rechnet das, was der langjährige Vorsitzende der Strah-lenschutzkommission sagt, in Zweifel ziehen – er wurdevon Jürgen Trittin in die Kommission geholt und vonSigmar Gabriel zum Vorsitzenden befördert –, dasspricht Bände.
Herr Kollege, es gibt eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Vogt. Möchten Sie diese zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Paul, wenn das alles unproblematisch ist
und kaum dramatische Folgen hat – so beschreiben Sie
es –, könnten Sie uns dann bitte erklären, wieso die Bun-
desregierung den Atomausstieg in der Form beschlossen
hat, wie sie ihn beschlossen hat?
Frau Vogt, das kann ich gerne tun.
Wir haben die Situation in Japan zu einem Innehaltengenutzt und uns mit der Frage beschäftigt, ob unsereEnergiepolitik so, wie wir sie angelegt haben, unter an-derem im Energiekonzept von 2010, fortführbar ist. ImBundestag, im Bundesrat und auch in der Bevölkerungwar eine große Mehrheit der Auffassung – in diesemPunkt war man sich einig –,
dass es keine Verlängerung der Laufzeiten – diese hattenwir ursprünglich beschlossen – geben soll.
Spätestens im Jahre 2022 wird die Nutzung der Kern-energie zur elektrischen Energieerzeugung in Deutsch-land beendet sein.Die zwei Arbeiter, deren Bilder wir vor einem Jahr imFernsehen gesehen haben, die Verbrühungen durch ra-dioaktiv belastetes Kühlwasser erlitten haben, konntennach wenigen Wochen der Beobachtung aus dem Kran-kenhaus entlassen werden, da sie Gott sei Dank keineSchäden durch radioaktive Strahlung davongetragenhaben.
– Sie müssen die Fakten zur Kenntnis nehmen.
Dass der Tsunami und das Erdbeben schreckliche Folgenhatten, ist unbestritten. Dass wir radiologisch gesehenunheimliches Glück hatten, steht auch außer Frage. Dashat unter anderem damit zu tun, dass – anders als inTschernobyl – ein Sicherheitsbehälter vorhanden war,der verhindert hat, dass noch mehr Strahlung ausgetretenist.
Wir haben in Deutschland die richtigen Schritte ein-geleitet. Die Reaktor-Sicherheitskommission wurdebeauftragt, unverzüglich alle deutschen Kernkraftwerkeauf den Prüfstand zu stellen, gerade auch unter demGesichtspunkt, ob unwahrscheinliche Ereignisse – auchin einer Kombination miteinander – gefährlich werdenkönnen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Sicherheits-reserven deutscher Anlagen sind deutlich größer. Dashaben mittlerweile auch die Stresstests auf europäischerEbene bestätigt. Nicht nur Naturkatastrophen wie Erd-beben und Hochwasser wurden dabei betrachtet, sondernauch menschlich beeinflusste Ereignisse wie Flugzeug-absturz und Terrorangriff.Es kann also nicht davon die Rede sein, wie jetzt imAntrag der Grünen zu lesen ist, dass die Bundesregie-rung zur Sicherheit laufender Anlagen nichts gelieferthätte. Aber Sicherheit – auch das gilt es festzuhalten –hört nicht an den Grenzen auf. Allein in Europa sindüber 150 Kernkraftwerke in Betrieb, weltweit sind esüber 430. An dieser Stelle sind wir uns mit den Kollegender Grünen einig: Das Risiko eines nuklearen Unfallswird nicht dadurch minimiert, dass wir Deutschland zurkernkraftfreien Zone erklären. Auch in unseren Nach-barländern in Europa werden weiter Kernkraftwerkebetrieben und neue gebaut.
Daher begrüße ich außerordentlich, dass die Bundes-kanzlerin auf europäischer Ebene durchgesetzt hat – ichbedanke mich dafür bei ihr –, dass für alle Anlagen in
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Dr. Michael Paul
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Europa die Durchführung von Stresstests veranlasstwurde.
Die Ergebnisse dieser Stresstests müssen auch in unse-ren Nachbarländern umgesetzt werden, und vorgeschla-gene Maßnahmen müssen durchgeführt werden. Daserhöht nicht nur die Sicherheit bei unseren Nachbarn– Radioaktivität kennt keine Grenzen –, sondern auchdie Sicherheit bei uns.Auch weltweit wird die Kernenergie in Zukunft eineRolle spielen – ob wir das gut finden oder nicht –, schonallein deshalb, weil energiehungrige Schwellenländerwie China, Indien, Brasilien und Südkorea nicht auf die-sen Energieträger verzichten wollen.
Weil dies so ist und weil wir den Bau neuer Anlagen dortnicht verhindern können,
halte ich es im Interesse unserer eigenen Sicherheit fürvollkommen richtig, dazu beizutragen, dass dort deut-sche Technologie mit ihren anerkannten, hohen unddurch Forschung ständig weiterentwickelten Sicherheits-standards zum Einsatz kommt.
Die beschlossene Energiewende hat eine Reihe vonHerausforderungen mit sich gebracht. Schon vorher wa-ren unsere Ziele weltweit einmalig ehrgeizig. Wir verfol-gen unter anderem das Ziel, den CO2-Ausstoß bis Mittedes Jahrhunderts um 85 Prozent zu reduzieren.
Herr Kollege?
Ja, bitte?
Es gäbe noch eine zweite Zwischenfrage, diesmal von
der Kollegin Bulling-Schröter. Möchten Sie auch diese
Zwischenfrage zulassen?
Gern.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Dr. Paul. – Ich habe Ihre Rede
sehr aufmerksam verfolgt. Wir sind uns einig, dass
AKW – wenn wir sie schon nicht verhindern können –
nicht dort gebaut werden dürfen, wo es zu Erdbeben
kommt. Bald steht ja die Entscheidung der Bundesregie-
rung zu Angra 3, einem AKW, das in einem Erdbeben-
gebiet in Brasilien gebaut werden soll, an. Sie haben ge-
sagt: Wir haben wenig Einfluss darauf, ob im Ausland
AKW gebaut werden oder nicht. Wir können lediglich
deutsche Technik zur Verfügung stellen. – Bald geht es
aber auch um das notwendige Geld. Eine Hermesbürg-
schaft steht an. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob die
Bundesregierung Ihrer Meinung nach bereit ist, zu
sagen: Wir finanzieren kein AKW, das in einem Erdbe-
bengebiet gebaut werden soll und unsicher ist. – Die ent-
sprechenden Studien haben sicher auch Sie in dieser Wo-
che erhalten. Meine Frage: Wie stehen Sie dazu?
Meines Wissens hat die Bundesregierung zu diesem
Zweck Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis der
Gutachten liegt, soviel ich weiß, noch nicht vor. Die Re-
gierung wird im Lichte der Ergebnisse der Gutachten
auch über die Hermesbürgschaften entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ein Jahr nach Fukushima ist festzustellen: Was die nu-
klearen Folgen angeht, sind wir Gott sei Dank mit einem
blauen Auge davongekommen. Es hätte angesichts der
Fehler, die beim Bau der Anlage gemacht worden sind,
viel schlimmer kommen können. Der beschleunigte
Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie, den die
große Mehrheit dieses Hauses und des Bundesrates be-
schlossen hat, hat die Herausforderungen noch größer
gemacht, als sie ohnehin schon waren. Um unser Ziel,
eine sichere, bezahlbare und umweltfreundliche Energie-
versorgung zu gewährleisten, zu erreichen, haben wir
noch viel Arbeit vor uns. Die Energiewende ist kein
Selbstläufer. Die Koalition nimmt diese Herausforde-
rung entschlossen an.
Deutschland muss auch in Zukunft auf höhere Sicher-
heitsstandards für Kernkraftwerke in Europa und welt-
weit drängen,
im Interesse der Sicherheit vor Ort, aber auch im Inte-
resse unserer eigenen Sicherheit.
Ich bedanke mich.
Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wortfür die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Paul, ich bin Ihnen für Ihre Worte, die Sie als ersterRedner von der Koalition in dieser Debatte gewählthaben, ausgesprochen dankbar.
Denn diese Worte zeigen, dass wir mitnichten über denBerg sind und dass das, was vor einem Jahr auch mit Ih-ren Stimmen beschlossen wurde, für viele nur Taktik warund nichts mit Überzeugung und Bewusstsein zu tunhatte.
Was wollten Sie uns sagen? Sie haben gesagt, es gabBaumängel und unglückliche Umstände. Das ist doch ei-gentlich eine Rechtfertigung für die Auffassung „Atom-technologie ist gar nicht schlimm, Atomtechnologie darfhalt nur nicht mit unglücklichen Umständen verkettetwerden.“ gewesen. – Herr Paul, Sie sind auf dem völligfalschen Dampfer.
Herr Bundesumweltminister, Sie haben in den Reihender Abgeordneten Platz genommen. Sie haben vorhinviel mit Ihrem Kollegen diskutiert. Ich hoffe, es ging umdiese Rede. Ich frage Sie an dieser Stelle: Was ist das fürein Zeichen, wenn, ein Jahr nachdem wir diese Katastro-phe erlebt haben, hier eine Rechtfertigungsrede für alldiejenigen gehalten wird, die sagen: Wartet einmal ab,wenn wir es weiter verschlafen, werden sie irgendwannwieder auf uns zukommen, dann werden wir den Macht-kampf gewinnen. – Denn nichts anderes steht dahinter,ein großer Machtkampf der vier großen Energieversor-ger gegen dezentrale Einheiten, gegen Genossenschaftenvor Ort, gegen Bürgerinnen und Bürger, die sehr vielweiter sind als Sie, Herr Paul.
Wir können die Rede immer wieder nachlesen, dieSie gerade gehalten haben. Wir können jetzt nachemp-finden, was in Ihren Reihen und in dieser Regierung lossein muss, wenn es darum geht, etwas zugunsten vonerneuerbaren Energien zu beschließen, wenn es darumgeht, ein bisschen in Richtung Effizienz zu gehen. Alldas bedeutet für Sie eine innere tiefe Auseinanderset-zung. Ich merke heute Morgen, dass Sie noch lange nichtbeim neuen Denken angekommen sind. Sie sind noch imalten Denken verhaftet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wann begreifen wir endlich, was dort geschehen ist?Ein Tipp von mir: Gestern Abend lief eine hervorra-gende ZDF-Dokumentation im Fernsehen mit dem Titel„Die Fukushima-Lüge“. Diese zeigt, dass die größtenHerausforderungen und die größten Gefahren in Fuku-shima noch vor uns liegen, weil es latente Gefahren gibt,die zu einem Desaster führen könnten.Herr Paul, schauen Sie sich solche Sendungen an!Reden Sie dann mit uns darüber, was das tatsächlich fürdie Menschen vor Ort bedeutet! Ich finde, die abstrakteDiskussion ist das eine, das Beschäftigen mit denSchicksalen vor Ort ist ein anderes.Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Vor einigenMonaten hatte ich die große Ehre, die Schirmherrschaftfür einen Parlamentarischen Abend von Greenpeace zuübernehmen. An dieser Veranstaltung nahmen Men-schen aus Fukushima teil, die beschrieben haben, wie esihnen augenblicklich geht, dass sie Existenzen aufgebenmussten und nicht mehr in ihre Häuser und ihre Kindernicht mehr in die Schulen zurückkehren konnten. DieseMenschen erleben tagtäglich, was diese Katastrophe fürsie bedeutet.Ich sage Ihnen auch: Wir haben noch mehrere Zeit-zeugen. Wir haben seit Jahrzehnten eine katastrophaleSituation in Tschernobyl. Wir können jeden Tag Kontaktmit den Initiativen aufnehmen, um zu erfahren, was dieMenschen in Weißrussland heute noch, Jahrzehnte nachder Katastrophe, spüren.Herr Paul, ich fordere Sie auf: Diskutieren Sie mitdiesen Menschen! Versuchen Sie, zu verstehen, was einesolche Katastrophe bedeutet, aber nicht nur für uns, son-dern auch für die Menschen vor Ort! Ich bin mir sicher,dann würden Sie diese Rede nie wieder halten.
Wann begreifen wir endlich, wie teuer die Energie-wende ist? Wann begreifen wir in diesem Parlament end-lich, welche volkswirtschaftlichen Folgekosten durcheine einzige derartige Katastrophe entstehen? Wann be-greifen wir endlich, dass die Energiewende Geld kostet,aber das Warten auf diese Energiewende für nachfol-gende Generationen um ein Vielfaches teurer werdenwird, liebe Kolleginnen und Kollegen? Tun wir dochnicht so, als ob das, was in den vergangenen Jahrzehntenin Deutschland passiert ist, billig gewesen ist. Wir habenfossile Energie und Atomtechnologie mit Milliarden-beträgen subventioniert. Nur deswegen ging das mit derWirtschaft und den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
– Ja, Herr Kauch, dazu bekenne ich mich auch. Wirbekennen uns aber auch zum Umstieg; denn das ist dieZukunft, aber nicht die fossilen Energieträger und nichtdie Atomtechnologie, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19545
Dr. Matthias Miersch
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Sie werden von einem Sozialdemokraten von diesemPult aus nicht hören, dass wir von dem, was wir 2001begonnen haben, abrücken. Denn das war die eigentlicheEnergiewende, an der Sie im Übrigen heute noch partizi-pieren. Die Leute haben sich von Ihrem Schlingerkurszum Glück größtenteils nicht beeindrucken lassen, son-dern investieren weiter. Damit rühmen Sie sich heute.Das sind aber die Erfolge von Rot-Grün aufgrund desEEGs und aufgrund des Ausstiegsbeschlusses. Da kom-men Sie überhaupt nicht mit.
Sie werden von einem Sozialdemokraten an diesemPult nicht hören, dass uns die Wirtschaft, die Industrieetc. egal sind. Deswegen müssen wir das Ganze auchadäquat steuern.Das Schlimmste, was Sie für die Wirtschaft gemachthaben, ist doch, dass Sie den Schlingerkurs eingeschla-gen und Investitionsunsicherheit und nicht Investitions-sicherheit geschaffen haben. Jeder kleine Handwerkerleidet augenblicklich zum Beispiel unter Ihrer Debatteüber die Solar- und Photovoltaikförderung.
Wenn wir versuchen wollen, die Interessen von Wirt-schaft und Verbrauchern in Einklang zu bringen, dannmüssen wir überlegen, wie wir das hinbekommen kön-nen. Das erreichen wir nicht dadurch, dass wir einfachnur die Großindustrie entlasten. Dafür sind wir zwarauch, aber es kann nicht sein, dass der einfache Mittel-ständler und der Verbraucher diese Kosten tragen müs-sen, sondern wir brauchen hier andere Systeme. Tun Sienicht so, als ob die erneuerbaren Energien den Strom-preis im Augenblick in die Höhe treiben. Das ist mit-nichten der Fall, sondern die Preise resultieren auch ausden Freistellungen von Netzentgelten oder beispiels-weise auch von der EEG-Umlage, die Sie für die Wirt-schaft und die Unternehmen durchgesetzt haben.
– Nein, eben nicht, sondern das, was Sie hier machen, istwirtschaftsfeindlich. 340 000 neue Arbeitsplätze im Mit-telstand: Das ist die Wirtschaft der Zukunft, das ist dierot-grüne Politik, wie sie hier seit 2001 betrieben wirdund die Sie durch Ihren Kurs gefährdet haben.
Lassen Sie mich abschließend noch einen weiterenPart ansprechen; denn er hängt natürlich ganz eng mitder Energiewende zusammen. Es geht um die Frage, wiewir Effizienzprogramme, zum Beispiel zur Gebäude-sanierung etc., eigentlich finanzieren.Sie haben hier vor einiger Zeit die Innovation desLebens ausgerufen, indem Sie den Klima- und Energie-fonds ins Leben gerufen haben. Heute stellen wir fest:Die Hälfte der Einnahmen, die Sie eingeplant hatten,konnten Sie nicht realisieren. Damit stehen ganz vieleProgramme, die für die Energiewende sehr wichtigwären, zur Disposition. Auch das zeigt, wie dünn das Eisist, auf dem Sie augenblicklich wandern.Wenn man die Rede des Kollegen Paul hinzunimmt,dann weiß man: Sie wollen die Energiewende eigentlichnicht; Sie haben noch das alte Denken. Insofern müssenwir alle gemeinsam aufpassen, dass Sie es endlich ver-stehen und dass sich spätestens 2013 tatsächlich etwasbewegt – für die Wirtschaft, für die Verbraucher und fürdie Umwelt in Deutschland.Ich danke Ihnen ganz herzlich.
Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege
Michael Kauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrTrittin hat sich, glaube ich, in fünf seiner sieben MinutenRedezeit mit der Vergangenheit beschäftigt.
Den Rest der Zeit hat er die Regierung beschimpft. DieGrünen haben keinen einzigen konstruktiven Vorschlagzur Lösung der Probleme gebracht, vor denen wir bei derEnergiewende stehen. Das zeigt, welches Niveau IhrePolitik inzwischen hat.
Die Energiewende ist auf einem guten Weg. Die SPDkann hier noch so oft eine Büttenrede zum Weltfrauentaghalten. Dafür ist heute der falsche Tag; das muss maneigentlich am Rosenmontag machen. Diese Energie-wende ist politisch unumkehrbar, und dazu steht dieseKoalition geschlossen.
Die Union und die FDP haben einen schnellen Aus-stieg aus der Kernkraft durchgesetzt.
Er war übrigens schneller, als es das Gesetz von Rot-Grün vorsah. Nach dem Trittin-Gesetz von 2001 wäreneinige der Reaktoren, die wir abgeschaltet haben, nochimmer am Netz. So viel zur Modernität Ihrer Politik!
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19546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Michael Kauch
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Anders als Sie vor zehn Jahren sorgen wir eben nicht nurfür den Ausstieg, sondern wir sorgen auch für den Ein-stieg in ein neues Zeitalter der Energieversorgung. Dasist diese Koalition!
Erste Erfolge zeigen sich. Nie zuvor war der Anteilder erneuerbaren Energien an der Stromversorgung sohoch wie in 2011,
und zwar nicht wegen der Politik von Rot-Grün, wieHerr Miersch eben gesagt hat, sondern weil wir die Aus-bauziele erhöht und die entsprechenden Anreize gesetzthaben.
Die Zielmarken für die Photovoltaik sind unter dieserRegierung doppelt so hoch wie unter SPD-Umwelt-minister Gabriel. Das ist die Wahrheit, meine Damenund Herren.
Nie zuvor war der Energieverbrauch nach der Wie-dervereinigung so niedrig wie 2011. Auch das ist dieWahrheit, wenn es um Energieeffizienz in Deutschlandgeht.
Die Stabilität des Stromnetzes konnte trotz der Ab-schaltung von acht Kernkraftwerken mit erheblichenAnstrengungen gesichert werden. Das zeigt: Die markt-wirtschaftliche Ordnung ist ausgezeichnet in der Lage,auf Veränderungen der Rahmenbedingungen zu reagie-ren. Man stelle sich vor, was dabei herausgekommenwäre, wenn wir das Modell der Linken hätten, nämlichsozusagen ein VEB Netz: eine staatliche Netzgesell-schaft. Ich möchte mir nicht ausmalen, welche Blackoutswir mit einer solchen Verwaltungsgesellschaft in diesemJahr gehabt hätten.
Deshalb ist es für meine Fraktion – ich denke, ichspreche auch für die Koalition – ein Anlass, all denen zudanken, auf deren Leistungen wir bei der Energiewendenicht verzichten können. Es sind die vielen Ingenieureund Techniker, die dafür sorgen, das System stabil zuhalten. Es sind die Menschen, die in neue Energie inves-tieren. Es sind die Stromhändler, die Angebot und Nach-frage zusammenbringen. Es sind die Planer, die die drin-gend notwendigen Stromtrassen auf den Weg bringen.Es sind auch all die Menschen in den Naturschutzver-bänden, die, anders als die Grünen, die unvermeidlichenKonflikte zwischen erneuerbaren Energien und Natur-schutz konstruktiv lösen wollen. All diesen Menschenganz herzlichen Dank!
Die FDP will eine Energieversorgung, die sicher, ver-lässlich und umweltverträglich ist und für die Menschenbezahlbar bleibt. Das ist auch eine soziale Frage. Wirkümmern uns darum, dass unsere Industrie wettbewerbs-fähig bleibt. Dabei geht es nicht um Konzerninteressen,sondern um die Arbeitsplätze von vielen tausend Men-schen.
– Ich denke auch daran, dass Sie als SPD daran gemes-sen werden könnten, was die Ministerpräsidentin vonNordrhein-Westfalen jeden Tag als Forderung an dieBundesregierung stellt, nämlich die industriellen Kernein Deutschland zu erhalten. Wir erhalten die industriel-len Kerne in Deutschland.
Wenn die SPD sagt, wir würden die Großkonzerneentlasten, und dafür würden die armen Verbraucherbezahlen, halte ich ihr entgegen: Die energieintensivenGroßkonzerne sind unter SPD-Umweltminister Gabrielimmer entlastet gewesen. Was wir geändert haben, ist,dass auch der energieintensive industrielle Mittelstandentlastet wird. Wir schaffen nämlich Wettbewerbsgleich-heit. Sie sind die Partei der Konzerne. Wir sind die Parteifür den Mittelstand. Das zeigt sich wieder eindeutig.
Bisher ist der Strompreisanstieg moderat ausgefallen.Das soll so bleiben. Deshalb kürzen wir die Solarförde-rung, und zwar nicht deshalb, weil wir die Photovoltaikkaputtmachen wollen, sondern weil die immer weitersinkenden Anlagepreise endlich an die Verbraucherinnenund Verbraucher weitergegeben werden müssen. DieStromkunden sind nämlich diejenigen, die letzten Endesvon den erneuerbaren Energien profitieren sollen. Dafürsorgen wir.
Wir dürfen aber nicht nur auf den Stromsektorschauen. Die Energiewende entscheidet sich nichtzuletzt im Wärmesektor. Wir brauchen mehr Wärme-dämmung für Gebäude und mehr Ökoheizungen. Dabeigilt für uns: Wir wollen Anreize statt Zwang.Wir haben als Koalition am Sonntag noch einmalbekräftigt, dass das Programmvolumen von 1,5 Milliar-den Euro für die Gebäudesanierung steht. Wir wollenauch die steuerliche Förderung der energetischen Sanie-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19547
Michael Kauch
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rung. Die hat diese Koalition im Bundestag beschlossen,und es sind SPD und Grüne, die im Bundesrat blockie-ren. Wo Sie wie im Bundesrat Verantwortung tragen, tor-pedieren Sie die Energiewende. Auch das ist ein Teil derWahrheit in der Energiepolitik.
Wir werden als FDP darauf drängen, dass wir auch imBereich erneuerbare Wärme Fortschritte erzielen. Auchhier gilt der Grundsatz „Anreize statt Zwang“. Wir wol-len kein Ordnungsrecht, sondern ein haushaltsunabhän-giges Förderinstrument. Dazu haben wir bereits in unse-rem Wahlprogramm ein Modell vorgelegt, das zeigt, wieman eine Mindestmenge erneuerbarer Wärme für alleGroßhändler vorschreiben kann, die Öl und Gas verkau-fen. Wir sind offen für Vorschläge. Aber wir glauben,dass dieses Thema endlich angegangen und dieses Pro-blem endlich gelöst werden muss. Das ist ein weitererwichtiger Baustein unserer Energiewende.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Namen der Linksfraktion möchte ich zu Beginn mei-
ner Rede aller Opfer der drei Katastrophen in Japan ge-
denken. – Erst das Leid Tausender Menschen im vergan-
genen Jahr hat dazu geführt, dass in Deutschland das
Fortschreiten auf dem Pfad der unverantwortlichen Nut-
zung der Atomkraft beendet wurde. Eigentlich ist das
beschämend. Richtigerweise wurden acht Atomkraft-
werke sofort abgeschaltet. Der endgültige Ausstieg
wurde – wenn auch zu spät, aber immerhin – bis 2022
beschlossen.
Die Notwendigkeit der Energiewende ist klar. Die
Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft, der Weg
hin zur Wärme- und Stromerzeugung zu 100 Prozent aus
erneuerbaren Energiequellen, ist unumgänglich.
Dies erfordert aber von uns allen ein tatsächliches Um-
denken. Es erfordert neue Ansätze für dezentrale, kommu-
nale, kleinteilige Lösungen. Es erfordert Durchsetzungs-
kraft und auch finanzielle Mittel für eine zielgerichtete
Forschung, für eine zielgerichtete Förderung und für ei-
nen sozialen Ausgleich insbesondere für Menschen mit
niedrigem oder gar keinem Einkommen – aber diese bit-
ten Sie jetzt wieder zur Kasse, um die energieintensiven
Unternehmen zu entlasten –, es erfordert Geld für den
Ausbau von Netzen und Speicherkapazitäten.
Die Regierungsbilanz dazu ist beschämend. Im Januar
dieses Jahres nahm der Bundeswirtschaftsminister am
Empfang der IHK, des Unternehmerverbandes und der
Handwerkskammer in Leipzig teil. Er wurde mit einem
Heft und einem Koffer beschenkt, auf denen das Wort
„Energiewende“ zu lesen war. Der Koffer wurde geöff-
net. Er war allerdings leer. Genauso sieht Ihre Regie-
rungspolitik aus: Sie haben bisher nichts dazu beigetra-
gen, die Energiewende wesentlich voranzutreiben.
Das Einzige, was Herr Rösler in den Koffer packen
könnte, wären Sunblocker. Er könnte auch das Schild
„Energiewende“ überstreichen; denn er betreibt nicht
wirklich eine Energiewende. Aufgrund Ihrer Fehlkon-
struktion der Finanzierungsbasis – Sie haben die Einnah-
men des Energie- und Klimafonds an die Handelspreise
der CO2-Zertifikate gebunden – droht selbst das wenige
Geld, das Sie zur Verfügung stellen wollten, zur Hälfte
wegzubrechen. Es droht eine Kürzung von 780 Millio-
nen auf 452 Millionen Euro. Damit wird es Bundes-
minister Röttgen unter anderem nicht mehr möglich
sein, überhaupt noch Effizienzforschung zu betreiben.
Das ist eine Katastrophe.
Als Letztes möchte ich Sie eindringlich bitten: Wenn
Sie eine Lehre aus Fukushima, also aus der Gefährdung
von Atomkraftwerken durch Erdbeben, ziehen wollen,
dann seien Sie konsequent und geben keine Hermes-
bürgschaft für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in
Brasilien; denn dieses Kraftwerk soll in einem Erdbe-
bengebiet errichtet werden.
Jens Koeppen hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Am Sonntag jährt sich zum erstenMal der Tag, an dem zuerst ein Erdbeben der Stärke 9und danach ein Tsunami mit einer 15 Meter hohen WelleLeid, Elend, Tod, Verwüstung und Obdachlosigkeit nachJapan gebracht haben. Allein diese Naturkatastrophe hatdie Welt zum Erstarren gebracht. Aber damit war esnoch nicht genug. Als Folge der Naturkatastrophen er-eignete sich durch menschliches und technisches Versa-gen, geparrt mit technologischer Arroganz, der größteanzunehmende Unfall in einigen Kernreaktoren. Men-schen verloren ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Hei-mat, weil Lehren und Wissen über Naturkatastrophen inVerbindung mit Kernenergieproduktion vehement miss-achtet wurden.Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir ein Jahr da-nach an dieser Stelle in der Kernzeit im Deutschen Bun-destag an diese schrecklichen Ereignisse erinnern und an
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19548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Jens Koeppen
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die Menschen denken, die an diesem Tag zu Schaden ge-kommen sind.Noch am 11. März 2011 hat die japanische Regierungden nuklearen Notstand ausgerufen. Wenige Tage späterhaben wir in Deutschland ein Moratorium bei der Kern-energieproduktion in Deutschland beschlossen.Sie kennen alle die weitere Entwicklung. Im Konsenshaben wir gemeinsam die Energiewende beschlossen,eine Energiewende hin zu regenerativen Energien. Undwir haben beschlossen, dass die Kernenergieproduktionin Deutschland früher als geplant eingestellt wird.Natürlich ist eine Kausalität klar erkennbar. Dennochhalte ich den Antrag so, wie Sie ihn gestellt haben, fürfalsch. Ich halte ihn auch für reaktiv; denn er macht denEindruck, dass er das Ereignis sehr stark instrumentali-siert. Zumindest auf mich macht er auch den Eindruck,dass daraus politisches Kapital geschlagen werden soll.Das ist aus meiner Sicht trivial und durchsichtig.
So etwas hat bei Ihnen aber Methode. Das ist ähnlichwie bei dem prognostizierten Klimawandel; denn an sol-chen Ereignissen richtet sich Ihre ganze Argumenta-tionskette in der Energiepolitik aus.
Das ist unzureichend. Es ist auch einfallslos. Wir müssennämlich viel mehr agieren, statt nur zu reagieren.
Denn stellen Sie sich doch einfach einmal vor, es hättekeine Naturkatastrophen wie in Fukushima, wie in Har-risburg vor 30 Jahren oder wie in Tschernobyl gegeben.
Stellen Sie sich das einfach einmal vor! Stellen Sie sichauch vor, Herr Beck, statt hier herumzuschreien, es gäbekeinen Klimawandel, der ja prognostiziert wird. Auchund gerade dann müssen wir mit den Ressourcen, dieuns zur Verfügung gestellt sind, schonend umgehen
und haben wir die Pflicht, die Energieträger zu nutzen,die nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehen.
Wir haben auch die Pflicht, danach zu suchen, dazu zuforschen und diese zu entwickeln. Das ist unsere Auf-gabe – nicht mehr und nicht weniger.
Meine Damen und Herren, als ich geboren wurde,lebten 3 Milliarden Menschen auf der Erde. Jetzt sind esungefähr 7 Milliarden. In wenigen Jahrzehnten, viel-leicht in wenigen Jahren, werden es 9 Milliarden Men-schen sein. Die Frage ist doch: Hält dieser Planet dasaus? Werden die Menschen alle satt werden? Werden siegenügend Energie haben? Das ist die Frage, vor der wirstehen.Deshalb ist der Umbau der Energieversorgung not-wendig – nicht wegen Three-Eleven in Japan und nichtwegen des vom IPCC vorausgesagten Klimawandels,sondern aufgrund einer Vernunftentscheidung, die wirgemeinsam getroffen haben. Dann stehen Sie doch end-lich einmal dazu!
Deutschland soll eine der energieeffizientesten undumweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt sein –bei wettbewerbsfähigen Energiepreisen und bei hohemWohlstand. Natürlich müssen wir sehen, wie wir das hin-bekommen: weniger fossile Energieträger, effizienterUmgang mit den Ressourcen, weniger Emissionen undnatürlich die Maßgabe, die oben ansteht, dass Energiekein Luxusgut werden darf.Nur die moderne Zeit und der technologische Fort-schritt ermöglichen diese Entscheidung. Es gilt darum,diese solide umzusetzen.
Vor allen Dingen müssen wir – das ist ganz wichtig –auch bei der Energiewende und bei den Gesetzesnovel-len auf Akzeptanz für die moderne Energiepolitik ach-ten; denn das Ganze ist weiß Gott kein Selbstläufer.Ich komme aus einer Gegend, in der sehr viel erneuer-bare Energien produziert werden. Auch dort gilt sehr oft:Not in my backyard; überall könnt ihr Windräder auf-stellen, überall könnt ihr Solarfelder aufbauen, überallkönnt ihr Netze verlegen, aber nicht bei mir vor derHaustür.Meine Damen und Herren, viele in diesem Hause,aber auch in der Gesellschaft wissen ganz genau, was siealles nicht wollen. Aber wenn es um Alternativen undneue Ideen geht, sind die Bedenken da, und alles wirdbeklagt. Diesem Missstand müssen wir vehement entge-gentreten: mit weniger Ideologie, weniger partikularemEgoismus und mehr Offenheit. Sonst stockt die Energie-wende – und das gilt es zu verhindern.
Meine Damen und Herren, die EEG-Novelle ist not-wendig. Mich erstaunen schon Ihre massiven Angriffe.Mich erstaunen auch die Kurzsichtigkeit und das Aus-blenden der Fakten. Ich bin fest davon überzeugt, dassdie geplante Novelle die Akzeptanz sichert und dass einePreisentwicklung, wie sie durch den unbegrenzten Zu-bau von Solaranlagen eingetreten ist, diese Zustimmungerschwert. Dazu nur eine Zahl: Im Jahr 2011 haben die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19549
Jens Koeppen
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Verbraucherinnen und Verbraucher 7 Milliarden Eurofür die Photovoltaikvergütung ausgegeben – 7 Milliar-den Euro! Dagegen betrugen die gesamten Mittel für dasElterngeld im Jahr 2011 4,7 Milliarden Euro. Hier be-steht also ein krasses Missverhältnis, und das müssenwir einfach angehen. Das ist eine ganz einfache Rechen-aufgabe.Mit der EEG-Novelle wollen wir dafür sorgen, dass dieNetzstabilität gewährleistet wird, dass Anreize zum Ei-genverbrauch geschaffen werden, dass die ersten Schrittezur Dezentralisierung vollzogen werden. Außerdem wol-len wir dafür sorgen – es wurde schon angesprochen –,dass die mittlerweile entstandenen Kostensenkungen beider PV-Vergütung an die Verbraucher zurückgegebenwerden. Das ist unsere Aufgabe.
Dazu brauchen wir innovative Produkte statt billigerProdukte. Wir brauchen, gerade bei den Anlagen, höhereWirkungsgrade statt hoher Renditen; denn nur 15 Pro-zent der Module, die in Deutschland durch die PV-Ver-gütung an den Markt gebracht werden, stammen ausunserer Produktion. Auch das ist ein krasses Missver-hältnis. Wir werden den Wettbewerb mit den chinesi-schen Modulen nicht dadurch gewinnen, dass wir diePreise um 10 oder um 20 Cent senken; diesen Wettbe-werb können wir nur mit Innovationen gewinnen.Mein Resümee: Der Umbau unseres Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist unabdingbar. Es ist Zeit für einenradikalen Systemwechsel im EEG. Wir müssen das EEGzu einem Technologiegesetz umbauen. Sie selbst habendie Bundesregierung in Ihrem Antrag aufgefordert, biszum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien aufdem Strommarkt auf über 45 Prozent auszubauen. Wiesoll ein Produkt, das annähernd 50 Prozent Marktanteilhat, noch 20 Jahre lang gefördert werden? Das gehtvolkswirtschaftlich einfach nicht. Das kann man nie-mandem erklären.
Meine Damen und Herren, wir müssen dazu kommen,dass wir smart einspeisen und nicht blind. Wir müssendafür sorgen, dass wir Energieversorgung machen undnicht Renditeversorgung. Wir müssen endlich dazu kom-men, dass wir verfügbare Energien haben und nichtflüchtige Energien. Wir müssen außerdem dafür sorgen,dass wir technisches Know-how belohnen und nichtkaufmännische Cleverness.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Marco Bülow bekommt jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Miersch hat gerade darauf hingewiesen: Gesterngab es eine beeindruckende ZDF-Doku – ZDFzoom –,die noch einmal deutlich gemacht hat, wie das Geflechtvon Politik, Atomlobby und Medien die Energiepolitikin Japan dominiert hat. Dieses Geflecht hat auch dafürgesorgt, dass so etwas wie das möglich geworden ist,was wir vor einem Jahr in Fukushima erlebt haben. Dazugab es gestern keine Aussagen von Umweltpolitikernoder von Umweltschützern, sondern vom ehemaligenPräsidenten, von Gouverneuren, die deutlich gemachthaben, dass in der dortigen Politik eigentlich immer nurverheimlicht, verschwiegen, gelogen und getäuscht wor-den ist und dass das auch nach Fukushima immer nochder Fall ist: Es werden falsche Informationen herausge-geben; man kann immer noch nicht glauben, was dortveröffentlicht wird.Wir erleben hier leider immer wieder ähnliche Szena-rien: Auch hier gibt es weiterhin Märchenstunden. HerrPaul hat sie vorhin fortgeführt, nach dem Motto: Ist ja al-les gar nicht so schlimm. Wir brauchen vielleicht dochkein Umdenken. Womöglich war das Umdenken zuschnell. Von all dem, was dort passiert ist, werden dieMenschen nicht betroffen sein.
Ich denke, mit den Märchenstunden sollten wir endlichaufhören, und wir sollten endlich Tacheles reden. Wennwir den Ausstieg machen, dann sollten wir ihn auchernst nehmen und nicht hinterher wieder zerreden.
Bestätigt hat Fukushima vor allen Dingen, dassMensch und Technik versagen können – eine menschli-che Eigenschaft, die gar nicht verwerflich ist, die aberausschließt, dass wir Technologien nutzen, die einen sol-chen Schaden anrichten können. Bestätigt hat Fuku-shima auch, dass es eine Illusion war, dass es Sicherheitgibt, egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen man trifft,egal welche Sicherheitsmaßnahmen getroffen werdenund egal wie achtsam die Menschen sind.Klar ist auch geworden, dass man in Japan sehr vielGlück gehabt hat, weil es nur 12 Kilometer von Fuku-shima entfernt ein Atomkraftwerk gab, in dem es auchfast eine Kernschmelze gegeben hätte. Man hat auchdeswegen Glück gehabt, weil der Blow-out genau zu ei-nem Zeitpunkt stattgefunden hat, als der Wind nicht inRichtung Tokio wehte. Der ehemalige Ministerpräsidentvon Japan hat gesagt, es sei nahe daran gewesen, dassdie Tepco-Mitarbeiter abgezogen worden wären. Dashätte bedeutet, dass man Tokio hätte evakuieren müssen.Vor diesem Hintergrund kann man heute nicht davonsprechen, dass alles doch gar nicht so schlimm war. Ge-nau diese Fakten sollten wir uns in Deutschland einmalvornehmen.
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19550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Marco Bülow
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Aber auch hier werden die Lügen- und Märchenge-bilde fortgesetzt. Sie haben uns nach dem AtomausstiegDeutschlands erzählt, dies würde bedeuten, dass hier dieLichter ausgehen würden – spätestens im Winter hättenwir einen Energienotstand –, dass wir Atomstrom vor al-len Dingen aus Frankreich importierten müssten unddass der Strompreis steigen würde. Diese Märchen hatman auch noch nach Fukushima erzählt, um uns vomAtomausstieg abzuhalten.Was ist passiert? Erstens. Der Strompreis an derBörse ist erst leicht gestiegen; mittlerweile ist er wiederauf dem Stand, wie er vorher war. Zweitens. Frankreichhat im Winter Strom aus Deutschland importieren müs-sen. Ansonsten wären nämlich im Atomland Frankreichdie Lichter ausgegangen, nicht in Deutschland.
Drittens. Wir haben festgestellt, dass wir auch weiterhinin der Lage sind, den Atomausstieg zu kompensieren,und dass wir gerade durch den Ausbau der Erneuerbarendie Energiewende wirklich schaffen können. Das sinddie Fakten, die im Zuge der Diskussion und der Bilanzein Jahr nach Fukushima sowie der Frage, wie wir weitermit dem Atomausstieg umgehen, auf den Tisch müssen.Wir müssen vor allen Dingen auch darüber diskutie-ren, wie es insgesamt, auch international, weitergeht;denn viele sagen jetzt: Wir steigen doch in Deutschlandaus. Es ist doch alles gut. – Das ist es eben nicht. Es gibtweiterhin eine Reihe von Problemen. Wir haben inDeutschland noch über zehn Jahre Atomkraftwerke amNetz. Wir brauchen weitere Jahrzehnte – auch das müs-sen wir den Menschen sagen –, um diese Atomkraft-werke abzubauen und die Materialien einzulagern. Vor-sichtige Schätzungen gehen davon aus, dass es18 Milliarden Euro kosten wird. Wir werden in Deutsch-land weiterhin eine Diskussion über die Endlager führen;das Trauerspiel von Asse und Gorleben haben wir jahäufig schon an anderer Stelle erörtert. Zudem werdenwir damit leben müssen, dass die folgenden Generatio-nen die Lasten der Atomenergie jahrzehnte-, jahrhunder-telang tragen müssen, ohne jemals irgendeinen Vorteildavon gehabt zu haben. Auch das, so denke ich, mussimmer wieder erwähnt werden.Wenn man es ernst meinte – ich zweifle heute nachden Reden von Herrn Paul und anderen noch stärker da-ran, dass es die Union wirklich ernst meint –, dannmüssten wir auch international dafür sorgen, dass es ei-nen Atomausstieg gibt.
Denn viele Länder setzen weiterhin auf Atom. Es gibtbenachbarte Länder, die an den deutschen GrenzenAtomkraftwerke haben, die auch zu den Pannenreakto-ren gehören. Wir haben in Europa lächerliche Stresstestsdurchgeführt, die viele Kriterien eben nicht berücksichti-gen, wie zum Beispiel einen Flugzeugabsturz. Wenn dieUnion und die Regierung es ernst meinten, dann würdensie darauf hinarbeiten, in Europa ebenfalls zu einemAtomausstieg zu kommen, und würden nicht Euratomweiter fördern; denn bei Euratom ist ganz klar festgelegt,dass der Ausbau der Atomenergie das Ziel ist. So einMachwerk von früher muss beendet werden. Deutsch-land muss sich dafür einsetzen, dass Euratom in ein För-derinstrument für erneuerbare Energien umgewidmetwird. Das muss doch die Zielrichtung sein.
Auch müssen wir darauf hinwirken, dass die For-schungsmittel anders eingesetzt werden. Es kann dochnicht sein, dass wir die Förderung für ein anderes Projektin Europa, ITER – es war einmal eine Förderung inHöhe von 5,5 Milliarden Euro angesetzt –, mittlerweileauf 13 Milliarden Euro hochschrauben, immer mit derAussage: Die Kernfusion wird in 40 Jahren einen Bei-trag zur Energieversorgung leisten. – Das hat man schonvor 20 Jahren gesagt. Ich sage heute voraus: Auch in20 Jahren wird man noch von 40 Jahren sprechen. DieseGelder könnte man viel sinnvoller bei erneuerbarenEnergien und Effizienztechnologien einsetzen. Aberauch dazu hört man von der Union kein Wort; es gibtkeine Initiative.
Der größte Skandal ist, dass wir in Deutschland wie-der Hermesbürgschaften für Atomkraftwerke geben wol-len, die in aller Welt gebaut werden, beispielsweise An-gra 3. 1,3 Milliarden Euro gibt die Bundesregierung anBürgschaften für Angra 3. Das ist ein Atomkraftwerk inBrasilien, das in Deutschland nach den neuesten Krite-rien überhaupt nicht mehr gebaut werden dürfte.
Es soll in einer Küstenregion gebaut werden. Dahinterist ein Hang, an dem Erdrutschgefahr besteht. Ein Gut-achten besagt deutlich: Wenn dieses Atomkraftwerk ge-baut wird, besteht die große Gefahr, dass es Fukushima IIwird. – Das heißt, wir steigen in Deutschland aus, för-dern aber mit deutschem Geld Atomkraftwerke, bei de-nen die gleichen Gefahren bestehen wie in Fukushima.Das ist ein Riesenwiderspruch, und diesen Widerspruchmüssen Sie auflösen, wenn Sie es ernst meinen.
Rot-Grün hat mit den Hermesbürgschaften Schlussgemacht. Ich sage: Wenn die SPD wieder in Verantwor-tung kommt, wird es keinen Cent für Atomkraftwerkeinternational geben, sondern wir werden auch internatio-nal dafür sorgen, dass es eine Energiewende mit Erneu-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19551
Marco Bülow
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erbaren und Effizienztechnologien gibt, dass nicht weiterauf Atomkraft gesetzt wird.
Wenn die Union es ernst meint, sollte sie genau dort an-fangen.Wir haben auf der einen Seite schöne Reden – heuteallerdings weniger, und wahrscheinlich wird es auchHerrn Röttgen schwerfallen, die Aussagen von HerrnPaul schönzureden bzw. zurechtzubiegen –, auf der an-deren Seite aber Einschnitte bei den Erneuerbaren, einenKlimafonds, der nicht greift, weil er zu wenig Geld hat,Effizienz, die nicht vorankommt, international Doppel-zusagen, obwohl die Mittel nur einmal ausgeteilt werdenkönnen, und weiterhin international ein Festhalten an derAtompolitik.Zum Schluss ein Satz, der vielleicht noch einmal eini-ges deutlich macht. Herr Rösler hat neulich Herrn KlausTöpfer als konservativen Weltverbesserer beschimpft.Herr Rösler zeigt damit, denke ich, wes Geistes Kind erist. Mir sind Wertkonservative jedenfalls viel lieber alsneoliberale Yuppies, die Politik als reines Machtgeschäftbetrachten. Ich hoffe, dass in der Union ein Umdenkenstattfindet. Ich weiß, dass es in der Union Leute gibt, diees ernst meinen. Ich hoffe, sie überzeugen die Mehrheit.
Klaus Breil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Fukushima hat uns klar vor Augen geführt:Menschliches Handeln hat deutliche Grenzen. Meintiefstes Mitgefühl gilt den Opfern und deren Angehöri-gen.
Die Bundesregierung und die Koalition haben damalsumgehend reagiert. Die Entscheidungen wurden partei-übergreifend mitgetragen.Herr Kollege Bülow, kann man etwas eigentlich nochernster angehen, als wir es mit unseren gemeinsamenEntscheidungen getan haben? Ein bisschen wenigerPolemik wäre angemessen.
Parteiübergreifende Entscheidungen würde ich mir wei-terhin wünschen. Wenn ich den vorliegenden Antragsehe, hege ich allerdings Zweifel, dass es dazu kommt.Deutschland hat seit Jahren einen rückläufigen Ener-gieverbrauch bei einem beachtlichen wirtschaftlichenWachstum. 2011 lag der Energieverbrauch gut 5 Prozentunter dem Referenzwert von 2008. Diese Entkopplungvon Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum habennur wenige andere EU-Mitgliedstaaten gleichermaßengeschafft.
Wir bekennen uns zu dem Ziel, die Energieeffizienzin der EU bis 2020 um 20 Prozent zu steigern. Wir wolleneine verbindliche Zielfestlegung mit hoher Flexibilitätbei der Umsetzung. Die bereits erfolgten Effizienzmaß-nahmen vieler Unternehmen müssen dabei aber aner-kannt werden. Die EU-Mitgliedstaaten sollen wählenkönnen zwischen einer Steigerung der Energieeffizienzum 6,3 Prozent oder einer Senkung des Energieverbrauchsum 4,5 Prozent innerhalb von drei Jahren. Sie hingegenreden im Antrag von einer deutschen Blockadehaltungbei der Energieeffizienz in der EU.Beim Netzausbau die gleiche Unvernunft und Igno-ranz in Ihrem Antrag! Bereits einen Monat nach demUnglück in Fukushima hat das Wirtschaftsministeriumdie ständige Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“ins Leben gerufen. Eine Ihrer grünen Kolleginnen sitztübrigens dort im Beirat. Hier sorgen Netzbetreiber, Bun-des- und Länderinstitutionen sowie Verbraucher- undUmweltverbände für Lösungsvorschläge zum Netzaus-bau. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind: gesellschaftli-che Akzeptanz, Planungs- und Genehmigungsverfahren,regulatorische Rahmenbedingungen für Investitionen,die Netzanbindung von Offshorewindparks und vielesmehr. All dies sind laufende Aktivitäten, die Sie in Ih-rem Antrag immer noch einfordern. Sie ignorieren alsoFakten wider besseres Wissen.
Der Umbau der Energiemärkte ist mit erheblichenKosten verbunden. Deshalb darf die Energiepolitik nichtnur rein mengenmäßige Zielgrößen im Auge haben.Energiepreise müssen wettbewerbsfähig sein, damit diedeutsche Industrie im internationalen Wettbewerb beste-hen kann. Auch die privaten Haushalte sind auf bezahl-bare Energiepreise angewiesen.
Der energetische Umbau wird noch schneller und rei-bungsloser funktionieren, wenn Sie als Opposition dieRealität anerkennen. Sie aber unterlaufen den Umbau,wenn Sie mit unehrlichen Anträgen weiterhin Unsicher-heit vor Ort schüren. Sie sollten sich lieber Ihrer Verant-wortung bewusst werden.Vielen Dank.
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19552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Dorothée Menzner hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte die Erfolge, die kleinen Er-folge, die im letzten Jahr erzielt wurden, nicht kleinre-den. Ich möchte aber deutlich sagen: Wir sind genau ander Stelle, an der wir ohne den Ausstieg aus dem Aus-stieg, wie er nach 2009 erfolgt ist, heute auch wären. AlsLehre aus Fukushima sage ich: Das ist deutlich zu we-nig.
Bis vor wenigen Tagen war ich 14 Tage in Japan unter-wegs, quer durch das Land, habe mit vielen Menschen,mit Politikern, mit Wissenschaftlern, mit Bürgerinnenund Bürgern, gesprochen und habe viele Präfekturen be-sucht. Wie ist die Situation in Japan heute, knapp ein Jahrnach dem Desaster?Erstens. Rund 80 Prozent der Japanerinnen und Japa-ner sind für einen schnellstmöglichen Atomausstieg. Esfinden große Demonstrationen statt. Inzwischen habensie auch Unterstützung von berühmten Leuten. Ich nennenur zwei Namen, die auch in Deutschland einen gewissenBekanntheitsgrad haben: zum einen den SchauspielerTaro Yamamoto und zum anderen den NobelpreisträgerKenzaburo Oe. Ich habe mit beiden gesprochen. Beidehaben mir erzählt, sie bezahlen ihr Engagement mit öf-fentlicher Ächtung, mit weniger Aufträgen, mit finan-ziellen Einbußen und mit Anfeindungen. Ich denke, daswirft ein bezeichnendes Licht auf eine Gesellschaft.Zweitens. Wenn man Japanerinnen und Japaner aufihre Regierung und ihre Verantwortungsträger ansprichtund sie fragt, ob sie glauben, dass das Richtige passiertist und das Richtige getan wird, dann erntet man von al-len ein verächtliches Lachen. Regierung und Verant-wortliche haben jegliches Vertrauen verspielt.Drittens. Es sind noch zwei von insgesamt 54 Atom-kraftwerken am Netz. Egal wo ich unterwegs war, ichhabe nirgends Energieengpässe feststellen können. Esgab keine Stromausfälle. Wenn man durch Japan fährt,stellt man fest: Es gibt, auch ganz kurzfristig, ein riesigesEnergieeinsparpotenzial.Viertens. Die Stadt Fukushima ist eine Stadt mit ur-sprünglich 2 Millionen Menschen. Es ist ein industriellesZentrum, landschaftlich wunderbar gelegen. Die Stadtgehört nicht zum Evakuierungsgebiet. Die Strahlenwertesind aber höher als die, die ich im 20-Kilometer-Gürtelim Süden gemessen habe. Es ist eine sterbende Stadt.Alle Menschen, die es sich ökonomisch halbwegs leistenkönnen, ziehen weg, weil sie wissen, dass die Strahlung,der sie ausgesetzt sind, auf Dauer schädlich ist. Vielekönnen sich aber ökonomisch den Wegzug nicht leisten,weil sie es nur auf eigene Kosten tun können, da dieStadt nicht zum Evakuierungsgebiet gehört.Angesichts dieser und weiterer Beobachtungen habeich hinterfragt: Was sind die Ursachen? Wie kommt esdazu? Es gab interessante und sehr erschreckende Ant-worten. Ich habe mich lange mit dem Kernphysiker Pro-fessor Hiroaki Koide von der Universität Kioto unterhal-ten. Er hat mir zwei Dinge deutlich gemacht.Erstens. Japan hat in den letzten Jahren zu keinemZeitpunkt Atomstrom gebraucht, um sich mit Energieversorgen zu können. Sie hatten immer genug andereMöglichkeiten, Strom zu produzieren. Genau das wirddeutlich, wenn es jetzt keine Engpässe gibt. Man kanndarüber diskutieren, ob die Öl- und Kohlekraftwerke dasGelbe vom Ei und zukunftsweisend sind. Aber das Ri-siko der Atomtechnik für die Stromversorgung der Men-schen und der Industrie einzugehen, war nicht notwen-dig.Zweitens. Die Situation ist beileibe nicht im Griff. Bisheute kann kein Wissenschaftler sagen, was in den dreiBlöcken los ist, weil die Strahlung schlicht und ergrei-fend zu hoch ist und kein Mensch genauer hineinschauenkann. Die größte Gefahr, die häufig gar nicht in unseremBlickfeld liegt, geht von Block 4 aus – er war am11. März abgeschaltet –, in dessen Obergeschoss sich einAbklingbecken mit 1 500 Brennelementen befindet. DieTragkonstruktion des Gebäudes ist dermaßen ange-knackst, dass man sie abstützen musste. Fachleute gehendavon aus, dass ein mittleres Erdbeben ausreichenkönnte, um die gesamte Konstruktion zum Kollabierenzu bringen. Selbst Regierungsvertreter geben zu, dass ineinem solchen Fall die Evakuierung Tokios, eines Groß-raums mit 30 Millionen Menschen, notwendig würde.Drittens. Wir stellen fest: Japan hat bislang keineAbkehr von der Atomtechnik beschlossen. Angesichtsdessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das deutlichfordert, fragt man sich: Was steckt dahinter? Es istbereits angesprochen worden – ich konnte die Dokumen-tation nicht sehen –: Die Macht der Atomkonzerne inJapan ist enorm. Sie haben einen Rieseneinfluss auf dieMedien, aber auch auf politische Entscheidungsträger.Das ist sicherlich ein Grund. Einen zweiten Grund, denmir Historiker von der Universität in Hiroshima erläuterthaben, möchte ich nicht verschweigen. Gerade in derZeit, als ich in Japan war, haben Regierungsvertreter die-sen zweiten Grund deutlich artikuliert; bei uns ist er inden Medien nicht aufgetaucht. Der zweite Grund lautet:Man möchte sich die Option auf eine Atombombe erhal-ten. Die zivile Nutzung der Atomkraft gehört nämlichunteilbar immer auch zur militärischen.Mein Fazit daraus – dieses Fazit sollten wir gemein-sam ziehen und nicht aus den Augen verlieren –: DieSituation ist auch nach einem Jahr hochbrisant, und manhat sie noch längst nicht im Griff.Insgesamt möchte ich festhalten: Einige Konzernehaben, ähnlich wie in anderen Ländern, enormeGewinne mit der Atomenergie gemacht. Die Menschenjedoch zahlen, und zwar dreifach: Zum Ersten zahlen siedurch den Verlust von Heimat und von sozialen Zusam-menhängen. Sie verlieren ihr Zuhause, weil es verstrahltist oder evakuiert werden musste. Zum Teil sind sie ausfreien Stücken gegangen, weil sie ihren Kindern und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19553
Dorothée Menzner
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ihrer Familie ein Leben dort nicht weiter zumuten woll-ten. Zweitens zahlen sie mit der Gefahr des Verlustesihrer Gesundheit. Es gibt zwar relativ wenige akut Strah-lenkranke; aber auf lange Sicht ist diese Strahlung hoch-gefährlich, was Ihnen jeder Mediziner gerne bestätigenwird. Drittens zahlen sie, indem sie die Kosten des Gan-zen tragen. Sie tragen die Kosten privat, weil sie einHaus haben, das sie nicht mehr vermieten oder nichtmehr selbst bewohnen können, für das sie aber weiterhindie Hypotheken zahlen müssen. Sie zahlen es auch überSteuern und Abgaben sowie aufgrund der ökonomischenProbleme, die dieses Land zwangsläufig hat und nochlange Zeit haben wird.Das wäre in keinem Land der Welt anders; das wäreauch in Deutschland im Falle eines Falles nicht anders.Im Laufe der Jahre haben einige Wenige die Profitegemacht, aber die normale Bevölkerung zahlt die Zeche.Ich meine, nach Harrisburg, Tschernobyl und Fukushimaist es an der Zeit, dass wir daraus lernen. Das, was hierzubislang beschlossen wurde, ist jedoch deutlich zu wenig.Ein Atomausstieg, und zwar ein unumkehrbarer, mussschnellstmöglich erfolgen. Ein solcher Ausstieg ist deut-lich schneller als erst 2022 möglich; hierzu haben wirentsprechende Unterlagen vorgelegt, und Wissenschaft-ler belegen das.
Des Weiteren ist es notwendig, dass wir, die wir füreinen Ausstieg kämpfen, uns international vernetzen: aufder parlamentarischen Ebene, aber auch in den gesell-schaftlichen Bewegungen. Die japanischen Kolleginnenund Kollegen haben das erkannt und kämpfen darum. Im-merhin haben wir es mit globalen Konzernen zu tun, diesich dagegenstellen. Es ist zudem notwendig – auchwenn wir nur einen lockeren Ausstiegsbeschluss haben –,uns dafür einzusetzen, dass unsere Technik nicht inanderen Ländern importiert wird und wir kein Geld fürdie Entwicklung von Atomkraftwerken in andere Ländergeben. Natürlich gehört auch dazu, dass wir bei uns vorOrt einmal sehr genau hinschauen. Auch hier gibt esdurchaus Sicherheitsmängel und Probleme. Ich erinnerenur an die verrosteten Fässer in Brunsbüttel, über diegestern Berichte durch die Medien gingen.Deswegen: Ich habe heute gelernt, dass diese Regie-rung weiterhin Druck braucht; das ist noch nicht geges-sen. Ich glaube, die Menschen haben das auch kapiertund werden sich zahlreich an den fünf Demos und an derLichterkette am Sonntag beteiligen – zum Gedenken derOpfer in Japan und für einen schnellstmöglichen Atom-ausstieg.Ich danke Ihnen.
Sylvia Kotting-Uhl hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Siesehen: Die Opposition reist, um sich die Dinge vor Ortanzuschauen. Ich war seit Mai letzten Jahres dreimal inJapan, um Gespräche zu führen. Ich werde morgen wie-der dorthin reisen, um bei den großen Demonstrationenin Fukushima und Tokio zu reden.
Ich bin dort nicht als Grüne unterwegs, die gegen dieBundesregierung zu Felde zieht, sondern als Botschafte-rin Deutschlands.
Die Menschen dort bewundern das Beispiel Deutsch-lands und brauchen es auch. Ich glaube, Sie unterschät-zen die Verantwortung, die wir mit dem Bekenntnis zumAtomausstieg und zur Energiewende in Deutschlandweltweit übernommen haben. Das ist nicht nur einedeutsche Geschichte; das ist eine weltweite Aufgabe.
Ich habe bei meiner ersten Reise nach Japan in denGesprächen gelernt, dass die Desinformation durch diejapanischen Behörden, die Regierung und Tepco, überdie dort viel geklagt wird, kein Problem Japans ist, son-dern ein Problem der Atomkraft. Jedes Land wäre mitden Auswirkungen eines GAUs total überfordert. Das istdie Botschaft, die ich aus Japan mitgenommen habe.Japan braucht den Umstieg auf erneuerbare Energienund mehr Energieeffizienz. Wie denn sonst, Kolleginnenund Kollegen, soll Japan seinen Energiebedarf selbst beiEinsparungen stillen? Dieses erdbebengefährdete Gebietmuss weg von der Atomkraft.
Für diesen Umstieg braucht Japan ein Beispiel. Japan istein hochindustrialisiertes Land. Die gleichen Argumenta-tionen, die wir heute Morgen wieder gehört haben – dieWirtschaft braucht bezahlbare Energiepreise, sonstdrohe der Untergang Deutschlands –, sind auch heutenoch in Japan zu hören. Es gibt eine große Furcht davor,dass die Wirtschaft geschädigt wird, wenn man von derAtomkraft Abstand nimmt. Japan braucht aber denAtomausstieg zum Überleben; das hat uns doch diesesEreignis in Fukushima gezeigt. Deshalb braucht Japanein Beispiel; Japan braucht Unterstützung. Hier vermisseich ein Wort der Unterstützung von unserer Bundeskanz-lerin; ich vermisse diesbezüglich überhaupt Worte dieserBundesregierung.
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19554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Sylvia Kotting-Uhl
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Was heißt es denn, den Atomausstieg ernst zu neh-men? Das heißt, die Energiewende hier voranzubringenund sie eben nicht, wie wir es erleben, an die Wand zufahren. Das heißt, die Ausrichtung der Forschung an dieneuen Ziele anzupassen, und es heißt, weltweit, vorallem in dem getroffenen Land Japan, für eine neue Aus-richtung der Energiepolitik zu werben und zu zeigen,dass und wie es geht. Das ist unsere Aufgabe. Es wäredie Aufgabe dieser Bundesregierung, mit dieser Bot-schaft dorthin zu gehen und vor Ort davon zu überzeu-gen, dass es anders geht, dass man die Atomkraft nichtbraucht. Darauf warten wir.
Der Kollege Josef Göppel hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewendeist die historische Konsequenz aus dem Unfall vonFukushima. Die würdigste Art, der Opfer zu gedenken,ist, den Weg in eine neue Energiepolitik einzuschlagen,die solche Opfer in der Zukunft unmöglich macht.
Das ist der Weg der deutschen Energiewende.Ich finde es schon bemerkenswert, und es freut mich,wenn eine Grüne hier sagt, sie gehe als BotschafterinDeutschlands nach Japan und Deutschland werde in derWelt bewundert. In der Tat: Das deutsche Experimentwird in der Welt skeptisch und hoffnungsvoll beobach-tet. Das ist auch kein Wunder; denn kein anderes Landhat eine solche Konsequenz aus diesem Unfall gezogen.Frau Kotting-Uhl, ich meine, Sie sollten sich in demPunkt korrigieren: Sie müssen nicht auf Worte von FrauMerkel warten, weil Frau Merkel mit der Tat geantwor-tet hat. Die deutsche Energiewende ist vollzogen.
Man muss allerdings sagen, dass das nicht möglichgewesen wäre, wenn nicht die deutsche Bevölkerungüber Jahrzehnte diese Grundstimmung aufgebaut hätte.Nur diese Grundstimmung hat es ermöglicht.
Diese Grundstimmung darf uns veranlassen, in diesemZusammenhang zu sagen: Wir sind stolz auf unser Landund unsere Bevölkerung; denn dem Weg, mit dem dieDeutschen Zukunftsgerichtetheit ausdrücken, möchtenviele andere Länder folgen. Das erleben alle, die interna-tional unterwegs sind.Darüber hinaus muss man feststellen: Ein Jahr nachdiesem Ereignis haben uns die Alltagsprobleme ein-geholt. Für mich lautet der wichtigste Satz aus demBeschluss des Koalitionsausschusses vom vergangenenSonntag: Wir müssen sicherstellen, dass wieder eine aus-reichende finanzielle Ausstattung des Klimafonds herge-stellt wird. – Das heißt nichts anderes, als dass wir aufeuropäischer Ebene eine Heraufsetzung des Klimazielsvon 20 auf 30 Prozent brauchen
und dass die vagabundierenden, überschüssigen Zertifi-kate eingesammelt werden.Auch an dieser Stelle freut mich der Beifall der Oppo-sition; denn Deutschland hat erklärt, dass auf nationalerEbene eine CO2-Minderung von 40 Prozent beschlossenwurde und dass Deutschland diese Ankündigung auch inden Brüsseler Verhandlungen aufrechterhält. Wir wis-sen, dass es im Moment drei osteuropäische Länder gibt,nämlich Polen, Bulgarien und Rumänien, die sich mitihrem Veto gegen diese Maßnahmen stemmen. Für unsist das existenziell, weil Deutschland 100 Prozent seinerEinnahmen aus dem Emissionshandel in den Klimafondssteckt, während der Durchschnitt auf europäischerEbene bei nur 50 Prozent liegt. Es kommt entscheidenddarauf an, dass wir hier einen Durchbruch erzielen; dasmuss an dem einjährigen Gedenktag der Energiewendedeutlich gemacht werden. Die Berliner Bühne ist dafürnur begrenzt ausschlaggebend; maßgeblich ist hier dieeuropäische Ebene.Was sich hier abspielt, ist im Kern eine technologi-sche Wende, die die Politik nur nachvollzogen hat; denndie Fortschritte in der Mikroelektronik sind es, die einekleinteilige Energieversorgung möglich machen. DerWeg führt von den zentralen Großkraftwerken zur klein-teiligen Energieversorgung. Der Weg führt auch von denanonymen Aktienpaketen zum breiten Volkseinkommen.
Es ist doch völlig klar, dass es da Widerstände gibt; denndas führt zu Verschiebungen in der Wertschöpfungskette.Ich sitze für eine Partei im Deutschen Bundestag, für dieCSU, die für ein breit gestreutes Einkommen, für denMittelstand und für das Handwerk eintritt. All das wirdmit der Energiewende erreicht.Wir erleben eine echte Volksbewegung in der Grün-dung von Energiegenossenschaften. Wir erleben auch,dass die Marktdurchdringung die Preise sinken lässt. Esist eine Tatsache, dass im Jahr 2011 der durchschnitt-liche Großhandelsstrompreis an der Leipziger Börse von6,0 auf 5,5 Cent je Kilowattstunde gefallen ist, weil dieErneuerbaren die Mittagsspitzen brechen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19555
Josef Göppel
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Auch das muss im Zusammenhang mit der Diskussionum eine EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent je Kilowatt-stunde gesagt werden; denn dies ist immer nur ein Diffe-renzbetrag.Natürlich muss man auch über die Befreiungen disku-tieren. Ich bin für die Befreiung unserer energieinten-siven Betriebe, damit sie wettbewerbsfähig bleiben.Aber man darf über diese 3,5 Cent nicht ohne Berück-sichtigung der preissenkenden Wirkung der erneuer-baren Energien und der kostenerhöhenden Wirkung derBefreiungen diskutieren. Das muss auch einmal gesagtwerden.
Insbesondere die Entwicklung im Bereich der Solar-energie ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn wir dieNovelle, die morgen in erster Beratung im Parlamentbehandelt wird, beschließen, dann beträgt die durch-schnittliche Vergütung für eine Kilowattstunde Solar-strom 17 Cent; sie ist damit 1 Cent billiger als eine Kilo-wattstunde Windstrom von der See. Das ist einetechnologische Erfolgsgeschichte, die langfristig anhal-ten wird. Warum? Im Bereich der erneuerbaren Energiengibt es ein besonderes Charakteristikum. Man hat einehohe Anfangsinvestition, aber im weiteren Verlauf sinddie Betriebskosten niedrig; denn der „Brennstoff“ fürWind und für Solar kostet nichts. Das bedeutet: Wennerst einmal investiert wurde und die anfallenden Kostenabgeschrieben sind, dann kommt es tendenziell zu sin-kenden Strompreisen. Das ist eine positive Aussicht fürdie Verbraucher. Deswegen ist der eingeschlagene Wegrichtig, und es ist gut, dass er entschlossen gegangenwird.
Ich möchte noch einmal auf die Energiegenossen-schaften zu sprechen kommen, die sich im ganzen Landbilden. Das ist nicht nur etwas für die ländlichen Räume.Wir sollten auch entsprechende Rahmenbedingungenschaffen, damit sich Mieter in den Großstädten zumBeispiel an Solaranlagen auf den Dächern beteiligenkönnen, die die Häuser dann unmittelbar mit Strom ver-sorgen. Die Zukunft liegt in der zellenartigen Struktur, inder kleinteiligen Stromversorgung, die die Belastung dergroßräumigen Netze verringert und auf diese Art undWeise Wertschöpfung und Einkommen vor Ort schafft.
Der Kollege Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diedreifache Katastrophe von Fukushima steht für tiefemenschliche und politische Einschnitte: Erdbeben, Tsu-nami, Atomunfall – für die Betroffenen in Japan bedeu-tet diese schlimme Kettenreaktion großes persönlichesLeid. Viele Familien haben ihre Angehörigen und ihreHeimat verloren. Nach wie vor ist die Strahlenbelastungin der Region um Fukushima kaum einschätzbar, undweitere Risiken sind nicht abzuschätzen. Unser Mitge-fühl gilt den Opfern von Fukushima.Die vielen Mahnwachen und Großdemos, die es inDeutschland gab, haben gezeigt, wie groß die Angst vorden Gefahren der Kernenergie ist. Bei Naturkatastrophensind wir weitgehend machtlos, bei der Wahl der Energie-erzeugung allerdings nicht. Politisch gesehen stelltFukushima eine Zäsur dar, weil erstmals ein technischhochgerüstetes Land die Kontrolle über die Atomkraftverloren hat, und zwar trotz höchster Sicherheitsstan-dards und trotz gut ausgebildeter Ingenieure. Sind wirwirklich besser? Nur scheinbar haben auch Union undFDP begriffen, wie wenig sicher diese Form der Ener-gieerzeugung ist. Hinzu kommt die immer noch unge-löste Endlagerfrage.Die Kehrtwende der Kanzlerin war ohne Frage be-achtlich, wenngleich wir an der Motivation für denAtomausstieg zweifeln.
Passend dazu schrieb die Süddeutsche Zeitung vorges-tern:Angela Merkel und die Atomkraft – das ist die Ge-schichte einer langen Beziehung, aus der sie amEnde schnell ausstieg. Weil sie ihr politisch keineEnergie mehr brachte.Wenn ich sehe, wie viel Geld das Bundesministerium fürBildung und Forschung in die Atomforschung steckt unddass es zudem auf das Exportpotenzial deutscher Atom-technologie verweist, bezweifle ich, dass Schwarz-Gelbtatsächlich von der Kernkraft abgekehrt ist. Die Ausfüh-rungen des Kollegen Paul haben das heute gezeigt.
Die SPD-Fraktion steht ohne Wenn und Aber zumAusstieg aus der Atomkraft. Allein mit dem Abschaltender Atomkraftwerke ist die gewünschte Energiewendeaber noch lange nicht vollzogen. Vielmehr ist es jetztnotwendig, den eingeleiteten Umbau unseres Energie-systems hin zu einem nachhaltigen, sicheren und sozialgerechten System fortzusetzen, und zwar mit Volldampf.Wenn ich mir das Regierungshandeln der letzten Monateanschaue, dann stelle ich fest, dass dieser Dampf fehlt.Wir brauchen dringend mehr politische Anstrengungenbeim Netzausbau, bei der Speicherung von Strom undWärme, bei den modernen Kraftwerkstechnologien undvor allem im Bereich der Energieeffizienz.Ich lese viele Schlagworte und Überschriften, aber esfehlt die Strategie. Vor allem fehlt die stringente und
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19556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Michael Gerdes
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transparente Koordinierung der Energiepolitik. Wer istdenn überhaupt verantwortlich für die Energiewende?
Frau Merkel selbst, der Wirtschaftsminister oder viel-leicht Herr Röttgen? Oder schaltet am Ende sowiesoHerr Schäuble das Licht aus, weil das Geld fehlt und derEnergie- und Klimafonds auf Sand gebaut ist? – Andieser Stelle hat die Koalition nicht geklatscht, Herr Kol-lege Göppel.In der Zwischenbilanz zur Energiewende, die seitensder Bundesregierung am 23. Februar 2012 vorgelegtwurde, steht geschrieben, dass die Bundesregierung ei-nen Steuerungskreis zur Umsetzung der Energiewendeeinsetzen will, und zwar auf Ebene der Staatssekretäre.Wenn ich weiterlese, stelle ich aber fest, dass dieserKreis halbjährlich zusammenkommen soll. Das kanndoch nicht wahr sein. Deutschland will einen System-wechsel, der komplexer und ehrgeiziger nicht seinkönnte, und die Staatssekretäre treffen sich zwei Mal imJahr. Das ist definitiv zu wenig.
Trotz aller Kritik bleibt festzuhalten, dass es vielegute Ansätze und Projekte auf dem Weg zur Energie-wende gibt. Wir müssen sie allerdings besser fördernund darauf drängen, dass gute Beispiele schnell undflächendeckend Schule machen. Ich will ein Beispielnennen: Meine Heimatstadt Bottrop in Nordrhein-West-falen steht wie keine andere Stadt für das, was ich unterEnergiewende verstehe. Wir wandeln uns von der Berg-baustadt zur Modellstadt für Klimaschutz und Energie-effizienz. Jahrzehntelang haben wir mit der Förderungvon Steinkohle für Energie gesorgt, und wir tun es im-mer noch. Dass die Kohleförderung trotz modernsterTechnologien und bestausgebildeter Bergleute vorbeisein soll, bedauere ich persönlich. Dennoch gehen wirunter und über Tage neue Wege. In den Schächten könn-ten Pumpspeicherkraftwerke entstehen, um zur Versteti-gung volatiler Energien beizutragen. Grubenbaue könn-ten in Zukunft als Energiespeicher dienen. Schon heutekann die Wärme des Grubenwassers zur Gebäudeversor-gung genutzt werden, und über Tage entsteht die Innova-tion City Ruhr. Herzstück des Modellprojektes ist dieenergetische Sanierung eines kompletten Stadtteils.Wenn es gelingt, die bestehenden Gebäude in einer Grö-ßenordnung von 14 400 klimafreundlich zu sanieren undden CO2-Ausstoß bis 2020 um die Hälfte zu reduzieren,wird dies ein Vorbild für weitere Projekte in ganzDeutschland sein.
Jede Kilowattstunde, die eingespart wird, braucht nichterzeugt zu werden, braucht nicht transportiert zu werdenund verursacht keine Emissionen. Das ist die Wende, diewir brauchen.Herzlichen Dank. Glück auf!
Angelika Brunkhorst hat jetzt das Wort für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen nehmen den Jahrestag der Reaktorkatastro-
phe von Fukushima zum Anlass für einen Rundum-
schlag gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie
und fordern den absoluten, den weltweiten Atomaus-
stieg. Ich halte diese Forderung für anmaßend; denn das
ist nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt
genesen. – Ich denke, dass alle Staaten souverän sind
und selbst über ihre Energieversorgung entscheiden
wollen.
Im Umweltausschuss haben wir mehrfach über Fuku-
shima diskutiert. Zuletzt hat die Strahlenschutzkommis-
sion am 29. Februar 2012 darüber berichtet.
Aufgrund des Erdbebens brach die öffentliche Strom-
versorgung zusammen, aber die Reaktoren blieben
zunächst unbeschädigt. Auch die Schnellabschaltung er-
folgte noch. Erst durch den folgenden Tsunami, durch
die hohe Welle, wurden die Notstromversorgung und die
Notkühlsysteme außer Kraft gesetzt. So konnte die
Nachzerfallswärme nicht mehr abgeführt werden, und es
kam zur Katastrophe.
Frau Kollegin, Herr Rebmann würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Nein, das möchte ich nicht.
Der Vollständigkeit halber muss man an dieser Stellesagen, dass der Reaktorunfall von Fukushima auch eineandere, grundlegende Ursache hat, nämlich die Fehlaus-legung der Anlage an sich. Die Anlage ist nur für Erd-beben bis zur Stärke 8 der Richterskala ausgelegt undvor Tsunamis bis zu einer Wellenhöhe von 5,70 Metergeschützt. Man hätte bei der Konstruktion der Anlagealso eine entsprechend höhere Eindeichung vorhaltenmüssen. Tatsächlich waren die Notstromdieselaggregateund die Notkühlpumpen vor der Überflutung infolge desTsunamis nicht ausreichend geschützt.In Deutschland sind keine vergleichbaren Erdbebenund auch keine Tsunamis zu erwarten; die Seite desErdballs, auf der wir leben, ist davon kaum betroffen.Mehrfachkatastrophen in dieser Dimension sind inDeutschland nicht zu befürchten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19557
Angelika Brunkhorst
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Alle deutschen Kernkraftwerke verfügen über mehr-fach hintereinander gestaffelte Sicherheitsbarrieren;diese sind technisch unterschiedlich wirksam. Durchdiese Grundsätze der Redundanz und Diversität wird inDeutschland ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet.Dies ist weltweit anerkannt.
Alle deutschen Kernkraftwerke an Standorten mit ent-sprechender Gefährdung wurden bei ihrer Errichtunggegen Hochwasser und Erdbeben ausgelegt. Bei derAuslegung der Kernkraftwerke beispielsweise gegenErdbeben wird im kerntechnischen Regelwerk dasstärkste anzunehmende Erdbeben in einem Umkreis von200 Kilometern zugrunde gelegt.Es war richtig, dass nach den Erfahrungen mit Fuku-shima zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Kon-trollen deutscher Kernkraftwerke diese gesonderte Risi-koanalyse stattgefunden hat.
Es wäre schön, wenn auch die Grünen die positiven Er-gebnisse dieser Sicherheitsanalyse erwähnen würden.Ich glaube, dass unsere Kernkraftwerke über ein ho-hes Sicherheitsniveau verfügen. Dies wird durch die sehrstrenge atomrechtliche Aufsicht der zuständigen Behör-den in den Ländern gewährleistet.
– Er arbeitet nicht in einer Landesbehörde. Nein danke,Herr Trittin.
Deutschland wird Japan gerne helfen, zum einenmoralisch – Japan hat natürlich unser Mitgefühl –; zumanderen werden wir Japan mit unseren Erfahrungen, mitunserem technischen Wissen und Know-how unterstüt-zen, wenn die Japaner das möchten.
Die Katastrophe in Japan führte auch in Deutschlandzu einer Neubewertung der Risiken; dies war richtig. DieKanzlerin hat gehandelt. Ich möchte hier noch einmalsagen, dass die Koalition im Sommer 2011 – abwei-chend vom Energiekonzept aus 2010, in dem wir bereitsdas Ziel bekräftigt hatten, perspektivisch auf die Kern-energie zu verzichten – eine Neuausrichtung derNutzung der Kernenergie vorgenommen hat. Wir werdenbeschleunigt aus der Nutzung der Kernenergie ausstei-gen und einen beschleunigten, ambitionierteren, ver-nunftorientierten und gangbaren Weg in das Zeitalter derregenerativen Energien aufzeigen. Ich denke, wir sindauf einem guten Weg.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Dieter Jasper hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ei-nem Jahr, am 11. März 2011, hielt die Welt den Atem an.An diesem Tag bebte vor der japanischen Ostküste dieErde. Das Epizentrum des Bebens lag rund 150 Kilome-ter nordöstlich des Kraftwerkes Fukushima. Nach weni-gen Sekunden erreichten die Primärwellen das Kraft-werk. Das Beben dauerte ungefähr zwei Minuten undhatte eine Stärke von 9,0. Eine knappe Stunde spätertrafen die ersten der bis zu 15 Meter hohen Wellen inFukushima ein.Das Kernkraftwerk besteht aus sechs Reaktorblöcken.Neben jedem Reaktor befindet sich ein Abklingbeckenzur Zwischenlagerung verbrauchter und neuer Brenn-elemente. Reaktoren und Abklingbecken müssen perma-nent gekühlt werden. Die eintreffenden Primärwellendes Bebens bewirkten eine Schnellabschaltung der dreiin Betrieb befindlichen Reaktoren. Gleichzeitig fiel dieexterne Stromversorgung aus, sodass die Kühlung durchNotstromaggregate sichergestellt werden musste. Bisdahin war die Situation noch überschaubar und be-herrschbar.Dann erreichten die Tsunamiwellen das Kraftwerk.Die Reaktorblöcke wurden vollkommen überschwemmt.Die in den Gebäuden befindlichen Generatoren fielenaus und somit die gesamte Kühlung. Trotz verzweifelterRettungsmaßnahmen kam es zu einer Überhitzung derReaktoren und der Abklingbecken und in der Konse-quenz zu Kernschmelzen in den drei Reaktoren. Explo-sionen führten zu schweren Verwüstungen des Kraft-werks und des Kraftwerksgeländes. Die Strahlenbelas-tung auf dem Gelände wuchs stark an. Vier von sechsReaktorblöcken wurden vollständig zerstört. Die Entsor-gungsarbeiten werden mehrere Jahrzehnte dauern. Dieverheerenden Folgen für Mensch und Umwelt sind nichtabzuschätzen. Jeder von uns hat die furchtbaren Bildervor Augen, die alle Sender seinerzeit weltweit live über-mittelten. Diese schlimmen Tage werden uns immer inErinnerung bleiben. Wir fühlen mit den japanischen Bür-gerinnen und Bürgern, die durch diese Katastrophe un-mittelbar bedroht wurden und es heute noch werden.Und doch war da auch dieses Gefühl der Fassungslo-sigkeit: Wie konnte es sein, dass eine technisch so hochstehende Nation wie Japan scheinbar so hilflos bei derBewältigung dieser Katastrophe war? Natürlich stelltesich auch die Frage: Ist so etwas auch bei uns inDeutschland denkbar und möglich? Rein technisch be-trachtet hatte sich durch den Unfall in Fukushima die Si-cherheitslage der Reaktoren in Deutschland nicht geän-dert. Aber das Erdbeben in Japan hatte nicht nur dasKraftwerk Fukushima erschüttert und zerstört. Erschüt-tert und zerstört wurde auch das bis dahin vorherr-
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19558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dieter Jasper
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schende Vertrauen, dass die Risiken der Kernkraft be-herrschbar seien.
Es fand auf politischer Ebene eine Neubewertung derRisiken statt. Auch das bis dahin Unvorstellbare wurdejetzt als Möglichkeit akzeptiert. Das geltende Energie-konzept sah zwar einen Ausstieg aus der Kernkraft vor,aber erst zu einem späteren Zeitpunkt. Jetzt fand einegrundlegende Korrektur statt. Die Energiewende wurdevollzogen. Acht Kraftwerke wurden vom Netz genom-men; die restlichen folgen bis zum Jahr 2022. Deutsch-land stand und steht somit vor einer seiner größten He-rausforderungen seit der deutschen Einheit.Doch wie kann eine der wichtigsten Volkswirtschaf-ten der Welt seine Energieversorgung binnen zehn Jah-ren auch ohne Kernkraftwerke sicherstellen? Kernele-ment der Energiewende ist der Ausbau der erneuerbarenEnergien. Das sind in erster Linie Wind, Sonne und Bio-masse. Bei der Stromerzeugung haben diese Energiefor-men sprunghaft zugelegt. Es wurde zwischenzeitlich einAnteil von über 20 Prozent erreicht. Dazu haben vor al-len Dingen die stärkere Nutzung von Windenergie undBiogas sowie der kräftig gestiegene Solarstromanteilbeigetragen.Diesem dynamischen Ausbau der Regenerativen ste-hen erhebliche Probleme gegenüber. Da ist zunächst dieInfrastruktur zu nennen. Die Deutsche Energie-Agenturschätzt den Bedarf an zusätzlichen Hochspannungslei-tungen auf bis zu 4 500 Kilometer. Doch der notwendigeAusbau insbesondere der Trassen von Nord- nach Süd-deutschland stößt in Teilen der Bevölkerung auf erhebli-che Widerstände. Oft sind es leider die Vertreter der Par-teien, die sich hier im Bundestag als Gralshüterökologischer Energiepolitik aufführen, die vor Ort in derersten Reihe der Protestierer stehen.
Hier wären mehr Standvermögen und weniger Populis-mus hilfreich, um die notwendigen Maßnahmen durch-führen zu können.Zweites Thema: Netzsicherheit. Zu den größten Pro-blemen der regenerativen Energien gehören deren hoheVolatilität und die fehlenden Speichermöglichkeiten.Dies gilt insbesondere für Energie aus Wind und Sonne.Eine der wenigen bisher vorhandenen Möglichkeiten derSpeicherung bieten Pumpspeicherwerke. Doch hier giltdas Gleiche wie beim Netzausbau: Es reicht nicht aus, inBerlin Forderungen zu stellen. Man muss diese auch vorOrt vertreten und darf sich nicht wegducken, wenn esschwierig wird. So machen derzeit beispielsweise imSchwarzwald die örtlichen Bündnisgrünen Front gegenihren eigenen Ministerpräsidenten, der dort den Bau ei-nes Pumpspeicherwerks plant. Bei allem Verständnis fürdie Bedenken der Menschen vor Ort sollte es gerade fürdie Grünen eine Selbstverständlichkeit sein, hier aufklä-rend und vermittelnd zu wirken. Einfach nur dagegen zusein, hilft nicht wirklich weiter.
Aufgrund der hohen Volatilität der regenerativenEnergien brauchen wir zukünftig weiterhin grundlastfä-hige Gas- und Kohlekraftwerke. Wir haben in Nord-rhein-Westfalen und speziell in meinem Wahlkreis einenfunktionierenden Steinkohlebergbau. Die Steinkohle isteine unserer letzten nationalen Energiereserven. Vor demHintergrund der bestehenden großen Unsicherheitenwürde eine weitere Förderung der heimischen Stein-kohle ein Mehr an Sicherheit und ein Mehr an Zuverläs-sigkeit bewirken. Deshalb trete ich in der Konsequenzfür den Bau neuer hocheffizienter Kohlekraftwerke mitverbessertem Wirkungsgrad ein.Die Realität bei uns in Nordrhein-Westfalen ist leidereine andere. Bereits gebaute hochmoderne Kohlekraft-werke wie das in Datteln werden aufgrund des Wider-stands des grünen Umweltministers verhindert und nichtin Betrieb genommen. Eine Investitionsruine von über1 Milliarde Euro droht. Dies ist sowohl unter Klima-schutzgesichtspunkten als auch unter dem Aspekt einersicheren Energieversorgung nicht zu verstehen. LieberKollege Gerdes von der SPD, ich hätte mir von Ihneneine klare Aussage zugunsten des Bergbaus bei uns inDeutschland gewünscht. Ich glaube aber, dass wir uns daauf der gleichen Linie bewegen.
Dritter und letzter Punkt: die Kosten; dieser Aspektist für mich als Wirtschaftspolitiker besonders wichtig.Die Menschen in Deutschland wollen mit großer Mehr-heit den Ausstieg aus der Kernenergie. Dies hat vielfäl-tige Konsequenzen, natürlich auch monetäre. Eine derKonsequenzen wird sein, dass die Kosten für die Ener-gieversorgung steigen. Aktuell erhalten Ökostromprodu-zenten von den Verbrauchern einen Betrag von3,59 Cent pro Kilowattstunde. Das sind bereits etwa14 Prozent des gesamten Strompreises. Die Bürger unddie Unternehmen dürfen aber nicht überfordert werden.Der Strom muss nicht nur sicher und sauber, er mussauch bezahlbar bleiben. Das ist nicht nur eine Frage derWettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Frage der Ak-zeptanz der Energiewende in der deutschen Bevölke-rung.Ich will dies am Beispiel der Photovoltaik deutlichmachen, zu der wir morgen noch eine ausführlicheDebatte führen werden. Gegenüber 2009 wurde dieEinspeisevergütung für Solarstrom nahezu halbiert. Den-noch wurden in den beiden letzten Jahren jeweils7 500 Megawatt neu installiert.Vor dem Hintergrund rapide gefallener Weltmarkt-preise für PV-Module ist die aktuelle Anpassung derVergütungssätze konsequent und folgerichtig. Unser ge-meinsames Ziel muss es sein, dass die Photovoltaikschon in einigen Jahren Marktreife erlangt und ohne För-derung auskommt.Die von unserem Umweltminister Norbert Röttgenund dem Wirtschaftsminister gemeinsam getroffene Ent-scheidung, im Bereich der PV einen klaren Einschnittvorzunehmen, ist richtig, nachvollziehbar und findetmeine volle Unterstützung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19559
Dieter Jasper
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Photovoltaik wird in Deutschland weiterhin erfolg-reich sein. Die deutsche PV-Industrie zählt zu den inter-nationalen Technologieführern. Gleichzeitig besteht dieHerausforderung darin, die mit dem inländischen Zubauverbundenen Kosten für die Verbraucherinnen und Ver-braucher wirkungsvoll zu steuern und in überschaubarenGrenzen zu halten.Fazit: Den regenerativen Energien gehört die Zu-kunft. Der Weg dorthin ist schwierig, bietet aber geradefür unsere Unternehmen in Deutschland vielfältigeChancen. Die weitere Umsetzung des Energiekonzeptsmuss zügig und konsequent erfolgen. Wir brauchenwettbewerbsfähige Energiepreise auf Basis einer effi-zienten und umweltschonenden Energieerzeugung.
Zu den wichtigsten zukünftigen Aufgaben zählen derzügige Ausbau leistungsfähiger Netze, die Steigerungder Energieeffizienz, der Zubau effizienter und flexiblerGas- und Kohlekraftwerke, mehr Markt und mehrMarktintegration sowie eine permanente Kostenkon-trolle, um eine Fehlallokation der Fördermittel zu ver-meiden und die Kosten der Energiewende zu begrenzen.Unser Bundesumweltminister Norbert Röttgen machthier einen ganz hervorragenden Job. Es geht bei der Ener-giewende nicht um kurzfristigen Beifall, den sich Vertre-ter von Rot und Grün gerne auf interessegeleiteten Veran-staltungen abholen. Wenn die Energiewende erfolgreichgelingen soll, dann müssen ökologische Notwendigkeitenund ökonomische Erfordernisse abgewogen und mit-einander verknüpft werden. Die Bundesregierung undNorbert Röttgen sind hier auf einem guten Weg.Die Neuausrichtung der Energieversorgung in Deutsch-land ist jedoch eine Gemeinschaftsaufgabe und kann – sodie Ethikkommission – nur mit einer gemeinsamen An-strengung auf allen Ebenen der Politik, der Wirtschaft undder Gesellschaft gelingen.Herzlichen Dank und Glück auf.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8898 an die Ausschüsse vorgeschlagen,die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sieeinverstanden. Dann verfahren wir so.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis m auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 12. Oktober 2011 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Indien über Soziale Sicherheit– Drucksache 17/8727 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialesb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Eurojust-Gesetzes– Drucksache 17/8728 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Sieb-ten Änderung des Übereinkommens über denInternationalen Währungsfonds
– Drucksache 17/8839 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-derungen vom 30. September 2011 des Über-einkommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtungder Europäischen Bank für Wiederaufbauund Entwicklung– Drucksache 17/8840 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unione) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 19. September 2011 zwischender Bundesrepublik Deutschland und der Re-publik Türkei zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung und der Steuerverkürzung auf demGebiet der Steuern vom Einkommen– Drucksache 17/8841 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologief) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 30. November 2011 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem Zen-tralrat der Juden in Deutschland – Körper-schaft des öffentlichen Rechts – zur Änderungdes Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischender Bundesrepublik Deutschland und demZentralrat der Juden in Deutschland – Kör-perschaft des öffentlichen Rechts –, zuletzt ge-ändert durch den Vertrag vom 3. März 2008– Drucksache 17/8842 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
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19560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ErnstDieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung der Bildungsforschung weiter vo-rantreiben– Drucksache 17/8604 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulSchäfer , Wolfgang Gehrcke, Jan vanAken, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKein Zugang von Kindern und Jugendlichenzu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstal-tungen– Drucksache 17/8609 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendi) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldKoch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFür eine kostenfreie und umfassende Betreu-ungskommunikation im Einsatz– Drucksache 17/8795 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussj) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine moderne und umfassende Betreu-ungskommunikation im Einsatz– Drucksache 17/8895 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussk) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchweinepest tierschonend bekämpfen – Not-impfung ersetzt grundloses Keulen– Drucksache 17/8893 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzl) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinTack, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerbraucherschutz stärken – Finanzmarkt-wächter einführen– Drucksache 17/8894 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschussm) Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinGerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDDoping an Olympiastützpunkten, Bundesleis-tungszentren und Bundesstützpunkten konse-quent bekämpfen– Drucksache 17/8896 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für GesundheitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann verfahren wir so.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 32 a bis i. Eshandelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keineAussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkte 32 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neuordnung des Energieverbrauchskenn-zeichnungsrechts– Drucksachen 17/8427, 17/8803 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/8900 –Berichterstattung:Abgeordnete Ulla LötzerWir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürWirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/8900, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen17/8427 und 17/8803 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmenwollen, bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19561
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion. Bünd-nis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Die Linke hatsich enthalten.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmenwollen, erheben sich bitte. – Die Gegner stehen bittejetzt auf. – Wer sich enthalten möchte, steht bitte jetztauf. – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ange-nommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-vor.Tagesordnungspunkt 32 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Thomas Silberhorn, Monika Grütters,Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann,Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPUNESCO-Welterbestätten in Deutschlandstärken– Drucksachen 17/7357, 17/8858 –Berichterstattung:Abgeordnete Monika GrüttersUlla Schmidt
Reiner DeutschmannDr. Lukrezia JochimsenClaudia Roth
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/8858, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP anzunehmen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist beiZustimmung durch die Koalition angenommen. Die Op-position hat abgelehnt.Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 32 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 397 zu Petitionen– Drucksache 17/8779 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 32 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 398 zu Petitionen– Drucksache 17/8780 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalition und die SPD angenommen. Dagegenhat die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sichenthalten.Tagesordnungspunkt 32 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 399 zu Petitionen– Drucksache 17/8781 –Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 32 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 400 zu Petitionen– Drucksache 17/8782 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmendurch die Linke angenommen. Alle anderen waren dafür.Tagesordnungspunkt 32 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 401 zu Petitionen– Drucksache 17/8783 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalition und die SPD angenommen. DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen ge-stimmt.Tagesordnungspunkt 32 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 402 zu Petitionen– Drucksache 17/8784 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktio-nen und die Linke, dagegen haben Bündnis 90/Die Grü-nen und SPD gestimmt. Die Sammelübersicht istangenommen.Tagesordnungspunkt 32 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 403 zu Petitionen– Drucksache 17/8785 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmungdurch die Koalition und Gegenstimmen durch die Oppo-sition angenommen.
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19562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWahl der vom Deutschen Bundestag zu benen-nenden Mitglieder des Deutschen Ethikratsgemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes– Drucksache 17/8881 –Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommendaher gleich zur Abstimmung.Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlagauf Drucksache 17/8881? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig ange-nommen.Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEZivilcourage gegen Nazis stärkenDas Wort für die Fraktion Die Linke hat die KolleginIngrid Remmers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir haben in Deutschland ein Problem mit Rechts-extremismus. Einigen ist diese Erkenntnis früher, ande-ren später gekommen. Spätestens seit der Aufdeckungdes NSU-Terrors kann aber wohl niemand mehr leug-nen, dass alle friedliebenden Menschen gemeinsam ge-gen Nazis vorgehen müssen. Rechtsextremismus gefähr-det das friedliche Zusammenleben; er gefährdet dieMeinungsfreiheit, die Sicherheit des Einzelnen und nichtzuletzt unser Bild im Ausland.
Erst in den vergangenen Tagen sind wieder Waffenla-ger von Neonazis in verschiedenen Bundesländern ent-deckt worden. Mein Wahlkreisbüro in Ahlen wurde innicht einmal zwei Jahren bereits dreimal von Rechtsex-tremen angegriffen; ähnlich geht es vielen anderen lin-ken Abgeordneten.
Aber nicht nur deswegen bin ich immer wieder froh,zu sehen – ob in Dresden, Münster oder anderswo –,dass viele Bürgerinnen und Bürger friedlich, humorvollund effektiv gegen Nazis demonstrieren und ihre Auf-märsche zum Desaster machen.
Umso schockierender ist es, wie auf den friedlichen Pro-test vonseiten der Behörden und auch von Teilen der Re-gierungen in Bund und Ländern immer wieder reagiertwird. Das beginnt mit der illegalen Sammlung vonHandydaten in Dresden, geht weiter mit der unerklärli-chen Tatenlosigkeit der Verfassungsschützer bei denNSU-Morden und endet beim Verhalten vieler Polizei-einheiten gegenüber friedlichen Gegendemonstrantenbei Naziaufmärschen.Ja, ich weiß, dass auch Rechtsextreme in einemRechtsstaat Versammlungsfreiheit genießen. Ich weißaber auch, dass die Polizei nicht unter allen Umständengezwungen ist, einer Nazidemo den Weg freizuprügeln.Hier muss doch die Verhältnismäßigkeit gewahrt blei-ben.
Ich bin weiterhin der Meinung, dass friedliche Sitz-blockaden der Demoroute keine Straftat darstellen.Darin wird mir sicherlich auch Herr Thierse zustimmen,gegen den schon einmal ein Verfahren wegen Nötigungeingeleitet wurde, weil er in Berlin friedlich sitzend denNazis den Weg versperrt hatte. Dieses Verfahren wurdeletztlich wegen geringer Schuld eingestellt. Anders alsbei meinen Parteikollegen Janine Wissler, Willi vanOoyen, André Hahn und Bodo Ramelow wäre wahr-scheinlich auch niemand auf die Idee gekommen, HerrnThierse deswegen die Immunität abzuerkennen.Meine Immunität als Abgeordnete wurde am letztenSamstag von in Münster eingesetzten Polizeikräftenmassiv beschädigt. Trotz meiner Kenntlichmachung alsparlamentarische Beobachterin wurde ich von einer Poli-zeibeamtin tätlich angegriffen und anschließend festge-nommen, nachdem ich darum gebeten hatte, in einemKonflikt deeskalierend wirken zu dürfen.Aber mein Beispiel steht nur exemplarisch für dievielen Menschen, die dem Aufruf, auch der Politik, fol-gen und tatsächlich Zivilcourage zeigen
und die zum Dank zunehmend in ihrer Bewegungsfrei-heit und, wie auch in Münster, in einer Vielzahl ihrerPersönlichkeitsrechte eingeschränkt werden. Das darf ineinem Rechtsstaat nicht passieren.
Es ist doch paradox, dass heutzutage in Deutschlandden Nazis ihre grundgesetzlich geschützte Meinungsfrei-heit gewährt wird und sie so mit ihrer menschenverach-tenden Ideologie durch die Städte ziehen dürfen, wäh-rend gleichzeitig der berechtigte und auch so notwendigeProtest der Couragierten auf abgeschiedene Kundge-bungsplätze ausgelagert wird, wo ihn niemand sieht oderhört. Es ist doch paradox, dass sich wegen der NazisMenschen mit Zivilcourage in ihrer eigenen Stadt nichtmehr frei bewegen dürfen und dass die Wasserwerfer derPolizei auf Demokratinnen und Demokraten statt aufNazis zielen. Ein Blick ins Internet zeigt: Die Nazislachen sich darüber kaputt. Es ist auch paradox, dassAnwohnerinnen und Anwohner vorab von der Polizeiaufgefordert werden, keine Protestplakate und Trans-parente aufzuhängen, weil die Nazis gefährlich sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19563
Ingrid Remmers
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Die im Vorfeld in Münster getroffenen Absprachender Polizei mit den Menschen in den Wohnvierteln wur-den so desaströs nicht umgesetzt oder gar ins Gegenteilverkehrt, dass die Anwohnerinnen und Anwohner nuneinen offenen Brief an den Polizeipräsidenten und dieÖffentlichkeit gerichtet haben. Dazu ein kleiner Hinweisan die Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Egal wiegroß möglicherweise Ihre Vorurteile gegenüber denmeist jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten sind,zeigt das Ganze einmal mehr, dass dieses Problem längstdie Mitte der Gesellschaft erreicht hat und deshalb auchSie ansprechen sollte.
Nicht erst seit dem letzten Samstag, der mich per-sönlich sehr verstört hat, wünsche ich mir eine breite ge-sellschaftliche und politische Debatte darüber, wie wirkünftig damit umgehen wollen, dass zugunsten derGrundrechte von Nazis die Grundrechte von Demokra-tinnen und Demokraten eingeschränkt werden. Ja, wirmüssen gemeinsam dahin kommen, das Grundgesetz zuachten, aber für alle Menschen, allen voran die soge-nannten Aufrechten. Dazu gehört unter anderem dieKenntlichmachung der Polizeibeamtinnen und -beamtenund der Abzug der V-Leute aus der NPD. Dazu gehörtauch, dass die gesamte bisherige Vorgehensweise aufden Prüfstand gestellt wird und neue Wege gesucht wer-den.Lassen Sie uns zusammen diese inzwischen verkehrteWelt wieder zurechtrücken.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Zuerst möchte ich denjenigen dan-ken, die am vergangenen Samstag in Münster gegen denNeonazi-Aufmarsch demonstriert haben. Ich danke auchIhnen, Frau Remmers, dass Sie die Situation so, wie sieist, angesprochen haben.
Ich brauche dazu keine Ausführungen zu machen. Es istgut, wenn die Situation und die Sorgen, die wir mit demNeonazi-Aufmarsch und allem, was drumherum passiertist, haben, deutlich angesprochen werden. Schlimm istaus meiner Sicht, dass es noch immer 300 Neonazis gab,die den Weg nach Münster gefunden haben und ihreunsäglichen Parolen in die Öffentlichkeit haben tragenkönnen. Wir haben keine Toleranz gegenüber diesenNeonazis, weder inhaltlich noch personell.
Positiv ist aber, dass 5 000 Männer und Frauen einZeichen gegen diese dummen Menschen gesetzt haben
und dass auch Abgeordnete aus Bund und Land darunterwaren. Wichtig ist dabei, dass die weit überwiegendeMehrheit der Demonstrantinnen und Demonstrantenfriedlich ein Zeichen gesetzt hat, so wie es das Demon-strationsrecht gebietet, ein Recht, um das uns andereGesellschaften beneiden. Sie haben damit auch gezeigt,dass Rassismus, Zerstörung und Gewalt nicht toleriertwerden und dass eine zivile Gesellschaft anders mitei-nander umgeht. Sie haben das beste Vorbild gegeben,wie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit zunutzen ist. Die Versammlungen müssen friedlich abge-halten werden.Es verbieten sich aggressive Ausschreitungen, dasVorgehen gegen Personen, Sachbeschädigungen ein-schließlich Schottern, also das Beschädigen von Gleisen,genauso wie Nötigungen; Sie haben das bereits ange-sprochen. Ich glaube allerdings, dass auch das Ankettenan Schienen oder andere Gegenstände den Straftat-bestand der Nötigung erfüllt. Wer meint, gewalttätigdemonstrieren zu müssen,
genießt die Versammlungsfreiheit nicht und – passen Siebitte auf – spielt den braunen Rattenfängern in dieHände.
Daher sollten Sie gewalttätige Demonstrationen nichttolerieren.
– Das ist kein Unsinn. Ich erkläre es Ihnen. Genau daswollen Rechtsradikale, Rechtsextreme bzw. rechte Ter-roristen doch.
Sie wollen, dass ihre Aktionen medial immer wieder inden Fokus gerückt werden. Deswegen bitte ich Sie:Unterstützen Sie gewaltfreie Demonstrationen!
Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Lin-ken, heute machen, ist falsch. Ich wünsche mir, dass wirin Respekt vor der Sache etwas gemäßigter miteinanderdebattieren. Sie wollen politischen Nutzen aus demEngagement gegen rechts ziehen.
Ich weiß, dass gerade die Polizei in Münster allenAbgeordneten die Teilnahme an der Demonstration ein-geräumt hat und dass es Leitlinien der Einsatzleiter gab,
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19564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Patrick Sensburg
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wonach Abgeordnete betreut und an alle Orte gefahrenwerden sollten, zu denen sie möchten. Dazu musste mansich natürlich bei der Polizei anmelden und seinen Abge-ordnetenausweis mitbringen, so wie es der CDU-Kol-lege Josef Rickfelder und zwei Kolleginnen von denGrünen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag getanhaben. Diese Abgeordneten hatten sich angemeldet undsind mit der Polizei zu den jeweiligen Orten gefahren.Die Polizei ist hier kooperativ. Man muss dieses Ange-bot aber auch wahrnehmen.Frau Remmers, Sie haben das nicht gemacht. Siehaben sich weder angemeldet noch ihren Abgeordneten-ausweis dabei gehabt.
– Das ist so. Frau Remmers hat das in einem Interviewselbst gesagt. Da müssen Sie Ihre Kollegin schon fragen.Die Polizei ist des Weiteren bemüht, dann, wennjemand behauptet, Abgeordneter zu sein, das aufzuklä-ren. Nur muss der Betreffende mitwirken. Der Polizei-präsident Hubert Wimber hat aber auch gesagt, er hättesich eine optimalere Verhaltensweise seiner Polizeigewünscht.
Juristisch gesehen war der Einsatz jedenfalls nichtrechtswidrig; er war einwandfrei. Frau Kollegin, Sie sindim Rahmen einer polizeilichen Aktion in eine körper-liche Auseinandersetzung geraten.
Sie konnten sich nicht ausweisen und sind dem Platzver-weis der Polizisten nicht nachgekommen.
Daher war es richtig, dass eine Personenidentifizierungstattgefunden hat; denn jeder kann sagen, er sei Abge-ordneter, Staatsanwalt oder Polizist. Dann muss mansich entsprechend ausweisen können. Das konnten Sieaber nicht.
Als Sie zur Dienststelle verbracht wurden, war es richtig,dass Sie durchsucht wurden, und zwar zu Ihrem Schutz,zum Schutz der Polizisten und zum Schutz weitererBeteiligter. Dies ist ein völlig rechtmäßiges Verhalten.Ich frage mich, wie in solchen Situationen eine gelbeWeste mit der Aufschrift „Parlamentarischer Beobach-ter“ helfen soll. Eine solche Funktion gibt es gar nicht.Zwischen wem wollten Sie eigentlich schlichten, FrauKollegin Remmers? Wollten Sie zwischen rechte undlinke Gewalttäter gehen? Wollten Sie dort dazwischen-gehen, wo die Polizei ihren Kopf hinhalten muss?
Oder wollten Sie nicht eher zwischen linke Demonstran-ten und die Polizei gehen, um Aktionismus zu zeigenund Ihre Klientel zu bedienen? Ich halte das alles fürnicht sehr glücklich.
Ich würde mir wünschen – das ist mein letzter Satz –,dass Zivilcourage sich dadurch zeigt, dass wir gemein-sam für eine zivile Demonstration ohne Gewalt einste-hen – da bin ich gerne mit Ihnen gemeinsam bei dernächsten Demonstration dabei, Frau Remmers –, aberdann, wenn Gewalttaten stattfinden, die staatlichenOrgane unterstützen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass es in einer
Aktuellen Stunde keine Kurzinterventionen gibt, auch
wenn jemand persönlich angesprochen worden ist. –
Jetzt gebe ich Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Herr Kollege Sensburg, Sie haben wirk-lich gut angefangen und auch Applaus bekommen. Das,was danach kam, wurde aber immer unterirdischer. Dazukomme ich gleich auch noch.
Wenn ich für mich persönlich kurz zusammenfassensollte, was das beste Rezept gegen Nazis und gegenmenschenverachtende Ideologie ist, würde ich zweiPunkte nennen.Erstens: niemals Räume lassen; die Räume für Nazisund für rechtsextreme Ideologie dichtmachen.Zweitens: Solidarität der gesamten Bevölkerung mitden Betroffenen erklären.
„Keine Räume lassen“ meine ich in vielfältiger Hin-sicht. Wir dürfen keine Jugendklubs und keine Vereineden Nazis überlassen. Wir dürfen Szeneläden nichtakzeptieren, wie das gerade in Chemnitz passiert ist.Dort ist ein neuer Thor-Steinar-Laden eröffnet worden –zunächst unter dem Namen „Brevik“. Da fehlt nur das Izu dem Namen des Massenmörders, der in Norwegenzahllose sozialdemokratische Jugendliche niedergemet-zelt hat; ein wirklich widerwärtiger Vorgang. Es war derWiderstand der Chemnitzerinnen und Chemnitzer, derzumindest in einem ersten Erfolg zur Umbenennung die-ses Ladens geführt hat. Ich spreche hier bewusst von
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19565
Daniela Kolbe
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einem ersten Schritt. Wir dürfen solche Szeneläden inunserem Land generell nicht akzeptieren.
„Keine Räume“ bedeutet auch, Nazis nicht in Parla-mente zu lassen, also Wahlkampf zu machen. Das heißt,Räume über den Stammtischen nicht preiszugeben –eine der schwersten Aufgaben, glaube ich. Es heißt aberauch, dieser Ideologie und den Nazis auf der Straßekeine Räume zu lassen; weder den Kameradschaften, dieganze Ortschaften drangsalieren – da ist sicherlich vorallen Dingen die Polizei gefragt –, noch bei Demonstra-tionen. Dafür ist neben staatlichen Institutionen und derPolizei auch eine starke Zivilgesellschaft besonderswichtig.Zumindest verbal hat die Bundesregierung das auchanerkannt. Ich habe die Merkel-Rede bei der Gedenkver-anstaltung für die Opfer des NSU sehr wohl gehört. Ehr-lich gesagt, bin ich während ihrer Rede aber ganz unru-hig auf meinem Stuhl hin und her gerutscht; denn das,was sie da erzählt hat, passt leider mit der Realität undder Politik dieser Bundesregierung überhaupt nichtzusammen.
Dieses Jahr bin ich wieder Erstunterzeichnerin desAufrufs des Bündnisses Dresden-Nazifrei gewesen, weilich das gemeinschaftliche friedliche Entgegentretengegenüber Nazis legitim finde. Und mehr noch: Ichglaube sogar, dass Menschen, die das tun, unser allerSolidarität brauchen.Herr Sensburg, ich gebe die Aufforderung gerne anSie zurück. Unterstützen auch Sie als CDU friedlicheDemonstrationen gegen Rechtsextremismus.
Da haben Sie noch Luft nach oben, und zwar jedeMenge.Ich rate uns allen dazu, das Vorgehen gegen die Kol-legin Remmers sachlich und ruhig zu klären. Es ist inunser aller Interesse und im Interesse unserer Demokra-tie, dass hier ein vernünftiger Umgang gefunden wirdund auch Entschuldigungen ausgesprochen werden.Ich habe gegenüber der Bundesregierung aber auchnoch an anderen Stellen ein mulmiges Gefühl, wenn ichmir anschaue, mit welchem Misstrauen sie der Zivil-gesellschaft gegenübertritt.Als erstes Stichwort nenne ich die Extremismusklau-sel der Ministerin Schröder. Sie ist absurd, sie istschändlich, und sie behindert die Zivilgesellschaft da,wo diese notwendig ist.
Zu nennen ist aber auch ihr Kompetenzzentrum gegenRechtsextremismus. Das ist aus meiner Sicht eine Ver-staatlichung von Aufgaben, die die Zivilgesellschaft inder Vergangenheit schon ganz gut hinbekommen hat
und auch in Zukunft sicherlich sehr gut hinbekommenwürde, wenn man sie denn ließe. Stattdessen steht jetztdas Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus imRaum.Über den Sachstand informiert man sich aus meinerSicht am besten in der letzten Ausgabe der heute-show.Bisher ist da nämlich überhaupt nichts geklärt. Das dür-fen wir uns nicht leisten, liebe Kolleginnen und Kolle-gen.
Ich muss ganz generell sagen: Ihre Präventionsarbeitgegen Rechtsextremismus kommt im Moment ohne vielSachverstand aus.
Ich lese in Ihren Texten immer häufiger davon, dass Siepädagogisch-präventive Arbeit mit rechtsextremen Ju-gendlichen vorantreiben wollen. Das Ganze kulminiertaus meiner Sicht in der absurden Förderung des Projek-tes „Dortmund den Dortmundern“, in dem normale Ju-gendliche mit Autonomen Nationalisten zusammenar-beiten sollen.Werte Kolleginnen und Kollegen, ich stand mit20 Jahren das erste Mal vor einer Schulklasse und habeantirassistische Bildungsarbeit gemacht. Ich kann Ihnenaus meiner eigenen Erfahrung sagen: Mit einem rechts-extremen Jugendlichen in einer Schulklasse kommt manklar; da kann man etwas bewirken. Aber wenn Sie glau-ben, man könne mit einer ganzen Gruppe von rechts-extrem orientierten Jugendlichen arbeiten, dann mussich sagen: Sie haben von politischer Bildung wirklichkeine Ahnung.
Das ist absurd, das ist Geldverschwendung, und das istnaiv. Wenn Naivität und Rechtsextremismus zusammen-kommen, dann wird es gefährlich.Ich kann Ihnen nur raten, sich auf den Hosenboden zusetzen, sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusam-menzusetzen, zuzuhören, nachzudenken
und die Zivilgesellschaft einzubinden, statt sie verächt-lich zu machen. Derzeit jedenfalls muss ich sagen: DieseBundesregierung ist im Bereich Prävention gegenRechtsextremismus extrem versetzungsgefährdet.
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19566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Daniela Kolbe
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Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Als ich den Titel der heutigen Aktuellen Stunde las,habe ich mich gefreut. Es geht darum, dass die Linke dasThema auf die Tagesordnung bringt, wie man Rechts-extremismus in Deutschland bekämpft. Das tut man ambesten, indem man mit Zivilcourage die Zivilgesell-schaft Gesicht zeigen lässt, indem man demonstriert, in-dem man immer wieder dagegen eintritt, wenn Intole-ranz und ein feindliches, unchristliches Menschenbilddie Diskussion beherrschen.
Gegen Rechtsextremismus kämpft man nicht alleinmit repressiven Mitteln. Natürlich müssen Straftäter ver-folgt werden, natürlich müssen Menschen, die Verfas-sungsfeinde sind, beobachtet werden, und natürlich müs-sen wir dafür sorgen, dass Prävention auch im BereichStrafrecht Platz greift. Aber wir werden den Kampf ge-gen rechts nicht gewinnen, wenn wir nicht alle die Bin-dungskräfte unserer Parteien, der FDP, der CDU, derCSU, der SPD, der Grünen und auch der Linken, nutzen,um den Kampf gegen die Überzeugungen der Rechts-extremen zu gewinnen.
Ich glaube, dass ein Ansatz, der allein auf Verbote setzt,etwa darauf, die NPD oder bestimmte Vereine zu verbie-ten – so sinnvoll das im Einzelfall sein mag –, zu eindi-mensional ist. Er wird deswegen nicht tragen. Das warder erste Punkt.Mein zweiter Punkt. Ich war allerdings betrübt, dasswir anlässlich eines Einzelfalls ein solch wichtigesThema diskutieren. Es handelt sich um einen Einzelfall,den keiner von uns abschließend beurteilen kann. HerrSensburg hat dazu viele richtige Worte gefunden. Ichglaube, dieses Thema ist zu ernst, als dass wir eine ein-zelne Demonstration und einen einzelnen Vorfall füreine Aktuelle Stunde missbrauchen und ins Zentrum derDebatte rücken sollten.
Wir müssen uns darüber einig werden, dass wir alle ge-meinsam gegen rechts vorgehen, statt solche Einzelfällezu diskutieren.
Zur Aufklärung solcher Fälle gibt es Behörden in diesemStaat, etwa Strafverfolgungsbehörden. Man kannRechtsmittel einlegen, wenn man unrecht behandeltworden sein sollte, was sich mir bei Ihnen, FrauRemmers, noch nicht erschließt. Aber es ist nicht dieAufgabe des Parlaments, eine Art Ersatzstrafverfol-gungsbehörde oder Demonstrationsfreiheitssicherungs-behörde zu werden; vielmehr müssen wir Parlamentarieruns über das politische Vorgehen gegen Rechtsextremis-mus verständigen.Ein dritter Punkt. Ich glaube, wir müssen unseren Ex-tremismusbegriff schärfen.
– Frau Lazar, ich hoffe, Sie klatschen gleich immernoch. – Wir haben einerseits, wie im Antisemitismusbe-richt der Bundesregierung sehr überzeugend dargelegt,linksextremistische Tendenzen in unserer Gesellschaft,die diesen Staat bedrohen, wir haben religiös motiviertenExtremismus in Deutschland, und – das ist das gravie-rendste Problem – wir haben Rechtsextremismus inDeutschland. Immer dann, wenn wir in diese Links-rechts-Debatten verfallen,
wenn wir nicht sagen: „Jede Form des Extremismusmuss verfolgt und bekämpft werden“, dann tun wir derSache keinen Gefallen.
Wir müssen stattdessen dafür sorgen, dass in Deutsch-land jede Form von Extremismus bekämpft wird.
Ich persönlich verstehe auch nicht, warum Sie sichdamit so schwertun, weil ich Sie alle als gute Demokra-ten kennen und schätzen gelernt habe.
– Fast alle, Herr Kauder. – Deswegen müsste es Ihnendoch ein Leichtes sein, sich von solchen Tendenzen ab-zugrenzen.Ein vierter Punkt. Natürlich können wir den Extre-mismus in Deutschland nicht überall mit den gleichenMitteln bekämpfen. Es ist eben nicht sinnvoll, die glei-chen präventiven Maßnahmen gegen rechts wie gegenlinks einzusetzen,
es ist nicht sinnvoll, religiös motivierten Extremismusgenau so anzugehen wie den Rechtsextremismus.Wie erinnern uns vielleicht an die 90er-Jahre, als inDeutschland viele Menschen entsetzt über das waren,was beispielsweise in Rostock geschehen ist. Wir erin-nern uns auch an die Präventionsprogramme, die damalsaufgelegt wurden. Aus heutiger Sicht wirken sie fasthilflos. Warum? Sie waren gut gemeint, aber es gab
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19567
Dr. Stefan Ruppert
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keine klare Vorstellung davon, wo der politische Extre-mismus in Deutschland sitzt, welche Strukturen er hatund wie man ihn angehen muss. Insofern sind wir heutedeutlich weiter. Unsere Erkenntnisse sollten wir auf dieBekämpfung auch des Linksextremismus und des reli-giösen Extremismus übertragen.
Schlussendlich freue ich mich über den Ansatz derLinken: Zivilcourage, Aufstehen, Gesicht zeigen, impersönlichen Umfeld für Toleranz kämpfen, auch für To-leranz unter uns allen als Demokraten – das ist, glaubeich, ein besserer Ansatz als ein rein repressives System.Nur wenn wir die Mitte der Gesellschaft stärken, werdenwir diesen Kampf gewinnen. Dazu fordere ich alle auf.Ich freue mich, wenn wir das gemeinsam tun können.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sowie der Anfang der Rede des Kollegen Sensburg gutwar, war der Schluss der Rede vom Kollegen Ruppertgut.
Ich denke, wir sind uns wirklich im gesamten Hause ei-nig, dass Zivilcourage wichtig ist. Ich erinnere daran,dass in Münster das gesamte demokratische Spektrumzur Demonstration aufgerufen hat, also auch CDU undFDP. Das ist sehr gut und ist bei dem Thema auch sehrwichtig. Wir sollten uns dabei so wenig wie möglichauseinanderdividieren lassen.
Allerdings ist es so, dass sich bei Demonstrationendie Abgeordneten nicht bei der Polizei anmelden müs-sen.
Wir müssen unseren Abgeordnetenausweis dabeihaben,damit wir ihn der Polizei vorzeigen können, aber wirmüssen uns nicht anmelden. Das ist in diesem Zusam-menhang wichtig.
Die Polizei muss natürlich eine Demonstration schüt-zen, egal welche; denn das Versammlungsrecht ist einGrundrecht und ist deshalb sehr hoch angesiedelt. Aller-dings ist es nicht hinnehmbar, wenn die Polizei unver-hältnismäßig reagiert. In diesem Sinne müssen die Vor-kehrungen, die in Münster getroffen worden sind,untersucht und ausgewertet werden.
Demonstrationen und auch Blockaden können wich-tig und notwendig sein.
Ich möchte einige Beispiele der letzten Wochen ausSachsen erzählen. Sachsen ist meistens berühmt fürseine negativen Beispiele, aber in den letzten Wochenhatten wir auch Positives zu berichten.Am letzten Montag gab es eine sehr große Antinazi-demo in Chemnitz, wo die Rechtsextremen wieder ein-mal ihren sogenannten Trauermarsch durchziehen woll-ten. Dort ist es der Polizei gelungen, deeskalierend zuwirken und dafür zu sorgen, dass Demonstrationen inHör- und Sichtweite möglich waren. Das ist gut so, unddas ist wichtig.
Genauso gut hat es in diesem Jahr in Dresden ge-klappt. Am 13. Februar, als die Nazis in Dresden denTag der Bombardierung ausnutzen wollten, gab es fried-liche Blockaden, die wichtig waren, weil die Streckenfreigehalten wurden. Es ist friedlich geblieben. Auchhier hat die Polizei deeskalierend eingewirkt. Die Nazismussten ihre Route verkürzen. Sie sind einmal kurz umden Block gelaufen und haben sich darüber wahrschein-lich nicht sehr gefreut.Am 18. Februar haben wir dann noch einmal eine gutbesuchte, bunte Demo in Dresden gehabt. Seit vielenJahren gibt es eine gute Arbeit vor Ort in Dresden. Es istdas dritte Jahr in Folge, dass die Demonstration so er-folgreich war. Ich möchte von hier aus allen Demons-trantinnen und Demonstranten von nah und fern danken,dass sie uns bundesweit unterstützt haben.
Die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern ist es,bei Demonstrationen unterstützend, beobachtend unddeeskalierend tätig zu sein.
Allerdings ist es auch Aufgabe der Politik, die Rahmen-bedingungen für zivilgesellschaftliche Initiativen zuschaffen, das heißt für uns, die passenden präventivenProgramme für die Bürgerinnen und Bürger aufzulegen,die sich in ihrer Region gegen alte und neue Nazis enga-gieren.
Man muss leider konstatieren, dass die Regierung hier inden letzten Jahren nichts dazugelernt hat. Die Ministerinlegt lieber Programme gegen sogenannten Linksextre-
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19568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Monika Lazar
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mismus auf. In der letzten Woche war in den Medien zulesen, dass das Deutsche Jugendinstitut, das eine Evalua-tion dieses Programms durchgeführt hat, diesem Pro-gramm ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hat. Eswurde kritisiert, dass der Begriff „Linksextremismus“wissenschaftlich völlig unzureichend ist. Man kann nichtdie richtigen Programme auflegen, weil man gar nichtweiß, was da der Ansatz ist. Deshalb rufe ich die Minis-terin auf, die 2,5 Millionen Euro endlich den Program-men gegen Rechtsextremismus zur Verfügung zu stellen;denn dort ist das Geld immer noch sehr nötig.
Kollegin Kolbe hat die Extremismusklausel ange-sprochen. Nach den aktuellen Vorfällen kann ich über-haupt nicht nachvollziehen, dass Sie immer noch daranfesthalten und ausgerechnet von denen, die sich tagtäg-lich, auch in schwierigen Regionen, für unsere Demo-kratie engagieren, eine Unterschrift abverlangen.
Das ist wirklich kontraproduktiv. Von daher – auch wennSie es nicht mehr hören können; wir machen so langeweiter, bis wir es geschafft haben –: Die Extremismus-klausel muss wirklich endlich weg.
Positiv zu erwähnen ist, dass wir im November nachden Erkenntnissen zum NSU wirklich einmal einen ge-meinsamen Antrag hinbekommen haben. Damit ist jetztim gesamten Spektrum hier im Bundestag klar: Es isteine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns stel-len müssen.Allerdings: Was kam danach? Aktionismus! Ministe-rin Schröder stellt das nun doch nicht gekürzte Budgetder Bundesprogramme nicht den Initiativen zur Verfü-gung, sondern schafft ein Informations- und Kompetenz-zentrum. Ich kann nur noch einmal wiederholen: Es gibtgenügend Know-how und Vernetzung. Was fehlt, ist dienachhaltige Förderung. Das ist die Hauptaufgabe. Esgeht nicht darum, noch zusätzliche Strukturen zu schaf-fen, die den Leuten vor Ort überhaupt nicht zugutekom-men.Ganz zum Schluss möchte ich sagen, dass wir dierichtigen Lehren aus all den Ereignissen ziehen müssen,egal ob wir auf Demonstrationen, auf der Straße oderhier im Plenum sind. Wir müssen mehr in unsere Demo-kratie investieren. Wir müssen die engagierten Initiati-ven und Projekte unterstützen und dürfen sie nicht, wiees die Koalition immer noch tut, behindern.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!Sehr geehrte Kollegen! Es ist schauderlich und erschre-ckend, dass in unserem Land fast kein Wochenendemehr vergeht, an dem sich nicht in irgendeiner Stadt, inirgendeiner Gemeinde rechtsradikale Fratzen zeigen undihre widerwärtigen und menschenverachtenden Parolenkundtun. Ich möchte gerade deshalb wirklich an dieserStelle all denjenigen ganz herzlich danken, die jedes Wo-chenende Gesicht zeigen und deutlich machen, dassRechtsradikale, dass Neonazis in Deutschland nichts zusuchen haben, dass sie nicht willkommen sind.
Hunderte von Menschen zeigen jedes Wochenende inDeutschland Gesicht. Sie zeigen damit Zivilcourage.Auch in meinem Wahlkreis, der sehr ländlich struktu-riert ist, gab es in der jüngsten Vergangenheit zweischreckliche Vorfälle. Zweimal fanden Aufmärsche vonNeonazis statt; einmal ist ein Gasthof okkupiert worden.Ich bin froh, dass es beide Male möglich war, in einembreiten gesellschaftlichen Konsens alle politisch und ge-sellschaftlich relevanten Gruppierungen dazu zu brin-gen, Gesicht zu zeigen. Die Gegendemonstrationen ver-liefen durchweg friedlich, ohne Waffen,
und so soll es auch sein. Art. 8 Grundgesetz schützt dieVersammlungsfreiheit in Deutschland. Das ist mit Si-cherheit eines der wichtigsten und vornehmsten Grund-rechte. Er schützt das Recht aller Deutschen, sich ohneAnmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zuversammeln.Leider sind die Demonstrationen am vergangenenSamstag in Münster-Rumphorst diesem Kriterium nichtgerecht geworden. Es gab neun Gegendemonstrationen– an einer davon haben Sie, Frau Kollegen Remmers,teilgenommen –, die nicht friedlich waren. Ich möchtenur einmal aus der Berichterstattung der örtlichen Pressezitieren: Es gab mehrere Antifa-Demonstranten, dieextra zur Gegendemonstration anreisten, Waffen undFeuerwerkskörper bei sich führten und diese nicht derPolizei übergeben wollten, als sie dazu aufgefordertwurden. Sie wurden daraufhin festgenommen, und ihrZug musste vollständig geräumt werden. FriedlicherProtest sieht anders aus.
Mehrmals haben bis zu 300 Menschen, teilweise ver-mummte Gegendemonstranten, versucht, Absperrungen
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Stephan Mayer
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zu durchbrechen, was ihnen an mindestens zwei Stellenauch gelang. Friedlicher Protest sieht anders aus.Polizisten sind mit Steinen und Wasserflaschen durchGegendemonstranten mehrmals beworfen worden.Friedlicher Protest sieht auch hier anders aus.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ins-gesamt sind am vergangenen Samstag in Münster sechsMenschen verletzt worden, darunter vier Polizeibeamte.Es sind insgesamt 24 Personen festgenommen worden,überwiegend wegen des Vorwurfs, Körperverletzungenbegangen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamtegeleistet zu haben.
32 Personen wurden in Gewahrsam genommen, 62 Per-sonen wurden Platzverweise erteilt.Ich möchte nicht unerwähnt lassen, wie die Vorge-schichte dieser Gegendemonstration aussah. So hattensich am 1. März die Vertreter des Aktionsbündnisses„Keinen Meter den Nazis“ zu einer Strategiebespre-chung versammelt, bei der die Gegendemonstrationenvorbereitet werden sollten. Vor 150 Teilnehmern wurdenHilfestellungen und Anleitungen gegeben, wie man ameffektivsten Polizeiabsperrungen umgeht. Zusätzlichwurden die Teilnehmer darüber „informiert“, dass beiMassendelikten dieser Art die Strafverfolgung an ihreGrenzen stößt oder teilweise gänzlich unmöglich ge-macht wird. Dann verwundert es nicht, wenn sich zweiTage später mehrere Hundert Menschen bewusst gegendie Anordnungen der Einsatzkräfte stellen und somitgegen das Versammlungsrecht verstoßen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urtei-len deutlich gemacht, dass Art. 8 des Grundgesetzespolitisch neutral ist. Er schützt sowohl Meinungen undÄußerungen von Rechten als auch von Linken. Als guteDemokraten müssen wir aushalten,
dass wir uns mit Äußerungen und Meinungen konfron-tiert sehen, die uns nicht lieb sind. Es ist aber nichthinnehmbar, dass unter dem Mantel der Versammlungs-freiheit Straftaten begangen werden.
Dies war in eklatanter Form am vergangenen Samstag inMünster der Fall.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen vonder Fraktion Die Linke, ich halte es für einen Treppen-witz, dass ausgerechnet Sie sich zum Gralshüter derfreiheitlich-demokratischen Grundordnung und unserersozialen Marktwirtschaft machen.
Ausgerechnet Sie, die offenkundig verfassungswidrigeTendenzen aufweisen, über eine kommunistische Platt-form verfügen, die 1 500 Mitglieder hat,
die Ergebenheitsadressen an einen Fidel Castro zu des-sen 85. Geburtstag schreiben, die immer noch Problememit dem Existenzrecht Israels haben, gerieren sich hierals großer Gralshüter der freiheitlich-demokratischenGrundordnung.
Das ist wirklich schauderlich. Das ist in jeder Hinsichtbemerkenswert.
Ich kann hier nur sagen: Versammlungsrecht ist wich-tig. Art. 8 ist ein wichtiges Grundrecht. Es gilt, dies zuachten und die Regeln einzuhalten, wenn man Gegende-monstrationen vornimmt.In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen undHerren: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zueinem Satz, den Sie, Herr Kollege, gerade geäußerthaben, möchte ich vor allem Stellung beziehen. Siehaben gesagt: Wir müssen es aushalten, wenn es linkeDemonstrationen gibt und wenn es rechte Demonstratio-nen gibt. – Nein, wir müssen rechte Demonstrationennicht aushalten.
Dies passt auch in Ihrer Rede nicht zusammen: In Ihremersten Satz haben Sie erst denjenigen gedankt, die aufdie Straße gehen, um gegen Rechtsextremismus undgegen die Demonstration zu demonstrieren, und dannanschließend gesagt, wir müssten sie aushalten. Daspasst nicht zusammen.
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19570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Sönke Rix
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Nein, wir brauchen allen zivilgesellschaftlichen Mutdazu, dagegen anzugehen, allen friedlichen Mut dazu,dagegen anzugehen. Den sollten wir auch nutzen.
Natürlich danken wir allen gemeinsam, die auf dieStraße gehen, wenn irgendwo Nazis aufmarschierenwollen, und gegen Rechtsextremismus demonstrieren.Genau dann ist es richtig und wichtig, sich zu zeigen,statt sich zu verstecken. Wir alle kennen die Diskussio-nen in einigen Orten und Kreisen, wo es dann heißt: Achkomm, wenn die da sind, lasst die doch einfach mar-schieren. Schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit; dashaben sie doch alles gar nicht verdient. – Nein, wir müs-sen aufmerksam sein; denn wenn wir sie nicht wahrneh-men und nicht beobachten, dann begehen sie noch vielmehr schlimme Taten. Deshalb brauchen wir sichtbareGegendemonstrationen.
Der Anstand der Anständigen und der Zuständigenschließt uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlichauch mit ein.
Wir sind Vorbilder für die Zivilgesellschaft, wir sindhoffentlich auch alle Teil dieser Zivilgesellschaft. Des-halb sollten wir nicht nur dann zu Demonstrationen ge-hen, wenn es vielleicht gerade en vogue ist; vielmehrsollten wir auch dann demonstrieren und gegen Nazisauf die Straße gehen, wenn es gerade nicht en vogueoder vielleicht schwierig ist, auf der Straße zu stehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hierfehlt es manchmal am ganz breiten Bündnis. Die Ge-werkschaften und die Kirchen sind immer mit dabei;meistens auch die Sozialdemokraten, die Linken und dieGrünen.
Aber das Schmieden großer Bündnisse scheitert häufigdaran, dass vonseiten der CDU, CSU oder FDP niemandteilnehmen will.
Jeder Protest gegen Nazis muss unterstützt werden.
– Jeder friedliche Protest muss unterstützt werden.
Wenn es dabei nach Ihrer Ansicht Menschen gibt, diesich mit einreihen und die nicht friedlich sind, dann müs-sen Sie zeigen, dass Sie als friedliche Gruppe größersind. Also reihen Sie sich mit ein und zeigen Sie damit,dass Sie die Unfriedlichen nicht tolerieren!
Bei der Frage, wie wir mit den Nazis umgehen, gehtes um unsere eigene Grundeinstellung zu diesem Themaund darum, was wir ihnen zur Verfügung stellen. Ichhabe den Reden genau zugehört und finde es in Ord-nung, dass gesagt wird, dass wir uns allgemein mit demThema Extremismus beschäftigen müssen. Egal aufwelcher politischen Seite oder in welche Richtung erpassiert, wir haben ihn nicht zu dulden. In Debatten aber,in denen es um Zivilcourage gegen den Rechtsextremis-mus geht, müssen wir uns mit dem Thema Rechtsextre-mismus beschäftigen. Denn im Kampf gegen Nazis undgegen Rechtsextremismus bedarf es einer anderen Zivil-courage und einer anderen Herangehensweise als gegenandere politische Extremisten.Diese Gleichmacherei von Links- und Rechtsextre-mismus führt leider auch dazu, dass wir die eine Art vonExtremismus herabspielen. Nachdem im Zusammen-hang mit der Entdeckung der Morde durch die Nazisdeutlich geworden war, welche dramatischen Faktensich dahinter verbergen, darf es nicht sein, dass gleich-zeitig die Familienministerin sagt: Aber es gibt auchschlimmen Extremismus auf der linken Seite. – Das isteine Verhöhnung der Opfer und vor allen Dingen derAngehörigen der Opfer.
Kurz nachdem aufgedeckt wurde, dass die Morde vonNazis begangen wurden, haben wir hier gemeinsambeschlossen, dass wir Hindernisse und Hemmnisse ab-bauen wollen, um zivilgesellschaftliche Aktivitätengegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Bis jetzt istnichts passiert. Kein einziges Hemmnis ist abgebautworden. Ein Zeichen können Sie setzen – Herr Kues, be-stellen Sie Frau Schröder einen schönen Gruß –: Sie sollendlich die Extremismusklausel wieder abschaffen.
Ich komme gerade aus dem Untersuchungsausschuss,der die Nazimorde aufarbeiten soll. Wir haben uns alsBeweismaterial die Sequenzen aus diesem schrecklichenFilm mit dem rosaroten Panther angeschaut, der auch inden Medien eine Rolle spielte. Ich will noch einenAppell loswerden: Wir dürfen nicht zulassen, dass sichNazis unsere Symbole, unsere Plätze und unseren Raumaneignen. Hier müssen wir fortwährend Widerstand leis-ten und sagen: Nein, all das gehört uns; die Räume,Symbole und Plätze gehören uns. Wir sind die Demokra-ten, und wir sind in der Mehrheit.
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Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Patrick Kurth.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ein entschiedenes Vorgehen gegen Rechtsextremis-mus ist Konsens in diesem Hause. Alle demokratischenKräfte gehen gemeinsam gegen Rechtsextremismus undrechte Gewalt vor. Rechtsextremismus schädigt unsereGesellschaft, schädigt unsere Demokratie. InsbesondereDeutschland hat eine historische Verantwortung undSensibilität; wir haben eine wehrhafte Demokratie.Aber es gibt Schwierigkeiten im Umgang mit Rechts-extremismus. Ich will darauf eingehen. In den letztenJahren, vor allen Dingen in den letzten Monaten – be-dingt durch die schrecklichen Taten, die offenkundigwurden und dazu führten, dass über dieses Thema gere-det wird –, kamen zu all den berechtigten DiskussionenPhänomene hinzu, gegen die wir uns entschieden ge-wehrt haben: Es wurde davon geredet, dass es rechts-extreme Hochburgen gäbe, dass ganze Regionen inDeutschland rechtsextrem wären, dass es No-go-Areasgäbe. Da wurde die Situation nicht nur nicht richtigdargestellt, sondern die Darstellung schlug sogar ins Ge-genteil um: Plötzlich spielten Städte in Thüringen wieJena eine Rolle; ein Parlamentarischer Geschäftsführerforderte hier in einer Debatte, dass die Bundeswehr dorteinmarschieren sollte oder Ähnliches. Ich muss sagen:Hier wird die Realität falsch wahrgenommen.Am 20. April 2000, also vor zwölf Jahren, an einembewussten Datum, gab es in Erfurt, zum ersten Mal inmeinem Heimatland, einen Anschlag auf eine Synagoge.Einen Tag später kamen 50 Leute zu Mahnwachen. Ei-nen weiteren Tag später kamen 6 000 Leute zu Demon-strationen und Mahnwachen. Wenn wir diese schreck-lichen Taten in der Öffentlichkeit benennen, dannbenennen wir bitte auch im gleichen Atemzuge, dass dieDeutschen, in dem Fall die Thüringer, aufstehen und ge-gen Rechtsextremismus demonstrieren. Die Mehrheithaben die Rechten in keiner einzigen Region in Deutsch-land, meine Damen und Herren.
Das zweite Problem in der Debatte, die wir hier füh-ren, ist der Umgang mit dem Begriff „Rechtsextremis-mus“. Wir Politiker tun immer so, als wäre die Defini-tion von Rechtsextremismus klar, als gäbe es eineeindeutige Begrifflichkeit. Wir dürfen und können esnicht kritisieren, dass das in Überschriften und Aufrufenvereinfacht wird. Aber hier in diesem Raum, in dem wirGesetze und Maßnahmen beschließen, sollten wir nichtso über Rechtsextremismus reden, als ob jedem klarwäre, worum es geht. Das wird der tatsächlichen wissen-schaftlichen, rechtlichen und politischen Debatte nichtgerecht.Sie von der Linken reden in diesem Hause sehr oftvon Faschismus, Antifaschismus usw. Diese Begriffesind aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung völ-lig raus.
Die Begriffe „Faschismus“ und „Antifaschismus“ kön-nen nicht das Phänomen des modernen Rechtsextremis-mus erklären. Sie befleißigen sich, sie als politischeKampfbegriffe zu verwenden.Das gilt auch für Rot und Grün, die ein Mischmaschder Begriffe „Extremismus“ und „Faschismus“ verwen-den und die Ansätze entsprechend vermengen.
Wir, die bürgerliche Mitte in diesem Hause, gehenvon einer Positivierung aus. Wir fragen: „Wofür stehenwir ein?“, und nicht: „Wogegen definieren wir uns?“ Wirstehen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung.Wir wehren uns gegen diejenigen, die gegen die freiheit-lich-demokratische Grundordnung vorgehen, egal ob sielinks, rechts, oben, unten, hinten oder vorne sind. Wirbekämpfen diejenigen, die gegen die freiheitlich-demo-kratische Grundordnung vorgehen.
Meine Damen und Herren, wir lehnen es deshalb auchab, Extremisten mithilfe von Extremisten zu bekämpfen;das schließt sich aus.
Wir lehnen es ab, Extremisten mit den Mitteln der Extre-misten zu bekämpfen. Das geht nicht.Alle hier sind gegen Rechtsextremismus. Viele habenein Problem damit, als Antifaschisten bezeichnet zu wer-den, weil sie dann mit Autonomen, Anarchisten undFundamentalisten in einer Reihe stehen,
die hier nicht hingehören und die unsere Freiheit undDemokratie genauso bekämpfen. Deswegen ist der Be-griff „antifaschistisch“ völlig falsch und daneben.
Meine Damen und Herren, auch das muss gesagt wer-den: Zu den Mitteln der Extremisten gehört zum Teilauch, Pflastersteine auf Polizisten zu werfen, Versamm-lungen zu sprengen, Blockaden zu errichten, Polizeisper-ren mit Gewalt zu durchbrechen. Das hat mit demokrati-schen Umgangsformen nichts zu tun. Es hat auch nichtsmit bürgerlichem Engagement gegen Nazis zu tun. Wirlehnen das entschieden ab.
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19572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Patrick Kurth
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Am Ende möchte ich sagen: Das Leben ist immerkonkret. Wir können hier im Bundestag viele Redenhalten; aber die Probleme müssen vor Ort angepacktwerden.
– Das machen Sie von der Linken in ganz hervorragen-der Weise: Es gibt in Sachsen-Anhalt einen Ort, in demein hoher Funktionär der NPD in der örtlichen Freiwilli-gen Feuerwehr tätig ist.
Die Bürgermeisterin dieses Ortes ist von den Linken.Angesprochen von der FDP, ob man möglicherweise mitder Aufnahme des Passus „Unsere Mitglieder bekennensich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ indie Satzung, wie bei vielen Vereinen in Sachsen-Anhaltoder Thüringen geschehen, dafür sorgen könne, dass derNPD-Funktionär nicht mehr in der Jugendfeuerwehrtätig ist, sagte diese linke Bürgermeisterin: Nein, denkenne ich persönlich. Ich kann nichts Schlechtes überihn sagen.
Meine Damen und Herren, das Leben entscheidet sichvor Ort. Vor Ort müssen Sie aktiv werden. Daher kannich Sie nur auffordern: Halten Sie hier keine Schaufens-terreden. Seien Sie vor Ort aktiv.
Gehen Sie mit der Demokratie und mit den Antidemo-kraten richtig um. Setzen Sie sich auch damit auseinan-der, wie Antifaschisten in diesem Land die Demokratiebedrohen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was dierechte Seite des Hauses hier heute wieder bietet, zeigt,wie Sie Rechtsextremismus weiterhin verharmlosen. Sieversuchen, Opfer zu Tätern umzudefinieren, indem Siesagen, dass sie entweder etwas mit Gewalttätern zu tunhätten oder dass sie Extremisten seien. Darin sind Sieschon recht geübt. Das haben wir bei den NSU-Mordengesehen.
Es ist wirklich ein Skandal, wie Sie hier auftreten.
Es ist üblich in diesem Haus, dass wir hier insbeson-dere an Gedenktagen Reden gegen den Rechtsextremis-mus hören. Am 27. Januar hat der Bundestagspräsidentsehr richtige Worte gefunden, als er sagte: Es gibt vieleMenschen – beispielsweise Menschen, die in Vereinenorganisiert sind –, die den Rechtsextremen, die durchihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegen-treten. Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen,nicht wegsehen und Diskriminierung nicht unwiderspro-chen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispielgeben und Mut machen.
Auch ich, meine Damen und Herren, habe es am letz-ten Wochenende in Münster sehr ermutigend gefunden,dass Tausende von Münsteraner Bürgerinnen und Bür-gern gegen die Nazis auf die Straße gegangen sind unddass vor allem die Anwohner den Nazis, die durch ihreStraßen gingen, mit Transparenten deutlich gemacht ha-ben: Nazis raus! Ihr habt in unserem Land nichts zu su-chen!
Doch der staatliche Umgang mit Zivilcourage gegenrechts ist leider ein ganz anderer als der, der oft in Fest-tagsreden beschworen wird. Die Polizeiwillkür, die un-sere Kollegin Ingrid Remmers in Münster am eigenenLeib erfahren musste, ist leider nur die Spitze des Eis-berges.
Viele junge Menschen, die auf die Straße gehen, müssendiese Polizeiwillkür erleben und werden nicht selten an-gegriffen. Daher muss man diese Vorkommnisse ernstnehmen, darf sie nicht verharmlosen und darf nicht sa-gen, das sei alles nicht so schlimm.
Hier muss man vielleicht auch noch einmal deutlichsagen: Sie sollten von dem Polizeipräsidenten in Müns-ter lernen. Immerhin hat er sich dafür entschuldigt, wasseine Polizisten dort veranstaltet haben.
Meine Damen und Herren, damit es ganz klar ist:Schuld sind keineswegs nur die übereifrigen Polizisten.Die Bundesregierung selbst – das haben wir heute hiergehört – stellt den Antifaschismus unter extremistischenGeneralverdacht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19573
Ulla Jelpke
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Der Fisch stinkt, wie wir wissen, vom Kopfe her. Soheißt es beispielsweise auf der Webseite des Verfas-sungsschutzes – Zitat –:Der „Antifaschismus“ zielt nur vordergründig aufdie Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebun-gen.
Vielmehr bekämpfen Linksextremisten … die frei-heitliche demokratische Grundordnung als „kapita-listisches System“,
um deren angeblich immanente Wurzeln des „Fa-schismus“ zu beseitigen.Mit anderen Worten: Wer gegen Nazis auf die Straßegeht, der steht in den Augen der Bundesregierung offen-bar schon mit einem Fuß außerhalb des Grundgesetzes.
Nach dieser Maxime knebelt übrigens die Familienmi-nisterin, die bei dieser Debatte nicht anwesend ist, diezahlreichen bürgerschaftlichen Projekte gegen Rechts-extremismus mit der Extremismusklausel. Es ist heuteschon mehrfach gesagt worden, dass diese Klausel wegmuss.
Nach dieser Maxime prügeln auch Polizisten in Münsterund andernorts Nazis den Weg frei. Das muss man ganzklar so sagen. Das ist staatlicher Anti-Antifaschismus inReinform.
Ich fordere Sie auf: Lesen Sie, was die Nazis auf ihrenHomepages schreiben, dann stellen Sie nämlich fest,dass sich die Nazis eins ins Fäustchen lachen.Tausende Antifaschisten waren in den letzten Jahrenaktiv, sie haben sich zum Beispiel im Februar in Dresdendem größten Naziaufmarsch seit Jahren entgegenge-stellt. Was war die Antwort der staatlichen Seite? Knüp-pel, Tränengas und ein Ermittlungsverfahren wegen Bil-dung einer kriminellen Vereinigung,
und zwar nicht gegen Nazis, sondern gegen Antifaschis-ten. Millionen von Handydaten von unbescholtenenBürgern wurden gespeichert. Die Immunität mehrererLandtagsabgeordneter wurde aufgehoben, weil sie zurBlockade des Naziaufmarsches aufriefen.
Das ist die traurige Realität, wenn Bürger gegen Na-zis aktiv werden. Daran wird sich auch nichts ändern, so-lange kein Umdenken bei der Regierung und auf derrechten Seite des Hauses stattfindet, solange Sie in Ihrerideologischen Verbohrtheit
Antifaschismus für eine Einstiegsdroge zur Revolutionhalten
und solange Sie weiterhin beide Augen vor dem alltägli-chen Terror der Nazibanden verschließen. Leider ist esRealität, dass Sie jahrelang vor dem Problem des rechtenTerrors beide Augen verschlossen haben.
Seit 1990 haben wir über 160 Tote zu beklagen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. – In diesem
Jahr verzichten die Nazis übrigens erstmals darauf, in
Dresden zu marschieren. Das ist einzig und allein der Er-
folg der Blockaden gewesen.
Ich kann Sie daher nur aufrufen: Beteiligen Sie sich an
den Blockaden gegen die Nazis!
Das ist die Sprache, die diese nicht gerne hören.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Ruprecht Polenz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin mir nicht so sicher, ob der bisherige Verlauf dieserAktuellen Stunde die Menschen in Deutschland tatsäch-lich ermutigt, Zivilcourage gegen Nazis zu zeigen.
Ich befürchte, dass der unbefangene Zuhörer von dieserAktuellen Stunde den Eindruck vermittelt bekommt: Wirstreiten untereinander und verlieren aus dem Blick, wo-rum es eigentlich geht.
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19574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Ruprecht Polenz
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Warum ist es wichtig, Zivilcourage gegen Nazis zuzeigen? Es ist wichtig, weil sie unsere Werte nicht teilen,weil sie gegen die gleiche Würde aller Menschen sindund dumpfe Ressentiments vor allen Dingen gegenüberAusländern schüren, weil sie gewalttätig sind und antise-mitisches Gedankengut verbreiten. Es ist allerdings auchzu beobachten, dass manche sich sozusagen zur Tarnungzu 150-prozentigen Freunden Israels gerieren, weil siedann per definitionem keine Rechtsradikalen mehr seinkönnen und umso ungehinderter ihre Hetze gegen Mus-lime vom Stapel lassen können. Darum geht es.
Man muss diesem Hass und dieser Fremdenfeindlichkeit– vor allen Dingen dem Hass, der sich gegen die Mus-lime und gegen den Islam richtet und der nichts mehrmit Religionskritik zu tun hat – entgegentreten.
Ich darf Ihnen vor dem Hintergrund der heutigen De-batte eine E-Mail vorlesen, die im Augenblick ziemlichviele Menschen bekommen, die aufgrund ihres Namensals Menschen mit Migrationshintergrund erkennbar sind.Ich zitiere:Wir möchten Sie mit diesem unserem persönlichenAnschreiben dazu veranlassen, in Ihrem eigenenSinne unser Land freiwillig, friedlich und gewalt-frei zu verlassen, da ansonsten für Ihre und IhrerFamilie Gesundheit und Leben nicht garantiert wer-den kann.
Weiter heißt es:Verstehen Sie den Ernst der Lage und handeln Siedanach, bevor es für Sie und Ihre Familie zu spätist.
Sollte diese Aufforderung zum Verlassen unseresLandes ignoriert, missachtet oder dieser nur spär-lich nachgekommen werden, gehen Sie davon aus,dass wir diese Ausweisung zur Not mit allen unszur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen wer-den,
um dieses Problem für uns zu lösen, was wir mitdiesem Schreiben jedoch doch gerne verhindernwollen.Als Verfasser bezeichnet sich eine sogenannte Reichsbe-wegung.Sie fragen, warum ich das hier vorlese. Weil ichglaube, dass bekannt sein muss, was Menschen perE-Mail an Drohadressen bekommen. Nur so können wirbei der Mehrheit der Bevölkerung Empathie wecken unddie Menschen dazu bringen, sich mit dieser Bevölke-rungsgruppe solidarisch zu zeigen. Hier hilft nur Trans-parenz. Deshalb habe ich das mit Abscheu hier vorgele-sen: damit man sich dagegen wendet und Solidaritätzeigt.
Deshalb war es, als die Nazidemonstration in Münsterangekündigt wurde, auch richtig, nicht zu schweigen,nicht wegzuschauen und sich nicht wegzuducken. Es gabeine einstimmige Resolution der sieben Fraktionen bzw.Gruppierungen im Rat, die zu friedlichen Gegendemons-trationen aufgerufen haben. Wir vier Bundestagsabgeord-nete aus Münster, Frau Klein-Schmeink, Herr Strässer,Herr Bahr und ich, haben ebenfalls gemeinsam dazu auf-gerufen, friedlich gegen die Demonstration der Nazis auf-zutreten. Das war erfolgreich. Über 5 000 Menschen ha-ben demonstriert. Auf der größten Kundgebung habender Oberbürgermeister, Vertreter des DGB und der Kir-chen sowie der Vorsitzende des Integrationsrates gespro-chen. Das war ein starkes Signal gegen die Nazis.Jetzt zu dem Punkt, dem in dieser Debatte viel zu vielRaum gegeben wurde, nämlich zur Frage, wie das mitGewaltausschreitungen am Rande der Kundgebung war.Wenn wir unsere Werte verteidigen, dann müssen wiruns auch selber danach richten. Zu unseren Werten gehö-ren auch unsere Rechtsordnung, Recht und Gesetz. DieVersammlungsfreiheit schützt auch das Demonstrations-recht – hören Sie jetzt gut zu – von verfassungsfeindli-chen Organisationen, solange sie nicht verboten sind.Das ist das Konzept unserer wehrhaften Demokratie.Auf diese Weise soll politische Auseinandersetzungstattfinden. Es ist Aufgabe der Polizei, das sicherzustel-len. Wenn man die Polizei dafür denunziert und sagt, siemache sich mit den Nazis gemein, dann denunziert manunseren Rechtsstaat, meine Damen und Herren von derLinken.
Die offenen Fragen, die angesprochen worden sind,werden untersucht. Frau Kollegin, Sie haben nicht er-zählt, dass sich der Polizeipräsident inzwischen schrift-lich bei Ihnen entschuldigt hat.
Das wird geklärt. Ich denke, das sollte nicht im Mittel-punkt stehen.
Der Spiegel hat die Ereignisse des vergangenen Wo-chenendes in einem Bericht so zusammengefasst – ichdarf zitieren –:Neue Bühne, alte Parolen: Erstmals sind HunderteNeonazis durch das zutiefst bürgerliche Münstermarschiert. Die Stadt reagiert ebenso vorbildlich
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Ruprecht Polenz
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wie entschieden: Mit Transparenten, Sprechchörenund Trillerpfeifenkonzerten protestieren Tausendegegen die Extremisten.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Sonja Steffen für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Rechtsextre-mismus ist ein nationales Problem, das in diesem Jahrdurch die Aufdeckung der Morde des NSU einen sehrtraurigen Höhepunkt erlebte.Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommernhaben 22,7 Prozent der Wähler in Usedom-Stadt dieNPD gewählt. In Kamminke, einem Ort ganz in derNähe der Grenze zu Polen, waren es 23,9 Prozent und inBansin-Dorf 24,9 Prozent, und das, obwohl Usedomeine lebendige Insel ist. Usedom hat nichts mit den Dör-fern gemein, die sich von der Welt aufgegeben fühlen.In dieser Debatte geht es um Zivilcourage gegenrechts und um die Stärkung derselben. Sie verlangt Mut,die Zuversicht der Menschen, dass ihnen nichts passiert,wenn sie sich den Nazis entgegenstellen, und sie ver-langt Entschiedenheit. Usedomer Bürgerinnen und Bür-ger stellen sich mutig mit den ihnen zur Verfügung ste-henden Mitteln gegen den Rechtsextremismus. Es gibtzum Beispiel einen Bürgermeister auf Usedom, der dieSatzung geändert hat, als die NPD eine neue Sporthallenutzen wollte, um dort ihre Aufmärsche zu üben. Er gingdabei das Risiko ein, dass diese Satzung einer rechtli-chen Überprüfung vielleicht nicht standhalten würde.
In Heringsdorf ist es seit zwei Jahren verboten, dass Par-teien ihre Plakate an Laternenmasten anbringen.In meinem Wahlkreis und in ganz Mecklenburg-Vor-pommern zeigen die Menschen Flagge, indem sie Nazi-Aufmärschen mutig mit Storch-Heinar-T-Shirts entge-gentreten, obwohl NPD-Anhänger dabeistehen und sieprovokant fotografieren, um Angst zu schüren. Im Land-tag von Mecklenburg-Vorpommern ist die NPD leidernoch mit fünf Abgeordneten vertreten. Die demokrati-schen Fraktionen dort haben sich darauf verständigt,dass auf jeden Antrag der NPD nur ein Abgeordneter imNamen aller demokratischen Fraktionen mit einem Re-debeitrag antwortet.
Gegen die Nazis sprechen die demokratischen Parteienim Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mit einerStimme.Wahrscheinlich haben viele von uns schon Aktionengegen rechts organisiert und begleitet. Wir haben uns ge-ärgert – mein Kollege Sönke Rix hat vorhin schon daraufhingewiesen –, wenn Widerstand und Zivilcourage antechnokratischen Bedenken scheiterten. Viele von unshaben schon das Argument gehört, man dürfe nicht soviel über die NPD reden, damit sie nicht so viel Auf-merksamkeit bekommt.Leider ist es auch in meinem Wahlkreis in Stralsundso, dass das Aktionsbündnis gegen rechts nicht von denkommunalpolitischen CDU-Abgeordneten begleitetwird, obwohl darin Kirchen, Gewerkschaften und eineReihe von Vereinen vertreten sind. Nein, wir müssen dierechtsextremen Aktionen nicht aushalten. Es ist richtigund wichtig, dass sich die Menschen dem braunen Hau-fen mutig entgegenstellen. Wir als Parlamentarier habendas Recht und die Pflicht, diese Zivilcourage zu beglei-ten und zu unterstützen.
Was Ihnen in Münster passiert ist, Frau Remmers,finde ich persönlich schlimm und entwürdigend. Ichhoffe, dass es für Sie keine Nachwirkungen geben wird.Gleichzeitig hoffe ich, dass es für die handelnden Poli-zeibeamten hingegen Nachwirkungen geben wird, dassdort ermittelt und der Sachverhalt aufgeklärt wird.Aber ich frage: Darf und muss die Zivilcourage soweit gehen, dass uns Bundestagsabgeordneten ein Son-derstatus eingeräumt wird?
Sollten wir, wenn es um Rechtsextremismus geht, vonder Möglichkeit der Immunität Gebrauch machen dür-fen, um uns vor Aktionen der Staatsanwaltschaft und derPolizei zu schützen? Die verfassungsrechtlich verankerteImmunität ist ein hohes Gut, aber kein Freifahrtsscheinfür Abgeordnete. Das ist gut und richtig so. Sie alle ken-nen die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten ge-nauso gut wie ich. Sie wissen, dass der Immunitätsaus-schuss nie in eine Beweiswürdigung eintritt und keineFeststellungen über Recht oder Unrecht, Schuld oderNichtschuld trifft. Ob Sitzblockaden eine Nötigung dar-stellen, dürfen wir im Immunitätsausschuss nicht prüfenund bewerten.Für den einzelnen Abgeordneten ergeben sich hierkeine Sonderrechte. Er hat nur den Anspruch, dass sichder Bundestag bei der Entscheidung über eine Aufhe-bung der Immunität nicht von sachfremden Motiven lei-ten lässt. Deshalb darf der Immunitätsausschuss auch beiErmittlungsverfahren gegen Abgeordnete, die im Zu-sammenhang mit Aktionen der Zivilcourage gegenrechts eingeleitet werden, keine Beweiswürdigung oderpolitische Wertung vornehmen; denn dann würde die Ar-beit des Immunitätsausschusses willkürlich. Das gilt füralle Abgeordneten, für Herrn Thierse genauso wie fürSie, Frau Remmers. Er ist nicht anders behandelt worden
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19576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Sonja Steffen
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als andere Abgeordnete, die sich im Wege der Zivilcou-rage gegen die Rechten gestellt haben.
Es gibt andere Mittel, die uns zur Verfügung stehenbzw. die wir schaffen und stärken müssen. Viele sindhier schon genannt worden. Ich will mich deshalb aufzwei beschränken. Ein Mittel ist, den Menschen, vor al-lem den Menschen in Ostdeutschland, eine bessere Per-spektive zu bieten, um dem rechtsextremistischen Ge-dankengut den Boden zu entziehen. Schließlich gehörtauch ein Verbot der NPD dazu, damit sie unsere schönenStädte und Landschaften zukünftig nicht mehr mit ihrenwiderlichen Plakaten verschandeln kann und damit wirihre Äußerungen in den Parlamenten nicht länger ertra-gen müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Zivilcourage bedeutet sozialverantwortliches Han-deln und geschieht beispielsweise in Situationen, in de-nen zentrale Wertüberzeugungen und soziale Normenwie Menschenwürde, Menschenrechte oder Gerechtig-keit verletzt werden. Zivilcouragiert handelt eine Person,wenn sie bereit ist, trotz drohender Nachteile für die ei-gene Person als Einzelner für die Wahrung humaner unddemokratischer Werte einzutreten.In Deutschland haben wir starke demokratischeStrukturen, aber auch funktionierende Sicherheitsstruk-turen. Für mich hört Zivilcourage dort auf, wo das De-monstrationsrecht von Gegendemonstranten gebrochenwird. Diese Schlussfolgerung ziehe aus den aktuellenDemonstrationen der Neonazis in Münster.Eines der wesentlichen Merkmale unserer Demokra-tie ist, dass wir auch Meinungen zulassen und tolerieren,die nicht unsere demokratischen und rechtsstaatlichenGrundprinzipien und Wertvorstellungen widerspiegeln,wie es der Kollege Polenz vorhin schon sagte. In Art. 5und Art. 8 des Grundgesetzes sind die Meinungs- unddie Versammlungsfreiheit ausdrücklich garantiert. DieAusübung des grundgesetzlich garantierten Versamm-lungsrechts ist jedoch dann eindeutig verletzt, wenn, wiein Münster geschehen, Gegendemonstranten versuchen,Polizeiabsperrungen zu überwinden. Dies hat für michnun wirklich nichts mehr mit Versammlungsfreiheit undZivilcourage zu tun.
Den erheblichen Zuwachs im neonazistischen Spek-trum und die steigende Gewaltbereitschaft innerhalb derNeonazi-Szene betrachte auch ich mit größter Sorge.Wir müssen verhindern, dass rechtsextremistische Ideo-logien zu Mord und Terror führen. Deswegen setzen wirim familienpolitischen Bereich auf Prävention bei Kin-dern und Jugendlichen. Für die Prävention gegenRechtsextremismus geben wir so viel Geld aus wie keineandere Bundesregierung zuvor.Mit verschiedenen Aktions- und Bundesprogrammenhat die Bundesregierung erfolgreich pädagogische Bil-dungsprojekte und Beratungsangebote gegen Rechts-extremismus unterstützt. Hauptzielgruppe waren Kinderund Jugendliche, deren Eltern, Erziehungsberechtigte,Lehrer, Erzieher und seit 2007 auch explizite Meinungs-träger im Umfeld der Jugendlichen. Insbesondere mitdem Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenzstärken“ wollen wir die Entwicklung von Kindern undJugendlichen durch präventiv-pädagogische Arbeit stär-ken. Kinder und Jugendliche müssen gegen rechtsextre-mistisches Gedankengut immun werden. Der besteImpfstoff ist, dass wir unsere Kraft darauf verwenden,sie für unsere Werte wie Demokratie, Toleranz und Welt-offenheit zu gewinnen.Für das Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kom-petenz stärken“ stehen jährlich 24 Millionen Euro zurVerfügung. Da die Verwaltung intern durch das Bundes-amt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgabenwahrgenommen wird, haben wir Einsparungen in Höhevon 2 Millionen Euro erzielt. Unser Ziel war nicht, beider überaus erfolgreichen Projektarbeit zu sparen. Im Ge-genteil: Wir haben die Bekämpfung des Rechtsextremis-mus verstärkt, indem wir die Gelder weiter aufgestockthaben. Auf Antrag meiner Fraktion wurde der bestehendeHaushaltstitel „Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt,Toleranz und Demokratie“ im Haushaltsjahr 2012 um2 Millionen Euro erhöht.
Auch wenn wir den Rechtsextremismus mit allen unszur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, so müssenwir doch stets auf dem Boden unserer freiheitlich-demo-kratischen Grundordnung bleiben. Dazu, liebe Kollegenvon der Opposition, gehört auch die Extremismusklau-sel. Diese hat sich bewährt und bleibt bestehen. Wir kön-nen Extremismus nicht mit Extremismus bekämpfen.
Für mich gilt eine absolute Nulltoleranz gegenüberdenjenigen, die nichts anderes im Sinn haben, als sichgegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnungzu stellen. In den vergangenen Jahren haben wir imKampf gegen den Rechtsextremismus durch die Erpro-bung unterschiedlicher Ansätze viel Wissen und Kompe-tenz gewonnen. Dieses Wissen wollen wir zukünftigauch für die Gesellschaft nutzbar machen. Zu diesemZweck ist bis Ende dieses Jahres die Einrichtung einesbundesweiten Informations- und Kompetenzzentrumsgeplant. Dabei handelt es sich um eine Plattform zum
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19577
Eckhard Pols
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Wissenstransfer: von zivilgesellschaftlichen Organisa-tionen an Multiplikatoren im Bildungssystem und an dieZivilgesellschaft.Zum Schluss, meine Damen und Herren, ein Appellan Sie alle: Nur wenn wir uns alle aktiv für Toleranz undfür die Werte und Errungenschaften unserer Demokratieeinsetzen, können wir den Rechtsextremismus erfolg-reich aus unserer Gesellschaft verbannen.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Zu einer Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach
§ 32 unserer Geschäftsordnung erteile ich das Wort der
Kollegin Ingrid Remmers von der Fraktion Die Linke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie werden mir
nachsehen, dass ich spätestens nach dem Beitrag des
Kollegen Sensburg das dringende Bedürfnis habe, einige
Punkte klarzustellen.
Der Kollege Sensburg hat behauptet, ich hätte mich
am letzten Samstag nicht ausweisen können.
Ich möchte klarstellen, dass ich meine Abgeordnetentä-
tigkeit bzw. mein Mandat zu jedem Zeitpunkt innerhalb
von einer Minute hätte nachweisen können.
Darüber hinaus möchte ich feststellen, dass während
des gesamten Samstags an keiner Stelle meine Identität
infrage gestellt wurde. Meine Identität ist erst im Nach-
hinein infrage gestellt worden, als klar war, was man
sich hier geleistet hat.
An dieser Stelle möchte ich auch darauf eingehen,
dass der Kollege Polenz von gewaltbereitem Protest ge-
sprochen hat. Ich möchte Ihnen die Situation einmal ver-
anschaulichen. Es war eine angemeldete und genehmigte
Kundgebung, die ausgelagert war zwischen zwei Sied-
lungen auf einem Feld und einem Feldweg, wo niemand,
aber auch gar niemand diesen Protest wahrnehmen oder
hören konnte. Dass junge Menschen, die zu diesen De-
monstrationen gereist sind, um ihre Meinung im Kampf
gegen rechts kundzutun, diesen Kundgebungsplatz ir-
gendwann auch verlassen möchten, weil sie mit ihrem
Protest nirgendwo wahrgenommen werden, muss man
anders sehen, als es hier dargestellt wird. Es war keine
Gewaltbereitschaft, sondern der Wunsch, zeigen zu kön-
nen, wo man steht, und dagegen angehen zu können.
Was am Samstag auf diesem Kundgebungsplatz pas-
siert ist, ist einzig und allein, dass sich junge Leute vom
Kundgebungsplatz in Richtung einer nicht abgesperrten
Siedlung abgesetzt haben. Die Absperrung wurde erst
viel später errichtet. Dieses Verlassen hat zu einem mas-
siven Polizeieinsatz geführt.
Ich habe versucht, zu intervenieren, als ein junger
Mann, der etwas abseits gelaufen ist, um weiter in Rich-
tung Demoroute zu kommen, zu Boden geworfen wor-
den ist. Ein Polizist hat sich auf ihn gekniet – sein Knie
war im Nacken des Mannes – und hat seinen Arm nach
hinten gedrückt. Der Polizist ist in dieser Position ge-
blieben, obwohl der junge Mann überhaupt keinen Wi-
derstand geleistet hat.
Diese Situation war für mich Anlass, hinzugehen. Als
ich von einer Polizistin aufgehalten worden bin, habe ich
sofort gesagt, wer ich bin. Ich war jederzeit als Abgeord-
nete identifizierbar.
– Wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich hatte selbst-
verständlich meinen Personalausweis in der Tasche.
Zwei Meter hinter mir stand mein Mitarbeiter mit sei-
nem Mitarbeiterausweis, auf dem auch mein Name steht.
Das hat aber niemand wissen wollen. Niemand hat in-
frage gestellt, dass ich Abgeordnete bin. Deswegen
spielt der Punkt, ob ich den richtigen Ausweis in der Ta-
sche hatte, überhaupt keine Rolle; denn das war jederzeit
feststellbar.
Aber auch der junge Mann, um den es eigentlich ging,
ist nicht gewalttätig gewesen, sondern er hat versucht,
den Kundgebungsplatz zu verlassen. Er ist massiv ange-
griffen und niedergedrückt worden, und ich wollte ver-
mittelnd eingreifen.
Ich bitte Sie, das zu respektieren. Sie sind nicht dort
gewesen und konnten die Situation also nicht beobach-
ten, genauso wie die Koalitionsfraktionen ohnehin bei
keinem Kampf gegen rechts irgendwo auftauchen und in
dieser Frage eher ein Totalausfall sind.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes– Drucksache 17/8801 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
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19578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-JoachimOtto das Wort.
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Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit der Energiewende stellen wir
unsere Energieversorgung auf eine neue Grundlage. Für
diesen Umbau brauchen wir neben dem Ausbau der er-
neuerbaren Energien, neuer Netze und Speichertechno-
logien auch Investitionen in neue hochmoderne Kraft-
werke sowie eine signifikante Steigerung der Effizienz.
Mit dem Entwurf einer Novelle des KWKG schlagen
wir jetzt ein Bündel von Maßnahmen vor, durch das die
Kraft-Wärme-Kopplung deutlich vorangebracht werden
kann und gleichzeitig auch Anreize für Investitionen in
neue Erzeugungsanlagen gesetzt werden.
Die Bundesregierung steht zur Kraft-Wärme-Kopp-
lung als Effizienztechnologie. Durch Nutzung der bei
der Stromerzeugung anfallenden Abwärme für Heizzwe-
cke können Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent er-
reicht werden, wenn ein entsprechender Wärmebedarf
besteht. Unbestrittenes Ziel ist es, bis zum Jahre 2020
den Anteil der Stromerzeugung aus KWK-Anlagen auf
25 Prozent zu steigern. Sie wissen es sicherlich: Momen-
tan beträgt dieser Anteil 15 Prozent.
Der Ihnen jetzt vorliegende und heute zu debattie-
rende Gesetzentwurf enthält insbesondere eine Auswei-
tung der Förderung von Wärmenetzen. Ein intensivierter
Ausbau der Netze erschließt neue Wärmesenken und ist
somit ein Schlüssel zur Steigerung des Anteils von
KWK. Weiterhin soll die Förderung von Modernisie-
rungsmaßnahmen deutlich erleichtert und eine neue
Möglichkeit zur Unterstützung der Nachrüstungen mit
KWK geschaffen werden. Hierdurch kann die Effizienz
bestehender Anlagen deutlich gesteigert werden.
Neu aufgenommen wurde auch eine Möglichkeit zur
Förderung von Wärmespeichern. Wärmespeicher bieten
eine Möglichkeit zur Entkopplung der Stromerzeugung
von der Nutzung der Wärme. Hierdurch können KWK-
Anlagen flexibler eingesetzt werden und besser zum
Ausgleich der zwangsläufig fluktuierenden Einspeisung
erneuerbarer Energien beitragen.
Der Regierungsentwurf enthält schließlich für emis-
sionshandelspflichtige Anlagen eine Anhebung der Zu-
schläge um 0,3 Cent pro Kilowattstunde. Der Vorschlag
zielt auf den Ausgleich der ab dem Jahre 2013 schritt-
weise beginnenden Einbeziehung der Wärmeerzeugung
in den Emissionshandel. Er soll also trotz dieser begin-
nenden Zusatzbelastung Anreize für Neuinvestitionen
setzen.
Einige Verbände und auch der Bundesrat haben die-
sen Teil des Gesetzentwurfes kritisiert. Sie fordern eine
Anhebung der Zuschläge auf breiterer Front. Die Bun-
desregierung hat zugesagt – sie wird das auch tun –, die
Vorschläge gerade im Hinblick auf eine Anreizwirkung
für notwendige Investitionen in flexible neue Kraftwerke
zu prüfen und gegebenenfalls im Laufe des Beratungs-
verfahrens einen konkreten Vorschlag hierzu vorzulegen.
Zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen,
dass das KWKG, anders als andere umlagefinanzierte
Förderinstrumente, eine feste Begrenzung der Kosten
der von den Verbrauchern zu tragenden Umlagen auf
750 Millionen Euro pro Jahr enthält. Durch diesen festen
Deckel bleibt auch die maximale Belastung der Verbrau-
cher kalkulierbar. Selbst im Falle einer vollen Ausschöp-
fung des Betrages würde sich der Strompreis für End-
kunden nur um circa 0,3 Cent pro Kilowattstunde
erhöhen. Ich will aber klarmachen: Im vergangenen Jahr,
2011, betrugen die Zusatzkosten
für die Verbraucher gerade einmal 0,03 Cent pro Kilo-
wattstunde. – Herr Kollege Krischer, ich freue mich,
dass wir wenigstens in diesem einen Punkt über diesel-
ben Informationen und über Einigkeit verfügen.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass dieser
Deckel und damit die Kalkulierbarkeit der Kosten für die
Verbraucher ein weiteres wirtschaftliches Argument für
die Effizienztechnologie Kraft-Wärme-Kopplung ist. Ich
freue mich auf eine konstruktive Debatte heute hier im
Plenum des Bundestages und anschließend natürlich
auch in den zuständigen Ausschüssen.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wir hatten in der letzten Sitzungswoche eine AktuelleStunde zum Thema Energieeffizienz. Es gab berechtigteKritik vonseiten der Opposition an dem Handeln – odersagen wir vielleicht besser: Nichthandeln – der Bundes-regierung.
Heute liegt ein Gesetzentwurf zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung vor. Kraft-Wärme-Kopplung ist aner-kanntermaßen ein wesentlicher Pfeiler in jeder Effi-zienzstrategie.Wir möchten uns bedanken, Herr Staatssekretär, dassSie etwas vorgelegt haben, das als Grundlage für dieBeratungen im Deutschen Bundestag dienen kann. Eshat zwar lange gedauert, aber immerhin: Es geht in dierichtige Richtung. Wir sind auch fair genug, das an einersolchen Stelle zu sagen.
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Rolf Hempelmann
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Beim Thema Effizienz wird genau wie beim ThemaKWK von allen Seiten immer wieder betont, es sei sozu-sagen eine Allzweckwaffe. Deswegen muss man erheb-lich daran arbeiten, um damit voranzukommen.Es gilt deshalb als Allzweckwaffe, weil KWK auf derAngebotsseite, also bei der Strom- und Wärmeerzeu-gung, ein Effizienzangebot ist und weil sie in einem Sys-tem, das wir weiterentwickeln wollen und das flexibelsein soll, über Wärmespeicher einen besonderen Beitragleisten kann. Wir müssen aber auch darauf achten, dasswir in diesem Bereich nicht nur Kraftwerke bauen, son-dern auch dafür sorgen, dass Wärmesenken vorhandensind. Deswegen geht es auch um den Ausbau und dieVerdichtung von Wärmenetzen. Wenn wir erfolgreichsind, dann entlasten wir über mehr Dezentralität letztlichauch Übertragungsnetze im Strombereich und stabilisie-ren insgesamt die Strom- und Wärmeversorgung.Insofern ist zu loben, dass wir heute eine tauglicheBeratungsgrundlage bekommen haben. Ganz verkneifenkönnen wir uns aber nicht die Kritik daran, dass es solange gedauert hat und dass zwei konservative und zweiliberale Wirtschaftsminister dieses Thema so lange vorsich hergeschoben haben.
Richtig ist auch – das kann auch niemand abstreiten –,dass es einen engen Zusammenhang mit dem ThemaLaufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gibt. Denn inein Szenario mit verlängerten Laufzeiten von Atomkraft-werken hat der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplungnatürlich nicht richtig hineingepasst. Das wäre eineKonkurrenz für die großen Kraftwerke der großen Viergewesen. Deswegen hat man das in den vergangenenJahren nicht angepackt.Jetzt ist es Gott sei Dank so weit. Die Vorlage, die Siegeliefert haben, ist von den Marktakteuren insgesamt po-sitiv aufgenommen worden, vermutlich auch deshalb,weil man aufgrund der Erfahrungen in der Vergangen-heit gar nicht mehr damit gerechnet hat.Jedenfalls ist klar, dass wir im Deutschen Bundestageine Anhörung beantragen werden, um das auch aufzu-greifen, was Sie als konstruktives Angebot – wir nehmendas ernst – gerade gemacht haben, als Sie gesagt haben,dass Sie noch flexibel sind und Sie die konstruktiveKritik und die Vorschläge aus den Branchen prüfen undgegebenenfalls noch in Ihr Konzept einarbeiten wollen.Dabei wird es unter anderem um die Frage der Zu-schlagshöhen gehen. Sie haben gerade einige Beispielegenannt. Ich stimme dem von Ihnen genannten Krite-rium für die Höhe des Zuschlags zu, der so hoch seinmuss, dass er zu dem gewünschten Ausbauziel von25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung führt.Sie haben als zweites Stichwort die Modernisierungvon Kraftwerken genannt. Ich glaube, dass das bisher er-heblich unterschätzt worden ist und dass wir sogar eineMenge an finanziellen Ressourcen einsparen können,wenn wir gerade bei der Modernisierung von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und -netzen erfolgreich sind.Wir müssen sehr genau darauf achten, dass wir nichtdurch falsch gesetzte Schwellen dieses Thema totma-chen, bevor es überhaupt begonnen hat, zu atmen.
Auch aus den Branchen hören wir, dass das, was bis-her vorgeschlagen worden ist, nämlich dass man die Mo-dernisierung ein Stück weit antreiben will, in der Grund-richtung richtig ist, dass man aber, wenn man dasumsetzen will, was möglich ist, auch darüber nachden-ken muss, ob man die Schwellen nicht niedriger anset-zen muss, also die Modernisierung auch dann unter-stützt, wenn weniger als 50 oder 30 Prozent einer Anlagemodernisiert werden.
Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist dieindustrielle Kraft-Wärme-Kopplung. Wir wissen, dass esdiese Anlagen gerade im industriellen Bereich vielfachgibt. Wir müssen aber sehr genau darauf achten, dass wirdiesen Markt am Leben erhalten. Auch dabei gilt es, dasPotenzial auszuschöpfen, indem wir die richtigen An-reize setzen. Dazu gibt es entsprechende Vorschläge ausder Branche.Einige Vorschläge betreffen übrigens nicht das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz selbst, sondern andere, flan-kierende Gesetze, etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz oder das Energiewirtschaftsgesetz. Wenn mandabei die Rahmenbedingungen falsch setzt, kann da-durch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durchausbehindert werden.Uns geht es auch um das Ausschöpfen des Potenzialsder Mini-KWK- und der Mikro-KWK-Anlagen. Es gibtein großes Interesse der Bevölkerung, hier aktiv zu wer-den. Aber dann müssen die Rahmenbedingungen stim-men. Aus diesem Grunde sollten wir uns das noch ein-mal genauer anschauen.
Sie haben das Emissionshandelssystem angespro-chen. Es hat indirekt Auswirkungen auf die Kraft-Wärme-Kopplung. Wir begrüßen sehr, dass es zum Aus-gleich der Auswirkungen des Emissionshandelssystemsentsprechende Zuschläge geben soll. Wir bitten aberauch hier, noch einmal über die Höhe der Zuschlägenachzudenken und die Vorschläge aus der Branche zuprüfen. Ich denke, das wird eines der Themen der bevor-stehenden Anhörung sein. Insbesondere müssen wirdarüber nachdenken, wie wir Anlagen, die nicht in dasEmissionshandelssystem einbezogen sind, behandelnwollen. Wir dürfen nicht durch Maßnahmen an einerStelle negative Nebeneffekte an einer anderen Stelle er-zeugen.Wenn man ein Fazit ziehen will: Wir freuen uns, dasses jetzt eine verhandlungsfähige Grundlage gibt. Wirfreuen uns auf die Anhörung und Beratungen im Deut-schen Bundestag und hoffen, dass wir am Ende zu einemErgebnis kommen, das seinen Niederschlag in denMarktaktivitäten zum Bau und zur Modernisierung von
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19580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Rolf Hempelmann
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Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen sowie zur Verdichtungund zum Ausbau der Wärmenetze finden wird.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Bareiß von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Lieber Kollege Hempelmann, herzlichen Dankfür Ihren konstruktiven Beitrag. Ich glaube, dass Sierecht haben: Das, was jetzt vorliegt, ist eine sehr guteGrundlage für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung.Sie wird eine entscheidende Rolle bei der Bewältigungder Energiewende spielen. Wir brauchen die Kraft-Wärme-Kopplung mehr denn je, um die hohen Ziele un-seres Energiekonzepts tatsächlich erreichen zu können.Erlauben Sie mir, trotz Ihrer sehr konstruktiven Redeein paar wenige Kritikpunkte anzusprechen. Sie habengesagt, bei der Kraft-Wärme-Kopplung gehe es viel zulangsam voran. Sie selber können vor Ort dafür sorgen,dass die Kraft-Wärme-Kopplung verstärkt zum Einsatzkommt. Ich habe schon öfter von diesem Rednerpult ausgesagt – Sie lächeln schon, Herr Hempelmann; Sie wis-sen offenbar, was nun kommt –: In Nordrhein-Westfalensteht eine der modernsten und größten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, die es in Europa gibt. Sie könntehundertausend Haushalte mit Wärme beliefern und war-tet nur darauf, ans Netz zu gehen.
Aber die rot-grüne Regierung in Düsseldorf schafft esnicht, diese Anlage ans Netz zu bekommen. Dieses Pro-blem haben wir häufiger vor Ort.
Es gibt noch andere Beispiele dafür, dass Rot-Grüngegen die Kraft-Wärme-Kopplung ist. Im niedersächsi-schen Stade wartet ein Chemiewerk dringend darauf,dass eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage ans Netz geht.Dadurch könnten 40 Prozent des CO2-Ausstoßes einge-spart werden. Hier könnten wir ebenfalls vorangehen.Aber die Grünen im Landtag in Niedersachsen verhin-dern das und demonstrieren ständig dagegen.
Ähnlich verhält es sich beim Kraftwerk Staudinger inHessen. Überall demonstrieren und agieren Sie gegenKraft-Wärme-Kopplungsprojekte. Aber auch Sie über-nehmen vor Ort Verantwortung und sollten für solcheProjekte kämpfen. Deshalb fordere ich Sie auf, nicht nurgroße Reden zu halten, sondern auch vor Ort für dieKraft-Wärme-Kopplung einzutreten.
Die Kraft-Wärme-Kopplung hat schon heute einengroßen Anteil an unserer Stromversorgung. Mehr als15 Prozent unseres Stroms kommen aus der Kraft-Wärme-Kopplung. Wir haben das Ziel, bis 2020 den An-teil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugungauf 25 Prozent zu steigern. Wir sind derzeit auf einemguten Weg. Der Erfahrungsbericht der Bundesregierungzeigt, dass wir unter den jetzigen Rahmenbedingungenwahrscheinlich 21 Prozent schaffen können, obwohl wirin den letzten zwei, drei Jahren enorme Kritik erfahrenmussten. Wenn wir die Stellschrauben, die wir jetztanpacken, justiert haben, werden wir sicherlich die ange-strebten 25 Prozent erreichen.Dies ist sinnvoll – meine beiden Vorredner haben esschon angesprochen –: Während normale fossile Kraft-werke einen Wirkungsgrad von 40 bis 50 Prozent errei-chen, erzielen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen einenWirkungsgrad von bis zu 90 Prozent. Wenn wir nicht nurin eine Zukunft der regenerativen Energien starten wol-len, sondern auch in eine energieeffiziente Zukunft ge-hen möchten, brauchen wir mehr Kraft-Wärme-Kopp-lung. Auch das ist eine wichtige Botschaft des heutigenTages.Ein weiterer Gesichtspunkt ist in diesem Zusammen-hang von Bedeutung: der Beitrag der Kraft-Wärme-Kopplung zur Netz- und Systemstabilität. Die größteHerausforderung der nächsten Jahre wird sicherlich diehohe Volatilität in unseren Netzen sein. Ich glaube, dassdie Kraft-Wärme-Kopplung hier eine ganz entschei-dende Rolle spielen könnte. Deshalb müssen wir dierichtigen Weichen stellen, damit die Volatilität auchdurch die Kraft-Wärme-Kopplung ausgeglichen wird.Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahrein Energiekonzept vorgelegt, das seinesgleichen sucht.Dieses Energiekonzept baut auf einer bezahlbaren, um-weltverträglichen und sicheren Energieversorgung in un-serem Land auf. Die Kraft-Wärme-Kopplung passt hierhervorragend hinein.Sie wird unter dem ersten Gesichtspunkt, den ich ge-nannt habe, der Bezahlbarkeit, in den nächsten Jahreneine größere Rolle spielen. Vor dem Hintergrund, dasswir heute beim Ausbau der erneuerbaren Energien, fürdie nächsten 20 Jahre gerechnet, von Kosten in Höhevon 200 Milliarden Euro ausgehen, wird die Kraft-Wärme-Kopplung mit dafür sorgen, dass die Energie-wende in den nächsten Jahren bezahlbar bleibt.Schließlich stellen unsere Verbraucher immer öfterdie Frage, wie sie die Strompreise in den nächsten Jah-ren bezahlen können. Diese Frage wird aber nicht nurvon den Privatverbrauchern aufgeworfen. Auch die In-dustrie, die Ihnen seit kurzem so stark am Herzen liegtund die die Energiepreise immer stärker infrage stellt,braucht zukünftig verlässliche und günstige Energie-preise. Wir sollten darauf achten, dass die Industrie, die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19581
Thomas Bareiß
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nach wie vor einen sehr hohen Anteil an der Wertschöp-fung in Deutschland hat – er liegt bei 25 Prozent –, hiernicht abgewürgt wird, sondern eine gute, verlässlicheEnergieversorgung zu bezahlbaren Preisen angebotenbekommt.
Deshalb brauchen wir unter anderem mehr Kraft-Wärme-Kopplung. Wir brauchen aber – ich sage es in al-ler Deutlichkeit; wir haben es heute schon mehrfach dis-kutiert – weniger Photovoltaik; denn das ist sicherlichein Ansatz, der in Deutschland nicht in der Form um-setzbar ist wie andere Bereiche.Wir haben im letzten Jahr schon viel getan; dasmöchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Bereits im Jahr2011 haben wir den ersten Grundstein für den Ausbauder Kraft-Wärme-Kopplung gelegt. Im Rahmen unsererDiskussion über die Energiewende haben wir im Früh-jahr 2011 eine Gesetzesnovellierung vorgelegt, wodurchwir die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung flexiblergestaltet und Investitionssicherheit für die nächstenJahre geschaffen haben. So haben wir das Kriterium dermaximal zulässigen Betriebsjahre aus dem Gesetz he-rausgenommen und haben als Grundlage für die Förde-rung nur noch maximal 30 000 Betriebsstunden festge-legt.Darüber hinaus haben wir den Förderzeitraum, der imJahr 2016 endete, bis 2020 verlängert. Konkret hat dasdazu geführt, dass Kraft-Wärme-Kopplungsprojekteauch in den nächsten zwei Jahren verwirklicht werden,bis die neue Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgeset-zes dann auch greift.Diese beiden Gesetzesveränderungen haben also dazugeführt, dass die Kraft-Wärme-Kopplung auch in diesemJahr weiter ausgebaut wird.Mit der Novelle, die jetzt kommen wird, wollen wirweitere, noch bessere Investitionsanreize liefern, Büro-kratie abbauen und die bestehende Förderung noch ein-mal optimieren.Es wurden schon viele Punkte angesprochen, die imGesetzentwurf eingearbeitet sind. Ich möchte einige we-nige Punkte, die mir besonders wichtig sind, noch ein-mal herausstreichen.Der erste Punkt ist das Thema Speichertechnologie,das vorhin schon angesprochen wurde. Meines Erach-tens wird dieser Bereich nicht nur in den Zeiten enormwichtig, in denen wir wenig Strom und wenig Energiehaben, sondern auch in den Zeiten, in denen wir vielStrom und viel Energie haben, weil wir dann wiederumReserven schaffen können, um die enormen Spitzen, diekommen werden, auch abfangen zu können. Dabei wirddas Thema Speicher eine große Rolle spielen.Mit dem jetzigen Ansatz, Wärmespeicher stärker zufördern, ermöglichen wir es meiner Einschätzung nachauch kleineren Einheiten, beispielsweise Stadtwerken,etwas zu tun. Auch sie können dann in Wärmenetze in-vestieren, was vielleicht zu einem größeren diesbezügli-chen Angebot in Städten und Gemeinden führt. Einewichtige Komponente in Verbindung mit der Förderungvon Wärmenetzen ist die Förderung von Kältenetzen;das ist neu. Damit haben wir einen weiteren wichtigenAnsatz mit aufgenommen.Hier bieten wir ein Gesamtfördervolumen von150 Millionen Euro an, damit in diese Bereiche stärkerinvestiert wird. Das macht dann Projekte auch wirt-schaftlich, was derzeit in vielen Regionen nicht der Fallist. Damit werden wir in den nächsten Jahren meines Er-achtens noch einmal einen Investitionsschub auslösen,wie er auch heute schon besteht. In den letzten zwei Jah-ren haben wir 797 Kilometer Wärmefern- und -nahnetzeausgebaut. Mit einer Förderung in Höhe von 64 Millio-nen Euro haben wir ein Investitionsvolumen von über250 Millionen Euro erzielt. Das zeigt, dass das System– zu bezahlbaren Preisen – funktioniert und vor Ort fürviel Effizienz sorgt.Darüber hinaus wollen wir die Modernisierung vonKraft-Wärme-Kopplung vorantreiben, alte, also beste-hende fossile Kraftwerke zu Kraft-Wärme-Kopplungs-anlagen umbauen, wie beispielsweise in Stade oder beimKraftwerk Staudinger; das bezieht sich auf die Projekte,die ich vorhin genannt habe. Auch das ist sicherlich einWeg, um unseren bestehenden Kraftwerkspark zu mo-dernisieren und um hier Investitionen zu ermöglichen.Ein weiterer Punkt – er liegt mir ebenso wie HerrnHempelmann sehr am Herzen – ist die dezentrale Ener-gieversorgung durch Mikro- und Mini-KWK-Anlagen;sie sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirtschaftlich.Auch da wollen wir etwas tun. Ich halte den im Gesetz-entwurf verfolgten Ansatz, zu pauschalisieren, zu ver-einfachen und zu entbürokratisieren, für richtig. Ganzkonkret: Wir versuchen, es den Kleinanlagen möglich zumachen, zu investieren. Eine einfache Umsetzung derFörderung soll ein Anreiz sein, schneller an Geld zukommen und Investitionen zu tätigen.
Was für kleine Anlagen gilt, gilt auch für große Anla-gen. Ab 2013 wird der Emissionshandel teilweise auchfür Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gelten. Das heißt,wir müssen einen gewissen Ausgleich in Erwägung zie-hen. Deshalb halte ich den im Gesetzentwurf verankertenAnsatz, eine zusätzliche Vergütung von 0,3 Cent einzu-führen, für richtig. Dadurch müssten größere Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nicht stillgelegt werden; viel-mehr könnte man schauen, wie beim Emissionshandelfür einen Ausgleich gesorgt werden kann.Das Gute an all den Punkten, die ich genannt habe,ist, dass wir einen Förderdeckel haben: 750 MillionenEuro dürfen maximal ausgegeben werden. Das heißt, derVerbraucher wird bis zu einem Betrag von maximal750 Millionen Euro belastet. Ich erlaube mir die Rand-notiz: Eine solche Förderobergrenze wünsche ich mirauch für andere Bereiche, in denen wir ein bisschen effi-zienter vorgehen sollten. Hier, bei der Kraft-Wärme-Kopplung, funktioniert die Deckelung. Ich glaube, dasswir gegenüber dem Verbraucher guten Gewissens sagenkönnen, dass wir damit auf der sicheren Seite sind, unddass wir ihm eine KWK-Umlage von maximal 0,3 Centzugestehen können.
Metadaten/Kopzeile:
19582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Thomas Bareiß
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Trotz aller Euphorie und Freude über die Kraft-Wärme-Kopplung müssen wir uns in den nächsten zwei,drei Jahren stärker darüber unterhalten, welchen Vorrangdie Kraft-Wärme-Kopplung bekommen soll. Wir werdenmeines Erachtens immer mehr in einen Systemkonfliktmit den erneuerbaren Energien hineingeraten; das stellenwir schon heute in den Diskussionen mit Betreibern vonKraft-Wärme-Kopplungsanlagen fest, beispielsweise mitIndustrieunternehmen, die sehr stark auf Kraft-Wärme-Kopplung setzen. Wir haben einen Einspeisevorrang beiden erneuerbaren Energien; dieser Vorrang war und istrichtig. Wenn wir den Anteil der erneuerbaren Energienin den nächsten Jahren auf 30 Prozent erhöhen wollenund den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung auf 25 Pro-zent steigern wollen, dann werden sich diese beidenSysteme irgendwann einmal gegenseitig behindern. Zu-künftig müssen wir Marktdesigns kreieren, um mehrWettbewerb im Energiemarkt zu ermöglichen.Der vorliegende Gesetzentwurf wurde von der Mehr-heit der einzelnen Betroffenen dieser Branche begrüßt;das finde ich sehr gut. Auch die Opposition scheint kon-struktiv mitarbeiten zu wollen. Insofern freue ich michauf die kommende Gesetzesberatung. Ich glaube, dasssie für uns eine große Chance bedeutet. Sie ist ein weite-rer Baustein auf dem Weg der Energiewende. Wir hattenheute Morgen, ein Jahr nach Fukushima, eine große De-batte dazu. Mit diesem Gesetzentwurf werden unserePläne ganz konkret. Der richtige Ansatz ist, nicht da-rüber zu diskutieren, wo wir aussteigen, sondern da-rüber, wo wir einsteigen. In die Kraft-Wärme-Kopplungsteigen wir ein, und deshalb herzlichen Dank an die Re-gierung für diesen Gesetzentwurf.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Strom von unten ist die Devise der Energiewende. DieErzeugung des Stroms soll an erster Stelle natürlich re-generativ geschehen: mit Windkraft, Solarzellen oderBiomasse. Strom von unten kann es aber auch dezentralauf Basis von Erdgas geben, vorzugsweise dann, wennnicht nur Strom erzeugt wird, sondern im gleichen Pro-zess auch Wärme. Hierbei wird im Vergleich zur ge-trennten Erzeugung viel CO2 eingespart. Wir reden vonder Kraft-Wärme-Kopplung, KWK.Ich möchte eingangs eine Lanze für die Mini-KWKund die BHKW, die Blockheizkraftwerke, brechen. Ei-ner neuen Studie zufolge könnte ihr Einsatz die Bundes-bürgerinnen und Bundesbürger allein bis 2020 um bis zueine halbe Milliarde Euro entlasten, wenn sie intelligentvernetzt werden. Zudem sind sie eine Brückentechnolo-gie par excellence.In Verbindung mit Wärmespeichern können vielekleine stromgeführte BHKW zusammengeschaltet alsflexibles virtuelles Kraftwerk fungieren, Stichwort„Schwarmstromkonzept“. In Zeiten schwankender Ein-speisung aus Windkraftanlagen – darüber wurde geradegesprochen – werden die Anlagen hoch- oder herunter-gefahren, um die Differenz zum Strombedarf regionalauszugleichen. Sie können also zur Integration der er-neuerbaren Energien in das Stromsystem beitragen. WeilEnergieerzeugung und -verbrauch ortsnah stattfinden,könnte der Ausbau des deutschen Stromnetzes deutlichbescheidener ausfallen als bislang geplant. Das ist alsoein weiterer Vorteil; denn der Strom muss nicht mehr soweit transportiert werden, und dies wird eine MengeGeld einsparen.Der KWK-Zuschlag fließt jedoch nach dem vorlie-genden Gesetzentwurf weiterhin nur unabhängig vomZeitpunkt der Erzeugung. Damit besteht aber wenigerInteresse für die Anwender, Beiträge zur Systemintegra-tion – ich habe vorhin erklärt, was das ist – zu leisten,sprich, in dem Augenblick Strom zu produzieren, in demin einer Region zu wenig Windstrom anfällt. Es ist sinn-voll, wenigstens übergangsweise einen Flexibilitätsbo-nus für virtuelle Kraftwerke zu zahlen, um einen Anreizdafür zu schaffen, die Mini-KWK in den Strommarkt zuintegrieren.
Die Deutsche Umwelthilfe hat einen Vorschlag füreine Flexibilitätsprämie gemacht. Vielleicht schauen Siesich diesen einmal an, Herr Bareiß. Schwarmstromkon-zepte sollen dann eine zusätzliche Förderung erhalten,wenn sie erstens eine gemeinsame Steuerung haben undzweitens ausgeschlossen ist, dass die KWK-Anlagenwärmegeführt sind; denn dann würden sie sich nicht zurflexiblen Fahrweise eignen. Auf der anderen Seite müs-sen klassische wärmegeführte KWK-Anlagen auch vorMaßnahmen des Netzmanagements geschützt werden,etwa wenn Netzbetreiber bei Starkwinden die Abschal-tung von Erzeugungsanlagen erzwingen. Auch darüberhaben Sie kurz gesprochen. KWK-Anlagen, die in einFernwärmenetz einspeisen, dürfen jedoch nicht einfachzwangsabgeschaltet werden, solange ihre Wärme derBeheizung von Haushalten dient. Das geht dann natür-lich nicht.Aber das ist bisweilen schon passiert, beispielsweisein Jena in diesem Winter. Im Rahmen des Erzeugungs-managements des Netzbetreibers 50 Hertz Transmissionmusste das örtliche Heizkraftwerk mehrere Tage herun-tergeregelt werden. In den Wohnblöcken in Jena-Lobedazog darauf allmählich die Kälte ein. Das geht natürlichüberhaupt nicht. Das kann nun auch nicht Ergebnis derEnergiewende sein.
Immerhin umfasst der Regierungsentwurf erstmalsdie Förderung von Wärme- und Kältespeichern. Dies istein echter Fortschritt; denn die Wärmespeicherung fürstromgeführte KWK ist im Wettbewerb mit Heizkesselnoft nicht wirtschaftlich, gleichwohl die CO2-Gesamtbi-lanz bei KWK deutlich besser ist. Diese gute Treibhaus-
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Eva Bulling-Schröter
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gasbilanz macht BHKW im Übrigen auch zu einer gutenZwischenlösung, um schnell und preiswert CO2 im Ge-bäudesektor einzusparen. Bei 20 oder 30 Jahre altenHäusern dürfte es nämlich sinnvoller sein, zunächst aufdie KWK als Klimaschutzmaßnahme zu setzen, als imRahmen einer energetischen Sanierung funktionstüch-tige Gebäudeteile herausreißen zu müssen. Darübermuss man diskutieren.Wir begrüßen zudem, dass der Gesetzentwurf zweiNeuerungen enthält, die auch die Linke in der letztenWahlperiode gefordert hatte. Zum einen ist das Ziel von25 Prozent KWK-Strom bis 2020 nun im Gesetz veran-kert, zum anderen soll die Stromabnahmeverpflichtungdurch Netzbetreiber auch über die KWK-Förderzeit hi-naus gelten. Ferner wurde für Kleinstanlagen bis 2 Kilo-watt ein sinnvoller Investitionsanreiz geschaffen, indemdie Möglichkeit zur pauschalen Auszahlung der Zulagefür 30 000 Vollnutzungsstunden besteht. Damit steht denInvestoren das Geld direkt bei der Anlagenbeschaffungzur Verfügung.Hohe Liquidität bereits in der Investitionsphase, dasist übrigens eines der Geheimnisse der Expansionsstrate-gie chinesischer Anbieter in Deutschland beim Verkaufvon Photovoltaikanlagen. Die Chinesen haben Zah-lungsziele von einem halben Jahr. Damit ist für dieBetreiber die Investitionsphase durchfinanziert – ein äu-ßerst lukratives Geschäft. Vielleicht sollte die Bundes-regierung zur Verteidigung der heimischen Solarmodul-produktion entsprechende Kreditprogramme kreieren,damit heimische Modulhersteller den Investoren ähnli-che Konditionen bieten können.Aber zurück zur KWK. Unverständlich ist, dass derDeckel für die KWK-Förderung von 750 Millionen Euroweiter bestehen bleibt. Ich sage dies angesichts der Tat-sache, dass Deutschland momentan noch weit von demZiel – KWK-Anteil von 25 Prozent – entfernt ist.Halten wir uns vor Augen, dass die Abwärme desdeutschen Kraftwerksparks ausreicht, den gesamten Ge-bäudebestand zu heizen, so wird klar, welche Potenzialehier liegen. Wir als Linke stellen uns darum die Frage,ob es ausreicht, dass das KWK-Gesetz nur als Förder-instrument fungiert. Aus unserer Sicht ist es vielmehrZeit für verpflichtende Vorgaben für den Einsatz vonKWK sowie Wärme- und Kälteplänen. Ein solcher Rah-men hat in anderen Ländern zu einem KWK-Anteil vonbis zu 50 Prozent geführt. Die EU-Kommission machtVorgaben in diese Richtung. Das müssen wir diskutie-ren. Das wäre vernünftig.Zum Schluss noch: Die Blockaden des Bundeswirt-schaftsministeriums in Brüssel zeigen leider, dass zu-mindest Herr Rösler von der Energiewende immer nochnicht viel begriffen hat. Also: Lernen Sie sie, HerrRösler!
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bareiß, ich hatte mir echt vorgenommen, hier ein-mal ein nettes Wort über die Koalition zu sagen.
Aber nach Ihrem Beitrag fällt das wieder sehr schwer.Das Einzige, was Ihnen beim Thema Kraft-Wärme-Kopplung einfällt, ist – das muss man sich auf der Zungezergehen lassen –: Datteln und Staudinger.
Das habe ich bei Ihnen gehört.Zu Datteln sage ich Ihnen:
Eine schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers – dieÄlteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an ihn;
das ist schon ein bisschen länger her; der Mann ist einbisschen in der Versenkung verschwunden –
hat dort ein Kraftwerk gebaut,
zu dem alle zuständigen Gerichte gesagt haben, nicht auseinem Grund, aus einem Dutzend von Gründen, dass dasein offizieller Schwarzbau ist. Jetzt ist eine andere Lan-desregierung, eine rot-grüne Landesregierung, dabei, mitgroßem Aufwand und großer Sorgfalt die Fehler zu repa-rieren. Das können Sie denen nicht vorhalten. Das sindIhre Fehler!
Zum Thema Staudinger. Da unterlaufen genau diegleichen Fehler. Da droht etwas Ähnliches. Wer ist daverantwortlich? Mir ist neu – die Kollegin Maischkönnte das wissen; ich habe es jedenfalls nicht mitbe-kommen –, dass in Hessen die Grünen regieren.
Es wird demnächst dazu kommen, aber das ist nochnicht der Fall. Auch da trägt Schwarz-Gelb die Verant-wortung.
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Es geht hier um Kraft-Wärme-Kopplung, und da sindStaudinger und Datteln allenfalls Randanekdoten, dieman erzählen kann, weil da auch ein paar MegawattWärme ausgekoppelt worden sind.
Es geht um etwas ganz anderes.Wir haben ein Ziel, nämlich 25 Prozent des Stromsaus KWK zu erzeugen. Wir sind im Moment bei 13 oder14 Prozent.
Wir wollen das in den nächsten acht Jahren mehr oderweniger verdoppeln. Es gibt unterschiedliche Zahlen,aber im Grunde geht es darum, dass wir das verdoppeln.Wenn wir das schaffen, dann erledigen sich viele Fragen,die in der Energiewende eine Rolle spielen, dann brau-chen wir kein Kraftwerksförderungsprogramm, wie Siees wollen; denn wir schaffen das dann mit Kraft-Wärme-Kopplung. Das funktioniert dann auch so. Das ist alle-mal eine bessere Lösung, als fossile Kohlekraftwerke,reine Kondensationskraftwerke, zu subventionieren, wieSie das vorhaben.
Hier wird oft ein Gegensatz aufgebaut – das kam inder Debatte bisher noch nicht, aber das hört man manch-mal in den Diskussionen –, nämlich zwischen Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbaren Energien. Ich sageklipp und klar: Erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-Kopplung ergänzen sich ideal, weil Kraft-Wärme-Kopp-lung die Back-up-Kapazität darstellen kann, wenn derWind nicht weht, die Sonne nicht scheint und die Erneu-erbaren nicht liefern können. Da sind die Speicherpoten-ziale. Das müssen wir erschließen.
Ich sage Ihnen: Das können wir vor allen Dingendurch eine dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung schaffen,indem wir in Millionen von Heizungskellern, in denennoch alte Heizungsanlagen laufen, stromerzeugendeHeizungen bauen. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir rundum die Ballungsgebiete – es wurden Datteln und Stau-dinger, in der Nähe von Rhein-Main, erwähnt – Kohle-kondensationskraftwerke bauen, und gleichzeitig heizenwir mit teurem, aus Russland importiertem Gas schlechtisolierte Wohnungen. Das müssen wir zusammenbrin-gen. Da müssen wir jeden Keller zum Kraftwerk ma-chen; Tausende Anlagen bauen. Es gibt viele Unterneh-men, die solche Anlagen bauen. Diese Unternehmenmüssen wir stärken. Das muss das Ziel der Politik sein.
Dass das geht, belegen viele andere Länder, die einekonsequente KWK-Politik betrieben haben, wie zumBeispiel die Niederlande mit einem KWK-Anteil vonüber 30 Prozent, Finnland mit einem ähnlich hohen An-teil, Dänemark sogar mit einem Anteil von über 50 Pro-zent. Unser 25-Prozent-Ziel in Deutschland ist dagegeneher bescheiden. Das Problem ist, dass man es politischwollen muss. Herr Bareiß, hierzu habe ich von Ihnennichts gehört. Die letzten zwei Jahre dieser Regierungwaren für die Kraft-Wärme-Kopplung völlig verloreneJahre.
Sie haben ein Energiekonzept vorgelegt. In diesemkommt die Kraft-Wärme-Kopplung nicht mehr vor. Sietaucht lediglich in einem Nebensatz auf. Das ist dieRealität von Schwarz-Gelb. Sie mussten schmerzlich ka-pieren, dass Sie ohne die Kraft-Wärme-Kopplung nichtauskommen. Sie müssen an dieser Stelle etwas vorlegen,wenn Sie die Energiewende halbwegs ernsthaft anstre-ben.
Das Ergebnis ist – das hat der Staatssekretär gerademit entwaffnender Ehrlichkeit gesagt –, dass wir einKraft-Wärme-Kopplungsgesetz haben, das schon langehätte novelliert werden müssen; denn es hat praktischseine Wirkung verloren. Die Umlagesumme pro Kilo-wattstunde ist auf 0,032 Cent gesunken. Das sind Ihre ei-genen Zahlen. Das sind drei hundertstel Cent. Hier pas-siert praktisch nichts mehr. Es steht an der Stelle still,weil Sie es verpasst haben, früher zu handeln. Genau dasist das Problem. Jetzt legen Sie uns eine Gesetzesnovellevor. Hierzu sage ich ganz offen: Nach dem, was ich vondieser Regierung in den letzten zwei Jahren erlebt habe,ist dies schon etwas.
Dass überhaupt etwas kommt, kann man positiv sehen.
An anderen Stellen – hier nenne ich das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und die Energieeffizienzrichtli-nie – treiben Sie es in die andere Richtung. Da machenSie überhaupt nichts. Da blockieren Sie nur. Dass Siehier etwas vorlegen, ist immerhin etwas. In Schulnotenausgedrückt, würde ich es mit mangelhaft plus mit Ten-denz zu ausreichend benoten. Immerhin kommt von Ih-nen etwas.Ich sage aber auch klipp und klar: Wer die Energie-wende ernsthaft betreiben will, muss mehr tun als das,was hier vorgelegt wird.
Hier gibt es in der Tat einige richtige Punkte. Es reichtaber bei weitem nicht aus, wenn wir das 25-Prozent-Zieltatsächlich erzielen wollen. Ich will ein paar Beispielenennen: Wir brauchen eine Erhöhung der Fördersätze.Ich glaube – das habe ich eben auch von der Bundes-
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Oliver Krischer
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regierung gehört –, dass man das inzwischen selbst ge-merkt hat. Man muss in allen Anlagenkategorien etwasdrauflegen, damit wir hier vorankommen, wenn tatsäch-lich etwas passieren soll. Wir brauchen einen Flexibonusals Anreiz zur Verbesserung und Nutzung der Speicher-kapazität. Dort muss etwas passieren. Die Probleme mitdem Netzanschluss für Klein-KWK-Anlagen müssen ge-löst werden. Solange die bürokratischen Hürden beste-hen bleiben, kommen Sie überhaupt nicht voran.Last, not least ein ganz wichtiger Punkt: Sie wollenzum ersten Mal die Wärmespeicher fördern. Das ist völ-lig richtig. Das Mindestspeichervolumen von 5 Kubik-metern betrifft aber nur die größeren Anlagen. Bei deninteressanten Klein-, Mini- und Mikro-KWK-Anlagenkommen Sie überhaupt nicht voran. Hier muss mehr pas-sieren.Jenseits des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes mussman noch auf einen Punkt hinweisen, der ganz wichtigist, der nicht in diesem Gesetz enthalten ist. Das ist dasMini-KWK-Programm. In der Großen Koalition wurdees von Herrn Gabriel eingeführt. Herr Röttgen hatte nachseinem Amtsantritt nichts Besseres zu tun, als diesesProgramm nach langer Unklarheit wieder einzustamp-fen. Jetzt führen Sie es wieder ein. Sie brauchen ein hal-bes Jahr, um die Förderrichtlinie zu schaffen. Wir hörenjetzt, dass kein Geld im Energie- und Klimafonds vor-handen ist. Wahrscheinlich wird am Ende wieder garnichts bezahlt werden können. So verunsichert man einejunge, innovative Branche, die sich in den letzten Jahrenentwickelt hat. Das haben Sie in zwei Jahren geschafft.Ihre Bremsspuren sind an allen Ecken und Enden zu er-kennen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Da kann ich nur an Sie appellieren, dass wir im Aus-
schuss eine konstruktive Beratung darüber hinbekom-
men, wie man das, was Sie hier vorgelegt haben – das
Gesamtkonzept Ihrer KWK- und Energiepolitik –, ver-
bessern kann. Ich hoffe, dass wir vielleicht eine vernünf-
tige Lösung im Sinne der Sache finden.
Danke schön.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus
Breil das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Mit der Novelle des KWK-Gesetzes passen wir dieschon bestehenden Anreize für Investitionen in hocheffi-ziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an die Realitätan.Hören Sie gut zu, Herr Kollege Krischer: Sie habendavon gesprochen, was wir brauchen, ich werde jetztvortragen, was wir machen.
An unserem Ziel hat sich nichts geändert. Wir wollenden Anteil der Stromerzeugung aus KWK bis 2020 auf25 Prozent erhöhen. Aktuell liegen wir noch bei 16 Pro-zent.Bedauerlicherweise hat uns die Zwischenüberprüfunggezeigt, dass wir auf der Basis des aktuell gültigen Ge-setzes lediglich 20 Prozent erreichen werden.
Ich persönlich – hören Sie zu, Herr Krischer –
glaube das nicht; vielmehr glaube ich, dass bis 2020mehr drin ist,
und dieses Potenzial wollen wir heben.
Sowohl Anlagen der allgemeinen Versorgung als auchindustrielle Anlagen könnten vielerorts noch Teile ihrerAbwärme absetzen. Es bedarf lediglich genauerer Ana-lysen. Wärmesenken sind häufig vorhanden, häufiger alsmeistens angenommen wird. Gerade in meiner Heimat-region, inklusive meiner Heimatgemeinde Bernried inOberbayern, mache ich die Erfahrung, dass viel mehrPotenzial vorhanden ist, als bisher angenommen wurde.
Allerdings – und das möchte ich an dieser Stelle deut-lich sagen – verwahre ich mich gegen jede Verpflich-tung, neue Kraftwerke mit Wärmeauskopplung bauen zumüssen. Solchen Vorgaben wie in der EU-Energieeffi-zienzrichtlinie müssen wir von vornherein entschiedenentgegentreten. Wir setzen eben nicht auf Zwang. Daherwird es in der Novelle im Rahmen der Möglichkeitenmaßvolle Erhöhungen der Zuschläge geben. Es werdenfortan auch Nachrüstungen gefördert, sowohl bei Kraft-werken der allgemeinen Versorgung als auch bei Indus-trieanlagen.Wir wollen mit der Novelle außerdem den Bau vonWärmenetzen, der zuletzt ins Stocken geriet, und denBau von Wärmespeichern stärker unterstützen. Die Spei-cher sind dabei besonders wichtig; dadurch können dieAnlagen bei unterschiedlicher Wärme- und Stromnach-frage auch einmal nur stromgeführt gefahren werden.Unser zukünftiger Energiemix mit zunehmender Ein-
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Klaus Breil
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speisung fluktuierender Leistung braucht diese Flexibili-tät.Auf diese Anforderung reagieren die großen Versor-ger im Übrigen auf ihre eigene Weise. In Essen – bei Ih-nen, Herr Hempelmann –,
in München, Stuttgart und Berlin rauchen nämlich dieKöpfe. Abseits der Ballungsgebiete sollen flächende-ckend BHKW eingesetzt werden. Die einst marktbeherr-schenden Akteure suchen sogar die Zusammenarbeit mitden Kommunen. Sie tun dies aus der Erkenntnis heraus,dass nur das zielführend sein kann. Das ist eine Art derRekommunalisierung, mit der ich mich anfreundenkann. So viel zum Thema „Konterrevolution“, das HerrTrittin heute Morgen ansprach – Herr Krischer, das kön-nen Sie ihm ja einmal ausrichten.
Die Sache hat noch einen weiteren positiven Neben-effekt: Werden die skizzierten Pläne realisiert, bräuchteman möglicherweise nur eine geringere Zahl an neuenGaskraftwerken, zum Beispiel auch in Bayern, wo ichherkomme.Interessant finde ich auch die Mini- und Mikro-KWK-Anlagen bis 2 Kilowatt Leistung. Dort haben wirdie Rahmenbedingungen vereinfacht. Die Zuschlags-zahlungen werden im neuen Gesetz pauschaliert.„Schwarmstrom“ ist das Stichwort, unter dem mehr undmehr Verteilnetzbetreiber den Einsatz von Mini- und Mi-kro-KWK-Anlagen planen. In diesem Zusammenhangfinde ich auch den Vorschlag des Bundesrates, die För-derung für Anlagen auf Brennstoffzellenbasis anzuhe-ben, höchst interessant.Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Vorre-den der Opposition habe ich entnommen, dass wir unsim Ziel einig sind; allein der Weg unterscheidet uns lei-der wie so oft. Aber Sie können sicher sein, dass derAusbau der KWK wie die gesamte Energiewende beiuns in guten Händen ist.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Breil, Siehaben eingangs ein ehrliches Wort gesprochen, nämlichdass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wirbrauchen, und dem, was Sie tun. Das war durchaus ehrli-cher als Ihre Schlusspointe.Herr Bareiß, ich muss eines deutlich sagen: Sie kön-nen sich darauf verlassen – das wissen Sie auch –, dasswir versuchen, das Gesetzgebungsverfahren beim ThemaKWK konstruktiv zu begleiten. Es geht aber nicht, nunzu sagen: Jetzt geht’s los! – Sie haben eben wieder ge-sagt: Jetzt erfolgt der Einstieg in die Kraft-Wärme-Kopplung. – Der Einstieg in die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist vor mehr als zehn Jahren gesche-hen. Eines, was Sie in dieser Legislatur gemacht haben,war, den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durch dieVerlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke nach-haltig zu behindern.
Sie haben doch im letzten Jahr sicher auch mit Vertreternder Stadtwerke und anderen gesprochen: Viele Projektedes Neubaus von KWK-Anlagen, die lange geplant wa-ren, die in der Pipeline waren, sind daraufhin auf Eis ge-legt worden. Das heißt, Sie haben den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung zunächst einmal nachhaltig behindert.Ich sage aber ganz klar: Wir wollen jetzt nicht beimNachkarten bleiben, sondern nach vorn schauen. Ichmuss jetzt hier nicht noch einmal den Werbeblock für dieKraft-Wärme-Kopplung einschieben; die Vorzüge sindnachhaltig beschrieben worden. Herr Staatssekretär, ichwill Ihren Beitrag ausdrücklich würdigen. So eine Redevon einem Staatssekretär Ihres Hauses hätte es hier vorzwei Jahren noch nicht gegeben.
– Das stelle ich ja lobend fest.Sie sind jetzt sicherlich in einer Situation, in der Siean vielen Stellen erkennen, welche Weichenstellungennotwendig sind, und wissen, woran das KWKG krankt.Allerdings fehlt Ihnen noch ein bisschen der Mut, danndie Maßnahmen konsequent zu Ende zu bringen.
Ich will auf einige Bereiche eingehen.Ja, die Kraft-Wärme-Kopplung ist der ideale Partnerdes Ausbaus der erneuerbaren Energien, insbesondereder fluktuierenden erneuerbaren Energien; denn dieKraft-Wärme-Kopplung ist bedarfs- und verbrauchsge-recht steuerbar. Die Wärme ist heute schon speicherbar;im Strombereich führen wir immer so eine tolle Debatteüber die Thematik der Speicherung. Im Wärmebereichhaben wir die Möglichkeit, vorhandene Speicherkapazi-täten zu verbessern und auszubauen. Wir haben natürlich
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Dirk Becker
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auch – das ist ein weiterer großer Vorteil – eine sehrbreite Brennstoffpalette. Ich sage einmal: Der Weg vomfossilen Zeitalter ins Zeitalter der erneuerbaren Energienist mit der Kraft-Wärme-Kopplung darstellbar, nicht nurmit fossilen Brennstoffen, sondern auch mit Technolo-gien wie beispielsweise der Erdwärme.Das alles wissen wir; das alles wurde von allen Frak-tionen bestätigt. Wenn wir uns einig sind, dass die Kraft-Wärme-Kopplung diese Rolle spielen soll, ist jetzt dieFrage zu stellen: Reicht denn das, was jetzt im vorgeleg-ten Entwurf vorgesehen ist?
– Darüber reden wir. – Ich will deutlich machen, dass dieVerlängerung der Anmeldezeiträume bis 2020, die Sie2011 durchgeführt haben – Kollege Bareiß hat das ge-sagt –, ein erster wichtiger Schritt war; wir haben das da-mals entsprechend unterstützt.Entscheidend ist jetzt aber – ich beginne natürlich mitdem Kernthema –, wie wir die Schaffung zusätzlicherKapazitäten im Markt tatsächlich anreizen. Der Kerndieses Anreizes ist natürlich Cash, ist die Frage: Wiewerden wir die Fördersätze künftig ausgestalten? Damuss man vorsichtig sein und schauen, was tatsächlichangemessen ist und wo es wirtschaftliche Nachteile gibt.Da muss man auch noch einmal in den Erfahrungsbe-richt und in das Gutachten schauen. Leider werden imErfahrungsbericht und im Gutachten die Kraftwerkska-pazitäten, die von besonderer Bedeutung sind, nur unzu-reichend beleuchtet. Aber wir, ich denke, auch Sie, wis-sen – das klang an –, dass wir hier zusätzliche Anreizebrauchen. Denn eines ist doch klar – das haben Sie selbstgesagt –: Die Erhöhung der Zuschläge um 0,3 Cent, dieSie jetzt im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz vorsehen, istnichts anderes als der Ausgleich einer Benachteiligung,die über den Emissionshandel entsteht, aber kein zusätz-licher Anreiz. Damit alleine werden Sie keine neuen Zu-bauten schaffen. Das heißt, wir brauchen hier eine mode-rate Erhöhung. Verbändeübergreifend werden Hausnum-mern genannt. 0,5 Cent sind ein Betrag, der geringfügigdarüber liegt und der aus unserer Einschätzung erforder-lich sein wird, um neue Projekte anzureizen, und – daswill ich bei Umlagedebatten sagen – der nicht dazu füh-ren wird, dass wir mit der Umlage ein Problem bekom-men.Sie selbst haben die Entwicklung dargestellt. Ich willnoch einmal die absoluten Zahlen nennen. Wir habeninsgesamt 750 Millionen Euro pro Jahr als oberen De-ckel für die Umlage vorgesehen. Nach den Prognosen,die uns vorliegen, gehen wir ab dem Jahr 2011 in derSumme auf eine Größenordnung von unter 150 Millio-nen Euro zu. Wir haben also auch auf Basis dessen, wasin der Großen Koalition vereinbart wurde, genügend Po-tenzial im Markt.Ich möchte jetzt einige Punkte und konkrete Vor-schläge meiner Fraktion zur Verbesserung des vorgeleg-ten Entwurfes aufgreifen; eines klang auch bei HerrnBreil an. Richtig ist, dass wir in dem veränderten Ener-giemarkt jetzt auch stärker auf die stromgeführte Kraft-Wärme-Kopplung gucken müssen, um gerade die Flexi-bilität im Strommarkt abzubilden. Das heißt allerdings,dass wir für die stromgeführte KWK einen zusätzlichenAnreiz brauchen werden. Wir schlagen daher an dieserStelle vor, die Vergütung nicht erneut unterschiedlich zugestalten, sondern die Zahl der anrechnungsfähigen Voll-benutzungsstunden von 30 000 auf 40 000 auszudehnen.Für uns ist es ein großes Problem, dass der Ausbauder Mini- und Mikro-KWK sowie der industriellenKWK mit ihren großen Potenzialen durch diesen Ent-wurf nicht hinreichend angereizt wird. Aus welchemGrund? Gerade im Bereich der industriellen KWK ist eskünftig so: Wenn ein industrieller KWK-Betreiber bei-spielsweise Unternehmen der chemischen Industrie ver-sorgt, die selber dem Emissionshandel unterliegen, dannkommt er nicht in den Genuss dieser Begünstigung. Alsolohnen sich zusätzliche Investitionen für ihn schlichtwegnicht. Wir glauben, dass Anreize für diese Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen der Industrie geschaffen werdenmüssen.Ebenso müssen zusätzliche Anreize für die Mini- undMikro-KWK geschaffen werden. Schwarmstrom toll zufinden, ist das eine. Dann muss man im Gesetz allerdingsauch abbilden, wie man die nachweisbaren Benachteili-gungen beseitigt. Das heißt, auch für den Ausbau derMini-KWK brauchen wir eine zusätzliche Förderung.Wir schlagen vor, diese mit einem sogenannten System-dienstleistungsbonus zu kombinieren und, sofern kleineMini-KWK-Anlagen im Markt regelbar Systemdienst-leistungen erbringen, hierfür zusätzlich 2 Cent vorzuse-hen.Zwei Punkte zum Schluss, die in dieser Debatte im-mer wichtig sind. Zunächst zur Frage, wie wir Moderni-sierungen stärker anreizen. Ja, Sie haben einen richtigenSchritt gemacht. Sie haben die Grenze, die im altenKWKG war – für Modernisierung mussten 50 Prozentder Kosten für einen Neubau ausgegeben werden –, auf25 Prozent abgesenkt. Ich glaube, dass wir auch damitweitere Potenziale verschwenden. Denkbar ist, auf10 Prozent zu gehen, mit einem gleitenden Anstieg. Ichbitte, das zu überlegen. Wir werden diese Vorschläge si-cherlich auch nach der Anhörung machen.Wir verschenken an zwei Punkten Potenziale. Das giltzum einen für die Speicherförderung. Es macht keinenSinn, die förderfähige Speichergröße nach unten zu be-grenzen; das hat der Kollege Krischer vorhin deutlichgemacht. Nun ist eine Größe von 5 Kubikmetern vorge-sehen. Eine Förderfähigkeit muss allerdings auch beikleineren Anlagen gegeben sein, um auch die Betreiberkleinerer KWK-Anlagen und Schwarmstromnutzer zuerreichen.Zum anderen darf die Fördersumme nicht auf 5 Mil-lionen Euro je Projekt gedeckelt werden. Denn es gibtauch größere Speicher, die wir brauchen und die wichtigsind. Daher glauben wir, dass diese Begrenzung ebensonicht erforderlich ist wie die Begrenzung der Investi-tionszuschüsse für den Netzausbau. Auch diese Summeist in ihrer Höhe gedeckelt. Das verhindert, dass geradegroße Potenziale ausgeschöpft werden; beispielsweisekönnten in Nordrhein-Westfalen vorhandene Anlagenausgebaut werden. Auch hierzu werden wir Vorschlägemachen.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, das will ich gerne machen. – Ich
komme zum Ergebnis: An vielen Stellen haben Sie die
Schwachstellen erkannt. Um diesen Entwurf allerdings
gut auszugestalten und zu erreichen, dass wir gemein-
sam das Ziel von 25 Prozent KWK-Strom erreichen,
müssen wir Nachbesserungen vornehmen. Ich habe ei-
nige wenige genannt. Ich hoffe, dass Ihr Angebot, konst-
ruktiv mit der Opposition zusammenzuarbeiten, dann
auch in der Praxis gilt.
Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es wareneine bemerkenswerte Diskussion und eine bemerkens-werte Beratung in diesem Hause, Herr Becker. Die kons-truktive Art war wohltuend. Herr Staatssekretär, ichdanke Ihnen.Die Bundesregierung legt heute einen offenbar ausge-sprochen guten Gesetzentwurf vor.
Herr Staatssekretär, Ihr Angebot, dass wir in der Be-ratung über die einzelnen Punkte noch reden können,werden wir sicher annehmen. Es ist in der Tat so, dassman über eine ganze Reihe von Details durchaus nochreden kann. Es ist auch nicht so – wie von HerrnKrischer dargelegt –, dass für uns die Stromerzeugungdurch Kraft-Wärme-Kopplung und die Stromerzeugungdurch die erneuerbaren Energien etwas Gegensätzlichesist. Ich vertrete eher die umgekehrte Auffassung: Wennwir das Ganze klug gestalten, dann wird die Kraft-Wärme-Kopplung einen nennenswerten Beitrag zumAusgleich der volatilen Stromerzeugung im Bereich er-neuerbare Energien leisten können. Die zentrale Frageist: Wie bekommen wir das hin? Darauf werden wir inder parlamentarischen Beratung und in der Anhörungunseren Schwerpunkt legen.Wir meinen es mit der Energiewende ernst. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie wer-den sich daran gewöhnen und Ihre Standardreden um-schreiben müssen.
In der nächsten Zeit werden Sie sich häufig mit von derBundesregierung eingebrachten Gesetzesvorlagen befas-sen müssen, aus denen hervorgeht, wie wir die Instru-mente zum Gelingen der Energiewende einsetzen.
Wir werden nicht mehr auf pauschale Vorwürfe eingehenmüssen, beispielsweise auf den Vorwurf, dass es zulange gedauert hat, bis wir eine Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz hinbekommen haben.
Herr Staatssekretär, mir ist es schon lieber, wenn dieBundesregierung mit der Vorlage von Gesetzesentwür-fen wartet, bis eine fundierte Grundlage aufgrund vonErfahrungsberichten vorliegt, damit wir in der parlamen-tarischen Beratung relativ rasch zu guten Ergebnissenkommen. Ich möchte eine vernünftige Basis für die an-stehenden Entscheidungen haben.Es stimmt nicht, dass der Bundesregierung der Mutfehlt. Wir beraten eine ganze Reihe von Novellen, durchdie wir zielorientiert an das Gelingen der Energiewendeherangehen.
Ich will nicht auf die sieben wesentlichen Punkte der Ge-setzesnovelle eingehen – sie wurden schon mehrfach ge-nannt –; vielmehr möchte ich auf die Frage eingehen,wie es uns gelingen kann, dass wir die Kraft-Wärme-Kopplung stärker unter dem Aspekt der Stromführungsehen, wie wir mit dem angebotenen Instrument der För-derung der Erhöhung der Speicherkapazitäten stärkerdazu beitragen können, dass aus diesem Bereich größereMengen an Strom nachgeführt werden, sobald bei derStromerzeugung im Bereich der erneuerbaren EnergienSchwankungen entstehen.Die Kraft-Wärme-Kopplung hat mit Sicherheit eineneue Bedeutung bekommen. Über die Frage, ob wir dieGrenze für die Förderfähigkeit von 30 000 Kilowattstun-den auf 40 000 Kilowattstunden erhöhen können, müs-sen wir reden. Das scheint ein interessanter Ansatz zusein. Dies müsste man einmal ausrechnen.In diesem Zusammenhang interessiert mich die Frage– das werden wir in der Anhörung klären –: Wo genauliegen die wirklichen Potenziale? Liegen sie im Groß-kraftwerksbereich, für den es eine Anhebung der Um-lage zum Ausgleich des Zertifikatehandels geben soll?Oder bieten die Minikraftwerke die besseren Chancen?Im Bereich Minikraftwerke haben wir einen technolo-gischen Prozess hinter uns. Nach meinen Informationensind die Minikraftwerke in den zurückliegenden Zeiträu-men immer besser geworden. Auch wir müssen noch ei-nen Lernprozess durchlaufen. Ich wehre mich prinzipiellnicht dagegen, im Bereich Minikraftwerke ganz konkretüber eine direkte Förderung nachzudenken.
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Franz Obermeier
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Der Gesetzentwurf wurde im Plenum sehr positiv auf-genommen, Herr Staatssekretär. Ich meine, wir sollten inder parlamentarischen Beratung die sachliche Auseinan-dersetzung in der Form, in der wir das in dieser Stundegetan haben, fortsetzen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8801 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Musikförderung durch den Bund
– Drucksachen 17/4901, 17/7222 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Siegmund Ehrmann von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Wer viel fragt, kriegt viele Antworten“, so die Über-schrift einer ersten Analyse der Antwort auf die GroßeAnfrage der SPD-Fraktion zur Musikförderung durchden Bund in der Neuen Musikzeitung. In der Tat habenwir ein breit gefächertes Spektrum von Fragen unterbrei-tet. Für die umfassenden Antworten der unterschiedli-chen Ressorts und der unterschiedlichen Förderinstitu-tionen bedanke ich mich ausdrücklich bei allen, diedaran mitgewirkt haben.
Zunächst einmal möchte ich diese Debatte einordnenund daran erinnern, dass die Bundesmusikförderung unsbereits in der letzten Legislaturperiode grundlegend be-schäftigt hat. Seinerzeit haben wir in der Großen Koali-tion gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen derUnion einen Antrag unterbreitet, der insbesondere da-rauf ausgerichtet war, der populären Musik seitens desBundes mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Aus diesemImpuls ist die „Initiative Musik“ entstanden, die mittler-weile mächtig Fahrt aufgenommen hat. Seitdem wurdedas Thema „Musikförderung durch den Bund“ wieder-holt im Ausschuss behandelt. Ich nenne nur die Stich-worte „Bundeskulturstiftung“ und „JeKi“ und erinnerean diverse Debatten mit Vertretern des Deutschen Mu-sikrates und der „Initiative Musik“, aber auch an Ge-sprächsrunden, zum Beispiel mit Vertretern der Bundes-konferenz Jazz.Nachdem wir uns mit einer Fülle von Einzelaspektenbefasst haben, ist es nun an der Zeit für eine Bestands-aufnahme. Es ist Zeit für eine Gesamtschau der Musik-förderung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wel-che Ziele die Bundesregierung mit ihrer Förderungverfolgt. Nach welchen Kriterien fördert sie Musik, undwelche Schwerpunkte setzt sie dabei? Kurz: WelchesKonzept liegt der Musikförderung des Bundes zu-grunde?Ich will mich in meinem Debattenbeitrag im Wesent-lichen auf die Fragen der Musikförderung beschränken.In der Großen Anfrage sind noch andere wichtigeAspekte angesprochen worden, zum Beispiel die wirt-schaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen undKünstler oder Fragen zu den rechtlichen Rahmenbedin-gungen, zum Beispiel zum Urheberrecht. Es wird sicher-lich andere Gelegenheiten geben, um darüber an dieserStelle vertieft zu debattieren. Ich konzentriere mich aufdie Frage der Musikförderung.Zunächst möchte ich einen Überblick geben. Die Ant-wort der Bundesregierung zeigt das breite Spektrum desEngagements für die Musik. Rund 44 Millionen Eurowurden im Jahr 2010 für Konzerte, Festspiele, Wettbe-werbe, für die Arbeit der Verbände und für Forschungs-projekte aufgewandt – von der Klassik und neuer Musiküber Jazz, Pop und Rock bis zu Electro und Hip-Hop;viele Genres sind davon betroffen. Einige Formatewerden institutionell gefördert, andere erhalten einmaligoder wiederholt Projektförderung. Der BKM ist betei-ligt. Eine Fülle von Ministerien ist auf diesem Gebietunterwegs. Es gibt aber auch wichtige Institutionen, diegewissermaßen als Förderagenturen für die Bundes-regierung tätig werden, zum Beispiel die Kulturstiftungdes Bundes, der Deutsche Musikrat oder die „InitiativeMusik“, die ich schon erwähnte. Bezogen auf Berlinnenne ich die Kulturveranstaltungen des Bundes inBerlin GmbH und den Hauptstadtkulturfonds. Man kanndie allgemeinen Ziele der Musikförderung, die man inder Antwort der Bundesregierung findet, einfach nur un-terstreichen. Es geht um die Wahrung des kulturellen Er-bes auch in der Musik, es geht um die Förderung undEntwicklung der zeitgenössischen Musik und ihreRezeption, und es geht auch um die Präsenz der Musikin der auswärtigen Kulturpolitik. Das ist überhaupt nichtstreitig.Aber die Antwort der Bundesregierung auf unsereFrage nach Konzepten und Kriterien der Musikförde-rung stellt uns – das muss ich deutlich sagen – nicht zu-frieden. Sie offenbart tatsächlich ein Förderkonzept,auch wenn es nicht explizit so genannt wird, aber es istein, wie ich finde, sehr zweifelhaftes Förderkonzept, dasim Wesentlichen auf drei Regeln basiert.
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19590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Siegmund Ehrmann
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Die erste Regel lautet: Jeder, wie er meint.
Unterschiedliche Entscheidungsträger in unterschiedli-chen Ministerien oder beauftragten Institutionen be-schließen ohne einen übergreifenden Plan, ohne eineübergreifende Idee, wen sie in welcher Weise fördern,und vor allen Dingen, in welcher Höhe. Dabei koordinie-ren sie sich, so steht es in der Antwort, allenfalls „anlass-bezogen“, was immer das heißen mag. Es ist – einmalabgesehen vom Deutschen Musikrat, der Kulturstiftungdes Bundes und der „Initiative Musik“ – nicht immerklar, an welchen Kriterien sich Förderentscheidungenorientieren.Nur ein Kriterium taucht wie ein roter Faden in denverschiedenen Antworten auf: die gesamtstaatliche Be-deutung. Natürlich sind die Länder in unserer föderalenOrdnung vorrangig in Obligo, aber es bleibt offen, wannund in welchem Maße es gerechtfertigt ist, dass sich derBund mit einem begründeten Interesse engagiert. DieserFrage weicht die Bundesregierung aus. Dafür, worin ge-nau das Bundesinteresse besteht, lässt sich ein Zitatfinden: Das „lässt sich angesichts der Vielfalt der Sach-verhalte nicht verallgemeinern.“ So schreibt es die Bun-desregierung in ihrer Antwort. Aber wenn sich die Ver-antwortung des Bundes gewissermaßen subsidiär aus derVerantwortung der Länder ableitet, wie es gestern derStaatsminister in unserem Ausschuss ausdrücklich be-tont hat, dann müssten sich die Länder ihrer förderndenEigenverantwortung bewusst sein und ihr nachkommen.Ich will das an einem Beispiel darstellen. Man mussklären, ob diese Art und Weise der Förderung durchgän-gig der Fall ist. Das Festival JazzBaltica – es findet,Wolfgang Börnsen, in deinem wunderschönen Schles-wig-Holstein statt –
ist sicherlich ein tolles Festival. Es ist durch schwereKrisen gegangen. Ich begrüße es außerordentlich, dasssich der Bund für das Jahr 2012 zu einer Anschubfinan-zierung für das Festival durchgerungen hat. Aber wiesteht es – Stichwort „Subsidiarität“ – um die Verantwor-tung des Landes Schleswig-Holstein? Die Stadt Tim-mendorfer Strand ist mit 75 000 Euro dabei. Das LandSchleswig-Holstein ist sozusagen Nutznießer desMarketings durch das Festival, aber aktives Handeln,eine finanzielle Unterstützung ist nicht zu erkennen.Auch andere Festivals haben nationale und internatio-nale Bedeutung. Kommunen und Länder finanzieren sieerheblich; gleichwohl werden diese nicht durch denBund gefördert. Was sind also die Kriterien für eineFörderung? Ist die konkrete Förderentscheidung im Ver-gleich zu ähnlich gelagerten Projekten nachvollziehbarund gerecht? Diese Fragen bleiben offen.Die zweite Regel lautet: Das haben wir schon immerso gemacht. Das verdeutliche ich anhand des sogenann-ten Omnibusprinzips. Dies gilt insbesondere für die in-stitutionelle Förderung. Das heißt, wenn jemand dauer-haft institutionelle Förderung bekommt, ist diese auchlangfristig gesichert. Eine neue institutionelle Förderungist nur vorstellbar, wenn eine andere wegfällt. Nur wennjemand anders aussteigt, kann ein Neuer einsteigen. Dasbedeutet, dass ohne kritische Reflexion einige wenigeseit vielen Jahren eine institutionelle Förderung erhalten;alle anderen haben Pech und können allenfalls jedes Jahrerneut Projektanträge stellen. Permanente Projektverlän-gerung bindet den Bundeshaushalt ohnehin.Dies hat zwei Effekte. Auf der Seite der Antragstellerist es Planungsunsicherheit – bekomme ich eine Zuwen-dung? –, also ein wirtschaftlicher Effekt. Der zweite Ef-fekt ist ein kolossaler Verwaltungsaufwand in einer Zeit,in der man Bürokratie eigentlich abbauen möchte. Diesist also wirtschaftlich und administrativ problematisch.
Dieses Prinzip – das haben wir schon immer so ge-macht – verfestigt die Förderstrukturen und Ungleich-gewichte zwischen der Förderung des kulturellen Erbesdurch die klassische Musik und den neueren Genres.Natürlich ist die Pflege des kulturellen Erbes wichtig,aber wir tragen auch eine Verantwortung für die zeitge-nössische Musik. Dem steht das starre Fördersystem imWege.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin die„Initiative Musik“ angesprochen. Auf sie wird immerdann verwiesen, wenn es um populäre Musik geht. Siemacht auch gute Arbeit; das will ich überhaupt nicht be-streiten. Aber sie kann längst nicht all das stemmen, wasihr aufgebürdet wird. Die jährliche Zuwendung liegt indiesem Jahr bei etwa 1,5 Millionen Euro; sie kommtübrigens aus dem Etat des BKM, also des Kulturstaats-ministers. Die „Initiative Musik“ hat nicht vorrangigeine kulturfördernde Funktion, sondern eher eine kultur-wirtschaftliche Dimension. Ich erlaube mir an dieserStelle, die Frage aufzuwerfen, wieso der Etat des Wirt-schaftsministers dafür nicht stärker herangezogen wird.Das ist zumindest eine Frage, über die wir einmal disku-tieren sollten.
Zwischen dem Aufsichtsrat der „Initiative Musik“und der Bundeskonferenz Jazz finden Dialoge statt.Allerdings gibt es hier nach wie vor kulturpolitischenDiskussionsbedarf; damit müssen wir uns auseinander-setzen. Diese Diskussionen darf man nicht einfach, wiein einer Hamsterrolle, in Gremien hineinschieben, son-dern wir müssen uns mit diesen Fragen auch in derKulturpolitik aktiv beschäftigen. Die entsprechendenDebatten sind bereits aufbereitet. Es geht zum Beispielum die Fragen: Wie sieht es eigentlich mit der Spielstät-tenförderung aus? Inwieweit kann man den Bund hierernsthaft in die Verantwortung nehmen? Ich will dieAntworten nicht vorwegnehmen; aber diese Debattemuss geführt werden. Es gibt einen weiteren Streitpunkt.Was steht im Vordergrund: die Künstlerförderung oder
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19591
Siegmund Ehrmann
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die Infrastrukturförderung? Auch diese Debatte mussgeführt werden. Ich glaube, hier ist die Musikpolitik desBundes gefordert.
Im Herbst letzten Jahres hat sich der Deutsche Kom-ponistenverband hilfesuchend an den Staatsminister ge-wandt und auf die Probleme der neuen Musik aufmerk-sam gemacht. Der Staatsminister hat diese Nöte inseinem Antwortschreiben grundsätzlich anerkannt undangeregt, dass man über die richtigen Schritte und vor-dringlichen Konzepte auch öffentlich diskutieren müsse.Genau darum geht es. Das ist eine richtige Feststellung.Es geht um eine öffentliche Debatte darüber, welcheSchwerpunkte der Bund künftig in der Musikförderungsetzt. Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrem Hause ge-nug Expertise, um diese Debatte zu führen.
– Ich muss sagen: Mir ist im Vorfeld signalisiert worden,dass er aufgrund einer Terminkollision nicht hier seinkann.
Allerdings verdient dieses Thema natürlich auch seinePräsenz in diesem Hause.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.
Herr Kollege.
Die dritte Regel des Förderkonzepts lautet: Kontrolle
ist gut, Vertrauen ist besser. Auch was die Evaluation be-
trifft, besteht dringender Klärungsbedarf. Eine Evalua-
tion wird von der Bundeskulturstiftung und der „Initia-
tive Musik“ durchgeführt.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss.
Nicht dass Sie nach Ablauf Ihrer Redezeit noch einen
vierten Punkt ansprechen. Das war mir jetzt zu heikel.
Nein, Frau Präsidentin. Schönen Dank für Ihr Ver-
ständnis. – Ich führe meinen Gedanken ganz kurz zu
Ende: Es ist sehr wichtig, dass wir uns mit den Ergebnis-
sen der Evaluation durch die Bundeskulturstiftung und
die „Initiative Musik“ auseinandersetzen. Kurzum: Was
nach dieser Anfrage nottut, ist, dass der Ausschuss mit
allen Akteuren in einen intensiven gemeinsamen Dialog
über die künftige Ausrichtung der Musikförderung ein-
tritt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Wolfgang Börnsen hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Mit Ihrerfreundlichen Zustimmung möchte ich in das ThemaMusik auf besondere Weise einführen.
Man könnte das auch als Kanon singen. Leider lässt dieGeschäftsordnung des Deutschen Bundestages das nichtzu.
Es gäbe zwischen uns nicht einmal Misstöne.
Ich möchte mit einer Bemerkung beginnen, die an dasanschließt, was Siggi Ehrmann gesagt hat. SiggiEhrmann, es ist richtig, manche Komposition im Bereichder politischen Musikförderung ist überprüfenswert.Vergiss aber nicht, Siggi: Die Grundlagen für die Musik-förderung nach diesen Kriterien haben drei sozialdemo-kratische Staatsminister gelegt. Jetzt soll ein christdemo-kratischer Staatsminister das regeln. Vergiss nicht: DieSozialdemokraten haben in der Großen Koalition dieseArt der Förderung auch begrüßt. Die Einlassung, dassdas überprüfenswert ist, teilen wir, und wir werden unsauch aktiv beteiligen.Deutschland ist ein starkes Musikland. Über 7 Millio-nen Mitbürgerinnen und Mitbürger musizieren oder sindin Chören engagiert. Unsere Orchesterlandschaft mit750 erstklassigen Sinfonie- und Staatsorchestern istweltweit einzigartig. Über 50 000 Rock-, Pop- und Jazz-bands, fast 50 000 Kirchen-, Laien- und Profichöre sindvon Flensburg bis Freiburg aktiv. 60 Millionen Men-schen hören jährlich Chorkonzerte in unserem Land.Die Musikwirtschaft unseres Landes mit einem Um-satz von fast 6 Milliarden Euro gehört zur Weltspitze.
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19592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Wolfgang Börnsen
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Erfreulich und ermutigend ist, dass jeder vierte Ju-gendliche in Deutschland selbst Musik macht. Das istein tolles Ergebnis.
Der Dank der Unionsfraktion und sicher auch desganzen Hauses gilt den Musikverbänden, den Vereinen,den Musikschulen und -erziehern, den Chorleitern undDirigenten, die alle zu einer klingenden Republik beitra-gen.Musik bildet, verbindet, begeistert, baut Brücken zuden Migranten und zwischen den Generationen.Die Große Anfrage weist nach, das Notenbuch derBundesregierung ist wohlfeil geschrieben, auch wennmanche Komposition überarbeitet werden muss. Alleindie jährliche Bundesförderung beträgt 44 MillionenEuro. Noch umfangreicher sind die Leistungen derKommunen und der Länder.Verdienstvoll hat sich die Bundeskulturstiftung derzeitgenössischen Musik angenommen, und zwar mit42 Millionen Euro in den vergangenen Jahren. Engagiertund ideenreich trägt der Deutsche Musikrat, der weltweitgrößte Kulturverband dieser Art, zu einem vielfältigenMusikleben bei und rechtfertigt damit die jährliche Bun-desförderung von über 4 Millionen Euro.Auch wenn die Musikförderung verfassungsgemäßauf Projekte von gesamtstaatlicher Bedeutung be-schränkt sein muss, ist es dem amtierenden Staatsminis-ter gelungen, neue Akzente zu setzen. Kulturförderungist zugleich Musikförderung. Die Abgrenzung zwischenallein auf die Kunst ausgerichteter Kulturförderung unddem Wachstumsmarkt der Kreativ- und Kulturwirtschaftist gefallen. Die Tür für viele neue Arbeitsplätze ist da-mit geöffnet.
Die vor fünf Jahren gegründete „Initiative Musik“,die über 450 Maßnahmen im populären Bereich präsen-tieren kann, ist beispielgebend dafür. Neben BerndNeumann, Hans-Joachim Otto, Monika Griefahn hatDieter Gorny wesentlich zu dieser Erfolgsgeschichtebeigetragen.Einen Boom erfahren derzeit die über 1 000 öffentli-chen und privaten Musikschulen mit über 1 MillionSchülerinnen und Schülern. Wartelisten gibt es jedochnicht allein für die Jungen, sondern auch für die Senio-ren. Die Zahl ihrer Bewerbungen hat sich verdoppelt.Auch bei ihnen gibt es Engpässe.Musik wird als lebensbereichernd empfunden.Bei der Musikeinzelförderung durch den Bund sinddrei sogenannte B-Standorte besonders bemerkenswert.Berlin erhält bedingt durch den Hauptstadtvertrag mitjährlich gut 16 Millionen Euro die höchste Zuwendung.Es folgen Bonn – NRW eingeschlossen – und BayernsBayreuth, derzeit eine komplizierte Baustelle, musika-lisch jedoch von internationaler Bedeutung.Diese Einschätzung teilte auch BundeskanzlerGerhard Schröder, der als erster Kanzler diesen Opern-tempel im Jahr 2003 besuchte und ihm seinen Regie-rungssegen gab. Beobachter der Premiere registriertendamals, dass die „Schwarze“ Frau Merkel in Grün ge-kommen war, die „Grüne“ Roth in Pink und der „Rote“Schily im Smoking. Das fraktionsübergreifende Be-kenntnis zu den Bayreuther Festspielen von damalssollte auch heute noch halten; denn die weltweite Bedeu-tung von Richard Wagner hat sich nicht geändert. Des-wegen bin ich für eine Gemeinsamkeit in Bayreuth.
Neben der Auffassung zum Handlungsfeld Bayreuthund zu einer verbesserten Perspektive für den Jazz teilenwir auch die Auffassung des Deutschen Musikrates zurReform des Urheberrechtes: „Stillstand entrechtet Urhe-ber“ – so seine These; „ohne Komponisten keine Mu-sik“.Die Piraterie im Netz ist eine Herausforderung fürden Kultur- und den Arbeitsmarkt in Deutschland – undfür den Standort ebenso. 900 Millionen Songs wurdenalleine 2010 illegal im Netz genutzt. Die Musikwirt-schaft erleidet jährlich einen Schaden von 90 MillionenEuro. Sachkenner sagen für alle Kulturbereiche – Filmund Theater eingeschlossen – einen jährlichen Verlustvon insgesamt 70 000 Arbeitsplätzen voraus. Diese Ent-wicklung vernichtet Arbeitsplätze, entmutigt die Kreati-ven und schadet unserem Land.Das gilt auch für eine andere Sache: Das Jahresein-kommen von Musikern in Deutschland ist mit11 500 Euro ausgesprochen dürftig. Das gilt es, zu ver-bessern. Das gilt auch für die Einkommen der Lehrbe-auftragten an den 24 Musikhochschulen. Wir haben derKMK geschrieben und hätten es für aufrichtig gehalten,wenn die Fraktion der Grünen darauf aufmerksam ge-macht hätte, dass sie in den Ländern ebenfalls eine Mit-verantwortung trägt; denn die Lehrbeauftragten sindLändersache.
Die Musik – damit komme ich zum Ende – steht beider jungen Generation gleich nach der Freundschaft anzweiter Stelle – weit vor dem Sport und dem Internet.Als ehemaliger Schlagzeuger von Jazzbands kann ichdas durchaus nachvollziehen. Musik fasziniert. 82 Pro-zent der 12- bis 19-Jährigen besitzen einen MP3-Player.Musik hören ist Volkssport geworden, selbst Musik ma-chen sollte es aber auch sein.
Herr Kollege.
In der Lessingschule in Nordhausen wird aus diesemWunsch sicher schon bald Wirklichkeit.Frau Präsidentin, ich komme jetzt wirklich zumSchluss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19593
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Wirklich.
Deshalb begrüßen wir die Initiative „Jedem Kind ein
Instrument“. 70 000 Schüler sind daran bereits beteiligt.
Der Bund fördert dies mit 10 Millionen Euro. Ich würde
mir wünschen, dass die ganze Republik von dieser neuen
Initiative profitiert.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich singe leidenschaftlich gerne, aber meistens nicht sehrgut. Insofern erspare ich uns hier eine Intonation zu Be-ginn dieser Rede.Musik spielt im kulturellen Selbstverständnis derBundesrepublik Deutschland eine wesentlicheRolle. … Die Bundesregierung misst der Pflege desMusiklebens … einen hohen Stellenwert bei.Solch Grundsätzliches liest man gerne. Man vernimmtes mit Freude, Genugtuung, ja, Stolz. Deutschland isteine Musiknation – von alters her bis auf den heutigenTag.Wenn man dann allerdings in der umfangreichen Ant-wort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zurMusikförderung durch den Bund in dem konkreten,sachlichen Teil der Statistik nachliest, welche Jahresein-kommen 2009 die Musikerinnen und Musiker nach Aus-kunft der Künstlersozialkasse hatten – Orchestermusiker„Ernste Musik“: 9 237 Euro im Jahr, Instrumentensolist„Ernste Musik“: 10 498 Euro im Jahr, Oper-, Operetten-und Musicalsänger: 9 585 Euro im Jahr, Lied- und Ora-toriensänger: 10 335 Euro im Jahr –, dann muss man sa-gen: Hier stimmt doch etwas nicht.
Hier tut sich ein gravierender Unterschied zwischen derProklamation und der Wirklichkeit auf. Auch Kompo-nisten, Texter und Librettisten kommen im Jahr geradeeinmal auf rund 16 000 Euro. Das sind 1 333 Euro imMonat. Man könnte sagen: Glanz und Elend spiegeltdiese Ausarbeitung der Bundesregierung zur Musikför-derung durch den Bund.Staatsminister Neumann hat gestern im Kulturaus-schuss betont, dass die Förderung durch den Bund nursubsidiär, also zusätzlich, ist, da die Förderung von Mu-sik vorrangig Aufgabe der Länder ist. Das ändert abernichts an den Arbeits- und Einkommensverhältnissender Musikerinnen und Musiker in all den vielfältigenSparten der Kunst in unserem Land.
Es ist zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden Be-richt eine wichtige Übersicht vorliegt. Sie könnte aller-dings strukturierter und systematischer sein. Am bestenwäre es, wenn sie einem umfassenden Kulturbericht zu-geordnet wäre, wie ihn die Enquete-Kommission „Kul-tur in Deutschland“ bereits vor Jahren gefordert hat.
Die Musikförderung des Bundes hat zwei Ziele: ei-nerseits die Bewahrung des Erbes und die umfassendeErschließung und Vermittlung seiner Potenziale und an-dererseits die Entwicklung der zeitgenössischen Musikund ihre Rezeption. Das ist nicht leicht zu leisten, wenndie Mittel nicht von Jahr zu Jahr steigen. Denn diePflege des Erbes wird nicht von sich aus weniger. Aberdas Zeitgenössische nimmt zu und braucht mehr Unter-stützung und Mut zum Experiment. Wie kann man alsodie Balance halten und Gerechtigkeit walten lassen?Rund 44 Millionen Euro stellte die Bundesregierungfür die Musikförderung 2010 zur Verfügung. Ein Vierteldieser Summe ging an die Rundfunkorchester und Chörein Berlin. Das ist eine Aufgabe und Verpflichtung, dieaus der Vereinigung unseres Landes herrührt. Es ist eineglanzvolle Verpflichtung von wahrhaft gesamtstaatlicherRelevanz. Das Gleiche gilt für die Verpflichtungen imHauptstadtkulturvertrag, Kostenfaktor: 4,3 MillionenEuro.Es bleiben rund 28 Millionen Euro als Fördersumme.Werden sie gerecht verteilt zwischen Alt und Neu? Jazz-musikerinnen und -musiker haben in diesen Tagen mehrals tausend Unterschriften gesammelt und fordern mehrstaatliche Subventionen und vor allem mehr Spielstättensowie Gleichbehandlung mit der ernsten Musik.In der Künstlerförderung der „Initiative Musik“ ent-fallen 17,7 Prozent auf Jazzprojekte. Das entspricht ei-ner erbärmlichen Summe von rund 230 000 Euro imJahr, und gefördert wird nur dann, wenn die Musikerselbst 60 Prozent der Projektkosten aufbringen können.Wie sollen da viele Bands, Talente und Musiker unterdieser Regelung noch gefördert werden?
Lässt sich dabei noch von einer einigermaßen gerechtenMittelverteilung reden? Nein.Ein Umverteilungsvorschlag: Rund 2,3 MillionenEuro fließen jedes Jahr vom Bund an die BayreutherFestspiele, ein Musikereignis, das sich vor Nachfragekaum retten kann. 400 000 Kartenbitten können jedesJahr nicht berücksichtigt werden. Die Bundesregierunggibt an, dass sie seit 1953 die Festspiele mitfinanziert,damit sie – das ist ein Zitat – bei bezahlbaren Karten fürbreite Bevölkerungsschichten zugänglich seien. Das istdoch Hohn und Spott!
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19594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Lukrezia Jochimsen
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Schauen Sie sich doch an, was heute in Bayreuth pas-siert. Bezahlbare Karten für breite Bevölkerungsschich-ten? Ich sage: Hohn und Spott. Solange dies so ist, könn-ten die 2,3 Millionen Euro gut anderen Projektenzugutekommen.
Das wäre dann übrigens das Zehnfache für den Jazz unddamit für zeitgenössische Musik.Ich danke Ihnen.
Reiner Deutschmann hat das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordent-lich, dass wir heute im Deutschen Bundestag die Gele-genheit haben, uns einmal etwas ausführlicher mit derMusikförderung des Bundes auseinanderzusetzen.Musik ist für Deutschland ein ganz wichtiger Bereichdes kulturellen Schaffens und integraler Bestandteil un-seres kulturellen Erbes. Komponisten wie Bach,Brahms, Beethoven oder Schubert, um nur einige zunennen, haben die musikalische Landschaft nicht nurDeutschlands, sondern der Welt geprägt. Deutsche Or-chester sind in der Welt geschätzt und werden für ihreDarbietungen verehrt. Auch deutsche Musik, zum Bei-spiel von Kraftwerk oder der mitteldeutschen Band „To-kio Hotel“, war und ist ein Aushängeschild deutschermusikalischer Schaffenskraft. Ich lasse es mir in diesemZusammenhang nicht nehmen, auch „Silbermond“ zu er-wähnen. Diese Gruppe hatte schließlich ihre Anfänge alsSchülerband in meinem Wahlkreis Bautzen.
Die Förderung der Musik hat in Deutschland durch-aus eine jahrhundertelange Tradition. Bereits an Fürsten-höfen fand sie statt. Die FDP-Bundestagsfraktion be-grüßt daher das Engagement sowohl des Staates als auchdes Privatsektors; denn gerade Verlage und Label sorgensich um eine blühende Musiklandschaft in Deutschland.Ohne diese Unterstützung wären viele Erfolge vonKünstlerinnen und Künstlern einfach nicht denkbar.Ich denke, es ist unbestritten, dass für die Musikför-derung in erster Linie Länder und Kommunen zuständigsind. Deshalb gibt es auch kein ganzheitliches Musikför-derkonzept des Bundes, wie von der SPD gewünscht.Nur dort, wo das gesamtstaatliche Interesse es gebietet,kann der Bund als Förderer tätig werden. Dass sich derBund dieser Verantwortung in entsprechenden Größen-ordnungen stellt, wissen wir nicht erst seit der Beantwor-tung der Großen Anfrage, über die wir gerade sprechen.Das spüren wir bei jeder Haushaltsdebatte. Auf die seitJahren vorgenommenen Weichenstellungen – das wurdevom Kollegen Börnsen schon gesagt – können wir alsAbgeordnete des Deutschen Bundestags durchaus stolzsein.
Musik ist beides: Sie ist Kultur- und zugleich Wirt-schaftsgut. 2009 setzte die Musikindustrie 5,5 MilliardenEuro um. Zehntausende Menschen arbeiten in diesemSektor und finanzieren dadurch ihren Lebensunterhalt.Der Musiksektor ist somit ein wichtiger Bestandteil derKultur- und Kreativwirtschaft unseres Landes. Dass esauch hier soziale Probleme gibt, ist uns allen bewusst.Wir haben in verschiedenen Bereichen versucht, nachzu-steuern. Aber nicht alles ist Sache des Bundes. Wir kön-nen beispielsweise nicht beeinflussen, wie viel eineSchauspielerin oder ein Sänger an einem Landestheaterverdient.Eine der größten Herausforderungen für die Musik-wirtschaft ist ohne Zweifel die Digitalisierung. LassenSie mich an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Kreativi-tät muss sich lohnen. Kreative müssen von ihrer Arbeitleben können. Dies gelingt nur, wenn wir es schaffen,auch in Zeiten des Internets einen gerechten Ausgleichzwischen den Interessen der Rechteinhaber und der Nut-zer geistigen Eigentums zu erzielen. Dazu gehört aberauch, dass die Wirtschaft weitere Modelle entwickelt,die es ermöglichen, zu attraktiven Bedingungen Werkelegal im Internet zu erwerben.
Auch damit begegnen wir nachhaltig den millionenfa-chen illegalen Downloads. Eines ist ganz klar: Die FDP-Bundestagsfraktion steht ohne Wenn und Aber für dieRechte der Urheber als geistiger Mütter und Väter ihrerWerke. Mit uns wird es immer eine Unterstützung fürdas geistige Eigentum geben. Das kann ich Ihnen versi-chern.Was tut der Bund konkret für die Förderung der Musik-landschaft in Deutschland und über die Grenzen hinaus?Dazu gibt die Antwort der Bundesregierung auf dieGroße Anfrage der SPD detailliert und umfassend Aus-kunft. Aber auch ein Blick in den jeweiligen Haushalts-plan des Bundes hilft hier weiter. 2010 wurden insge-samt 44,2 Millionen Euro durch den Bund für dieMusikförderung ausgegeben. Mit zahlreichen Maßnah-men bewahrt der Bund unser musikalisches Erbe, fördertzeitgenössische Musik und transportiert deutsches Mu-sikschaffen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik – zum Beispiel durch das Auswärtige Amtoder durch Mittlerorganisationen wie das Goethe-Insti-tut – in alle Welt.Über die Kulturstiftung des Bundes wurde – das istschon mehrfach erwähnt worden – das Projekt „JedemKind ein Instrument“ angeschoben und unterstützt. Eswar erstmals im Ruhrgebiet verfügbar und ist inzwi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19595
Reiner Deutschmann
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schen von elf Bundesländern aufgegriffen und eigen-ständig weitergeführt worden. Wir fördern Orchester wiedie Rundfunkorchester und Chöre in Berlin und ebensoSparten wie den Jazz durch Projekte wie das Bundesjazz-orchester oder durch das Projekt „Jugend jazzt“. Wir un-terstützen den Deutschen Musikrat jährlich mit rund3 Millionen Euro. Was dort geleistet wird, ist durchaussehenswert. Die schon erwähnte „Initiative Musik“ istbeispielgebend für den Export deutscher Musikkunst.Dadurch können wir Bands und Solokünstler hervorra-gend unterstützen und international bekannt machen.Ich möchte aber auch die Bayreuther Festspiele er-wähnen. Der Bund bekennt sich ausdrücklich zu diesemEreignis von Weltgeltung. Aber aus gegebenem Anlassmöchte ich genauso deutlich darauf hinweisen, dass diebestehenden Probleme im Bereich der wirtschaftlichenFührung gelöst werden müssen.Ich möchte hier aber auch den Tanz thematisieren;denn er stellt für mich eine ganz besondere Form derUmsetzung von Musik dar. Dazu gehört zum einen diedirekte Förderung des Tanzes. Zum anderen müssenTänzer in besonderer Weise sozial abgesichert werden.Schließlich kann dieser Beruf aufgrund der körperlichenBelastung nur zeitlich begrenzt ausgeübt werden. Des-halb setzen wir Liberale uns sehr stark für die Stiftung„TANZ – Transition Zentrum Deutschland“ ein, die Tän-zern hilft, nach dem Ende der Karriere eine neue berufli-che Perspektive zu finden.
Nach Ministerien aufgeschlüsselt, fördern neben demBKM und dem Auswärtigen Amt das Bundeswirt-schaftsministerium und das Bundesministerium für Bil-dung und Forschung die Musik.Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen der Initiative„Kultur- und Kreativwirtschaft“ oder, ganz konkret,durch Messeförderung im Ausland. Nennen möchte ichaber auch solche Forschungs- und Bildungsprojekte wiedie Begleitforschung zum Projekt „Jedem Kind ein In-strument“ oder den Bundeswettbewerb Komposition2010, in dessen Rahmen sich Schülerinnen und Schülermit Eigenkompositionen beteiligen konnten. Es ist mirwichtig, dass die Förderung durch den BKM und anderenachhaltig erfolgt. Es ist besonders erfreulich, dass manerkennen kann, dass die Ziele des Bundes tatsächlich er-reicht werden; genannt wurde schon das sehr erfolgrei-che Projekt „Jedem Kind ein Instrument“.Anschubfinanzierungen, gerade für Festivals, könnennachweislich Anreize für neue Entwicklungen schaffen.Zu Recht spricht die Bundesregierung in ihrer Antwortauf die Große Anfrage von einem „kulturpädagogischenImpuls“. Damit stärken wir nicht nur die Kreativen imBereich der Musik, sondern wir tun auch etwas für diekulturelle Bildung unserer jungen Menschen.
Ich stelle also abschließend fest, dass wir, der Bund,im Bereich Musik gut aufgestellt sind. Natürlich könntedas eine oder andere noch umfassender gefördert wer-den. Da gibt es durchaus noch Spielraum, insbesonderebeim Feintuning. Im Bereich Jazz sind wir das geradeangegangen. Ich bin mir durchaus bewusst – dafür steheich auch ein –, dass nicht alles, was über Jahrzehnte ge-fördert wurde, immer wieder gefördert werden muss. Dasollten wir tatsächlich einiges auf den Prüfstand stellen;vieles wächst nach, und die Töpfe werden nicht unbe-dingt größer. Deshalb muss man auch über Förderungeneinmal neu nachdenken. Wichtig ist für uns als Kultur-politiker, dass wir neuen Ideen gegenüber aufgeschlos-sen sind; denn Kunst und Kultur leben von der Kreativi-tät der Menschen und sind damit eine ganz wichtigeVoraussetzung für die weitere Entwicklung unserer ge-samten Gesellschaft.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat Agnes Krumwiede das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir begrüßen die Große Anfrage der SPDsehr.
Die Antworten sagen einiges aus über das Musikförder-konzept der Bundesregierung: Sie hat nämlich keins.
In ihrer Antwort gesteht die Regierung ein, dass eine De-finition gesamtstaatlicher Relevanz konkretisiert werdenmuss. Wenn aber keine genaue Definition vorliegt, stelltsich die Frage, auf welcher Grundlage überhaupt Mittelan Kulturinstitutionen und Festivals vergeben werden.
Die Wagner-Festspiele jedenfalls entwickeln sich fürdie Bundesregierung zur Götterdämmerung von gesamt-staatlicher Bedeutung. Nachdem mittlerweile der Baye-rische Oberste Rechnungshof interveniert hat, ergreiftder Kulturstaatsminister – lieber spät als nie – endlichdie Initiative und sorgt hoffentlich dafür, dass dieWagner-Festspiele keine Exklusivveranstaltung zur Un-terhaltung eines Fördervereins bleiben.
Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für musi-kalisches Schaffen steht nicht im Fokus der Bundesre-gierung. Das durchschnittliche Jahreseinkommen vonMusikern liegt bei 11 700 Euro. Altersarmut ist vorpro-grammiert. Erschreckend hilflos sind die Antworten der
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19596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Agnes Krumwiede
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Bundesregierung auf Fragen zur sozialen Absicherungund zur Altersvorsorge für Musiker: Jeder könne mit derRiester-Rente aufstocken, und die Einkünfte durch Urhe-ber- und Leistungsschutzrechte seien ja auch eine geeig-nete Altersversorgung. In die Riester-Rente einzahlenkann nur, wer es sich leisten kann. Einkünfte durchUrheber- und Leistungsschutzrechte als Altersversor-gungsquelle zu nennen, zeugt von Inkompetenz. GanzeBerufsgruppen im Bereich Musik, zum Beispiel die In-strumentallehrer, hat die Bundesregierung offenbar ver-gessen. Musikunterricht ist nicht urheberrechtlich ge-schützt.
Die Lage vieler Lehrkräfte im Bereich Musik ist prekär.Dabei übernehmen sie hauptsächlich die Förderung vonMusik in Deutschland.
Wir haben Ihnen mit unserem Antrag, zum Beispielzu Reformen des Arbeitslosengeld-I-Bezugs, ein allge-mein gültiges Modell präsentiert, das Sie nur umsetzenmüssten, um die Bedingungen für Künstler und Musikerzu verbessern. Außerdem brauchen wir branchenspezifi-sche Mindestlöhne – auch im Kulturbetrieb.
Gravierende Schwachstellen offenbart die Bundesre-gierung auch bei der sogenannten Exportförderung. Wasdie Zuschüsse für Tourneen betrifft, sind deutsche Solo-künstler und Bands gegenüber anderen Ländern klar imNachteil. Exportförderung für Auslandstourneen erhal-ten bei uns in erster Linie prominente Bands, die es jawohl am wenigsten nötig hätten.
Die Bundesregierung sollte sich am skandinavischenVorbild orientieren und ein Programm zur Tourförde-rung von Bands auflegen. Ob Jazz, Hip-Hop, Rap, Punkoder Techno – bei fast allen Fragen nach der Förderungneuer musikalischer Ausdrucksformen verweist die Bun-desregierung auf die „Initiative Musik“. Über 40 Millio-nen Euro gibt der Bund pro Jahr für Musikförderung aus,die „Initiative Musik“ bekommt 1,5 Millionen Euro.
Davon sollen so gut wie alle neuen Musikbereiche geför-dert werden. Zum Vergleich: Die Wagner-Festspiele er-halten pro Jahr rund 2 Millionen Euro, und damit wirdnur ein einziges Festival finanziert.Auch was die zeitgenössische Klassik betrifft, ist von-seiten der Bundesregierung Saure-Gurken-Zeit angesagt.Das erfolgreiche Programm „Netzwerk Neue Musik“ istgerade ausgelaufen; jetzt klafft eine große Lücke bei derFörderung zeitgenössischer Klassik. Was an Neuem inder Musik entsteht, muss gleichberechtigt an Mitteln ausdem Kulturetat beteiligt werden.
Die Zukunft unserer Musiklandschaft besteht in einemÜberwinden des qualitativ unterscheidenden Denkens inU- und E-Musik.
Wir brauchen ein anderes Kulturverständnis, einesohne Scheuklappen. Das geht schon bei den Spielstättenlos.
Ein Konzerthaus ist eine Spielstätte für alle. Dort solltenAngebote und Aufführungen für Jung und Alt, Reichoder Arm einen Platz finden. Opern, Theater und andereInstitutionen müssen als Kulturerlebnisorte für alle Be-dürfnisse begriffen und bespielt werden, nicht als exklu-sive Heimat einer Musikrichtung. Wir brauchen institu-tionelle und Projektförderung, bei der Interaktion vonMusikbereichen, also Jugendkultur, Pop und Klassik, ge-nauso vorgesehen ist wie eine Mindestgage, ein ausge-wogener Frauenanteil und der interkulturelle Austausch.
Es gibt viel zu tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnengemeinsam ein Musikförderkonzept zu entwickeln, dasunserer Tradition als dem Land der großen Komponistengerecht wird.Vielen Dank.
Christoph Poland hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! SchonNapoleon wusste, dass Musik von allen Künsten dentiefsten Einfluss auf das Gemüt hat und ein Gesetzgebersie deshalb am meisten unterstützen soll. Das tun wir,das tut die Bundesregierung.Ich kann Ihnen nach 32 Jahren Tätigkeit als Musik-lehrer und nach 18 Jahren Tätigkeit als Musikveranstal-ter hier und heute sagen, dass wir für Musikveranstaltun-gen auf Anfrage immer Sponsoren und Unterstützergefunden haben, egal wie wir um Unterstützung gebetenhaben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19597
Christoph Poland
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Die umfassenden Antworten auf die 74 Fragen derSPD zeigen, wie großartig und umfangreich die Förde-rungen des Bundes sind.
Die schon genannten über 44 Millionen Euro für die Mu-sikförderung, die zur Verfügung gestellt werden, sind einberedtes Beispiel dafür. Für seine Förderung hat derBund objektive, überprüfbare Kriterien formuliert. Da-bei ist, so finde ich, die Nachhaltigkeit bei den geförder-ten Projekten besonders wichtig. Wir sehen es am Bei-spiel JeKi, welche Auswirkungen es haben kann, wennein Projekt angeschoben wird.Der Bund fördert Einrichtungen und Projekte mit ge-samtstaatlicher Bedeutung. Das haben wir heute schongehört. Dazu kommt die Förderung der Musik als Teilder auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Als Bei-spiel für die Förderung von Leuchttürmen der Kulturmöchte ich folgende hervorheben: Beim MitteldeutscheBarockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin-gen e. V. handelt es sich um ein Leuchtturmprojekt inden neuen Bundesländern. Durch das Zusammenwirkenvon drei Ländern und dem Bund wird ein Beitrag zurBewahrung, Erforschung und aktiven Vermittlung der indieser Region überreichen Zeugnisse des musikalischenErbes von Bach, Händel, Schütz, Telemann und weiterenKomponisten geleistet.Auch das Musikfestival auf Usedom mit seinemgrenzüberschreitenden europäischen Ansatz bekommtzu Recht eine Bundesförderung. In diesem Jahr ist dortdas Thema russische Musik.Ein weiteres Beispiel sind die Zuschüsse für dieDachverbände der Laienmusik. Denken Sie an den Deut-schen Musikrat! Dort werden Veranstaltungen und Pro-jekte der musikalischen Breitenarbeit und der nationaleSpitzennachwuchs gefördert. Ich freue mich daher be-sonders über die Förderung des Bundesjugendorchestersund des Wettbewerbs „Jugend musiziert“.Übrigens gibt es auch Bundeswettbewerbe für Ju-gendbands.
Nur denke ich, dass es unser Uranliegen sein muss, inDeutschland die Hochkultur zu erhalten.Mit der einmaligen Anschubfinanzierung des Bundesund des Landes Nordrhein-Westfalen für die Etablierungeines ECHO Jazz im Jahr 2010 sollte ein neues Forumentstehen. Das läuft nun ohne Förderung erfolgreichweiter. Die herausragenden Leistungen bundesweit undinternational im Bereich des Jazz sollen gewürdigt undöffentlich wieder mehr wahrgenommen werden. Der An-teil von nur noch 1,4 Prozent des Jazz am Gesamtumsatzder Plattenindustrie ist ein Vermarktungsproblem,
aber auch Ausdruck einer schwindenden Anerkennungdes Jazz in der breiten Öffentlichkeit.
Daher möchte ich an dieser Stelle auch die Förderungdes Jazz im Rahmen der „Initiative Musik“ hervorheben.Als Professor Gorny hierzu im Ausschuss war, deutetesich eine fraktionsübergreifende Neigung an, den Jazzstärker zu unterstützen.Die Forderungen der Bundeskonferenz Jazz wurdenvon der „Initiative Musik“ aufgenommen und ausgewer-tet. Hier die Bilanz: 88 Jazzmusiker und Jazzprojektewurden von 2008 bis 2011 mit 1,5 Millionen Euro geför-dert.
Auch das ist ein Spitzenergebnis.Das ebenfalls vom Bund geförderte Bundesjazzor-chester kümmert sich um den Nachwuchs. Hier leistetdie „Initiative Musik“ ebenfalls erfolgreiche Arbeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Musikförderungdes Bundes ist historisch gewachsen und strukturiert. Sieunterstützt das vielfältige Musikleben in Deutschland.Musik ist ein zentraler Bestandteil unseres kulturellenSelbstverständnisses.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort für die CDU/CSU der Kollege Paul
Lehrieder.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! In ihrer Antwort auf die Große An-frage der SPD-Fraktion zur Musikförderung des Bundesverdeutlicht die unionsgeführte Bundesregierung einmalmehr, welch großes Gewicht sie auf die Förderung vonMusik legt, und das ist gut so.Die Antwort auf die Große Anfrage mit ihren 74 Fra-gen umfasst immerhin 47 Seiten. Das zeigt die ganzeBandbreite – es wurde von einigen Vorrednern bereitsdarauf hingewiesen – der vielfältigsten Facetten der Mu-sikförderung in Deutschland.Kollege Börnsen hat in seiner Auftaktrede bereits da-rauf hingewiesen – man kann es gar nicht oft genug wie-derholen –: 44 Millionen Euro hat die Bundesregierung2010 für die Förderung der Musik in Deutschland zurVerfügung gestellt.Frau Kollegin Krumwiede, Sie sagen, es könne man-ches noch besser werden, die soziale Absicherung derKünstler müsse verbessert werden. Sie wissen doch ge-nauso gut wie ich, dass wir derzeit über eine Verände-
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19598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Paul Lehrieder
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rung des Künstlersozialversicherungsgesetzes verhan-deln. Wir wollen die soziale Absicherung der Künstler,den Arbeitslosengeld-I-Bezug, schon in den nächstenWochen verbessern.
Wir kümmern uns auch im Ausschuss für Arbeit und So-ziales um die Belange der Künstler. Das ist bei uns in gu-ten Händen. Frau Krumwiede, machen Sie sich malkeine Sorgen!
Ich freue mich natürlich immer, wenn bei solchen De-batten auch die Nutznießer unserer Förderung als Zu-schauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne dabei sind.Insbesondere die jungen Leute können von dem vielfälti-gen Musikangebot in den Schulen, aber natürlich auch inden Vereinen profitieren.Ja, es ist richtig: Die Musikförderung des Bundes isteine Facette. Sie ist die Ergänzung zu den Maßnahmender Länder und der Kommunen. In Bayern etwa gibt esden Bayerischen Musikplan, durch den eine großzügigeUnterstützung der Musik, auch der Laienmusik, erfolgt.Für den letzten Redner einer Debatte ist es immerschwierig, noch viel Neues und Sinnstiftendes beizutra-gen. Ich möchte mich deshalb auf zwei Facetten be-schränken. Das ist einmal der Bereich der Laienmusik;hierauf hat der Kollege auch schon kurz hingewiesen.Um die Laienmusik als Teil der Breitenkultur geht es inAbschnitt X Ihrer Anfrage, Herr Kollege Ehrmann.Es ist schon beeindruckend, wenn man sich die Zah-len aus der Anfrage vor Augen führt. Allein die Bundes-vereinigung Deutscher Orchesterverbände umfasst elfMitgliedsverbände und immerhin 23 000 Laienorchester.Dort wird eine hervorragende Arbeit geleistet. MachenSie sich einmal klar, welche Jugendarbeit in den Lai-enorchestern betrieben wird! Wir hatten gerade aufAntrag der Linken eine Aktuelle Stunde mit dem Titel„Zivilcourage gegen Nazis stärken“. Wenn wir die Pro-gramme des Familienministeriums gegen rechts und ent-sprechend auch gegen links einbeziehen, so können Sieeigentlich gar nicht ermessen, welche wertvolle Jugend-arbeit in den Kapellen, in den Gesangsvereinen, in denChören und natürlich auch in den Sportvereinen geleistetwird und was dadurch auch für den Staat an Prophylaxeund Zusammenhalt generiert wird. Das, was wir in denLaienorchestern haben, ist ein Wert, ein Goldschatz derGesellschaft, auf den man in einer solchen Debatte aus-drücklich hinweisen sollte. Für die geleistete Arbeitmöchte ich mich an dieser Stelle bedanken.
Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbändehat deutschlandweit immerhin 48 500 Chöre mit2,5 Millionen Mitgliedern. Hier sind Ehrenamtliche un-terwegs, die in ihrer Freizeit anderen Mitbürgerinnenund Mitbürgern Lebensqualität, Freude am Leben,Freude am Gesang – der Kollege Börnsen hat es sichnicht nehmen lassen, hier zu singen – vermitteln. Daszeigt, dass wir optimistisch und positiv in die Zukunftschauen können. Das können wir auch über unsereChöre und Verbände organisieren.
Ich bedanke mich noch einmal bei der Jugendarbeit.Ich selber bin stellvertretender Bezirksvorsitzender imNordbayerischen Musikbund, war viele Jahre lang alsKreisvorsitzender für 75 Blaskapellen zuständig. Jetztbin ich für 360 Kapellen mit zuständig. Ich weiß aus ei-gener Erfahrung: Wenn über 300 000 Kinder und Ju-gendliche allein über die Deutsche Bläserjugend vomBund mit gefördert werden, so ist das eine sinnvolle zu-kunftsfähige Jugendarbeit. In mehr als 10 000 Spiel-manns- und Fanfarenzügen sind unsere Jugendlichen or-ganisiert.Frau Kollegin Jochimsen, eines tut mir weh, wenn Sieversuchen, Jazzmusik und Bayreuth gegeneinander aus-zuspielen. Wir sollten uns in Deutschland mit unserervielfältigen Kulturszene beides leisten können. Bayreuthdarf gefördert werden. Ich bin froh, dass der Staatssekre-tär der Debatte zugehört hat. Herr Kollege Koschyk, dasist ein Aushängeschild deutscher Kultur. Das sollte mannicht verstecken und man sollte nicht sagen: Wir könnenes nicht fördern.
Der Bekanntheitsgrad Bayreuths ist nicht nur für dieRegion, nicht nur für Bayern, nicht nur für Deutschland,nicht nur für Europa wichtig, er ist für die ganze Weltwichtig. Wir sind stolz darauf, dass Wagner und Bay-reuth auch über die Festspiele ein Markenzeichen fürdeutsche Kultur sind. Das sollten wir nicht schlechtre-den.
Ich wünsche uns weiterhin ein konstruktives Mitar-beiten, damit wir die Kultur in Deutschland weiterentwi-ckeln, Frau Kollegin Krumwiede, damit wir in Zukunfteine vielfältige Kulturlandschaft mit Laienorchestern,Profiorchestern, Jazzkapellen, Schlagzeugen in Jazzka-pellen – dort hat der Kollege Börnsen früher gespielt –haben. Wenn das gut weitergeht, hat die Gesellschaft da-von einen Nutzen. Dafür Sorge zu tragen, ist auch dieAufgabe der Politik. Herzlichen Dank an alle Gutmei-nenden, die hier mitwirken.Danke.
Damit schließe ich die Aussprache.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, HolgerKrestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPRohstoffderivatemärkte gezielt regulieren– Drucksache 17/8882 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHierzu haben die Fraktionen verabredet, eine Drei-viertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Herr Börnsen, ich weiß nicht, ob Sie jetzt im Duo sin-gen wollen. Vielleicht ist das auch draußen möglich.Ich würde gern dem Kollegen Ralph Brinkhaus fürdie CDU/CSU-Fraktion das Wort geben.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Er wird Ihnen den Ge-fallen tun, die Rede nicht vorzusingen.Meine Damen und Herren! Der Zugang zu Rohstoffenist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auchaus sozialen Gründen die zentrale Frage des 21. Jahrhun-derts. Deswegen ist es richtig, dass sich die Bundesregie-rung und die Koalitionsfraktionen dazu entschieden ha-ben, das zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen.Im Übrigen weiß ich, dass sich auch die Oppositions-fraktionen intensiv mit diesem Thema befassen. Es gibteine Vielzahl von Initiativen – in der Außenpolitik, inder Wirtschaftspolitik, in der Landwirtschaftspolitik undin der Entwicklungshilfe –, die das Thema Rohstoffe be-treffen.Ich denke, es ist Zeit, dass auch wir Finanzpolitikeruns mit diesem Thema beschäftigen, und zwar ganz kon-kret mit der Spekulation mit Rohstoffen, mit Rohstoffde-rivaten und Rohstofftermingeschäften. Dies will ich Ih-nen anhand von fünf Punkten erläutern:Erster Punkt: Worum geht es überhaupt? Was sindRohstoffderivate? Rohstoffe kennen wir alle, die holtman aus der Erde oder vom Acker. Mit Rohstoffen ist imÜbrigen schon immer gehandelt worden, vom KlafterHolz in der Antike bis zu den Seltenen Erden, die manheute braucht, um Handys zu produzieren. Es gab auchimmer schon die Spekulation mit Rohstoffen oder Ter-mingeschäfte mit Rohstoffen: Als Beispiel nenne ich denBauern im Mittelalter, der sein Saatgut nicht bezahlenkonnte und dafür dem Saatguthändler versprochen hat:Ich gebe dir für das Saatgut im Herbst einen Teil meinerErnte. – Heutzutage ist es der Stahlproduzent, der einefeste Lieferverpflichtung gegenüber VW und Audi zu ei-nem gewissen Preis zu erfüllen hat und der heute schonwissen möchte, was er am Ende des Jahres für Eisenerzbezahlen muss.Diese beiden Beispiele haben eines gemeinsam: Ers-tens werden Verträge über Dinge abgeschlossen, die eskörperlich noch nicht gibt und die noch nicht zur Verfü-gung stehen. Zweitens sind diese Geschäfte gar nicht sounvernünftig; denn sie machen wirtschaftlich durchauseinen Sinn.Trotzdem machen wir uns Sorgen um den Markt fürRohstoffderivate. Warum machen wir uns diese Sorgen?Diese Sorgen machen wir uns deswegen, weil wir einigealarmierende Entwicklungen sehen. Die erste alarmie-rende Entwicklung ist die starke Schwankung der Roh-stoffpreise. Normal wäre es, dass die Rohstoffpreise stei-gen, weil es eine erhöhte Nachfrage gibt, weil auf dieserWelt mehr Menschen leben, die essen und etwas konsu-mieren wollen. Dass die Preise jedoch stark schwanken,ist beunruhigend – im Übrigen nicht nur für uns in derPolitik, sondern auch für die mittelständische Wirtschaft,die ja damit leben muss.Zweiter Punkt. Wir sehen, dass im Rohstoffderivate-bereich eben nicht nur der von mir erwähnte Bauer oderdas Stahlwerk, zusammen mit den Hausbanken, tätigsind. Nein, wir sehen vielmehr, dass in diesem Bereichauch Investmentbanken Fuß fassen und sich dort Hedge-fonds und Versicherungen tummeln. Wir sehen, dass un-glaublich viel Kapital in diesen Bereich hineinfließt unddass es in dem Zusammenhang immer wieder Empfeh-lungen gibt: Geht weg von unsicheren Produkten wiebeispielsweise Staatsanleihen und investiert in Roh-stoffe!Das müsste uns zunächst einmal nicht beunruhigen,und wir könnten sagen: Es ist uns doch egal, was da pas-siert. Aber wir sind gebrannte Kinder, und zwar deshalb,weil es auf dem Markt der Finanzderivate zu einer ähnli-chen Entwicklung kam. Es gibt einige Parallelen: Manhat Sicherungsgeschäfte getätigt über Zins und überWährung. Das geschah aus sehr gutem Grund und warAnfang der 80er-Jahre auch noch eine tolle Sache.Dann haben wir jedoch gesehen, dass sich das Volu-men dieser Geschäfte verhundertfacht hat. Ein erhebli-cher Teil der Probleme, zu denen es im Rahmen der Fi-nanzmarktkrise gekommen ist, ist genau auf diesenMoloch Derivatemärkte zurückzuführen, der mittler-weile das Vielfache des Bruttosozialproduktes der gan-zen Welt umfasst und der mit menschlichem Vorstel-lungsvermögen von den Zahlen her mit all den Nullenschon gar nicht mehr fassbar ist. Dementsprechend musser derzeit von uns mühsam zurückgeführt werden.Genau diese Probleme wollen wir im Zusammenhangmit den Rohstoffmärkten vermeiden. Das wollen wirauch aus einem anderen Grund, nämlich weil Rohstoffeeine andere Bedeutung haben als Geld. Ich kann gegebe-nenfalls ohne Geld Stahl produzieren, aber nicht ohneEisenerz. Das heißt: Es hängt viel von diesen Rohstoffenab. Deswegen führen Rohstoffe auch zu sehr starken
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19600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Ralph Brinkhaus
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Verwerfungen. Wegen Rohstoffen werden Kriege ge-führt, beispielsweise im Kongo wegen Coltan. Aufgrundvon Rohstoffspekulationen kommt es zu Hungersnötenund sozialen Verwerfungen. Ich denke, deswegen ist eswichtig, dass wir dieses Thema anpacken.Dritter Punkt: Wie packen wir es an? Welche Mög-lichkeiten stehen uns offen? Zunächst einmal brauchenwir Transparenz. Wir müssen wissen, was dort über-haupt passiert. Alles, was ich bislang gesagt habe, beruhtauf Indizien. Es handelt sich um Vermutungen, weildiese Geschäfte völlig intransparent abgewickelt wer-den. Deswegen brauchen wir Meldepflichten und Platt-formen, über die diese Geschäfte abgewickelt werden.Weiterhin brauchen wir Regeln für Rohstoffderivate-geschäfte, und zwar strenge Regeln, damit wir nicht ineine Risikosituation hineingeraten, wie das bei den Fi-nanzmärkten der Fall war. Überdies brauchen wir außerden Regeln noch eine Aufsicht, die die Einhaltung derRegeln überwacht. Diese Aufsicht muss vor allem kom-munizieren, nicht nur im Finanzmarktbereich, sondernbeispielsweise auch mit der Welternährungsorganisationoder mit anderen Organisationen, die für Rohstoffe zu-ständig sind.Schließlich brauchen wir ein Eingriffsinstrumenta-rium. Die Aufsicht muss auch eingreifen können. Siemuss sagen können: „Geschäfte in dieser Höhe erlaubenwir nicht“ – da spricht man von Positionslimits – oder:„Wir untersagen Geschäfte ganz“ oder – letzter Punkt –„Wir untersagen missbräuchliche Geschäfte“, zum Bei-spiel wenn Insiderhandel stattfindet. Ich denke, es gibteinige Eingriffsmöglichkeiten. Aber einer Eingriffsmög-lichkeit wollen wir uns versagen: dem kompletten Ver-bot von Rohstoffderivategeschäften; denn sie können –ich habe es bei meinem Eingangsbeispiel gesagt – durch-aus den wirtschaftlichen Nutzen der Absicherung haben.Wer kann das umsetzen? Am besten natürlich dieG 20, indem sie eine weltweite Regelung findet, bei derkein Land ausscheren kann. Die Erfahrungen, die wirmit der G 20 gemacht haben, die sich im Übrigen mitdiesem Thema beschäftigt, ist, dass das erstens langedauert und dass zweitens immer wieder irgendwelcheLänder sagen: „Wir machen da nicht mit“. Insofern müs-sen wir ganz realistisch sein: Wir haben da keine schnel-len Ergebnisse zu erwarten.Die zweite Möglichkeit wäre eine Lösung auf europäi-scher Ebene. Die Europäische Kommission hat einPositionspapier hierzu vorgelegt. Das ist auch ein Aufrufan die Bundesregierung, daran mitzuarbeiten und sicheinzubringen. Ich denke, wir werden dort einiges auf denWeg bringen können.Zur letzten Möglichkeit. Wenn auch das nicht fruchtetund wir auf europäischer Ebene nichts hinbekommen,dann müssen wir schauen, was wir auf deutscher Ebeneregeln können. Wir haben das in einigen Fällen durch-exerziert. So haben wir im Alleingang die Leerverkäufeverboten; heute ist das europäischer Standard. Wir habenein Gesetz zur Restrukturierung von Banken auf denWeg gebracht. Heute steht in der Zeitung: Österreichschreibt das so ab, wie wir es aufgesetzt haben. Dasheißt, es lohnt sich, an der einen oder anderen Stelle vo-ranzugehen. Ich glaube, das Thema ist so wichtig, dassman das auch hier machen sollte.Aber es gibt natürlich auch Kritiker, die sagen: DieRohstoffderivatemärkte sollten gar nicht reguliert wer-den, weil Spekulationen und Derivate wichtig sind; dennsie tragen dazu bei, dass es auf den Märkten eine besserePreisfindung gibt, dass Liquidität, dass Angebot undNachfrage organisiert werden. Richtig; das wollen wirauch. Aber wenn wir erkennen, dass die Finanzderivate-märkte ein Volumen von über 600 Billionen US-Dollarhaben, ein Vielfaches des Bruttosozialprodukts, das inder Welt erwirtschaftet wird – ich habe es eben schon er-wähnt –, dann müssen wir ganz ehrlich sagen: Ein sogroßes Volumen brauchen wir nicht, damit die richtigenPreise entstehen und Liquidität in den Markt kommt.Deswegen sagen wir ganz klar: Es gibt eine Legitimationdafür, in diese Märkte einzugreifen und sie zu regulie-ren. Die Argumente der Gegner einer Regulierung ansich sind an der Stelle zu schwach, als dass ich sie geltenlassen würde.Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erklärt, wa-rum wir das Thema Rohstoffderivate angehen müssen.Ich habe aufgezählt, mit welchen Instrumenten man dasmachen kann. Ich habe Ihnen gezeigt, wer das machenkann bzw. auf welcher Ebene man das machen kann. Ichhabe auch gesagt, dass es Kritiker gibt, aber dass manmit den kritischen Argumenten durchaus umgehen kann.Ich denke, alles in allem ist das Thema wert, dass wir esangehen. Der Entschließungsantrag, der heute von derCDU/CSU-Fraktion zusammen mit den liberalen Kolle-gen vorgelegt wird, ist dabei ein erster Schritt, genausowie der Kongress zu diesem Thema, den die CDU/CSU-Fraktion am Montag zusammen mit den Finanzpoliti-kern, aber auch mit den Entwicklungspolitikern durch-geführt hat. Diese ersten Schritte sind wichtig, aber essind natürlich nicht die abschließenden Schritte; wir sindnicht am Ende.
Wir sind sehr gespannt darauf, welche zusätzlichenAnregungen wir von der Opposition, von der Wissen-schaft und auch aus der Praxis bekommen. Ich glaube, esist höchste Zeit, dass wir Finanzpolitiker uns mit diesemThema beschäftigen, dass wir es angehen. Insofernfreuen wir uns auf eine kritische, konstruktive Diskus-sion. Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir bei denRohstoffderivatemärkten relativ schnell verhindern, wasbei den Finanzderivatemärkten passiert ist. Ich bin opti-mistisch, dass wir das gemeinsam hinbekommen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für dieSPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Tatsache, dass die Regierungskoalition die Verwer-fungen auf den Rohstoffmärkten endlich hier im Deut-schen Bundestag thematisiert, muss man schon als Fort-schritt bezeichnen. Der Kollege Brinkhaus nennt dashier „die ersten Schritte“. Das sind späte erste Schritte.Die Probleme werden schon lange thematisiert. Sie sindvielfach auch in diesem Hause diskutiert worden; es gabdazu verschiedene Initiativen. Wir von der SPD-Fraktionwie auch andere haben dieses Thema schon vor längererZeit angesprochen. Lange hat es gedauert; immer gab esabwehrende Reaktionen. Jetzt scheint ein gewisser Ruckdurch die Koalition gegangen zu sein. Da kann man nursagen: Schwarz-Gelb, bravo! – Das hat aber lange ge-dauert und wurde wirklich Zeit.
Ihr Antrag mit der Überschrift „Rohstoffderivate-märkte gezielt regulieren“ weckt große Erwartungen.
Wenn man ihn sich allerdings genauer anschaut, dannmacht sich – so war es jedenfalls bei mir, Herr Kollege –tiefe Enttäuschung breit. Denn ähnlich wie in der Redemeines Vorredners werden die Probleme hier auf einerbeschreibenden Ebene benannt, und es sind Tausendevon Prüfaufträgen vorgesehen. Es kommt aber nichtsKonkretes. Es sind alles Dinge, die lange bekannt sind.
Ihr Antrag kommt sehr spät.Sie greifen viele Verwerfungen auf und wollen ersteinmal die Entwicklung beobachten. Meine Damen undHerren, Sie sind nicht auf der Vogelwarte eines Natur-reservats. Sie regieren. Sie können sich nicht mit Be-obachtungen zufriedengeben, sondern müssen an dieserStelle handeln.Ich sage das auch deshalb, weil wir – da will ich auf-nehmen, was hier eben gesagt worden ist – Entwicklun-gen auf den Rohstoffmärkten wahrnehmen, die nichtmehr damit zu erklären sind, dass sich Angebot undNachfrage auseinanderentwickeln, dass die Nachfragezu groß ist, dass es vielleicht realwirtschaftliche Fakto-ren wie Produktionseinbrüche und Produktionsschwie-rigkeiten, Naturkatastrophen und anderes gibt. DieseEinflüsse sind es eben nicht, die dazu geführt haben,dass es auf den Rohstoffmärkten zu Preisexplosionen, zuPreisblasen und anderem gekommen ist und immer mehrMenschen in die Hungersnot getrieben werden, dadurchallein 40 Millionen im letzten Jahr. Das ist mit realwirt-schaftlichen Faktoren nicht mehr zu erklären. In diesemZusammenhang möchte ich den Präsidenten der Welt-bank, Herrn Zoellick, zitieren, der von einem giftigenGemisch aus menschlichem Leid und sozialem Aufruhrspricht und darauf hinweist, dass es zu Verselbstständi-gungen auf den Derivatemärkten gekommen ist, die zudieser Situation geführt haben.Es hat Preisexplosionen gegeben. Der Preis fürGrundnahrungsmittel beispielsweise hat sich verdoppelt.Bei Weizen, Mais, Reis ist es in den Jahren zwischen2000 und 2011 sogar zu einem Anstieg von über150 Prozent gekommen. Den Grund dafür hat KollegeBrinkhaus angesprochen. Allerdings hat er die Verselbst-ständigung auf diesen Derivatemärkten als Marktent-wicklung bezeichnet. 1990 waren wir in der Situation,dass die Derivatemärkte ein Weltvolumen von 2 Billio-nen Euro und das reale Weltbruttoinlandsprodukt 20 Bil-lionen Euro umfasst haben; es herrschte also ein Verhält-nis von 1 : 10. Im Jahre 2010 waren es 600 BillionenEuro an Derivaten und 60 Billionen Euro an realemWeltbruttoinlandsprodukt. Das Verhältnis betrug also10 : 1. Die Welt ist auf den Kopf gestellt worden, unddas ist auch die Ursache für die Explosion auf den Roh-stoffmärkten. Dies müssen wir mit den Regulierungenauf den Finanzmärkten angehen. Davon sprechen wirschon lange, aber Sie nehmen das erst jetzt auf – zu spät,wie ich schon sagte.
Wenn man sich anschaut, was Sie jetzt prüfen wollen,dann stellt man fest, dass Sie nichts weiter machen, alssich in dem Regime zu bewegen, das wir schon kennenund das aufgrund der Regulierung, die die EuropäischeKommission vorschlagen wird, kommen wird. Da gehtes um die Finanzmarktrichtlinie zur Regulierung desWertpapierhandels; MiFID ist angesprochen worden. Siesagen, man solle sie nutzen, um die Transparenz auf denMärkten zu erhöhen. Richtig! Aber was heißt das kon-kret? Sind Sie bereit, sehr schnell Maßnahmen zu ergrei-fen, damit wir zentrale Verrechnungsstellen für die Be-reiche einrichten, die neben den Börsen und im Schattenvon wichtigen wirtschaftlichen Ereignissen bestehen?Das sagen Sie nicht konkret. Sie sprechen davon, dassdas Entstehen von Preisblasen eingeschränkt werdensoll. Wie wollen Sie das machen, meine Damen undHerren? Auch darauf finden wir keinen Hinweis. BeiAgrarderivaten fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein,als die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen. Ichsage es noch einmal: Das ist zu spät.
– Diese Entwicklung ist in den letzten elf Jahren voran-geschritten, aber man hat das erst mit Ausbruch derFinanzkrise gemerkt, Herr Kollege.
Ich will deutlich sagen: Es war der sozialdemokratischeFinanzminister Peer Steinbrück, der in Pittsburgh mitdeutlichen Worten vorangegangen ist.
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19602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Seit 2009 regieren Sie. Sie schaffen an dieser Stelleüberhaupt nichts. Ihre Krakeelerei drückt Ihre Armselig-keit aus; sie zeigt nämlich, dass Sie keine Argumentehaben. So kommen Sie nicht weiter.
Herr Kollege, möchten Sie die Zwischenfrage des
Kollegen Heiderich zulassen? – Bitte schön.
Herr Kollege Sieling, ist Ihnen bekannt, dass die Bun-
deskanzlerin schon beim G-8-Gipfel ein Programm auf
den Weg gebracht hat, um die Spekulationen auf den
Agrarmärkten einzudämmen? Ist Ihnen dieses Pro-
gramm bekannt? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
wir bereits gehandelt haben und dass ein Teil der Lö-
sung, nämlich erst einmal Transparenz auf den Märkten
zu schaffen, bereits existiert? Insofern agieren wir nicht
erst heute, sondern schon seit geraumer Zeit.
Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege. Das ist mir
sehr wohl bekannt, und nicht nur mir.
Dieses Thema wird seit Jahren, allerspätestens zum jet-
zigen Zeitpunkt intensiv diskutiert: in der Öffentlichkeit,
auf internationalen Plattformen und auch hier im Hause
aufgrund verschiedener Aktivitäten und Anträge. Wir
sind überrascht und auch entsetzt darüber, dass die Ko-
alition erst jetzt aufwacht. Sie hätten schon viel weiter
sein können, wenn Sie sich in diesem Punkt von der
Kanzlerin hätten mitschleppen lassen.
Ich frage mich: Warum kommen Sie erst jetzt mit Ihren
Prüfaufträgen? Warum dackeln Sie erst jetzt hinterher?
Das zeigt nur: Diese Koalition ist nicht handlungsfähig
und nicht in der Lage, entsprechende Maßnahmen zu er-
greifen.
– Herr Kollege, es ist natürlich immer dasselbe, weil das
Elend mit Schwarz-Gelb immer dasselbe ist.
Das ist die Ursache. Verwechseln Sie nicht Ursache und
Wirkung.
Muss das eigentlich so laut sein, Frau Präsidentin?
Das muss nicht so sein. Sie sind aber auf jeden Fall
lauter; für Sie haben wir das Mikrofon angestellt.
Das nutze ich auch für mich. Ich bedanke mich.
Ich möchte zum Schluss sagen,
dass ich es natürlich nicht versäumt habe, mir anzu-
schauen, was Herr Rösler in den letzten Tagen vorgelegt
hat. Auch dies ist ein Dokument in dem bereits genann-
ten Sinne: eine Aufzählung von bekannten Allgemein-
plätzen. Die Bereitschaft, zu handeln, fehlt. Nehmen Sie
sich endlich der Entwicklung auf den Derivatemärkten
an, und ergreifen Sie entsprechende Maßnahmen! Ich
frage mich, warum Sie zu den vielen Vorschlägen, die es
gibt, nichts Konkretes sagen. Warum ergreifen Sie nicht
die Gelegenheit beim Schopf und schlagen uns die Ein-
führung eines wesentlichen Instruments vor?
Warum sprechen Sie sich nicht für die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer zur Beschränkung der Finanz-
märkte aus?
Ich hoffe, die nächsten Redner haben trotz der FDP den
Mut, das zu sagen.
Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! In der Tat ist dieses Thema von außerordentli-cher Wichtigkeit, und zwar aus zwei Gründen. Zum ei-nen ist die Rohstoffversorgung von elementarer Bedeu-tung für die deutsche Wirtschaft. Die Industrie muss mitRohstoffen versorgt werden. Die Industrie produziertGüter und schafft damit überhaupt erst die Möglichkeit,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19603
Björn Sänger
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dass sich der Arbeitsmarkt im tertiären Sektor so wahn-sinnig gut entwickelt, wie er sich in der Vergangenheitentwickelt hat. Rohstoffe sind die Grundlage für jedeserfolgreiche Wirtschaften, für jede Form von Wirt-schaftswachstum. Deswegen haben sie eine große Be-deutung für Deutschland.Zum anderen gibt es Rohstoffe, die wir alle zum Le-ben brauchen, nämlich die Lebensmittel. Deshalb erfährtdieses Thema eine besondere Beachtung. Es wird vonden Menschen in besonderer Art und Weise wahrgenom-men, weil es ihr unmittelbares Lebensumfeld betrifft.Dieses Thema ist daher moralisch-ethisch aufgeladen.Dieser Bereich ist nicht grau, vielmehr bunt, auf garkeinen Fall aber schwarz-weiß. Rohstoffderivatgeschäftesind wichtig für die Realwirtschaft; denn sie hat ein Inte-resse daran, sich gegen Risiken abzusichern. Der Her-steller von Pommes frites zum Beispiel möchte dasganze Jahr über Pommes frites anbieten, und zwar ingleichbleibender Qualität und – das ist auch aus Sichtder Verbraucher wichtig – zu einem gleichbleibendenPreis. Deswegen versucht er, sich Kartoffeln möglichstfrühzeitig zu sichern. Dazu nutzt er ein Derivat. Insofernhaben Derivate eine wichtige Funktion auf diesemMarkt.Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen schon im-mer gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenenFaktoren beeinflusst werden. Da ist zum einen dieKnappheit des Gutes. Es kommt darauf an, wie man andas Gut herankommt. Das ist teilweise relativ aufwen-dig. Das wird klar, wenn wir zum Beispiel an den Berg-bau denken. Wir haben Unwägbarkeiten: Wenn eineGrube verschüttet ist, steht sie erst einmal nicht zur Ver-fügung. Das bedeutet, dass es sofort zu einer Verknap-pung des Gutes und in der Folge zu einer Preisschwan-kung kommt. Auf den Agrarmärkten hat man mit demBevölkerungswachstum zu kämpfen und nicht zuletztmit dem Wetter und der politischen Lage in den jeweili-gen Fördergebieten, die bezogen auf einige Märkte au-ßerordentlich heikel ist.Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unter-wegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand mussdas Risiko übernehmen. Nicht immer hat man eine ent-sprechende Gegenpartei zur Verfügung. Das heißt, manbraucht jemanden, der bereit ist, zu sagen: Okay, ichnehme dieses Risiko auf mich. – Das kennen wir bei-spielsweise von den Buddenbrooks. In dem großen Ro-man von Thomas Mann hat Thomas Buddenbrook dieJahresernte von Gut Pöppenrade zum halben Preis „aufdem Halm“ gekauft und damit Schiffbruch erlitten, weiles einen Hagelschlag gegeben hat. Buddenbrook hat alsSpekulant das Risiko auf sich genommen. In diesem Fallwar das positiv für den Gutsbesitzer; denn er hatte fürseine Ernte zumindest den halben Preis erzielt.Wir beobachten – auch das ist richtig –, dass Finanz-investoren zunehmend auf Rohstoffmärkte ausweichen.Diese Entwicklung kann man durchaus erklären: Die Fi-nanzinvestoren weichen von den stärker reguliertenMärkten auf einen Markt aus, von dem sie den Eindruckhaben, dass er noch nicht so stark reguliert ist. Man musssagen: Auch das ist nicht zuletzt ein Erfolg der Regulie-rungsbemühungen dieser Bundesregierung und der sietragenden Koalitionsfraktionen.
Wir wollen diese „Finanzialisierung“ der Rohstoff-märkte, wie es heißt, an dieser Stelle aber nicht. Wirmöchten, dass die Rohstoffmärkte ganz normal, von dennatürlichen Preisschwankungen getrieben werden. Siesollen einen realwirtschaftlichen Hintergrund haben undvon den natürlichen Faktoren beeinflusst werden. DieseFinanzialisierung kann die Schwankungen verstärken.Das genau wollen wir nicht.Was wir auch nicht wollen, sind entsprechende Preis-obergrenzen im Bereich der Landwirtschaft – das ist einInstrument, das immer wieder ins Spiel gebracht wird –;denn wenn man eine Preisobergrenze festsetzt, mussman natürlich auch eine Preisuntergrenze festsetzen, so-zusagen einen Mindestpreis einführen. Das wäre einEingriff in den Markt, den wir an dieser Stelle nicht wol-len.Mit dem vorliegenden Antrag sollen die Bemühungender Bundesregierung unterstützt werden. Er liefert Argu-mente und zielt darauf, dass der Deutsche Bundestagseinen politischen Willen zum Ausdruck bringt. DieMaßnahmen, die die Bundesregierung auf G-20- undEU-Ebene bereits angestoßen hat, sollen weiter in dierichtige Richtung vorangetrieben werden.Wir schlagen ein Bündel von Maßnahmen vor, mitdenen wir die Fehlentwicklungen in den Griff bekom-men können. Die Transparenz ist ein ganz scharfesSchwert;
denn der Spekulant scheut das Licht. Eine Spekulationist nur dann erfolgreich, wenn Sie über Wissen verfügen,das nur Sie haben. Nur dann können Sie Gewinne ma-chen. Daneben haben wir die Positionslimits. Auch dasist ein Mittel, um Spekulationspositionen zu vermeiden.Wir wollen eine verstärkte Zusammenarbeit der Auf-sichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Überblickzu haben, wie sich ein Markt entwickelt, und Fehlent-wicklungen zielgerichtet unterbinden zu können. Da-rüber hinaus greift der Antrag den Hochfrequenzhandelauf – es ist richtig, dass dies getan wird – und verortetihn als einen Bereich, der einer Regulierung bedarf.Auch hier unterstützen wir die Bundesregierung in ihrenBemühungen, diesen Bereich einer Regulierung zuzu-führen. Die Hochfrequenzhändler sollen unter Finanz-aufsicht gestellt werden, und den Börsenbetreibern sol-len weitere Mittel an die Hand gegeben werden, umgegebenenfalls einzuschreiten.
Unter dem Strich geht es in dem Antrag um Folgen-des: Wir unterstützen die bereits getroffenen Maßnah-men der Bundesregierung sowie die von ihr mitgetrage-
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19604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Björn Sänger
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nen Maßnahmen auf EU-Ebene und auf G-20-Ebene.Wir als Deutscher Bundestag dokumentieren hier unse-ren Willen, die Bundesregierung bei der Umsetzung derMaßnahmen, die bereits getroffen wurden, weiterhin zuunterstützen. Es ist ein sehr guter Antrag. Man kann ihmzustimmen.Herzlichen Dank.
Ulla Lötzer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Natürlich müssen wir in diesem Zusammenhang über dieRolle der Finanzmarktakteure und der neuen Finanzin-vestoren auf den Rohstoffmärkten reden. Sie haben zwi-schen 2003 und 2008 ihre Investitionen in die Rohstoff-märkte von 13 Milliarden Euro auf 200 Milliarden Euroerhöht; inzwischen haben sie diese Summe verdoppelt.Die Deutsche Bank ist einer der wichtigsten Spieler indiesem Derivatemarkt. Sie hat knapp 5 Milliarden US-Dollar direkt in Agrarrohstofffonds und knapp 3,6 Mil-liarden US-Dollar in Energiefonds investiert, 45 eigeneRohstofffonds aufgelegt und beschäftigt in diesem Be-reich 250 Fachleute in 21 Städten. Sie wollen mir dochnicht im Ernst sagen, dass dies mit einer Absicherunggegen Preis- und Währungsschwankungen bei Realge-schäften zu tun hat. Das hat mit Spekulationen und Mil-liardengewinnen zu tun.
Der Agrarfonds der Deutschen Bank gilt als weltweitgrößter. Es geht aber nicht nur um Spekulationen. DieseAnleger sind zusammen mit den fünf bis sechs großenBergbaukonzernen, den Rohstoffhändlern wie Glencoreund den Agrarmultis verantwortlich für Hungersnöte,Landgrabbing, skandalöse Arbeits- und Umweltbedin-gungen beim Abbau von Rohstoffen in Entwicklungs-ländern und, wie es in Ihrem Ressourceneffizienzpro-gramm heißt, für 18 Kriege, die durch Konflikte umRohstoffe verursacht werden. Deshalb sind diese De-batte und entsprechende Maßnahmen dringend erforder-lich. Es ist schön, dass jetzt auch Schwarz-Gelb diesesThema aufgreift und einen Vorschlag macht; besser spätals nie. Aber die Maßnahmen, die Sie treffen, sind injeglicher Hinsicht völlig unzureichend.Erstens. Sie sind nicht, wie hier eben dargestellt, derTreiber auf der Ebene der G 20, wenn es um die Begren-zung geht, sondern eher der Bremser. Bei Agrarrohstof-fen und sogenannten Konfliktmetallen sind zum Beispielselbst die USA weiter. Sie treffen Maßnahmen, die dieBundesregierung ablehnt. Dort wurde beispielsweise dasVorsichtsprinzip eingeführt. Das heißt, dass Behördenaufgefordert sind, exzessiver Spekulation vorzubeugen.Das fehlt bei Ihnen völlig. In den USA wurde bereits2010 festgelegt, dass börsennotierte Unternehmen undderen Zulieferer der Aufsichtsbehörde Rechenschaftüber die Herkunft bestimmter Konfliktrohstoffe und da-mit zusammenhängender Zahlungsströme ablegen müs-sen. Die Einführung einer solchen Vorschrift auf euro-päischer Ebene verweigert die Bundesregierung.Zweitens. Der europäische Vorschlag sieht zumindestObergrenzen für die Zahl der abgeschlossenen Verträgevor, die einzelne Händler eingehen können, sogenanntePositionslimits. Sie wollen das jetzt mit alternativen Re-gelungen, über die Sie sagen, sie hätten eine gleichwer-tige Wirkung, aufweichen. Das wäre wieder das perfekteSchlupfloch für die Finanzindustrie, die ihre Lobbytätig-keit seit Wochen in diese Richtung konzentriert.Drittens. Sie ziehen keine Konsequenz aus Ihrer Ana-lyse des Hochfrequenzhandels. Dieser wird durch eigen-ständig handelnde Hochleistungscomputer auf Basiselektronisch erhaltener Marktinformationen betrieben.Wegen der großen Menge lassen sich hier mit minimalenKursdifferenzen Milliardengewinne erzielen. Das hatnichts, aber auch gar nichts mit einer Absicherung gegenPreisänderungen oder Wechselkursrisiken bei realen Ge-schäften zu tun. Deshalb gehört der Hochfrequenzhandelwie andere außerbörsliche Geschäfte ganz einfach ver-boten und nicht nur registriert.
Viertens. Sie machen keine konkreten Vorschläge zurErhöhung der Transparenz bezüglich Rohstoffhändlern,-investoren und -produzenten. Das wäre aber neben derBeschränkung der Spekulation äußerst dringend.Die FDP meinte bei einer Anhörung Anfang Februardieses Jahres, dass die Regierungen der Entwicklungs-länder selbst die Verantwortung dafür hätten, transpa-rente Rohstoffwertschöpfungsketten aufzubauen. Ich be-streite sicherlich nicht, dass es in dem einen oderanderen Land schwache Regierungsstrukturen und Kor-ruption gibt. Aber auch Sie wissen, dass die Rohstoff-märkte durch mächtige transnationale Konzerne und in-zwischen auch durch Finanzinvestoren außerordentlichvermachtet sind.Es gibt viele Beispiele dafür, dass lateinamerikani-sche Länder die Rohstoffförderung aufgrund ihrer nega-tiven Erfahrungen mit diesen skrupellosen Konzernen indie eigene Hand nehmen wollen oder zumindest hoheKonzessionszahlungen oder Steuern verlangen. Dannaber werden sie wegen Wettbewerbsverzerrung vor dieWTO gezerrt. Der freie Zugang zu billigen Rohstoffenist Ihnen wichtiger als Umwelt- und Sozialstandards, dieEntmachtung der Konzerne und Finanzmarktakteureoder die Verhinderung von Spekulation.Kurzum: Sie schützen nicht die Produzenten und Un-ternehmen, die realwirtschaftliche Risiken absichern.Erst recht nicht schützen sie die Menschenrechte. Siesorgen auch nicht für Konfliktfreiheit in Rohstofffragen.Sie sind die Bremser. Wenn Sie tatsächlich etwas tunwollen, dann müssen Sie endlich von dieser Bremse ge-hen, auf nationaler, europäischer und internationalerEbene.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19605
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der KollegeDr. Gerhard Schick.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass uns dieser Antrag vorliegt, ist grundsätzlich zu be-grüßen. Die Fragen sind bloß: Was steht eigentlich Sub-stanzielles drin? Ist das dem Problem wirklich angemes-sen? Herr Brinkhaus hat gerade gesagt, wir müssten imHinblick auf Rohstoffderivate das verhindern, was beiFinanzderivaten passiert ist. Diesem Satz kann ich nurzustimmen. Man muss aber darauf hinweisen, dass diejüngsten Preissteigerungen auf den Rohstoffmärktensehr viel damit zu tun haben, dass die Europäische Zen-tralbank gerade viel zusätzliche Liquidität in den Marktgibt und dies notwendig geworden ist, weil die Bundes-regierung das Problem mit ihrer Krisenpolitik nicht inden Griff bekommen hat. Das ist ein Teil der unangeneh-men Wahrheit.
Konkret zu Ihrem Antrag. Sie fordern erstens die kon-sequente Umsetzung der von den G 20 beschlossenenMaßnahmen. Das klingt knackig. Aber Sie weichendiese Forderung wieder auf. Ich will das deutlich ma-chen: Die G 20 haben beschlossen, dass konkrete Ex-ante-Positionslimits eingesetzt werden und die Regulato-ren über diese verfügen sollten. Was steht in Ihrem An-trag? Es sollen Alternativen zu starren Ex-ante-Limitsintensiv geprüft werden. Die harten Regeln, die die G 20festgelegt haben, wollen Sie offensichtlich nicht mehr.
Daran sieht man, dass hinter Ihren knackigen Worten anmanchen Stellen im Endeffekt eine Aufweichung derG-20-Positionen steht.
Das zweite Beispiel hört sich sehr interessant an. Siewollen, dass angemessene Eingriffsinstrumente einge-führt werden und die Transparenz erhöht wird. In Punkt2 c Ihres Antrags heißt es, man müsse den legitimen Ab-sicherungsinteressen der Realwirtschaft angemessenRechnung tragen. Wer die entsprechende Debatte in denUSA verfolgt hat, weiß: Dort ist nicht darüber geredetworden, dass die Interessen der Finanzindustrie einge-schränkt werden könnten. Dort hat man vielmehr ganzgezielt die realwirtschaftlichen Unternehmen vorge-schickt. Dadurch wurde die knackige Regulierung imHinblick auf Derivate im Endeffekt verhindert.Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie mit einer an-gemessenen Berücksichtigung der Realwirtschaft mei-nen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wirdals eigentlich gedacht. Wenn Sie diesen Interessenkon-flikt nicht klar offenlegen, dann sagen Sie nicht, was Siewollen. Dann sind die Überschriften, die Sie liefern,nicht viel wert.
Ich möchte ganz konkret auf einen Schwerpunkt ein-gehen, den wir in dieser Debatte legen. Dies betrifft dieFrage der Agrarrohstoffe. Herr Sänger hat gesagt, dieseDebatte sei manchmal moralisch-ethisch aufgeladen. Dahat es mich schier vom Stuhl gerissen. Die Debatte istnicht aufgeladen, sondern es ist eine ethische Debatte.
Wenn in Deutschland oder in Europa Menschen inProdukte investieren und davon profitieren, wenn derPreis für Weizen steigt, und wenn auf der anderen Seiteder Erde der Preis für Weizen steigt und deswegen Men-schen Schwierigkeiten haben, ihren Hunger zu stillen,dann ist das eine ethische Frage, und die muss man be-antworten.
Was steht dazu in Ihrem Antrag? Sie treten lediglichdafür ein, für Agrarderivate zusätzliche und strengereRegulierungsmaßnahmen zu „prüfen“.
Wir haben bereits einen Antrag vorgelegt, den Sieabgelehnt haben. In diesem Antrag haben wir etwasKonkretes dazu vorgeschlagen. Wir haben in diesem An-trag vorgeschlagen, Finanzinstituten soll untersagt wer-den, in physische Agrarrohstoffe zu investieren; dennwir müssen das trennen vom Markt für Finanzderivate.Banken sollen natürlich nach wie vor mit Finanzderiva-ten handeln müssen. Der Rohstoffbereich muss aberdavon getrennt werden, damit die „Finanzialisierung“,die Sie beklagen, wirklich zum Halten kommt. Ohnediese Schneise werden Sie das Phänomen, das Sie bekla-gen, nicht stoppen. Den Antrag, den wir dazu gestellthaben, haben Sie aber abgelehnt. Offensichtlich habenSie ein Problem damit.
Außerdem sind wir der Meinung, indirekte Investitio-nen über Derivate in Agrarrohstoffe sollen untersagtwerden. Wir sagen: Mit Essen spielt man nicht.
Ich will ein konkretes Beispiel nennen. Um einmalnicht die Deutsche Bank zu zitieren, habe ich mir ange-botene Produkte noch einmal angeschaut und ein Pro-dukt der Royal Bank of Scotland ausgewählt, nämlichein Open-end-Zertifikat auf Weizen. Solche Produkte
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19606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Gerhard Schick
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werden im Internet und an anderen Stellen schön bewor-ben: Profitieren Sie von der rasanten Preisentwicklungvon Agrarrohstoffen. Dies ist eines der Produkte, beidem Sie das tun können.Wir halten es ethisch aber nicht für richtig, die Preisevon Produkten in die Höhe zu treiben, die die Lebens-grundlagen von anderen Menschen sind. An dieser Stellesind wir für Verbote auf Finanzmärkten. Wir meinen, indiese Richtung sollte die Bundesregierung auch hier inDeutschland tätig werden, aber nicht nur einen Marke-tingantrag hier vorlegen.Vielen Dank.
Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Beiträge der Opposition waren nicht wirk-lich sehr hilfreich in einer doch sehr wichtigen Debattezu einem sehr wichtigen und bewegenden Thema, dasaus ethischen Gründen zu diskutieren ist, HerrDr. Schick. Wir sind Menschen – das gilt wahrscheinlichfür viele in diesem Haus –, die aus einer christlichenMotivation heraus Politik machen für die Menschen inder Verantwortung für unser Land, für Europa,
aber auch für die ganze Welt, ja, auch für die ganze Welt.
Deswegen müssen wir hier Regelungen finden, dieangemessen sind. Das Thema ist aber nicht so einfachabzugreifen, wie Sie es angesprochen haben, HerrDr. Schick. Ich glaube, man muss auch hier in die Veräs-telungen der Thematik schauen. Einfach Dinge zu ver-bieten – das hatte der Kollege Brinkhaus angesprochen –,das kann man aufgrund der weltweiten Komplexität derMaterie nicht.
Wir sind dabei, Regelungen zu finden. HerrDr. Sieling, Ihre Rede war diesem Thema nicht ange-messen. Sie beschuldigen uns, wir würden Dinge auf dielange Bank schieben.
Sie waren jedoch auch einmal an der Regierung undhaben das Thema nicht angepackt. Wir sind dabei, einengroßen Strauß von Themen zu bearbeiten, den Euro zuretten und vieles mehr richtig anzugehen und verlässli-che Entscheidungen für die Menschen auf den Weg zubringen. Dazu gehört auch der Rohstoffhandel. Wir müs-sen Lösungen für die Menschen finden, die angemessenund praktikabel sind. Das geht halt nicht mehr allein be-zogen auf Deutschland, sondern das geht nur europaweitbzw. weltweit.
Deswegen ist die Bundeskanzlerin dabei, auf der Ebeneder G 20 darüber zu verhandeln. Auf der europäischenEbene sind wir dabei, diese auf der Ebene der G 20 aus-gehandelten Dinge umzusetzen. Das dauert einfach. Hierbrauchen wir auch die Unterstützung des ganzen Hauses.Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig,dass etwas getan werden und man verlässliche Lösungenfinden muss. Der Populismus, den Sie hier an den Taggelegt haben, Herr Sieling, gehört aus meiner Sicht nichtwirklich dazu.
– Na ja, wir machen hier kein Marketing, sondern ver-lässliche Politik für die Menschen in Deutschland und inder Welt. Ich habe ja vorhin versucht, das anzusprechen.Prinzipiell sind Termingeschäfte im Rohstoffbereichnicht allgemein zu verteufeln. Sie dienen sowohl denProduzenten von Rohstoffen als auch den realwirtschaft-lichen Unternehmen als Instrument zur Absicherung vorPreisrisiken. Allerdings besteht die Möglichkeit, dassRohstoffderivate auch für spekulative Zwecke eingesetztwerden. Diese Spekulationen müssen wir verhindern;denn es darf nicht sein, dass hier Fehlentwicklungen auf-treten. Hier müssen gezielte Regulierungsmaßnahmeneingefordert werden.Fehlende Liquidität und mangelnde Absicherung sindAuswirkungen und können vor allem auf den Märktenzu schweren Verwerfungen führen. Wir als Bundesrepu-blik Deutschland haben in unserem Land nicht unbe-dingt sehr viele Rohstoffe. Deswegen ist für uns derRohstoffhandel natürlich wichtig. Wie vorhin schonangesprochen, gehört auch eine effiziente Regulierungauf die Tagesordnung unseres politischen Handelns.Die Transparenz ist eines der großen Themen, die wirhier ansprechen müssen. Es muss eine Aufsicht geben,die die Fehlentwicklungen sehr frühzeitig erkennt. Preis-übertreibungen auf den Terminmärkten müssen ein-gedämmt werden. Eine solide Informationsbasis be-schränkt darüber hinaus auch die Gefahren von Markt-missbrauch. Die Europäische Kommission hat bereits inihrem Vorschlag zur Überarbeitung der MiFID konkreteVorschläge zur Verbesserung der Transparenz gemacht.Die Transparenz ist aber nur ein Schritt für eine er-folgreiche Regulierung. Damit die Aufsichtsbehördengegen Fehlentwicklungen effektiv vorgehen können,brauchen sie die nötigen Eingriffsbefugnisse. ImRahmen der MiFID soll es hierzu die Möglichkeit zurVerhängung von Positionslimits geben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19607
Peter Aumer
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Weitere wichtige Bestandspunkte unseres Antragssind die strengere Regulierung des Hochfrequenzhan-dels, die Verbesserung der Aufsicht, die Prüfung strenge-rer Regeln für Agrarderivate und striktere Marktmiss-brauchsregelungen für Rohstoffderivate. Meine sehrgeehrten Damen und Herren der Linken, wir arbeitenalso schon daran, die Themen, die Sie angesprochen ha-ben, umsetzen zu können.
Die Spekulationen mit Rohstoffen, gerade im Nah-rungsmittelbereich, halte ich für bedenklich. Wir, diechristlich-liberale Koalition, setzen uns daher für eineeffektive Regulierung der Rohstoffderivatemärkte ein.Wir fordern eine rasche Umsetzung der Regeln auf euro-päischer Ebene. Das Wohlergehen der Menschen, meinesehr geehrten Damen und Herren in diesem HohenHause, muss Ziel unseres Handelns sein.Kollege Brinkhaus hat es angesprochen: Wir haben indieser Woche einen sehr interessanten Kongress derFraktionen gehabt, auf dem auch der Bundesfinanz-minister gesprochen hat. Er hat eine sehr wichtige Äuße-rung gemacht, die wir alle uns als Handlungsrahmengeben sollten. Er sagte: Wir müssen die Manipulations-risiken auf diesen Märkten verringern. Wenn wir demTreiben tatenlos zusehen, haben wir aus der Finanzkrisenichts gelernt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sieuns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Schlüsse ausder Krise, die wir im Moment bewältigen, ziehen kön-nen, auch in diesem Bereich. Wir leben in einem Land,in dem die Menschen darauf vertrauen, dass die Politikdie Dinge verantwortungsvoll umsetzt und dass wir demHandlungsrahmen folgen: unserem Grundgesetz und derWirtschaftsordnung, die wir uns gegeben haben, nämlichder sozialen Marktwirtschaft.Es gilt hier, dass Regelungen getroffen und Grenzengesetzt werden. Dies gilt auch in Bezug auf den Roh-stoffhandel. Das darf aber nicht nur in unserem Land,sondern muss auch auf europäischer Ebene und weltweitpassieren. Deswegen sollten wir gemeinsam daran arbei-ten, dass wir Wohlstand, Wachstum und Beschäftigungin unserem Land, in Europa und weltweit sichern kön-nen.Deswegen bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren An-trag; denn nur gemeinsam können wir verlässlich Politikfür die Menschen in unserem Land und auf dieser Weltmachen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat Lothar Binding das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen wa-ren enttäuscht darüber, dass wir den Antrag nichtrundum gut finden; denn die Überschrift finden wirrundum gut. Was erwartet man unter der Überschrift„Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“? Man hatschließlich seine Erwartungen, und als Opposition er-wartet man auch konkrete Vorschläge.Wir finden aber nichts zur Finanztransaktionsteuer.Wir finden nichts zum Trennbankensystem. Wir findennichts dazu, wie Handelsplattformen organisiert werdenmüssen, um graue und schwarze Märkte in den Griff zubekommen. Wir finden nichts dazu, wie Sie zwischenspekulativem und notwendigem Hedging unterscheidenwollen. Man merkt: Wir finden nichts Konkretes.Herr Brinkhaus wollte uns erklären, wie das Themaangepackt werden muss. Im Antrag finden wir das Stich-wort „Transparenz“. Transparenz funktioniert immerund überall; deshalb funktioniert es letztlich nirgends.
Im Antrag ist von angemessenen Eingriffsinstrumen-ten die Rede. Grundsätzlich sind wir sofort dafür, aberwir müssen auch wissen, was das konkret ist. Sie wollenden legitimen Absicherungsinteressen angemessenRechnung tragen. Schon wieder heißt es „angemessen“.Wir wollen doch alle angemessene Politik machen. Dasmuss man so nicht aufschreiben.Sie wollen strengere Regulierungsmaßnahmen. Diewünschen wir uns auch. Aber wie wollen Sie vorgehen?Wollen Sie irgendetwas Spezielles verbieten, oder habenSie Ideen? Nein. Es bleibt im Abstrakten und Allgemei-nen. Das macht die Sache kompliziert.Wir haben schon viel über Ethik gehört. Vielleichtkönnen wir die Moral noch dazunehmen. Die Agrar-märkte sind total unter Druck. Agrarmärkte heißt auch:Weizen, Mais und Sojabohnen. Wir wissen genau: DieVolatilität, also die Schwankungsbreite, der Preise imZeitverlauf führt dazu, dass die Preise kontinuierlichsteigen. Die kontinuierliche Preissteigerung hat etwasmit kontinuierlicher Gewinnzunahme zu tun. Die konti-nuierliche Gewinnzunahme hat etwas damit zu tun, dassimmer mehr Menschen ärmer werden. Deshalb wollenwir etwas dagegen tun.
Das kommt daher, dass Finanzinvestoren nicht nurvon den Preisschwankungen profitieren, nein, sie erzeu-gen sie auch. Deshalb muss man genau da ansetzen, Ar-bitragegeschäfte auf dieser Ebene zu verbieten. DiesenMut muss man haben. Das widerspricht natürlich jedemneoliberalen Konzept, demzufolge klar ist: Die Märktereinigen sich selbst. Genau diese Ideologie müssen wirdurchbrechen. Das merkt man Ihrem Antrag nicht an.Das hätten wir uns als Opposition aber gewünscht, weiles in diesen Märkten ein starkes Herdenverhalten gibt.So schaukeln sich die Preise auf.
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19608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Lothar Binding
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Wir wissen: Es gibt Schwarmintelligenz. Wir habenaber auch gelernt: In diesen Märkten gibt es noch mehrSchwarmdummheit.
Deshalb glaube ich, wir müssen den strengen, monoto-nen Preisgestaltungen durch diese Menschen oder sogarPreisgestaltungen, die durch automatische Investitions-entscheidungen entstehen, begegnen. Denn sowohl beiden Preissteigerungen machen Menschen Gewinne alsauch dann, wenn die Preise sinken. Wenn wir Pechhaben und es nur dumm genug anstellen, dann zahlt hin-terher der Steuerzahler zuerst den Gewinn des einen unddann den Gewinn des anderen.Wenn man diese Mechanismen nicht aufbricht, dannläuft der Antrag ins Leere. Mit dem Abstraktionsniveau,auf dem Sie Ihren Antrag formuliert haben, haben wir,glaube ich, noch keine Instrumente, um die Verteuerungspekulativer Transaktionen, eine Verlangsamung derHandelsfrequenz und eine Verlängerung der Assethalte-fristen zu erreichen und um letztendlich bestimmte not-wendige Hedgefunktionen in der Realwirtschaft zu er-halten.Wir wissen alle: Hedging an sich ist nicht böse, aberso, wie es heute betrieben wird, ist es sehr oft schädlichund vergrößert die Armut in der Welt.Ich glaube, dass es nicht nur um Finanzpolitik geht.Ich will nur einen Aspekt erwähnen. Es geht auchdarum, Handelsplätze zu koordinieren. Dazu brauchtman eine funktionierende Außenpolitik. Wenn wir unsso dilettantisch aufstellen und weiterhin eine solcheAußenpolitik betreiben, dass das Misstrauen gegenüberDeutschland zunimmt, dann kann der Finanzministerinternational keine diplomatische Plattform finden, aufder er das verabredet.Wir müssen deshalb eine Außenpolitik höherer Quali-tät erreichen. Wenn wir das schaffen, dann können wireine bessere Finanzpolitik machen.Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8882 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Dazu sehe ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Ar-
beitsplätze und Tarifverträge erhalten – Ein-
fluss der Beschäftigten stärken
– Drucksache 17/8880 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu
eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Sabine
Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bei Schlecker sollen 11 750 Arbeitsplätze ab-gebaut werden. Es sind vor allen Dingen Frauenarbeits-plätze. Viele Frauen sind alleinerziehend und viele jen-seits der 50. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlichdie Kolleginnen und Kollegen von Schlecker begrüßen,die heute „ihre“ Debatte verfolgen. Herzlich willkom-men!
Ich denke, ich spreche in eurem Namen, wenn ich sage:Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung denSchlecker-Beschäftigten bisher kein klares Signal gege-ben hat.
Es geht hier um die nackte Existenz der Kolleginnen undKollegen sowie ihrer Familien. Wir können doch nichtzulassen, dass so viele Arbeitsplätze in Deutschland ab-gebaut werden.
Die Linke sagt klar: Die Politik trägt eine Mitverant-wortung. Sie alle hier, die Fraktionen von SPD, Bünd-nis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP, haben die Ge-setze gemacht, die es einem Herrn Schlecker erlauben,ein Unternehmen mit Milliardenumsätzen nach Gutsher-renart zu führen.
Sie alle haben auch durch die Gesetzeslockerungen etwabei den Ladenöffnungszeiten dazu beigetragen, einenbrutalen Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel an-zuheizen und eine Spirale nach unten in Gang zu setzen.
Die Politik kann sich also nicht aus der Verantwortungstehlen. Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben amWochenende verlauten lassen, es seien 20 000 offeneStellen im Einzelhandel vorhanden. Sie haben aber ver-gessen, zu erwähnen, dass es zugleich 300 000 arbeits-lose Menschen in dieser Branche gibt. Wie soll das dennder Markt regeln?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19609
Sabine Zimmermann
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Offen bleibt auch, welchen Beitrag die Bundesregie-rung wenigstens für eine mögliche Transfergesellschaftleisten will. Hier brauchen wir schnell klare Antworten.
Es drängt sich im Übrigen der Verdacht auf: Dieser Re-gierung sind Frauenarbeitsplätze weniger wert, und dasheute, am 8. März.
Die Linke legt heute einen Antrag zur Rettung der Ar-beitsplätze bei Schlecker vor. Es geht um die Beschäftig-ten. Es geht nicht um Anton Schlecker. Er hat dieses De-saster maßgeblich zu verantworten. Er muss mit seinemvollen Familienvermögen haften. Wir brauchen hiervolle Transparenz über die Vermögensverhältnisse vonAnton Schlecker.
Die Beschäftigten haben das Unternehmen großge-macht, mit ihrer Hände Arbeit. Sie haben Betriebsrätegegründet. Sie haben für Tarifverträge gestritten. Das al-les darf doch nicht umsonst gewesen sein. Wir fordernvon der Bundesregierung, sich für ein alternatives Unter-nehmenskonzept starkzumachen. Das, was der Insolvenz-verwalter jetzt vorgelegt hat, ist kein Unternehmenskon-zept, sondern ein Kahlschlagkonzept.
Die Beschäftigten und Verdi wollen etwas anderes. Siewollen die Filialen und die Arbeitsplätze weitgehend ret-ten.Denkbar wäre etwa der Umbau des Unternehmens zueinem modernen Nahversorger mit starker Belegschafts-beteiligung.
– Sie können eigene Ideen einbringen – das ist ganz ein-fach – und nach mir noch reden.Für einen solchen Umbau kann es dann auch staatli-che Hilfen geben. Um dies zu entwickeln, bedarf es aberZeit. Deshalb fordern wir eine Änderung des Insolvenz-rechts und auch, dass das Insolvenzgeld länger als dreiMonate gezahlt wird.
Denn die Kolleginnen und Kollegen brauchen Zeit. Manmuss ihnen die Pistole von der Brust nehmen.Arbeitslosigkeit kostet pro Beschäftigten rund18 000 Euro pro Jahr. Selbst wenn jeder zweite Beschäf-tigte einen neuen Job findet, würden sich die gesell-schaftlichen Folgekosten der Arbeitslosigkeit auf113 Millionen Euro im Jahr belaufen. Es wäre dochWahnsinn, wenn die Politik Arbeitslosigkeit statt Ar-beitsplätzen finanzieren würde. Ich fordere Sie im Na-men der vielen Tausend Beschäftigten von Schleckerund der Linken auf, endlich zu handeln. Die Zeit drängt.Danke schön.
Paul Lehrieder hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Für die Zuschauer auf den Tribünen,insbesondere für die Beschäftigten der Firma Schlecker:Auf der linken Seite dieses Hauses fehlen heute dieMänner, weil heute der Internationale Frauentag ist. Sogeht die Linke mit Ihrem Anliegen um. Die Hälfte derFraktion wird ausgegrenzt, wenn es darum geht, überdiesen Tagesordnungspunkt zu diskutieren.
Das ist Ihr Verständnis von Demokratie, meine Damenund Herren von den Linken.Wir arbeiten lieber mit unseren Frauen zusammen,um die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Die Grünenmachen es genauso. Die SPD macht es so. Die FDPmacht es so. Bei den Linken trägt man exotische Tücherund grenzt die Hälfte der Fraktion aus. Also, so etwashabe ich noch nicht erlebt. Es erschüttert mich.Seit Bekanntgabe der Insolvenzanmeldung des Dro-geriekonzerns von Anton Schlecker Ende Januar häufensich die Hiobsbotschaften über Filialschließungen unddrohende Entlassungen. Das Ausmaß der Pleite hat alleüberrascht. Daher ist es nur verständlich, dass die derzeitrund 12 000 betroffenen, zumeist weiblichen Beschäftig-ten sorgenvoll in die Zukunft blicken. Mit dem vorlie-genden Antrag „Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen– Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss derBeschäftigten stärken“ haben auch die Kolleginnen undKollegen der Linksfraktion – heute sind es nur Kollegin-nen – bewiesen, dass sie sich dazu ein paar Gedankengemacht haben. Das ist im Grunde lobenswert; doch lei-der sind ihre gutgemeinten Vorschläge wie so oft nichtzielführend.
Uns allen liegt das Schicksal der Schlecker-Beschäf-tigten am Herzen. Daher hat sich unsere Bundesarbeits-ministerin, Frau Dr. von der Leyen – sie verfolgt dieganze Debatte hier; sie zeigt, dass sie hinter denSchlecker-Beschäftigten steht, mehr als diejenigen, diepopulistische Anträge stellen –,
bereits mit dem Vorstandsmitglied der Bundesagenturfür Arbeit, Herrn Raimund Becker, mit dem Verdi-ChefFrank Bsirske und mit dem vorläufigen Insolvenzver-walter Arndt Geiwitz getroffen, um das weitere Vorge-hen zu besprechen.
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19610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Paul Lehrieder
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Dabei hat Frau Ministerin Dr. von der Leyen klarge-stellt, dass die bislang bei Schlecker beschäftigten Frauengute Perspektiven haben, schnell wieder einen Arbeits-platz zu finden, und zwar nicht allein wegen ihrer Quali-fikation. Derzeit ist die Nachfrage im Einzelhandel nachguten Mitarbeitern hoch, sodass die Chancen auf Ver-mittlung sehr gut sind. Dies bestätigte der Chef der Bun-desagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, bereits in dervergangenen Woche. Seit Jahren baut der Einzelhandelneue Arbeitsplätze auf. Derzeit gibt es in dieser Branchegut 20 000 offene Stellen.
Frau Zimmermann möchte gerne eine Zwischenfrage
stellen. Möchten Sie das zulassen?
Sie möchte sie in Ermangelung der Männer stellen.
Ich würde sie von Herrn Birkwald genauso annehmen. –
Bitte, Frau Zimmermann, selbstverständlich, gern.
Bitte schön.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Lehrieder, ich
habe eine Frage: Worauf beruht Ihre Erkenntnis, dass die
Schlecker-Beschäftigten, wenn sie denn gekündigt wer-
den, auf dem Markt aufgefangen werden? Schließlich
weist die Statistik, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe,
20 000 offene Stellen aus, während diese Branche
300 000 Arbeitslose verzeichnet?
Die Schlecker-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ha-ben eine vernünftige Ausbildung; sie sind gut eingear-beitet. Natürlich wird eine Umschulung erforderlichsein. Wenn man bisher Reinigungsmittel oder Zahnpastaverkauft hat und in Zukunft vielleicht Damenoberbeklei-dung verkaufen soll, dann kann man nicht von heute aufmorgen umsteigen. Aber: Motivierte, freundliche, gutausgebildete weibliche Beschäftigte – ich kenne sie ausmeinem Wahlkreis – werden in vielen Einzelhandelsun-ternehmen gebraucht. Deren Beschäftigung schon jetztschlechtzureden und zu sagen: „Das können sie nicht; siewerden nicht gebraucht; sie erhalten keine sozialversi-cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse“, das istIhre Denkweise, aber nicht unsere. Lassen Sie uns versu-chen, mit möglichst viel Erfolgsorientierung an dieseGeschichte heranzugehen. Lassen Sie uns dann in einpaar Wochen einmal schauen, was dabei herausgekom-men ist.
Von diesen guten Voraussetzungen werden gerade dieSchlecker-Mitarbeiter profitieren können; ich habe esbereits ausgeführt. Hätten Sie ein bisschen gewartet,Frau Zimmermann, hätte sich Ihre Frage möglicherweiseerübrigt.Qualifiziertes Personal hat gute Chancen, abseits derreinen Drogeriemarktsparte eine Anstellung zu finden.Laut Handelsverband Deutschland haben die Unterneh-men zwischen Juni 2010 und Juni 2011 rund 62 000 Jobsgeschaffen, davon 60 000 sozialversicherungspflichtige.Insgesamt ist die sozialversicherungspflichtige Beschäf-tigung im Einzelhandel zuletzt stärker als die geringfü-gige Beschäftigung gewachsen. Auch das ist eine posi-tive Entwicklung, die Sie in Ihren Anträgen regelmäßignicht beschreiben. Von einer Verdrängung sozialversi-cherungspflichtiger Beschäftigung durch geringfügigeBeschäftigung, wovor Sie immer eindrucksvoll warnen,kann folglich in dieser Branche nicht die Rede sein.Unter enormem Zeitdruck haben vor zwei Tagen dieVerhandlungen zwischen Insolvenzverwalter und Ge-werkschaft über einen Sozialplan für den Abbau von11 750 Arbeitsplätzen beim Unternehmen Schlecker be-gonnen. Voraussichtlich bis zum Ende der Woche wer-den alle Beteiligten geklärt haben, ob die notwendigenVoraussetzungen für eine Transfergesellschaft geschaf-fen werden können. Auch die Einrichtung einer dezen-tralen Onlinetransfergesellschaft ist im Gespräch.Zudem wird geprüft, ob für die Qualifizierung der Mitar-beiter Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds inAnspruch genommen werden können.Ich möchte noch auf einen stereotypen Passus in Ih-rem Antrag eingehen. Auf Seite 3 oben schreiben Sie,ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde würde dieKaufkraft um 26 Milliarden Euro erhöhen.
Schauen Sie doch einmal, was gestern in Berlin passiertist: In Berlin ist vom Bürgermeister ein Mindestlohn von8,50 Euro abgelehnt worden mit der Begründung, hier-durch würden keine Arbeitsplätze geschaffen werdenkönnen.
– Moment! Sie regieren doch in Berlin mit. In Berlingibt es eine rot-rote Regierung, die es noch nicht einmalschafft, einen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Wegzu bringen. Und jetzt schreiben Sie wieder 10 Euro in Ih-ren Antrag. Machen Sie die Hausaufgaben, wo Sie Ver-antwortung haben, und dann schauen wir, was dabei he-rauskommt.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19611
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Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Schlecker ist eine Schandefür Deutschlands Unternehmen, und das nicht erst seitder spektakulären Pleite, die wir erleben mussten. Mitbe-stimmungsrechte wurden immer wieder mit Füßen getre-ten. Mitarbeiterinnen wurden bespitzelt, und Tariflöhnewurden nicht gezahlt.Wir alle hier im Plenum des Bundestages werden unsnoch an die XL-Schweinerei von Schlecker erinnern.Das ist noch nicht so lange her. 2010 haben wir hier in-tensiv darüber diskutiert. Damals wurden Schlecker-Fi-lialen geschlossen und wenig später auf der anderenStraßenseite als XL-Schlecker als eigenständige GmbHwieder aufgemacht.
Die Mitarbeiterinnen wurden aus den alten Schlecker-Fi-lialen entlassen. Sie haben ihre Arbeit verloren, aberdann ein Angebot von der extra gegründeten Leihar-beitsfirma Menia erhalten, um bei XL-Schlecker diegleiche Arbeit, die sie vorher getan haben, zum Teil fürden halben Lohn zu leisten.
Das ist eine Sauerei. Dies haben wir hier scharf kritisiert.Diese Firmenphilosophie und Unternehmensstrategievon Anton Schlecker – dies haben wir hier gesagt – istschon damals, 2010, hart kritisiert worden.
Ministerin von der Leyen wurde schon 2010 zumHandeln aufgefordert, solchen miesen Praktiken einengesetzlichen Riegel vorzuschieben. Leider ist es so, dassLeiharbeiter sehr lange auf ihren Mindestlohn wartenmussten. Es hat sehr lange gedauert, bis dies endlichdurchgesetzt wurde. Aber unsere Forderung „GleicherLohn für gleiche Arbeit“ wurde noch immer nicht umge-setzt. Da ist sie noch in der Bringschuld. Bis heute istnichts umgesetzt. Auch das ist eine Schande für Deutsch-land.
Wie kam es zur Schlecker-Pleite? Es wurden verhee-rende Managementfehler gemacht. Sinkende Kunden-und Umsatzzahlen wurden schlichtweg verschlafen. EinUnternehmen mit über 25 000 Beschäftigten, überwie-gend Frauen, wurde voll an die Wand gefahren. Viel-leicht haben einige von Ihnen am Montag im ZDF dieSendung Frontal 21 gesehen. Es war ganz interessant,was dort eine Gewerkschafterin zu dem Thema ausge-führt hat. Sie sagte, sie habe das Gefühl, dass AntonSchlecker sein Unternehmen wie eine Würstchenbudegeführt habe und nicht professionell wie ein multinatio-nales Großunternehmen. Und wieder müssen dieBeschäftigten die Suppe auslöffeln. Etwa 2 400 der bun-desweit 5 400 Schlecker-Filialen sollen geschlossenwerden. 12 000 der insgesamt über 25 000 Beschäftigten– zu über 90 Prozent Frauen – sind betroffen. Das bedeu-tet: Jeder zweite Arbeitsplatz fällt weg. Betroffen sindvor allem – das wurde schon gesagt – viele ältere Be-schäftigte, alleinerziehende Frauen und auch viele Teil-zeitbeschäftigte. Diese Frauen, diese Menschen könnennichts für die Pleite.Vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt einScherbenhaufen. Was können wir tun? Wie kann manden Betroffenen am besten helfen? Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen der Linken, fordern in Ihrem AntragStaatshilfen für Schlecker und die Entwicklung einesneuen Zukunftskonzepts, damit die Filialen und somitdie Arbeitsplätze weitgehend erhalten bleiben.Wir hier im Bundestag können keine Konzepte ma-chen. Dies ist Aufgabe des Insolvenzverwalters. Dersieht offensichtlich keine andere Lösung als die Schlie-ßung der 2 400 Filialen.
Das müssen wir erst einmal so zur Kenntnis nehmen.Auch Wirtschaftsexperten diagnostizieren, dass Schleckerin der derzeitigen Form und Größe keine wirtschaftlicherfolgreiche Zukunft haben kann.Wir müssen nun überlegen: Was kann getan werden?Sie haben Vorschläge gemacht. Unser Wirtschaftsminis-ter Nils Schmid aus Baden-Württemberg hat sich auchschon mit Vorschlägen zu dem Thema geäußert.
Ganz wichtig finde ich, dass zügig Transfergesellschaf-ten gegründet werden und den entlassenen Mitarbeiterin-nen schnell und gezielt neue Perspektiven eröffnet undvor allen Dingen neue Arbeitsstellen vermittelt werden.
Die Drogeriekette Rossmann hat bereits angekündigt,dass sie allein in diesem Jahr 1 000 neue Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter einstellen will. Das wäre schon einerster Schritt.Aber natürlich brauchen die Beschäftigten auch Un-terstützung von unserer Arbeitsministerin; da stimme ichIhnen voll zu. Die Arbeitsministerin ist gefordert, diesestrukturelle Kurzarbeit im Sinne der Beschäftigten zubewältigen.Wir als SPD haben in entsprechenden Krisen sehrgute Erfahrungen mit unserem damaligen Arbeitsminis-ter Olaf Scholz gemacht. Er hat in solch kritischen Situa-tionen sehr schnell, sehr gut und sehr zielgenau gehan-delt.
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19612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Gabriele Hiller-Ohm
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Ich erwarte, dass Ähnliches genauso zielführend auchvon Ministerin von der Leyen geleistet wird. Es wurdegesagt, dass schon Gespräche mit Verdi geführt werden.Ich bin sehr auf die Ergebnisse gespannt. Wir haben fürdie nächste Ausschusssitzung auch schon einen Berichtzu diesem Thema angefordert.
Natürlich müssen auch die Arbeitsagenturen und dieJobcenter ran. Das ist ganz wichtig. Die Arbeitsplätzefallen nicht vom Himmel; das ist uns allen klar. Wirmüssen jetzt sicherstellen, dass die betroffenen Frauengute Beratung, Qualifizierung und Umschulung, wenn essein muss, also Unterstützung, erhalten und dass siedann mit aller Kraft in neue Arbeit vermittelt werden. Esmuss alle Kraft aufgewandt werden, damit dies gelingt.Was brauchen wir dafür? Sind die Agenturen und Job-center dafür ausreichend ausgestattet? Natürlich brauchtman dafür Personal. Natürlich braucht man auch Geldfür arbeitsmarktpolitische Instrumente; das ist doch klar.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, daran hapert esjetzt leider. Die Bundesregierung hat die Mittel für ak-tive Arbeitsmarktpolitik massiv gekürzt.
Zahlreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente wurdenvon Pflicht- in Ermessensleistungen umgewandelt unddamit praktisch abgeschafft.
Das ist eine ganz schlimme Sache, die uns jetzt auf dieFüße fällt. Wir sehen: Arbeitslose haben in der Bundes-regierung keine Lobby. Das müssen wir wieder ändern.
Frauen sind besonders betroffen. Die Entlassungen beiSchlecker verdeutlichen, wie die Arbeitsmarktsituationvieler Frauen in Deutschland aussieht: Sie haben oft un-sichere Arbeitsplätze. Die Arbeit wird schlecht bezahlt.Gut zwei Drittel von ihnen sind Niedriglohnbeschäftigte.Das betrifft sogar jede dritte Frau mit Vollzeitstelle. Kar-rierechancen sind gering. Viele arbeiten in Teilzeit undverdienen damit 4 Euro im Durchschnitt weniger als ineiner Vollzeitstelle. Ihre Arbeitsplätze sind in der Regelschlecht abgesichert. Ein Beispiel sind die Minijobs.Eine Frau, die zwei Kinder erzogen hat und 30 Jahre langin einem Minijob gearbeitet hat, kommt damit auf monat-lich sage und schreibe knapp 150 Euro Rente.Das geht so nicht. Das müssen wir ändern. Wir müs-sen alle Kraft darauf richten, um diese Situation inDeutschland zu verbessern. Jetzt muss unser Augenmerkden Frauen von Schlecker gelten, damit wir dort einenSchritt vorankommen, und wir müssen den dort beschäf-tigten Frauen unsere Solidarität zeigen.Danke schön.
Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eines vorweg: Die FDP lehnt diesen Antrag derLinken ab.
Es ist schließlich noch gar nicht so lange her, da warenArbeitsplätze bei der Firma Schlecker für Sie der Inbe-griff von schlechter Arbeit.
Jetzt sehen Sie das offenbar komplett anders. Sie rühmenSchlecker als Nahversorger. Bei mir entsteht der Ein-druck, dass Sie die Schlecker-Insolvenz als Vorwandnutzen, um hier im Parlament mal wieder die Gutmen-schen zu mimen.
Die Beschäftigten der Firma Schlecker erleben der-zeit eine sehr belastende Zeit für sich und ihre Familien.Sie erleben eine Zeit der Anspannung, der Existenzangstund der Ungewissheit. Die Verantwortlichen im Unter-nehmen versuchen gleichzeitig mit Hochdruck, dieFirma zu retten. In dieser Situation einen solchen Antragzu stellen, zeigt Ihre wahre Geisteshaltung. Auf dem Rü-cken der Betroffenen formulieren Sie Forderungen, dieden Menschen bei Schlecker mitnichten helfen.
Wie konstruiert Ihr Antrag ist, zeigt schon der Titel.Darin sprechen Sie ausschließlich die Verkäuferinnenan. Es gibt bei Schlecker natürlich auch Verkäufer undandere männliche Angestellte. Auch die haben Familienzu ernähren und bangen um ihre Arbeitsplätze. Diesemännlichen Angestellten passen aber nicht zum Welt-frauentag und damit nicht zu Ihrem Antrag. Es geht Ih-nen gar nicht um die Sache selbst, sondern nur um einenweiteren Anlass, Ihr Verständnis von Staatswirtschaft zutransportieren.
Sie regen beispielsweise an, dass die Politik ein nichtnäher erklärtes Zukunftskonzept für Schlecker erarbeitensoll. Jetzt möchte ich Sie doch direkt fragen: GlaubenSie allen Ernstes, dass Politiker die besseren Unterneh-mer sind?
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, auch Ihrevolkswirtschaftliche Erfahrung müsste doch für die Ein-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19613
Gabriele Molitor
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schätzung reichen, dass Planwirtschaft auf Dauer nichtgut geht.
Und was machen Sie dann bei Betrieben, die nicht dieGröße und damit die öffentliche Aufmerksamkeit wieSchlecker haben? Soll die Politik für alle Firmen ein Sa-nierungskonzept erarbeiten, die in Schwierigkeiten sind?
Nein, das ist vollkommen absurd und passt nur in Ihrschräges Verständnis einer Volkswirtschaft.Aber es geht noch weiter: Natürlich fordern Sie indem Antrag auch, dass die Bundesregierung mit Geldhelfen soll. Auch bei dieser Argumentation bleibt offen,warum ausgerechnet im Fall von Schlecker und nichtauch bei anderen Unternehmen. Oder plädieren Sie fürdie generelle Verstaatlichung insolventer Firmen?Ein weiterer Punkt in Ihrem Katalog sind neue For-men der Mitbestimmung bis hin zur Übernahme insol-venter Unternehmen durch die Belegschaft in Form vonGenossenschaften. Genossenschaften sind per se nichtsSchlechtes, aber glauben Sie allen Ernstes, dass es fürMitarbeiter attraktiv ist, ein insolventes Unternehmen indiesem Stadium zu übernehmen?
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, all diesePunkte zeigen, dass dieser tragische Fall von Unterneh-mensinsolvenz nur Anlass ist, Ihre wirtschaftspoliti-schen Irrungen aufzuzeigen. Sie legen mit diesem An-trag einen kruden Mix aus Frauentag, Mindestlohn undSubventionen vor, ohne ein wirkliches Interesse an einerLösung des Falls Schlecker zu haben.
Eine solche Politik wird der Situation der betroffenenMenschen nicht gerecht. Was jetzt wirklich zählt, sindTaten.
Die Verantwortlichen bei Schlecker sind aufgefordert,alle weiteren Schritte vor allem im Interesse des Unter-nehmens einzuleiten. Die bestehenden Instrumente sinddafür ausreichend. Gerade das Beispiel Schlecker zeigt,dass die Marktwirtschaft offensichtlich stark genug ist,Konzepte, die nicht funktionieren, zum Scheitern zubringen.
Die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sehrgut. Ich denke, den Beschäftigten von Schlecker wird esangesichts ihres guten Ausbildungsstandes möglich sein,Alternativarbeitsplätze zu finden. Die Bundesregierunghat jedenfalls ein großes Interesse daran, dass möglichstviele Arbeitsplätze bei Schlecker gerettet werden. Wirhaben allerdings kein Interesse daran, in Deutschlandwieder die Planwirtschaft einzuführen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 12 000Schlecker-Beschäftigten, weit überwiegend Frauen,droht der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Schuld an die-sem Desaster trägt einzig und allein die katastrophaleUnternehmensführung des Schlecker-Patriarchen.
Hier ist auch ein Geschäftsmodell gescheitert – ein Ge-schäftsmodell, das auf Lohndrückerei, Entrechtung derBeschäftigten und inakzeptable Arbeitsbedingungen ge-setzt hat.
– Und auf Spitzelei, genau. – Das alles hat ebenfallsdazu beigetragen, dass die Kunden weggeblieben sindund der Laden dichtgemacht werden musste.
Die Politik trägt an der Schlecker-Pleite nun wirklichkeine Schuld. Wir haben sie nicht verbockt. Trotzdemsind wir jetzt in der Pflicht, den Schlecker-Beschäftigtenein Angebot zu machen, um ihnen eine neue Jobperspek-tive zu eröffnen. Natürlich muss es zunächst einmal da-rum gehen, dass unter Beteiligung der Beschäftigten– das möchte ich betonen – ein Zukunftskonzept entwi-ckelt wird. Aber selbst wenn das gelingt, wird es nichtdazu führen, dass alle Beschäftigten weiterhin eine be-rufliche Perspektive bei Schlecker haben. Deswegenmüssen wir auch denjenigen Beschäftigten ein Angebotmachen, denen die Arbeitslosigkeit droht, und zwar einAngebot – das will ich an dieser Stelle betonen –, dasüber die Perspektive des Einzelhandels hinausgeht. Da-für brauchen wir dringend eine Transfergesellschaft.
Ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Frau vonder Leyen in dieser Debatte nicht das Wort ergriffen hat,und zwar deswegen, weil sie presseöffentlich verspro-chen hat, bis zum Ende dieser Woche die Transfergesell-schaft in trockenen Tüchern zu haben. Es wäre für uns
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Brigitte Pothmer
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alle interessant, einen Bericht über den Stand der Dingezu erhalten.
In der Branche heißt es übrigens: Wer bei Schleckerschafft, der schafft es überall. Ich finde, das sagt sehrviel aus über das Durchhaltevermögen und die Leidens-fähigkeit, aber auch über das Arbeitsethos dieser Frauen.Diese Frauen können etwas. Es ist unsere Aufgabe, siedarin zu unterstützen, dieses Können auszubauen. Dafürbrauchen wir die Transfergesellschaft.
Ein spezielles Problem der Schlecker-Insolvenz be-steht darin, dass die bedrohten Arbeitsplätze über ganzDeutschland verteilt sind. Deswegen kann man nichteinfach sagen: In der Branche gibt es doch eine Mengefreier Arbeitsstellen. Diese freien Arbeitsstellen müssenauch in dem kleinen Ort vorhanden sein, in dem eine Fi-liale zugemacht wird. Es kommt eben sehr stark auf diebesondere regionale Arbeitsmarktsituation an. Deswe-gen geht es nicht nur darum, die Frauen von Schleckeraus in einen anderen Supermarkt zu vermitteln,
sondern es geht auch darum, diese Krise als Chance fürdie Beschäftigten zu nutzen und sie auch für andere Zu-kunftsberufe zu qualifizieren.
Warum sollen sie zukünftig nicht die Beschäftigtenlückeim Erziehungsbereich, in der Pflege oder auch in män-nerdominierten Zukunftsberufen füllen? Das wäre gutfür die Betroffenen, und das wäre gut für diese Bran-chen.Meine Damen und Herren, heute sind die Betriebsrätegemeinsam mit Verdi auf die Straße gegangen. Sie habenfür den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstriert und diePolitik zum Handeln aufgefordert. Sie fordern, Arbeit zuorganisieren statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Ichfinde, daran sollten wir uns halten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Gitta Connemann für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichkomme aus einem kleinen Dorf aus Ostfriesland. Dortgibt es einen Bäcker und zwei Dorfläden, und es gabSchlecker. Dort erwarben Ältere und Mütter ihre Drogerie-produkte. Die Filiale ist geschlossen worden. Diese Ge-schäftsaufgabe ist für die Gemeinde ein großer Verlust.Es ist aber eine persönliche Katastrophe für die Beschäf-tigten und ihre Familien.
Meine Damen und Herren von der Linken, aus diesemmenschlichen Leid, das sich hinter jeder Verkäuferin,übrigens auch hinter jedem Verkäufer, verbirgt, versu-chen Sie einmal mehr, politisches Kapital zu schlagen.
Denn es geht Ihnen erkennbar nicht um die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter von Schlecker. Sie suchten einThema für den heutigen Weltfrauentag.
Meine Damen und Herren von der Linken, es gibtkeine Fraueninsolvenz, es gibt auch keine Männerinsol-venz, es gibt nur eine Insolvenz in Gänze. Die tut jedemweh, insbesondere den Familien.
Wir von der Union wehren uns dagegen, dass dieLinke die Mitarbeiterinnen von Schlecker für ihre ideo-logischen Anträge in Geiselhaft nimmt.
Diese Mitarbeiterinnen – und ich habe, anders als Sie,mit diesen gesprochen – haben eine bessere Behandlungverdient.
Ich spreche aus eigener Erfahrung: Anders als Sie mitIhren lila Schals brauche ich keine Symbolpolitik; dennanders als Sie bin ich eine gelernte Verkäuferin und habemit diesen Frauen die Schulbank gedrückt. Ich bin heutenoch mit diesen Frauen befreundet.
Sie verkauften übrigens nicht nur in diesen Filialen,sondern sie leiteten auch diese Filialen. Deshalb ist ihrRuf in der Branche – Frau Pothmer hat zutreffend daraufhingewiesen – zu Recht sehr gut.Die Konkurrenten von Schlecker buhlen um dieseMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, übrigens ohne Staats-hilfe, Frau Hiller-Ohm.
Deshalb ist die Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatzwirklich begründet, übrigens auch wegen der dezentra-len Struktur von Schlecker. Denn die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter – 12 000 an der Zahl – werden nicht an
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19615
Gitta Connemann
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einem Ort entlassen, sondern über das Bundesgebietverteilt.
Nach Aussagen des Handelsverbandes Deutschlandhaben sie eine gute Chance, auch weil der Arbeitsmarktübrigens besser ist, als es uns der Antrag der Linkenglauben lässt.
Im vergangenen Jahr sind über 60 000 Stellen im Einzel-handel entstanden. Der Handel meldet auch jetzt offeneStellen. Wenn Sie, Frau Zimmermann, andere Zahlen an-führen, dann sage ich Ihnen ganz deutlich: Diese sindfalsch. Es geht Ihnen hier um eine bewusste Dramatisie-rung aus parteipolitischem Kalkül.
Natürlich brauchen die Schlecker-Beschäftigten, dienicht sofort am Arbeitsmarkt unterkommen, eine Per-spektive. Ich sage ganz deutlich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Sie können sich auf uns ver-lassen.
Denn wir werden ihnen reale Hilfe geben. Sie brauchenkeine lila Schals und keine Girls’-Day-Ausflüge dermännlichen Abgeordneten. Was sie brauchen, ist realeHilfe, zum Beispiel in Form einer Transfergesellschaft.
Da bin ich dankbar, dass die Gespräche auf Hochtourenlaufen, dass sich das Bundesarbeitsministerium dieserSache so intensiv annimmt. Wir in der Union werdendafür sorgen, dass Gelder für diese Transfergesellschaftbereitstehen.
Übrigens: Sinnigerweise steht im Antrag der Linkenkein nennenswertes Wort über Transfergesellschaftenetc.
Es geht Ihnen auch nicht um die Beschäftigten, sondernum den Aufbau des real existierenden Sozialismus.
So wollen Sie Schlecker vergesellschaften, vielleicht inmemoriam Konsum oder HO. Dafür verlangen Sie eineAnschubfinanzierung durch den Bund. Ich warne Sie,meine Damen und Herren von der Opposition: Derkünstliche Erhalt von Unternehmen durch den Staat istin der Vergangenheit stets grandios fehlgeschlagen.
Die Neue Heimat, co op AG oder Holzmann lassen grü-ßen. Gescheiterte Unternehmen lassen sich nicht retten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Zimmermann?
Immer sehr gerne.
Frau Connemann, nehmen Sie bitte Folgendes zur
Kenntnis: Sie sagen, es stehe nicht in unserem Antrag
drin, dass wir eine Insolvenzgeldverlängerung bzw. die
Gründung einer Transfergesellschaft fordern. Das sind
zwei Hauptforderungen in unserem Antrag. Sind Sie
meiner Meinung, dass Sie nicht gelesen haben, was wir
formuliert haben?
Liebe Frau Zimmermann, ich habe es so genau gele-sen, dass mir die Augen übergequollen sind.
Ich habe den Antrag hier vor mir liegen, und wissen Sie,was mich an diesem Antrag am meisten erbost? Das istdie Tatsache, dass eigentlich schon der erste Satz in die-sem Antrag Ihre Absicht entblößt. Sie fordern uns auf,gerade und besonders am Internationalen Frauentag denKampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäf-tigten um ihre Arbeitsplätze zu unterstützen.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn das alles ist, sich nuram Frauentag für Beschäftigte einzusetzen,
dann ist uns das zu wenig.
Übrigens, was Ihre staatlichen Hilfen angeht, sokönnte auch jeder andere Unternehmer fragen: Weshalbwird mir nicht geholfen?
Auch dies beweist: Die Schlecker-Insolvenz ist für Sienur ein Vorwand für den Umbau dieser Wirtschaftsord-nung.
Ihre Forderungen bleiben dabei immer dieselben. Dasmacht sie nicht besser.So wollen Sie zum Beispiel die paritätische Mitbe-stimmung ab 100 Mitarbeitern. Bislang gilt dafür einSchwellenwert von 2 000 Beschäftigten, und ich fragemich: Haben Sie sich schon einmal annähernd Gedankendarüber gemacht, dass ein kleiner Handwerksbetrieb miteiner Aktiengesellschaft wie der Daimler AG in keinerWeise zu vergleichen ist?
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Gitta Connemann
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Nach Ihrem Willen müssten dann auch solche BetriebeAufsichtsräte einrichten. Was für Kosten und was für einwahnsinniger bürokratischer Aufwand!
Dann wünschen Sie sich ein erzwingbares Mitbestim-mungsrecht des Betriebsrates in wirtschaftlichen Fragen.Mit unternehmerischer Freiheit hat das nichts mehr zutun.
Ich erinnere Sie daran: Diese Freiheit wird durch dasGrundgesetz geschützt. Aber was interessiert Sie schonunsere Verfassung, meine Damen und Herren von derLinken? Doch einen Pieps.
Und schließlich soll nach Ihrem Willen der Aufsichts-rat an Belegschaftsabstimmungen gebunden sein.Wissen Sie wirklich nicht, dass der Aufsichtsrat eineÜberwachungsfunktion hat? Er ist aus gutem Grund einunabhängiges Gremium, das nur dem Unternehmens-wohl verpflichtet ist. Eine Bindung seiner Entscheidun-gen an Voten welcher Art auch immer würde genau dieseUnabhängigkeit konterkarieren.
Meine Damen und Herren von der Linken, aus unse-rer Sicht hat sich die Mitbestimmung in unserem Landbewährt. Aber was mich an Ihrem Antrag noch sehr vielmehr stört als die immerzu wiederholten rechtlichen undinhaltlichen Mängel, ist seine Unredlichkeit; das möchteich betonen. Sie versuchen, aus dem Scheitern eines Un-ternehmens,
aus dem Verlust von Arbeitsplätzen und aus menschli-chem Leid politisches Kapital zu schlagen. Mit diesemVersuch lassen wir Sie nicht durchkommen. Deshalbwerden wir den Antrag ablehnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8880 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart,
Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Deutsches Ressourceneffizienzprogramm –
Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften
– Drucksachen 17/8575, 17/8875 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Eva Bulling-Schröter
Oliver Krischer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamen-
tarischen Staatssekretärin Katherina Reiche für die Bun-
desregierung das Wort.
Ka
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Rohstoffengpässe können das Wachstum in Europa ge-fährden. Das ist leider keine abstrakte Betrachtung mehr,sondern wird zunehmend zu einer konkreten Gefahr.Die KfW hat vor kurzem eine Studie zur Rohstoff-versorgung in Deutschland in Auftrag gegeben. Sie stuftdie Versorgungslage für 13 mineralische Rohstoffe mitt-lerweile als kritisch oder sehr kritisch ein: darunter Ger-manium, das für die Produktion von Glasfaserkabeln ge-braucht wird, oder Rhenium, das in LegierungenFlugzeugturbinen Festigkeit verleiht, Gallium für Mikro-chips, Seltene Erden für Batterien bzw. Generatoren oderIndium für Displays. Die Studie sieht in der zunehmen-den Rohstoffverknappung Risiken, aber auch Chancengerade für deutsche Unternehmen. Hier setzen wir mitdem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm an, kurzProgRess, das in der vergangenen Woche durch das Bun-deskabinett beschlossen worden ist. Ich möchte mich beiden Fraktionen von CDU/CSU und FDP bedanken, dasssie uns in ihrem gemeinsamen Antrag unterstützen.Wir erleben derzeit weltweit die Entwicklung, dassdie Nachfrage nach Rohstoffen dramatisch ansteigt.2009 wurden ungefähr 60 Milliarden Tonnen an Roh-stoffen eingesetzt. Das sind doppelt so viel wie Ende der70er-Jahre und noch ein Drittel mehr als im Jahr 2000.Im Jahr 2050 werden Prognosen zufolge 9 MilliardenMenschen auf der Welt leben. Entwicklungs- undSchwellenländer werden dann Industrieländer sein, dasheißt, dass sich der in Industriegesellschaften lebende
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19617
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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Bevölkerungsanteil verdreifachen wird – mit all ihrenBedürfnissen nach Wohlstand, Konsumgütern und Roh-stoffen.Ein effizienter Umgang mit Rohstoffressourcen istdeshalb eine Schlüsselkompetenz zukunftsfähiger Ge-sellschaften. Wer dies frühzeitig erkennt, der wird nichtnur helfen, Umweltbelastungen zu vermeiden, sondernwird auch seine Wettbewerbsfähigkeit auf globalenMärkten stärken und dadurch Beschäftigung sichern.Roland Berger Consulting hat eine Verdreifachung desUmsatzes im Leitmarkt Rohstoffeffizienz von 95 Mil-liarden Euro im Jahr 2007 auf 335 Milliarden Euro imJahr 2020 prognostiziert. Diese Zahlen beschreiben sehrgut die ökonomische Dimension, über die wir sprechen.Deutschland hat die besten Voraussetzungen, sich zu ei-ner der ressourceneffizientesten Volkswirtschaften derWelt zu wandeln. Innovationskraft, deutsche Ingenieurs-kunst, eine moderne Industrieinfrastruktur, anspruchs-volle Umweltstandards, aber auch ein hohes Nachhaltig-keitsbewusstsein unserer Bevölkerung tragen dazu bei.Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm ist einwichtiger Schritt auf dem Weg, Wirtschaftswachstumund Wohlstand möglichst weitgehend vom Ressourcen-einsatz zu entkoppeln und Umweltbelastungen zu redu-zieren. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette be-trachtet. Es geht um die sichere Versorgung mitRohstoffen, es geht darum, die Rohstoffeffizienzen inder Produktion zu steigern, den Konsum effizienter zugestalten, eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaftweiter auszubauen sowie übergreifende Instrumente zunutzen.Das Programm setzt insbesondere auf Marktanreize,auf Information, Beratung, Bildung, Forschung undInnovation, auf freiwillige Maßnahmen und derenStärkung sowie auf Initiativen in Wirtschaft und Gesell-schaft.
Anhand konkreter Beispiele wird ausführlich dargestellt,wie in besonders relevanten Feldern Ressourcen effi-zienter genutzt werden können. Um ein Beispiel zu nen-nen: Beim Recycling von Kupfer aus Kupferschrottennach dem neuesten Stand der Technik werden imVergleich zur Primärproduktion 30 Prozent Energie ein-gespart, bei der Verarbeitung von Aluminiumschrottkönnen sogar 90 Prozent Energieaufwand eingespartwerden.Mit steigendem Rohstoffbedarf werden Recyclingund die Verwendung von Sekundärrohstoffen immerlohnender. Hier haben wir mit der Novelle des Kreislauf-wirtschaftsgesetzes, das gerade von Bundestag und Bun-desrat verabschiedet wurde, wichtige Maßnahmen er-griffen. Dieses Gesetz ist ein wichtiges Instrumentunserer Ressourceneffizienzpolitik.Mitte Januar hat das Europäische Parlament die Revi-sion der Richtlinie über Elektro- und Elektronikaltgeräteverabschiedet. Es lohnt, hier anzusetzen; denn nach An-gaben der Europäischen Kommission produziert jederEU-Bürger im Durchschnitt pro Jahr 17 KilogrammElektroschrott. Im Jahr 2020 werden es 24 Kilogrammsein. Auch diese Ressourcen müssen wir besser nutzen.Die Richtlinie enthält auch Regelungen, um den ille-galen Export von Elektroaltgeräten in Zukunft besser be-kämpfen zu können. Auch dies ist dringend erforderlich.Vielleicht erinnert sich einer von Ihnen an das UNICEF-Foto des Jahres 2011, das einen kleinen Jungen auf einerMüllkippe in Ghana zeigt, der Elektroschrott verbrennt.Das ist ein sehr bedrückendes Bild.Noch ist das Verfahren auf europäischer Ebene nichtendgültig abgeschlossen. Nach Inkrafttreten der Richtli-nie werden wir diese durch eine Änderung des Elektro-und Elektronikgerätegesetzes in Deutschland in nationa-les Recht umsetzen. Der Kampf gegen den illegalenExport von Elektroschrott ist ebenso wie die Steigerungder Ressourceneffizienz mehr als nur eine Änderung vonabfallrechtlichen Vorschriften. Das ist, wie ich finde,auch Teil unserer ethischen Verantwortung.
Angesichts eines zunehmenden Wettlaufs um Res-sourcen und Rohstoffe wird die Rohstoffquelle „Res-sourceneffizienz“ weiter an Bedeutung gewinnen, undökonomische Anreize werden zunehmen. Deutschlandkann und wird zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg undRessourceneinsparung zwei Seiten einer Medaille sind.Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesam-tes ist die Inanspruchnahme von Rohstoffen in Deutsch-land zwischen 2000 und 2010 bei deutlich gestiegenemWirtschaftswachstum um 11,2 Prozent gesunken.Durch den Aufbau einer geeigneten Recyclinginfra-struktur eröffnen sich auch Schwellen- und Entwick-lungsländern Chancen für eine eigene Entwicklung.Nach den UNEP-Zahlen – wir vertrauen diesen Zahlen –wird beispielsweise der Elektroschrott aus Computern inChina und Südafrika um 200 bis 400 Prozent ansteigen.In Indien werden es sogar 500 Prozent mehr sein.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ka
Gerne. – Ressourceneffizienz ist also nicht nur eine
ökologische Notwendigkeit, sondern ein zentrales Ele-
ment und ein internationales Markenzeichen. Ich möchte
schließen mit Ernst Ulrich von Weizsäcker, der sagte:
Wenn die Preise uns vorgaukeln, die Natur sei un-
endlich, rennen der technische Fortschritt und die
Zivilisation in den Abgrund.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Gerd Bollmann für die SPD-Frak-tion.
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19618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Ressourcenschutz und knapper werdende Rohstoffesind inzwischen ein viel diskutiertes Thema. ZahlreicheMedienberichte über knapper und teurer werdende Roh-stoffe haben einer breiten Öffentlichkeit die Wichtigkeitvor Augen geführt. Begrifflichkeiten wie Seltene Erden,Rohstoffmangel oder strategische Ressourcen tauchenimmer wieder auf. Die deutsche Wirtschaft warnt davor,dass ein Mangel an wichtigen Rohstoffen Wirtschafts-wachstum und Arbeitsplätze gefährdet. Allen Beteiligtenscheint klar zu werden, dass Rohstoffe nicht unendlichvorhanden sind und ein anderer Umgang damit dringendvonnöten ist.Daher begrüßen wir ausdrücklich den Antrag.40 Jahre nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachs-tums“ des Club of Rome und elf Jahre nach Einsetzungdes Nachhaltigkeitsrates durch die rot-grüne Bundesre-gierung wird die Notwendigkeit eines umfassenden Res-sourcenschutzes allseits bejaht. Viele Jahre nachdem un-ser allseits geschätzter ehemaliger Kollege Ernst Ulrichvon Weizsäcker als Leiter des Wuppertal-Instituts dieDiskussion über Nachhaltigkeit angestoßen und mitge-prägt hat, bemüht sich nun auch die schwarz-gelbe Bun-desregierung um ein umfassendes, nachhaltiges Res-sourcenschutzprogramm.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, letzteWoche hat das Bundeskabinett dem Deutschen Ressour-ceneffizienzprogramm, kurz: ProgRess, zugestimmt. DieSPD begrüßt, dass ein solches Programm vorgelegt wird.Für die deutsche Industrie und Wirtschaft sei, so dieBundesregierung, eine ausreichende Versorgung mitRohstoffen äußerst wichtig. Dies stimmt, und entspre-chende Konsequenzen sind notwendig.Die Sozialdemokratie setzt sich seit langem für einennachhaltigen Umgang mit den Ressourcen und ihrenSchutz ein. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregie-rung jetzt, zwar spät, aber umfangreich, ein Ressour-ceneffizienzprogramm vorlegt.Die Probleme scheinen erkannt zu sein; auch Lösungs-ansätze und konkrete Maßnahmen werden teilweise ge-nannt. Kernaussagen sind unter anderem: effizientererUmgang mit Rohstoffen, Verbindung der ökologischenNotwendigkeiten mit den ökonomischen Chancen, so-ziale und globale Verantwortung als zentrale Orientie-rung bei der nationalen Ressourcenpolitik. Weiterhinwerden folgende Ziele genannt: Verbesserung der Kreis-laufwirtschaft, mehr Recycling, Kaskadennutzung, Ver-ringerung des Pro-Kopf-Verbrauchs von Rohstoffen undqualitatives Wachstum. Diese Kernaussagen und Zielesind lobenswert; sie sind richtig. Ich denke, heutzutagewird sich niemand öffentlich dagegen aussprechen.
Ebenso sind einige Punkte vor allem im Hinblick aufForschung und Entwicklung durchaus positiv zu bewer-ten. Aber schauen wir uns einmal die Umsetzung an. Bli-cken wir auf das, was fehlt. In dem Antrag der Koali-tionsfraktionen und im Regierungsprogramm zumRessourcenschutz werden hohe Recyclingquoten insbe-sondere für mineralische Abfälle gefordert. Das ist gutso. Aber warum haben Sie dann beim gerade erst geän-derten Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz höhereVerwertungsquoten abgelehnt?
Warum haben Sie für Bauschutt eine Verwertungsquotevon 70 Prozent durchgesetzt, wenn bereits 2008 inDeutschland 93 Prozent stofflich verwertet wurden?
Warum haben Sie durchgesetzt, dass die energetischeVerwertung der stofflichen Verwertung sozusagen durchdie Hintertür wieder nahezu gleichgesetzt wird, obwohldies europäischem Recht widerspricht? Warum gibt esim Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz keine konkre-ten Aussagen zur Abfallvermeidung, obwohl dies nachIhren eigenen Feststellungen wichtig ist?Meine Damen und Herren von Union und FDP, diesozialdemokratische Bundestagsfraktion, der Bundesratund auch die Fraktion der Grünen hatten Änderungsan-träge gestellt, in denen man sich für genau dies aus-sprach: für höhere Recyclingquoten, für den eindeutigenVorrang der stofflichen Verwertung und für konkreteAbfallvermeidung. All diese Anträge haben Sie abge-lehnt.
Ähnlich sieht es bei den Elektroaltgeräten aus. Sie be-klagen den illegalen Export von Elektroschrott, und Siefordern höhere Sammel- und Verwertungsquoten. DieRevision der Elektro-Altgeräte-Richtlinie der EU habenSie begrüßt, auch die darin enthaltene Rücknahmepflichtfür Elektrokleingeräte und die Beweisumkehrpflichtbeim Export; dies ist im Übrigen eine hervorragende Re-gelung. Richtig so! Aber warum setzen Sie dies nicht so-fort um? Warum warten Sie? Niemand hindert Sie, soforteine Rücknahmepflicht der Händler für Elektrokleinge-räte und Energiesparlampen einzuführen.In der Befragung der Bundesregierung in der letztenSitzungswoche hat Bundesumweltminister Röttgenzweimal betont, dass die Ressourceneffizienz bis 2020verdoppelt werden soll. In der unmittelbar vorher been-deten Ausschusssitzung wurde ein Antrag der Grünenmit dem gleichen Ziel von Union und FDP abgelehnt.Warum?
Das haben wir und auch einige Abgeordnete von FDPund CDU/CSU nicht verstanden.Es wird die Berücksichtigung von Menschen- und Ar-beitnehmerrechten, von Umwelt- und Gesundheitsschutzbeim internationalen Rohstoffabbau und -handel gefor-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19619
Gerd Bollmann
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dert; das ist völlig richtig. Wo aber findet sich die Be-rücksichtigung dieser Rechte beim Regierungsabkom-men mit Kasachstan? Warum wird deutscher Müll nachChina exportiert, dort unter menschenunwürdigsten Be-dingungen per Hand verarbeitet und dies dann inDeutschland als stoffliche Verwertung anerkannt? Damitunsere Quoten eingehalten werden? Damit China mehrSekundärrohstoffe erhält?Transparenz im Rohstoffsektor wird gefordert. Aberdie Bundesregierung blockiert die Ausarbeitung derEU-Richtlinie zur projektbasierten Offenlegung vonZahlungsströmen von Rohstoffunternehmen an ausländi-sche Regierungen.
Mir ist bewusst, dass gerade im Spannungsfeld von wirt-schaftlichen Interessen und Menschenrechten die Errei-chung der genannten Ziele schwierig ist. Aber geradehier ist mehr möglich, als die jetzige Bundesregierungleistet.
Bundesumweltminister Röttgen will Ressourcenwelt-meister werden. Die Bundesregierung schafft es abernoch nicht einmal, die öffentliche Beschaffung konse-quent an Ressourcenschonung auszurichten. Liebe Kol-leginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte weni-ger Schlagworte benutzen und dafür mehr handeln.
Noch einige Anmerkungen zu dem, was fehlt. DasEuropaparlament hat vor kurzem ebenfalls ein Ressour-censchutzprogramm gefordert; das haben wir gerade ge-hört. Das Europaparlament geht jedoch viel weiter alsSchwarz-Gelb. Es fordert zum Beispiel ein Top-Runner-Programm in den Bereichen Energie und Rohstoffeffi-zienz. Davon lese ich bei ProgRess nichts. Daher nehmeich an, dass Sie – wie in der Vergangenheit – ein Top-Runner-Programm ablehnen. Ebenso setzt sich dasEU-Parlament für ein auf Ressourcenschutz und besse-res Recycling ausgerichtetes Produktdesign ein. KlareRegeln für die Produktion werden gefordert. Auch diesfehlt im Deutschen Ressourceneffizienzprogramm. Vor-gaben beim Produktdesign und Maßnahmen zur Abfall-vermeidung fehlen in Deutschland. Ich sehe auch keineInitiativen der jetzigen Regierung, dies zu ändern.Zum Schluss noch ein Wort zu der von Union undFDP vorgeschlagenen Art der Umsetzung des Ressour-censchutzes. In dem schwarz-gelben Antrag wird derVorrang freiwilliger Lösungen vor Gesetzen und Verord-nungen gefordert. Die Mehrwegquote, freiwillige Rück-nahmesysteme wie Lightcycle und andere freiwilligeVereinbarungen in unserem Bereich sind meistens nichterfüllt worden. Ich könnte Ihnen viele solcher freiwilli-gen Vereinbarungen nennen: im sozialen Bereich, in derBildung, der Wirtschaft oder gerade heute, am Weltfrau-entag, freiwillige Vereinbarungen speziell in diesem Zu-sammenhang. Eines ist diesen freiwilligen Vereinbarun-gen weitestgehend gemeinsam: Sie sind fast immergescheitert.
Erfolgreich waren sie nur in dem Bestreben der Betroffe-nen, gesetzliche Regelungen zu verhindern.Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,zur Erreichung der wichtigen Ziele beim Ressourcen-schutz reichen freiwillige Vereinbarungen nicht aus. Wirbrauchen gesetzliche Vorgaben. Wir brauchen mehr alsein Programm, das nur auf dem Papier steht. Wir brau-chen ein Programm, das in der realen Politik umgesetztwird. Es darf nicht mehr, wie bisher, nach dem Motto„Gut reden, anders handeln“ regiert werden. Nicht dasErzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bollmann, ich habe nicht verstanden, ob die SPDunserem Antrag trotzdem zustimmt. Wahrscheinlichwerden Sie ihm wohl zustimmen, weil Sie das Positivedaran erkennen, auch wenn es Ihnen vielleicht nichtganz ausreicht. Das wäre ein positives Signal. Ich glaubenämlich, dass das Kabinett ein wegweisendes Programmbeschlossen hat.
Ich denke, dass es wirklich etwas bringt, Umwelt undWirtschaft endlich zu verzahnen, für einen besseren Ver-braucherschutz und für bessere Kennzeichnungen zusorgen und durch das Ressourceneffizienzprogramm ins-gesamt voranzukommen; das ist doch das Entschei-dende. Deswegen: Herzlichen Dank für die Initiative!Wir wollen sie mit unserem Antrag untermauern.
Wir haben festgestellt, dass die Grünen auf europäi-scher Ebene unsere Vorschläge gar nicht so schlecht fin-den, Herr Krischer. Herr Bütikofer ist ja fast in eine Be-geisterungsarie ausgebrochen,
als deutlich wurde, dass erstmals ein EU-Mitgliedslandentsprechende Regelungen verankert, sodass in diesemBereich endlich etwas passiert. Er fand das sehr positiv.
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19620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Horst Meierhofer
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– Na ja, das klingt bei Ihnen natürlich ein bisschen an-ders.Das Ressourceneffizienzprogramm derBundesregierung– so schrieb er –verankert zum ersten Mal in einem EU-Mitglieds-land solch ein Programm auf Kabinettsebene. Vielevorgeschlagene Ansätze, wie die Einbeziehung vonRessourceneffizienz beim Ökodesign, passen zuentsprechenden Vorschlägen von EU-Kommissionund Europäischem Parlament. Dies sollte helfen,solche Instrumente auf EU-Ebene zu verankern.Das ist doch eigentlich eine positive Rückmeldung.
Bei Ihnen klingt das natürlich ganz anders. Sie verste-hen das so, als hätte er geschrieben, dass dieses Pro-gramm ein zahnloser Tiger ist.
Ich denke aber, hier steht das Gegenteil. Ich frage mich:Wie sahen denn Ihre konkreten Vorschläge in den letztenJahren aus? In welchem Bereich haben Sie etwas Ver-nünftiges auf den Weg gebracht? Ich glaube, Sie findenunsere Vorschläge eigentlich ganz gut. Sie dürfen dasnur nicht sagen, weil Sie in der Opposition sind.
Deswegen trauen Sie sich nicht.
Eigentlich sind Sie aber froh, dass es endlich vorwärts-geht.Ich glaube, dass dieses Programm kein zahnloser,sondern ein mächtiger Tiger ist, den wir geschaffen ha-ben. Ich gehe davon aus, dass die Forschung, die Bera-tung und die Verzahnung verbessert werden, dass wirRohstoffpartnerschaften entwickeln und das Recyclingdadurch tatsächlich verbessern; die Frau Staatssekretärinhat es angesprochen. Wir sollten diese Fortschritte abernicht durch eine Besteuerung abwürgen. Wir solltenauch keine Verpflichtungen schaffen. Das sind nie diebesten Lösungen, Herr Bollmann. Denn dann wird ver-sucht, die bestehenden Regelungen zu umgehen und ananderen Stellen etwas herauszuholen. Das ist geistigeRessourcenverschwendung, bringt uns aber ganz be-stimmt nicht weiter.Es geht darum, eine positive Grundeinstellung zurRessourceneffizienz und zum Ressourcengebrauch zuschaffen. Man darf nicht die ganze Zeit immer nur dienegativen Effekte sehen. Wir dürfen nicht nur Verzichtpredigen, wie es die Grünen tun. Sie fordern ja: Verzicht,Verzicht, Verzicht! Das mag in Deutschland zum Teilganz gut ankommen. Das wird aber im Rest der Weltnicht gut ankommen. Wir müssen den Leuten zeigen,dass es nicht darum geht, möglichst wenig zu verbrau-chen, sondern dass es darum geht, die Dinge sinnvoll zugebrauchen und nichts kaputtzumachen. Man muss abernicht unbedingt wenig verbrauchen. Das Entscheidendeist, dass die Menschen endlich einen positiven Eindruckbei diesem Thema bekommen. Ich glaube, die Realitätist schon ein bisschen weiter als Sie. In früheren Zeitenhaben Sie sich bei diesen Themen berechtigterweise guteingebracht; das sei Ihnen unbenommen.
Die Grünen haben da wirklich einiges auf den Weg ge-bracht. Aber mit diesem Programm verfolgen wir zumersten Mal einen konkreten Ansatz, der auch funktio-niert.Wenn man sich über Ressourceneffizienz Gedankenmacht, dann muss man das auch im Hinblick auf die bü-rokratische Ebene tun. Man muss erst einmal überprü-fen: Was passiert wo? Was wird in den Kommunen, inden Kreisen, auf Länderebene und auf Bundesebene ge-macht? So etwas gab es bisher noch nicht.Wir haben bei den Ländern direkt nachgefragt, HerrBollmann. Die einzigen Länder, die nicht geantwortethaben, waren zufälligerweise Berlin und Brandenburg.Da gibt es nichts; da wird nichts dergleichen gemacht. Ineinem Fall wurde einfach nicht geantwortet. In Branden-burg konnte man nicht einmal Auskunft geben, werüberhaupt dafür zuständig ist. Wenn das die Art undWeise Ihres Handelns ist und Sie gleichzeitig Ressour-ceneffizienz predigen, dann ist das scheinheilig undführt bestimmt zu keinem Ergebnis.
Das, was Herr Bollmann zum Thema Kreislaufwirt-schaft gesagt hat, ist doch das beste Beispiel dafür, dasses Ihnen wirklich nicht darum geht, Ressourcen effizien-ter zu nutzen, sondern es geht Ihnen darum, Besitzständezu verteidigen. Wenn es Ihnen nämlich darum gegangenwäre, ein besseres Recycling zu ermöglichen, wie Sie esgerade gesagt haben, dann würden Sie sich doch dafüreinsetzen, dass derjenige, der höhere Recyclingquotenschafft, eine Chance im Wettbewerb hat. Das haben Sieaber im Bundesrat verhindert. Um für die Kommunenund die Bundesländer Besitzstände zu wahren, haben Sieverhindert, dass derjenige, der besser ist, jederzeit alleMöglichkeiten hat, tätig zu werden. Ihnen geht es nichtum die Frage, wer es besser macht, sondern Ihnen gehtes darum, bestimmte Interessengruppen zu unterstützen.Sie und auch die Grünen verzichten damit darauf, einbesseres ökologisches Ergebnis zu erreichen. Das halteich, ehrlich gesagt, für relativ schändlich, und das machtIhre Aussagen sehr unglaubwürdig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19621
Horst Meierhofer
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Wir müssen das Recycling stärken. Das machen wirdurch die Wertstofftonne. Im kommenden Jahr recycelnwir wahrscheinlich 600 000 Tonnen mehr, die wir dannnicht verbrennen müssen. Wir haben übrigens die Nut-zungskaskaden berücksichtigt. Damit ist das Problem,das Sie infolge der Verbrennung sehen, Herr Bollmann,überhaupt nicht mehr gegeben. Wir werden die Stoffe solange recyceln, wie es möglich ist. Wir werden die Mit-arbeiter schulen, damit sie sich besser mit Effizienz aus-kennen. Wir werden Innovationsgutscheine ausstellenund Effizienzchecks durchführen. Wir werden also posi-tive Anreize setzen, damit die Leute eine echte Chancehaben, hier vorwärtszukommen. Das ist gut für die Um-welt, und das ist auch gut für Innovationen.Vor allem der Verein Deutscher Ingenieure ist vondem Programm sehr begeistert und spricht davon, esseien sehr viele Anregungen aus der Praxis übernommenworden. Auch die Schwerpunktsetzung auf den Erhaltund die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sei gut.Das ist das Entscheidende. Denn wenn wir am Schlussdie Ressourcenverschwendung in Deutschland dadurcheingrenzen, dass wir sie in andere Länder verlagern, indenen viel niedrigere Standards gelten, dann ist nieman-dem geholfen. Dann haben wir dem WirtschaftsstandortDeutschland geschadet. Gleichzeitig haben wir der Um-welt einen Bärendienst erwiesen.Das ist genau das, was wir nicht wollen. Deswegensetzen wir nicht auf negative, sondern auf positive Im-pulse. Das ist der Unterschied zwischen dem, was Siewollen, und dem, was wir wollen. Wir wollen nämlichnicht, dass man ein ökologisches Putzmittel erzeugt,während man gleichzeitig die Tropenwälder abholzt. Wirwollen nicht, dass man die Bioenergie nutzt, ohne sichdarüber Gedanken zu machen, was mit der Fläche pas-siert und was gespritzt wird. Dabei erzielt man nur einenvermeintlich positiven ökologischen Effekt. In Wirklich-keit hat man aber einen negativen Effekt erreicht.Deswegen müssen wir mehr zu dem Gedanken desGebrauchs statt des Verbrauchs kommen. Wir müssenweg von der Green Economy hin zur Blue Economy.Wir müssen zu einem anderen Ressourcenbegriff und zueiner anderen Verwendung der Stoffe kommen – wirkommen heute Abend noch darauf zu sprechen –, sodassman sie jederzeit wiederverwerten kann. Es geht alsonicht um Verzicht, sondern um positive Aspekte und umpositive Impulse. Das ist das, was wir hier unterstützen.Ich glaube, das ist ein großer Schritt nach vorn.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Kostenstruktur des produzierenden Gewerbes entfal-len im Durchschnitt 45 Prozent der Kosten auf das Mate-rial und nur 18 Prozent der Kosten auf das Personal. Ichkenne Betriebe in der Industrie, bei denen die Personal-kosten noch wesentlich niedriger sind. Es gibt trotzdemLohndrückerei, die im Mittelpunkt von Kostensenkungs-programmen steht, anstatt zu überlegen, wie man weni-ger Material verbrauchen kann. Das ginge natürlich auchso. Es gibt immer Alternativen.Produkte müssten nicht nur effizienter hergestelltwerden, sondern auch langlebiger sein, Kollege Meierhofer.
Produkte müssten grundsätzlich zerstörungsfrei demon-tierbar sein, um die Wiederverwendung intakter Teile zuermöglichen, ohne sie zu kaputtzumachen. Das ist eineFrage, wie das Ganze konstruiert ist. Produkte müsstenso gestaltet werden, dass sie nach ihrer Lebensdauersinnvoll stofflich verwertbar sind. Viele Wegwerf-, aberauch Luxusartikel müssen in Zeiten des Klimawandelsund der Ressourcenknappheit wenn schon nicht verbo-ten, dann wenigstens deutlich teurer werden.
Wenn wir das machen könnten, dann hieße das mehrBeschäftigung in Produktion, Reparatur und Dienstleis-tung, etwa in der Vorbereitung zur Wiederverwendung –Stichwort Wertstoffwirtschaft. Hier gibt es noch sehrviele weitere Jobs, die ich jetzt nicht genannt habe.Auf der anderen Seite würden dann die Rohstoff-preise sowohl am Produkt, aber wahrscheinlich auch ins-gesamt sinken; denn es würden nicht mehr so viele Roh-stoffe wie vorher benötigt. Weniger Material wäre alsonotwendig. Damit könnten wir auch Konflikte vermei-den, die weltweit bei der Rohstoffförderung existieren.Ich brauche Ihnen das nicht näher zu erläutern. Hier gibtes ganz viele Konflikte: Kinderarbeit, Vertreibung usw.Der Antrag der Koalition zur Ressourcenschonung undauch das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm,ProgRess, gehen erst einmal in die richtige Richtung,zum Beispiel in Richtung weniger Abfall und dahin, ausden vorhandenen Rohstoffen mehr zu machen.
Zentrales Ziel bleibt aber ressourceneffizientes Wachs-tum. Die Frage, ob sich der Ressourcenverbrauch über-haupt so weit abkoppeln lässt, dass wir bis 2050 auf eineMinderung des Ressourcenverbrauchs um 60 bis 80 Pro-zent kommen, wird nicht gestellt. Abkopplung bedeutetdoch, dass man irgendwann ein Auto bauen kann, für daszum Beispiel 37 Prozent weniger Rohstoffe benötigtwerden. Ist das überhaupt möglich, oder muss ich hierganz andere Dinge tun?
Es stellt sich also schon die Frage nach den Rohstof-fen. Hier fehlt uns ein wachstumskritischer Ansatz.
Ich glaube auch nicht, dass diese Zahlen mittels Effi-zienz- und Technologiegläubigkeit zu erreichen sind.
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19622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Eva Bulling-Schröter
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Dieser Ansatz fehlt auch im Deutschen Ressourcenef-fizienzprogramm und im Koalitionsantrag. Sie bauenmehr auf Rohstoffsicherung als auf Ressourcenscho-nung. Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm be-inhaltet viele Prüfaufträge und Ankündigungen, wieetwa beim Top-Runner-Programm, auf das wir schonseit der vorletzten Legislaturperiode warten. Ich sage Ih-nen: Machen Sie es endlich!
Bei Begriffen wie Sicherstellung des diskriminie-rungsfreien Zugangs der Unternehmen auf dem Welt-markt, Abbau von Handelshemmnissen oder auch Roh-stoffpartnerschaften gehen bei mir die Alarmglocken an.Das ist sehr gefährlich. Hierunter können wir uns sehrviel vorstellen. Auch zu der Frage, unter welchen Bedin-gungen in den Förderländern gearbeitet wird, gibt eskeine Aussagen. Im Zweifelsfall interessiert das nieman-den.Stichwort Kanadische Ölsande. Die Bundesregierungschafft es nicht einmal hier, für ökologische Importstan-dards einzutreten.
Das hätten wir alle von Ihnen erwartet.
In Rohstoffpartnerschaften wie der mit Kasachstans Dik-tator Nasarbajew sehen wir ebenfalls keinen Beitrag zueiner nachhaltigen Weltwirtschaftsordnung.Unter dem Strich: Es gibt positive Ansätze. Uns ge-hen sie nicht weit genug. Ich habe unsere Kritik genannt.Wir werden dem Antrag nicht zustimmen.
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat ist es so, dass das Thema Ressourceneffizienz ei-nes der zentralen Zukunftsthemen ist, die wir haben;denn wir müssen immer mehr mit immer weniger Roh-stoffen schaffen. Das muss letztendlich das Ziel sein.
Herr Meierhofer, wenn Sie hier schon Herrn Bütikoferzitieren, dann zitieren Sie ihn bitte vollständig.
Sie hören genau an der Stelle auf, an der Herr Bütikofersagt: Der Ansatz, den die Bundesregierung für ein sol-ches Programm wählt, ist zwar richtig, aber das Pro-gramm, das sie hier vorlegt, kann man nur ablehnen. –Das sind 112 Seiten reine Lyrik. 112 Seiten bedrucktesPapier ohne jede konkrete Maßnahme!
Die Kollegen haben gerade schon eine ganze Reihe vonPunkten genannt.Da Sie hier die EU-Ebene ins Spiel bringen, mussman auch sagen: Die Bundesregierung stand genau beimThema Ressourcenschonung auf der Bremse,
und sie hat Herrn Kommissar Potocnik kurz vor Weih-nachten dabei ausgebremst, konkretere Maßnahmendurchzuführen. Das ist die Realität Ihrer Ressourcen-politik, und diese Realität findet sich auch in anderenBereichen wie bei der Energieeffizienz oder bei kanadi-schen Teersanden. Wenn Sie zulassen, dass diese impor-tiert werden und das Klima und die Umwelt zerstört wer-den, dann ist das die Realität Ihrer EU-Politik. Das hatnichts mit dem zu tun, was Sie hier vortragen.
Wenn man die 112 Seiten liest, dann fühlt man sichphasenweise an Wikipedia erinnert.
Da wird aufs Schönste die Welt erklärt. Das ist wunder-bar, alles klar. Dort erfährt man, wie viel Gold in Handysenthalten ist und wie wichtig es ist, Handys einzusam-meln. Man denkt dann: Jetzt kommt der Hammer; jetztkommt die Lösung. Es kommt aber nichts. Darin heißt essinngemäß nur: Die Erfassung von Althandys muss opti-miert werden. – Das ist wunderbar. Aber wie soll esfunktionieren? Fährt Herr Röttgen oder Herr Meierhoferdemnächst mit dem Auto herum und sammelt irgendwoHandys ein, oder was kommt dabei heraus?
Zur Elektronikschrottverordnung oder zu konkretenMaßnahmen ist nichts zu lesen.
Ein anderes zentrales Thema in Ihrem Programm: IhrHandlungsansatz Nummer eins ist die Deutsche Roh-stoffagentur DERA. Ich habe in der Fragestunde denMinister gefragt, wie viele Mitarbeiter diese Handlungs-informationsplattform, eines der zentralen Instrumente,die Sie angeblich implementieren, hat. Die Antwortzeigte, dass der Minister es nicht wusste. Ich habe be-hauptet, es seien fünf. Ich muss mich entschuldigen.Diese Zahl stimmt nicht. Ich bin nachher korrigiert wor-den. Man hat mir gesagt, es seien weniger als fünf. Essind also null bis vier Mitarbeiter, die Ihre zentrale
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19623
Oliver Krischer
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Handlungsplattform ausmachen. Es ist lächerlich, wasSie hier vorlegen.
Das zieht sich durch das ganze Programm. Sie könnenes rauf- und runterzählen: Es sind 112 Seiten bedrucktesPapier, aber letzten Endes kommt nichts Konkretes he-raus.
Ein weiteres Beispiel ist der auf EU-Ebene geforderteTop-Runner-Ansatz. Man sucht ihn vergeblich; er fehlt.Zur öffentlichen Beschaffung, wo Sie konkret handelnkönnten und nicht die private Wirtschaft in die Pflichtnehmen müssten, wovor Sie immer zurückschrecken,findet sich überhaupt nichts. Sie beziehen sich nicht ein-mal auf die EU-Ziele. Das ist nicht in Ordnung.Ganz schlimm ist aber – da geht die Koalition nochweiter als die Bundesregierung –, dass Sie die Ziele, dieHelmut Kohl 1994 zu dem Thema implementiert hat,nämlich die Verdopplung der Ressourcenproduktivitätbis 2020, offensichtlich versenken wollen. Denn andersist Ihre Ablehnung unseres Antrags im Umweltaus-schuss nicht zu verstehen. Sie zerstören das, was übermehrere Legislaturperioden hinweg zu dem Thema auf-gebaut wurde. Sie wollen es einfach nicht mehr wahrha-ben. Stattdessen gibt es nur Lyrik, Ankündigungen undTexte, aber keine konkreten Maßnahmen.
Bitte haben Sie an der Stelle Verständnis, meine Da-men und Herren: Trotz aller schönen Lyrik und aller Ge-meinsamkeit, in der wir uns über die Sprache verständi-gen können, können wir das nicht mitmachen. Das istaus unserer Sicht reine Politiksimulation. Wie der Rhein-länder so schön sagt: So einen Kokolores machen wirnicht mit.Danke schön.
Das Wort hat nun Thomas Gebhart für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir debattieren heute einen Antrag zum ThemaRessourceneffizienz. Ich gebe gerne zu, dass dieses Wortvielleicht ein wenig technisch klingt. Wahr ist aber: DieSteigerung der Ressourceneffizienz ist eine der großenAufgaben dieser Zeit.Warum ist das so? Weil die weltweite Nachfrage nachbestimmten Ressourcen zugenommen hat. Dieser Trendwird durch eine nach wie vor wachsende Weltbevölke-rung verstärkt. Die Herausforderung ist deswegen sogroß, weil mit der Ressourcennutzung zum Teil erhebli-che Umweltbelastungen verbunden sind. Die Herausfor-derung ist für uns, für Deutschland als starke Industrie-nation, die wir bleiben wollen, deswegen besondersgroß, weil wir in hohem Maße von Rohstoffimporten ab-hängig sind.Es ist klar: Die Rohstoffversorgung zu sichern, ist einsehr wichtiger Punkt. Dazu gibt es die Rohstoffstrategie.Ein Punkt, der hier ebenfalls hineingehört, ist mindes-tens genauso wichtig wie die anderen und wird in Zu-kunft eher an Bedeutung gewinnen: die Steigerung derRessourceneffizienz.
Wir wollen Wohlstand und Wachstum stärker vomRessourceneinsatz entkoppeln. Wir wollen nachhaltigesWirtschaften. Deutschland ist übrigens auf diesem Weg.Die Rohstoffproduktivität hat in den letzten Jahren deut-lich zugenommen. Viele Unternehmen haben erheblicheAnstrengungen unternommen. Wir wollen eine der res-sourceneffizientesten Volkswirtschaften dieser Weltsein. Wir wollen diesen Weg weitergehen, weil wir vorallem darin große Chancen sehen, sowohl ökologischeals auch ökonomische. Der effiziente Umgang mit knap-pen Ressourcen wird künftig noch mehr über die Wett-bewerbsfähigkeit entscheiden. Effizienztechnologien ge-hören mit Sicherheit zu den Wachstumstechnologien dernächsten Jahre.Wir begrüßen daher außerordentlich, dass die Bun-desregierung ein Ressourceneffizienzprogramm aufge-legt hat. Es ist ein Meilenstein. Ein solches Programmgab es bislang noch nie. Die Handlungsfelder und dieAufgaben werden umfassend beschrieben und dargelegt.Wir begrüßen insbesondere – das ist auch Gegenstandunseres Antrags –, dass dieses Programm auf Anreize,freiwillige Lösungen, Information, Beratung, Forschungund Entwicklung sowie Weiterbildung und Bildungsetzt. Es geht gerade nicht darum, die Wirtschaft in ir-gendeiner Weise zu bevormunden, sondern darum, klas-sische Win-win-Situationen zu erkennen und zu nutzen.
Ich will kurz drei wichtige Punkte nennen, die wiraufgreifen. Der erste Punkt sind Forschung und Ent-wicklung. Wir setzen vor allem auf technologische Inno-vationen, weil diese ein Schlüssel zu mehr Ressour-ceneffizienz sind. Aus diesem Grund wollen wir dieForschungsprogramme noch stärker auf diesen Aspektausrichten. Wir begrüßen, dass die KfW ganz aktuellhier einen neuen Förderschwerpunkt gesetzt hat.
Der zweite Punkt ist: Wir wollen darauf hinwirken,dass die Ressourceneffizienz stärker als bisher bei der
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19624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Thomas Gebhart
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Normung berücksichtigt wird. Dabei ist entscheidend,dass wir den gesamten Produktlebenszyklus im Auge be-halten, also nicht nur den Ressourceneinsatz bei der Her-stellung eines Produktes, sondern auch die Nutzungs-phase und in gleicher Weise die Entsorgungsphase.
Der dritte Punkt ist: Wir stärken die einzelbetrieblicheEffizienzberatung. Sie ist vor allem für kleine und mitt-lere Unternehmen eine Hilfe. Ich habe mir vor kurzemhier in Berlin das Ressourcenzentrum angesehen, eineKooperation des Vereins Deutscher Ingenieure und desMinisteriums. Es ist beeindruckend, zu sehen, welchehervorragenden Projekte schon heute realisiert werden.Mit Blick auf die Zukunft kann ich nur sagen: DasPotenzial dort ist riesengroß.Ich will noch etwas zur Opposition, insbesondere zuden Grünen, sagen. Herr Krischer, zuerst fanden Sie das,was wir gemacht haben, ganz gut, haben dann aber kriti-siert, dass das Programm und unser Antrag nicht konkretgenug seien. Ich will Ihnen dazu nur zwei Punkte nen-nen.Der erste Punkt ist: Sie müssen dieses Programmauch lesen. Es enthält viele konkrete Punkte.
Sie haben vorhin beispielsweise behauptet, der Top-Runner-Ansatz werde nicht erwähnt. Ich empfehle Ih-nen, Seite 52 des Programms zu lesen. Genau dort ist derTop-Runner-Ansatz zu finden.
Das Programm enthält noch viele andere konkretePunkte.Der zweite Punkt ist: Es handelt sich um ein Pro-gramm, das noch umgesetzt und in der Umsetzung anvielen Stellen weiter konkretisiert werden muss.
Ich lade die Opposition ausdrücklich ein, sich mit klugenVorschlägen in diesen Umsetzungsprozess einzubringen.Wenn Sie aber vorschlagen, eine zusätzliche Abgabeeinzuführen, die die Wirtschaft sowie die Bürgerinnenund Bürger in diesem Land zusätzlich belastet, dannsage ich Ihnen ausdrücklich: Dies entspricht nicht unse-rer Vorstellung. Da unterscheiden wir uns. Diesen Wegwerden wir nicht mitgehen.
Kurzum, die Steigerung der Ressourceneffizienz isteine große Aufgabe. Wir gehen diese Aufgabe umfas-send und systematisch wie nie zuvor an. Damit nutzenwir auch die gewaltigen Chancen, die in diesem Bereichliegen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Antrag heutezu.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
mit dem Titel „Deutsches Ressourceneffizienzprogramm –
Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8875, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8575 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz , Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Steuerungsfehler bei der Hochschulzulassung
untersuchen und Zulassungsreform besser un-
terstützen
– Drucksache 17/8884 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Swen
Schulz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hoch-schulzulassung, also der Weg, wie Studieninteressierteund Hochschulen zueinanderfinden, ist in Teilen chao-tisch organisiert. Das ist für die Hochschulen schwierig.Das ist aber vor allem für die Studieninteressierten be-lastend und abschreckend. Was im Resultat vielleicht dasSchlimmste ist: Im letzten Wintersemester blieben fast20 000 Studienplätze unbesetzt. Das ist Irrsinn.
Wir kennen dieses Problem schon länger. Wir habendeswegen vor Jahren eine gemeinsame Lösung erarbei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19625
Swen Schulz
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tet. Wir haben gesagt, dass ein Serviceverfahren instal-liert werden soll, um die Probleme zu lösen. Doch des-sen Einführung ist wiederholt gescheitert. Ich will jetztnicht so tun, als ob wir von der SPD immer schon allesbesser gewusst haben.
Das ist nicht der Fall. Wir haben das ja gemeinsam be-schlossen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Her-ren von der Koalition: Man muss im Laufe der Zeit ebenauch einmal dazulernen. Wenn ich richtig gezählt habe,haben wir uns im Ausschuss in den vergangenen Jahrensiebenmal mit dieser Thematik befasst.
Zumindest in der letzten Zeit, in den letzten paar Jahren,war doch immer deutlicher erkennbar, was für Problemees gibt, wo die Schwierigkeiten liegen. Wir haben dieProbleme auch benannt.
Schon Ende 2008, als es erkennbar immer noch Pro-bleme gab, haben wir die Ministerin Schavan darauf hin-gewiesen, dass das Zulassungsverfahren so nicht gere-gelt werden kann. Als zum Beispiel im April 2011 zumwiederholten Mal die Einführung des dialogorientiertenServiceverfahrens verschoben werden musste, haben wirhier im Bundestag einen Antrag eingebracht und einKonzept für einen Notfallplan und für einen Plan B vor-gelegt.
Aber wie war die Reaktion der Bundesregierung, derKoalitionsfraktionen? Gleich null. Sie haben die Augenfest geschlossen und sind wieder auf dieselbe Wand zu-gerannt – und Sie sind wieder gescheitert.
Was an dem Ganzen vielleicht am ärgerlichsten ist:Für dieses Versagen haben Sie einen Sündenbock ge-sucht und gefunden: die HIS, eine öffentliche Gesell-schaft, die für die Software an vielen Hochschulen zu-ständig ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so zu tun, alsob die HIS allein verantwortlich und man selber völligraus aus dem Spiel wäre, das ist stillos, das ist falsch,und das bringt die Lösungsfindung nicht voran.
Sie wollen den Sündenbock jetzt durch einen Privati-sierungskurs zur Strecke bringen. Aber zur Problemlö-sung müssen Sie ganz anders vorgehen. Deswegen ha-ben wir hier heute einen Antrag vorgelegt, der einentsprechendes Konzept aufzeigt.Wir wollen das dialogorientierte Serviceverfahrenzum Erfolg bringen. Wir sind bereit, dass der Bund mög-liche Mehrkosten dafür übernimmt. Bis zum Start desdialogorientierten Serviceverfahrens möchten wir, dassin der Clearingphase ein koordiniertes Vergabeverfahrendurchgeführt wird. Und wir wollen einen Ersatzplan fürdas Wintersemester 2013/2014 haben, bei dem ein effi-zientes Zulassungsverfahren nach dem Typ D plusdurchgeführt wird. Ich will das jetzt nicht zu technischmachen; aber das basiert auf dem, was wir bereits entwi-ckelt haben. Darüber hinaus muss es natürlich eine Pro-zessanalyse geben, die auch das politische Programm-management mit einbezieht. Liebe Kolleginnen undKollegen von der Koalition, orientieren Sie sich daran,anstatt Ablenkungsmanöver zu fahren!
Meine Redezeit ist leider sehr begrenzt. Deswegenwill ich zum Abschluss nur noch eine Bemerkung ma-chen. Wir haben jetzt nur noch diesen einen letzten Ver-such. Das muss jetzt mit dem Serviceverfahren wirklichklappen. Wenn das – aus welchen Gründen auch immer –nicht gelingt, dann müssen wir anders und grundsätzli-cher diskutieren. Dann müssen auch die rechtlichen Rah-menbedingungen hier im Deutschen Bundestag themati-siert werden.
Dann muss ein Bundeszulassungsgesetz auf die Tages-ordnung, das einheitliche Standards setzt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Schulz, nach einem erstaunlichen Erkenntniszu-wachs der SPD reden wir heute zum wiederholten Malüber das dialogorientierte Hochschulzulassungsverfah-ren.
– Offensichtlich ist der Antrag Ihrem Erkenntnisgewinngeschuldet. Ich jedenfalls bin überrascht, dass wir heutehier zum wiederholten Mal und relativ kurzfristig nachder letzten ausführlichen Beratung im Ausschuss wiederdarüber reden müssen.
Wir alle wollen, dass die Studierenden einen besserenHochschulzugang als beim bisherigen Verfahren haben.
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19626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Monika Grütters
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Die Vorteile des DoSV liegen für jeden – auch für dieSPD, so denke ich – auf der Hand. Wer sich einmal inder nahegelegenen Mohrenstraße bei Professor Jähnichenim Fraunhofer-Institut kundig macht, kann das direkt er-kennen.
Wie gesagt, gerne nehme ich den Erkenntnisgewinnder SPD zum Anlass, hier noch einmal über die, wie Siees nennen, Entwicklung und Einführung des DoSV zureden und es weiter zu unterstützen. Ich freue mich da-rüber, dass wir uns zumindest in dieser grundsätzlichenFrage noch immer einig sind.
Dennoch habe ich mich über manche Volte in IhremAntrag gewundert. Erstens. In dem Antrag taucht wie-derholt die Forderung nach weiteren Bundesmitteln fürdie Etablierung des dialogorientierten Serviceverfahrensauf. Gleich zweimal fordern Sie in Ihrem Antrag Bun-desmittel für die Konnektorenanschaffung. Darüberkann ich mich nur wundern. Ein Allheilmittel sind genaudiese berühmten Bundesmittel nämlich nicht.Am 2. November hat Staatssekretär Rachel Sie alle ineiner Drucksache darüber unterrichtet – ich zitiere –,dass alle Länder ihren Hochschulen ausdrücklich dieÜbernahme der Kosten für die Beschaffung der Konnek-toren zugesichert haben.
Ich frage mich also, ob Sie an dieser Stelle wider besse-res Wissen Zweifel an der Finanzierung des Projekts we-cken wollen. Ich glaube, mit derartigen Einlassungentragen Sie nicht dazu bei, den Erfolg des Programms zuunterstützen.
Außerdem entlasten Sie die zuständigen Länder, nach-dem Sie die Finanzierung zugesichert haben, völlig ohneNot von ihren Pflichten. Das halte ich für falsch.
Zweitens. Fragwürdig ist, dass Sie plötzlich einendringenden Bedarf sehen, Umstände und Ursachen derProbleme aufzudecken. Wir hatten doch erst am 18. Ja-nuar – das ist erst wenige Wochen her – das große Fach-gespräch – Sie haben es angesprochen –, in dem auchSie die Gelegenheit hatten, die Hintergründe zu erörtern.Im Ausschuss gab es während des Fachgesprächs übri-gens einen Konsens – das fand ich gut –, dass wir auf ge-genseitige Schuldzuweisungen eher verzichten wollen.Wenn Sie vom Sündenbock HIS sprechen, kann ich nursagen: In Ihrem Antrag versuchen Sie, den SündenbockAnnette Schavan auszumachen. Das ist nun wirklich einManöver, das nicht nur ein Stück weit unanständig, son-dern auch völlig unsachgemäß ist.
Konstruktive Lösungen des Problems wären besser ge-wesen. Das hätte auch Ihrem Antrag gutgetan. Schuldzu-weisungen jedenfalls sind keine Lösung. Es drängt sichder Verdacht auf, dass der Wunsch nach einer Ursachen-suche beim DoSV für die SPD eher darin begründet ist– ein durchsichtiges Manöver –, eine der erfolgreichstenMinisterinnen ins Visier zu nehmen.
Pauschal und, wie ich finde, sehr oberflächlich beklagenSie wiederholte Managementfehler, ohne ein konkretesVersäumnis zu benennen.
Das finde ich stillos, Swen Schulz, falsch, und es bringtdie Sache im Übrigen nicht voran.
Wahr ist: Wenn eine ihre Aufgaben auch bei diesemleidigen Thema erledigt hat, dann ist es die Bundes-ministerin.
Mit den 15 Millionen Euro aus Bundesmitteln ist jeden-falls eine einwandfrei funktionierende Software entwi-ckelt worden. Der Bund hat also seine Leistung erbracht.
Eine dritte Überraschung. Sie beschreiben in IhremAntrag zwar, wie das System D oder das System D plusfunktionieren soll, aber ich kann nicht sehen, dass es dieProbleme löst.Erstens liegt das Hauptproblem in der Zeitschiene,darin, dass das Ganze immer wieder verschoben wird.Das System D zu installieren, würde mindestens 26 Mo-nate dauern.
Das Problem wäre damit nicht nur nicht zeitnah gelöst;es würde noch länger dauern, als wenn wir jetzt hieranweiterarbeiten.Zweitens. Die Risiken und Hindernisse bei einem sol-chen Paradigmenwechsel – das wäre es ja – verschwei-gen Sie wohlweislich. Sie sagen nicht, welche Rechen-kapazitäten dafür nötig wären. Sie sagen auch nicht, wiedas Zulassungsverfahren kurzfristig an die Stiftung fürHochschulzulassung angebunden werden soll. Sie sagennichts darüber, mit welchen Personalstrukturen ein sol-ches Zentrum arbeiten müsste und wie es zu finanzierenwäre.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19627
Monika Grütters
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Sie sagen vor allen Dingen nichts über das heikleThema Datenmigration. Es geht um massenweise hoch-sensible Daten. Wie die durch die gesamte Republik ge-schickt werden sollen – das ist übrigens der Grund dafür,dass alle Hochschulen dieses System nicht wollen –, ver-schweigen Sie. Insofern ist das ein, wie ich finde, völligaus der Luft gegriffener Vorschlag, der offensichtlich inerster Linie ein Ziel hat, nämlich ein bisschen Show zumachen.
Dass wir alle uns nach wie vor Gedanken über denMasterplan für die IT-Infrastruktur des Hochschulsys-tems machen müssen, und zwar über die Zulassungssoft-ware weit hinaus, haben wir alle am 18. Januar erlebtund gelernt. Dafür müssen wir uns noch einmal zustän-dig machen, obwohl die Länder die ersten Akteure sind.Ich glaube, dass Ihr Antrag eher zu größerer Verunsi-cherung beiträgt. Sie chaotisieren die ohnehin schwie-rige Diskussion.
– Aber das ist ja auch so! Das System D ist das Gegen-teil einer Lösung. Es bringt nur noch mehr Chaos.
Alle Beteiligten haben immer gesagt, dass sie es nichtwollen.
Ihr Antrag ist ein Ablenkungsmanöver. Unausgego-rene Schnellschüsse wie dieser lösen das Problem, daswir alle inzwischen erkannt haben, sicher nicht.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasCentrum für Hochschulentwicklung sagte dieser Tagevoraus, dass es bis zum Jahr 2025 mindestens 1,1 Millio-nen zusätzliche Studienanfängerinnen und Studienanfän-ger geben wird. Die Kultusministerkonferenz hat geradezugegeben, sich bei ihren Prognosen deutlich verschätztzu haben, und korrigierte ihre Zahl nach oben: bis 2020jährlich 60 000 bis 80 000 mehr Studienanfängerinnenund Studienanfänger.Jetzt werden diese Zahlen endlich einmal offiziell ge-nannt. Überrascht haben sie allerdings nur die Bundesre-gierung – den Eindruck hat man zumindest –;
denn die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, dieStudierendenvertretungen, die Studentenwerke, auch dieFraktion Die Linke – sie alle haben schon seit einigenJahren nicht mehr an die prognostizierten niedrigen Zah-len der Bundesregierung geglaubt. Und: Wir finden esgut, dass immer mehr junge Menschen ein Studium auf-nehmen wollen.
– Wenn Sie das auch so toll finden, dann handeln Sieentsprechend!Dass die Bundesregierung die Hochschulen nichtnach dem Bedarf der Studierenden, sondern nach Kas-senlage und Wunschprognosen ausstattet, zieht sich wieein roter Faden durch die Bildungspolitik von Schwarz-Gelb. Im Herbst letzten Jahres fehlten genau deswegenschon 100 000 Studienplätze.Was diese Politik außerdem bedeutet, kann man er-fahren, wenn man eine Hochschule besucht, die keineExzellenzuni ist oder die nicht irgendwelche gesponser-ten Stiftungslehrstühle hat: Tausende von jungen Men-schen ohne Studienplatz, zu wenig Lehrkräfte, unterbe-zahlte Professorinnen und Professoren – das haben wirgerade durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt be-kommen –, zu wenig Wohnheimplätze, BAföG-Anträge,die sechs Monate und länger nicht bearbeitet werden –das ist die Situation an den Hochschulen, und dieser Zu-stand muss endlich beendet werden.
Die Meldungen zu den steigenden Studierendenzah-len und zu den prekären Verhältnissen an Hochschulenüberschlagen sich. Und was macht die Bundesregie-rung? Anstatt selbst mehr Geld in die Hand zu nehmen,übt sie sich darin, Verantwortung abzugeben, und findet,die Länder müssten handeln.Seit einiger Zeit hoch im Kurs als Sündenbock ist– mein Kollege Schulz hat es schon angesprochen – dieHIS-IT, die IT-Sparte des Hochschul-Informations-Sys-tems. Sie soll ein Internetportal zur koordinierten Ver-gabe von Studienplätzen entwickeln, damit nicht auchnoch inmitten der ganzen Misere um mangelnde Studi-enplätze viele Plätze unbesetzt bleiben. Der Start diesesPortals wurde aus technischen Gründen mehrfach ver-schoben, zuletzt auf das Wintersemester 2013/2014.Was schlägt die Bundesregierung jetzt vor? Sie ziehteine Privatisierung der HIS-IT in Betracht, ganz so, alshätte es die ganzen negativen Erfahrungen der letztenJahre mit Privatisierungen und Deregulierungen nicht
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19628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Nicole Gohlke
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gegeben. Ich freue mich sehr, dass von der Privatisie-rung der HIS-IT im vorliegenden SPD-Antrag nicht dieRede ist. Thüringens Bildungsminister Matschie von derSPD war ja leider Mitbeförderer dieser Idee.Für die Linke ist klar: Die Hochschulzulassung gehörtin die öffentliche Hand.
Es kann nicht sein, dass irgendwann private Anbieterzum Beispiel über die Höhe der Kosten für die Vermitt-lung eines Studienplatzes entscheiden, die dann viel-leicht auch noch von den Bewerberinnen und Bewerbernoder von den Hochschulen getragen werden müssen.Natürlich brauchen wir eine Plattform, die es den Stu-dienbewerberinnen und Studienbewerbern ermöglicht,einen Überblick über Studienangebote zu bekommen,und mit der die Studienplatzvergabe koordiniert wird.Diese Plattform kann aber – ganz egal, wie gut sie tech-nisch ausgerüstet ist – nicht die Zehntausenden jährlichfehlenden Studienplätze ersetzen. Das ist doch das ei-gentliche Problem.
Wir brauchen endlich eine Aufstockung des Hoch-schulpaktes auf mindestens 500 000 Studienplätze undein Bundeszulassungsgesetz, das jedem Studienberech-tigten das Recht auf ein Studium garantiert. Das Bundes-verfassungsgericht hat in seinem NC-Urteil von 1972 inaller Deutlichkeit gesagt:
Die Beschränkung des Hochschulzugangs ist eineGrundrechtseinschränkung, die nur zur Regulierung ei-nes temporären Mangels an Studienplätzen überhauptzulässig ist. – Dieser temporäre Mangel hat nun geradeseinen 40. Geburtstag.
Die Tausenden Schülerinnen und Schüler, die in denvergangenen Jahren empört auf die Straße gegangensind, brauchen nicht nur eine bessere Software, sie brau-chen vor allem einen Studienplatz.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahr2008 brachten SPD und CDU/CSU das dialogorientierteZulassungsverfahren auf den Weg. Alle waren voll derHoffnung, endlich ein Instrument gefunden zu haben,das den Hochschulen ein Höchstmaß an Autonomie zu-billigen und gleichzeitig einen effektiven Mitteleinsatzgewährleisten würde. Der Zuversicht des Jahres 2008folgten Ärger und Enttäuschung. Im Jahr 2012 kann maneigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln.Das Problem ist: Wie konnte das Parlament sich solange von einem staatlichen Unternehmen wie derHIS GmbH an der Nase herumführen lassen?
Wir alle wünschen uns eine schnelle Lösung der techni-schen Probleme im Sinne der Hochschulen und der Stu-dienbewerber; darüber haben wir ausführlich diskutiert.Gerade die Hochschulen sind in diesem Prozess dieLeidtragenden der Entwicklung. Sie müssen den glückli-cherweise ansteigenden Zustrom der Studienbewerbermanagen. Gerade hier geraten sie aufgrund der knappenPersonal- und Finanzausstattung durch die zuständigenLänder mehr und mehr an ihre Grenzen. Bislang habensie es aufgrund einer enormen Anstrengung geschafft– und das verdient höchsten Respekt –, die negativenFolgen für Studierende minimal zu halten. Der Aus-schöpfungsgrad – dies muss man sich auf der Zunge zer-gehen lassen – ist tatsächlich noch gestiegen. Den Hoch-schulen muss hier höchster Respekt zuteilwerden.Aber auch die Studienplatzbewerber brauchen dasdialogorientierte Zulassungsverfahren; darüber herrschtEinigkeit. Es würde helfen, dass Bewerberverfahren zü-gig durchgeführt werden können. Damit wäre auch früh-zeitiger klar, an welcher Hochschule sie einen Studien-platz erhalten. Bislang haben Nachvermittlungen und dieStudienplatzbörse erstaunlich gut funktioniert. Doch denÄrger kann das kaum lindern. Glauben Sie mir, mich hates geärgert, dass uns die HIS GmbH – das haben wirsehr ausführlich im Ausschuss diskutiert – in der Ver-gangenheit nie über die tatsächlichen Probleme infor-miert hat. Das ist der Punkt.
Sie hat im Gegenteil immer wieder verlauten lassen,man sei voll im Zeitplan. Dann, kurz vor Erreichen desnächsten Meilensteins, kam die Mitteilung, es gebe dochnoch Probleme und ein weiterer Zeitverzug sei unum-gänglich. Ich erinnere mich an den April letzten Jahres:Wenige Tage vor dem geplanten Start wurden wir nochin dem Glauben gelassen, es könne funktionieren. Dasist wirklich unverschämt und kann nicht länger hinge-nommen werden. Daher wurden bereits – ich sage, zuRecht – personelle Konsequenzen gezogen.Meine Damen und Herren von der SPD, zu dieser Si-tuation haben Sie kein Wort verloren. Das Problem liegtjedoch genau darin begründet: Wir konnten nicht zeitiggenug reagieren, weil uns immer wieder etwas anderesgesagt wurde.In der Analyse, liebe Kolleginnen und Kollegen derSPD-Fraktion, kann man das, was in Ihrem Antrag steht,im Großen und Ganzen sicherlich teilen, von dem Aus-setzer bezüglich der HIS GmbH einmal abgesehen.Trotzdem hilft uns dieser Antrag nicht weiter.Ich sage Ihnen auch, warum er nicht weiterhilft: WieSie richtig darstellen, hindern uns derzeit technische
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19629
Dr. Martin Neumann
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Probleme daran, das dialogorientierte Serviceverfahrenzum Funktionieren zu bringen. Die Ursachen hierfürsind vielschichtig; darüber ist gesprochen worden. Esliegt vor allen Dingen daran, dass die beauftragten Un-ternehmen an den Hochschulen nur eine stark veralteteSoftware vorgefunden haben, sodass die Schnittstellen-problematik nicht beherrscht werden konnte.An dieser Stelle muss ich sagen: Diese Problemekann die Politik nicht lösen, wenngleich hier ein entspre-chender Eindruck vermittelt wird. Es würde auch nichtweiterhelfen – Kollegin Grütters hat es angesprochen –,wenn der Bund, der bereits 15 Millionen Euro zur Verfü-gung gestellt hat, weitere Kosten übernehmen würde, umUmgehungs- oder Ersatzlösungen zu schaffen. Denn ei-gentlich obliegt es den Ländern, ihre Verantwortung fürdie Hochschulen selbst zu schultern. Wir brauchen diegemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, besondersdie der Länder. Die Länder müssen dafür Sorge tragen,dass an ihren Hochschulen eine moderne und zeitge-mäße Softwareausstattung zur Verfügung steht.
Ich hatte vorhin von dem Respekt vor den Leistungender Hochschulen gesprochen. Die Hochschulen brau-chen vor allen Dingen eine schnelle Entlastung im Be-reich der Verwaltung, indem ihnen auch personell eineangemessene Ausstattung zur Verfügung steht, um dasBewerbermanagement ordentlich bewältigen zu kön-nen. Wir freuen uns ja darüber, dass sich viele Studie-rende an den Hochschulen anmelden.Bezüglich der weiteren Projektdurchführung erwartetmeine Fraktion, dass wir als Deutscher Bundestag regel-mäßig und vor allen Dingen in einem transparenten Ver-fahren über den Projektfortschritt informiert werden.
Auf Probleme muss frühzeitig hingewiesen werden. Woes nötig ist, muss rechtzeitig gegengesteuert werden.Wenn wir aus diesem Projekt eines gelernt haben,dann ist es aus meiner Sicht – das ist die Erfahrung desheutigen Tages –, dass es nicht günstig war, ein öffentli-ches Unternehmen mit der Projektdurchführung zu be-auftragen. Zum einen kann gerade bei einer solchenKonstellation die Leistungserbringung nicht ausreichendvon der Kontrolle getrennt werden. Zum anderen stehenuns als Auftraggeber kaum Sanktionsmöglichkeiten zurVerfügung. Jedes private Unternehmen hätte man zuRecht mit Regressforderungen konfrontieren müssen.Insofern begrüßen wir die Überlegungen des BMBF,den IT-Geschäftsbereich der HIS GmbH in eine privateTrägerschaft zu überführen. Meine Fraktion steht diesemAnsinnen ausgesprochen positiv gegenüber. Damit er-hoffen wir uns mehr Professionalität und letztendlichauch eine bessere Steuerungsmöglichkeit für uns.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Studierende, die heute unsere Debatte verfolgen, werdensich die Haare raufen,
und das nicht nur wegen des Privat-vor-Staat-Mantrasmeines FDP-Vorredners. Die Studienplatzbewerber inunserem Land erleben jedes Jahr aufs Neue dieses Stu-dienplatzparadoxon: Einerseits gibt es immer mehr undhöhere Zulassungsbeschränkungen, andererseits gibt esSemester für Semester Zehntausende Studienplätze, dieunbesetzt bleiben. Das muss sich ändern.
Wenn man an das Nichtstun des Bundesbildungsmi-nisteriums und das sehr ernüchternde Fachgespräch imBundesbildungsausschuss denkt, dann erkennt man dieGefahr, dass sich das Ganze nicht so schnell ändert.Lasse ich die Pleiten-Pech-und-Pannen-Serie der letztenMonate und Jahre zu diesem Thema Revue passieren,dann bekomme ich den Eindruck, dass die Erarbeitungdes dialogorientierten Serviceverfahrens leider eine Ne-ver-ending Story wird.Der Startschuss für die Erarbeitung des neuen Stu-dienplatzvergabeverfahrens fiel bereits zu Zeiten derGroßen Koalition. Als Starttermin wurde das Winter-semester 2011/2012 anvisiert, ein sowieso schon zu spä-ter Zeitpunkt also, weil dann längst die ersten doppeltenAbiturjahrgänge vor den Hochschultüren standen. SeitJahren ist doch bekannt, dass es so viele Studienberech-tigte wie nie zuvor gibt; aber es gibt kein funktionieren-des Zulassungsverfahren. Über diesen Zustand kannman einfach nur den Kopf schütteln.
Angesichts dieses vermurksten Prozesses stellen wiruns immer wieder die Frage: Wie konnte es eigentlichpassieren, dass bei der Softwareerarbeitung niemandgeprüft hat, ob das neue Softwareverfahren auch wirk-lich mit bestehenden IT-Lösungen an den Hochschulenkompatibel ist,
dass sie untereinander kommunizieren können, dass daDatenfluss stattfinden kann? Offensichtlich gilt: VieleKöchinnen und Köche haben hier den Brei verdorben.Besonders nervt uns an dieser Stelle auch das Weg-ducken von Bundesbildungsministerin Schavan. Auchihr fehlendes Projektmanagement rächt sich bei den Stu-dienbewerberinnen und Studienbewerbern immer mehr.
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19630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Kai Gehring
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Der schwarz-gelbe Vorschlag einer Privatisierung derHIS-Softwaresparte hilft aus unserer Sicht nicht weiter.Wir halten das für ein Ablenkungsmanöver. Das Zulas-sungschaos wird damit nicht beendet, sondern drohtnochmals verlängert zu werden.
Wenn man sich überlegt, welch ein Prozess bei solcheiner Privatisierung in Gang gesetzt wird, dann erkenntman: Das hilft doch nicht weiter.Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion überzeugtuns auch noch nicht. Natürlich gibt sich hier überhauptniemand damit zufrieden, wenn die Softwareentwicklersagen, es gebe zum nächsten Wintersemester wohl nureinen Pilotbetrieb mit einigen wenigen Hochschulen.Aber der Vorschlag, zum jetzigen Zeitpunkt ein komplettneues Alternativverfahren zu erarbeiten, widersprichtdoch den Äußerungen der Sachverständigen aus derAnhörung des Bundestagsbildungsausschusses, wonachdie Entwicklung von Alternativen oder eines Plans B zuweiteren Verzögerungen führe. Das wäre – auch da sindwir alle uns einig – das Letzte, was die Studienbewerbe-rinnen und -bewerber jetzt brauchen können.Wir sollten stattdessen alle Kräfte bündeln, das heißtmehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfü-gung stellen, Technik- und Datenschutzprobleme lösenund den Prozess des dialogorientierten Serviceverfah-rens doch noch zu einem Erfolg führen. Ich glaube, wirsollten uns darauf konzentrieren, dass dieses dialog-orientierte Serviceverfahren am Ende funktioniert.
Die beste Medizin gegen immer höhere Zulassungs-beschränkungen ist es, deutlich mehr Studienplätze zuschaffen. Die klar nach oben korrigierte KMK-Prognosezeigt doch: Wir haben es nicht mit einem kurzzeitig vor-handenen Studierendenberg zu tun, sondern zum Glückmit einem dauerhaften Studierendenhochplateau. WennMinisterin Schavan ihren eigenen Hochschulpakt tat-sächlich als atmendes System ansieht und ihn ernstnimmt, dann muss sie jetzt Gespräche mit den Ländernaufnehmen, um den Hochschulpakt auszuweiten undmehr Studienplätze zu schaffen.Wir brauchen mehr Studienplätze mithilfe des Hoch-schulpakts, eine funktionierende Hochschulsoftware fürdie Studienplatzvergabe und bundeseinheitliche Regelnzur Hochschulzulassung. Hier können wir, der Bundes-tag, gemeinsam etwas auf den Weg bringen. EndlosesZulassungschaos wäre jedenfalls für den Technologie-und Wissenschaftsstandort Deutschland blamabel. Dazudarf es nicht kommen.
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnenund Kollegen! Das dialogorientierte Serviceverfahrenwurde entwickelt, um die Studienplatzvergabe sowie dieAuswahl von Studierenden im Sinne der Hochschulenund der Studierenden zu vereinfachen. Mit dem Start desSystems soll das europaweit modernste Hochschulzulas-sungsverfahren an den Start gehen.Wie wir alle wissen, gibt es nun große Probleme beider Anbindung zwischen den hochschuleigenen Soft-waresystemen und dem DoSV. Zur Behebung diesertechnischen Probleme versucht die HIS nun, die notwen-digen Konnektoren zu entwickeln. Ziel ist es, im Winter-semester 2013/2014 das System endlich final einzu-führen. Zur Absicherung, dass dieser Termin dannhoffentlich auch eingehalten werden kann, ist für dasWintersemester 2012/2013 die Implementierung einesPilotprojekts vorgesehen. Es gibt also keinen Grund fürdie SPD, in ihrem Antrag die ohnehin gesetzten Fristennoch einmal einzufordern.Wir alle – nicht nur Sie von der SPD – waren ent-täuscht und auch sehr verärgert darüber – und das sindwir auch weiterhin –, dass allen Zusagen der Verantwort-lichen zum Trotz der Zeitplan zum wiederholten Malenicht eingehalten werden konnte.Natürlich fragt man sich, wie solche Verzögerungenund Fehleinschätzungen zustande kommen können.Aber zur Lösung des aktuellen Problems trägt die Ant-wortsuche allein nicht bei. Die Suche nach einem Sün-denbock wird die technischen Probleme dieses sehrkomplexen Systems nicht lösen. Vielmehr ist es jetztwichtig, dass wir alle gemeinsam an diesem Projekt fest-halten. Denn für die Zukunft unserer Hochschulen istdieses effiziente System von enormer Bedeutung; alleinmehr Geld reicht hier nicht.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dassdas dialogorientierte Serviceverfahren an sich schon sehrgut funktioniert. Die 15 Millionen Euro des Bundes sindnicht einfach versickert. Es geht nun lediglich darum, dieSchnittstellenproblematik zu lösen.Insgesamt bietet das neue Verfahren gegenüber derderzeitigen Situation für alle Beteiligten, also sowohl fürStudienanfänger als auch für die Hochschulen, immenseVorteile, und die Kultusministerkonferenz – das wurdeschon erwähnt – prognostiziert, dass in den kommendenJahren bis 2020 mit einem absoluten Anstieg der Zahlder Studienanfänger zu rechnen ist. So werden 2013knapp 490 000 Studienanfänger an den Hochschulenerwartet. Im Studienjahr 2011 betrug der Zuwachsdeutschlandweit ganze 16 Prozent. In Bayern sind sogar32 Prozent mehr als im Jahr 2010 zu verzeichnen gewe-sen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19631
Florian Hahn
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Selbst wenn man die Effekte durch die doppeltenAbiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflichtberücksichtigt, zeigen die Zahlen, dass wir mit unsererbisherigen Hochschulpolitik mit dem Ziel, die Anzahlder Studierenden zu erhöhen, und auch der angestrebtenNeuregelung der Studienplatzvergabe auf dem richtigenWeg sind.Die Politik steht vor der Aufgabe, durch einen effi-zienten Einsatz der Ressourcen dieser steigenden Zahlvon studierwilligen jungen Menschen gerecht zu wer-den. Das dialogorientierte Serviceverfahren kann zurEntschärfung der Zulassungssituation in den überfülltenStudiengängen erheblich beitragen.Wesentliche Vorteile sollen darin bestehen, dass durchdas DoSV ein hocheffizientes und zentrales Vergabever-fahren organisiert werden kann, ohne dass in die Auto-nomie der Hochschulen eingegriffen werden muss. DesWeiteren werden den Studierenden bei der Studienplatz-wahl viele Freiheiten eingeräumt.Genau diese positiven Änderungen für die Studieren-den und Hochschulen hatten uns dazu veranlasst, vonsei-ten des Bundes 15 Millionen Euro als Anschubfinanzie-rung bereitzustellen, obwohl dies eigentlich in dieZuständigkeit der Länder gefallen wäre.
Die Länder haben sich wiederholt zur weiteren Finan-zierung bekannt. Das schließt auch die Kosten für dienotwendigen Konnektoren ein. Deshalb sehe ich keinenGrund für eine Änderung, und ich verstehe auch nicht,warum die SPD nun erneut Forderungen nach weiterenBundesmitteln stellt. Dass es hier überhaupt kein Geran-gel um Zuständigkeiten gibt – und schon gar keine Zwei-fel an der Finanzierung des Projekts insgesamt –, hatStaatssekretär Rachel schon im November 2011 klar-gemacht.Mir drängt sich daher eher ein bisschen der Verdachtauf, dass mit dieser kurzsichtigen Forderung nur eineserreicht werden soll: die Entlastung der leeren und maro-den Kassen der SPD-geführten Bundesländer.
– Die laute Reaktion zeigt, dass der Nerv getroffen ist.Auch die Einführung des „Typs D“ als Notfallplan,wie von der SPD in ihrem Antrag skizziert, ist aus mei-ner Sicht nicht durchsetzbar; das wird auch von denHochschulen abgelehnt. Auch dieses System würde auf-grund seiner technischen Komplexität nicht vor demWintersemeser 2014/2015 zum Laufen gebracht werdenkönnen,
und ich möchte mir auch gar nicht ausmalen, wie sehr dieEinführung des „Typs D“ zu weiteren Unsicherheiten beiden Universitäten führen würde. Vor allem für kleinereHochschulen mit einer überschaubaren IT-Abteilungwäre die Einarbeitung in ein weiteres Zulassungsverfah-ren mit einem erheblichen finanziellen und zeitlichenAufwand verbunden, ganz abgesehen von den Daten-sicherheitsrisiken, auf die die Kollegin Prof. Rüttgers –
– Grütters – schon hingewiesen hat.Dem Antrag der SPD kann ich daher nicht zustim-men.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich heiße insbesondere die vielenjungen Leute, die heute dieser Debatte folgen, herzlichwillkommen; denn bei dieser Diskussion geht es auchum ihre Zukunft.Ich möchte das aufgreifen, was der Kollege Gehringbereits angesprochen hat. Die Zuständigkeitsdebattebringt keine Lösung.
Herr Kollege Hahn, Sie haben auf die leeren Kassen inden SPD-geführten Ländern verwiesen. Ich bitte Sie, zurKenntnis zu nehmen, was in Schleswig-Holstein undeinigen großkoalitionärgeführten Ländern los ist. HerrKollege Neumann, das Problem ist: Man kann nicht überSteuersenkungen reden
– doch, die FDP hat das getan – und dann den Länderndas Geld wegnehmen, damit Sie Ihren Verpflichtungennachkommen können.
Herr Neumann, Ihr Tun passt nicht zur Situation.Schon seit 2008 reden wir über das dialogorientierte Ser-viceverfahren, und nun endet alles im Chaos. Wir habendieselbe Situation wie damals im Jahre 2008, als wir inder Großen Koalition damit begonnen haben, etwas inBewegung zu setzen. Aber nichts ist geschehen. Immernoch werden 16 000, 18 000, 20 000 Studienplätze imJahr nicht besetzt, und das trotz der steigenden Zahl derStudierwilligen.
Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Hier muss angesetztwerden.
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19632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Klaus Hagemann
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Das Handelsblatt hat es kürzlich sehr treffend ausge-drückt: Das Bewerbungsverfahren ist immer noch einGlücksspiel. Das ist der richtige Ausdruck. Man könnteauch sagen: Ohne Spesen nichts gewesen; denn bisher istdem Parlament noch nichts vorgelegt worden. DasSchwarze-Peter-Spiel, das Sie hier betreiben, ist unange-bracht.
Sie schieben dem HIS, dem Hochschulinformationssys-tem, die Schuld zu. Herr Staatssekretär Braun, soweit ichweiß, ist das Bundesministerium für Bildung und For-schung im Aufsichtsrat der HIS vertreten,
und trotzdem haben Sie keine Initiative ergriffen; dabeistellen Sie sogar den Aufsichtsratsvorsitzenden. Ichfrage Sie: Wo war das Krisenmanagement von FrauSchavan? Wo war das Krisenmanagement Ihres Ministe-riums, Herr Staatssekretär Braun? Diese Fragen sind zustellen. Wir müssen uns intensiv um dieses Themakümmern.
Die Süddeutsche Zeitung hat gestern von einem mise-rablen Krisenmanagement gesprochen. Dem kann ichmich nur anschließen.
Sie haben in den zurückliegenden Wochen und Monatenimmer wieder gesagt: Es ist alles in Ordnung, es läuftalles sehr gut.
Frau Grütters hat eben am Anfang der Debatte ähnlichgesprochen.
– Hören Sie doch einmal zu. Ich habe im Dezember desvergangenen Jahres eine Frage zum aktuellen Stand hin-sichtlich der Einführung des dialogorientierten Service-verfahrens gestellt. Da hieß es noch: Wir sind noch inder „laufenden Bestellphase“. Das ist ein wörtlichesZitat aus einer Antwort des Bundesbildungsministe-riums. Wir haben Ende Februar dieses Jahres erneutdanach gefragt. Die Antwort macht deutlich: In der„Braunschweiger Straße“, im Bildungsministerium, istman im Tal der Ahnungslosen, Herr Kollege Staatssekre-tär Braun.
Wir haben gefragt: Wie viel unbesetzte Studienplätzegibt es im Wintersemester 2011/2012? Antwort: „Dasliegt dem Bundesministerium für Bildung und For-schung noch nicht vor.“ Wo ist denn Ihr Plan B für dasZulassungsverfahren, damit es wenigstens im nächstenSemester, das vor der Tür steht, einigermaßen läuft?
Wir haben weiterhin gefragt: Wie viele Hochschulensind technisch angebunden oder können angebundenwerden? Antwort: „Eine Überprüfung beginnt erst am27. Februar“, also vor 14 Tagen. Man sieht: Das Tal derAhnungslosen; so ist es doch! Wir haben auch nachzusätzlich zur Verfügung gestellten Mitteln gefragt; dennwenn der Bund für das Krisenmanagement zuständig ist,dann müssen auch entsprechende Mittel zur Verfügunggestellt werden, damit die Länder nicht ausgeblutet wer-den. Hier ist Handlungsbedarf vonseiten des Bundesgefragt, hier müssen die Maßnahmen zusammengeführtwerden.Das Krisenmanagement – Kollege Schulz hat es dieSteuerung genannt – muss beim Bundesministerium lie-gen; denn wir sollten auch an den volkswirtschaftlichenSchaden denken, der dadurch entsteht, dass jedes Jahr18 000 bis 20 000 Studienplätze nicht besetzt sind, undzwar gerade in den Bereichen, in denen wir Fachkräftemit Masterabschlüssen brauchen.
Das ist doch der entscheidende Punkt. Wir haben daseinmal hochgerechnet: In fünf bis sechs Jahren könnendadurch 600 bis 800 Millionen Euro volkswirtschaftli-cher Schaden entstanden sein.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. – Wer von der Bildungsrepu-
blik spricht, der muss auch hier entsprechend handeln
und darf nicht schon am elektronischen Hochschulzulas-
sungsverfahren scheitern.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8884 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19633
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-reformgesetzes– Drucksache 17/8235 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/8867 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje TillmannBernd ScheelenDr. Daniel VolkDr. Gerhard SchickNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Antje Tillmannfür die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Gäste! Der Titel des Basisgesetzes desGesetzentwurfs, den wir heute beraten – Gemeindefi-nanzreformgesetz –, erweckt den Eindruck einer um-fangreichen Reform der der Gemeinde zur Verfügungstehenden Finanzen. Tatsächlich wird mit diesem Gesetzweder eine neue Einnahmequelle eröffnet noch eineSteuer in ihrer Höhe verändert. Es geht um die Vertei-lung des rund 27,6 Milliarden Euro hohen Gemeindean-teils an dem Einkommensteuer- bzw. Lohnsteuerauf-kommen auf die einzelnen Gemeinden.Nach Art. 106 unseres Grundgesetzes sind die Länderverpflichtet, an ihre Gemeinden einen Anteil am Auf-kommen der Einkommensteuer auf der Grundlage derEinkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzu-leiten. Diese Regelung in unserer Verfassung hat denSinn, einen Zusammenhang zwischen Bürger und Ge-meinde herzustellen. Ähnlich wie bei der Gewerbesteuer,bei der es um das Verhältnis zwischen Gewerbebetriebund Gemeinde geht, ist es bei der Einkommensteuer: DerEinkommensteuerzahler soll ein Verhältnis zu seiner Ge-meinde haben. Deshalb die Abhängigkeit von der Ein-kommensteuerleistung.Um das Gefälle zwischen Gemeinden mit sehr hohenEinkommensteuerzahlungen und Gemeinden mit ehereinkommensschwachen Bürgern nicht extrem werden zulassen, hat man bei der Einführung des Gemeindere-formgesetzes bestimmte Höchstbeträge hinsichtlich derzu versteuernden Einkommen eingeführt: 30 000 Eurofür Alleinstehende und 60 000 Euro für zusammenver-anlagte Ehegatten. Diese Grenzen sind seit 2006 nichtmehr erhöht worden.Die Einkommensentwicklung ist positiv. Deshalb isteine Anpassung dieser Höchstgrenzen erforderlich, umder Verfassung Genüge zu tun. Der heute vorliegendeGesetzentwurf sieht vor, diesen Höchstbetrag auf 35 000bzw. 70 000 Euro zu erhöhen. Wir haben sehr intensiv,sowohl im Finanzausschuss als auch in der Unterarbeits-gruppe Kommunales, über die Auswirkungen gespro-chen. Vertreter der kommunalen Spitzenverbände unddes Finanzministeriums haben uns gegenüber dargelegt,dass es auch bei den Gemeinden, die aufgrund des Gottsei Dank gestiegenen Einkommensteueraufkommens ei-nen Anteil abgeben müssen, nicht zu Mindereinnahmenkommen wird. Probleme kann es aber durchaus bei grö-ßeren Städten mit einkommensschwachen Bürgerinnenund Bürgern geben. Auf diese müssen wir weiterhin un-ser Augenmerk richten.Mit Bundesgesetzen wie dem Bildungs- und Teilha-bepaket und der dauerhaften Übernahme der Kosten derGrundsicherung haben wir gerade diesen Städten eineerhebliche Entlastung verschafft. Aber auch bei den wei-teren Bundesgesetzen müssen wir unser Augenmerk ge-rade auf die Städte mit einkommensschwachen Bewoh-nern richten. Ich bin sicher, dass wir die Auswirkungenvon Bundesgesetzen weiterhin genau beachten werden.
Das ist der eigentliche Teil des Gesetzentwurfs.Wir haben den Gesetzentwurf im Laufe der Zeit umdrei weitere Punkte ergänzt.Zum einen geht es um die Aufhebung des ermäßigtenUmsatzsteuersatzes für Pferde. Das hat mit Gemeindennichts zu tun. Es liegt eher an dem zeitlichen Ablauf,dass diese Änderung des Umsatzsteuergesetzes an die-sen Entwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreform-gesetzes angehängt wurde. Dies war erforderlich, weilder EuGH, der Europäische Gerichtshof, uns im vergan-genen Jahr darauf hingewiesen hat, dass das deutscheMehrwertsteuerrecht hinsichtlich des ermäßigten Mehr-wertsteuersatzes auf Pferde nicht mit der Mehrwert-steuer-Systemrichtlinie vereinbar ist.Der EuGH ermahnt uns, unter dem ermäßigten Mehr-wertsteuersatz nur noch Tiere zu erfassen, die zur Her-stellung von Nahrungs- oder Futtermitteln oder zum Ein-satz in der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmtsind. Künftig müsse bei der Veräußerung von anders ge-nutzten Pferden ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozentgelten.Wir haben im Berichterstattergespräch sehr intensivdarüber beraten, wie wir das Urteil des EuGH möglichsteng umsetzen, um die Forst- und Landwirtschaft nicht zubelasten. Tatsächlich gibt es aber keine einfachen Krite-rien, nach denen man sagen kann, dass ein Pferd in derLandwirtschaft genutzt wird. Die Zahl der Pferde, die inDeutschland gegessen werden, ist mit 0,01 Prozent allerPferde sehr gering, sodass man eine Ausnahme hiernicht rechtfertigen könnte.
Im Berichterstattergespräch haben wir eine sehr auf-schlussreiche Debatte über die Essgewohnheiten inDeutschland geführt. So haben wir zum Beispiel erfah-ren, dass Esel und Maultiere so gut wie gar nicht, Brief-tauben hingegen in manchen Gegenden in Deutschlandhäufig gegessen werden.
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19634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Antje Tillmann
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– Ich kann nicht beurteilen, ob die Tauben schmecken. –Uns wurde jedenfalls dargelegt, dass, glaube ich, in Ba-den-Württemberg durchaus ein Grund für den ermäßig-ten Mehrwertsteuersatz bei Brieftauben gegeben ist, weilsie dort tatsächlich als Nahrungsmittel dienen. Auchwenn sich das ganz amüsant anhört, zeigt es einmalmehr, dass die Liste der Dinge, die unter den ermäßigtenMehrwertsteuersatz fallen, dringend reformbedürftig ist.
Natürlich ist darüber diskutiert worden, ob nebenPferden auch Esel und Maultiere demnächst nicht mehrunter den ermäßigten Steuersatz fallen. Wir müssendiese Liste im Umsatzsteuergesetz reformieren. Eineumfassende Reform konnten wir jetzt aber nicht abwar-ten, da die Europäische Kommission uns abgemahnt hat– es gab bereits eine Fristverlängerung –, sodass wir die-ses Urteil des EuGH zum 1. Juli 2012 umsetzen müssen.Eine komplette Renovierung der Anlage zu § 12 desUmsatzsteuergesetzes ist aber dringend erforderlich.In einem weiteren Punkt folgen wir Anregungen ausder Finanzverwaltung. Die Finanzbeamten hatten vonsich aus festgestellt und an uns herangetragen, dass dieSteuerfreiheit der Vorteile von Arbeitnehmern aus derprivaten Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlasse-ner Software nicht mehr den Gegebenheiten entspricht.Seit 2000 ist nach dem Einkommensteuergesetz dieÜberlassung von Personal Computern steuerfrei. Jedervon uns, der mit Computern umgeht, weiß, dass die altenPersonal Computer größtenteils längst durch moderneDatenverarbeitungs- und Kommunikationsgeräte abge-löst wurden. Zudem ist die Software, die vom Arbeitge-ber zur Verfügung gestellt wird, häufig sehr viel mehrwert als die Hardware, sodass wir uns entschieden ha-ben, die Steuerfreiheit auf moderne Hard- und Softwareauszudehnen und auch die in diesem Zusammenhang er-brachten Dienstleistungen steuerfrei zu stellen.
Wir wollen damit Rechtssicherheit bei Betriebsprü-fungen mit Blick auf die Lohnsteuer schaffen. Es ist aus-gesprochen schwierig, die private Nutzung eines vomArbeitgeber zur Verfügung gestellten Computers abzu-rechnen. Kein Mensch wird verlangen, eine Art Fahrten-buch für die Computernutzung einzurichten; der privateAnteil ist daher schwer zu schätzen. Darüber hinaus wol-len wir fördern, dass Arbeitgeber ihren Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern ermöglichen, von zu Hause auszu arbeiten. Wenn sie die entsprechende Technik zurVerfügung stellen, könnte es für beide Seiten eine Win-win-Situation sein. Gerade im Hinblick auf die Verein-barkeit von Beruf und Familie wollen wir, dass Arbeit-geberinnen und Arbeitgeber Heimarbeitsplätze fördern.
– Dann brauchen wir mehr Breitband, einverstanden. Ichglaube, das ist eine Gesamtstrategie; jetzt gerade geht esum Steuerfreiheit.Wir können auf die geänderten Bedingungen reagie-ren, indem wir die Regelungen vereinfachen und sagen:Alle Computertechniken einschließlich der Software, dieder Arbeitgeber zur Verfügung stellt, werden lohnsteuer-frei gestellt. Dabei muss kein privater Anteil versteuertwerden. Ich will aber nicht verhehlen, dass es auch einebreite Diskussion über möglichen Missbrauch gegebenhat. Als Beispiel wurde genannt, dass man versuchenkönnte, dem Betriebsprüfer eine Spielkonsole als Be-triebsmittel unterzujubeln. Sollte es zu Missbrauch kom-men, werden wir diese Regelung überdenken müssen.Von daher appelliere ich an all diejenigen, die damit zutun haben: Gehen Sie vernünftig damit um, damit wirdiese Vereinfachung zugunsten der Steuerbürger durch-setzen können und Steuervereinfachung an andererStelle folgen kann.Ein weiterer Punkt in dem Gesetzentwurf befasst sichmit der Dividendenbesteuerung, mit dem Schachtelprivi-leg. Hier reagieren wir auf ein BFH-Urteil. Dieser hat imletzten Jahr geurteilt, dass Dividenden, die von ausländi-schen Kapitalgesellschaften an inländische Kapitalgesell-schaften gezahlt werden und nach einem Doppelbesteue-rungsabkommen steuerfrei gestellt sind, bei hybridenGesellschaften wie der Kommanditgesellschaft auf Ak-tien oder der stillen Beteiligung dem persönlich haftendenGesellschafter selbst dann steuerfrei zufließen, wenn essich um eine natürliche Person handelt. Sie können sichvorstellen, dass wir zu diesem Thema ein eigenes Fach-gespräch durchgeführt haben; das ist nämlich eineschwierige Materie. Wir haben es von dem anderen Teildes Gesetzes abgekoppelt, um die Situation der Gemein-den intensiv beraten zu können und zu vermeiden, dass siein der allgemeinen Diskussion untergehen.Nach deutschem Recht ist die Dividende der natürli-chen Person und nicht der Kapitalgesellschaft zuzurech-nen. Das sogenannte Schachtelprivileg in den Doppelbe-steuerungsabkommen würde dazu führen, dass es zu garkeiner Besteuerung kommt. Das kann nicht Sinn der Sa-che sein. Alle Sachverständigen haben in der Anhörungbestätigt, dass Doppelbesteuerungsabkommen den Sinnhaben, doppelte Besteuerung zu verhindern, und nichtden Sinn, Nichtbesteuerung zu erzeugen.Alle Sachverständigen hielten diese Regelung fürnicht sachgerecht. Aber auch die heute von uns vorge-schlagene Lösung, trotz der Doppelbesteuerungssteuer-freiheit in § 50 d des Einkommensteuergesetzes eine Be-steuerung vorzusehen, haben die Sachverständigenmassiv kritisiert. Auf unsere Aufforderung, uns eine an-dere Formulierung vorzuschlagen oder andere Lösungs-vorschläge zu machen, hat leider kein einziger Sachver-ständiger reagiert, sodass wir zum ursprünglichenGesetzestext zurückgekehrt sind. Wir werden über § 50 ddes Einkommensteuergesetzes eine Besteuerung der Ka-pitalerträge sicherstellen, weil wir verhindern wollen,dass durch Rechtsgestaltungen am Finanzamt vorbeiSteuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe verursachtwerden. Wir glauben, Nichtbesteuerung ist keine Steuer-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19635
Antje Tillmann
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gerechtigkeit. Außerdem können wir nicht auf jahrelangeVerhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen war-ten.Wir handeln heute und sofort, damit Bund, Länderund Kommunen die Steuern, die ihnen zustehen, tatsäch-lich bekommen. Gleichzeitig haben wir das Bundes-finanzministerium beauftragt, dieses Thema in künftigenVerhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen zuproblematisieren und nach Möglichkeit darauf hinzuwir-ken, dass die Dividenden bei natürlichen Personen inden Doppelbesteuerungsabkommen nicht der Steuerfrei-heit unterliegen. Außerdem befasst sich – hoffentlichnoch in diesem Jahr – eine Arbeitsgruppe des Bundes-finanzministeriums mit der Reform der Besteuerung derKommanditgesellschaft auf Aktien, der KGaA, bei deres häufig zu steuerrechtlichen Problemen kommt. Wirhoffen, dass wir es schaffen, eine einfachere und rechts-sichere Regelung zu treffen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ichbin froh, dass wir uns in diesem Punkt verhältnismäßigeinig waren. Ich hoffe, heute wird auch am Abstim-mungsverhalten abzulesen sein, dass wir uns darin einigsind, Steuersparmodelle ausschließen zu wollen. Wirwollen, dass Steuergerechtigkeit herrscht. An dieserStelle gab es eine Lücke. Diese Lücke werden wir mitdem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf schlie-ßen. Damit stellen wir sicher, dass die Besteuerung inDeutschland nicht von Tricksereien und rechtlichen Ge-staltungen abhängt, sondern dass tatsächlich jeder zurBesteuerung herangezogen wird. Ich freue mich, dasswir diesen Gesetzgebungsprozess heute abschließen.Damit geben wir den Gemeinden Finanzierungssicher-heit und stellen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer imHinblick auf die Lohnsteuer Rechtssicherheit her. Au-ßerdem werden wir, was hybride Gesellschaften betrifft,eine Gestaltungslücke schließen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Frau Tillmann, ich fürchte, die heutige Debatte wird
nicht besonders strittig.
Ich streite mich ja gern mit Ihnen; das wissen Sie. Auch
mit Frau Dr. Reinemund streite ich mich gern. Es macht
nämlich Spaß, sich mit Ihnen zu streiten. Aber über die
Punkte, um die es heute geht, brauchen wir uns nicht zu
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da er den ersten Teil Ihrer Rede, in dem es um den Kerndes Gemeindefinanzreformgesetzes ging, nicht hörenkonnte, werde ich die wesentlichen Aspekte wiederho-len. Sie sagen mir dann, ob das, was ich vortrage, richtigist oder nicht.
– Nein. Ich glaube, das ist angesichts der Einigkeit, diewir am Ende feststellen werden, durchaus wichtig. Wenndie heutige Abstimmung so ausgeht wie die Abstim-mung im Finanzausschuss, werden drei Fraktionen zu-stimmen. Allerdings werden sich zwei Fraktionen, ob-wohl sie großen Teilen des Gesetzentwurfes zustimmen,enthalten, weil sie gegen einzelne Teile Bedenken haben.Am Ende wird große Einigkeit herrschen.Das Erstaunliche ist: Dieses Vorhaben ist nicht strit-tig, obwohl es um relativ viel Geld geht. In diesem Jahrgeht es um etwa 28 Milliarden Euro. Das ist der Anteilder Kommunen am Aufkommen der Lohn- und Einkom-mensteuer. Im Gesetz ist von 15 Prozent die Rede. Dasentspricht für dieses Jahr, wie gesagt, einem Betrag vonetwa 28 Milliarden Euro. Angesichts dieser Summe istes schon erstaunlich, dass dieses Vorhaben nicht streitigist.Der genannte Betrag steht Städten und Gemeinden zu;so steht es in Art. 106 Abs. 5 des Grundgesetzes. DieFrage ist nur: Wie verteilt man diese Summe? Wie ver-teilt man in diesem Jahr und in den Folgejahren 28 Mil-liarden Euro auf die etwa 12 500 Gemeinden in Deutsch-land? Die entscheidende Frage, wenn Geld zu verteilenist, lautet ja immer: Wie sorgt man dafür, dass es dabeigerecht zugeht?Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeitwäre, zu sagen: Wir verteilen das Geld nach der Kopf-zahl. Das wäre eine relativ einfache Regelung, die aller-dings nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entspre-chen würde.Die zweite Möglichkeit besteht darin, nach dem tat-sächlichen Aufkommen vor Ort zu verteilen. Auch daswäre möglich. Das Grundgesetz – Frau Tillmann hat esschon erwähnt – schreibt aber genau vor, dass auf derGrundlage der Einkommensteuerleistung der Einwohnerzu verteilen ist. Eine Verteilung zu 100 Prozent könnteman also auch als grundgesetzkonform ansehen.Die Gesetzgeber von 1969, die das betreffende Bun-desgesetz damals formuliert haben, waren sich aber ei-nig, dass eine gewisse Glättung erforderlich ist, um zuverhindern, dass Gemeinden in Speckgürteln von ein-kommensstarken Einwohnerinnen und Einwohnern be-sonders profitieren, während strukturschwache Gebieteleer ausgehen.Deswegen hat man Kappungsgrenzen bei der Berech-nung des Verteilungsschlüssels eingeführt – Sie habendas erwähnt –: 30 000 Euro bei Alleinverdienern und60 000 Euro bei Doppelverdienern. Das heißt, alles, wasan Einkommen darüber erzielt wird, wird bei der Be-rechnung des Schlüssels nicht mit berücksichtigt. Somit
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19636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Bernd Scheelen
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fließen im Moment etwa 50 Prozent des gesamten Auf-kommens der Lohn- und Einkommensteuer nicht in dieBerechnung des Schlüssels ein.Das ist ein Problem. Deshalb sieht der Gesetzentwurfvor, die Kappungsgrenzen anzuheben auf 35 000 Eurobzw. auf 70 000 Euro. Das bedeutet, dass dann 60 Pro-zent des gesamten Aufkommens in die Berechnung desSchlüssels einfließen. Das ist deutlich mehr Gerechtig-keit als vorher. Deshalb werden wir diesem Vorhabenzustimmen. Mit den vorgesehenen Regelungen wirdauch den Vorgaben des Art. 72 des Grundgesetzes Rech-nung getragen, der die Herstellung gleichwertiger Le-bensverhältnisse immer noch als grundsätzliches Zielbeschreibt.Wenn die Kappungsgrenzen nicht aufgehoben wür-den, wenn wir an den jetzt geltenden Kappungsgrenzenfesthalten würden, was man machen kann, würde dasauch Folgen haben, wie es das Finanzministerium be-rechnet hat. Dann würden etwa 100 Millionen Euro ausdem gesamten Topf umverteilt, und zwar zulasten dergroßen und größeren Städte und zugunsten des ländli-chen Raums. Das ist nicht gewollt. Deswegen ist dieVerteilung nach dem neuen Schlüssel gerechter als dieVerteilung nach dem jetzigen Schlüssel. Deswegen stim-men wir dem zu.Sie haben diesem Gesetzentwurf drei Regelungen an-gehängt, die mit dem eigentlichen Gemeindefinanzre-formgesetz nichts zu tun haben. Dem haben übrigensfast alle Länder und die kommunalen Spitzenverbändezugestimmt.Die erste dieser drei Regelungen betrifft das Schach-telprivileg. Dabei geht es darum, ein Steuerschlupfloch,das durch ein Urteil des Bundesfinanzhofs geöffnet wor-den ist, wieder zu schließen. Es kann durchaus sein, dassSteuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe entstehen,wenn wir das nicht tun. Das heißt, wir sind aufgefordert,schnell zu handeln, um das Steuersubstrat zu erhalten.Wenn es darum geht, Steuerschlupflöcher zu schließen,hat die Koalition uns immer an ihrer Seite. Wir stimmendiesem Vorhaben zu.
Die zweite Regelung in diesem Omnibus, den Sie be-nutzt haben, betrifft die Steuerfreiheit für vom Arbeitge-ber an Arbeitnehmer überlassene Software. Dabei setzenSie auf die Regelung auf, die Rot-Grün im Jahr 2000 fürdie Hardware getroffen hat. Das war damals alles nochrelativ neu. Damals war noch von Personal Computerndie Rede. Manche Firmen haben ihren Arbeitnehmern soetwas gestellt und mit entsprechender Software ausge-stattet. Das war steuerfrei. Mittlerweile geht die Tendenzdahin, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-gene PC zu Hause haben, also eigene Datenverarbei-tungsgeräte. Die Frage ist, ob die in diesem Fall gestellteSoftware besteuert werden soll oder nicht besteuert wer-den soll. Wir halten es ebenso wie Sie für richtig, diessteuerfrei zu stellen, weil eine Trennung zwischen priva-ter und beruflicher Nutzung völlig unmöglich ist. Das istauch ein wichtiger Beitrag zur Steuervereinfachung.Die dritte und letzte Regelung, die Sie an diesen Ge-setzentwurf angehängt haben, betrifft die Aufhebung des7-prozentigen Umsatzsteuersatzes für Pferde. Dabeikommen Sie einem Urteil des Europäischen Gerichts-hofs vom Mai 2011 nach; denn dieser Steuersatz verstößtgegen die Richtlinie über das gemeinsame Mehrwert-steuersystem. Ein 7-prozentiger Umsatzsteuersatz wärenur dann zulässig, wenn die Pferde verspeist würden.Pferde werden in Deutschland aber meistens zum Reitengenutzt.
– Das ist nicht ganz so meine Sache. Wir haben aber ge-rade von Frau Tillmann gehört, dass nur 0,1 Prozent derNahrung dienen. Das ist somit ein zu vernachlässigenderAnteil. Deswegen soll die Besteuerung des Handels mitPferden auf 19 Prozent angehoben werden.Ich finde, das ist auch eine Frage der Gerechtigkeitden Eseln gegenüber. Frau Tillmann, anders als Sie eshier gesagt haben, lauten meine Informationen, dass derHandel mit Eseln bisher auch schon mit 19 Prozent be-steuert wurde. Wenn sich aber zum Beispiel ein Pferde-hengst mit einer Eselstute kreuzt und daraus ein Maul-esel entsteht, dann unterliegt der Handel mit diesem Tiereiner Umsatzsteuer von 7 Prozent. Genauso ist es beiumgekehrten Vaterschafts- und Mutterschaftsverhältnis-sen. Ich glaube, die Esel finden es ganz gut, dass derHandel mit Pferden jetzt auch mit dem Mehrwertsteuer-satz von 19 Prozent belegt wird. Insofern ist das alsoeine Frage der Gerechtigkeit.
Letzte Anmerkung. Sie haben in Ihrem Koalitionsver-trag niedergeschrieben – jetzt komme ich doch noch zueinem etwas strittigen Punkt –, dass Sie sich mit derMehrwertsteuer auseinandersetzen wollen. Es geht umdie Frage, ob sie jeweils 7 Prozent oder 19 Prozent be-tragen soll. Hier bestünde Reformbedarf. Das ist sicher-lich richtig. Dazu haben Sie eine Kommission einge-setzt, die hochkarätig besetzt ist. Sie besteht aus dreiMinistern – Herrn Schäuble, Herrn Rösler und HerrnPofalla – und drei Generalsekretären – Herrn Döring,Herrn Dobrindt und Herrn Gröhe –, die das richten sol-len.Allerdings stellen wir fest, dass sich diese Kommis-sion bis heute immer noch nicht wenigstens konstituierthat.
Die Begründung sind Terminprobleme. Da Sie das inzweieinhalb Jahren nicht hinbekommen haben, frage ichmich, wie Sie das in dem einen Jahr noch schaffen wol-len. Tun Sie also etwas! Haben Sie Mut! Setzen Sie dieseKommission ein!Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19637
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Vielen Dank, Kollege Bernd Scheelen. Wir hätten
zwar gerne noch ein paar Beispiele gehört, aber die Re-
dezeit war zu Ende.
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kolle-
gin Frau Dr. Birgit Reinemund für die Fraktion der FDP.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Ände-rung des Gemeindefinanzreformgesetzes wird von einerbreiten fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen – wirhaben es mehrfach gehört –, sowohl auf Länderebene alsauch hier im Bundestag. Auch der Deutsche Städtetagund der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben ihreZustimmung signalisiert.Einen so großen Konsens erleben wir hier nicht oft,sodass ich dies ganz zu Beginn meiner Rede hervorhe-ben möchte: Die Politik kann durchaus – abseits von al-len medienwirksamen Querelen – gemeinsam Gutes aufden Weg bringen.
Ich wünschte mir, dass dies auch bei weiteren gemeinsa-men Herausforderungen möglich wäre: bei der Energie-wende, bei der Bewältigung der Finanzkrise und aktuellbei der inhaltlich genauso unstrittigen Abstimmung überden Fiskalpakt.Oder ist Ihnen bei der Verankerung der Schulden-bremse in fast allen europäischen Mitgliedstaaten eineähnlich positive gemeinsame Haltung und Signalwir-kung nichts wert? Wollen Sie wirklich diese historischeChance auf mehr Stabilität und weniger Schulden partei-politischem Geschachere opfern, liebe Kolleginnen undKollegen der SPD?
Solche Spielchen sind hier einfach fehl am Platz.
Doch zurück zum Gemeindefinanzreformgesetz. Wirberaten über die Anpassung des Verteilungsschlüsselsfür den Gemeindeanteil an der Lohn- und Einkommen-steuer der einzelnen Kommunen. In diesem Gesetzge-bungsverfahren ist die Bundesregierung lediglich Mode-rator zwischen den Ländern und Kommunen – ohneeigenes finanzielles Interesse. Die Länder haben sich inAbwägung aller Interessen auf einen fairen Ausgleichgeeinigt. 9 von 13 Flächenländern stimmten dem vorlie-genden Vorschlag zu.Warum war das Ganze notwendig? Den Gemeindenstehen 15 Prozent des Lohn- und Einkommensteuerauf-kommens zu. Im Jahr 2012 werden das aufgrund der gu-ten Wirtschaftslage rund 27,6 Milliarden Euro sein. DerBund und auch die Länder und Kommunen erwartenweiterhin Rekordeinnahmen. Die Verteilungsgrundlagefür den kommunalen Einkommensteueranteil wird tur-nusmäßig auf der Basis einer neuen statistischen Grund-lage errechnet. Genau das wird mit dieser Gesetzesände-rung umgesetzt.Ziel ist die faire Verteilung anhand des örtlichen Ein-kommensteueraufkommens. Dies ist grundgesetzlichverankert. Auch das haben beide Vorredner schon ange-merkt. Zudem sollen die Steuerkraftunterschiede zwi-schen den Gemeinden gleicher Funktion und Größe ver-ringert und gleichzeitig das Steuergefälle zwischengroßen und kleinen Gemeinden gewahrt bleiben. Das istein kniffliges Unterfangen. Umso notwendiger ist es,dass hier eine Einigung zwischen allen Akteuren herbei-geführt wurde und wird.Durch diese Anpassung werden die meisten Kommu-nen finanziell besser dastehen, manche – das sind eherdie Ausnahmefälle – allerdings auch schlechter, vor al-lem strukturschwache Großstädte. Dies über den kom-munalen Finanzausgleich abzufedern, liegt in der Ver-antwortung der Länder.Zusätzlich entlastet der Bund alle Städte und Gemein-den in nie dagewesener Höhe durch die Übernahme derGrundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit,beginnend ab dem Jahr 2012. Besonders die struktur-schwachen Großstädte mit schwierigen Sozialstrukturen,die durch den neuen Verteilungsschlüssel eher mit Nach-teilen zu rechnen haben, profitieren davon überdurch-schnittlich.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie es gängige Pra-xis ist, haben wir an diese Gesetzesänderung, die heutein großem Konsens verabschiedet werden wird, einigekleine steuerliche Änderungen angeflanscht.
– Richtig, das ist nicht ideal. Es beschleunigt jedoch dieUmsetzung zum Beispiel von Vorgaben der aktuellenRechtsprechung, die nicht in einem eigenen Gesetz um-gesetzt werden können.Mit der Aufhebung des ermäßigten Umsatzsteuersat-zes für Pferde reagieren wir auf ein Urteil des Europäi-schen Gerichtshofs. Frau Tillmann hat es ausgeführt:Passen wir die nationalen Vorschriften nicht an das Uni-onsrecht an, droht ein EU-Vertragsverletzungsverfahrenmit empfindlichen Strafen.Mit einer weiteren Neuerung passen wir das Steuer-recht an die sich verändernde gesellschaftliche undgeschäftliche Realität an. Arbeitgeber können künftig ih-ren Angestellten nicht nur PCs, sondern auch andereelektronische Endgeräte wie Smartphones und Tablet-computer und vor allem Software steuerfrei zur Nutzungüberlassen. Das ist eine Steuerklarstellung und Steuer-vereinfachung, die unzählige Gerichtsprozesse, zumBeispiel um die steuerliche Bewertung von Home Offi-ces, vermeidet. Flexiblen Arbeitsplätzen gehört die Zu-kunft, gerade vor dem Hintergrund der Vereinbarkeitvon Familie und Beruf. Heute ist Weltfrauentag. Demmuss auch das Steuerrecht Rechnung tragen.
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19638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Birgit Reinemund
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Mit der Änderung des Einkommensteuergesetzes zurBeschränkung des steuerfreien Abzugs von Auslandsdi-videnden schieben wir der missbräuchlichen Ausnut-zung des Schachtelprivilegs einen Riegel vor und schlie-ßen ein weiteres Steuerschlupfloch. Das ist ein weitererBeitrag zu mehr Steuergerechtigkeit.Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen,danke für die überfraktionell gute Zusammenarbeit andiesem Gesetzentwurf und an den Zusatzpunkten.Schön, dass Politik so konstruktiv in der Sache seinkann.
Vielen Dank, Frau Kollegin Reinemund. – Nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin
Frau Dr. Barbara Höll. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Höll.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderungdes Gemeindefinanzreformgesetzes ist meiner Meinungnach nur ein weiterer Beleg für Ihre vermurkste Steuer-politik.
Statt der jahrelang bewährten Tradition der Jahressteuer-gesetze, in welchen notwendige Steuerrechtsänderungenverschiedener Bereiche gebündelt werden, nehmen Sieein Thema und packen einfach noch alles Möglichedazu: Änderung des Verteilungsschlüssels bei der Ein-kommen- und Lohnsteuer, Umsatzsteuerregelung fürPferde, eine Prise steuerfreie Datenverarbeitungsgeräteund ein bisschen Schachtelprivileg mit Doppelbesteue-rungsabkommen. Wer vermutet das alles in einem Ge-setzentwurf zur Gemeindefinanzreform?Im Fokus des Gesetzentwurfs steht die Änderung desVerteilungsschlüssels bei der Lohn- und Einkommen-steuerstatistik. Die Kommunen erhalten 15 Prozent desAufkommens an der Lohnsteuer und der veranlagtenEinkommensteuer. Die Verteilung erfolgt nach einemvereinbarten Schlüssel auf die einzelnen Gemeinden in-nerhalb des jeweiligen Landes. Dieser Schlüssel mussvon Zeit zu Zeit angepasst werden. Das geschieht mitdem vorliegenden Gesetzentwurf nach der Einkommen-steuerstatistik von 2007.Allerdings bleibt eine Reihe von Fragen offen. Esklang schon an: Was ist mit den Kommunen mit über200 000 Einwohnern? Die Bedenken der Landkreisekonnten nicht ausgeräumt werden, und auch vier Bun-desländer haben Bedenken angemeldet.Ein weiterer Punkt ist der ermäßigte Umsatzsteuer-satz für Pferde. Die Änderung ist nicht ganz freiwillig;es geht vielmehr – Frau Tillmann sagte es bereits – umdie Umsetzung eines EuGH-Urteils. Um Strafzahlungenzu vermeiden, müssen wir eine Gesetzesanpassung vor-nehmen.Es gab dazu Überlegungen, bei der Anhebung desermäßigten Mehrwertsteuersatzes auch zwischenSchlachtpferden und Holzrückepferden zu unterschei-den. Davon haben Sie zum Glück Abstand genommen.Der Handel mit Pferden wie mit Eseln wird in Zukunftdem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen.
Allerdings gilt für Maultiere – das heißt, die Mama istein Pferd und der Papa ein Esel – und Maulesel – dieMama ist ein Esel und der Papa ein Pferd – weiter der er-mäßigte Mehrwertsteuersatz. Das ist sehr interessant.
Damit geht die Flickschusterei weiter. Packen Sieendlich eine richtige Beurteilung und eine große, umfas-sende Reform der Mehrwertsteuer an. Dann haben Sieunsere Unterstützung. Das müssen Sie tun.
Bevor ich zu der Frage der Datenverarbeitungsgerätekomme, erinnere ich noch daran, dass wir die von denArbeitgebern den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerin-nen unentgeltlich oder verbilligt überlassene Softwaresteuerfrei stellen wollen; gut.Außerdem erfolgt eine Definitionsänderung. Im Ge-setz soll es jetzt nicht mehr „Personalcomputer“, son-dern „Datenverarbeitungsgerät“ heißen. Ich unterstelleIhnen schon, dass Sie das als Steuervereinfachung be-trachten, glaube aber auch, dass damit der Steuerumge-hung bzw. der Steuergestaltung das Tor weit geöffnetwird. Denn was ist ein Datenverarbeitungsgerät? GehenSie in den MediaMarkt oder zu Saturn. Heute ist jedermoderne Fernseher internetfähig und hat die entspre-chenden Anschlüsse. Damit kann er selbstverständlichso genutzt werden. Selbst die PlayStation 3 ist ganz ein-fach als Abspielgerät für DVDs nutzbar. Das geht alles.Dadurch werden Arbeitgeber natürlich verführt,Lohnbestandteile nicht auszuzahlen und die Abführungvon Sozialversicherungsbeiträgen, zu der sie dann auchals Arbeitgeber tatsächlich verpflichtet wären, einfachdurch die Überlassung solcher Geräte zu umgehen. Dasist eine Steuergestaltung, die wir nicht wollen.
Als letzter Punkt ist die Frage des Schachtelprivilegszu nennen. Hier haben Sie mit unserer Unterstützungrichtigerweise die Tatsache aufgegriffen, dass es in derletzten Zeit dort zu Steuergestaltungen gekommen ist.Sie versuchen jetzt, durch eine Neuregelung dieses Torzu schließen. Das ist richtig. Ob es wirksam ist, werdenwir erst sehen. Allerdings muss ich Ihnen Folgendes sa-gen, liebe Koalitionäre: Bei einer Umstellung von derangewendeten Freistellungsmethode auf die Anrech-nungsmethode würde dieses Problem gar nicht erst ent-stehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19639
Dr. Barbara Höll
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Insgesamt muss ich feststellen: Einige Ansätze indem Gesetzentwurf sind gut. Das Ganze bleibt aber eineFlickschusterei. Deshalb werden wir uns enthalten.Ich fordere Sie auf, endlich eine seriöse Steuerpolitikzu machen. Dann haben Sie auch unsere Unterstützung.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll. –
Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Britta
Haßelmann. Bitte schön, Frau Kollegin Haßelmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
diejenigen, die heute hier zu Gast sind, oder für diejeni-
gen, die vielleicht zuhören, verspricht der Titel „Ge-
meindefinanzreformgesetz“ in der Tat viel mehr, als wir
hier diskutieren. Ich bin von mehreren gefragt worden:
Was diskutiert ihr denn da heute alles? Frau Tillmann, si-
cherlich vermutet niemand, dass wir hier im Kern haupt-
sächlich über drei sachfremde Anhänge des Gesetzes
sprechen. Deshalb will ich in meinen wenigen Minuten
nur ganz kurz darauf eingehen.
Beim Gemeindefinanzreformgesetz reden wir in der
Tat über die Verteilung des Anteils der Kommunen an
der Einkommensteuer und der Lohnsteuer. Hier muss
aufgrund der gesetzlichen Vorgaben des Art. 106 Grund-
gesetz – Sie haben darauf hingewiesen – eine Verände-
rung erfolgen. Darüber ist selbstverständlich auch zwi-
schen den kommunalen Spitzenverbänden, dem Bundes-
rat und uns diskutiert worden.
Wir würden diesem Kerngesetz zustimmen, weil wir
wissen, dass wir aufgrund der Frage des Steuerkraftauf-
kommens nach Art. 106 GG hier natürlich eine Verände-
rung der Höchstgrenze vornehmen müssen. Das sehen
wir auch so, obwohl uns bekannt ist, dass insbesondere
den strukturschwachen Kommunen mit über 200 000
Einwohnern negative Folgen aus dieser Änderung der
Höchstgrenze erwachsen werden. Wir alle im Deutschen
Bundestag – darauf muss man ganz deutlich hinweisen –
haben zu dieser Veränderungsschraube aber keine Alter-
native anzubieten. Deshalb haben wir gesagt: Diesem
Kerngesetz könnten wir an dieser Stelle zustimmen, ob-
wohl wir wissen, dass wir uns dem Thema der struktu-
rellen Unterfinanzierung insbesondere der notleidenden
großen Städte weiter widmen müssen und diese Proble-
matik auch nicht durch die Grundsicherung im Alter be-
hoben ist.
Der zweite Punkt ist die Ausweitung der Steuerbefrei-
ung der Vorteile des Arbeitnehmers aus der privaten
Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlassener Soft-
ware. Darauf will ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen.
Der dritte Punkt ist die Frage der Auslandsdividen-
denbesteuerung und des Schachtelprivilegs. Auch hier
haben wir in der Anhörung, im Berichterstattergespräch
sowie im Finanzausschuss sehr intensiv fachlich disku-
tiert.
Wir hätten uns gewünscht, dass wir Einzelabstim-
mungen dieser sehr verschiedenen Gesetze vornehmen.
Dann hätten wir auch deutlich machen können, wie wir
uns zu den einzelnen Fragen positionieren. Das war lei-
der nicht vorgesehen.
Deshalb komme ich jetzt zum Schluss auf den vierten
Bereich zu sprechen. Das ist ein skandalöser Bereich.
Dem sind Sie ausgewichen. Sie müssen hier etwas tun,
weil Sie beim Thema Mehrwertsteuerreform überhaupt
noch nicht in die Gänge gekommen sind. 2010 haben Sie
von Schwarz-Gelb eine Mehrwertsteuerkommission ein-
gerichtet. Nichts ist seitdem geschehen. Diese Kommis-
sion hat bis heute noch nicht einmal getagt, meine Da-
men und Herren. Sie tragen diese Kommission quasi vor
sich her, nach dem Motto: Wir beseitigen die Mehrwert-
steuerungleichgewichte und kümmern uns um das Phä-
nomen der reduzierten und der vollen Mehrwertsteuer-
sätze. – Diese Unterscheidung kapiert niemand. Kein
Mensch kann sachlich erklären, warum es hier steuerli-
che Unterschiede gibt. Pferde und Maultiere wurden be-
reits als Beispiele genannt. Man kann in diesem Zusam-
menhang auch die Mehrwertsteuersätze für Sessellifte,
Mineralwasser und stillen Sprudel ansprechen. Es ist ei-
gentlich verrückt, dass hier bei der Mehrwertsteuer un-
terschieden wird.
Sie wollten liefern. Hier schaue ich insbesondere Sie
an, meine Damen und Herren von der FDP. Ihr Vorsit-
zender lässt kein Interview aus, um zu sagen: Wir lie-
fern. – Aber Sie liefern nicht.
Sie mussten im Rahmen Ihres Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes den
ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Pferde aufheben,
weil Sie vom Europäischen Gerichtshof unter Druck ge-
setzt worden waren. Sie hatten ein Jahr lang nichts getan
und hätten nun mit Strafzahlungen rechnen müssen,
wenn Sie das nicht geregelt hätten. Das alles ist darauf
zurückzuführen, dass Sie in der Koalition keine Idee zur
Reform der Mehrwertsteuer haben und zerstritten sind.
Sie liefern nicht. Dabei könnten wir da, wenn wir end-
lich zu einer Lösung kämen, Steuereinnahmen generie-
ren und Ungleichgewichte beseitigen.
Wir fordern Sie auf, nicht nur Kommissionen einzu-
richten, sondern auch zu liefern. Das tun Sie seit 2010
nicht. Seitdem hat die Kommission nicht einmal getagt.
Sie sind jetzt gefragt.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Britta Haßelmann.Wir sind am Ende dieser Aussprache; ich schließe sienun.
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19640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Neunten Ge-setzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgeset-zes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/8867, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8235 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koali-tionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten.Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion.Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind wiederum die Koalitionsfraktionen und dieFraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –Niemand. Enthaltungen? – Wieder die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzent-wurf ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDNeuregelung des Rechts der Sicherungsver-wahrung– Drucksache 17/8760 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEEinsetzung einer Expertenkommission zurSicherungsverwahrung– Drucksache 17/7843 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unsererDebatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unserKollege Burkhard Lischka. Bitte schön, Kollege BurkhardLischka.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Neu-regelung der Sicherungsverwahrung, über die wir heuteAbend auf Antrag der SPD-Fraktion debattieren, istwahrscheinlich das wichtigste rechtspolitische Vorha-ben in dieser Legislaturperiode; denn es geht dabei umden Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor gefähr-lichsten Gewalt- und Sexualstraftätern. Das sagt sich soleicht: gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Aberwelche konkreten Fälle sich dahinter verbergen, könnenwir Woche für Woche in unseren Gerichten verfolgen.So wurde vor wenigen Tagen die Anordnung der Siche-rungsverwahrung gegen einen 69-jährigen Mann durchden Bundesgerichtshof bestätigt, der seit seiner Jugendmehrfach Frauen vergewaltigt und Kinder sexuell miss-braucht hatte, bevor er sich zuletzt an einem fünfjährigenNachbarskind vergangen hat. In der vergangenen Wochewurde die Sicherungsverwahrung gegen einen 41-Jähri-gen angeordnet, der als sogenannter Maskenmann dreiJungen ermordet und ebenfalls mehrere Kinder sexuellmissbraucht hatte. Ein anderes, ebenfalls in der vergan-genen Woche eröffnetes Verfahren beschäftigt sich miteinem Täter, der als Tod verkleidet nach der Vorlage ei-nes Horrorfilms ein zwölfjähriges Mädchen in ihrem El-ternhaus erstochen hat. Das sind die Fälle, um die esbeim Thema Sicherungsverwahrung geht.Die Menschen verlangen von der Politik, und zwarvollkommen zu Recht, dass wir sie im Rahmen desrechtsstaatlich Möglichen vor solchen Tätern schützen,insbesondere dann, wenn die erhebliche Gefahr vonWiederholungstaten besteht. Deshalb sage ich deutlich:Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-ben der Schutz und die Sicherheit unserer Mitbürgerin-nen und Mitbürger beim Thema Sicherungsverwahrungoberste Priorität. Das bedeutet, alles gesetzgeberischNotwendige zu tun, damit psychisch gestörte Täter, beidenen die erhebliche Gefahr weiterer schwerster Gewalt-und Sexualdelikte besteht, nicht in die Freiheit entlassenwerden.Konkret heißt das: Wir lehnen Pläne der Bundesjus-tizministerin ab, wonach künftig solche Täter in die Frei-heit entlassen werden sollen, bei denen sich die Gefähr-lichkeit erst nach der Verurteilung, also im Verlauf derStrafhaft, herausstellt. Wer wie die Bundesjustizministe-rin einen Gesetzentwurf vorlegen möchte, der keine Re-gelung für solche Täter enthält, der nimmt bewusst eineerhebliche Sicherheitslücke in Kauf. Deshalb fordere ichSie auf: Nehmen Sie die große Mehrzahl der Bundeslän-der ernst und legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der inverfassungskonformer Weise die Möglichkeit einernachträglichen Therapieunterbringung für solche Straf-täter vorsieht. Alles andere wäre nur Stückwerk.
Der Union biete ich in diesem Zusammenhang aus-drücklich nochmals unsere Unterstützung an, hier einegemeinsame Regelung im Sinne unserer Bürgerinnenund Bürger auf den Weg zu bringen; denn den Anspruch,möglichst viel Sicherheit für die Menschen in unseremLand zu schaffen, wollen wir nicht aufgeben. Das sindwir nicht zuletzt auch den Opfern von Gewalt- und Se-xualdelikten schuldig.Ich empfehle Ihnen auch, im Rahmen einer Neurege-lung die Sicherungsverwahrung auf den Personenkreiszu begrenzen, bei dem eine Sicherungsverwahrung not-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19641
Burkhard Lischka
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wendig ist, nämlich bei den Gewalt- und Sexualstraftä-tern. Straßenverkehrs- und andere Delikte taugen nichtfür eine Sicherungsverwahrung. So etwas provoziert nurdie Gefahr eines erneuten Scheiterns beim Bundesver-fassungsgericht. Das wollen wir nicht, und das sollteauch nicht unser gemeinsames Ziel sein.
Schließlich sage ich Ihnen auch: Machen Sie IhreHausaufgaben. Legen Sie dem Deutschen Bundestagschnell einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Siche-rungsverwahrung vor. Es ist schon ein Skandal, dass in-zwischen fast ein Jahr vergangen ist, seit das Bundesver-fassungsgericht entschieden hat, dass eine Neuregelungnotwendig ist, und Sie haben es erst gestern geschafft,einen Gesetzentwurf in das Kabinett einzubringen.
Die Bundesländer, Herr Ahrendt, haben Sie bereits imSeptember vergangenen Jahres aufgefordert, das Gesetz-gebungsverfahren spätestens bis Juni 2012 abzuschlie-ßen, weil es sonst kaum möglich sein wird, dass dieBundesländer noch innerhalb des Zeitrahmens, den dasBundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich bisMai 2013, ihre Landesgesetze verabschieden. Die Forde-rung der Bundesländer ist also, dass der Bund sein Ge-setzgebungsverfahren bis Juni 2012 abschließt. Manmuss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Das wird Ih-nen wohl kaum gelingen, und zwar nur deshalb, weilsich Schwarz und Gelb in dieser Frage wieder einmalnicht einig sind.Mit jedem Tag, der von nun an ins Land geht, wächstdie Gefahr, dass ab Mai 2013 höchst gefährliche Gewalt-und Sexualstraftäter nur deshalb in die Freiheit entlassenwerden müssen, weil entsprechende gesetzliche Rege-lungen fehlen. Deshalb: Nehmen Sie Ihre Verantwortungwahr. Schließen Sie das Gesetzgebungsverfahren aufBundesebene zügig ab. Sonst tragen Sie als schwarz-gelbe Bundesregierung die Verantwortung dafür, dass abdem kommenden Jahr Schwerverbrecher in diesem Landherumlaufen. Das wäre wirklich der absolute Tiefpunktder Rechtspolitik dieser Bundesregierung, eine absoluteBankrotterklärung, für die es dann auch keinerlei Ent-schuldigung mehr geben würde.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. – Für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ansgar Heveling.
Bitte schön, Kollege Heveling.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten in dieser Woche zwei Anträge zum Thema Si-cherungsverwahrung: erstens einen Antrag der FraktionDie Linke, die eine Expertenkommission einsetzenmöchte,
und zweitens einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion,dessen Kernforderungen sind, zum einen eine weitereBeschränkung der Anlasstaten für die Sicherungsver-wahrung und zum anderen eine Regelung der nachträgli-chen Therapieunterbringung vorzusehen.Sicherlich wollten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD-Fraktion, sich mit diesem Antrag auchein wenig den Anstrich des Treibers der christlich-libe-ralen Koalition bei diesem im Detail sicherlich nichtganz einfachen Thema geben. Der Verlauf dieser Wocheaber zeigt, liebe SPD-Fraktion und lieber Herr KollegeLischka – aus Ihren Worten hatte man den Eindruck,dass es noch nicht ganz bei Ihnen angekommen ist –:Wir sind keine Getriebenen. Wir brauchen uns nicht an-treiben zu lassen, von Ihnen schon gar nicht.
Ein entsprechender Gesetzentwurf ist in dieser Wochedurch das Kabinett gegangen und liegt jetzt zur Beratungvor.
Mit diesem neuen Gesetz wird dafür Sorge getragen,dass auch zukünftig der Schutz der Bevölkerung vorhochgradig rückfallgefährdeten Schwerststraftätern ge-währleistet wird. Ziel muss dabei sein, den – zugegebe-nermaßen – geringen politischen Spielraum, den uns dasBundesverfassungsgericht und der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte noch belassen haben, best-möglich auszuschöpfen. Wir sollten also – das betoneauch ich, ebenso wie Sie, Herr Kollege Lischka – dienächsten Wochen vor allem darauf verwenden, miteinan-der zu beraten, welche Schritte wir gemeinsam bei die-sem Gesetzentwurf gehen können, so wie wir es seiner-zeit auch schon beim Therapieunterbringungsgesetzgetan haben.Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Das Urteil desBundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 stellt eineAbkehr der bisherigen höchstrichterlichen Rechtspre-chung dar. In diesem Urteil hat das Verfassungsgerichtdie bisherigen Regelungen des Strafgesetzbuches zurUnterbringung in der Sicherungsverwahrung für nichtmit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Damit hat sichdas Bundesverfassungsgericht an der Linie des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte orientiert, der inseiner jüngsten Rechtsprechung die nachträgliche Ver-längerung der Sicherungsverwahrung einer Strafegleichgestellt hat.Das Bundesverfassungsgericht hat sich dem nun erst-mals angeschlossen und uns als Legislative mit seinerjüngsten Entscheidung eine Reihe von Aufgaben auf denWeg gegeben: erstens ein Gesamtkonzept der Siche-rungsverwahrung in Bund und Ländern zu entwickeln,zweitens dabei dem Abstandsgebot Rechnung zu tragenund drittens die Materie spätestens bis zum 31. Mai 2013gesetzlich zu regeln.Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung habenwir nun eine Grundlage, zügig gemeinsam darüber zu
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19642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Ansgar Heveling
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beraten, wie die Sicherungsverwahrung künftig ausge-staltet sein soll. Selbstverständlich gehören die in demSPD-Antrag angesprochenen Punkte in diese Diskus-sion. Es sind allerdings nur zwei Aspekte von vielen an-deren, die wir in den weiteren Beratungen beachten soll-ten. Selbstverständlich nehme ich für die CDU/CSU-Fraktion zu den in dem SPD-Antrag angesprochenenPunkten gerne schon heute Stellung.Soweit es um den Katalog der Anlasstaten geht, sehenwir keine Notwendigkeit, hier weitere Einschränkungenvorzunehmen.
Zum einen wurden bereits mit der letzten Reform imJahr 2010 – richtigerweise – die Anlasstaten beschränkt.Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in seinerjüngsten Entscheidung keine weiteren Vorgaben für dieAnlasstaten gemacht, und sie sind verfassungsrechtlichnicht beanstandet worden. Wir sehen daher keinenGrund, uns Gedanken über eine weitere Beschränkungder Anlasstaten zu machen.
Mit Blick auf die zweite Forderung, in einem neuenGesetz zur Sicherungsverwahrung auch die nachträgli-che Therapieunterbringung zu regeln, will ich nicht ver-hehlen, dass sich diese Forderung weitgehend mit denÜberlegungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deckt.
Auch ich bin der Auffassung, dass mit dem vorliegendenGesetzentwurf der durch das Bundesverfassungsgerichteröffnete Spielraum in diesem Punkt noch nicht voll aus-geschöpft wird
und insofern eine Schutzlücke bleibt.Wir müssen uns meiner Auffassung nach auch da-rüber Gedanken machen, wie mit Straftätern umzugehenist, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während desStrafvollzuges herausstellt.
Eine Regelung zu diesem Punkt ist ohne Zweifel diffizil,aber sicherlich nicht unmöglich. Hier wird in den nächs-ten Wochen sehr genau zu erörtern sein – zumal über denBundesrat natürlich auch die Länder mit in die Diskus-sion einbezogen sind –, was zu tun ist. Ich kann an dieserStelle nur wiederholen: Wir sollten in den Beratungendeshalb den gleichen Weg gehen, den wir zuletzt beimTherapieunterbringungsgesetz gegangen sind. Wir alsCDU/CSU-Bundestagsfraktion sind dazu auch bereit.Leider verbleibt mir für den Antrag der Fraktion DieLinke nun nicht mehr ganz so viel Zeit.
Offen gestanden, sollte man über ihn ohnehin am bestenschweigen.
Mich machen jedenfalls einige Formulierungen in demAntrag geradezu fassungslos. Das gilt etwa für die Pas-sage, in der die Linke die Freiheit der Person so verabso-lutiert, dass sie davon spricht – ich darf das hier einmalzitieren –:Das bedeutet aber auch, dass man bestimmte gesell-schaftsimmanente Gefahren dieser Freiheit in Kaufnehmen muss. … Freiheit birgt Risiken. Die Frei-heit ungerechtfertigt zu versagen, bedeutet jedocheine solche Abkehr von den Grundwerten unsererGesellschaft, dass die freiheitsimmanenten Risikendieser in jedem Falle vorzuziehen sind.
Als ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, wasetwa Eltern eines Kindes, das Opfer eines schwerstkri-minellen Rückfalltäters geworden ist, dazu sagen wür-den, wenn man ihnen mitteilte, dass sie doch nur ein be-rechtigtes Opfer für die Freiheit der Gesellschaftgebracht hätten. Ich kann bei diesen verqueren Gedan-ken, ehrlich gesagt, nur den Kopf schütteln.
Da spricht unsere Verfassungsordnung – gottlob! –eine andere Sprache. Auch die Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts gibt keinen Anlass dazu, diesereigenwilligen Auslegung des Grundgesetzes durch dieLinke auch nur einen Hauch von Berechtigung beizu-messen. Auch der Schutz der Bevölkerung ist ein Ziel,das verfassungsrechtlich nicht nur gerechtfertigt, son-dern geradezu geboten ist. Wer das missachtet, missach-tet den Schutzauftrag unserer Verfassung.
Wir müssen deshalb eine angemessene und verfas-sungskonforme Risikoverteilung herstellen. Der Vor-schlag der Fraktion Die Linke hilft da jedenfalls keinbisschen weiter. Die Einsetzung einer so breit angelegten– in Anführungsstrichen – Expertenkommission, wievon den Linken vorgeschlagen, würde ohnehin nur ei-nem Ziel dienen: das Themenfeld so zu atomisieren, biskeine vernünftige Regelung mehr eine Chance hat.
So etwas lehnen wir ab.Vielen herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19643
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Vielen Dank, Kollege Heveling. – Nächste Rednerin
für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Halina Wawzyniak. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der Kollege Heveling hat schon darauf hingewie-
sen: Wir haben keine konkreten Wünsche in Bezug auf
den Referentenentwurf. Wir fordern die Einsetzung einer
Expertenkommission.
Diese Expertenkommission ist auch angebracht; denn
die Bundesregierung hat für das im Dezember 2010 ver-
abschiedete Gesetz zur Sicherungsverwahrung vom
Bundesverfassungsgericht eine fette Klatsche bekom-
men. Sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuches und
des Jugendstrafrechts über die Anordnung und Dauer der
Sicherungsverwahrung wurden für nicht mit dem Grund-
gesetz vereinbar erklärt. Deshalb ist es aus unserer Sicht
sinnvoll, im Rahmen einer Expertenkommission auch
über den Referentenentwurf – seit gestern gibt es wohl
auch schon einen Gesetzentwurf – zu reden.
Ich frage Sie: Was spricht eigentlich gegen eine
Expertenkommission? Was spricht dagegen, mit Justiz-
praktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswis-
senschaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern,
Straf-, Polizei- und Verfassungsrechtlerinnen und -recht-
lern, psychiatrischen und psychologischen Sachverstän-
digen, Kriminologen und Vertretern von Opferverbän-
den das Thema Sicherungsverwahrung zu erörtern?
Was spricht dagegen, den Handlungsbedarf zum Thema
Sicherungsverwahrung auszuloten? Das muss doch auch
im Interesse der Bundesregierung sein; denn ansonsten
– das garantiere ich Ihnen – droht die nächste Klatsche.
Die Linke hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie
das Institut der Sicherungsverwahrung für höchst be-
denklich hält.
In einer menschlichen Gesellschaft gibt es keine voll-
kommene Sicherheit; darauf hat Herr Heveling hinge-
wiesen. Das weiß jeder und wird in jeder Debatte von je-
dem Redner wiederholt.
Die Hintergründe und die Zusammenhänge der Ent-
stehung von Kriminalität sind so vielfältig, dass es ein-
fach nicht möglich ist, eine sichere – ich betone das Wort
„sichere“ – Prognose darüber zu treffen, ob jemand ge-
fährlich ist oder nicht. Damit bleibt Sicherungsverwah-
rung Strafe, auch wenn man es anders nennt. Die Strafe
wird nach der Strafe, nachdem die Schuld verbüßt ist,
angeordnet. Damit handelt es sich bei der Sicherungs-
verwahrung um eine vorbeugende Entziehung der Frei-
heit, um eine präventive Sicherungshaft, und das auf-
grund einer unsicheren Prognose. Wir alle wissen, wie es
mit den Prognosen ist – es gibt diverse Studien –: Von
als gefährlich eingestuften Rückfalltätern sind maximal
20 Prozent gefährlich. Wir sagen: Die restlichen 80 Pro-
zent sperren wir sicherheitshalber ein.
Nun liegt der Referentenentwurf vor. Natürlich hätten
wir uns gewünscht, dass das Justizministerium grund-
sätzlich über das Institut der Sicherungsverwahrung
nachdenkt. Da hat ein wenig der Mut gefehlt. Ansonsten
nehmen wir zur Kenntnis, dass Anstrengungen unter-
nommen worden sind, den Prinzipien des Urteils gerecht
zu werden. Das betrifft den Anspruch, dass die Unter-
bringung einer individuellen und intensiven Betreuung
bedarf, den Sachverhalt, dass ein Rechtsanspruch auf
Therapie zumindest angedeutet wird und dass eine Ent-
lassung durch die Gerichte ansteht, wenn keine ange-
messene Betreuung stattfindet. Das finden wir gut.
Was wir schlecht finden, ist die Beibehaltung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung im Anschluss an
die für erledigt erklärte Unterbringung in einem psychia-
trischen Krankenhaus, der vorhandene breite Kreis der
Anlassstraftaten und die Ausweitung der Sicherungsver-
wahrung im Jugendstrafrecht.
Lassen Sie mich am Ende noch kurz etwas zum An-
trag der SPD sagen. Liebe Genossinnen und Genossen,
da kommen wir nicht zusammen. Sie wollen die Anlass-
straftaten auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte be-
schränken. Das ist richtig. Dann erklären Sie mir aber
einmal, warum Sie im Dezember 2010 noch gesagt ha-
ben, dass Sie das in dem Gesetzentwurf wunderbar gere-
gelt finden. Wenn Sie eine nachträgliche Therapieunter-
bringung machen wollen – da hat Herr Heveling recht –,
dann machen Sie sich zum Vorreiter für die Wiederein-
führung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das
ist absurd.
Sie ignorieren offensichtlich die kompetenzrechtli-
chen Bedenken, was das Therapieunterbringungsgesetz
angeht – hier geht es um Gefahrenabwehr, und damit ist
es Ländersache –, und die Unbestimmtheit des Begriffs
„psychische Störung“.
Ich komme zum Schluss. Der Einsetzung einer Exper-
tenkommission zuzustimmen, tut nicht weh. Ich finde,
das ist der angemessene Umgang mit dem Thema. Des-
wegen geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie un-
serem Antrag zu!
Vielen Dank, Frau Kollegin Wawzyniak. – NächsterRedner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDPunser Kollege Christian Ahrendt. Bitte schön, KollegeAhrendt.
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19644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Der Rechtsstaat stellt uns nicht nur vor He-rausforderungen, sondern er ist auch eine Herausforde-rung, insbesondere dann, wenn es um die Ränder geht,um die schwierigen Abgrenzungsfragen, die wir uns zustellen haben, und um die Fragen, die zu beantwortensind, wenn wir über ein Thema wie die Sicherungsver-wahrung debattieren. Hier geht es um die Frage, ob je-mand, der schwere und schwerste Straftaten begangenhat, die Möglichkeit haben soll, noch einmal in Freiheitzu kommen. Diese Frage muss man sich stellen. Wennman diese Frage falsch beantwortet, dann kommt manauf eine schiefe Bahn. Wie schief die Bahn in Deutsch-land war, hat uns als Erstes die Entscheidung des Euro-päischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2009 gezeigt,und es hat uns auch die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichtes im Mai 2011 gezeigt. Die Folgen – des-wegen wundert mich auch Ihr Antrag, Herr Lischka –sind verheerend. Eine Folge ist nämlich, dass aufgrunddes Rechtes, das bei uns auf einer schiefen Bahn war,eine nicht unerhebliche Anzahl von Schwerstkriminellenfreigelassen werden musste, dass wir plötzlich vor derSituation standen, dass die Polizei diese Menschen rundum die Uhr überwachen muss, weil wir im Bundestagaus Populismus – das eine oder andere, was ich eben zudem Thema gehört habe, ist nichts anderes als Populis-mus – Gesetze gemacht haben, die nicht auf dem Funda-ment unserer Verfassung standen. Wenn wir jetzt wiederanfangen, über nachträgliche Sicherungsverwahrung zudiskutieren, dann sind wir ein Stück weit genau auf demunsicheren Terrain, das zu einer nicht unerheblichenZahl von Straftätern geführt hat, die sich derzeit in einerÜbergangsregelung befinden, die aber teilweise auch auffreien Fuß gesetzt werden mussten. Das ist das eine.Das andere ist: Um aus diesem unsicheren Geländeherauszukommen, haben wir im Dezember 2010 mitZustimmung der SPD eine Reform der Sicherungsver-wahrung beschlossen, mit der die nachträgliche Siche-rungsverwahrung abgeschafft und die vorbehaltene Si-cherungsverwahrung ausgeweitet wird. Damit soll klarim Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils gesagtwerden können: Bei dem Täter liegt eine Gefährlichkeitvor, die das Gericht erkennt. Kommen dann in der Haftnoch weitere Aspekte hinzu, kann überdies eine Siche-rungsverwahrung angeordnet werden, aber eben nurdann, wenn sie im Urteil vorbehalten ist; denn hieraufsollen sich alle Beteiligten einstellen können.Das war das Konzept, mit dem die Justizministerinund der Bundestag das Recht der Sicherungsverwahrungauf neue Füße gestellt haben. Wir sollten uns jetzt tun-lichst davor hüten, an diesem sicheren Fundament zurütteln, das wir gelegt haben und das auch in der Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letz-ten Jahres nicht weiter kritisiert worden ist.Nun liegt ein Kabinettsbeschluss zu dem Gesetzent-wurf der Justizministerin vor. Mit diesem Entwurf wirdexakt anhand der Linie der Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts vom Mai letzten Jahres gearbeitet; da-bei wird das Abstandsgebot eingehalten. Das bedeutet:Haft ist etwas anderes als Sicherungsverwahrung. EinTäter kommt nach der Verbüßung seiner Strafhaft, wenner in Sicherungsverwahrung gehört und entsprechendverurteilt ist, auch in eine andere Einrichtung. Das ist indiesem Gesetzentwurf in wesentlichen Grundzügen ge-regelt.An dieser Stelle muss man auch die Länder in diePflicht nehmen. Bereits im Jahr 2005 hat es eine Unter-suchung der Europäischen Kommission zu den Haftbe-dingungen der Sicherungsverwahrten in Deutschland ge-geben. Dabei wurde festgestellt, dass das Abstandsgebotnicht eingehalten wird, dass die Sicherungsverwahrtenfalsch behandelt werden und dass man sich das Lebennicht einfach leicht machen kann, indem man an der Zel-lentür lediglich das Schild „Haft“ gegen das Schild „Si-cherungsverwahrung“ auswechselt.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-dung gesagt: In diesem Fall hat auch der Bund die Ge-setzgebungskompetenz, weil die Länder an dieser Stelleversagt haben. Deswegen muss man jetzt nicht – so wieSie in Ihrem Antrag – unbedingt dazu kommen, jedenRatschlag der Länder mitzumachen, der wieder in einefalsche Richtung geht, nämlich eine nachträgliche Siche-rungsverwahrung im Bereich der Therapieunterbringungzuzulassen.Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Sie stellen inIhrem Antrag die Forderung nach einer „nachträglichenTherapieunterbringung“; das ist Ihre Formulierung. Da-mit sind wir aber aus dem Bereich des Strafrechts he-raus.
Dann stellt sich die Frage: Sind wir überhaupt zustän-dig? Denn die Länder haben eigene Gesetze und eine ei-gene Zuständigkeit für den Umgang mit psychisch Kran-ken. Damit befinden wir uns schon in der erstenFragestellung: Haben wir eine eigene Gesetzgebungs-kompetenz?
Die zweite Fragestellung lautet: Wollen wir es uns inDeutschland wirklich erlauben, mit dem Begriff des„psychisch Kranken“ zu arbeiten? Das ist ein in seinenRändern und in seiner Bestimmtheit sehr schwierig zufassender Begriff. Wollen wir es zulassen, dass jemandauf der Basis des unbestimmten Begriffs „psychischKranker“ nachträglich in eine Therapieunterbringunggeschickt wird, womöglich für eine psychische Erkran-kung, die wiederum gar nicht im Zusammenhang mit derStraftat steht, für die er verurteilt worden ist?Wer so etwas will – und schon beim ersten Blick aufIhren Antrag zeigen sich diese Probleme – und tatsäch-lich meint, man müsse jetzt wieder etwas schaffen, dasder nachträglichen Sicherungsverwahrung gleichkommt,der zerstört das Fundament, das die Bundesjustizminis-terin und dieses Haus im Dezember 2010 gelegt haben,und schafft damit eine Rechtsunsicherheit. Wir wollenaber keine Rechtsunsicherheit, sondern Rechtssicherheit.Deswegen sollten wir Ihren Antrag zwar diskutieren,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19645
Christian Ahrendt
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aber in keinem Fall positiv begleiten. Ich bin gespanntauf die Debatte und insbesondere auf den Gesetzent-wurf, der dieses Haus bald erreichen wird. Ich glaube,mit dem, was die Ministerin vorgelegt hat, sind wir aufdem richtigen Weg.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Christian Ahrendt. – Nächster
Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Jerzy Montag. Bitte schön, Kollege Montag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem
Antrag der SPD stellt sich mir als Erstes die Frage: Wa-
rum haben Sie ihn überhaupt formuliert, und warum
müssen wir heute darüber diskutieren? In diesem Antrag
fordern Sie die Justizministerin auf, im Referentenent-
wurf ihres Hauses Änderungen vorzunehmen.
Dieser Antrag hat sich erledigt. Es gibt keinen Refe-
rentenentwurf mehr. Die Bundesregierung hat gestern
entschieden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
kann von der Bundesregierung überhaupt nicht mehr
verändert werden; er ist beim Bundesrat eingereicht.
In der Sache selber haben Sie, liebe Kollegen von der
SPD, und wir, die Grünen, bei der Generalreform der Si-
cherungsverwahrung in Änderungsanträgen praktisch
einstimmig die Beschränkung der Sicherungsverwah-
rung auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte gefordert.
Das werden wir, wenn es zur Neuauflage kommt – das
wird es in einigen Monaten –, wiederum in Änderungs-
anträgen fordern. Darüber brauchen wir heute überhaupt
nicht zu diskutieren.
Der zweite Punkt ist interessanter: Sie fordern die
Einführung einer nachträglichen Therapieunterbringung.
Dazu kann ich Ihnen Folgendes sagen: Dieses Haus hat
das Recht der Sicherungsverwahrung zum 1. Januar
2011 grundlegend reformiert, und zwar so, dass es keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nach-
trägliche Therapieunterbringung vorsieht. Wer hat die-
sem Gesetz zugestimmt? Die CDU/CSU, die FDP und
Sie von der SPD.
Wir haben aus anderen Gründen nicht zugestimmt, aber
haben dem Grundansatz, keine nachträgliche Siche-
rungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieun-
terbringung vorzusehen, ebenfalls zugestimmt. Jetzt stel-
len Sie, gegen Ihre eigene Haltung, die Sie noch vor
kurzer Zeit hatten, den Antrag, man möge wiederum das
einführen, was Sie gar nicht haben wollten. Das ist völlig
unverständlich und in sich widersprüchlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
setzen noch eins drauf. Bei der Diskussion dieses Re-
formvorhabens haben Sie im Rechtsausschuss einen Än-
derungsantrag gestellt. Dieser Änderungsantrag lautet:
Sie möchten gerne, dass die Wirkung des reformierten
Gesetzes, das keine nachträgliche Sicherungsverwah-
rung und keine nachträgliche Therapieunterbringung
vorsieht, bis Ende 2013 evaluiert wird, um danach zu
prüfen, ob es vielleicht Notwendigkeiten gibt, irgendet-
was zu verändern. Es ist nichts evaluiert; 2013 ist nicht
zu Ende. Warum stellen Sie jetzt solch einen Antrag, Ge-
setze zu ändern, denen Sie vorher selbst zugestimmt ha-
ben? Ihr Verhalten ist völlig unverständlich, es sei denn,
Sie wollen hier, wofür parteipolitisch etwas spricht, ei-
nen Keil in die Koalition treiben. Die Frage ist nur, ob
die Sache ein solches Spielchen verträgt.
Ich sage Ihnen: Sie wollen lediglich den Ländern, die
das wollen, nach der Pfeife tanzen
– ja – und übersehen dabei, dass rechtspolitisch alles da-
gegen spricht, eine nachträgliche Therapieunterbrin-
gung, die nichts anderes als eine nachträgliche Siche-
rungsverwahrung ist, wieder ins Gesetz zu bringen.
Wer psychisch gestörten oder psychisch kranken
Menschen, die gefährlich sind, die Freiheit entziehen
will, der soll das in eigener Zuständigkeit nach Länder-
recht als Gefahrenvorsorge machen. Das gehört nicht in
ein Bundesgesetz, nicht in den Bereich des Strafrechts.
Da haben wir schon bessere Vorschläge gehabt und dis-
kutiert als diejenigen, die Sie jetzt hier einbringen.
Es ist rein populistisch und taktisch bedingt,
dass Sie Ihre eigene Position verlassen, und das kreiden
wir Ihnen wirklich an.
Vielen Dank, Kollege Jerzy Montag. – Letzter Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege
Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Montag, ich glaube schon, dass es gar nichtschlecht ist, dass wir heute über die Sicherungsverwah-rung diskutieren, weil es tatsächlich ein schwieriges,aber sehr wichtiges Gesetzgebungsvorhaben dieser Le-gislaturperiode ist.
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Norbert Geis
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– Darüber brauchen wir jetzt nicht im Einzelnen zu strei-ten.
Es ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht, wieAnsgar Heveling es gesagt hat, mit seinem Urteil vom4. Mai 2011 der Linie des Europäischen Gerichtshofesfür Menschenrechte gefolgt ist. Diese Linie besagt, dassdie Sicherungsverwahrung so, wie wir sie zurzeit in derBundesrepublik Deutschland haben, den Menschenrech-ten nicht entspricht, und zwar deshalb, weil das Ab-standsgebot – der Unterschied zwischen Sicherungsver-wahrung auf der einen Seite und Strafvollzug auf deranderen Seite – nicht gewahrt ist.In der Tat ist das eine wichtige Aufgabe, der sich dasjetzt vorgelegte Gesetz stellen muss. Ich bin mir sicher– ich habe das Gesetz gelesen –, dass die Regelung derTherapieunterbringung gelungen ist, und ich hoffe, dasssie auch in der Praxis entsprechend umgesetzt wird.Ich will noch einmal auf den Unterschied zwischender Strafe auf der einen Seite und der Therapieunterbrin-gung bzw. Sicherungsverwahrung auf der anderen Seiteeingehen.Die Strafe hat ihren Grund in der Schuld. Die Schuldwird in einem gerichtlichen Urteil festgestellt, das in ei-nem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen ist. Die Siche-rungsverwahrung hat ihren Grund in der Verpflichtungdes Staates, für die Sicherheit seiner Bürgerinnen undBürger zu sorgen. Das ist der Grund.
Beides, sowohl die Strafe als auch die Sicherungsverfah-rung, berühren Art. 2 Grundgesetz, das Recht auf Frei-heit.Die Strafe hat den Zweck, eine Schuld zu sühnen unddamit die Rechtsordnung wiederherzustellen. Sie hat ei-nen generalpräventiven Zweck. Der Staat macht nämlichFolgendes deutlich: Ich verteidige meine Rechtsord-nung, und wenn es sein muss, mit dem schärfsten Mittel,das ich habe, nämlich mit dem Strafrecht. Aber sie hatauch den Zweck, die Öffentlichkeit vor dem Täter zuschützen – zumindest so lange, wie er im Strafvollzugist. Das ist der Sicherheitszweck der Strafe.Die Sicherungsverwahrung hingegen hat ausschließ-lich den Zweck, die Öffentlichkeit vor der Gefährlich-keit des Täters zu schützen. Der Täter hat keine Tat be-gangen. Er sitzt nicht wegen einer begangenen Tat inSicherungsverwahrung. Er ist im Grunde genommen einfreier Mensch, weil er ja seine Strafe verbüßt hat. Es hatsich allerdings im Laufe des Strafvollzuges herausge-stellt, dass der Täter seine Gefährlichkeit nicht verlorenhat. Vielmehr birgt er nach wie vor die Gefahr in sich,eine schwere Gewalttat oder ein schweres Sexualdeliktzu begehen. Das ist der Grund, weshalb wir überhauptdie Sicherungsverwahrung haben.Die Sicherungsverwahrung wird zunächst einmaldurch das Urteil möglich, in dem der Richter erklärt:Nach Verbüßung der Strafe ist Sicherungsverwahrungangeordnet. Es gibt auch noch die vorbehaltene Siche-rungsverwahrung. Dann erklärt der Richter nämlich: Ichbehalte mir die Sicherungsverwahrung vor, weil ich mirnicht sicher bin, ob sie wirklich notwendig ist. – Das istder Hintergrund des Vorbehaltes.Wir sagen – und da bin ich nicht Ihrer Meinung, dassdas reiner Populismus ist –, dass auch folgender Fallvorzusehen ist: Wenn sich während des Strafvollzugesherausstellt – ich unterstelle jetzt, dass die Sicherungs-verwahrung nicht vorbehalten worden ist und dass keinAusspruch der Sicherungsverwahrung durch das Urteilerfolgt ist –, dass es sich um einen in höchstem Maße ge-fährlichen Täter handelt, der nach wie vor zu gefährli-chen Taten neigt, zu Gewalttaten, zu schweren Körper-verletzungen und zu Sexualdelikten, und der außerdem§ 1 des Therapieunterbringungsgesetzes entspricht – dasheißt, er leidet unter einer schweren psychischen Stö-rung –, dann meinen wir, dass es möglich sein muss, dieSicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Das istkein Populismus, sondern das entspricht durchaus demAnspruch des Bürgers gegenüber dem Staat, für seine Si-cherheit zu sorgen.Deswegen müssen wir uns über den vorgelegten Ge-setzentwurf, sehr geehrter Herr Staatssekretär, im Ein-zelnen unterhalten. Wir können ihm zum großen Teil zu-stimmen. Aber wir müssen uns Gedanken darübermachen, ob mit dieser Regelung der nachträglichen The-rapieunterbringung dem Interesse der Bürger Rechnunggetragen wird. Das ist eine wichtige Aufgabe, der wiruns stellen müssen, und ich bin mir sicher, dass wir imGesetzgebungsverfahren im Deutschen Bundestag dazueine Anhörung durchführen werden. Wir werden unsnach den Ergebnissen dieser Anhörung zu richten haben.Wenn uns Fachleute sagen, dass wir eine Notwendigkeitbezüglich der geplanten bzw. nicht geplanten nachträgli-chen Sicherungsverwahrung übersehen haben, dannmüssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir die Si-cherungsverwahrung auch nachträglich aussprechenkönnen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis.Wir sind am Ende dieser Aussprache, die ich hiermitschließe.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/8760 und 17/7843 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19647
Vizepräsident Eduard Oswald
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformdes Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes– Drucksache 17/8799 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ichgehe davon aus, dass Sie einverstanden sind. – Das istder Fall. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen lie-gen dem Präsidium vor.1)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8799 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEWirksame Anreize für klimafreundlichere Fir-menwagen– Drucksache 17/8883 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegendem Präsidium vor.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8883 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten AnetteHübinger, Albert Rupprecht , MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger,Dr. Martin Neumann , Patrick Meinhardt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPForschung und Produktentwicklung für ver-nachlässigte und armutsassoziierte Erkran-kungen stärken– Drucksache 17/8788 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweKekeritz, Krista Sager, Birgitt Bender, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen –Zugang zu Medikamenten weltweit verwirk-lichen– Drucksache 17/8493 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben.Sind Sie damit einverstanden? – Widerspruch erhebtsich nicht. Die Namen der Kolleginnen und Kollegenliegen dem Präsidium vor.3)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/8788 und 17/8493 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck
, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür eine Strategie zur europäischen Integra-tion der Länder des westlichen Balkans– Drucksachen 17/7774, 17/8396 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter BeyerGünter GloserDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeMarieluise Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam sobeschlossen.1) Anlage 22) Anlage 3 3) Anlage 4
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19648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für dieFraktion der FDP unser Kollege Dr. Rainer Stinner. Bitteschön, Kollege Dr. Rainer Stinner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwar gestern Abend auf einer sehr interessanten Veran-staltung der Robert-Bosch-Stiftung. Dort wurde eineStudie vorgestellt, in der im gesamten westlichen Balkaneine Befragung von zwei Generationen vorgenommenwurde, und zwar derjenigen, die im Jahr 1971 geborensind, und derjenigen, die im Jahr 1991 geboren sind. DieFrage war: Gibt es unterschiedliche Einstellungen undBefindlichkeiten über die Landesgrenzen hinweg undzwischen den Generationen?Die Studie hat einige erstaunliche Ergebnisseerbracht. Zunächst einmal ist festzustellen: Beide Gene-rationen, also Jung und Alt, haben das Gefühl, dass essich im früheren Jugoslawien besser leben ließ. Siesagen: Der Vorgängergeneration – „unseren Eltern“ –ging es besser, als es uns heute geht. Beide Generationenhaben relativ wenig das Gefühl, dass sie auf dem Balkanin einer Region leben, in der es darauf ankommt,gemeinsam etwas zu tun. Sie haben wenig Vertrauen inihre Systeme und in ihre Zukunft. Die Jüngeren habenweniger Reisen in den Westen bzw. nach Europa unter-nommen als ihre Vorgängergeneration: das heißt, dieheutige Jugend kann bzw. konnte weniger reisen als ihreVorgängergeneration. Umso wichtiger ist unsere Visa-debatte, die wir im letzten Jahr geführt haben. In der jün-geren Generation gibt es eine etwas größere Zustim-mung zur EU-Integration als bei denen, die 1971geboren sind. Das ist die Lage, die wir in den westlichenBalkanstaaten heute zur Kenntnis nehmen.Angesichts dieser Befindlichkeiten müsste maneigentlich sagen: Das Glas ist maximal halb voll oderhalb leer – je nachdem, wie man das sehen möchte –,aber mehr nicht. Wenn man die Konfliktsituation imwestlichen Balkan aber mit anderen Konfliktsituationenin dieser Welt vergleicht, muss man zur Kenntnis neh-men, dass wir in den letzten 10, 15 Jahren wirklich eineganze Menge erreicht haben: Zwei Teilstaaten des ehe-maligen Jugoslawien sind bzw. werden Mitglieder derEuropäischen Union; mehrere andere Staaten haben denKandidatenstatus. Wir haben die Militärpräsenz derNATO drastisch reduzieren können. Es gibt also einenEntwicklungspfad. Wenn wir uns andere Konfliktregio-nen anschauen, Somalia, Sudan oder den Norden vonAfrika, dann wird klar, dass im westlichen Balkan relativviel erreicht worden ist.Unser politisches Commitment von 2003 – das sageich in jeder Rede zum Thema Balkan – gilt nach wie vor.Es lautet: Jawohl, ihr seid Teil Europas; das ist geogra-fisch völlig unbestritten. Wir wollen euch aber auch inpolitischer Hinsicht Schritt für Schritt in die EuropäischeUnion integrieren, und dazu wollen wir beitragen. – DieFrage lautet jetzt: Was können wir eigentlich tun?Ich fange mit dem Thema Selbstermächtigung an. Ichglaube, dass es ungeheuer wichtig ist, die Staaten zuermächtigen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu neh-men. Liebe Marieluise Beck, an dieser Stelle spreche ichden Konflikt an, den wir beide seit vielen Jahren in allerFreundschaft austragen.
– Du wolltest vielleicht nichts dazu sagen, aber dukommst nicht darum herum. – Es geht um die Rolle desOHR in Bosnien-Herzegowina. Ich bin der festen Über-zeugung, dass wir diese Länder zu lange unter ein Patro-nat gestellt haben. Wir können mit dem, was dieUNMIK in zehn Jahren im Kosovo erreicht hat, nichtzufrieden sein. Wir können auch mit dem, was der OHRin Bosnien-Herzegowina erreicht hat, nicht zufriedensein. Da wir diesem Land mit dem Dayton-Abkommenetwas aufgezwängt haben – ich weiß, dass du gleich mitdem Dayton-Abkommen argumentieren wirst; wir ken-nen uns ja gut genug –,
haben wir Verantwortung für dieses Land. Wenn ich aberVerantwortung habe, weil ich den OHR stelle, dannmuss ich mich auch an den Erfolgen messen lassen, unddas ist einfach zu wenig. Ich sage: Die Selbstermächti-gung ist ganz wichtig.Zweitens. Wir müssen die EU-Strukturen verbessern.EULEX ist noch nicht so, wie es sein sollte. Wir könnennicht zufrieden sein. Wir stehen in Bosnien-Herzego-wina jetzt vor der Transition vom OHR zum EUHR, zumeuropäischen Hohen Repräsentanten. Ich halte das fürdringend geboten. Die Bundesregierung hat in der Ant-wort auf eine Schriftliche Frage von Frau Beck noch-mals betont, wie wichtig es ist, die Rolle Europas zustärken. Ich bin voll dafür.Drittens. Wir sollten unsere finanziellen Mittel auf dieDinge fokussieren, die wirtschaftliches Wachstum her-vorrufen; denn die wirtschaftliche Situation in derRegion kann insgesamt nur als katastrophal bezeichnetwerden.Viertens. Wir sollten in Infrastruktur investieren. Ges-tern Abend haben mir junge Leute aus der Regiongesagt, dass der Zug von Belgrad nach Zagreb im frühe-ren Jugoslawien viereinhalb Stunden brauchte und heutesiebeneinhalb Stunden braucht. Das ist ein Beispiel fürdie Lebenssituation in dieser Region. Diesbezüglichmüssen wir zu Verbesserungen kommen.Fünftens. Wir müssen schrittweise vorgehen. Ichhalte das Regattaprinzip nach wie vor für richtig. DieLänder sind einzeln zu beurteilen. Unter anderem des-halb lehnen wir den Antrag der Grünen heute ab. In ihmist zu viel von Gemeinsamkeit die Rede. Ich glaube, esist nicht richtig, alle auf einmal mitzunehmen. Es hatsich gezeigt, dass unser selektives Vorgehen richtig ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19649
Dr. Rainer Stinner
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Sechstens. Ich glaube, dass die Konditionierung rich-tig ist. Die Konditionierungspolitik besagt: Wir gehenden nächsten Schritt mit dem einzelnen Land, wenn esbereit ist, Bedingungen zu erfüllen. Das hat sich im letz-ten Jahr zweimal bewährt. Wir haben es bei Bosnien-Herzegowina gesehen: Bosnien-Herzegowina haben wirden Visastatus im Gegensatz zu Serbien und anderenLändern nicht gewährt. Daraufhin hat Bosnien-Herzego-wina daran gearbeitet. Nach sechs, acht Monaten warensie so weit, dass wir Bosnien-Herzegowina die Visafrei-heit gewähren konnten. In Serbien war es noch dramati-scher: Am 9. Dezember hatte Serbien noch keinen Kan-didatenstatus. Doch dann ist in Serbien viel passiert. Bisin die letzte Nacht hinein ist bezüglich der Beziehungenzu Kosovo verhandelt worden. Daraufhin konnte derKandidatenstatus vergeben werden.Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich glaube,dass die Länder dieser Region, die Mitglieder der EUsind, also Slowenien und in Zukunft Kroatien, eine Vor-bildfunktion haben. Slowenien hat diese Vorbildrolle zuwenig eingenommen, vielleicht weil Slowenien schonim früheren Jugoslawien als Außenseiter gesehen wurde;einige verorteten es sozusagen bei den Nordlichtern.Jedenfalls ist meiner Meinung nach zu wenig wahr-nehmbarer Impetus von Slowenien ausgegangen. DieKroaten haben fest versprochen, dass sie es andersmachen werden. Sie tragen ja auch besondere Verant-wortung für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Dasist der Weg, den wir gehen müssen. Diesen Weg könnenwir unterstützen, und das wollen wir tun.Wir sagen nach wie vor: Das Tor zu Europa steht fürdie Region offen. Den Schritt durch dieses Tor müssendie Länder selber machen. Sie sind uns willkommen.
Vielen Dank, Kollege Stinner. – Nächster Redner ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Josip Juratovic. Bitte schön, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir interessieren uns viel zu wenig dafür, wasvor der Haustür der EU auf dem Westbalkan passiert.Das war in den 90er-Jahren so, bevor dort Krieg aus-brach, und es ist leider auch heute so. Deswegen begrüßeich es, dass die Grünen hier eine europäische Westbal-kan-Strategie fordern.
In vielen Gesprächen mit den Menschen vor Ort wirdimmer wieder gesagt, dass sich ohne Druck aus der EUauf dem Westbalkan so schnell nichts ändern wird.Allerdings schaffen wir politische Veränderungen in denStaaten des westlichen Balkans nur dann, wenn eine Bei-trittsperspektive besteht. Das Beispiel Kroatien zeigt: ImBeitrittsprozess wurde das Land moderner, eine Zivil-gesellschaft wurde aufgebaut, und das Land bekam eineklare Perspektive abseits des Nationalismus.Eine europäische Westbalkan-Strategie muss diesePerspektive für alle Länder schaffen. Das übergeordneteZiel muss sein, Perspektiven für junge Menschen zuschaffen. Wir erleben derzeit auf dem gesamten BalkanResignation bis hin zu politischer Apathie. Die Jugend-arbeitslosigkeit in der gesamten Region beträgt über50 Prozent. Die wirtschaftliche Produktion liegt beigerade einmal 50 Prozent des Niveaus von 1989.Obwohl die politischen Akteure stets um Investitionenaus dem Ausland buhlen, sind sie nicht prioritär am Auf-bau einer Zivilgesellschaft interessiert, die sich aufdemokratische Werte beruft, die wiederum eine Voraus-setzung für eine funktionierende Wirtschaft sind.Lassen Sie mich auf Mazedonien, Kosovo und Bos-nien-Herzegowina näher eingehen. Die politischeDebatte in Mazedonien wird aktuell durch die Identitäts-frage bestimmt – es geht darum, ob die Menschen dortattisch oder slawisch sind – und ist damit fokussiert aufdie Vergangenheit statt auf Gegenwart und Zukunft.Dies führt zu ökonomischen und sozialen Absurditäten.Jedes Jahr verlassen zahlreiche exzellent ausgebildetejunge Menschen die Universitäten, nur um danach keineentsprechenden Jobs zu finden und in Cafés zu arbeiten.Die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Mazedonien isterschreckend. Schon mit dem Arbeitsvertrag wird eineBlankokündigung unterschrieben, auch wenn dies nichtlegal ist. Selbst als Putzfrau bekommt man im öffent-lichen Dienst nur mit Parteibuch eine Stelle. Auch das istnicht legal, aber gängige Praxis. Die Menschen habenAngst, sich politisch und gesellschaftlich zu betätigen,weil sie fürchten, selbst ihren schlecht bezahlten Job mit100 Euro Monatslohn zu verlieren. Es ist politischer Irr-sinn, sich vor Ort in einer solchen Situation nur mit demNamensstreit von Griechenland und Mazedonien zubeschäftigen, anstatt die drängenden politischen, sozia-len und wirtschaftlichen Probleme anzugehen.
Ähnliches gilt für das Kosovo. In Serbien und imKosovo diskutieren alle politischen Kräfte nur über dieAnerkennung des Kosovo. Die wirklichen Probleme die-ser Länder geraten dadurch in den Hintergrund. DieKosovo-Frage darf keine Ausrede für die Politiker vorOrt sein, wenn sie sich zu wenig darum kümmern, wirt-schaftliche und soziale Perspektiven für die jungen Men-schen zu schaffen.In Bosnien und Herzegowina beobachte ich die glei-che Tendenz. Prioritär wird dort über die Frage der Enti-täten und Ethnien diskutiert, und man kann sich nicht aufeine Verfassung einigen. Gleichzeitig haben die Jugend-lichen, egal ob in der Republika Srpska oder in der Föde-ration, null Perspektive. Ökonomische Fragen oder dieInfrastruktur verschwinden hinter den vermeintlichennationalistischen Konflikten, die die politische Klassebestimmt. Die politische Klasse drückt auch den Jugend-lichen das nationalistische Denken auf.
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19650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Josip Juratovic
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Die Absurdität getrennter Schulen existiert nicht nurin Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Mazedonien.Die Jugendlichen lernen, in Parallelgesellschaften zu le-ben, die möglichst wenig miteinander zu tun haben. Ichbezeichne das, was aktuell an den Schulen passiert, alseines der größten Verbrechen auf dem Balkan. Den eige-nen Kindern wird Misstrauen gegenüber anderen Natio-nalitäten bis hin zur Verachtung anderer Nationalitätenbeigebracht. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen zumThema Nationalismus nicht schweigen, sondern müssengegenseitiges Vertrauen in der Region fördern.
Wir alle wissen, dass keines dieser Länder allein über-leben kann. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit istohne Alternative. Am Freihandelsabkommen CEFTA,zwar von allen unterzeichnet, arbeitet niemand mehrernsthaft. So bekommt die Wirtschaft dieser Länder keineChance in der Region. Eine Diskussion nur anhand ethni-scher Grenzen und auf Kosten der Minderheiten macht ei-nen CEFTA-Dialog unmöglich.Im nächsten Jahr wird Kroatien der EU beitreten.Kroatien ist ein Beispiel dafür, dass eine Westbalkan-Strategie Erfolg haben kann. Auch in Kroatien gab esjahrelang Diskussionen über Identität und Nationalis-mus. Mit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen wurdendie öffentlichen Diskussionen aber in eine andere Rich-tung gelenkt. Durch die 35 Kapitel, die verhandelt wur-den, haben Medien und Öffentlichkeit neue Maßstäbebekommen, um die Politik zu beurteilen, und sie tun diesnicht mehr anhand nationalistischer Kriterien.Durch die Beitrittsverhandlungen wurde deutlich,dass die alten politischen Kräfte, die nur in ihren natio-nalen Kategorien denken, nicht die Ideen für die Zukunfthaben. Neue politische Akteure bekamen eine Chance.Ein Kroatien mit einem Präsidenten Josipovic wäre vorzehn Jahren undenkbar gewesen. Nur durch die gesell-schaftlichen Veränderungen infolge der EU-Verhandlun-gen wurde ein so integrer Präsident wie Josipovic über-haupt möglich. Eine solche Entwicklung sollten wir füralle Westbalkan-Staaten anstreben.
– Danke.Wir dürfen uns nicht mehr damit aufhalten, mit dennationalistischen politischen Kräften vermeintlicheKompromisse auszuhandeln, die dann doch wieder nuranhand der alten nationalistischen Kriterien umgesetztwerden, sondern wir müssen durch Beitrittsverhandlun-gen neue politische Kriterien aufstellen und somit denneuen politischen Kräften eine Chance geben.
Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben in diesenLändern Schwesterparteien. Das muss auch ein Druck-mittel sein. Die CDU muss in Mazedonien auf die Re-gierungspartei, die Mitglied der EVP ist, noch stärkereinwirken. Ich sage selbstkritisch: Wir Sozialdemokra-ten müssen in der Republika Srpska auf die sogenannteSozialdemokratische Partei noch mehr Druck ausüben,Politik und nicht Nationalismus zu betreiben.
Wir müssen den Weg, den Kroatien gemeinsam mitder EU zurückgelegt hat, auf die anderen Staaten über-tragen. Dazu müssen wir in den Beitrittsverhandlungendie Themen Verwaltung und Justiz vorrangig behandeln,auch schon bevor ein Land offiziell Beitrittskandidatwird. Nur so bieten wir neuen Kräften eine Plattform fürpolitische Veränderungen in ihren Ländern. Nur soschaffen wir einen Lichtblick für die Gesellschaften aufdem Westbalkan und bewahren die Glaubwürdigkeit un-serer europäischen demokratischen Werte. Deshalb stim-men wir dem Antrag der Grünen zu.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Josip Juratovic. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Kiesewetter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh,dass wir uns dieses Themas mit Ernsthaftigkeit anneh-men und dass es mehr Gemeinsamkeiten als Gräbengibt. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von dergrünen Partei: Wir können Ihrem Antrag aus zwei Grün-den nicht zustimmen. Ich möchte sie im Folgenden aus-führen.Es ist sehr gut, dass wir versuchen, das Konflikt-potenzial in der Region zu neutralisieren, und dass wirgemeinsam an Strukturen arbeiten, die dauerhaft denwestlichen Balkan in die Europäische Union integrieren.Wir finden aber, dass Sie bei der inhaltlichen Ausgestal-tung Ihres Antrags deutlich hinter diesem Anspruch zu-rückbleiben.Zunächst beschwören Sie Thessaloniki. Seit dem Jahr2003 ist es fast schon Tradition bei uns im Bundestag,das Thema der EU-Beitrittsperspektive des westlichenBalkans anzusprechen. Dadurch reden wir sie aber nichtherbei. Wir müssen das praktisch ausgestalten. Das Zieleiner EU-Mitgliedschaft für die gesamte Region wurdeein ums andere Mal bestätigt. Das ist unstrittig und mussdeshalb nicht ein weiteres Mal beantragt werden. Auchbei der Diskussion des EU-Erweiterungspakts 2011 ginges darum, dass wir die regionale Zusammenarbeit unddie Aussöhnung auf dem Balkan vertiefen müssen.Wir als Unionsfraktion sehen hier nicht die Gefahr ei-ner isolierten Betrachtung einzelner Staaten, wie Sie das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19651
Roderich Kiesewetter
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in Ihrem Antrag anführen. Wir glauben, dass die EUnicht nur über einen Gesamtansatz verfügt, sondern dasswir das auch praktisch ausgestalten. Es geht schlichtwegdarum, wie wir die Westbalkan-Strategie in der Praxiserlebbar machen. – Ich füge hinzu: Wir in der Union ha-ben seit Anfang 2010 eine Westbalkan-Arbeitsgruppe.Die jeweiligen Berichterstatter unternehmen regelmäßigReisen. Wir machen uns unser eigenes Bild vor Ort. Diesbringen wir in die Debatten des Bundestages, insbeson-dere aber auch in die Parlamentariergruppen ein. Ichglaube, damit leisten wir dem Parlament einen hervorra-genden Dienst und tragen zu einem fairen Informations-austausch bei.Uns geht es auch darum, eine Aufweichung der Ko-penhagener Kriterien zu verhindern;
denn diese definieren die wesentlichen Vorgaben für diebeitrittswilligen Staaten. Deshalb müssen wir an diesenKriterien festhalten. Warum? Es geht darum, dass wirdie Staaten des westlichen Balkans auch an den europäi-schen Wertekanon heranführen wollen. Dazu werde ichgleich ein paar Punkte ansprechen.Entscheidend ist für uns, dass wir keine Paketlösunganstreben. Das könnten Sie nachher vielleicht einmal er-klären; denn es kommt uns so vor, als ob Sie das indirektfordern. Vielmehr wollen wir das Ganze von den tat-sächlichen Leistungen einzelner Staaten und deren Fä-higkeiten abhängig machen.Ihr Antrag kommt uns so vor, als ob Sie eine Quadra-tur des Kreises fordern, indem Sie uns einerseits einePolitik möglichst naher Beitritte nahelegen und auf deranderen Seite die strikte Einhaltung der Kriterien for-dern. Das ist sicherlich kein Automatismus, bedarf aberder Erklärung. Die Politik der EU-Erweiterung auf demWestbalkan müssen wir auch im Interesse der Menschen,die jahrelang Krieg erlebt haben, vollziehen. Zugleich– das ist uns als Union wichtig – geht es darum, die in-nenpolitische Akzeptanz für die Erweiterung innerhalbder Europäischen Union zu erreichen. Das sehen wir ge-rade im Lichte der Euro-Diskussion. Wir dürfen nichtzulassen, dass auf der Bank des Euro in doppeltem Sinnedie EU-Beitrittsperspektive des Balkans scheitert. Des-halb wollen wir kein Abrücken von der leistungsbezoge-nen Aufnahme in die EU. Dass das machbar ist, zeigt dieAufnahme Kroatiens im nächsten Jahr.Als Union sehen wir folgende Erfolgsfaktoren. Diessind Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, regionale Zu-sammenarbeit, eine Visaliberalisierung, an der wir ge-meinsam gearbeitet haben, insbesondere für Bosnienund Albanien, sowie Wirtschaftsthemen. Es gibt abernoch ungelöste Fragen.Was wir in der vergangenen Woche bei der Abstim-mung zwischen Serbien und dem Kosovo erlebt haben,mag ermutigend sein. Dennoch warne ich davor, dies alsStatus quo hinzunehmen. Nicht dass wir mit dem Ko-sovo und dem kleinen Stern ein weiteres FYROM in derEuropäischen Union haben. Vielmehr müssen wir imRahmen des serbischen Beitrittsprozesses eindeutig for-dern, dass am Ende dieses Prozesses auch der Austauschvon Botschaftern steht.
Des Weiteren – ich glaube, wir Außen- und Europa-politiker sind uns darin einig – geht es darum, wie wirdem Kosovo und seiner sehr jungen Bevölkerung helfen.Deshalb sollten wir über weitere Visaliberalisierungenund über Liberalisierungen in den Bereichen Bildungund Wirtschaft nachdenken. Ich glaube, dass es allerMühe wert ist, auf unsere Innenpolitiker einzuwirkenund den interparlamentarischen Diskussionsprozess fort-zusetzen.Von Serbien fordern wir die Aufklärung des Brandan-schlags auf die deutsche Botschaft vom Februar 2008.Offensichtlich sind die handelnden Personen bekannt.Als Bundesrepublik Deutschland erwarten wir die Auf-klärung; denn der Kandidatenstatus muss mehr sein alsnur ein politischer Vorschuss. Er muss auch durch tätigeLeistungen unterstrichen werden. Gleiches gilt für gut-nachbarschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn Ser-biens.Außerdem haben Sie den Minderheitenschutz ange-sprochen. Wir unterstützen das ausdrücklich. Allerdingshätte ich mir gewünscht, dass Sie auch die Trennung inSchulen insbesondere in Bosnien-Herzegowina ange-sprochen hätten. Es erfüllt uns alle mit Sorge, dass hiernach Ethnien getrennt gemeinsam Schulen genutzt wer-den, deren Pausenhöfe teilweise sogar mit Drähten von-einander getrennt sind.Zum Abschluss möchte ich noch einen Blick über dieEU hinaus wagen. Wir stützen uns als EuropäischeUnion im Zusammenhang mit dem Balkan auch deutlichauf die NATO. Ich möchte hier einen konkreten Vor-schlag unterbreiten: Ich glaube, es würde Bosnien-Her-zegowina sehr helfen, wenn wir gemeinsam daran arbei-ten würden, dass der sogenannte Beitrittsaktionsplan, derMembership Action Plan, für Bosnien-Herzegowina mitBlick auf eine spätere NATO-Mitgliedschaft in Angriffgenommen wird. Das kostet nichts, aber führt zu einerstärkeren Anstrengung innerhalb Bosnien-Herzegowinasund festigt die gesamtstaatliche Klammer.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werdenheute der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-schusses folgen. Wir unterstützen aber immer konkreteProjekte. Zwei konkrete Projekte – den Membership Ac-tion Plan und den Ausgleich zwischen Kosovo und Ser-bien – habe ich angesprochen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter.Die Kollegin Sevim Dağdelen gibt ihre Rede zu Pro-tokoll.1) Deswegen steht schon Frau Kollegin Marieluise1) Anlage 5
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Beck am Rednerpult. Ihr gebe ich für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön, Frau KolleginMarieluise Beck.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Stinner, ich glaube, wir müssendafür sorgen, dass die FDP-Fraktion nach den Grünenspricht – wegen größerer Kleinheit –, damit Sie mir end-lich antworten können und nicht immer vorwegnehmen,was ich sagen werde.
Das wird vielleicht so kommen. Warten wir einmal ab.In diesen Tagen vor 20 Jahren sind in Sarajevo Hun-derttausende auf die Straße gegangen, weil ein Krieg inder Luft lag, den sie auf keinen Fall wollten. Sie ahnten,dass ein Inferno auf sie zukommen würde. Weil es ihnennicht gelungen ist, den Militärs und den Paramilitärs inden Arm zu fallen, ist es dann auch tatsächlich so ge-kommen. Drei Jahre Krieg, Belagerung, Vertreibung undTod – und eine Weltgemeinschaft, die hilflos und unent-schlossen zugeschaut hat. Nicht umsonst fällt das WortSrebrenica, das erstaunlich schnell in Vergessenheit ge-raten ist, angesichts der Ratlosigkeit in Bezug auf diedramatischen Ereignisse in Syrien jetzt immer wieder.Wir haben uns damals versprochen: Nie wieder! – Wirsind jetzt nicht in der Situation eines drohenden Waffen-gangs, aber Europa hat die Verpflichtung und die Auf-gabe, den Staaten des zerfallenen Jugoslawiens den Wegin die Europäische Union zu ebnen, und zwar auch auseigenem Interesse; denn wer die langen historischen Li-nien kennt – im Jahre 2014 jährt sich das Attentat vonSarajevo zum hundertsten Mal –, der weiß, dass sich Un-ruhe auf dem Balkan immer auf das restliche Europaausgewirkt hat.Es ist viel geschafft worden: Slowenien ist ein geach-tetes Mitglied der EU, die Republik Kroatien wird ihrbeitreten, Montenegro und Serbien haben einen Kandi-datenstatus. Aber es bleiben die sogenannten unvollen-deten Staaten; sie müssen uns wirklich besorgen. Dazugehört Mazedonien, dessen innere Verfassung aufgrundder albanischen Minderheit ausgesprochen fragil ist. DasLand hat schon jetzt angekündigt, dass es, sollte es zuGrenzverschiebungen kommen, seinerseits auf Grenz-verschiebungen setzen wird. Wir müssen uns also da-rüber klar sein, dass Grenzverschiebungen – ich sprecheüber Nordkosovo – dramatische Konsequenzen in ande-ren Regionen auf dem Balkan nach sich ziehen würdenund den Balkan wieder in Flammen setzen könnten.
Bosnien und Herzegowina, über das wir hier immerwieder sprechen, ist durch eine vollkommen unzulängli-che Verfassung schwer belastet. Kollege Juratovic, Siesprechen es zu Recht an: Es ist auch durch politische Eli-ten belastet, die auf Grundlage des Nationalismus ihreSüppchen kochen und auf ihre Weise davon profitieren.Die Auseinandersetzung um das OHR betrifft dieFrage, ob die Attraktivität der Europäischen Union – da-rauf setzt die Strategie des Auswärtigen Amtes – wirk-lich so groß ist – Sie selber haben gesagt, dass sie beivielen Bevölkerungsgruppen anscheinend nicht so großist –, dass die EU-Instrumentarien reichen werden, undob sie stark genug sein werden, um den destruktivenKräften, die es gerade innerhalb von Bosnien, vor allenDingen in der Republik Srpska, gibt, Einhalt gebieten zukönnen.Das ist eine offene Wette, Herr Kollege Stinner. Ichhoffe, Sie haben mit Ihrem Vertrauen in die EU-Instru-mentarien recht. Es gibt neue Kräfte, nämlich die antina-tionalistische Initiative K 143, zu der sich 143 Kommu-nen in Bosnien zusammengeschlossen haben.Wir betonen in unserem Antrag noch einmal, HerrKollege Kiesewetter: Immer und immer wieder mussglaubhaft versichert werden, dass wir alle diese Länderin der EU sehen wollen und dass wir alles dafür tun wer-den, dass der Letzte nicht irgendwann in 20 Jahrenkommt, sondern dass tatsächlich alle möglichst zeitnahkommen. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse.Schwarze Löcher im Westbalkan können wir nicht ge-brauchen.Schönen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollege Marieluise Beck. – Letzter
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Thomas Silberhorn. Bitte
schön, Kollege Thomas Silberhorn.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen vorgelegthaben, beschreibt im Wesentlichen die Haltung, die auchdie Bundesregierung zur Heranführung der Staaten deswestlichen Balkans an die Europäische Union vertritt.
Ich begrüße ausdrücklich, dass auch Ihre Fraktion diesenAnsatz der Bundesregierung im Grundsatz teilt und mit-trägt.Der Europäische Rat hat bei seinem Gipfeltreffen inder letzten Woche, am 1. und 2. März, Serbien den Kan-didatenstatus verliehen. Montenegro hat bereits am8. und 9. Dezember letzten Jahres den Beginn der Bei-trittsverhandlungen in Aussicht genommen. Kroatien
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19653
Thomas Silberhorn
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wird voraussichtlich im Juli 2013 als 28. Mitglied derEuropäischen Union beitreten.Das zeigt, dass die europäische Perspektive, die dieMitgliedstaaten der Europäischen Union dem westlichenBalkan in der Erklärung von Thessaloniki 2003 eröffnethaben, schrittweise in die Realität umgesetzt wird. Esgibt eine klare europäische Perspektive, zu der wir unsnach wie vor bekennen.Mit Verlaub, wir brauchen auch keine neue Strategie,wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern. Entscheidend ist,dass die Erklärung von Thessaloniki jetzt Zug um Zugmit Leben erfüllt wird und dass wir konkrete Ergebnissevorzeigen können.In den letzten Wochen und Monaten sind im Hinblickauf die Länder des westlichen Balkans wichtige Fort-schritte erzielt worden. Ich denke, es ist auch wichtig, zubetonen, dass die Bundesregierung dabei eine mitent-scheidende Rolle gespielt hat.Die Bundeskanzlerin war am 23. August 2011 in Ser-bien, und Bundesaußenminister Westerwelle war am23. Februar dieses Jahres dort, also kurz vor den ent-scheidenden Beratungen über die Verleihung des Kandi-datenstatus. Ohne diesen persönlichen Einsatz der Bun-deskanzlerin und des Bundesaußenministers wären dieVerhandlungen angesichts der diffizilen Lage mit Si-cherheit erheblich schwieriger verlaufen.Wenn wir uns am Beispiel Serbiens die Dimensionendieses Beschlusses der letzten Woche vor Augen führenwollen, dann muss man nur wenig mehr als zehn Jahrezurückblicken, als Serbien mit seinen Nachbarvölkernim Krieg stand und sich Luftangriffen der NATO ausge-setzt sah. Heute stellt das Land keine militärische Bedro-hung für seine Nachbarn mehr dar und klopft an die Türder Europäischen Union. Das ist eine positive Entwick-lung, die es zu würdigen gilt.Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung und dieVersöhnungsprozesse im westlichen Balkan hat zweifel-los die Perspektive dieser Länder auf eine Mitgliedschaftin der Europäischen Union. Das ist hier mehrfach ange-klungen. Deswegen ist es wichtig, dass nach dem militä-rischen Eingreifen und der Beendigung der Kampfhand-lungen für die gesamte Region eine dauerhafte politischePerspektive in der Europäischen Union eröffnet wordenist. Es geht darum, konstruktiv an dieser Stabilisierungmitzuwirken. Es geht aber auch darum, dass die betroffe-nen Staaten die notwendigen, oft schmerzhaften innen-politischen Maßnahmen dazu ergreifen.Es ist sicherlich wichtig, dass diese Staaten – ichdenke insbesondere an Kroatien, aber auch an Serbien;von Herrn Stinner ist zu Recht Slowenien angesprochenworden – auch ihre regionale Verantwortung wahrneh-men. Wir setzen darauf, dass die Entwicklung in Slowe-nien, in Kroatien und jetzt zunehmend auch in Serbieneine positive Auswirkung auf Bosnien-Herzegowina, aufMontenegro, auf den gesamten westlichen Balkan hat.
Ich glaube, dass wir diesen Ländern auch diese regionaleVerantwortung abverlangen müssen.Die Ausrichtung der Westbalkan-Staaten auf die Eu-ropäische Union zeigt, dass die EU jenseits der Staats-schuldenkrise ihrer Rolle als Stabilitätsanker in der Re-gion unvermindert gerecht wird.Bei aller Freude darüber und ungeachtet der Gültig-keit der Erklärung von Thessaloniki dürfen wir abernicht die Augen davor verschließen, dass eine Reihe gro-ßer Herausforderungen weiterhin damit verbunden ist.Das gilt in erster Linie für die Staaten des westlichenBalkans im Hinblick auf die Erfüllung der Beitrittskrite-rien. Es gilt aber auch für die Europäische Union.Die Staaten des westlichen Balkans stehen nach wievor vor der schwierigen Aufgabe, Versöhnung und An-näherung zu erreichen. Aber sie müssen eben auch dienotwendigen innenpolitischen Reformen unternehmen.Das wird auch enorme Zeit in Anspruch nehmen. Ichweise nur auf die acht Jahre hin, die allein Kroatien ge-braucht hat, um jetzt den Beitritt vollziehen zu können.Das ist eine realistische Perspektive. Dies bedeutet, dasswir den Ländern des westlichen Balkans auch in allerKlarheit vor Augen führen müssen, welche Anstrengun-gen mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbun-den sind.
Wir haben mit der Erweiterungsrunde 2004 einschlä-gige Erfahrungen gemacht, die uns sagen: Wir dürfennicht noch einmal einen Big Bang machen, sondernmüssen jedes Land nach seinen eigenen Fortschritten be-werten. Wir wollen keine Rabatte gewähren. Vielmehrmuss jedes Land die Kriterien für sich erfüllen.Wir sagen aber auch ganz klar Ja zur europäischenPerspektive des westlichen Balkans. Wir sind zuver-sichtlich, dass die junge Generation in diesen Staaten eu-ropäisch ausgebildet und europäisch orientiert ist. Ge-rade ihnen müssen wir eine realisierbare, von ihnen nocherlebbare Perspektive auf eine Mitwirkung in der Euro-päischen Union eröffnen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Thomas Silberhorn. – Ichschließe die Aussprache.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie daraufhinweisen, dass wir jetzt noch eine Reihe von Abstim-mungen gemeinsam vor uns haben.Wir kommen aber zunächst zur Beschlussempfehlungdes Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eineStrategie zur europäischen Integration der Länder deswestlichen Balkans“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/8396, den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 17/7774 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen
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und die Linksfraktion. Gegenprobe! – Das sind die So-zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-gen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Vereinfachung des Austauschs vonInformationen und Erkenntnissen zwischenden Strafverfolgungsbehörden der Mitglied-staaten der Europäischen Union– Drucksache 17/5096 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/8870 –Berichterstattung:Abgeordnete Armin Schuster
Frank Hofmann
Gisela PiltzUlla JelpkeDr. Konstantin von NotzWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Offene Grenzen in einem vereinten Europa: das isteine Errungenschaft, für die zu arbeiten es sich wirklichlohnt. Europa ist – vor allem in den letzten 20 Jahren –in der Europäischen Union stark zusammengewachsen.Ich denke besonders an die Abschaffung der Grenzkon-trollen im Schengen-Raum, an die gemeinsame Wäh-rung und an die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Gerade wirDeutsche wissen offene Grenzen zu schätzen.Allerdings bergen offene Grenzen Risiken; denn auchfür Straftäter sind die Grenzen offen, und das nutzen sieaus. Vor allem im Bereich der organisierten Kriminalitätwird zunehmend über Grenzen hinweg operiert. Dabeihandelt es sich beispielsweise um Menschenhandel,Straftaten an Kindern oder Geldwäsche. Strafverfol-gungsbehörden müssen daher auch ohne Grenzkontrol-len in die Lage versetzt werden, diese Straftaten wir-kungsvoll zu verfolgen bzw. abwehren zu können.Die Europäische Kommission setzt schon länger aufdie verstärkte Zusammenarbeit der Strafverfolgungs-behörden ihrer Mitgliedsländer. Zu nennen wären hierbeispielsweise das Schengen-Informationssystem, Euro-dac – eine Datei zum Abgleich von Fingerabdrücken,um Asylmissbrauch zu verhindern –, Europol – die euro-päische Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag –, Eurojust– die Einheit für justizielle Zusammenarbeit in der EU –oder die grenzpolizeilichen Kontaktstellen, in denenBeamte der jeweiligen Nachbarstaaten eng zusammen-arbeiten.Ein weiterer Schritt zur verstärkten Zusammenarbeitder Strafverfolgungsbehörden ist die Schwedische Ini-tiative. Der Rahmenbeschluss des Rates aus dem Jahr2006 geht zurück auf eine Initiative der schwedischenRatspräsidentschaft und ist deshalb als „SchwedischeInitiative“ bekannt geworden. Dieser Rahmenbeschluss,den wir heute in deutsches Recht umsetzen, besagt letzt-lich, dass Informationen, die Behörden zu Strafverfol-gungszwecken benötigen, leichter von einem Mitglieds-land zu einem anderen weitergegeben werden sollen,und zwar unter genau denselben Voraussetzungen wieim innerstaatlichen Austausch.Natürlich sind die Polizeibehörden seit dem Wegfallder Grenzkontrollen gezwungen, viel stärker über dienationalstaatlichen Grenzen hinweg zusammenzuarbei-ten. Aber diese Zusammenarbeit soll verbessert, erleich-tert und standardisiert werden. Verschiedene Analysenhaben gezeigt, dass das Schengener Übereinkommen,Europol und die Einführung des Raums der Freiheit, derSicherheit und des Rechts durch den Vertrag von Ams-terdam im Jahr 1997 zwar die Qualität des Informati-onsaustauschs verbessert haben, dass aber das Ausmaßdes Informationsaustauschs nach wie vor hinter demzurückbleibt, was für eine angemessene Zusammenar-beit im Bereich der Strafverfolgung erforderlich wäre.Deshalb kann ich diejenigen unter Ihnen nicht verste-hen, die beharrlich behaupten, dass dieses Gesetz nichtnötig ist. Das ist schlichtweg falsch.Dort, wo personenbezogene Daten gesammelt, ge-speichert und ausgetauscht werden, müssen wir unsnatürlich auch auf die datenschutzrechtlichen Aspektekonzentrieren. In der parlamentarischen Beratunghaben wir uns intensiv mit Fragen des Datenschutzesauseinandergesetzt. Wir haben dabei noch einmal aus-drücklich betont, dass der Informationsaustausch nurunter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Daten-schutzes erfolgen darf.Bei allen skeptischen Einlassungen zum Datenschutzmöchte ich auf eines hinweisen: Hier geht es um denAustausch innerhalb der Europäischen Union. DieEuropäische Union ist eine Wertegemeinschaft. DieMitgliedsländer der EU folgen demokratischen Grund-sätzen, sie achten und schützen die Grundrechte. IhreErmittlungsbehörden arbeiten nach rechtsstaatlichenPrinzipien, und Kontrolle dieses Wertekanons wirddurch die Europäische Union garantiert. Deshalb hielteich es für hochproblematisch, wenn jetzt einzelne Staa-ten der Europäischen Union stigmatisiert würden in Be-zug auf ein angeblich mangelndes Datenschutzniveau,nach dem Motto: Denen können wir unsere Daten nichtgeben; denn sie schützen sie nicht genauso wie wir. Dasswir Deutsche das höchste Datenschutzniveau in der EUhaben, wird dabei gerne unterschlagen. Das kann dochaber nicht heißen, dass wir den anderen Ländern unsereDaten vorenthalten. Ich werbe dafür, den verstärktenund standardisierten Datenaustausch als Chance fürden Kampf gegen organisierte Kriminalität anzusehenund nicht in erster Linie als Risiko für Daten- und Per-sönlichkeitsschutz.Ermittler sammeln und interpretieren Daten, sieversuchen Zusammenhänge zu erkennen. Eine Flut vonDaten hilft auch unseren Polizeibeamten nicht, sondernsie sind immer dankbar dafür, wenn sie genau den klei-
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Armin Schuster
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nen Ausschnitt an Datenmaterial bekommen, der fürihre Ermittlungen wichtig ist. Deshalb haben wir dieSchwedische Initiative so umgesetzt, dass personenbezo-gene Daten nur dann weitergegeben werden, wenn meh-rere Bedingungen erfüllt sind. So muss die anfragendeBehörde beispielsweise ganz klar darstellen, wie derZweck der Anfrage und die Person, über die Auskunfterbeten wird, zusammenhängen.All jenen, die darauf drängen, zunächst einmal aufEU-Ebene den Datenschutz zu vereinheitlichen, möchteich etwas mehr Realismus verordnen. Die Bundesrepu-blik ist bereits Vorreiter für ein hohes Datenschutzni-veau in Europa, und das wird sie auch weiterhin sein.Zudem besteht auf EU-Ebene das Grundrecht auf Schutzder personenbezogenen Daten. Die Mitgliedstaaten sindan das Unionsgrundrecht auf Datenschutz gebunden,soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechtshandeln. Das ist hier der Fall. Wir haben zudem in dasvorliegende Gesetz ausreichende Optionen für Strafvoll-zugs- und Polizeibehörden eingebaut, um die Datenver-mittlung an Staaten mit erheblich geringerem Daten-schutzstandard zu begrenzen oder sogar auszuschließen.Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Rahmen-beschluss endlich umsetzen, nachdem die Frist ja schonlange verstrichen ist. Die christlich-liberale Koalitionhat insbesondere nach der öffentlichen Anhörung vonSachverständigen im Innenausschuss im September2011 einige wesentliche Änderungen des Entwurfsvorangebracht. Dazu gehört insbesondere die schon er-wähnte Verknüpfung zwischen Zweck des Ersuchens undder Person, um die es geht, sowie die Eingrenzung derSpontanübermittlung und die Einbeziehung der Steuer-fahndung. Wir verbessern damit die europäische Zusam-menarbeit bei der Strafverfolgung. Dies ist ein wesentli-cher Beitrag für ein freiheitliches und sicheres Europa.
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf soll die Arbeitder Polizei einfacher machen. Es geht darum, die Über-mittlung von Daten innerhalb der EU nicht anders zubehandeln als die zwischen Behörden in Deutschland.Das ist ein gutes Ziel. Es ist zu begrüßen, wenn die Straf-verfolgungsbehörden in der EU in Zukunft enger, unbü-rokratischer und damit effizienter zusammenarbeitenkönnen. Leider aber hat die Regierungskoalition dabeiden Datenschutz völlig außer Acht gelassen.Wenn die vorliegende Gesetzesänderung in Krafttritt, werden unsere bestehenden Regeln durch die Hin-tertür ausgehebelt und ad absurdum geführt. Währendwir im Inland die höchsten Kriterien an den Schutz sen-sibler Informationen unserer Staatsbürger legen, wer-den wir diese in Zukunft freimütig in der Welt verteilen –ohne zu wissen, was damit passiert.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wis-sen es doch selbst: Die Datenschutzstandards sind in derEuropäischen Union alles andere als einheitlich. Vieleliegen deutlich unter deutschem Niveau. Die Grundvo-raussetzung aber für den Austausch von Informationenist, dass im Empfängerstaat zumindest ein Grundstan-dard für den Umgang mit ihnen vorhanden sein muss.Doch dafür haben Sie überhaupt keine Regelungengetroffen. Liest man nur Ihren Änderungsantrag, könnteman meinen, der Datenschutz spiele in Ihrem politischenWertekanon keine Rolle. Wie kommt es, dass gerade beider FDP der Graben zwischen den Grundüberzeugun-gen und dem praktischen Handeln so groß ist?Ihr Entschließungsantrag liefert eine Erklärung da-für. Er liest sich wie eine Generalabrechnung mit ihremeigenen Gesetz. Der Informationsaustausch könne nurunter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Daten-schutzes erfolgen, heißt es da. Die Bundesregierungwird aufgefordert, sich für die Belange des Datenschut-zes einzusetzen. Die Koalition fordert sich selbst auf, aufEU-Ebene für ein einheitliches und hohes Datenschutz-niveau zu sorgen.Sie hat völlig recht damit. Schon seit Jahren gibt eshier einen großen Bedarf. Ein gemeinsames Verständnisvom Umgang mit Informationen ist Grundvoraussetzungfür eine gemeinsame Nutzung. Auch deshalb kann ichIhren Änderungsantrag nicht verstehen. Sie zäumen dasPferd von hinten auf. Sie schaffen die Fakten vor den Re-geln. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es zu einerEinigung kommt, wenn die Daten längst in ganz Europaim Umlauf sind? Ihr Entschließungsantrag liest sich wieein Wunschzettel – einer, der niemals in Erfüllung gehenwird.Der Änderungsantrag soll einen Rahmenbeschlussdes Europäischen Rates aus dem Jahr 2006 in deutschesRecht umsetzen – eine Entscheidung aus längst vergan-gener Zeit. Würde sie heute gefällt werden, wäre längstdas Europäische Parlament zuständig. Heute unterliegtdiese Materie bekanntlich dem ordentlichen Gesetzge-bungsverfahren.Sechs Jahre hat es gedauert, bis wir damit befasstwurden. Gleichzeitig wird auf europäische Ebene überden gemeinsamen Datenschutzstandard diskutiert. Bei-des hätte man miteinander verbinden können und müs-sen.Gegen die Auslieferung der Daten werden sich diedeutschen Behörden kaum wehren können. Das habenwir in der Anhörung bereits erörtert. Zudem gibt eskeine Regel, die verbietet, dass Empfängerländer die In-formationen an Drittstaaten weitergeben. Ist das etwanicht dringend notwendig?Sie wollen stattdessen im Schweinsgalopp einen In-formationsaustausch amtlich machen. Viele Fragenbleiben unbeantwortet. Was zum Beispiel passiert, wenndie weitergegebenen Daten an Aktualität verlieren –wenn aus einem Beschuldigten ein Unschuldiger wird?Werden die Informationen nicht aktualisiert, wird er inanderen Ländern einer Straftat beschuldigt werden, fürdie in Deutschland möglicherweise sogar längst ein an-derer rechtskräftig verurteilt ist.Der Schlamassel hat begonnen mit dem Rahmenbe-schluss, der den Datenschutz völlig außer Acht lässt. Beider Umsetzung des Rahmenbeschlusses werden dieMöglichkeiten, den Datenschutz mit einzubinden, nichtausgeschöpft. Die Vorschläge aus der Anhörung werdennur unzureichend umgesetzt, und danach wird in einemZu Protokoll gegebene Reden
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Frank Hofmann
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Entschließungsantrag dargelegt, dass man ein hohesund einheitliches Datenschutzniveau wünscht. So entste-hen keine guten Gesetze, denen man getrost zustimmenkann.Es ist klar: Wir lehnen Ihren Entschließungsantrag,Ihren Änderungsantrag und den Gesetzentwurf ab.
Gelegentlich hört man ja in diesem Hohen Hause das
Gerücht, Anhörungen seien reine Showveranstaltungen.
Dass dem nicht so ist, zeigt dieser Gesetzentwurf, der
aufgrund der Sachverständigenanhörung Änderungen
erfahren hat, die dem Datenschutz Rechnung tragen.
Den Sachverständigen, die ihre Argumente vorgetragen
haben, sei an dieser Stelle nochmals für ihren Sachver-
stand und ihre Anregungen gedankt.
Mit dem Gesetz, das wir heute hier beschließen wol-
len, wird der Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates in
nationales Recht umgesetzt. Es ist Zufall, dass wir nun
gerade seit etwas mehr als einem Monat die Vorschläge
der Kommission auf dem Tisch liegen haben, wie der
Datenschutz in der EU harmonisiert werden kann. In der
schon erwähnten Anhörung wurde von allen Sachver-
ständigen das Auseinanderfallen von EU-rechtlichen
Verpflichtungen zum Datenaustausch auf der einen und
Datenschutz auf der anderen Seite beklagt. Während in
der EU immer neue Verpflichtungen zum Austausch
auch höchst sensibler Daten geschaffen, umgesetzt und
auch durchgesetzt würden, fehle es an einem einheitlich
hohen Datenschutzniveau. In der Entschließung der Ko-
alitionsfraktionen im Innenausschuss haben wir diesen
Punkt daher nochmals explizit aufgegriffen.
Dort heißt es: „Dabei kann dieser Informationsaus-
tausch nur unter strikter Wahrung der Grundprinzipien
des Datenschutzes erfolgen. Diese Grundprinzipien sind
ein gleichberechtigter Bestandteil eines Europas der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ In diesem Zu-
sammenhang wird die Bundesregierung aufgefordert,
sich auch weiterhin auf EU-Ebene für die Belange des
Datenschutzes einzusetzen. Ein möglichst einheitliches
und hohes Datenschutzniveau in Europa soll Ziel dieser
Bemühungen sein. Von besonderer Bedeutung sind hier
die derzeit laufenden Bemühungen der Kommission für
eine Novellierung des Datenschutzes in der Europäi-
schen Union auch im Bereich Justiz und Inneres.
Aber auch schon im vorliegenden Gesetzgebungsver-
fahren konnten wir mit den Änderungsanträgen der
Koalitionsfraktionen den Datenschutz stärken. Daten-
übermittlung innerhalb der EU zur Verfolgung grenz-
überschreitender Kriminalität und die Achtung des Da-
tenschutzes sind immer zwei Seiten derselben Medaille.
Deshalb haben wir die Datenübermittlung auf Fälle be-
grenzt, in denen ein Zusammenhang besteht zwischen
dem Zweck des Übermittlungsersuchens und der Per-
son, auf die sich das Ersuchen bezieht. Diese Kopplung
schützt vor der Übermittlung von Daten Unbeteiligter
oder nur zufällig mitbetroffener Personen.
Weiterhin werden Spontanübermittlungen auf Fälle
begrenzt, in denen die Erwartung besteht, dass die Da-
tenübermittlung zur Verhütung der Straftat beiträgt. Da-
bei haben wir mit der gesetzlichen Vorgabe, dass „kon-
krete Anhaltspunkte“ vorliegen müssen, die diese
Erwartung stützen, unmissverständlich klargemacht,
dass nur tatsachenbasierte Annahmen ausreichend sind.
Diese höheren Anforderungen sind aus unserer Sicht ge-
boten, weil gerade bei Spontanübermittlungen beson-
ders strikte Hürden eingezogen werden müssen.
In der zusammenwachsenden EU ist die Zusammen-
arbeit von Polizei und Justiz notwendig und quasi die
Kehrseite eines Europas ohne Grenzbäume. Es ist aber
dann auch unverzichtbar, in der EU ein hohes Niveau an
Datenschutz und rechtsstaatlichen Sicherungen zu wah-
ren. Das Zusammenwachsen Europas ist längst viel
mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Europa ist
auch der von gemeinsamen Werten und dem gemeinsa-
men Bekenntnis zur Grundrechtecharta getragene Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Darin liegen
Herausforderungen, aber auch viele Chancen für die eu-
ropäischen Bürgerinnen und Bürger, die sich hier wie
überall sonst in der EU sicher sein können, dass der
Rechtsstaat zu ihrem Wohle arbeitet. Dazu gehört die
richtige Balance von Freiheit und Sicherheit – überall in
Europa.
Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Aus-
tausch von Daten der Polizei und Strafverfolgungsbe-
hörden muss eingebettet sein in ein europaweit ebenso
verlässliches Datenschutzrecht. Es ist deshalb gut, dass
gerade jetzt von der EU-Kommission Vorschläge unter-
breitet wurden, die dazu beitragen werden, den Daten-
schutz in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dass in
den Entwürfen der Kommission noch nicht alles her-
vorragend ist und dass gerade der vorgestellte Entwurf
der Richtlinie für den Datenschutz im polizeilichen und
justiziellen Bereich noch deutlich Raum für Verbesse-
rung lässt, ist klar – wir stehen ja erst am Anfang der eu-
ropäischen Diskussion. Klar ist das Ziel: ein hohes
Niveau beim Datenschutz und zwar überall in Europa.
Wir setzen heute den Rahmenbeschluss zur Daten-
übermittlung um – und wir gehen damit ein Stück in Vor-
leistung, weil eben das gleichmäßig hohe Datenschutz-
niveau in der EU noch nicht erreicht ist. Aber Sie
können sicher sein, dass uns das umso mehr Ansporn ist,
aus den Vorschlägen der Kommission für den neuen Da-
tenschutzrechtsrahmen der EU zügig etwas zu machen,
das unserem Anspruch an den Grundrechtsschutz ge-
nügt.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt daraufab, den Datenaustausch der Sicherheitsbehörden in derEU weiter zu erleichtern – gleichzeitig wird der Daten-schutz weiter ausgehöhlt. Die Linke lehnt dieses Projektab.Wie so oft bei grundrechtsrelevanten Fragen beruftsich die Bundesregierung auf einen EU-Rahmen-beschluss. Die Methode ist immer die gleiche: Die Bun-desregierung drängt auf der Ebene des EU-Rates, wo eskeine demokratisch-parlamentarische Kontrolle gibt,auf Beschlüsse, um sie dann dem Bundestag vorzulegen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19657
Ulla Jelpke
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Das Parlament kann sie dann nur noch abnicken, wennes nicht den Konflikt mit der EU riskieren will. Das istGrundrechteabbau auf supranationalem Niveau, zu demwir keine Zustimmung erteilen.Die geforderten Änderungen im BKA-Gesetz, demBundespolizeigesetz und einer Reihe weiterer Gesetzezielen darauf, aus der EU einen großen Datenraum zumachen. Wenn eine ausländische Polizei bei einer deut-schen Polizeistelle nach Daten fragt, sollen die gleichenRegeln gelten wie bei Anfragen einer Polizeistelle auseinem deutschen Bundesland. In der Gesetzesbegrün-dung der Bundesregierung heißt es, dieser Rahmen-beschluss sei „der erste vom Rat verabschiedete Rechts-akt zur Umsetzung des sogenannten Grundsatzes derVerfügbarkeit. Was nicht da steht, ist, dass dieserGrundsatz hochproblematisch ist, weil er im Kern be-sagt: Sämtliche Daten, die einmal erhoben worden sind,sollen zu jedem Zeitpunkt von jeder Stelle in Europaabgefragt werden können. Mit Datenschutz hat dasnichts zu tun.Natürlich sind viele Beispiele denkbar, in denen etwadie französische Polizei bei den deutschen Kollegen Da-ten anfordert und diese auch kriegen soll, gerade im Be-reich der Strafverfolgung. Aber das ist auch jetzt schonmöglich, dazu gibt es schon längst die notwendigenRechtsgrundlagen. Die Mitgliedstaaten sind bereits zugegenseitiger Hilfe verpflichtet. Aber: Bislang konntensie im nationalen Recht festlegen, wie diese Hilfe kon-kret geleistet wird. Das soll jetzt aufgegeben werden, inZukunft wird das „harmonisiert“. Damit wird aber auchdie Möglichkeit, Hilfeersuchen zu prüfen, um sie unterUmständen auch abzulehnen, bis auf wenige Ausnah-men ausgeschlossen. Bisher musste man begründen,warum Daten ausgetauscht wurden, in Zukunft mussman begründen, wenn ein Austausch einmal nichtdurchgeführt wird. Der Austausch wird also zur Regel,eine Prüfung ist praktisch nicht vorgesehen und in dervorgeschriebenen Eile des Datenaustausches – achtStunden in sogenannten Eilfällen, wobei der Begriff Eil-fall nicht definiert wird – auch gar nicht möglich. Wirmüssen jetzt die Daten liefern, wenn wir nicht konkreteZweifel daran anmelden können, dass die Partnerbehör-den hier unverhältnismäßig vorgehen oder rechtswidrighandeln. Die voraussehbare Folge ist, dass noch mehrpersonenbezogene Daten frei durch europäische Poli-zeidatenbanken flottieren. Und die sind keineswegs allegleich sicher, sodass in Zukunft noch öfter sensible per-sönliche Daten von Unbefugten eingesehen werden kön-nen.Dabei geht es ja keineswegs nur um Straftäter. DieDatenübertragung als Regelsatz umfasst auch den Be-reich der Verhütung von Straftaten. Das ist ein weitesFeld, da ist vieles Interpretationssache und Spekulation,und deshalb wäre gerade hier eine Einzelfallprüfung da-tenschutzrechtliche Pflicht. Aber das wird preisgegeben.Wir werden es erleben, dass in Zukunft noch mehr undnoch schneller die Daten beispielsweise von Aktivistengegen Wirtschaftsgipfel über die Grenzen ausgetauschtwerden – mit der Begründung, die Demonstranten könn-ten ja Straftaten begehen.Erinnern möchte ich auch daran, dass es in mindes-tens drei Ländern der Europäischen Union in der aller-jüngsten Vergangenheit Foltergefängnisse gegeben hat:In Rumänien, Polen und Litauen hat die CIA vermeintli-che Terrorverdächtige heimlich festgehalten und miss-handelt, ganz offenbar mit Zustimmung der jeweiligenRegierungen und mit Nutzung polizeilicher Daten überdie Festgenommenen. Solange so etwas in Europa mög-lich ist, dürfen die Datenbanken der Polizei nicht als freiaustauschbare Ware gehandelt werden. Ich möchte au-ßerdem daran erinnern, dass es in Europa noch längstkeinen gemeinsamen Datenschutzstandard gibt. Da soll-ten sich solche Rahmenbeschlüsse von selbst verbieten.Der Datenschutz, aber auch Grund- und Menschen-rechtsstandards sprechen gegen die Umsetzung diesesRahmenbeschlusses.
In meiner letzten Rede zum Gesetzentwurf über dieVereinfachung des Austauschs von Informationen undErkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehördender Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatte ichSie darum gebeten, dass wir uns gemeinsam und unterHinzuziehung externen Sachverstands mit dem komple-xen Gesetzentwurf kritisch auseinandersetzen.Rahmenbeschluss und Gesetzentwurf bezwecken denmöglichst ungehinderten und schnellen Datenaustauschzwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden derEU-Mitgliedstaaten. Der Datenaustausch ist grundsätz-lich nicht auf bestimmte Gefahrensituationen oderbestimmte Verdachtstaten beschränkt. Der Kreis der Be-hörden, die untereinander – offenbar kreuz und quer –Daten austauschen sollen, ist sehr groß. Die Übermitt-lung von Daten von Stuttgart nach Györ oder Barcelonasoll praktisch so behandelt werden wie die Übermittlungvon Daten von Stuttgart nach Wiesbaden. Die demRahmenbeschluss und dem Gesetzentwurf zugrunde lie-gende Fiktion und Funktion ist, dass die Datenschutz-standards in den EU-Staaten zukünftig in etwa ver-gleichbar sind.Dass diese Fiktion mit der Realität jedoch rein garnichts zu tun hat, war das erste wesentliche und klareErgebnis der öffentlichen Sachverständigenanhörungdes Innenausschusses im September 2011. Alle siebender geladenen Sachverständigen haben bestätigt, dassdas Datenschutzniveau im Bereich des Polizei- undStrafrechts sehr unterschiedlich ist, erst recht in außer-europäischen Staaten.Zweites klares und wesentliches Ergebnis der Sach-verständigenanhörung, das sämtliche Sachverständigeaußer dem BKA-Vizepräsidenten Stock gestützt haben,war, dass der vorliegende Gesetzentwurf vor diesemHintergrund als verfassungsrechtlich zumindest proble-matisch, wenn nicht gar verfassungswidrig anzusehenist; denn das Bundesverfassungsgericht verlangt für ei-nen solchen – praktisch ungehinderten – zwischenstaat-lichen Datenaustausch ein wenigstens in etwa vergleich-bares Datenschutzniveau in dem Staat, mit dem dieDaten ausgetauscht werden sollen. Ist dies nicht sicher-Zu Protokoll gegebene Reden
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19658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Konstantin von Notz
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gestellt, verstößt der Datenaustausch zwischen Polizei-und Verfassungsschutzbehörden gegen das Grundgesetz.Drittens haben die Sachverständigen, mit Ausnahmevon Herrn Stock, es so eingeschätzt, dass die Beamten inden verschiedensten Polizei- und Strafverfolgungsbe-hörden, die auf der Grundlage des Gesetzentwurfs überden Austausch von Daten mit anderen Staaten in der EUzu entscheiden haben, in der Praxis gar nicht wissenkönnen, was für ein Datenschutzniveau im Empfänger-staat herrscht; denn es gibt schlicht keine Zusammen-stellung von verlässlichen vergleichenden Informatio-nen über das Datenschutzniveau im Bereich des Polizei-und Strafrechts in allen 27 EU-Mitgliedstaaten. AlleinHerr Stock konnte berichten, die Rechtstatsachensam-melstelle des BKA verfüge über diese Informationen. Daes sich bei dieser Informationssammlung aber offenbarum eine handelt, die aus unerfindlichen Gründen geheimgehalten wird, wird sich das für den Datenschutz in derbehördlichen Praxis wohl nicht niederschlagen. Auchvon den anwesenden Spezialisten, einschließlich derDatenschutzbeauftragten, schien keiner von einer sol-chen Informationssammlung je gehört zu haben.So viel zu den schwerwiegenden verfassungsrechtli-chen Problemen des Rahmenbeschlusses und des Umset-zungsgesetzes. Einig waren sich die Sachverständigenwährend der Anhörung auch weitgehend darüber, dassder Gesetzentwurf – anders als es das Bundesverfas-sungsgericht in solchen Fällen von uns fordert – dieUmsetzungsspielräume des Rahmenbeschlusses nichtfür eine grundrechtskonforme und grundrechtsfreundli-che Umsetzung nützt. Zu diesem Problem habe ich Ihnenin meiner ersten Rede im März 2011 schon einige kon-krete Punkte genannt und möchte mich hier an dieserStelle nicht noch einmal wiederholen.Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habemich gefreut, dass Sie dem Antrag auf Durchführung ei-ner Sachverständigenanhörung zugestimmt haben. Nur,lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen: Eine An-hörung durchzuführen alleine bringt noch keine Verbes-serung eines vorliegenden Gesetzentwurfs. Hierzu mussman in einem zweiten Schritt auch die Ergebnisse derAnhörung bei den weiteren Beratungen und der Formu-lierung von Änderungsvorschlägen berücksichtigen.Das ist von Ihrer Seite leider nur unzureichend gesche-hen.Die Anhörung war für uns alle erhellend, und IhreFragen an die Sachverständigen waren äußerst kritisch.Da wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob manden alten Rahmenbeschluss angesichts der verfassungs-rechtlichen Bedenken überhaupt umsetzen dürfe bzw. obund wann man das aus europarechtlichen Gründen tunmüsse. Da wurden etwas krude Lösungsansätze wie dieAufstellung einer Liste von „Datenschutz-Schurkenstaa-ten“ diskutiert – und wieder verworfen. Von mehrerenSeiten kam der Vorschlag, den Rahmenbeschluss zumInformationsaustausch doch wenigstens gleichzeitig mitdem ebenfalls noch nicht umgesetzten Rahmenbeschlusszum Datenschutz umzusetzen. Es sei nicht legitim undgrundrechtspolitisch untragbar, den Informationsaus-tausch auf der einen Seite zu regeln und zu fördern, denDatenschutz auf der anderen Seite dagegen außen vor zulassen.Letzterer ist ein sehr wichtiger und richtiger Ge-danke, der seine Gültigkeit nicht verlieren wird. Leiderbleibt der Änderungsantrag der Koalition zum Gesetz-entwurf, über den wir nun mit abzustimmen haben, weithinter dieser Erkenntnis zurück. Da wurden an zweiStellen – beim Personenbezug der Informationen und beiSpontanübermittlungen – ganz kleine Verbesserungenfür den Datenschutz erreicht, die teilweise schon aus eu-roparechtlichen Gründen zwingend notwendig waren.Die verfassungsrechtliche und datenschutzrechtlicheGrundproblematik des Gesetzentwurfs – Datenaustauchohne Datenschutz – blieb dagegen unverändert. KeinAufschub der Umsetzung des Rahmenbeschlusses, keinezeitgleiche Umsetzung des Rahmenbeschlusses zumDatenschutz, keine Konkretisierung der Übermittlungs-verbote aus Datenschutzgründen, keine Streichung derüberschießenden Umsetzung im Hinblick auf den Daten-austausch mit Nicht-EU-Staaten. Stattdessen wurde dieProblematik noch verschärft, indem die Steuerfahndungin den Datenaustausch einbezogen wurde.Es ist – und das sage ich ohne Häme – höchst bedau-erlich, dass die FDP hier wieder einmal nur einen ganzkleinen Bruchteil ihrer Forderungen durchsetzen konnte.Und es ist höchst ärgerlich, dass dieser Gesetzentwurfzulasten des Datenschutzes verabschiedet wird, obwohlweder eine europarechtliche noch eine sicherheitspoliti-sche Notwendigkeit dazu besteht. Der Informationsaus-tausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehördenauf der Grundlage dieses Rahmenbeschlusses funktio-niert selbst in den Staaten nicht, die ihn umgesetzt haben –das belegen ein Bericht der Europäischen Kommissionebenso wie Berichte von Praktikern. Dies zur sicherheits-politischen Notwendigkeit.Zur europarechtlichen Umsetzungspflicht möchte ichzweierlei sagen: Ein Vertragsverletzungsverfahrenwegen Nichtumsetzung eines Rahmenbeschlusses gibt esnicht, und das Bundesverfassungsgericht hat uns auf-gegeben, notfalls die Umsetzung zu unterlassen, wennansonsten der Grundrechtsschutz bedroht ist.Die Umsetzung des alten Rahmenbeschlusses zum jet-zigen Zeitpunkt ist völlig absurd und überflüssig: Dasgesamte Informationsmanagement im Raum der Frei-heit, der Sicherheit und des Rechts wird derzeit ebensoreformiert wie der Datenschutzrahmen der EU. So liegtbeispielsweise der offenbar von der Bundesregierungpauschal abgelehnte Entwurf einer Richtlinie zur Schaf-fung von Standards des Datenschutzes bei Polizei- undStrafverfolgungsbehörden vor, der im Ansatz die einzigrichtige Fortführung der Frage verbesserten Daten-schutzes angesichts des verstärkten Datenaustauschessein dürfte, auch wenn wir hier derzeit dringenden Ver-besserungsbedarf im Hinblick auf den insgesamt zu er-reichenden Schutzstandard sehen. Wieso setzen wir einRelikt aus Maastrichter Zeiten um und schaffen damiteinen verfassungsrechtlich unhaltbaren Freibrief zumDatenaustausch, wenn das noch nicht einmal sicher-heitspolitischen Nutzen bringt? Und was soll Ihr windi-ges und vages Bekenntnis zum Datenschutz in Europa imZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19659
Dr. Konstantin von Notz
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beigefügten Entschließungsantrag, wenn Sie tatsächlicheinen Datenaustausch ohne Datenschutz mit EU-Staatenin einer Weise fördern und legalisieren, die das Europa-recht gar nicht verlangt?Noch einmal möchte ich ganz ausdrücklich ein klaresJa zu Europa formulieren, und zwar zu einem Europa, indem sich Freiheit, Sicherheit und Recht, in dem sichDatenaustausch und Datenschutz die Waage halten. Umdas zu erreichen, braucht es mehr als Lippenkenntnisse.Dafür brauchen wir einen starken politischen Einsatzfür hohe EU-Datenschutzstandards und die Wahrunghöchster Grundrechtsstandards im Umgang mit Datenund Informationen, die unsere Bürgerinnen und Bürgerbetreffen. Vor allem die Bundesregierung ist gefragt,wenn mit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, PNR-Abkommen und PNR-Datenrichtlinien oder dem SWIFT-Abkommen die Vorgaben nicht nur unseres Grundgeset-zes, sondern auch des europäischen Grundrechtsschut-zes unterlaufen werden. Den Respekt vor den Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts müssen wir als Politikerebenso nach Europa tragen wie unsere Kritik an derwidersprüchlichen Politik von Kommission und Rat, dieeinerseits den Sicherheitsstaat ungehemmt weiter auf-bauen und gleichzeitig beanspruchen, als glaubwürdigeVertreter einer Datenschutzreform für die Bürgerinnenund Bürger anerkannt zu werden. Einen Ausverkauf vonDatenschutzstandards über die europäische Hintertürwird es mit uns Grünen nicht geben.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8870, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/5096 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen.Wer stimmt dagegen? – Das sind die drei Oppositions-fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten, die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Ent-haltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Fe-bruar 2007 zwischen der Regierung der Bun-desrepublik Deutschland und der Regierungdes Staates Kuwait über die Zusammenarbeitim Sicherheitsbereich– Drucksache 17/7601 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Fe-bruar 2009 zwischen der Regierung der Bun-desrepublik Deutschland und der Regierungdes Staates Katar über die Zusammenarbeitim Sicherheitsbereich– Drucksache 17/7602 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom10. März 2009 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regie-rung der Republik Kroatien über die Zusam-menarbeit bei der Bekämpfung der Organi-sierten und der schweren Kriminalität– Drucksache 17/7603 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bun-desrepublik Deutschland und der Regierungdes Königreichs Saudi-Arabien über die Zu-sammenarbeit im Sicherheitsbereich– Drucksache 17/7604 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April2010 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung der Re-publik Kosovo über die Zusammenarbeit imSicherheitsbereich– Drucksache 17/7605 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Au-gust 2010 zwischen der Regierung der Bundes-republik Deutschland und dem Ministerkabi-nett der Ukraine über die Zusammenarbeit imBereich der Bekämpfung der OrganisiertenKriminalität, des Terrorismus und andererStraftaten von erheblicher Bedeutung– Drucksache 17/7606 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/8820 –Berichterstattung:Abgeordnete Clemens BinningerWolfgang GunkelGisela PiltzUlla JelpkeWolfgang WielandWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
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19660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Terroristische und kriminelle Netzwerke agieren zu-
nehmend international, über Landesgrenzen hinweg –
ein Aspekt der Globalisierung, der vor 20 Jahren viel-
leicht so noch nicht absehbar gewesen ist. Dieser inter-
nationale, grenzüberschreitende Bezug zeigt sich auch
in Deutschland deutlich.
Deutschland ist Rückzugs- und Planungsraum für
islamistische Terroristen. Das wissen wir spätestens seit
den Anschlägen vom 11. September 2001. Deshalb
setzen unsere Sicherheitsbehörden alles daran, den Ak-
tionsradius von Terrorverdächtigen und islamistischen
Gefährdern so gering wie möglich zu halten und den in-
ternationalen Terrorismus zu bekämpfen. Deutschland
ist aber nicht nur Rückzugs- und Planungsraum, son-
dern islamistische Terrororganisationen rücken unser
Land auch immer wieder in den Fokus ihrer Anschlags-
drohungen. Deutschland ist mittlerweile auch zum Ziel-
land geworden. Welche Rolle dabei internationale Netz-
werke spielen, zeigen etwa Drohvideos in deutscher
Sprache aus dem Ausland, verdeutlichen Reisebewegun-
gen von Terrorverdächtigen aus Deutschland oder un-
terstreichen die Finanzierungswege des internationalen
Terrorismus.
Solche grenzüberschreitenden Netzwerke sind auch
in der Organisierten Kriminalität von großer Bedeu-
tung. OK-Gruppierungen haben laut aktuellem BKA-La-
gebild im Jahr 2010 mehr als 1,6 Milliarden Euro Scha-
den verursacht. Die Gewinne dieser Gruppierungen
lagen dabei bei 900 Millionen Euro, die oft sofort ins
Ausland transferiert werden. Dabei wies ein Großteil,
nämlich 511 OK-Ermittlungsverfahren, internationale
Bezüge auf; das sind fast 85 Prozent der Ermittlungsver-
fahren im Bereich Organisierter Kriminalität. Diese in-
ternationalen Bezüge erstreckten sich auf 130 Staaten.
Das verdeutlicht noch einmal die internationale Dimen-
sion, mit der wir es zu tun haben. Genau an dieser Ent-
wicklung muss sich auch unsere Sicherheitspolitik
orientieren.
Wenn wir diese Entwicklung ernst nehmen, müssen
wir erkennen, dass ein einzelner Staat allein oft nicht
mehr viel ausrichten kann. Vielmehr müssen wir gemein-
sam mit unseren Partnern wirksame Lösungen finden –
wie es auch in der Vergangenheit schon geschehen ist.
Wir müssen unsere Kooperation – davon bin ich über-
zeugt – ausbauen, um auch in Zukunft gegen den inter-
nationalen Terrorismus und grenzüberschreitende Kri-
minalität effektiv vorgehen zu können. Deutschland hat
dazu in der Vergangenheit mit zahlreichen Staaten Ab-
kommen geschlossen, die die Kooperation in Sicher-
heitsfragen verbessern und dazu beitragen, dass die
Menschen sicherer leben können. Solche internationa-
len Kooperationen gehen wir mit den vorliegenden
Abkommen auch mit Kuwait, Katar, Kroatien, Saudi-
Arabien, dem Kosovo und der Ukraine ein.
Mit den Abkommen – die weitgehend inhaltsgleich
sind – schaffen wir die Rechtsgrundlage für die Koope-
ration in allen wesentlichen Bereichen. Unter anderem
geht es um Terrorismus und Terrorismusfinanzierung,
Waffenschieberei, Drogenhandel, Geldwäsche, Falsch-
geld, Menschenhandel und Zuhälterei, Steuer- und
Zolldelikte, Urkundenfälschung – allesamt Straftaten
von erheblicher Bedeutung. Dabei bezieht sich die Zu-
sammenarbeit nicht nur auf den Austausch von Informa-
tionen über Straftaten und Netzwerkstrukturen, sondern
auch auf operative Zusammenarbeit, die Entsendung
von Verbindungsbeamten, den Austausch von Erfahrun-
gen und Forschungsergebnissen sowie Unterstützung
bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitspersonal.
Mit anderen Worten: Wir geben unseren Sicherheits-
behörden die notwendigen Instrumente an die Hand,
damit sie ihre Arbeit erfolgreich erledigen können.
Wichtig ist dabei ein weiterer Punkt: Die Zusammen-
arbeit richtet sich nach innerstaatlichem Recht. Das
heißt: Wenn wir Beamte entsenden oder Daten weiterge-
ben, dann auf Grundlage unserer Gesetze und Vorschrif-
ten. Das ist deshalb wichtig, weil in der Sicherheits-
zusammenarbeit auch die Kooperation mit Ländern ge-
boten ist, die ein anderes Rechtssystem haben. In diesem
Zusammenhang unterstreichen wir als Koalition noch
einmal mit unserem Entschließungsantrag, dass die
Abkommen klare Datenschutzklauseln sowie Bestim-
mungen zur Wahrung der Menschenrechte enthalten, die
Grundlage für jede Entscheidung zur operativen Zusam-
menarbeit oder Datenweitergabe sind.
Da weder Organisierte Kriminalität noch Terroris-
mus an Grenzen haltmachen, muss die Sicherheitszu-
sammenarbeit auch mit Drittstaaten gestärkt und fort-
entwickelt werden. Dies gilt gerade für Regionen von
herausgehobener Bedeutung wie den arabischen Raum,
den Balkan und Osteuropa. Dafür sind die vorliegenden
Abkommen eine wichtige Grundlage. Sie werden einen
maßgeblichen Beitrag zu mehr Sicherheit in allen Ver-
tragstaaten leisten. Deshalb stimmt die Union den vor-
liegenden Gesetzen zur Ratifizierung der Abkommen zu.
Es besteht kein Zweifel: Der Kampf gegen internatio-nalen Terrorismus und Organisierte Kriminalität kannsich nicht nur auf die Europäische Union beschränken.Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb derEU ist notwendig und wesentlicher Bestandteil der deut-schen Sicherheitspolitik.Die hier vorliegenden Gesetzentwürfe betreffen Ab-kommen über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe-reich, welche von der Bundesrepublik Deutschland mitden Regierungen des Staates Kuwait, des Staates Katar,der Republik Kroatien, des Königreichs Saudi-Arabien,der Republik Kosovo und dem Ministerkabinett derUkraine abgeschlossen wurden. Mit den Abkommen solldie Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der grenzüber-schreitenden Organisierten Kriminalität und des Terro-rismus verbessert werden. Dabei geht es auch um denAustausch von Informationen und personenbezogenenDaten. Das Abkommen mit Saudi-Arabien sieht darüberhinaus eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Sicher-heitstrainings vor. Auch wenn sich das auf den erstenBlick ganz vernünftig anhört, sollte man sich die einzel-nen Kooperationspartner doch etwas genauer an-schauen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19661
Wolfgang Gunkel
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Ich möchte in diesem Zusammenhang gar keinenHehl daraus machen, dass vier der zur Diskussion ste-henden Abkommen unter Beteiligung der SPD im Rah-men der Großen Koalition geschlossen wurden, aber– und das sage ich Ihnen hier ganz deutlich – schon da-mals mit gravierenden Vorbehalten im Hinblick auf dieAbkommen mit Saudi-Arabien, Katar und Kuwait! Undheute? Heute ist die politische Situation in diesen Län-dern – auch durch die Auswirkungen des arabischenFrühlings – eine andere. Gerade im Lichte dieser Verän-derungen sind auch die Gesetzentwürfe der Bundesre-gierung zu den hier vorliegenden Sicherheitsabkommenzu sehen.Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass der Anti-folterausschuss der Vereinten Nationen im November2011 Deutschland wegen der geheimdienstlichen Zu-sammenarbeit mit Drittstaaten gerügt hat. So hat derAusschuss in seinen abschließenden Bemerkungenernsthafte Bedenken geäußert, da sich die Bundesrepu-blik nicht von der Verwendung von Informationen, wel-che durch ausländische Geheimdienste unter Folter er-langt wurden, distanziert hat. Zwar ist der UN-Antifolterausschuss, dessen einzige „Waffen“ Bemerkun-gen und Empfehlungen sind, ein zahnloser Tiger; einpolitisches Signal sendet er aber allemal. In diesemSinne möchte ich nun im Folgenden auf die einzelnenAbkommen eingehen.Gerade die Zusammenarbeit mit dem KönigreichSaudi-Arabien steht ja bereits seit längerem in der öf-fentlichen Kritik. Auch im Innenausschuss des Deut-schen Bundestages haben wir etwa die Ausbildungstä-tigkeit der Bundespolizei in Saudi-Arabien diskutiertund als SPD-Bundestagsfraktion deren sofortige Been-digung gefordert. Es ist unverantwortlich, dass deutschePolizeikräfte unter dem Deckmantel der Sicherheitszu-sammenarbeit ihren saudi-arabischen Kolleginnen undKollegen polizeiliche Fähigkeiten vermitteln, die etwader Niederschlagung der Oppositionsbewegungen die-nen können. Dass saudi-arabische Sicherheitskräfte im-mer wieder gewaltsam gegen Demonstrationen, vor al-lem der schiitischen Minderheit, vorgegangen sind, unddabei – wie etwa im März 2011 – auch gerne mal denNachbarstaat Bahrain unterstützen, ist hinlänglich be-kannt. Berichte über willkürliche Festnahmen, Inhaftie-rungen ohne Anklage sowie Folter und Misshandlungenin saudi-arabischen Gefängnissen machen das Bildkomplett. Zudem ist Saudi-Arabien einer der wenigenStaaten, die gegen die Resolution der UN-Generalver-sammlung für ein weltweites Hinrichtungsmoratoriumgestimmt haben. Allein die Vorstellung, dass saudi-ara-bische Ermittler mithilfe deutscher Informationen zuVerdächtigen geführt werden, diesen unter Folter einGeständnis abpressen, das dann zu einem Todesurteilführt, ist nicht hinnehmbar. Aufgrund dieser politischenEntwicklungen und der menschenrechtlichen Situationim Land haben wir große Bedenken gegen das Sicher-heitsabkommen zwischen der Bundesrepublik und demKönigreich Saudi-Arabien.Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Hinblick auf dieStaaten Katar und Kuwait. Auch in diesen beiden Län-dern steht die Todesstrafe auf der Tagesordnung. Diebeiden Regierungen scheinen dies auch in keinsterWeise ändern zu wollen; denn auch sie reihen sich in dieunrühmliche Liste der wenigen Staaten ein, die gegendas UN-Hinrichtungsmoratorium votiert haben. Da-rüber hinaus sind in diesen Ländern Haft ohne Anklageoder Gerichtsverfahren ebenso üblich wie die Ein-schränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit.Einer Kooperation im Sicherheitsbereich mit den Staa-ten Kuwait und Katar kann man daher nur mit großenBedenken begegnen.Auch in der Ukraine hat sich die politische Situationnach der Abwahl der früheren Regierungschefin JulijaTimoschenko im Jahr 2010 verschlechtert. Unter derneuen Regierung von Präsident Wiktor Janukowitschwird Menschenrechtsfragen kein hoher Stellenwert zu-gemessen. So wurde der ehemalige Innenminister JurijLuzenko ohne Anklage inhaftiert, und auch die spätereVerurteilung von Julija Timoschenko erfolgte unter mehrals fadenscheinigen Gründen. Diese politische Justiz istmit demokratischen Vorstellungen nicht vereinbar. Diessieht wohl auch die EU so und hält aus Protest gegendiese politisch motivierten Verfahren ein Assoziierungs-abkommen mit der Ukraine zurück. Das Sicherheitsab-kommen zwischen Deutschland und der Ukraine mussdaher aufgrund der politischen Entwicklungen kritischgesehen werden.Im Unterschied zu den oben genannten Verträgenkann ich die Abkommen zwischen Deutschland und derRepublik Kosovo beziehungsweise Kroatien nur befür-worten. Die Republik Kroatien hat ihre Hausaufgabengemacht und soll nun zum 1. Juli 2013 der 28. Mitglied-staat der EU werden. Hier ist es wichtig, bereits vorabFachwissen und Erfahrungen auszutauschen und dieZusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisiertenund schweren Kriminalität zu intensivieren. Im Hinblickauf die Republik Kosovo ist es nach wie vor notwendig,die lokalen Sicherheitskräfte zu unterstützen. So ist esauch im Interesse Deutschlands, die bestehende rechts-staatliche Verwaltung weiter aufzubauen. Eine Koope-ration mit diesen beiden Staaten ist erforderlich und auf-grund der rechtsstaatlichen Bestrebungen vertretbar;den entsprechenden Gesetzentwürfen der Bundesregie-rung kann ich nur zustimmen.Ich habe deutlich gemacht, dass wir bilaterale Ab-kommen zur Bekämpfung von grenzüberschreitenderOrganisierter Kriminalität und Terrorismus auch mitStaaten außerhalb der EU brauchen. Sie sind ohneZweifel ein wichtiger Baustein der deutschen Sicher-heitspolitik. Dennoch sollte man sich seine Koopera-tionspartner etwas genauer ansehen und auch aktuellepolitische Veränderungen in diesen Staaten berücksich-tigen. Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten in sensib-len Bereichen wie Informations- und Datenaustauschdarf es nicht um jeden Preis geben – auch nicht im Inte-resse der Sicherheit.
Meine Rede zum vorigen Tagesordnungspunkt derheutigen Plenardebatte habe ich damit geschlossen,dass unser Ziel ist, Datenübermittlungen von PolizeiZu Protokoll gegebene Reden
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19662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Gisela Piltz
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und Justiz innerhalb Europas mit einem europäischenDatenschutzrechtsrahmen zu flankieren, der unserenAnsprüchen an den Schutz der Grundrechte genügt.Von einem weltweiten Rahmen dieser Art sind wirweit entfernt. Selbst mit unseren engen Partnern, denVereinigten Staaten, ist es nicht immer einfach, einen ge-meinsamen Nenner im Bereich des Datenschutzes zu fin-den. Umso mehr gilt dies dann natürlich für Staaten, dieunseren Wert- und Rechtsvorstellungen ferner stehen.Zugleich müssen wir aber feststellen, dass in unsererglobalisierten Welt schwere Kriminalität und Terroris-mus die Zusammenarbeit mit anderen Staaten immerwichtiger werden lassen. Daran ändert sich auch nichts,wenn man zugleich feststellt, dass für einen liberalen In-nenpolitiker derartige Abkommen nicht unbedingt ge-eignet sind, Glücksgefühle auszulösen.Denn es ist selbstverständlich wichtig, auch auf demGebiet der Inneren Sicherheit mit Partnern in anderenStaaten zusammenzuarbeiten. Nicht nur macht Krimina-lität nicht an Grenzen halt, sondern es ist auch unser An-liegen, durch diese Zusammenarbeit rechtsstaatlicheGrundlagen zu schaffen, die für beide Vertragspartnerbindend sind. Ein gemeinsamer Mindeststandard unddie gegenseitige Zusicherung, sich daran zu halten – seies bei der Übermittlung von Daten, sei es bei der Unter-stützung der Polizeiausbildung oder sei es bei der Ver-mittlung von Know-how –, dient dazu, alle Maßnahmenmit dem Ziel, gemeinsam schwere Kriminalität und Ter-rorismus zu bekämpfen, auf ein ordentliches rechtsstaat-liches Fundament zu stellen. Dass weltweit betrachtetder kleinste gemeinsame Nenner nicht das deutsche Da-tenschutzrecht ist, erschließt sich dabei wohl von selbst –auch wenn es natürlich, quasi in einer idealen Welt,schön wäre, wenn der weltweite Standard dem entsprä-che.„Zweck von bilateralen Abkommen ist es, den Sicher-heitsbehörden bei der Zusammenarbeit Konturen zu ver-leihen, wie zum Beispiel Deliktfelder und den Rahmender Zusammenarbeit festzulegen. Es wird quasi der Bo-den bereitet für eine gute bilaterale Zusammenarbeit.“Das sagte der Kollege Frank Hofmann für die SPD inder letzten Legislaturperiode zum Sicherheitsabkommenmit Vietnam.Er sagte weiterhin: „Die datenschutzrechtlichen Re-gelungen dieser Abkommen sind alle … nach einem mitdem Bundesdatenschutzbeauftragten abgestimmten Mus-ter eingefügt. Für die Polizei werden keine neuen Befug-nisse geschaffen. Grundlage bleibt das innerstaatlicheRecht, insbesondere die §§ 14 und 15 des BKA-Gesetzes.Nach Abs. 7 des § 14 wird das BKA veranlasst, daraufhinzuweisen, dass die personenbezogenen Daten nur zudem Zwecke genutzt werden dürfen, zu dem sie übermit-telt worden sind. Ferner ist der beim Bundeskriminalamtvorgesehene Löschungszeitpunkt mitzuteilen. Die Über-mittlung personenbezogener Daten unterbleibt, wennGrund zu der Annahme besteht, dass mit der Übermitt-lung gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes versto-ßen wird. Die Übermittlung unterbleibt außerdem, wenndurch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen be-einträchtigt werden, insbesondere wenn im Empfänger-land ein angemessener Datenschutzstandard nicht ge-währleistet ist.“Interessanterweise hat die SPD jetzt aber bei denheute zur Debatte stehenden Sicherheitsabkommen be-hauptet, quasi datenschutzrechtliche „Bauchschmer-zen“ zu haben. Das muss man nicht verstehen, nach die-sen Zitaten erst recht nicht.Zu dem eben erwähnten Sicherheitsabkommen mitVietnam habe ich damals für meine Fraktion gesagt:„Aus unserer Sicht ist die internationale Zusammenar-beit, gerade im Bereich der Inneren Sicherheit, ange-sichts der grenzüberschreitenden Kriminalität und desinternationalen Terrorismus unabdingbar. Wir sind da-von überzeugt, dass die Probleme in einer globalisiertenWelt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werdenkönnen. Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Bezie-hungen mit internationalen Partnern von herausragen-der Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Ab-kommen dann nicht zustimmen, wenn Regelungenenthalten sind, die wir auch auf nationaler Ebene seit je-her ablehnen.“Nun könnten Sie natürlich fragen, warum wir dieheute zur Beratung stehenden Abkommen nicht ableh-nen. Die Antwort lautet: Wir haben gemeinsam mit demKoalitionspartner im Innenausschuss eine Entschlie-ßung verabschiedet, die einfordert, welche Rahmenbe-dingungen zu beachten sind.Der Bundesregierung haben wir mit der Entschlie-ßung aufgegeben, dafür Sorge zu tragen, dass erstensDaten nicht übermittelt werden, wenn Menschenrechts-verletzungen für die betroffenen Personen drohen, dasszweitens Bedingungen für die Nutzung etwa übermittel-ter Daten zu setzen sind, um Menschenrechtsverletzun-gen zu verhindern, dass drittens stets strikt innerstaatli-ches Recht beachtet wird, wenn Datenübermittelt werden sollen, und dass viertens Menschen-rechte und rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze Be-standteil jedweder Schulungs- und Ausbildungstätigkeitsind.Damit haben wir flankierend zur Ratifizierung derAbkommen noch einmal verdeutlicht, dass die notwen-dige internationale Zusammenarbeit nicht zu einemSchleifen rechtsstaatlicher Standards in Deutschlandführen darf. Wir werden möglicherweise nicht alle Staa-ten auf der Welt davon überzeugen können, das deutscheDatenschutzrecht in ihrem nationalen Recht zu imple-mentieren. Aber wir werden jedenfalls dafür Sorge tra-gen, dass strikte Anforderungen beachtet werden, wennDaten von unseren Sicherheitsbehörden an andere Län-der übermittelt werden.Das ist unser Beitrag zum Datenschutz und zu denMenschenrechten in diesem Zusammenhang in dieserLegislaturperiode. Ich kann mich nicht daran erinnern,dass es das in den vorigen Legislaturperioden gegebenhätte. Das zeigt: Wir nehmen unsere Aufgabe als Parla-mentarier bei der Ratifizierung solcher Abkommenernst.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19663
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Die Bundesregierung beantragt die Zustimmung zu
einer Reihe von Verträgen mit anderen Staaten über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Diese beinhal-
tet umfassenden Datenaustausch. Die Linke wird diesen
Verträgen nicht zustimmen. In Ländern wie Kuwait, Ka-
tar und Saudi-Arabien werden die Menschenrechte aufs
Schwerste missachtet, wie aus Berichten von Amnesty
International und Human Rights Watch hervorgeht.
In Saudi-Arabien sind Menschenrechtsverletzungen
an der Tagesordnung. Gerichte verhängen dort grau-
same, unmenschliche und erniedrigende Strafen, die
auch ausgeführt werden, vor allem Auspeitschungen.
Zur Rettung des feudalen Regimes im Nachbarland Bah-
rain vor einer demokratischen Protestbewegung war im
Frühjahr 2011 die saudi-arabische Armee in Bahrein
einmarschiert. In Kuwait werden Kritiker des Präsiden-
ten schikaniert und verfolgt. Frauenrechte werden in al-
len diesen Ländern extrem missachtet. Migranten und
Staatenlosen werden grundlegende politische und so-
ziale Rechte wie etwa der Zugang zu Gesundheitswesen
und Bildung verweigert. Menschenrechtler und Regie-
rungskritiker werden eingeschüchtert, bedroht, einge-
sperrt und mit politisch motivierten Prozessen überzo-
gen. Mit solchen Staaten auf dem Sicherheitssektor zu
kooperieren, ohne sich zum Komplizen von Folterern zu
machen, ist eine Gratwanderung, welche die Bundesre-
gierung nicht meistert.
Die Problematik fängt schon bei der Beschreibung
der Delikte an, deretwegen die deutschen Sicherheitsbe-
hörden mit jenen der anderen Staaten kooperieren sol-
len. Sie ist nicht abgeschlossen, im Prinzip kann es also
um alles gehen, was in einem der Staaten verboten ist.
Ganz oben steht der Terrorismus. Wer ist nicht gegen
Terrorismus? Der Teufel steckt aber im Detail: Es gibt
keine Definition dieses Begriffs. Wir können davon aus-
gehen, dass diese Regime jede Freiheitsbewegung für
„terroristisch“ erklären. Zudem ist bekannt, dass in etli-
chen dieser Staaten Verhaltensweisen, die hierzulande
vollkommen legal sind, für kriminell erachtet werden.
So werden in Katar beispielsweise Personen wegen
Vergehen im Zusammenhang mit „unerlaubten sexuellen
Beziehungen“ oder Alkoholkonsum zu 30 bis 100 Peit-
schenhieben verurteilt. Dort ist eben kriminell, wer als
Schwuler oder Lesbe gleiche Rechte fordert oder einfach
nur in der Öffentlichkeit ein Bier trinken will. In der Auf-
zählung der Delikte fehlt natürlich auch nicht der Punkt
der „unerlaubten Einschleusung von Ausländern“. Das
ist ebenfalls ein weites Feld: Damit kann man berufsmä-
ßige, skrupellose Schleuser treffen, die das Schicksal
von Flüchtlingen ausbeuten und nur allzu oft deren Le-
ben gefährden, damit kann man aber auch das humani-
täre Engagement von Helfern kriminalisieren, die
Flüchtlinge retten. Dazu braucht man gar nicht die dik-
tatorischen Regime im Nahen Osten zu betrachten, auch
Italien bringt so etwas fertig. Die pauschale Kriminali-
sierung der „Einschleusung“ ist absolut unangebracht.
Das sage ich auch im Blick auf die Verträge mit der
Ukraine und Kroatien, beides Anrainerstaaten der EU.
Deswegen lehnt es die Linke auch ab, vertraglich
festzulegen, dass den ausländischen Vertragspartnern
„alle interessierenden Informationen“ zu den jeweiligen
Delikten übermittelt werden sollen. Die Sicherungsklau-
seln in den Vertragstexten sind völlig unzureichend. So
„kann“ die Bundesrepublik die Kooperation verwei-
gern, wenn ein bestimmtes Delikt in Deutschland gar
nicht strafbar ist oder wenn Grund zur Annahme be-
steht, dass der Partnerstaat mit den Informationen aus
Deutschland missbräuchlich umgeht. Aber: Die richtige
Reihenfolge wird hier umgedreht. Notwendig wäre eine
Einzelfallprüfung. Nur dann, wenn man sicherstellen
kann, dass eine Datenübermittlung angebracht und not-
wendig ist, sollte sie stattfinden. Doch stattdessen wird
hier der Datenaustausch zur Regel und die Austausch-
verweigerung zur Ausnahme. Die Beamten, die im In-
nenministerium oder im BKA Anfragen prüfen, sind im-
mer auf der sicheren Seite, wenn sie Informationen
rausrücken, aber rechtfertigungspflichtig, wenn sie das
nicht tun. Und das ist falsch; denn das bedeutet, Men-
schenrechte und Datenschutz auf den Kopf zu stellen,
und deswegen lehnt die Linke diese Abkommen ab.
Die Zusammenarbeit im Sicherheitssektor, über diewir heute sprechen, gibt es längst, auch wenn die vorlie-genden Verträge noch nicht ratifiziert waren. Die Ab-kommen, die wir heute ratifizieren sollen, sind teilweiseein halbes Jahrzehnt alt, die Mehrheit hat noch der Bun-desinnenminister Schäuble paraphiert. Muntere Koope-ration ohne geordnete Rechtsgrundlage – da fragt mansich schon, was für ein Verständnis von ordnungsgemä-ßem Vorgehen das sein soll. Und es zeigt, wie wenigWert diese Regierung – und auch die Große Koalitionzuvor – in manchen Fragen auf die korrekte Beteiligungdes Deutschen Bundestages legt.Wir haben hier sogar schon heftig darüber gestritten,im Plenum und im Innenausschuss, wie diese Zusam-menarbeit aussieht. Bestes – oder wohl doch eher:schlimmstes – Beispiel ist Saudi-Arabien. Da läuft seitJahren ein Ausbildungseinsatz der Bundespolizei, parla-mentarisch kaum zu greifen, festgelegt in einem Vertragzwischen einem Rüstungskonzern und einem Regime,das Freiheit und Menschenrechte nicht gerade hochschätzt. Das hat man alles ohne das heute vorliegendeAbkommen gemacht, und es kann nun keiner behaupten,dass mit dem Abkommen nun alles besser würde; denndas gibt der Text nicht her. Und wenn es im Interesse derBundesregierung gewesen wäre, den Ex-Bundespolizis-ten Hansen – auch bekannt unter seinem KampfnamenUdo von Arabien – und sein fragwürdiges Ausbildungs-projekt für saudische Polizeitruppen im Sold von EADSdurch ein Abkommen zu stoppen, dann hätte man diesesAbkommen schon längst ratifizieren können.Im Grunde sind solche Verträge ja der richtige Ge-danke – die Zusammenarbeit auf einem so sensiblenSektor wie dem der Sicherheit bedarf der klaren rechtli-chen Regelungen. Und, ja, wir sind beispielsweise beider Bekämpfung des Terrorismus auf internationale Zu-sammenarbeit angewiesen, und diese Zusammenarbeitmuss eine feste Basis haben. Aber genau das leistenZu Protokoll gegebene Reden
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19664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Wolfgang Wieland
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diese Abkommen eben gerade nicht. Sie sind gekenn-zeichnet von zu unklaren menschenrechtlichen undrechtsstaatlichen Bindungen, zu diffusen Anwendungs-bereichen und zu laxen Kontrollen und Standards.Schon die Fundamentaldaten stimmen nicht: Men-schenrechtliche Standards werden eher blumig und amRande erwähnt – und sie sind keineswegs immer ge-wahrt, wenn Kuwait oder Saudi-Arabien nach ihrem in-nerstaatlichen Recht verfahren. Die feste Bindung anGrundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit muss man mitder Lupe suchen, und auch dann wird man nur teilweisefündig. Und das darf uns bei einigen der Staaten, um diees hier geht, nicht ausreichen.Man kann nicht annehmen, dass Katar und Kuwait,Saudi-Arabien, aber auch die Ukraine immer Standardsanlegen, wie wir es tun – im Gegenteil, man hat genugBelege, dass in allzu vielen Fällen eben nicht die rechts-staatlichen Standards gelten, die wir einfordern.Das gilt auch für die Fragen des Rechtsweges und derDatenweitergabe. Der Austausch von Informationen istwichtig, das steht ja gar nicht infrage. Aber es kannnicht sein, dass der individuelle Rechtsschutz quasinicht durchsetzbar ist, dass also die Kautelen und Be-dingungen für die Datenweitergabe für die Betroffenenüberhaupt nicht durchsetzbar sind. Das ist deswegenvon so großer Bedeutung, weil das Abkommen sich janicht nur auf die Strafverfolgung bezieht, sondern vorallem auf die Gefahrenabwehr. Hier ist das Treiben vonSchindluder mit Daten und Erkenntnissen vorprogram-miert.Eine weitere Problematik steckt in den Katalogen derStraftaten, zu deren Bekämpfung kooperiert werden soll;denn es handelt sich ja eben nicht nur um Terrorismusund um schwerste Straftaten oder Organisierte Krimina-lität, sondern um fast die komplette Bandbreite der Kri-minalität. Bisweilen müssen die Taten von erheblicherBedeutung sein, bisweilen muss es sich um schwere Kri-minalität handeln, bisweilen werden „insbesondere“schwere Verbrechen bekämpft, aber damit eben auchweit weniger schwerwiegende Delikte. Eine klare Linieist hier nicht zu erkennen, und aus unserer Sicht ist derRahmen hier viel zu weit gesteckt und zu undeutlich ge-kennzeichnet. Auch hier ist ausgerechnet das Abkommenmit Saudi-Arabien am weitestgehenden: Danach beziehtsich die Kooperation sogar auf Taten, die in einem Dritt-land vorbereitet oder begangen werden.Schließlich wird die Zusammenarbeit in der Ausbil-dung vereinbart. Das klingt vielversprechend, da magman sich auch Hoffnungen machen, so rechtsstaatlicheStandards zu verbessern. Nur, die Realität ist einewesentlich traurigere, wie in Saudi-Arabien schon zubesichtigen ist. Da werden reichlich Fähigkeiten vermit-telt, die auch zur Unterdrückung der eigenen Bevölke-rung dienen können.Zu niedrige Standards, unklare Reichweite, zu wenigRechtsschutz und all das bei rechtsstaatlich unzuverläs-sigen Partnern: diese Abkommen müssen wir ablehnen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zudem Abkommen mit der Regierung des Staates Kuwait.Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820, den Ge-setzentwurf auf Drucksache 17/7601 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?– Das sind die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grü-nen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Ge-setzentwurf ist angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, denvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einesGesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung desStaates Katar auf Drucksache 17/7602 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?– Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Gesetzent-wurf ist angenommen.Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, denvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einesGesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Re-publik Kroatien auf Drucksache 17/7603 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion derSozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Das ist dieLinksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, denvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einesGesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des Kö-nigreichs Saudi-Arabien auf Drucksache 17/7604 anzu-nehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?– Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.Enthaltungen? – Fraktion der Sozialdemokraten. DerGesetzentwurf ist damit angenommen.Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, denvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einesGesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Re-publik Kosovo auf Drucksache 17/7605 anzunehmen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19665
Vizepräsident Eduard Oswald
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Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion derSozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – FraktionBündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltun-gen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch-stabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/8820, den von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit demMinisterkabinett der Ukraine auf Drucksache 17/7606anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?– Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltun-gen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzent-wurf ist angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-PeterBartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDBiobanken als Instrument von Wissenschaftund Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetzprüfen und Missbrauch genetischer Datenund Proben wirksam verhindern– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Birgitt Bender, Markus Kurth, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSchutz von Patientinnen und Patienten beider genetischen Forschung in einem Bioban-ken-Gesetz sicherstellen– Drucksachen 17/3868, 17/3790, 17/8873 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas FeistRené RöspelDr. Martin Neumann
Dr. Petra SitteKrista SagerWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Hu-manbiobanken für die Forschung“ vom Juni 2010 hateine Diskussion über die Weiterentwicklung der Rah-menbedingungen für Humanbiobanken angestoßen. Hu-manbiobanken enthalten von Menschen stammende erb-substanzhaltige Materialien mit den dazugehörigenDaten, welche wiederum mit personenbezogenen Anga-ben und gesundheitsbezogenen Informationen verknüpftsind. Diese Datenbestände werden für Zwecke der wis-senschaftlichen Forschung gesammelt oder aufbewahrt.Dabei handelt es sich beispielsweise um DNA-, Blut-oder Gewebeproben, die zusammen mit Hintergrundin-formationen der Spender verwaltet werden.Humanbiobanken erlangen wachsende Bedeutung fürdie biomedizinische Forschung. Sie eröffnen wichtigeMöglichkeiten für die Aufklärung der Ursachen vonKrankheiten und die Entwicklung von Therapien. ImHinblick auf die damit verbundenen ethischen und recht-lichen Herausforderungen ist der Deutsche Ethikrat zudem Schluss gekommen, dass rechtlicher Reglungsbe-darf bestehe.Den Umgang mit genetischen Proben und Daten zuden wesentlichen anderen Zwecken außerhalb der For-schung, Arbeitgeber, Versicherungen etc., regelt seit Fe-bruar 2010 das Gendiagnostikgesetz. Dort war auf ei-nen ausdrücklichen Forschungsteil jedoch bewusstverzichtet worden. Dies wurde im Wesentlichen damitbegründet, dass der rechtliche Rahmen, bestehend ausLandes- und Bundesdatenschutzgesetzen, standesrecht-lichen Bestimmungen und Ethikkommissionen sowie in-ternationalen Empfehlungen etwa der OECD für denForschungsbereich ausreichend sei.Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahmefestgestellt, dass der Bereich neue Dynamik gewonnenhat. Die Nutzung nimmt immer neue Formen an, es wer-den immer mehr Daten mit größerem Informationsge-halt gespeichert, eine Anonymisierung ist teilweise nichtmehr möglich oder gewollt. Dazu kommen Trends zurVernetzung, Internationalisierung, Privatisierung undKommerzialisierung. Daher müssten neue gesetzlicheRegelungen gefunden werden. Ziel der Empfehlungen istes, für den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Spendereinen adäquaten Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellenund für die Forschung mehr Rechtssicherheit zu schaf-fen. Der Deutsche Ethikrat hat daher ein Fünf-Säulen-Modell vorgeschlagen:Erstens die Etablierung eines Biobankgeheimnisses,zweitens die Festlegung der zulässigen Nutzung, drittensdie Einbeziehung von Ethikkommissionen, viertens dieQualitätssicherung beim Datenschutz und fünftens dieTransparenz der Ziele und Verfahrensweisen einer Bio-bank.Ich habe bereits in der ersten Beratung der vorliegen-den Anträge dem Ethikrat ausdrücklich für seine Stellung-nahme gedankt und möchte dies noch einmal betonen. Ne-ben der fachlichen Expertise hat die Stellungnahme zueiner kritischen Reflexion der bestehenden Praxis unterFachleuten und in der Politik geführt.Diese Reflexion und die öffentliche Auseinanderset-zung war nötig. Alle Beteiligten – sowohl Biomaterial-spender als auch Forschungseinrichtungen – brauchenVerlässlichkeit und Sicherheit. Voraussetzung für dieNutzung von Humanbiobanken sind daher Rahmenbe-
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19666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Thomas Feist
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dingungen, die es ermöglichen, das wissenschaftlichePotenzial von Humanbiobanken auch im Rahmen ver-netzter und internationaler Zusammenarbeit zu nutzen.Dabei müssen gleichzeitig die Rechte des allgemeinenPersönlichkeitsschutzes und die informationelle Selbst-bestimmung der Spender gewährleistet werden.Bei allen Diskussionen, die wir seitdem geführt ha-ben, hatten alle Beteiligten stets das Ziel, einerseits denForschungsstandort Deutschland auf dem humanbiolo-gischen Sektor wettbewerbsfähig zu gestalten und gleich-zeitig die Persönlichkeitsrechte der Spender hinreichendzu schützen.In allen Diskussionen und persönlichen Gesprächenwurde ein Punkt von Praktikern immer wieder betont:Biomaterialien und Daten werden schon seit Jahrzehn-ten für Forschungszwecke gesammelt, ohne dass inDeutschland ein einziger Fall ernsthaften Missbrauchsbekannt geworden wäre. Das Vertrauen der Menschenist hoch. Die Mehrzahl der Angesprochenen stellt ihreDaten zur Verfügung, eine Vielzahl sogar mehrmals.Diesen wichtigen Punkt kann ich nur bestätigen.Die Universität Leipzig hat in meinem Wahlkreis einForschungsprojekt im Kampf gegen Volkskrankheitenbegonnen, mithilfe einer Biobank. Beim Leipziger For-schungszentrum für Zivilisationserkrankungen, LIFE,werden mehr als 100 Ärzte und Wissenschaftler der Uni-versität sowie der Universitätsmedizin bis 2013 rund25 000 Leipziger klinisch und bioanalytisch untersu-chen. Die knapp 40 Millionen Euro teure Bevölkerungs-und Patientenstudie soll die Zusammenhänge zwischengenetischer Anlage, Stoffwechsel und individueller Le-bensführung in großem Umfang erforschen. Ziel ist es,Erkenntnisse über Ursachen und die unterschiedlicheAusprägung der wichtigsten Zivilisationserkrankungenzu gewinnen und neue Ansätze für eine frühzeitige Prä-vention und Therapie zu finden.Die Resonanz ist groß. 1 200 Teilnehmer haben seitdem Start im Februar 2011 umfangreiche Befragungenund Untersuchungen absolviert. Bis Ende 2014 sollen es26 000 Teilnehmer werden, und die Verantwortlichensind optimistisch, das zu erreichen. Das Vertrauen derMenschen in Humanbiobanken ist also groß.Im Gegensatz dazu besteht unter den Experten keineEinigkeit darüber, ob eine gesetzliche Regelung von Hu-manbiobanken nötig ist. Weder die geladenen Expertenwährend der Anhörung im Ausschuss für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung noch die Fach-leute, die auf Einladung des Deutschen Ethikrates undder TMF, Technologie- und Methodenplattform für dievernetzte medizinische Forschung e.V., über den gesetz-lichen Regelungsbedarf diskutiert haben, konnten sichdarüber einig werden. Vielmehr argumentieren diePraktiker, dass die bestehenden Rahmenbedingungenbereits ausreichend und international vorbildlich sind.Der Probandenschutz wird über verschiedene Regelun-gen im Arzneimittelgesetz, dem Datenschutzgesetz undverschiedene Leitlinien geregelt.Grundsätzlich gelten für alle Spender die grundge-setzlich garantierten Grundrechte, ihre Rechte aufWürde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowieauf Persönlichkeit und informationelle Selbstbestim-mung. Demgegenüber besteht aber auch ein berechtig-tes Interesse der Forscher und Forschungseinrichtun-gen an den Materialen und den daraus zu gewinnendenErgebnissen, kurzum an der Freiheit der Forschung undBerufsausübung. Diese verfassungsrechtliche Forschungs-freiheit gibt jedem Forscher das Recht auf Abwehr jederstaatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnungund Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, vorbe-haltlich der Verfassungstreuepflicht. Diese ist vorbehalt-los gewährleistet und kann nur durch andere geschützteRechtsgüter mit Verfassungsrang beschränkt werden.Die grundsätzlichen datenschutzrechtlichen Bestim-mungen finden sich im Bundesdatenschutzgesetz wieder.Hier werden die Erhebung, Nutzung und Verarbeitunggeregelt. Hier einige Beispiele, die nicht abschließendsind:Bei Entnahme durch einen Arzt zu medizinischenHeilzwecken fallen alle Informationen unter das Arzt-Patienten-Verhältnis und damit unter das Standesrechtfür Ärzte und die ärztliche Schweigepflicht, eine Weiter-nutzung durch eine Biobank ist nur nach einer ausdrück-lichen Willenserklärung durch den Patienten möglich,jede Entnahme rein zu Forschungszwecken ohne medizi-nischen Heilzweck unterliegt zwingend einer Einwilli-gung, da sie sonst eine Körperverletzung darstellt, es mussjeweils eine datenschutzrechtliche und persönlichkeits-
§ 40 BDSG schreibt für die wissenschaftliche For-schung vor, dass diese Daten nur für diesen Zweck ver-wendet werden dürfen und anonymisiert werden müssen.Bei der Verwendung zu Forschungszwecken muss sichder Arzt von einer Ethikkommission beraten lassen. Bio-banken unterliegen der grundsätzlichen Aufsicht eineseigens zu bestellenden Beauftragten für Datenschutz.Jedes Unternehmen muss die beteiligten Personen aufdas Datengeheimnis verpflichten.Die Betreiber von Humanbiobanken werden darüberhinaus ein glaubhaft hohes Eigeninteresse daran haben,gesetzliche Standards und darüber hinaus allgemein ak-zeptierte wissenschaftliche Standards und Empfehlun-gen einzuhalten, da sie maßgeblich an dem Vertrauender Patienten interessiert sind. Der Erfolg der Bioban-ken wird durch das Vertrauen der Probanden bestimmt,da diese als aktive Partner im Forschungsprozess benö-tigt werden.Von vielen Experten wurden die Empfehlungen desEthikrates zur Festlegung der zulässigen Nutzung, zurEinbeziehung von Ethikkommissionen, zur Qualitätssi-cherung und Transparenz nicht nur begrüßt, sondern alszum Teil bereits gängige Praxis beschrieben. So erklärteProfessor Dr. Wichmann vom Helmholtz-Zentrum Mün-chen, dass die Empfehlungen des Ethikrates in vielenPunkten den „goldenen Standard“ für Biobanken dar-stellen. Es sei aber bereits jetzt für große bestehende undgeplante Biobanken möglich, diese Forderungen auchohne gesetzliche Regelung zu erfüllen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19667
Dr. Thomas Feist
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Herr Professor Wichmann und Expertengremien wiedie beiden lebenswissenschaftlichen Senatskommissio-nen der Deutschen Forschungsgemeinschaften schlagendaher vor, dass derzeit auf eine allgemeine und umfas-sende gesetzliche Regelung in Form eines Forschungs-Biobankgesetzes verzichtet werden sollte, da dies zueinem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand führenwürde. Der Verwaltungsmehraufwand würde insbeson-dere kleine und projektbezogene Datensammlungen anUniversitäten überfordern. Für das Biobankgeheimnisbestehen im Ausland keine vergleichbaren Schutzvor-schriften, sodass hieraus negative Auswirkungen in Be-zug auf die zunehmende Zahl internationaler Koopera-tionen resultieren könnten.Stattdessen sollten auf der bestehenden Rechtsgrund-lage für große Biobanken die Einhaltung der in derEmpfehlung des Deutschen Ethikrates enthaltenen Prin-zipien gefordert werden. Dies könnte wirkungsvoll da-durch geschehen, dass deren Einhaltung zur Vorausset-zung für die öffentliche Förderung von Biobankengemacht wird und ferner die Datenschutzbeauftragtenund Ethikkommissionen die Einhaltung der Vorgabenfordern und überprüfen.Ein weiteres Argument gegen eine gesetzliche Rege-lung ist die Tatsache der Verteilung der Gesetzgebungs-kompetenz. Besonders interessant ist in diesem Fall dieEinschätzung von Professor Dr. Jochen Taupitz, Mit-glied des Deutschen Ethikrates und GeschäftsführenderDirektor des Instituts für Deutsches, Europäisches undInternationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht undBioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim,dass der Bund überhaupt keine Kompetenz für ein Bio-bankgesetz hat und es damit zwangsläufig zu einer wei-teren Rechtszersplitterung durch verschiedene Länder-gesetze kommen muss. Diese wäre meiner Meinung nachnicht im Interesse oder der Forschung.Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller Argu-mente bin ich daher zu dem Schluss gekommen, dasseine gesetzliche Regelung von Humanbiobanken zumin-dest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erforderlich istund die vorliegenden Anträge daher abzulehnen sind.Die öffentliche Anhörung und das Expertengesprächhaben das heterogene Meinungsbild der Experten be-züglich einer gesetzlichen Regelung aufgezeigt. Ausmeiner Sicht sind die Argumente gegen eine gesetzlicheRegelung überzeugender. Die Experten haben das hoheDatenschutzniveau in der Praxis auf Basis der geltendenDatenschutzgesetze von Bund und Ländern dargestellt.Es gibt bisher keine – ich wiederhole das immer wieder,weil es so wichtig ist – Hinweise auf Fälle missbräuchli-cher Verwendung von Proben und Daten in Biobanken.Insgesamt können die Empfehlungen des Ethikrates aufder Grundlage der bestehenden allgemeinen und spe-ziellen gesetzlichen Regelungen umgesetzt werden.Es gibt ein hohes Interesse, das in Biobanken lie-gende wissenschaftliche Potenzial ausschöpfen zu kön-nen, um die medizinische Forschung voranzubringen.Hierzu gehört es eben auch, dass die Verwendung derProben und Daten nicht auf spezifische Forschungsvor-haben beschränkt bleibt und die Weitergabe im Wissen-schaftsbereich möglich ist.In diesem Zusammenhang ist besonders die von denGrünen angestrebte unverzügliche Löschung der in Bio-banken enthaltenen Daten kritisch zu betrachten. Diesesteht, wie schon der Deutsche Ethikrat in seiner Stel-lungnahme bemerkte, oftmals in direktem Widerspruchzur Forschungspraxis, da die zugrunde liegenden Datenmitunter auch nach dem Erreichen des angestrebtenForschungsziels als wichtige Informationsquelle, ge-rade auch für die Evaluierung und Weiterführung von imForschungsprozess aufgetauchten Fragestellungen, vonhoher Relevanz bleiben können.In diesem Rahmen gilt es auch zu bedenken, dass einezu enge Eingrenzung der Verwendung im Zuge der infor-mierten Einwilligung der Probanden die Forschungsar-beit erheblich beeinträchtigt. Was nutzen dem ForscherDaten, die er nicht verwenden kann, weil sie einem zuspezifischen Zweck zugeordnet sind? Daher ist eine qua-lifizierte und einsichtige Information der Spender undein hoher Grad an Transparenz nötig, um die Interessensowohl der Spender als auch der Forscher zu wahren.Professor Dr. Dabrock von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat in seiner Stellung-nahme Folgendes zum Antrag der Grünen formuliert:„Der Antrag scheint die eigentlichen Besonderheitenund Ziele von Biobanken gar nicht zu berücksichtigen.“Die erhobenen Forderungen „nach strikter Zweckbin-dung, Anonymisierung und vor allem nach Vernichtungder Proben und Löschung der Daten nach Erreichungdes Forschungszieles steht dem Aufbau und der Nach-haltigkeit der Forschungsinfrastruktur von Biobankendiametral entgegen. Wie […] dargelegt sind offene odererweiterbare Zweckbestimmungen, Datensammelleiden-schaft, Pseudonymisierung und Verzicht auf Vernichtungder Proben und Löschung der Daten Grundprinzipiengroß angelegter Biobankeninfrastrukturen. Schon dieRede, all dies nur als Ausnahme zuzulassen, verkennt ab-sichtlich oder unabsichtlich den Sinn dieser Forschungs-richtungen. Wer Biobanken wirklich für sinnvoll und not-wendig erachtet, muss mit ihren Leitideen konstruktivumgehen und darf sie nicht einfach umdefinieren.“„Man kann den Antrag von Bündnis 90/Die Grünenvertreten, man sollte dann aber nicht gleichzeitig be-haupten, man halte diese Forschung für sinnvoll und not-wendig. Eine Konsequenz dieser Haltung wäre wohl,dass sich Deutschland nach Umsetzung dieser Forderun-gen aus dem „Emerging Field“ Biobanken verabschie-den müsste“, lautet das Fazit von Professor Dabrock.Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Ichlehne den Antrag daher ab!Der Antrag der SPD hat eine „behutsame und ergeb-nisoffene Debatte“ gefordert. Diese wurde meines Er-achtens geführt. Allerdings zeigt die heterogene Mei-nung der Experten über eine Notwendigkeit gesetzlicherRegelungen deutlich die Gefahr, dass die Politik mit ei-nem Gesetz möglicherweise ein funktionierendes Systemder Selbstregulierung negativ beeinflussen und damitdie Forschung beeinträchtigen könnte. Dies betrifft zumZu Protokoll gegebene Reden
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19668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Thomas Feist
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einen den höheren Verwaltungsaufwand und zum ande-ren die Erschwerung internationaler Kooperationendeutscher Biobankenforschung.Erste Schritte, um die seitens des Deutschen Ethikra-tes geforderte Qualität und Transparenz von Biobankenin Deutschland sicherzustellen, hat die Bundesregie-rung, hat das Bundesministerium für Bildung und For-schung bereits unternommen. Hier ist zum Beispiel dieFörderung des nationalen Biobankenregisters zu nen-nen. Es soll Kerninformationen über alle für die medizi-nische Forschung relevanten Biobanken in Deutschlandenthalten und dadurch einen effektiven und strukturier-ten Zugang zu dieser Ressource gewährleisten. Darüberhinaus wurde die Nationale Biobankenmaterial Initia-tive gestartet, die zum Aufbau übergeordneter Strukturenan Standorten mit bereits vorhandenen Biomaterialban-ken führen wird.Der Antrag der SPD ist daher ebenfalls abzulehnen.
Vor ein paar Monaten haben in mehreren RegionenDeutschlands Bürgerinnen und Bürger Post von einemNetzwerk deutscher Forschungseinrichtungen bekom-men, unter anderem der Helmholtz-Gemeinschaft. Indem Schreiben wurden sie gebeten, an der sogenanntenNationalen Kohorte teilzunehmen. In dieser Kohorten-studie sollen circa 200 000 Teilnehmerinnen und Teil-nehmer medizinisch untersucht und nach Lebensge-wohnheiten wie körperliche Aktivität, Rauchen,Ernährung und Beruf befragt werden. Darüber hinauswerden allen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmernBlutproben entnommen und für spätere Forschungspro-jekte in einer zentralen Bioprobenbank gelagert. Diebeteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlererhoffen sich durch diese Informationen neue Erkennt-nisse über die Entstehung von Krankheiten. Später sol-len aus den gewonnenen Daten und Proben Strategienfür eine bessere Vorbeugung und Behandlung der wich-tigsten Volkskrankheiten abgeleitet werden, ein nach-vollziehbares und gutes Ziel, das hoffentlich erreichtwerden wird. Diese Nationale Kohorte wird damit diegrößte Kohorte Deutschlands sein und soll mindestensüber einen Zeitraum von 20 Jahren laufen.Da bei dieser Kohorte Blutproben genommen undverwahrt werden und diese bestimmten Personen anony-misiert zugeordnet werden können, handelt es sich hier-bei um eine sogenannte Humanbiobank – allgemeinauch als Biobank bezeichnet. Unter Biobanken werdenSammlungen von Proben menschlicher Körpersubstan-zen wie Gewebe, Blut oder DNA verstanden, die mitpersonenbezogenen Daten und sonstigen Informationenverknüpft sind und medizinischen oder wissenschaft-lichen Zwecken dienen. Der Großteil der existierendenBiobanken wird derzeit zu Forschungszwecken genutzt.Würden Sie an der Nationalen Kohorte teilnehmen,wenn Ihnen nicht klar wäre, was mit diesen sehr persön-lichen Informationen bzw. den Blutproben genau pas-siert? Würden Sie teilnehmen, wenn Sie nicht genauwüssten, ob zum Beispiel Straf-verfolgungsbehörden Zu-griff auf diese Informationen haben oder was mit denProben nach Ende des Projekts passiert? Genau dassind die Themen, mit denen sich die beiden uns hier vor-liegenden Anträge beschäftigen.Im Mai letzten Jahres hat im Ausschuss für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Grund-lage dieser Anträge eine öffentliche Anhörung statt-gefunden. Vorangegangen waren Stellungnahmen desNationalen Ethikrates, des Deutschen Ethikrates unddes Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deut-schen Bundestag. Während der Anhörung wurde nebender Bedeutung von Biobanken für die Wissenschaft auchdarüber diskutiert, ob für diese eine rechtliche Regelungin Deutschland notwendig sei und, wenn ja, welcheAspekte dabei reguliert werden sollten.Am Ende wurde noch einmal deutlich, welche Bedeu-tung Biobanken für die Wissenschaft und Medizin zurBekämpfung von komplexen Erkrankungen haben. Eswurde auch darauf hingewiesen, dass die erfolgreicheBiobankenforschung eine große freiwillige Beteiligungder Bürgerinnen und Bürger benötigt. Gleichzeitig zei-gen Umfragen, dass etwa die Hälfte der BefragtenBiobanken keine Proben und persönlichen Daten zurVerfügung stellen wollen. Das mag am Mangel an Infor-mationen oder der grundsätzlichen Skepsis der Deut-schen gegenüber der Weitergabe von persönlichenDaten liegen. Fakt bleibt aber, wie es der Sachverstän-dige Professor Peter Dabrock für die Anhörung formu-liert hat: Ohne freiwillige Probanden keine Biobankfor-schung!Aufgabe von Wissenschaft und Politik muss es alsosein, die Informationslage zu verbessern und die allge-meine Skepsis zu verringern, aber auch Defizite oderUnsicherheiten zu beheben. Dafür sind Transparenz undGlaubhaftigkeit enorm wichtig. Kontraproduktiv wirkenhingegen die durch die Experten dargestellten Rege-lungslücken bzw. Unklarheiten zum Beispiel beim Zu-gang der Daten für Dritte. Professor Dabrock verwies inseiner Stellungnahme darauf, dass die klassischen Prin-zipien des Datenschutzes – die Datensparsamkeit, dieZweckbindung und die informierte Einwilligung – auf-grund der spezifischen Eigenschaften von Biobankenkaum umgesetzt werden können. Daraus zieht er denSchluss, dass gerade dann, wenn man Vertrauen inBiobanken aufbauen will, neue rechtliche Regelungennicht auszuschließen sind. Genau diese Prüfung hat dieSPD-Bundestagsfraktion ebenfalls im hier vorliegendenAntrag gefordert.Im Ausschuss meinten die Vertreter der Bundesregie-rung, dass die Empfehlungen des Deutschen Ethikratesnach einer spezifischen gesetzlichen Regelung von Bio-banken bzw. zur Biobankforschung bereits heute aufGrundlage der bestehenden gesetzlichen Regelungenumgesetzt werden könnten. Wenn dem denn so ist, dannfrage ich Sie: Welche Empfehlungen hat denn die Bun-desregierung seit der Veröffentlichung der Stellung-nahme im Jahre 2010 beim Thema Biobanken umgesetztoder wenigstens auf den Weg gebracht? Gar keine. Inso-fern verstehe ich nicht, warum CDU/CSU und FDPnicht auf die vielen Expertinnen und Experten hören undZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19669
René Röspel
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endlich im Sinne der Wissenschaft und der Forschungtätig werden.In unserem Antrag haben wir weitere Forderungen imBereich der Biobanken gestellt. So verlangen wir zumBeispiel ein umfassendes Förderkonzept für den Aus-und Aufbau von Biobanken sowie eine regelmäßigeUnterrichtung des Bundestages zur Forschungsinfra-struktur im Bereich Biobanken. Was genau, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, ist denngegen diese Forderungen einzuwenden? Was hält Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP, davon ab, mindestens diese Minimalforderungenumzusetzen?Für uns als SPD-Bundestagfraktion sind Biobankenein wichtiges Instrument für die Wissenschaft und For-schung. Es besteht aber die Gefahr, dass die aktuellendatenschutzrechtlich aufgeworfenen Fragen sowie dieungeregelte Einbindung von Ethikkommissionen undVerfahrensregelungen die notwendige Akzeptanz undTeilnahme durch die Bürgerinnen und Bürger gefährdet.Es wäre schade, wenn Projekte wie die Nationale Ko-horte nicht die nötige Resonanz erhalten würden, nurweil die aktuelle Bundesregierung nicht bereit ist, diebereits auf dem Tisch liegenden Lösungen mindestens zuprüfen, geschweige denn umzusetzen. Es wäre jetzt end-lich an der Zeit dafür!
Die Forschung an genetischen Daten und Biomate-
rialien hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt
und ist für die Wissenschaft zu einer wichtigen Res-
source geworden. Es handelt sich nicht mehr um
einzelne kleine Probensammlungen in irgendwelchen In-
stituten, die von Wissenschaftlern zu begrenzten For-
schungszwecken verwendet werden, sondern die Samm-
lungen werden immer größer, und sie werden auch
elektronisch vernetzt. Prinzipien wie Datensparsamkeit
oder Dezentralität von Datenspeicherung können im Be-
reich von Biobanken für die Forschung gar nicht auf-
rechterhalten werden, weil es darauf ankommt, mög-
lichst viele Daten zu sammeln und zu vernetzen, um neue
Erkenntnisse für den medizinischen Fortschritt zu ge-
winnen. Eine Anonymisierung der Daten und Proben ist
in diesem Zusammenhang auch nicht immer möglich
und auch nicht gewünscht!
Humanbiobanken sind zu einem unverzichtbaren
Instrument der krankheits- und patientenorientierten
Forschung geworden. Völlig zu Recht hat sich der Deut-
sche Ethikrat dieses Themas 2010 noch einmal vertie-
fend angenommen.
Ich habe großes Verständnis dafür, dass es ein gestei-
gertes Interesse gibt, das in den Biobanken liegende wis-
senschaftliche Potenzial auszuschöpfen, um die medizi-
nische Forschung voranzubringen. Ich bin mir dessen
bewusst, dass die Verwendung der Proben und Daten
nicht auf spezifische Forschungsvorhaben beschränkt
bleiben kann und die Weitergabe von Proben und Daten
im Wissenschaftsbereich möglich sein muss.
Daher muss das besondere Augenmerk bei der Be-
wertung der in Biobanken gespeicherten Informationen
auf dem Spenderschutz liegen. Ich bin mir sicher, dass
die Forschung ein vitales Eigeninteresse daran hat, ein
hohes Maß an Probandenschutz zu gewährleisten. Nur
so kann sie die Kontinuität ihrer Arbeit gewährleisten.
Die in den Anträgen von SPD und Grünen vertretene
Auffassung, dass hier zusätzliche gesetzliche Regelun-
gen erforderlich sind, kann ich nach all dem, was ich in
der Anhörung erfahren habe, nicht teilen.
Die Sachverständigenanhörung im Bundestagsaus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung am 25. Mai vergangenen Jahres zum
Thema Humanbiobanken hat mich in meiner Auffassung
bestärkt, derzeit keine gesetzgeberischen Initiativen für
die genetische Forschung und für die Forschung mit
Humanbiobanken zu starten. Seitens der Experten aus
der Biobankforschung wurde überzeugend das hohe Da-
tenschutzniveau in der Praxis auf der Basis der
geltenden Datenschutzgesetze von Bund und Ländern
dargestellt. Auch liegen keine Hinweise auf Fälle einer
missbräuchlichen Verwendung von Proben und Daten in
Biobanken vor.
Ich bin daher der Auffassung, dass die Empfehlungen
des Deutschen Ethikrates auf der Grundlage der beste-
henden allgemeinen und speziellen gesetzlichen Rege-
lungen gut umgesetzt werden. Im Übrigen wurde meine
Auffassung auch durch das vom Deutschen Ethikrat
zusammen mit der TMF – Technologie- und Methoden-
plattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V.
durchgeführte Expertengespräch mit ganz überwiegen-
der Mehrheit gestützt. Ich glaube schon, dass weitere
spezielle gesetzliche Anforderungen Hemmnisse für die
internationale Kooperationsfähigkeit deutscher Biobank-
forschung darstellen können.
Mit Bezug auf die Vertraulichkeit von Daten gegen-
über Dritten müssen wir natürlich genau hinschauen,
welches Instrumentarium uns heute bereits zur Verfü-
gung steht. Einigkeit besteht offensichtlich darüber, dass
in den zentralen Bereichen Arbeitsleben und Versiche-
rungen das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz
bereits den Schutz vor dem Zugriff durch private Dritte
hinreichend gewährleistet.
Ich kann Ihnen daher empfehlen, der Beschlussemp-
fehlung und dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zu folgen und
damit die beiden Anträge abzulehnen.
Die Sensibilität der persönlichen Daten, die in Bio-banken gesammelt werden, erfordert einen besonderenSchutz durch eine verbindliche gesetzliche Regelung.Das war der Tenor der Anhörung zu Biobanken, die wirim Ausschuss für Forschung und Technikfolgenabschät-zung im Mai letzten Jahres durchgeführt haben.In Biobanken werden Gewebe-, Zell- und Blutprobengesammelt, die dann zur krankheits- wie patientenorien-tierten klinischen Forschung zur Verfügung stehen. ImVerlauf von Forschungsprojekten werden diese Proben
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19670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dr. Petra Sitte
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mit persönlichen Daten zur Krankheitsgeschichte oderLebensweise der Probanden verknüpft. Ein prominentesBeispiel für eine vielschichtige Datensammlung inDeutschland ist die Nationale Kohorte, ein auf 20 Jahreangelegtes Forschungsprojekt eines großen Netzwerksaus Forschungseinrichtungen und Universitäten. ImRahmen des Projekts wird eine Datenbank angelegt, diefür immerhin 200 000 Menschen detaillierte Angabenüber gesundheitlichen Zustand, körperliche Aktivität,Rauchen, Ernährung und Beruf sammelt und Blutprobenaufnimmt.Während für die Nationale Kohorte, die als Pres-tigeobjekt der deutschen Forschung gilt, eigens einDatenschutz- und Qualitätskonzept entwickelt wordenist, unterliegen bisher die an Uniklinika oder in gen-diagnostischen Labors vorhandenen Probensammlun-gen keiner Qualitätskontrolle und keiner Regelung desZugriffs auf die Daten. Das Vertrauen von Spenderinnenund Spendern, die der Forschung ihre persönlichstenDaten zur Verfügung stellen, kann dadurch leicht aufge-brochen werden.Lediglich zwei der sechs Sachverständigen erklärtendie momentane Praxis für zufriedenstellend. Darunterwar ein Vertreter des Pharmaunternehmens BayerHealth Care, dessen Beruf es ist, eine solche Position zuvertreten, und von dem nichts anderes zu erwarten war.Der stets wiederkehrende Verweis auf den hervorragen-den allgemeinen Datenschutz in Deutschland, der vonGegnern einer Extraregelung für Biobanken angeführtwird, macht an den Landesgrenzen halt. Dabei ist esbekannt, dass der wissenschaftliche Austausch der inBiobanken eingelagerten Zell- und Gewebeprobenbereits weit über Europa hinaus erfolgt.Die Mehrheit der Sachverständigen benannte wich-tige Regelungslücken, die geschlossen werden müssen,und unterstützte den Vorschlag des Deutschen Ethik-rates für ein Biobankengesetz. Vor diesem Hintergrundist es nicht nur enttäuschend, sondern aus meiner Sichtauch unverantwortlich, dass die Koalitionsfraktionenkeine Konsequenzen aus der Anhörung ziehen. Siehaben die beiden Anträge der Oppositionsfraktionenweggestimmt ohne eine einzige Aussage dazu, ob sie dieoffenen Fragen bei dem Thema weiterverfolgen wollenbzw. eine eigene Initiative planen.Aus der Anhörung und den Stellungnahmen vomEthikrat und dem Büro für Technikfolgenabschätzungwissen wir, dass in Deutschland bis dato in der Regelhohe Sicherheitsstandards mit Blick auf Persönlichkeits-rechte in Biobanken vorherrschen. Allerdings haben dieebenfalls existierenden Ausnahmen das UnabhängigeLandeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein,ULD, bereits 2007 dazu veranlasst, in einem vom BMBFgeförderten Gutachten für eine gesetzliche Regelung zuplädieren. Thilo Weichert vom ULD hat bei der An-hörung bestätigt, dass die Sorge nach wie vor berechtigtist und teilweise große Defizite hinsichtlich der Pseudo-nymisierung von Gewebeproben und Datensätzen in derPraxis bestehen.Gesetzliche und damit verbindliche Regelungen fürHumanbiobanken sind auch vor dem ethisch besondersheiklen Problem der nichteinwilligungsfähigen Proban-den notwendig. Nach heutiger Praxis vieler Biobankenwilligen Spender und Spenderinnen darin ein, zu wel-chen Zwecken oder für welchen Zeitraum ihre Datenverwendet werden dürfen. Doch auch Menschen, dieaufgrund von Krankheit, Behinderung oder jungemAlter nicht über die Risiken der Abgabe von Proben auf-geklärt werden können, müssen die Chance haben, inForschungs- und Therapieprojekte aufgenommen zuwerden. Spätestens für diese Fälle muss der Staat seinerFürsorgepflicht nachkommen und den Probandenschutzfür alle verbindlich regeln.Ich sehe nach wie vor viele triftige Gründe für einBiobankengesetz und fordere die Koalitionsfraktionendazu auf, hier nicht untätig zu bleiben. Und ich bleibedabei, dass wir eine nachholende gesetzliche Regelunggenetischer Untersuchungen zu Forschungszweckenbrauchen. Denn der Bereich der Forschung ist bei derSchaffung des Gendiagnostikgesetzes ausgespart wor-den.
In den zurückliegenden Beratungen, insbesondere inder Anhörung des Forschungs- und Bildungsausschus-ses, haben wir uns ausführlich mit der Sammlung vonBioproben in Humanbiobanken, mit Biobankforschungund den damit verbundenen Herausforderungen be-schäftigt. Biobanken gewinnen rasant an Bedeutung fürdie Lebenswissenschaften. Auch international sind sieein wichtiges Thema. Umso dringlicher ist daher dieVerständigung auf hohe ethische und qualitative Stan-dards und transparente Regelungen zum Umgang mitdem in Humanbiobanken gesammelten Biomaterial.Biobankforschung kann ohne Vertrauen nicht funktio-nieren. Verlorenes Vertrauen wegen unsachgemäßenUmgangs mit hochsensiblen Daten oder sogar derenMissbrauch ist hingegen schwer wiederherzustellen undmit Sicherheit mit negativen Folgen für Spendenbereit-schaft und Akzeptanz solcher Forschung verbunden.Spenderinnen und Spender, die Biomaterialien für For-schungszwecke freiwillig zur Verfügung stellen oderstellen wollen, müssen sich in jedem Fall darauf verlas-sen können, dass hohe Standards zum Schutz ihrer per-sönlichen, medizinischen und genetischen Daten ver-bindlich eingehalten werden.Eine gute Basis für Vertrauen wären übergreifende,institutionelle Sicherungsmaßnahmen. Wir Grünen plä-dieren daher für einen Regelungsrahmen, der die For-schung mit diesen Proben und Daten ermöglicht, ihreZiele und Vorgehensweise gegenüber betroffenen Perso-nen transparent macht und den Schutz von Daten undPersönlichkeitsrechten in solchen Forschungsprojektensicherstellt.Bislang gibt es keine spezifischen gesetzlichen Rege-lungen über Biobankforschung oder Biobanken, die denHerausforderungen Rechnung tragen, die sich hier stel-len. Der Ethikrat hat 2010 vor diesem Hintergrund ein„Fünf-Säulen-Konzept“ vorgeschlagen. Dieses enthältals eine wesentliche Komponente die Verankerung einesZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19671
Krista Sager
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Biobankengeheimnisses, das Spenderinnen und Spendervor dem Zugriff Dritter auf Biobanken schützen soll.Wir meinen: Es ist an der Zeit, bestehende Regelungs-lücken zu schließen; denn Standards für den Umgangmit Bioproben können nicht allein über die Festlegungvon Regelungen in Zuweisungsbescheiden geschehen.Schließlich würde das nur staatlich finanzierte Bioban-ken betreffen. Kommerzielle Biobanken werden damitnicht erfasst. Es ist aber nicht einzusehen, warum unter-schiedliche Maßstäbe für privatwirtschaftliche und öf-fentlich finanzierte Biobanken gelten sollen.Der Antrag, in dem wir uns für ein Biobankengesetzstark machen, liegt Ihnen vor. In der Anhörung wurdevon einigen Experten auch von Regelungslücken beimUmgang mit Bioproben von nicht einwilligungsfähigenMenschen berichtet. Es wurde problematisiert, dassviele der großen Arzneimittelunternehmen parallel zurDurchführung von klinischen Studien entsprechendeProben für hauseigene Biobanken und für vom Zweckher nicht genau definierte medizinische Forschung nut-zen. Weder das Gendiagnostikgesetz noch das Arznei-mittelgesetz sind in diesen Fällen einschlägig. Auchhierfür brauchen wir aus rechtlichen und ethischenGründen eindeutige Regelungen.Abschließend ein paar Worte zur europäischen Bio-bankforschung: Andere Länder stehen dabei vor ähnli-chen Fragen und Herausforderungen, wie wir sie hier-zulande diskutieren. In der Anhörung wurde gesagt,dass eine entsprechende nationale Regelung eine Blau-pause für eine europäische Regelung abgeben könnte.Wir haben auch gehört, dass die internationale Vernet-zung im Bereich der Biobankforschung zunimmt. Ich binüberzeugt, dass Fragen hoher qualitativer und ethischerStandards an Bedeutung gewinnen, je mehr Nationen ininternationale Forschungskooperationen involviert sind,je intensiver solche Kooperationen werden und je mehrsich die internationale Biobankforschung entwickelt.Schließlich stellen uneinheitliche Verfahrensweisenauch Hindernisse für Forschungskooperationen und denAustausch von Ergebnissen dar. In diesem Zusammen-hang könnte ein nationales Biobankengesetz eine wich-tige Pilotfunktion haben.
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
17/8873. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3868. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind alle drei
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3790. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfrak-
tion. Enthaltungen? – Sozialdemokraten. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Diplomatische Beziehungen zu Palästina auf-
werten
– Drucksache 17/8375 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der hier heute zu beratende Antrag der Linken istnicht mehr aktuell, weil der Bundesaußenminister beiseinem Besuch im palästinensischen Ramallah am 1. Fe-bruar 2012 bekannt gab, dass die Generaldirektion Pa-lästinas in Berlin rückwirkend zum 1. Januar 2012 alsdiplomatische Mission geführt wird. Sie untersteht demPräsidenten der palästinensischen Autonomiebehördesowie dessen Außenministerium und übernimmt, ohneden Status einer Botschaft in Deutschland zu haben, inweiten Teilen die Funktionen und Aufgaben einer offi-ziellen Gesandtschaft.Diese Aufwertung hat aber in der Praxis einen ehersymbolischen Charakter so wie es auch in Frankreichund Großbritannien der Fall ist, da die Entsendung ei-nes Botschafters nur völkerrechtlich anerkannten Staa-ten vorbehalten ist. Deutschland erkennt die palästinen-sischen Autonomiegebiete noch nicht als eigenständigenStaat an, da dies – auch gerade durch den Antrag aufMitgliedschaft Palästinas bei der UNO vom September2011 – der Zwei-Staaten-Lösung und damit einer mögli-chen Beendigung des Konflikts zwischen Israel und denpalästinensischen Gebieten entgegenwirken würde. DieGründung eines Staates Palästina kann nur ein Resultatdirekter Verhandlungen zwischen Israel und den Paläs-tinensern sein, welches die gegenseitige Anerkennungbeider Staaten beinhaltet. Die internationale Gemein-schaft kann hier nur als Vermittler agieren.Die am 27. April 2012 in Kairo unterzeichnete Ver-einbarung zwischen der im Westjordanland regierendenFatah und der im Gazastreifen dominierenden Hamasstellt einen begrüßenswerten Schritt in Richtung auf Ver-söhnung innerhalb der Führung der palästinensischenGebiete dar, die seit der gewaltsamen Machtübernahmeder Hamas 2007 im Gazastreifen eine tiefe Spaltung er-fahren hat. Basis der Vereinbarung sind der seit 10. Sep-tember 2009 vorliegende ägyptische Versöhnungsvor-schlag, ein Protokoll der Verständigung zwischen Fatahund Hamas und die Vorschläge von Präsident Abbas zueiner Einheitsregierung. Aufgabe der Regierung soll dieVorbereitung von Parlaments- und Präsidentschafts-wahlen innerhalb eines Jahres sein, der Wiederaufbausowie die Zusammenführung der verschiedenen Behör-den und Ministerien. Jedoch kommt es immer wieder zu
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19672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Joachim Hörster
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Spannungen zwischen den beiden Verhandlungspart-nern. Als Beispiel sei hier der schon erwähnte Antragbei der UNO auf Anerkennung und Mitgliedschaft Pa-lästinas in den Vereinten Nationen aufgeführt. Die isla-mistische Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, un-terstrich ihren Widerstand gegen das Vorgehen desPalästinenserpräsidenten Abbas. Die Palästinenser soll-ten nicht vor den Vereinten Nationen um einen Staat bet-teln, sondern ihr Land befreien, sagte Hamas-FührerIsmail Hanija. Auch sind viele im Versöhnungsplan vor-gesehene Punkte bisher noch nicht umgesetzt worden,zum Beispiel die Vorbereitung von Parlaments- oderPräsidentschaftswahlen. Ein Hauptstreitpunkt liegt indem Bekenntnis der Fatah zum Friedensprozess mit Is-rael, den die Vertreter der Hamas grundsätzlich ableh-nen.Die palästinensische Führung steht aber auf der an-deren Seite vor einem Dilemma, dass durch den israeli-schen Siedlungsbau zunehmend Tatsachen vor Ort ge-schaffen werden, die sich auf eine Situation hinbewegen,die die Schaffung eines zusammenhängenden, lebensfä-higen palästinensischen Staates zunehmend unmöglicherscheinen lassen. Im Interesse der palästinensischenSeite müsste an einer raschen Verhandlungslösung gear-beitet werden. Gleichzeitig leidet das Ansehen der pa-lästinensischen Führung bei der Bevölkerung ange-sichts fehlender greifbarer Ergebnisse im Friedenspro-zess unter – aus Sicht der Bevölkerung zu weitgehenden –Zugeständnissen an Israel. Der nach dem Ende desSiedlungsmoratoriums rasch und umfangreich wiederaufgenommene Siedlungsbau hat die Aussichten aufFortsetzung der Gespräche verschlechtert – das Verhält-nis zwischen der palästinensischen Führung und ihrenisraelischen Pendants ist von tiefem gegenseitigen Miss-trauen geprägt. Die internationale Gemeinschaft hatden Siedlungsbau der Israelis nachhaltig kritisiert, undauch bei den Treffen zwischen der Bundesregierung unddem Staat Israel ist von deutscher Seite unmissverständ-lich ein Siedlungsstopp verlangt worden.Die palästinensische Führung hat bislang aus inhalt-lichen Gründen ein Junktim zwischen Siedlungsbau-stopp und Verhandlungen hergestellt: Die Einstellungdes Siedlungsbaus ist eine Forderung an Israel aus frü-heren Abkommen, unter anderem der sogenanntenRoadmap des Nahostquartetts. Israel seinerseits fordertdie Anerkennung des Staates Israels durch die palästi-nensische Führung, um damit die Sicherheit des Landesgewährleisten zu können.Seit dem letzten Besuch des Bundesaußenministers impalästinensischen Ramallah konnte bei den Versöh-nungsgesprächen zwischen der Fatah und der Hamas inKatars Hauptstadt Doha ein gewisser Durchbruch aufdem Weg zu einer palästinensischen Einheit verzeichnetwerden. In der sogenannten Doha-Deklaration habensich die beiden Parteien auf eine Einheitsregierung un-ter Führung von Mahmud Abbas geeinigt, die die anste-henden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nunvorbereiten soll. Ob der Versöhnungsprozess weiter vo-rankommt, hängt aber auch von der Basis der beidenParteien ab. Verabredete Schritte, wie die beidseitigeFreilassung inhaftierter politischer Gefangener, wurdenbisher nicht umgesetzt.Die Liste der Vorschläge zur Lösung des Konfliktszwischen Israel und den Palästinensern ist lang. Im Hin-blick auf eine mögliche Lösung des Nahostkonflikts er-scheinen aber nur zwei Abkommen bzw. Initiativen alsdie praktikabelsten: zum einen die Roadmap des Nah-ostquartetts, mit ihrer Zwei-Staaten-Lösung und zum an-deren die im März 2002 durch den saudischen Kronprin-zen Abdullah eingebrachte arabische Friedensinitiative,die von einer Anerkennung Israels durch die arabischenStaaten ausgeht, wenn es sich aus allen besetzten Gebie-ten zurückzieht. Selbst Israel und die Palästinenser se-hen bis heute darin eine Verhandlungsgrundlage. Seinegrob skizzierten Gedanken, wie aus der damaligen – undauch gegenwärtigen – Spirale von Gewalt und Gegenge-walt herauszufinden wäre, basieren auf der Grundidee,dass Israel für die Herausgabe von besetzten GebietenFrieden bekommt. Das war damals nicht neu. Neu warjedoch, dass bei einem Frieden die gesamte arabischeWelt Israel und damit die Existenz des jüdischen Staatesanerkennt. An diese Punkte gilt es weiter anzuknüpfen.Aufgrund des Streites um die UNESCO-Mitglied-schaft Palästinas war das aktuelle Engagement der Bun-desregierung, die zusammen mit dem Nahostquartetterstmals seit mehr als 15 Monaten wieder gemeinsameGespräche zwischen Israelis und Palästinensern in Jor-danien initiieren konnte, ein wichtiges Signal, um denFriedensprozess wieder zu beleben und die Verhand-lungspartner wieder an einen Tisch zu bekommen. Dassauch diese Gespräche scheiterten, lag zum einen an derWeigerung Israels, den von den Palästinensern gefor-derten Baustopp jüdischer Siedlungen im besetztenWestjordanland zu verlängern und zum anderen an derVorbedingung der Palästinenser, dass sie nicht verhan-deln könnten, solange Israel Siedlungen auf Gebietenerrichtet, auf denen sie ihren eigenen Staat gründen wol-len.Deklarationen wie sie jedoch in dem Antrag der Lin-ken vorhanden sind, helfen in der Sache wenig weiterund bilden keinen Beitrag zu einer Förderung des Frie-densprozesses. Nur durch stete Bemühungen, die Paläs-tinenser und Israelis zu gemeinsamen Gesprächen zubewegen – wie es sich die Bundesregierung zur Aufgabegemacht hat –, können zu der von allen Seiten ge-wünschten Zwei-Staaten-Lösung führen. Einseitige Er-klärungen und unrealistische Forderungen helfen nichtweiter. Daher werden wir den Antrag der Linken ableh-nen.
Auf Antrag der Fraktion Die Linke beschäftigen wiruns heute mit den diplomatischen Beziehungen zu denpalästinensischen Gebieten. Wir lehnen diesen Antragaus folgenden Gründen ab:Zum einen hat Deutschland bereits zum 1. Januardieses Jahres den Status der palästinensischen Delega-tion in Deutschland zu einer diplomatischen Mission miteinem Botschafter aufgewertet.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19673
Dr. Wolfgang Götzer
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Diese Aufwertung der palästinensischen Delegationkündigte Außenminister Westerwelle rückwirkend beiseinem Treffen mit dem Präsidenten der Palästinensi-schen Autonomiebehörde, Machmud Abbas, am 1. Fe-bruar in Ramallah an. Sie ist Teil des Bemühens derBundesregierung, sich auch in Zeiten der Krise inEuropa klar zum Aufbau eines palästinensischen Staatesmit lebensfähigen, effizienten Strukturen zu bekennen.Die Aufwertung der palästinensischen Delegation isteinerseits eine wichtige Anerkennung der in dieser Hin-sicht bereits erfolgten Fortschritte, andererseits aberauch eine Aufforderung an die palästinensischen Vertre-ter, sich engagiert und aktiv in die politischen Prozesseeinzubringen.Zum anderen lehnen wir eine von der Fraktion DieLinke geforderte Aufwertung der deutschen Vertretungin Ramallah zum jetzigen Zeitpunkt ab. Denn eine derar-tige Aufwertung setzt eine Staatlichkeit Palästinas vo-raus, die aber unserer Meinung nach derzeit noch nichtgegeben ist.Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen: Wir sindund bleiben Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung, miteinem souveränen palästinensischen Staat Seite an Seitemit einem demokratischen Staat Israel. Denn ein eigen-ständiger palästinensischer Staat ist auch im InteresseIsraels. Ohne einen solchen eigenständigen palästinen-sischen Staat können die Sicherheit Israels und der Frie-den in der Region nicht gesichert werden.Wir sind der Meinung, dass vor dem Hintergrund derUmwälzungen in der arabischen Welt und des seit länge-rem stagnierenden palästinensisch-israelischen Frie-densprozesses die Zeit jetzt reif für Fortschritte in Bezugauf einen eigenständigen palästinensischen Staat ist.Um signifikante Fortschritte in dieser Hinsicht zuerreichen, ist es nötig, die laufenden direkten Gesprächezwischen Israel und den Palästinensern unter Vermitt-lung des Nahost-Quartetts und Jordaniens voranzutrei-ben. Direkte Verhandlungen auf der Grundlage desFahrplans des Nahost-Quartetts sind der beste Weg zueiner umfassenden und gerechten Zwei-Staaten-Lösung.Deutschland steht bereit, um die palästinensischeBehörde bei dem Aufbau dieser staatlichen Strukturen zuunterstützen, so zum Beispiel durch die Gründung desdeutsch-palästinensischen Lenkungsausschusses imJahr 2010 zur Unterstützung des palästinensischenRegierungsprogramms zum Aufbau staatlicher Struktu-ren oder durch finanzielle Unterstützung des Staatsauf-baus.So trägt Deutschland als einer der größten bilatera-len Geber zum Aufbau von Infrastruktur, zur Verbesse-rung der Bildung, zu Beschäftigungsprogrammen undzum Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft in den paläs-tinensischen Gebieten bei. In der bilateralen entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit liegt der Fokus aufnachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und Regierungs-führung. Hierfür hat Deutschland allein letztes Jahrmehr als 40 Millionen Euro veranschlagt. Ferner unter-stützt Deutschland das UN-Hilfswerk für palästinen-sische Flüchtlinge, UNRWA, jährlich mit mehr als10 Millionen Euro. Auch ist Deutschland einer derbedeutendsten Geber für die palästinensischen Gebieteim Rahmen der Entwicklungshilfe der EU.Darüber hinaus steht Deutschland jederzeit auf demdiplomatischen Parkett parat, um den Parteien beiernsthaften Verhandlungen unter die Arme zu greifenund diese im Rahmen der internationalen Vermittlungs-bemühungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu füh-ren. Die derzeitigen Anstrengungen des Nahost-Quar-tetts sollen die Parteien bis Ende 2012 schrittweise zueinem Abkommen verpflichten, das alle offenen Fragen,einschließlich der Endstatusthemen „Sicherheit“ und„Grenzen“, abschließend regelt. Diesen Bemühungengilt im Sinne einer dauerhaften Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts unsere uneingeschränkteUnterstützung.
Die Ereignisse der letzten Monate haben den Kern-konflikt des Nahen Ostens zwischen Israel und Palästinafast in den Hintergrund treten lassen. Die israelischenÜberlegungen zu einem präventiven Luftschlag gegeniranische Atomanlagen, die blutige Gewalt in Syrienund die Umbrüche in vielen anderen Ländern bestimm-ten die aktuellen Meldungen in unseren Medien mehr alsder völlig ins Stocken geratene Nahostfriedensprozess,der diesen Namen leider schon längst nicht mehr ver-dient.Die einzige positive Meldung war die über die Eini-gung zwischen Hamas und Fatah über die Bildung einerpalästinensischen Einheitsregierung. Doch auch dieseMeldung bietet Licht und Schatten: zum einen, weil dieisraelische Regierung sich von Beginn an kategorischgegen eine solche Einheitsregierung unter Beteiligungder Hamas stellte, zum anderen, weil seit der grundsätz-lichen Einigung Ende April 2011 – also vor fast einemJahr – bis heute keine Regierung gebildet wurde. Immer-hin konnte aber vereinbart werden, dass Mahmud Abbasbis zu den geplanten Neuwahlen als Präsident undMinisterpräsident in Personalunion fungieren soll.Die Bildung einer Einheitsregierung bedarf nochweiterer Schritte zu ihrer Umsetzung. Doch auch hiergilt: Egal wie lange es dauert, es gibt keine Alternativezu einer Lösung. Die demokratische Legitimation derpalästinensischen Führung bröckelt mit jedem Tag.Neue Wahlen sind nötig, um weitere Reformen umzuset-zen. Nur neue Wahlen könnten auch die nötige Legitima-tion herstellen, die eine palästinensische Regierungbraucht, um wieder in ernsthafte Gespräche mit Israeleinzutreten. Wir sollten in allen Gesprächen mit Part-nern in der Region darauf dringen, dass genau diesgeschieht: demokratische Wahlen in Gaza und imWestjordanland, eine gemeinsame Regierung für allepalästinensischen Gebiete und so bald wie möglich neueVerhandlungen mit Israel.Ich denke, es ist uns allen klar, dass die Wiederbele-bung des Friedensprozesses nur gelingen kann, wennalle Teile der Regierung und der sie stützenden Parteiender Gewalt abschwören und das Existenzrecht Israelsanerkennen. Gleichzeitig kann Israel kein Vetorecht ha-Zu Protokoll gegebene Reden
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19674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Günter Gloser
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ben, wenn möglicherweise nach solchen demokratischenWahlen auch Vertreter der Hamas an einer palästinensi-schen Regierung beteiligt sein sollten.Nun diskutieren wir heute einen Antrag der Linken,der die Aufwertung der diplomatischen Beziehungen zuPalästina fordert. Dies fordern wir in der SPD-Fraktionbereits ebenfalls seit langem. Nun ist es ja so, dass dieBundesregierung die palästinensische Generaldelega-tion mit Wirkung vom 1. Januar zu einer palästinensi-sche diplomatische Mission aufgewertet hat. Damit isteine zentrale Forderung des Antrages bereits erfüllt. DieAufwertung des Vertretungsbüros der BundesrepublikDeutschland Ramallah zu einer diplomatischen Missionharrt dagegen noch der Umsetzung durch die Bundes-regierung, und wir warten darauf.Doch bedeuten Neutitulierungen von diplomatischenMissionen für sich genommen noch nicht die Überwin-dung des Nahostkonfliktes. Insofern schließe ich michzwar mit den besten Wünschen – aber auch einer gewis-sen Skepsis – dem letzten Satz Ihres Antrages an, der dalautet: „Der Prozess der internationalen AnerkennungPalästinas dient dem Frieden mit den Nachbarn Israelsund damit dem Frieden im Nahen Osten.“Vor dem Frieden in der Region steht ein erfolgreicherinnerpalästinensischer Aussöhnungsprozess, insbeson-dere eine erfolgreiche Regierungsbildung durch Fatahund Hamas, eine Rückkehr zu den Prinzipien der Road-map for Peace des Nahostquartetts, deren Anerkennungdurch Israel und Palästina und vor allem eine Gewalt-verzichtserklärung – insbesondere durch die Hamas.Darüber hinaus ist die Festlegung einer völkerrechtlichverbindlich vereinbarten Grenze zwischen Israel undden palästinensischen Gebieten für eine tragende Frie-denslösung ganz wesentlich. Diese Akzeptanz dafür,dass diese Friedensbedingungen erfüllt werden, sindderzeit weder auf israelischer noch auf palästinensi-scher Seite ausreichend vorhanden. Insofern müssen wiralle bei den Partnern vor Ort weiter beharrlich für dieUmsetzung der Roadmap werben; denn am Ende wirdein dauerhafter Frieden im Nahen Osten nur durch dieKonfliktparteien vor Ort erreichbar sein.Zum Schluss frage ich, weshalb wir in der Vergangen-heit nicht mehr solche vernünftigen Anträge wie diesenvon der der Linksfraktion gesehen haben? Wir könnenSie daher nur animieren, in Zukunft öfter von ideologi-schen Prämissen der Vergangenheit abzusehen undaußenpolitisch-pragmatische Anträge wie diesen zuformulieren und vorzulegen.
Gerade kürzlich bei seiner letzten Reise in den Nahen
Osten hat der Bundesaußenminister die Beziehungen zu
den Palästinensern aufgewertet. Er hat die bis im letzten
Jahr unter Generaldirektion firmierende Vertretung der
Palästinenser in Berlin rückwirkend zum 1. Januar als
diplomatische Mission anerkannt. Damit hat er einen
wichtigen Schritt in der diplomatischen Aufwertung der
Palästinenser vorgenommen und ein klares politisches
Zeichen gesetzt. Dadurch hat er auch Palästinenserprä-
sident Mahmud Abbas sowie Ministerpräsident Salam
Fajjad gestärkt. So gibt Deutschland den gemäßigten
palästinensischen Kräften Rückendeckung mit dem Ziel,
möglichst bald wieder direkte Friedensverhandlungen
zwischen Israel und Palästina zu erreichen und zu einem
Erfolg zu bringen.
Die Bundesregierung hält an ihrer hinreichend be-
kannten Haltung fest, eine Zwei-Staaten-Lösung errei-
chen zu wollen. Auf diesem Weg hat Bundesaußenminis-
ter Dr. Guido Westerwelle für die Bundesregierung und
die Bundesrepublik Deutschland das nötige Signal ge-
setzt. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist überholt.
Daher wäre es folgerichtig, wenn die Kolleginnen und
Kollegen sich dazu entschließen könnten, den Antrag zu-
rückzuziehen. Andernfalls werden wir ihn im weiteren
Verfahren ablehnen.
Die Kriegsrhetorik, die wir zurzeit von israelischerSeite bezüglich eines möglichen militärischen Angriffsauf den Iran erleben, zeigt, wie explosiv die Situation imMittleren und Nahen Osten ist. Die Fraktion Die Linkelehnt jegliche militärische Intervention gegen Iran oderSyrien ab und fordert die Bundesregierung auf, dies auchganz deutlich und unmissverständlich zu formulieren.Die Kriegsdrohungen ermöglichen der israelischen Re-gierung, sowohl von eigenen innenpolitischen Proble-men als auch von der menschenverachtenden Politik ge-genüber der palästinensischen Bevölkerung abzulenken.Die Linke setzt sich seit Jahren für eine Zweistaaten-lösung ein, die aber immer unrealistischer wird, je mehrFakten die israelische Regierung in den besetzten paläs-tinensischen Gebieten durch Landraub schafft. Deshalbfordern wir die Bundesregierung auf, nicht länger zuzu-sehen, wenn die israelische Militärbehörde ihre Besat-zungspolitik jeden Tag ausweitet, palästinensische Häu-ser und lebenswichtige Infrastruktur abreißen undgleichzeitig neue israelische Siedlungen bauen lässt unddamit einer systematischen Vertreibung von Palästinen-serinnen und Palästinensern Vorschub leistet.Dazu gehört auch zum Beispiel die geplante Zerstö-rung von Solaranlagen in den Bergen von Hebron durchdie israelische Militärbehörde. Zudem soll das interna-tional bekannte Friedensprojekt „Tent of Nations“ derevangelischen Palästinenserfamilie Nassar enteignetwerden. Gerade dieses Projekt zieht mit seinem Motto„Wir weigern uns, Feinde zu sein“ jährlich viele Frei-willige aus aller Welt an und leistet einen wichtigen Bei-trag zur Versöhnung. Seine Zerstörung müssen Sie ver-hindern, Herr Westerwelle! Solch ein Vorgehen derisraelischen Militärbehörde ist entwicklungsfeindlich,zerstört gezielt Zukunftsperspektiven und produziertweiteren Hass. Und diese Politik führt noch weiter wegvon einem kaum noch existierenden Friedensprozess imNahen Osten.Genau deshalb fordern wir die Bundesregierung auf,konkrete außenpolitische Schritte für einen ernstzuneh-menden Friedensprozess zu unternehmen: Statt regel-mäßig vor „einseitigen Schritten“ seitens der palästi-nensischen Autonomiebehörde zu warnen, ist eineAufwertung der diplomatischen Vertretung PalästinasZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19675
Heike Hänsel
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ein überfälliges Signal für das angestrebte Ziel der zwi-schen den Konfliktparteien auszuhandelnden Zwei-Staa-ten-Lösung. Eine Aufwertung der diplomatischen Ver-tretungen entspricht geltendem Völkerrecht und istdurch internationale Verträge gedeckt.Seit dem Jahr 2007 wurde vom Nahostquartett – USA,EU, Russland, UNO – der Aufbau von Staatlichkeit alszentrale Voraussetzung für eine Anerkennung des Staa-tes Palästina gefordert, und dieser stand im Zentrum in-ternationaler Unterstützung für die Palästinenser. Auchdie Europäische Union hat die Fortschritte der Palästi-nenser auf dem Weg, einen eigenen Staat aufzubauen,gewürdigt. Im Juni 2011 unterstützte die Verantwortli-che für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, vor demEuropaparlament den Aufbau eines palästinensischenStaates und betonte, dass die Grundlagen, unter ande-rem eine funktionierende Regierung, ausreichten.Aufgrund dieser Fortschritte beim Aufbau der paläs-tinensischen Staatlichkeit haben zahlreiche EU-Mit-
lästinensischen Autonomiebehörde aufgewertet, die bis-herigen Vertretungen in den Rang von diplomatischenMissionen erhoben und als Missionsleiter Botschaftergesandt und anerkannt. Darüber hinaus wurden in einemweiteren Antrag die europäischen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates aufgefordert, einer VollmitgliedschaftPalästinas in den Vereinten Nationen zuzustimmen.Wir fordern die Bundesregierung also dazu auf, sichden Bemühungen vieler EU-Staaten und der UNO end-lich anzuschließen und unverzüglich mit der palästinen-sischen Autonomiebehörde Verhandlungen über die ge-genseitige Aufwertung des Status der GeneraldelegationPalästinas in Deutschland und der deutschen General-delegation in Ramallah aufzunehmen, die bisherigendiplomatischen Vertretungen beider Länder in den Standregulärer diplomatischer Missionen aufzuwerten undder jetzigen Generaldelegation Palästinas in Deutsch-land den Rang einer „Mission Palästinas“ zu verleihen,sich dafür einzusetzen, dass der GeneraldelegiertePalästinas künftig den Rang eines „Botschafters, Leitersder Mission Palästinas“ erhält, die Vertretung der Bun-desrepublik Deutschland in Ramallah in eine „Diploma-tische Mission“ sowie deren Leiter in den Rang eines„Botschafters, Leiter der Mission“ aufzuwerten.Dieser Schritt wäre genau jetzt ein wichtiges, hoff-nungsvolles Zeichen für einen gerechten Frieden imNahen Osten.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Der Stand des israelisch-palästinensischen Konflik-tes ist dramatisch. Nach dem Abbruch der israelisch-palästinensischen Gespräche vom Januar dieses Jahresfinden keine Verhandlungen mehr statt. Gleichzeitigdauert die israelische Besatzung fort, und die Besied-lung der palästinensischen Gebiete wird fortgesetzt.Außerdem haben die gerade in Washington stattgefunde-nen Gespräche des israelischen Ministerpräsidentenund vor allem seine Rede vor den Delegierten desAIPAC-Kongresses gezeigt, dass es diesem erfolgreichgelungen ist, den israelisch-palästinensischen Konfliktmit dem Verweis auf das in der Tat große Problem einesmöglichen iranischen Atomwaffenprogramms völlig vonder politischen Tagesordnung zu entfernen.Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in derschwierigen Situation, dass eine Zwei-Staaten-Regelunginzwischen international als die einzige möglicheLösung des israelisch-palästinensischen Konfliktesanerkannt ist, aber gleichzeitig die Chancen ihrer Reali-sierung im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr ver-baut werden. Es gibt im israelisch-palästinensischenKonflikt eben keine Stagnation, sondern die asymmetri-sche Situation wird durch die stärkere der beiden Kon-fliktparteien bestimmt. Der Stärkere ist Israel – Israelmit einer Regierung, die den Siedlungsbau forciert unddamit für alle sichtbar signalisiert, dass es nicht bereitist, die Besatzung zu beenden, Israel mit einer Gesell-schaft, in der viele eine Regelung des Konfliktes nichtmehr für möglich halten und die mit innenpolitischenKonflikten befasst ist, und Israel mit einer innenpoliti-schen Machtkonstellation, bei der jene Gruppen undOrganisationen, die die Besatzung und die damit ver-bundenen Folgen kontinuierlich und mutig thematisie-ren und kritisieren, parlamentarisch und außerparla-mentarisch immer stärker unter Druck gesetzt werden.In dieser Situation ist es richtig, nach allen mögli-chen Wegen zu suchen, um die Zwei-Staaten-Regelungim politischen Diskurs zu halten und zu unterstützen.Denn welches sind die Alternativen? Eine Ein-Staaten-Konzeption, in der Juden und Palästinenser gleich-berechtigt sind, ist vor dem Hintergrund der Konflikt-geschichte eine Illusion. Und ein Weiter-so wie bisherdarf es nicht geben; denn dadurch würden die Voraus-setzungen für eine Zwei-Staaten-Regelung immer weiterverschlechtert.Bei dieser Suche nach Wegen zur Unterstützung desKonzeptes der Zwei-Staaten-Regelung hat auch symbo-lische Politik eine Rolle und Funktion, wie etwa jüngstder Gang der palästinensischen Seite zur UNO, um dortdie Mitgliedschaft zu beantragen und damit die Aner-kennung eines palästinensischen Staates zu fordern,gezeigt hat. Allerdings sollte sie auch in sich stimmigund folgerichtig sein – und das sind die in dem Antragder Linken erhobenen Forderungen nicht. Sie sind esnicht, denn sie sind zum einen bereits realisiert.Bei seinem letzten Besuch in Ramallah hat Außen-minister Westerwelle dem palästinensischen PräsidentenAbbas mitgeteilt, dass die Bundesregierung mit Wirkungvom 1. Januar 2012 den Status der GeneraldelegationPalästinas zur diplomatischen Mission aufgewertet hat,die nun von einem Botschafter geführt wird. Damit folgtsie dem Schritt, den zahlreiche andere EU-Staaten,darunter auch Frankreich, Großbritannien und Italien,bereits vollzogen haben. Somit ist der eine Teil der For-derungen des Antrages, den wir auch in der Vergangen-heit unterstützt haben, bereits erfüllt.Der andere Teil der Forderungen wendet sich an diefalsche Adresse. Die Bundesregierung kann weder denZu Protokoll gegebene Reden
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19676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Kerstin Müller
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Status der deutschen Vertretung in den palästinen-sischen Gebieten noch den Status des Vertreters bestim-men. Das kann nur die Palästinensische Autonomie-behörde entscheiden, und sie müsste das im Lichte derRegelungen der Prinzipienerklärung von Oslo aus demJahr 1993, auf deren Grundlage sie arbeitet, tun.Also noch einmal: Es muss alles getan werden, um dieZwei-Staaten-Regelung im politischen Diskurs zu haltenund weiter nachdrücklich einzufordern. Aber die Forde-rungen müssen stimmig und umsetzbar sein, was beimAntrag der Linken nicht der Fall ist. Ansonsten sind sieschlicht unseriös und daher abzulehnen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8375 an den Auswärtigen Ausschuss
vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Wider-
spruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Ver-
antwortung für die großen Herausforderun-
gen in Bildung und Wissenschaft übernehmen
– Drucksache 17/8902 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen mir hier vor.
In regelmäßigen Abständen lesen wir, dass beispiels-weise ein 14-jähriger Schüler Schwierigkeiten beimSchulwechsel von einem zum anderen Bundesland hat:In Bremen, wo er herkommt, war man in Mathematiknoch nicht so weit im Schulstoff vorangeschritten, wie esnun in seinem neuen Zuhause, in Bayern, der Fall ist.Auch bei der ersten Fremdsprache oder in Deutsch wer-den signifikante Unterschiede deutlich. Die Standardssind nicht vergleichbar und damit letztendlich auch spä-ter nicht die Abschlüsse. Warum ist das so?Weil wir mittlerweile 96 verschiedene Schulformen inDeutschland haben, weil bei jeder Wahl auf Landes-ebene Bildung zu den Hauptthemen zählt. Nach einergewonnenen Wahl wird das Schulsystem daraufhin allzuoft umgekrempelt. Hinzu kommt, dass nicht alle Länderfinanziell in der Lage sind, ausreichend in Bildung zuinvestieren und junge Menschen deshalb weniger vonBildung profitieren. Wozu führt das alles? Zu unein-heitlichen Anforderungen, zu Verunsicherung und imschlimmsten Falle zu eingeschränkter Mobilität von Fa-milien.Das alles zeigt, wie wichtig es ist, dass wir über dasThema Zusammenarbeit von Bund und Ländern in derBildung sprechen, aber wir müssen eine solche Zusam-menarbeit differenziert betrachten und genauso diffe-renziert auch darüber sprechen. Wir dürfen uns auchnicht dem Drängen hingeben, nur ein Problem anzuge-hen, ohne eine dauerhaft zufriedenstellende Lösung zufinden. Wir haben erst vor sechs Jahren im Zusammen-hang mit der Föderalismusreform II eine umfangreicheGrundgesetzänderung vorgenommen. Die Kompetenzenfür den Bildungsbereich wurden richtigerweise auf-grund der regionalen Unterschiede vollumfänglich denBundesländern zugeschrieben. Ein neuer Anlauf zurGestaltung des Kompetenzgefüges sollte jedoch mit demZiel verbunden sein, nicht erneut Unruhe zu schaffen.Vielmehr geht es darum, den derzeitigen Flickenteppichder Bildungslandschaft durch einen hochwertigenTeppich zu ersetzen – zwar einheitlich, aber doch so,dass er jedem Bundesland gefällt.Wenn wir über Kooperation von Bund und Ländern inder Bildung debattieren, sind damit zwei Bereiche ge-meint: zum einen die Kooperation im Hochschul- undWissenschaftsbereich, zum anderen jene im Schul-bereich.Für den Hochschulbereich erscheint eine Änderungdes Grundgesetzartikels 91 b mittlerweile ein gangbarerWeg, da hier ein breiter Konsens besteht. So könnte derArtikel in der Art geändert werden, dass der Bund dieMöglichkeit hat, nicht nur Projekte, sondern auch Ein-richtungen zu fördern. Darüber hinaus regen wir alsUnion eine Vereinbarung an, die es dem Bund ermög-licht, sich stärker zu engagieren, und dies auch finan-ziell. Doch jegliche Finanzierungszusage muss an ein-deutige, transparente Konditionen geknüpft sein. DerBund muss die Möglichkeit haben, die Verwendung sei-ner Finanzmittel zu überprüfen. Gleichfalls bietet diesdie Chance, gezielt zu fördern. Zuschüsse nach demGießkannenprinzip sind auch hier nicht förderlich. DieKonditionen einer Förderung müssen so ausgestaltetwerden, dass für die Länder kein Anreiz besteht, sich ausihrer Verantwortlichkeit zurückzuziehen. In diesem Zu-sammenhang sollte über weitere Maßnahmen nachge-dacht werden, die Privatwirtschaft stärker in die Finan-zierung des Hochschulsystems einzubinden. EinigeInitiativen wurden hier bereits initiiert. Von einer För-derkultur wie in den angelsächsischen Staaten sind wirjedoch weit entfernt.Nicht nur für die Hochschulen und die Wissenschaft,sondern auch für die allgemeine Bildung an Schulen be-steht Handlungsbedarf, sogar ein weitaus dringenderer.Zuletzt wurden verschiedenste Ansätze öffentlich disku-tiert. Auffällig ist, dass die Opposition vor allem daraufdrängt, den Ländern unkonditioniert mehr Geld zur Ver-fügung zu stellen. Doch das ist der falsche Weg. MehrGeld allein löst keine Probleme. Die Einführung einesBildungszentralismus kann ebenfalls nicht unser Zielsein. Wichtig erscheint mir, die Kooperation zwischenBund, Ländern und Wissenschaft zu stärken. Ein Bil-dungsrat oder eine Bildungskommission könnten zurbesseren Verständigung beitragen: Probleme könnenvorgetragen, wissenschaftliche Erkenntnisse einge-bracht und gemeinsam nach Lösungen gesucht werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19677
Marcus Weinberg
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Und bitte, ich möchte das noch einmal hervorheben:Sich der Illusion hinzugeben, mit einer Aufhebung desKooperationsverbots und einer starken finanziellen Be-teiligung des Bundes wäre eine abschließende Lösunggefunden, ist leichtgläubig.Ein weiteres großes Problem besteht im Schulbereich.Auch hier wird seitens der Länder über finanzielleProbleme geklagt. Diese führen zu unterschiedlichenBildungsergebnissen von Bundesland zu Bundesland.Darüber hinaus fällt es einzelnen Ländern schwer, dieQualität der Bildung sicherzustellen und für eine ange-messene Ausstattung zu sorgen. Es muss unser Ziel sein,einheitliche Standards zusammen mit den Ländern undden Experten zu definieren, die dann vor allem auchdurchgesetzt werden können. Damit würde gewährleistetwerden, dass die Bildungsabschlüsse tatsächlich gleich-wertig wären und ein Umzug innerhalb der Bundesrepu-blik ohne Probleme hinsichtlich des Schulunterrichtsmöglich wäre.Die Länder müssen hier die Bereitschaft zeigen, zukooperieren; denn auch wenn die Länder gerne auf dieFinanzmittel des Bundes zurückgreifen möchten, behar-ren sie auf ihrer uneingeschränkten Gestaltungsmacht,eine Sichtweise, die wohl nur in einem politischen Sys-tem für längere Zeit sanktionsfrei durchsetzbar ist.Als Möglichkeit erscheint hier, analog zum Wissen-schaftsrat einen „Bildungsrat“ einzurichten, der hin-sichtlich der Lehrerausbildung, der Lernzielkatalogeund der Abschlussprüfungen gemeinsame Standards for-muliert. Diese Idee wird unter anderem auch von Bun-desministerin Schavan befürwortet, die in der „Süddeut-schen Zeitung“ äußerte: „Ich präferiere einen solchenunabhängigen Bildungsrat, um die offenen Fragen zu be-antworten.“ Darüber hinaus müssten dann die Länderbereit sein, diese zu übernehmen und eine unabhängigeEvaluierung zu ermöglichen.Zudem dürfen die Gelder, wie auch im Hochschulbe-reich, nicht ohne Zweckbestimmung verwendet werden.Klare Zielvereinbarungen sind hier dringend notwendig.Dies würde ebenfalls zur Transparenz beitragen.Gleichzeitig entsteht hier die Möglichkeit, den Wett-bewerbsföderalismus mit Leben zu füllen. Bildungssys-teme, die funktionieren, werden Nachahmer finden. Da-bei verbleibt die Zuständigkeit für die strukturelle Glie-derung bei den Ländern. Es ist also keineswegs so, dassder Bund in die Länder hineinregieren will. Verständnisfür das Bedürfnis, über die Mittelverwendung zu ent-scheiden, sollten dabei alle Beteiligten aufbringen.Mit diesen Vorschlägen begeben wir uns jedoch aufden richtigen Weg, einerseits die finanzielle Not zu lin-dern und andererseits zur konzentrierten Verbesserungdes Systems beizutragen.
Zur 100. bildungs- und forschungspolitischen De-batte in dieser Legislatur hätte ich mir einen niveauvol-leren Antrag der Grünen gewünscht, als den der ganzoffensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt wurde.Solche Papiere sollten die Grünen in ihren Mitglieder-versammlungen im kleinen Kreis besprechen, aber nichtim Deutschen Bundestag. Auf vier Seiten sammeln dieGrünen Einzelbeispiele, bei denen sie meinen, dass dieKooperationskultur zwischen Bund und Ländern inunserer Bildungsrepublik noch nicht ausgeprägt genugist. Die Antragsteller blicken undifferenziert in die Ver-gangenheit und verklären rot-grüne Misswirtschaft inden Jahren der Regierung Schröder. Immerhin haben siesich anscheinend vom wissenschaftlichen Dienst die ge-genwärtige Verfassungslage erklären lassen, ziehen da-raus aber die falschen Konsequenzen.Die Opposition muss endlich einmal verstehen, dassKooperationskultur auch die Übernahme von Verant-wortung bedeutet und nicht nur Kofinanzierung odergar alleinige Finanzierung durch den Bund. ReduzierenSie Kooperationskultur nicht immer nur auf Finanz-ströme. Es geht vielmehr um Gestaltungswillen undMitverantwortung.Zuletzt haben wir im März 2010, im Dezember 2010,im Juni 2011 sowie zu Beginn dieses Jahres Plenarde-batten zum kooperativen Bildungsföderalismus geführt.Im Gegensatz zu den wiederholt wenig durchdachtenSchnellschüssen der Opposition – siehe Antrag der SPDzur Schaffung eines Art. 104 c Grundgesetz oder denheutigen Antrag der Grünen – hat die Union einer aus-führlichen innerparteilichen Debatte Vorzug vor popu-listischen Schaufensteranträgen gegeben. Nach demAbschluss dieser Debatte haben wir auf unserem Leipzi-ger Parteitag einen Beschluss für eine begrenzte Grund-gesetzänderung im Wissenschaftsbereich gefasst.Daraufhin hat unsere Ministerin dann AnfangFebruar einen klaren Fahrplan für eine weitere Ausge-staltung der Kooperationskultur und die damit verbun-dene Grundgesetzänderung vorgelegt. Diesem Fahrplanliegt die Absicht zugrunde, frühzeitig Planungssicher-heit für unsere Hochschulen nach dem Auslaufen derPakte zu schaffen. Für die Wissenschaftspolitik soll eineleichte Änderung des Art. 91 b Grundgesetz noch in die-ser Wahlperiode sicherstellen, dass der Bund sich künf-tig nicht mehr nur zeitlich begrenzt an der Finanzierungvon Projekten beteiligen darf, sondern auch Einrichtun-gen dauerhaft mitfinanzieren kann.Anders als im Wissenschaftsbereich gibt es zwischenden beteiligten Akteuren im Bereich der Schulen keinenKonsens zwischen A- und B-Seite. Bei uns Bundespoliti-kern verstärkt sich der Eindruck, dass aufseiten derSPD-geführten Länder nur über einen Finanztransfervom Bund hin zu den Ländern nachgedacht wird, nichtaber über eine damit einhergehende Neuordnung derVerantwortlichkeiten. In der Schulpolitik soll deshalbeine Kommission unter der Mitwirkung von Kommunen,Ländern und Bund eingerichtet werden, um so rasch wiemöglich einen Konsens zwischen den verschiedenen Ge-bietskörperschaften zu erzielen.Mit diesem Vorgehen reagieren wir auf die Realitätenin unserer Bildungsrepublik, die da lauten: Einigkeit imWissenschaftsbereich, Uneinigkeit in der Schulpolitik.Aufgrund dieser Fakten wäre eine Entkopplung der bei-den Politikfelder der richtige Weg. Es wäre unverant-wortlich, die Hochschulen aufgrund der UneinigkeitenZu Protokoll gegebene Reden
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19678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Tankred Schipanski
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in der Schulpolitik über ihre finanzielle Zukunft imUnklaren zu lassen.Die von Ministerin Schavan vorgeschlagenen Refor-men bestätigen einmal mehr: Die Meinungsführerschaftin Fragen des Bildungsföderalismus liegen bei Unionund FDP. Da kann die Opposition noch so oft den Kolle-gen Steinmeier in die Debatte rufen, neue Worte wie„Reformkonvent“ erfinden oder Begriffe wie „Koopera-tionskultur“ von uns kopieren. Auch Sie werden einesTages sehen, dass wir einen Wissenschaftsrat haben undeinen Bildungsrat haben werden, wobei hoffentlichbeide bei unserem Bundespräsidenten angesiedelt sindund somit ein Stück aus der parteipolitischen Profilie-rung ausgeklammert werden. Im Übrigen darf ich dieKollegen der Grünen darauf verweisen, dass die CDUden Bildungsrat bereits auf ihrem Parteitag in Leipzigbeschlossen hat. Solche Gremien schafft man aber nichtüber Nacht. Es ist ein langer Weg, weil wir uns hier imverfassungsrechtlichen Kernbereich der Bundesländerbefinden. Da hilft kein Alleingang des Bundestages,nein, es bedarf kluger Verhandlungen mit dem Bundes-rat. Mit derartigen Anträgen verprellen Sie die Bundes-länder und gewinnen sie nicht für eine im Kern richtigeIdee.Mir ist wichtig, zu betonen, dass mehr Engagementdes Bundes keinesfalls dazu führen darf, dass sich dieLänder aus der Hochschulfinanzierung zurückziehen.Vielmehr wollen wir noch mehr Kooperation zwischenBund und Ländern und auch zwischen universitärer undaußeruniversitärer Forschung. Deshalb haben wir denWissenschaftsrat beauftragt, sich grundsätzliche Ge-danken über die Zukunft unseres Wissenschaftssystemsallgemein und über die damit einhergehende Zusam-menarbeit zwischen Bund und Ländern im Besonderenzu machen.Ihr Antrag geht über eine Analyse nicht hinaus.Machen Sie doch einmal konstruktive Vorschläge, woder Bund unterstützen oder koordinieren kann.Ich erkenne an und freue mich, dass nunmehr immer-hin ein Oppositionsantrag vorliegt, der klar zwischender Ausgestaltung der Kooperation im Bereich der Wis-senschaft und im Bereich der Bildung unterscheidet.Inhaltlich kann ich hier aber auf meine Rede aus derletzten Debatte verweisen. Leider bringt Ihr Antrag kei-nen einzigen neuen Impuls. Auch freue ich mich, dassSie nun auch die Kommunen als Bildungspartner nebenBund und Ländern erkennen – ein Fakt, den die christ-lich-liberale Koalition bereits seit 2010 umfänglich aus-gestaltet.Ihr Rundumschlag bezüglich Schulabbrechern undFachkräftebedarf bis hin zu PISA, Ganztagsschulen,Kieler Ifm-GEOMAR-Institut und das Bildungs- undTeilhabepaket, was alles unsystematisch wie Gedanken-splitter aneinandergereiht wurde, zeugt von der Kon-zeptlosigkeit dieses Antrags. Folgerichtig lehnen wir ihnab. Sie sollten sich zukünftig eine andere Art der Öffent-lichkeitsarbeit überlegen. Es wird nämlich zunehmendermüdend, wenn die Opposition die immer gleichen,wenig inspirierenden Texte in neuen Anträgen hervor-bringt.
Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antragist ein weiterer guter und wichtiger Beitrag in derDebatte über den Bildungsföderalismus. Zum einengreift er den vor kurzem eingebrachten SPD-Vorschlagfür einen neuen Art. 104 c Grundgesetz auf, zum ande-ren macht er einen weiteren Vorschlag für eine Ände-rung des Art. 91 b Grundgesetz. Mit diesem Antrag liegteine weitere Initiative für die Diskussion um eine Verfas-sungsänderung in Bildung und Wissenschaft vor.Aus unserer Sicht ist eines ganz besonders wichtig:Wir alle müssen aufeinander zugehen und offen diskutie-ren, welche Lösung im Interesse von Bildung und Wis-senschaft die beste ist. Zu diesem Zweck haben wir imKonsens aller Fraktionen eine Sachverständigenanhö-rung zu diesem Thema angesetzt.Umso bedauerlicher ist, dass die Regierungskoalitionoffenkundig bereits ihren Blick verengt hat und einzigund allein auf die Erweiterung der bestehenden Koope-rationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereichder Wissenschaft abhebt. Während SPD, Grüne undauch Linke den Bereich Bildung mit in ihre Überlegun-gen einbeziehen, diese Perspektive auch von verschiede-nen und unterschiedlich regierten Ländern wie Schles-wig-Holstein und Hamburg geteilt wird, versteift sichdie Koalition auf Vorschlag von BundesministerinSchavan auf die Förderung von Einrichtungen der Wis-senschaft mit überregionaler Bedeutung. Nach derMethode „Friss Vogel oder stirb“ wird eine Teilmaß-nahme, für die es zweifelsohne viel Zustimmung auch inunserer Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre undmachbare Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkom-men außer Acht gelassen, dass die Fixierung auf einesolche Teillösung möglicherweise die Gesamtbalancezerstören und alles zum Scheitern bringen kann.Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemeinsamenNenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir dann“ siehtnur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges, realpoliti-sches Vorgehen aus. In Wahrheit wäre es der Kotau vordem Starrsinn einiger Länder, insbesondere vor Bayernund dort vor der CSU. Wer sich nur um die Wissenschaftkümmert, hilft dort, wo Hilfe bereits geleistet wird. Dennfür diesen Bereich hatte die SPD-Fraktion bereits Mög-lichkeiten der Kooperation durchgesetzt. Auf dieserBasis werden etwa die Exzellenzinitiative und der Hoch-schulpakt realisiert.Der jetzt in Rede stehende Änderungsvorschlag derschwarz-gelben Koalition würde zwar darüber hinausdie institutionelle Förderung von Einrichtungen derWissenschaft mit überregionaler Bedeutung ermög-lichen. Gegen diese zusätzliche Handlungsoption ist so-weit nichts einzuwenden. Aber es geht doch wohl nichtan, dass im Endeffekt einige wenige Einrichtungen vomBund finanziert und Forscherstellen geschaffen werden,während nicht einmal darüber nachgedacht wird, wiegemeinsam von Bund und Ländern nur eine einzigezusätzliche Ganztagsschule eingerichtet oder mehrPädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt wer-den können. Auch die Bildung an den Hochschulen, dieLehre, würde außen vor gelassen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19679
Swen Schulz
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Mehr Kooperation ist für Wissenschaft und Hoch-schule sinnvoll. Für die Bildung, für die Lehre an denHochschulen und insbesondere für die Schulen ist siejedoch vordringlich nötig: Wir müssen endlich über-haupt damit anfangen! Ich kenne kein Bundesland, dasdas Ganztagsschulprogramm der Regierung Schröderheute noch für schlecht hält. Die einzige – und berech-tigte – Kritik ist, dass es auf bauliche Investitionenbeschränkt war. Doch anders ging es damals nicht.Darum muss ein ganz neuer Kooperationsartikel insGrundgesetz, der die Bildung in ihrer gesamten Breiteim Blick behält. Die von der Koalition geforderte Teil-lösung aber würde eine solche Verbesserung für die Bil-dung auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben.Darum: Dank an die Grünen für diesen hilfreichenBeitrag zur Debatte.An die Regierungsfraktionen richten wir den Appell,sich vom Koalitionsausschuss zu emanzipieren und denBlickwinkel offen zu halten auch für die Bildung.
Um es gleich vorweg zu sagen: Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag unter der Überschrift„Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwor-tung für die großen Herausforderungen in Bildung undWissenschaft übernehmen“ ist ein sehr gründlicher, einweiterführender und damit hilfreicher Antrag. Er ist da-mit auch zugleich das Gegenteil zu den mehr als windi-gen, kleinmütigen Beschlüssen, die kürzlich vom Koali-tionsausschuss der CDU/CSU und FDP gefasst wordensind.Diese Beschlüsse des CDU/CSU-FDP-Koalitions-ausschusses sind dann ja auch in der interessierten Öf-fentlichkeit, ganz entgegen den Fanfarenrufen, die auseinschlägigen Quellen diesen Vorstoß als vermeintlichgroßen Durchbruch kennzeichnen wollten, harsch kriti-siert worden. Es leuchtet den Menschen in Deutschlandeben nicht ein, weshalb Bund und Länder gemeinsamGeld bereitstellen dürfen, wenn es um Eliteunis geht,während dieses bei den Schulen per Grundgesetz striktuntersagt werden soll. Es leuchtet den Menschen nichtein, weshalb Deutschland Schulen im Ausland durchbundespolitische Entscheidungen und Mittel förderndarf, während dies im eigenen Land strikt verboten ist.Es leuchtet den Menschen schlechterdings auch nichtein, weshalb es an den Hochschulen zum Glück einewachsende Zahl von Studierenden gibt, der Bund diegroße Masse der Studierenden und der Hochschulenaber nicht in nachhaltiger Weise und dauerhaft unter-stützen darf.Und wenn der konservativ-liberalen Seite die elemen-taren Einsichten und Wünsche der vielen Betroffenen inden Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftseinrich-tungen in Deutschland nicht wichtig sind, gibt es ja auchausreichend Expertise von Wissenschaftlern und hoch-rangigen Experten, wie dem von der Bundesregierungselbst eingesetzten EFI-Gutachter-Kreis, der Experten-kommission zu Forschung, Innovation und technischerLeistungsfähigkeit Deutschlands, oder wie dem Präsi-denten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die allezusammen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dassexzellente Wissenschaft und Forschung eben auch dasFundament exzellenter Bildung in der Breite – von denvorschulischen bis zu den schulischen und den hoch-schulischen Einrichtungen – brauchen und hierfür keineKooperationsverbote existieren dürfen.Dass diese Zusammenhänge seinerzeit in der Födera-lismuskommission von 2006, die an dieser Stelle keines-falls sachkundig und ruhmreich gearbeitet hat, nicht ge-sehen wurden, muss ja nicht heißen, dass einmalgemachte Fehler auf Dauer weitergeführt werden. Nichtumsonst hat deshalb auch der SPD-Fraktionsvorsit-zende Frank-Walter Steinmeier kürzlich in mutiger Klar-heit davon gesprochen, welchen „Unsinn“ damals dasdeutsche Parlament aus der Zwangsgemeinschaft einergroßen Koalition heraus und der ungenügenden Bewer-tung des Kooperationsschwerpunktes Bildung beschlie-ßen musste. Wir alle wissen, dass der unselige RolandKoch seinerzeit als Reflex gegen das Ganztagsschulpro-gramm von Gerhard Schröder und Edelgard Bulmahndas Kooperationsverbot von Bund und Ländern in Bil-dungsfragen brutalstmöglich durchsetzen musste, wozuihm Stoiber als Sekundant dann die Hand gereicht hat.Das war keinesfalls eine kluge, vorausschauende undsachdienliche Politik. Auch die jetzige Bildungsministe-rin, Frau Schavan, stand hier einmal mehr auf der fal-schen Seite und musste sich erst langsam zu einer aufge-klärteren, kooperationsfähigeren Position hinarbeiten.Wie widersinnig die damalige Regelung war, solltesich dann ja auch schnell in der Praxis erweisen. Nichtnur, dass die Bildungspolitiker der SPD noch in der Fö-deralismusreform 2006 durch penetrante Intervention inletzter Minute erreichen konnten, dass die Förderungvon Vorhaben der Wissenschaft ermöglicht wurde, wo-von jetzt alle nachträglich noch immer zehren bis in dieHochschulsonderprogramme I und II und den Pakt fürLehre etc. hinein. Auch an anderen Stellen sollte diePraxis ein schlecht gemachtes Grundgesetz an dieserStelle schnell widerlegen. Im Antrag der Grünen ist inwirklich sehr sachkundiger, minutiöser Weise nachge-zeichnet, wie diese Reformen des Grundgesetzes sich inder Praxis sehr schnell als eine Fehlentscheidung he-rausgestellt haben, die mit gutem Willen doch jetzt nichtnoch auf Dauer verlängert werden sollte. Oder war esein Ruhmesblatt der Verfassungsgesetzgebung, im lau-fenden Konjunkturprogramm II noch schnell das Grund-gesetz im Art. 104 anpassen zu müssen, um nicht jeweilsam einzelnen Projekt nachweisen zu müssen, ob es dennnun an einer Schule vorrangig um energetische Sanie-rung oder Verbesserung der schulischen Lernbedingun-gen geht? Und wem kann man in Wirklichkeit erklären,dass der Bund mit den Ländern zusammen die Bildungdann fördern darf, wenn die Deutsche Bank zusammen-brechen sollte oder ein Tsunami in der Nordsee aus-bricht, sprich, wenn es eine außergewöhnliche Notsitua-tion oder Naturkatastrophe geben sollte, aber der Bundeben dieses unter normalen Umständen nicht tun darf,obwohl Bildung doch als die Zentralaufgabe für die Zu-kunft, als die große Verpflichtung der hoffentlich ernst-gemeinten Bildungsrepublik Deutschland anzusehen ist?Auch die Verrenkungen beim Bildungs- und Teilhabepa-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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ket stehen für diese Auswirkungen eines schlecht ge-machten Grundgesetzes. Und dass Initiativen wie derQualitätspakt Lehre oder die Exzellenzinitiative Lehrer-bildung, die von der Bundesregierung aktuell ins Ge-spräch gebracht worden sind, sich letztlich nur übereine Grauzone vor dem Fallbeil der Grundgesetzein-schränkungen retten können, kann doch auch nicht dieAntwort auf die Zukunft sein. Gleichzeitig wissen wiralle, dass die Verbesserung von Bildung, egal in wel-chem deutschen Landesteil, nicht nur das Menschen-recht auf Bildung einlösen hilft, sondern auch das Fun-dament für ökonomische und soziale Wohlfahrt inDeutschland darstellt. Dieses Fundament kann abernicht abhängig gemacht werden von der deutlicher wer-denden Finanzschwäche der Länder einerseits, der zu-nehmenden Disparität in der Finanzierung der Länderandererseits und einer Konzentration des Bundes aufausschließlich die Spitze und eben nicht das Fundamentdes Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems inDeutschland.Gegen alle bildungspolitische Vernunft will dieschwarz-gelbe Koalition am Kooperationsverbot im Bil-dungsbereich festhalten. Anders als der Vorschlag derSPD – und jetzt auch von Bündnis 90/Die Grünen –, ei-nen neuen Bildungsartikel im Grundgesetz einzufügen,will die Koalition im Grundgesetz nur im Hochschulbe-reich eine institutionelle und zugleich höchst selektiveBundesförderung zulassen, und zwar nicht für alleHochschulen, sondern nur für solche mit überregionalerBedeutung.Das hat aber mit einer Aufhebung des Kooperations-verbotes nichts zu tun. Am Ende bedeutet es vor allenDingen, dass insbesondere die Schulen trotz deren offen-kundigen Bau- und Personalbedarfs vor Ort weiter ab-gehängt werden.Mit dem Schulbereich bleibt damit nach dem Willender Koalition weiterhin das für erfolgreiche Bildungs-biografien entscheidende und mit Abstand die meistenMenschen direkt betreffende Bildungsfeld außen vor.Ohne moderne Schulen sind ein leistungsfähiges undnachhaltiges Bildungssystem ebenso wenig denkbar wieweitere Fortschritte bei der Chancengleichheit für alleKinder und Jugendlichen.Angesichts der steigenden Anforderungen an einewirksame individuelle Förderung, dem weiteren Ganz-tagsschulausbau oder auch der inklusiven Bildung istdies politisch höchst fahrlässig. Hinzu kommt ein erheb-licher baulicher Modernisierungsstau an den Schulensowie die in den Regionen sehr unterschiedlichen Aus-wirkungen etwa des demografischen Wandels. Nach demWillen der Koalition sollen dem Bund hier weiterhin dieHände gebunden bleiben. Der Vorschlag der SPD für ei-nen neuen Art. 104 c wird den Anforderungen gerecht,indem er das Kooperationsverbot für alle Bereiche auf-hebt.Offenbar ist die Begrenzung auf wenige Spitzenhoch-schulen dem Widerstand der B-Länder geschuldet. DieSchulen sollen offenbar von der Union nach der Verfas-sungsreform 2006 ein zweites Mal für den parteiinternenKompromiss geopfert werden. Den Schaden werden dieKinder und Jugendlichen, ihre Eltern und die Lehrkräftean den Schulen in Deutschland haben.Dabei hatte es schon hoffnungsvolle Zeichen nichtnur bei der FDP, sondern auch bei der CDU gegeben;denn nimmt man den letzten Parteitagsbeschluss derCDU zu ihrem bildungspolitischen Zukunftsprogramm,so ist dort ja nicht umsonst eine bessere Kooperationvon Bund und Ländern explizit im Schulkapitel mit an-gesprochen worden. Es bleibt rätselhaft, aus welchenGründen die CDU von diesen Einsichten und neuen Per-spektiven abgerückt ist. Oder sollte hier der bayerischeCSU-Minister Spaenle das Wort für die CDU gleich mitgeführt haben, wenn er kürzlich im Bundestag trotzigund uneinsichtig erklärte, das Kooperationsverbot seieben kein Fehler gewesen, sondern ausdrücklich daraufbestand, dass dies eine wegweisende, gute Entscheidunggewesen sei? Und wie stellen sich eigentlich CDU undFDP zu der Initiative der CDU/FDP-Landesregierungvon Schleswig-Holstein, die erst kürzlich einen weitrei-chenden Antrag in den Bundestag eingebracht hat, dersicherlich als höchst konstruktiver Vorschlag zur Aufhe-bung des unseligen Kooperationsverbotes anzusehenist?Gute Einsichten sind also an vielen Stellen gewach-sen. Wir als Sozialdemokraten gehen davon aus, dassdiese Einsichten auch noch weiter wachsen können undwerden. Es besteht jedenfalls kein Grund, sich ange-sichts eines fundamentalen Fehlers, wie er seinerzeit inder Föderalismusreform 2006 beschlossen worden ist,jetzt vorschnell auf den kleinsten Nenner einzulassen, ummit einer Als-ob-Reform wieder „halbe Sachen“ zu ma-chen, wie man an der Küste sagen würde. Im Gegenteil:Alle Kräfte sind jetzt aufgefordert, ohne dogmatischeVorfestlegung in einen offenen Diskurs einzutreten, wasin der modernen Bildungs- und Wissenschaftsgesell-schaft der Zukunft notwendig und möglich ist und welcheHilfestellung die Verfassung hierzu liefern sollte; denneine Verfassung, zumal wenn es eine gute Verfassung ist,ermöglicht politische Gestaltung und schränkt sie nichtein. Sie schafft einen echten Zukunftsrahmen und verlän-gert nicht Fehler der Vergangenheit. Sie bindet die posi-tiven Energien von Bund und Ländern zusammen unduntersagt nicht Kooperation und wechselseitige Unter-stützung. Sie respektiert besondere Verantwortlichkeiten,aber lässt die verantwortlichen Instanzen nicht in ihrenAktionsmöglichkeiten allein.Bei den gemeinsamen Beratungen, die jetzt anstehen,kann es deshalb auch nicht um ein Diktat des kleinstengemeinsamen Nenners gehen. Es geht auch nicht an,dass die Regierung von der Opposition erwartet, dassdiese einseitig-politischen Konzepte des Regierungsla-gers, die sich vor allen Dingen auf Eliteförderung unddie Unterstützung weniger Spitzeninstitute setzen, denVerfassungsweg bahnen und die Regierung gleichzeitigvollkommen undemokratisch den Weg versperrt fürmögliche andere Konzepte, wie sie alternativ dazu auchvertreten werden können und dürfen, nämlich Bildunginsgesamt in Deutschland zu stärken. Deshalb ist eineVerfassungsreform auch kein Schachspiel, bei dem esam Ende darum geht, welche Seite die jeweils andereSeite matt setzt; denn dieses kann bestenfalls zu einemZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19681
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Patt führen. Ein Reformkonvent für Bildung und Wissen-schaft, wie er von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschla-gen wird, ist sicherlich nicht die schlechteste Idee. AlsBildungspolitiker können wir zusammen mit unserenKollegen aus anderen Fachausschüssen über eine sehrintensive Anhörung im Bildungsausschuss, wie sie fürden 19. März vorbereitet ist, hierzu schon einen Bau-stein setzen. Nur, das muss auch der Regierung klarsein: Verfassungen werden auch deshalb nur mit Zwei-drittelmehrheit geändert, damit es einseitige Diktatenicht geben kann.
Derzeit liegen dem Bundesrat zwei Anträge vor.Beide Initiativen verfolgen das Ziel, die sehr engenGrenzen in der Zusammenarbeit von Bund und Ländernim Bildungsbereich zu weiten und die Förderung unse-res Bildungssystems außerhalb des starren Korsetts,welches uns seit dem Jahr 2006 einschnürt, zu ermög-lichen.Die Länder Schleswig-Holstein und Hamburg habendabei sehr unterschiedliche Wege gewählt, um das eng-maschige Geflecht der verfassungsrechtlichen Vorgabenaufzudröseln. Während die SPD-geführte HamburgerRegierung einen wenig erfolgversprechenden, dafüraber Aufmerksamkeit heischenden unterkomplexenAnsatz des „Alles-wird-möglich-und-der-Bund-zahlt“verfolgt, hat die christlich-liberale Regierung in Kieleinen etwas differenzierteren, möglicherweise auchintellektuell anspruchsvolleren Antrag eingebracht.Dieser wird sehr wahrscheinlich die Grundlage dafürbilden, um den so dringend benötigten Kompromiss derbislang unvereinbaren Haltungen zu schmieden.Während nun A- und B-Länder im Bundesrat umbesagten Kompromiss ringen, gibt sich der grüne Ober-lehrer Kretschmann als in „Wolle gefärbter Föderalist“wenig engagiert. Eine eigene Positionierung Baden-Württembergs ist jedenfalls ausgeblieben. Und soobliegt es den Grünen im Bundestag, dieses landessei-tige Versagen mit einem – zugegeben wenig einfallsrei-chen – Papierchen vergessen zu machen. Während dieDarstellung des Status quo und die Ausführungen zurGenese des sogenannten Kooperationsverbotes durch-aus als gelungen bezeichnet werden können, erscheinendem geneigten Leser die in puddingweicher Handschriftformulierten Forderungen als überaus peinlich. Denndort, wo es tatsächlich einmal etwas konkreter wird,kann man sich nicht des Gefühls entziehen: „Das habeich doch schon einmal außerhalb der grünen Gedanken-werkstatt gelesen – Copy and Paste sei Dank!“Die FDP-Bundestagsfraktion hat der Einführung desKooperationsverbotes seinerzeit wohlweislich ihreZustimmung verweigert. Gesamtstaatliche Herausforde-rungen mit überregionaler Wirkung erfordern gesamt-staatliches Handeln. Das gilt besonders für den Wissen-schaftsbereich, in dem es nicht nur auf eineüberregionale Sichtbarkeit, sondern auf internationaleSichtbarkeit und Exzellenz ankommt. Das ist eine Auf-gabe, bei der man den Bund nicht ausklammern darf.Wir benötigen einen Handlungsrahmen, der Möglichkei-ten schafft und nicht zerstört. Wir müssen Zusammenar-beit und einfache Lösungen befördern und die rechtlicherzwungenen Umgehungsstraßen obsolet werden lassen.Es geht um den effektiven Mitteleinsatz und die Maxi-mierung von Potenzial im Wissenschaftsbereich, nichtder Transaktionskosten. Deswegen können wir diegegenwärtige Verfassungslage nicht einfach hinnehmen.Wir müssen die Veränderung suchen und neue Wegebeschreiten. Beim Status quo kann es jedenfalls nichtbleiben.Aktuell erlaubt das Verfassungsrecht dem Bund nurein eingeschränktes Engagement im Hochschulbereich.Und das ist die Förderung von gemeinschaftlichen Pro-jekten im Rahmen des Art. 91 b Grundgesetz. Davonwird rege Gebrauch gemacht: Exzellenzinitiative, Hoch-schulpakt und Qualitätspakt Lehre. Gleichzeitig gene-riert der Projektcharakter, die zeitliche Beschränkungder Vorhaben, neue Problemlagen. Wissenschaft undForschung brauchen Nachhaltigkeit und lassen sich nurschwerlich in Fünf-Jahres-Zyklen pressen. Das derzei-tige Verbot einer institutionellen Förderung von Wissen-schaftseinrichtungen, insbesondere Hochschulen, durchden Bund ist problembehaftet. Das müssen wir ändern.Es ergibt keinen Sinn, dass Bund und Länder einerseitsHochschulforschung und außeruniversitäre Forschungs-einrichtungen finanzieren dürfen, andererseits aber einegemeinschaftliche Finanzierung zum Beispiel von Hoch-schulen nicht erlaubt ist. Diese Schieflage gilt es zubegradigen. Mit dieser Begradigung erreichen wir, dassdie einzelnen Länder in den Genuss einer institutionel-len Förderung ihrer Hochschulen durch den Bund kom-men können. Dass dieses Verfahren wissenschaftsgelei-tet sein muss, sei an dieser Stelle nochmal betont.Der Koalitionsausschuss hat am Sonntag einen sehrsinnvollen und zielführenden Vorschlag beschlossen. InArt. 91 b Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz soll eine kleineErgänzung mit großer Wirkung erfolgen: „Einrichtun-gen und“ würde eingefügt. Mit dieser Ergänzung würdedie soeben geschilderte Problematik bereinigt und dieverfassungsrechtlich saubere Grundlage für ein lang-fristig angelegtes Engagement des Bundes geschaffen.Ein solches ist aufgrund der weitreichenden Wirkung derHochschulen gerechtfertigt und erforderlich – außerdemwird es von einer großen Vielzahl an Akteuren ausdrück-lich gewünscht. Diesem berechtigten Anliegen solltenwir nachkommen.Mit der nun in Rede stehenden Veränderung kehrenwir nicht zur Zeit vor der Föderalismusreform 2006zurück. Nein, wir werden mehr Möglichkeiten zurKooperation haben als vor der Reform. Wir geben demWissenschaftsbereich einen echten Schub nach vorn undbekommen die Gelegenheit, die Fachhochschulen undUniversitäten erheblich zu stärken. Davon wird nichtnur die Forschung, sondern vor allem auch die Lehreetwas haben. Das heißt, von der Veränderung werdengerade auch die Studenten profitieren. Natürlich brau-chen wir Spitzenforschung – aber eben auch Spitzen-lehre: Beides unterstützen wir nachhaltiger, wenn wirdauerhaft Einrichtungen und nicht bloß befristet ange-legte Projekte fördern können.Zu Protokoll gegebene Reden
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Heiner Kamp
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Ich setze mich seit Beginn meiner Zeit im Bundestagfür ein besseres Zusammenwirken von Bund und Län-dern im Bildungsbereich ein. Das Kooperationsverbotsteht zielgerichteten, pragmatischen Lösungen im Wegeund lässt den Bund in einem zentralen Zukunftsfeldaußen vor. Ja, sperrt ihn aus. Deshalb habe ich michfrühzeitig für eine Aufhebung des Kooperationsverbotesstark gemacht. Mit dem Beschluss des Koalitionsaus-schusses vom Sonntag machen wir einen ersten wichti-gen und richtigen Schritt hin zu einer echten Bildungs-partnerschaft der staatlichen Ebenen in unserem Land.Ich bin überzeugt, dass wir mit dem auf dem Tisch lie-genden Vorschlag unsere Bildungslandschaft entschei-dend voranbringen. Nun gilt es, diese wichtige Ände-rung nicht aus Parteitaktik zu torpedieren. Vielmehrmüssen wir gemeinsam im Gespräch von Bund und Län-dern eine möglichst breite Mehrheit hier im DeutschenBundestag und im Bundesrat organisieren.Es freut mich sehr, dass wir mit der nun zur Dis-kussion stehenden Kompromissformulierung für denWissenschaftsbereich einen Vorschlag beraten, denunser bayerischer Wissenschaftsminister Dr. WolfgangHeubisch bereits im Mai 2011 unterbreitet hat. Manch-mal dauert es etwas, bis sich gute Vorschläge durchset-zen. Doch das Bohren dicker Bretter lohnt.Über das Für und Wider des Kooperationsverboteshaben wir uns in diesem Hause schon zu zahlreichenGelegenheiten ausgetauscht, sei es im Ausschuss oderhier im Plenum. Die Argumente sind bekannt, und nunkommt es darauf an, das als richtig Erkannte umzuset-zen. Für die Ergänzung des Art. 91 b sehe ich eine breiteMehrheit. Die grüne Bundestagsfraktion versucht mitdem vorliegenden Antrag zu signalisieren, dass sie nichtallein und außen vor bleiben will. Fast noch wichtigerwäre es jedoch, wenn sich die Grünen der Unterstützungihrer in föderaler Wolle gewandeten „Gallionsfigur“versichern würden.
Eigentlich weiß man gar nicht mehr, was man nochsagen soll. Alle Oppositionsfraktionen haben seit 2010wenigstens je zwei Anträge zur Zusammenarbeit vonBund und Ländern auf dem Gebiet der Bildung in denBundestag eingebracht, drei Bundesländer haben sichdezidiert für mehr Zusammenarbeit zwischen Bund undLändern in der Bildung ausgesprochen – es werden wei-tere folgen –, und nun hat sich der Koalitionsausschusstatsächlich bewegt: Die Regierung soll noch in diesemJahr einen Gesetzentwurf für eine Grundgesetzände-rung vorlegen, nach der der Bund mit den Ländern inBildungsfragen wieder gemeinsame Sache machenkann.Doch halt: „In der Bildung“ ist nicht ganz richtig, le-diglich um die Zusammenarbeit bei Vorhaben an denHochschulen soll es gehen. Doch auch hier steckt derFehler im Detail: Frau Schavan geht es hierbei leidernicht um die flächendeckende institutionelle Förderungder Hochschulen, sondern wieder einmal nur um ausge-wählte exzellente Standorte oder Institute. Nicht dasseine Förderung der Hochschulen falsch wäre und nichtdass sie über diesen Weg besser finanziert werden könn-ten: Aber der gesamte Bereich der schulischen Bildungbleibt wieder außen vor. Dabei fordern inzwischen75 Prozent der Bevölkerung, dass die Zuständigkeit fürBildung insgesamt künftig beim Bund liegen soll. Werdarum den Bildungsföderalismus erhalten will, der musssich bewegen.Die Koalition kann sich offensichtlich nicht auf eineGrundgesetzänderung in Sachen Schulbildung einigen.Dabei ist seit langem klar, dass Länder und Kommunendie anstehenden Probleme gar nicht mehr ohne Bundes-beteiligung lösen können. Nehmen wir nur den Schul-bau. Jede, aber auch jede Kommune greift auf alle mög-lichen Finanzierungsprogramme aus dem Bund und derEU zu, die es ermöglichen, Geld für die nötigen Schulsa-nierungen zu bekommen. Ohne die Verfassungsschran-ken könnte der Bund direkt in den Schulbau investieren.Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregie-rung für Kinder aus armen Familien ist zwar das falscheInstrument, um für bessere Bildung und Teilhabe fürKinder zu sorgen, aber selbstverständlich nehmen dieLänder das Geld gern in Anspruch.Immer lauter wird die Kritik am Auseinanderdriftender Qualität schulischer Bildung zwischen den Länderntrotz der vollmundig vereinbarten gemeinsamen Bil-dungsstandards in den Kernfächern. Sie führen aber of-fensichtlich noch nicht dazu, dass die Bildungsab-schlüsse ohne Wenn und Aber gegenseitig anerkanntwerden. Lehrerinnen und Lehrer werden längst in denLändern unterschiedlich bezahlt, obwohl sie die gleicheArbeit leisten. Die Studienabschlüsse für Lehrerinnenund Lehrer werden zwischen den Bundesländern nichtohne Weiteres anerkannt.Neben dem Geld und bürokratischen Hürden gibt eseben auch derart unterschiedliche Bildungsstrukturen,dass der Umzug von Familien in ein anderes Bundes-land zum Wagnis für den Schulerfolg der Kinder wird.Die Liste der Unzulänglichkeiten beim derzeit prakti-zierten Wettbewerbsföderalismus ließe sich noch weiterfortsetzen. „Kleinstaaterei“ nennt der Volksmund das.Nicht, dass es innerhalb des föderalen Systems keine Lö-sung für diese Probleme geben könnte: Aber die derzeitAgierenden sind offensichtlich unfähig, und unwillig,welche zu finden. Sie achten eitel darauf, dass ihnenkeine Entscheidungskompetenz abhanden kommt, undriskieren dabei das weitere Auseinanderdriften der Le-bensverhältnisse in der Bundesrepublik zwischen Nordund Süd, zwischen Ost und West. Mit einem „Bund“ hatdas schon nichts mehr zu tun, eher mit einem „buntenStrauß von Blüten“, die sich in der Vase nicht vertragen.In Sachsen-Anhalt gab es – Zu- und Fortzüge zusam-mengerechnet – im Jahre 2010 etwa 80 000 Menschen,die das Bundesland gewechselt haben. Aus der Bundes-statistik kann man entnehmen, dass im Jahr 2008 bun-desweit mehr als 1 Million Menschen über die Grenzedes eigenen Bundeslandes umgezogen sind. Wenn nurjeder zehnte Mensch davon ein Kind im schulpflichtigenAlter war, dann sind mehr als 100 000 Kinder in einemJahr von einem Schulwechsel betroffen gewesen. Wenndie Wanderungsbewegung so bleibt, wechseln im LaufeZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19683
Dr. Rosemarie Hein
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eines Bildungsweges von zehn Jahren mindestens 1 Mil-lion Schülerinnen und Schüler in ein anderes Bundes-land. Wer das ignoriert, handelt verantwortungslos.Es ist schon ein Kreuz mit den Bildungspolitikerinnenund -politikern aller Parteien und aller Bundesländer,dass sie sich nicht auf Lösungen verständigen können,die die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in derBildung sicherstellen, ohne die Bildungshoheit der Län-der zu gefährden.Warum kann man nicht wie vor 48 Jahren beschlie-ßen, dass die Bildungsabschlüsse aus anderen Bundes-ländern anerkannt werden? Punkt. Warum kann mannicht sichern, dass bei einem Umzug nicht noch einmalteure Schulbücher gekauft werden müssen? – Einegrundgesetzlich garantierte Lernmittelfreiheit könnte dahelfen. – Warum kann man in Fragen der Schülerbeför-derung nicht für alle Kinder gleichwertige Bedingungenschaffen, wie es für einen stark benachteiligten Kreisvon Kindern durch das Bildungs- und Teilhabepaketjetzt geschieht? Warum kann man nicht soziale Mindest-standards – etwa Schülerbeförderung, Lernmittel undSchulessen – setzen, die Geleichwertigkeit garantieren,von denen die Länder wie beim Kinder- und Jugendhil-ferecht nur nach oben abweichen können?Wenn man mittels Bildungsföderalismus eine Vielfaltin der Bildungslandschaft zulässt: Warum kann mandann nicht die eingrenzenden Regelungen und bürokra-tischen Anerkennungsvoraussetzungen einfach fallenlassen und Vielfalt auch anerkennen? Gäbe es eine Ge-meinschaftsschule in allen Bundesländern, gäbe es si-cher nicht weniger Vielfalt. Aber dann wäre ein Schul-wechsel ein viel geringeres Problem. Denn wären dieseSchulen inklusive Schulen, wäre auch genügend Mög-lichkeit zur individuellen Förderung vorhanden, umeventuelle Unterschiede in den Bildungsinhalten auszu-gleichen. Aber das braucht ja noch eine ganze Weile.So wie die Sache jetzt läuft, müssen junge Menschenund ihre Familien ausbaden, was die Kultusbürokratienund die Länder nicht regeln wollen. Darum ist der StadtHamburg sowie den Ländern Sachsen-Anhalt undSchleswig-Holstein zu danken, dass sie die Debatte imBundesrat angestoßen haben. Frau Kraft aus Nord-rhein-Westfalen hat auch ihre Bereitschaft signalisiert.Wir hoffen, es kommen noch mehr Landesregierungenund Länderparlamente zu dieser Einsicht, und wir hof-fen, es kommt dann auch zu einer Einigung über Länder-grenzen hinweg, die dem Bildungschaos endlich einEnde bereitet.
Als bildungs- und hochschulpolitischer Sprecher dergrünen Bundestagsfraktion freue ich mich, dass unserAntrag zur Modernisierung des Bildungsföderalismushier und heute diskutiert wird. Damit bringen wir eineweitere Vorlage für die Anhörung des Bildungsaus-schusses am 19. März zur Abschaffung des Koopera-tionsverbots in den Bundestag ein.Unsere konkreten Vorschläge, wie das verfassungs-rechtliche Kooperationsverbot zwischen Bund und Län-dern im Bildungsbereich und die Kooperationshürden inder Wissenschaft endlich überwunden werden können,kommen dabei genau zur richtigen Zeit. Denn in denletzten Monaten ist endlich Bewegung in die Debatteüber neue Kooperationswege gekommen. CDU, CSUund SPD haben in der Föderalismusreform 2006 denBund aus der Mitverantwortung und Mitfinanzierungdes Schul- und Bildungsbereichs herausgedrängt. Wäh-rend die SPD diesen Fehler nun dankenswerterweiseeinsieht und zu korrigieren versucht, muss die Einsichtbei der Unionsfraktion noch reifen.Dabei gibt es zahlreiche wissenschaftliche Belege,dass zum Beispiel das Ganztagsschulprogramm „Zu-kunft Bildung und Betreuung“ Kindern und Jugend-lichen – gerade aus bildungsfernen Familien – vielfältigunterstützt: Schulfreude, Motivation und Lernleistungensteigen in guten Ganztagsschulen. Seit der Verfassungs-änderung 2006 sind solche wichtigen Initiativen fürChancengleichheit nicht mehr möglich. Stattdessen wirdder Bund zu absurden Umwegen gezwungen. Wir erin-nern uns: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundauferlegt, die Teilhabe von Kindern aus Hartz-IV-Fami-lien zu unterstützen.Was dabei herauskam, ist mit „Bürokratiemonster“leider weitaus besser beschrieben als mit „Bildungs-und Teilhabepaket“. Weil die Bundesmittel den Schulennicht direkt zufließen dürfen, müssen die Eltern zumJobcenter und dort immer wieder die Leistungen bean-tragen. Die Schulen wiederum bekommen nicht etwaMittel, um verstärkt individuelle Förderung anbieten zukönnen. Im Gegenteil: Lehrerinnen und Lehrer müssenstattdessen Bescheinigungen über die Notwendigkeit derFörderung ausstellen. Weil zwischen Bund und Ländernnichts geht, fließen öffentliche Bundesmittel an privateTräger – anstatt das öffentliche Schulwesen der Länderzu stärken. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn wirim Bereich der leistungsschwächeren Schülerinnen undSchüler im PISA-Vergleich nur kleine Fortschrittemachen.Die entscheidenden Fragen in unserer Debatte müs-sen doch sein: Wie erhöhen wir die Bildungs- undTeilhabechancen aller Kinder und Jugendlichen? Wielösen wir gemeinsam die großen bildungs- und wissen-schaftspolitischen Herausforderungen und bauen eineechte Bildungsrepublik? Welche verfassungsrechtlichenGrundlagen brauchen wir, um die notwendige strategi-sche und gesamtstaatliche Kooperation bei den großenBildungs-, Hochschul- und Wissenschaftsfragen zu er-möglichen? Wie muss unser Grundgesetz ausgestaltetsein, damit es weder umgangen wird noch Bildungsblo-ckaden bewirkt?Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat müssenendlich die Konsequenzen daraus ziehen, dass sich dasKooperationsverbot nicht bewährt, sondern geschadetund dazu geführt hat, dass das Grundgesetz umgangenwurde und wird. Als Antwort auf diese Fragen fordernwir mit unserem Antrag die Aufhebung des Koopera-tionsverbots bei Bildung und Wissenschaft. In beidenBereichen sind dringend neue Kooperationswege undeine Vertrauenskultur zwischen Bund und Ländern er-Zu Protokoll gegebene Reden
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19684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Kai Gehring
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forderlich. Die immensen sozialen, ökonomischen undsozialen Herausforderungen machen doch überdeutlich,dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft undWirtschaft von der Leistungsfähigkeit und Qualität un-seres Bildungs- und Wissenschaftssystems abhängt.Denken Sie nur an Fachkräfte- und Akademikermangel,an Schulabbruch- und Analphabetismusquoten, an Inte-grations- und Inklusionsdefizite.Wir brauchen eine Debatte über die Wege, wie wirZusammenarbeit ermöglichen wollen. Das geht einer-seits über eine Änderung des Art. 91 b Abs. 2 Grundge-setz, dergestalt, dass Bund und Länder zur „Sicherstel-lung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklungdes Bildungswesens und zur Förderung der Wissen-schaft auf der Basis von Vereinbarungen zusammenar-beiten“ können.Daneben, alternativ oder besser additiv, ist ein neuerArt. 104 c sinnvoll, der Finanzhilfen ermöglicht undzwar dergestalt, dass der Bund den Ländern „auf derBasis von Vereinbarungen befristete oder dauerhafteFinanzhilfen zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeitund der Weiterentwicklung des Bildungswesens sowieder Wissenschaft gewähren“ kann. Diese Grundgesetz-änderungen sind aus unserer Sicht so auszugestalten,dass die auf deren Grundlage jeweils zwischen Bundund Ländern zu treffenden Vereinbarungen der Zustim-mung einer Dreiviertelmehrheit der Länder bedürfen.Denn wir wollen nicht zurück zum Zustand, dass einLand alle anderen ausbremsen kann.Es gibt diesbezüglich Stimmen, die warnen, dass esder Bildung und Wissenschaft nicht nützen werde, wenndie Verfassung wieder Vereinbarungen von Bund undLändern ermögliche, weil dann wieder ausufernde Ver-handlungsrunden der Exekutive anstehen. Dem halte ichentgegen, dass wir alle aus diesen Jahren des Verbotesgelernt haben sollten. Der Reform- und Finanzierungs-druck haben zugenommen. Wir haben Jahre verloren, indenen andere Bildungssysteme sich weiterentwickelthaben. Außerdem setzen wir Grüne ja gerade auf dasMehrheitsprinzip bei den Vereinbarungen, sowohl aufBundes- wie auf Länderseite. Vetospieler, die allen ande-ren ihren Willen aufzwingen, wollen wir nicht. Deswe-gen kein Einstimmigkeitsprinzip auf Länderseite.Und zu denen, die meinen, dass eine Umwidmung vonUmsatzsteuerpunkten nach Art. 106 Grundgesetz dieLösung bringen werde: Zeigen Sie mir den Landeshaus-halt, der auch nur für die nächsten fünf Jahre gewähr-leisten kann, dass Umsatzsteuerpunkte, die der Bildungzugutekommen sollen, nicht letztlich in Schlaglöchern,Haushaltslöchern oder in Lehrerpensionen landen.Der Vorschlag des schwarz-gelben Koalitionsaus-schusses ist dagegen kleinmütig und reicht nicht aus.Bundesbildungsministerin Schavan springt mit ihremVorschlag, nur klitzekleinen Ergänzung des Art. 91 b le-diglich um „Einrichtungen“ der Wissenschaft und For-schung an Hochschulen vorzunehmen, viel zu kurz. DieHerausforderungen der Zukunft liegen nicht nur imBereich der Wissenschaft, sondern gerade auch in derBildung. Anstatt die Bund-Länder-Zusammenarbeit aufdie Wissenschaft zu begrenzen, muss jetzt die historischeChance auf eine neue Kooperationskultur auch imSchul- und Bildungsbereich genutzt werden. Eine echte„Bildungsrepublik“ braucht eine breite und gute Basisvor allem in den Schulen, damit die Wissenschaft über-haupt leistungsfähig sein kann.Wir unterstreichen daher unsere jahrelange Forde-rung: Das Grundgesetz muss so geändert werden, dassgemeinsames Handeln von Bund und Ländern auch inder Bildung ermöglicht wird. Es ist eine geradezubizarre Situation, dass wir Schulen in Jakarta und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19685
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19686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19687
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19693
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weiterverbreitet werden.Missachtung des Urheberpersönlichkeitsrecht. Letzt-endlich ist die Rechtslage also, anders als von der Lin-ken behauptet, vollkommen klar. Ein pauschales Weiter-verkaufsrecht für immaterielle Werke ist nicht mit demUrheberpersönlichkeitsrecht vereinbar. Demgegenüber
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19694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Ansgar Heveling
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missachtet der Gesetzentwurf der Linken das Urheber-persönlichkeitsrecht und nimmt dem Lizenzgeber dieMöglichkeit, zu bestimmen, ob und wie sein Werk ge-nutzt wird. Allein dies ist schon ein Grund, den Gesetz-entwurf abzulehnen.Verwertungsrecht. Der Gesetzentwurf missachtetaber auch das ausschließliche Verwertungsrecht des Ur-hebers nach § 15 UrhG. Vor allem das Vervielfältigungs-recht nach § 16 UrhG ist die wirtschaftliche Grundlagedes kommerziellen kreativen Schaffens. Dieses Verwer-tungsrecht wird durch ein Weiterveräußerungsrecht zu-mindest eingeschränkt, wenn nicht sogar entwertet. ImGegensatz zur Weiterveräußerung körperlicher Werkeist die Weiterveräußerung ohne Vervielfältigung tech-nisch gar nicht möglich. Der vorgeschlagene § 17 aAbs. 1 Satz 2 UrhG geht damit an den technischen Rea-litäten vorbei. Jede digitale Weiterveräußerung ist einKopiervorgang – auch wenn das ursprüngliche Werk-stück gelöscht wird.Missbrauch. Technisch setzt das gesetzlich unabding-bare Recht zur Weiterveräußerung auch voraus, dassjedes immaterielle Werk auch vervielfältigt werden kön-nen muss. Ansonsten ist die Weiterveräußerung tech-nisch ja gar nicht möglich. Damit würde ein DigitalesRechtemanagement, DRM, gesetzlich verboten und denRechteinhabern eine der letzten verbliebenen Möglich-keiten genommen, ihre Werke gegen illegale Vervielfälti-gungen im Internet zu schützen.Vorgegebenes Geschäftsmodell. Der Gesetzentwurfhebelt aber nicht nur das Digitale Rechtemanagementaus, sondern legt den Rechteinhaber faktisch auch da-rauf fest, wie er sein Werk verwerten darf. „Das Rechtzur Weiterveräußerung kann nicht vertraglich abbedun-gen werden“. Mit diesem Passus wird dem Urheber seinGeschäftsmodell vorgeschrieben. Er verliert dadurchdie Gestaltungsmöglichkeit bei der Verwertung seinesWerkes. Das hat nichts mehr mit Marktwirtschaft zu tun –hier handelt es sich um Staatsdirigismus.Das hat die CDU schon seit 63 Jahren abgelehnt undwird dies auch heute tun.
Die Fraktion Die Linke hat heute einen Gesetzent-wurf eingebracht, mit dem die Weiterveräußerung digi-taler Werkexemplare im Urheberrechtsgesetz ermöglichtwerden soll.Um was geht es dabei? Der Vertrieb von Werken derLiteratur, Musik etc. hat sich in den letzten Jahren starkgewandelt. Er hat sich vor allem „verlagert“. Immerseltener gehen Bücher und CDs „über den Ladentisch“.Die Bedürfnisse vieler Verbraucherinnen und Verbrau-cher gehen heute dahin, einzelne Musikstücke oderganze Musikalben, literarische Werke in Form vonE-Books, aber auch Computerspiele und Software überdie Portale verschiedener Onlineanbieter legal herun-terzuladen.Die Frage, ob Werke, die nicht in körperlicher Form,sondern als Download vertrieben werden, in gleicherWeise weiterveräußert werden können wie beispiels-weise gebrauchte Bücher, Musik-CDs etc. wird lebhaftdiskutiert. Die Problematik ist unter dem Stichwort„Handel mit gebrauchter Software“ zudem bereits imRahmen der Beratungen zum Zweiten Korb Urheber-recht thematisiert worden.Zum Hintergrund: Nach geltendem Urheberrecht istder Weiterverkauf unkörperlicher Werkexemplare aus-geschlossen, es sei denn, der Rechteinhaber hat entspre-chende Nutzungsrechte eingeräumt. Der für körperlicheWerkstücke geltende sogenannte Erschöpfungsgrund-satz findet keine Anwendung. Dieser besagt, dass ein mitZustimmung des Urhebers in Verkehr gebrachtes körper-liches Werkexemplar frei handelbar ist. Dass für immate-rielle Werke etwas anderes gelten soll, ergibt sich schonaus Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG zur„Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheber-rechts und der verwandten Schutzrechte in der Informa-tionsgesellschaft“, wo es heißt, dass sich die Frage derErschöpfung bei Onlinediensten nicht stellt. Folglichfinden sich in den Vertragsbedingungen kommerziellerDownloadportale wie zum Beispiel iTunes.de, libri.deetc. regelmäßig Klauseln, die den Weiterverkauf unkör-perlicher Werkstücke ausschließen.Dass der Frage eine hohe wirtschaftliche Bedeutungzukommt, kann man am Softwarebereich erkennen. Hiererwerben die Unternehmen – mengenmäßig gestaffelte –Volumenlizenzen, in der Regel in größerem Umfang, alsArbeitsplätze auszustatten sind. Das wirtschaftliche In-teresse am Weiterverkauf der nicht benötigten, über-schüssigen Lizenzen ist dementsprechend groß.Das zeigt, dass es sich hier um kein neues Problemhandelt. Auch in der Rechtswissenschaft wird die Dis-kussion an diesem Punkt kontrovers geführt. Es gibt na-hezu ebenso viele Stimmen, die eine analoge Anwendungdes Erschöpfungsgrundsatzes ablehnen, wie solche, diedie Schaffung einer entsprechenden Regelung befürwor-ten. Auch die Enquete-Kommission „Internet und digi-tale Gesellschaft“ hat in ihrem Dritten Zwischenberichtmehrheitlich empfohlen, die Möglichkeit zum Weiterver-kauf von legal erworbenen, immateriellen Werkstücken
aber weit überwiegend eine analoge Anwendung des Er-schöpfungsgrundsatzes auf unkörperliche Werke ab.Auch wenn die Interessenlage der Verbraucherinnenund Verbraucher für eine Gleichbehandlung körperli-cher und unkörperlicher Werke spricht, sollte man diedenkbaren negativen Auswirkungen der vorgeschlage-nen Änderung auf die kommerziellen Downloaddienstefür den Vertrieb von E-Books und Musik etc., die in be-trächtlichem Umfang Investitionen in die Entwicklungund den Ausbau ihrer Plattformen tätigen, nicht aus denAugen verlieren.Eine Differenzierung zwischen Buch und E-Book er-scheint daher plausibel. Im Gegensatz zum körperlichenWerk kann das immaterielle beliebig und ohne Quali-tätseinbußen vervielfältigt werden. Der Weiterverkaufder Datei, zum Beispiel die „Punkt-zu-Punkt“-Über-mittlung der Datei per E-Mail, ist eine Vervielfälti-gungshandlung, die das „Original“ unberührt lässt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19695
Burkhard Lischka
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Auch wenn der Entwurf der Fraktion Die Linke vorsieht,dass die Weiterveräußerung nur zulässig ist, wenn derVerkäufer keine weitere Vervielfältigung des veräußer-ten Exemplars zurückbehält, stellt sich doch die Frage,wie dies kontrolliert werden soll. Die Missbrauchsge-fahr ist offenkundig. Hier bliebe dem Rechteinhaber nurdie Möglichkeit, die Anzahl der zulässigen Vervielfälti-gungen bei per Download erworbenen Dateien durchtechnische Schutzmaßnahmen zu begrenzen oder gänz-lich zu unterbinden. Im Ergebnis würde damit auch dieMöglichkeit beschränkt, für den eigenen persönlichenGebrauch Privatkopien herzustellen.Daher stehen wir dem Vorschlag eher kritisch gegen-über. Ob angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dassder Vertrieb physischer Werkexemplare am Markt zu-nehmend durch den Vertrieb unkörperlicher Werkstückeersetzt wird, mittelfristig über Veränderungen nachge-dacht werden muss, werden wir in den weiteren Aus-schussberatungen klären müssen.
Die Linken fordern, dass digital erworbene unkörper-liche Werkexemplare privat weiterveräußert werdendürfen. Zur Begründung ziehen sie einen Aspekt desUrheberrechts aus der analogen Welt heran: den Er-schöpfungsgrundsatz. Dieser besagt, dass sich dasRecht des Urhebers, die Weiterverbreitung eines vonihm in Verkehr gebrachten körperlichen Werkes zu kon-trollieren, dann erschöpft, wenn er das Werk in Verkehrgebracht hat. Dies soll nach Vorstellung der Linken nunauch für die digitale Welt gelten. Allerdings übersehensie dabei ein wesentliches praktisches Problem: DieLinke erklärt nicht, wie sie vermeiden will, dass es da-durch zu einer unkontrollierten und unbezahlten Verviel-fältigung von digitalen Werken kommt. In dem Antragauf Drucksache 17/8377 heißt es dazu lediglich, dasseine Weiterveräußerung nur zulässig sei, wenn der Ver-äußernde „keine weitere Vervielfältigung des veräußer-ten Werkexemplars zurückbehält“.Hier scheint mir aber das größte Problem zu liegen:Wie soll das in der Praxis kontrolliert werden? DieRechteinhaber haben keinerlei Handhabe zu überprü-fen, ob der Weiterveräußernde nicht doch eine Kopie desWerkes auf seinem Computer behält. Der Weiterveräu-ßernde hätte in diesem Fall einen doppelten Vorteil: Erwäre immer noch im Besitz des digitalen Werkes undhätte sogar noch einen Teil der Kosten, die ihm beimErwerb des Werkes entstanden sind, wieder herein-bekommen. In der analogen Welt stellt sich diese Fragenicht. Hier wird spätestens der Käufer, der ein Werkoder einen Gegenstand gebraucht kauft, auch daraufachten, dass er diesen Gegenstand auch tatsächlich er-hält. Folglich ist in der analogen Welt denknotwendigausgeschlossen, dass ein weiterverkaufter Gegenstandgleichzeitig im Besitz des Verkäufers und des Käufersist.Wir müssen uns an dieser Stelle auch die Frage stel-len, ob analoge und digitale Welt hier eins zu eins zuvergleichen sind. Die Linke führt in ihrem Antrag denVerbraucher an, der dadurch verunsichert ist, dass ereine analog erworbene CD weiterverkaufen kann, eindigital erworbenes Musikalbum aber nicht. Der Wieder-verkaufswert von Musik-CDs liegt durchschnittlich ir-gendwo zwischen 50 Cent und zwei Euro. Ein besonde-rer wirtschaftlicher Anreiz ist dadurch nicht gegeben. Inder Regel verkaufen die Menschen ihre CDs auch nichtdeswegen, weil sie Geld benötigen, sondern weil siePlatz für andere Gegenstände gewinnen wollen. Körper-lose Dateien nehmen jedoch keinen Platz weg, sodasssich schon die Frage stellt, ob beim Verbraucher über-haupt der Bedarf für eine Weiterverkaufsmöglichkeit be-steht.Durch den Erschöpfungsgrundsatz soll in der analo-gen Welt erreicht werden, dass der Rechteinhaber an einund demselben Werk nicht mehrfach verdient. Dies lässtsich auf digitale Dateien jedoch nicht eins zu eins über-tragen. Hier ist die Datei ja nicht als das Werk als sol-ches zu verstehen. Vielmehr ist die Datei das Träger-material, das zur Vermittlung des Werkes benötigt wird.Würde man dies anders einordnen, hätte der Urhebernur einmal die Möglichkeit, durch den Verkauf seinesWerkes die angemessene Vergütung zu erzielen.Zudem stehen dem Antrag der Linken auch juristischeAspekte entgegen.Die Linke begründet ihren Antrag damit, dass in derPraxis Rechteinhaber den Käufern oftmals vertraglichdas Recht absprechen, digital erworbene Werke weiter-zuveräußern. Dies entspricht aber dem Grundsatz derPrivatautonomie. Die Verbraucher haben ja das Rechtund die Möglichkeit, Verträge nicht abzuschließen, de-ren Konditionen sie nicht tragen wollen. Gerade übersolche Mechanismen entwickelt sich ein Markt. Es kannja auch ein Geschäftsmodell sein, dass ein Rechteinha-ber seinen Kunden die Möglichkeit anbietet, digitalerworbene Werke weiterveräußern zu können. Dies be-dingt aber keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.Die Linke erwähnt in ihrem Antrag selber Erwä-gungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG. Darin heißtes:Die Frage der Erschöpfung stellt sich weder beiDienstleistungen allgemein noch bei Online-Diens-ten im Besonderen. Dies gilt auch für materielleVervielfältigungsstücke eines Werkes oder einessonstigen Schutzgegenstandes, die durch den Nut-zer eines solchen Dienstes mit Zustimmung desRechtsinhabers hergestellt worden sind.Die Linke folgert daraus, dass der Erschöpfungs-grundsatz auf urheberrechtlich geschützte Werke garnicht anwendbar sei, unabhängig von der Frage, ob siekörperlich oder unkörperlich vertrieben werden. DieserSchluss ist jedoch verfehlt. Die Nichtanwendbarkeit desErschöpfungsgrundsatzes auch auf materielle Verviel-fältigungsstücke wird in Erwägungsgrund 29 ausdrück-lich an die Zustimmung des Rechteinhabers geknüpft.Insofern ist hier keine unbegründete Abweichung zu er-kennen.Vor diesem Hintergrund lehnt die FDP-Bundestags-fraktion den Antrag ab.Zu Protokoll gegebene Reden
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19696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Haben Sie schon mal ein E-Book gekauft, eine MP3-Datei heruntergeladen oder einen Film aus dem Netzgesaugt? Legal, meine ich? Bestimmt, Sie haben ja alleIhre Smartphones in der Tasche stecken oder Ihre Ta-blet-PC vor sich liegen. Dann gehören diese Dateienjetzt Ihnen, und Sie können damit machen, was Sie wol-len – jedenfalls, so lange Sie nicht gegen das Urheber-recht verstoßen. Richtig? Können Sie Ihr Eigentum auchweiterverkaufen? Nicht ohne Weiteres. Denn während esgedruckte Bücher in Antiquariaten und gebrauchte CDsauf dem Flohmarkt zu kaufen gibt, werden Sie nirgendseinen legalen Secondhandmarkt für Dateien finden. DieAnbieter, die Filme, Musik oder Bücher zum Downloadanbieten, schreiben ins Kleingedruckte hinein, dass einWeiterverkauf solcher Waren verboten ist. Sie betrach-ten die Verträge, die sie mit den Nutzerinnen undNutzern schließen, nicht als Kaufverträge, sondern alsLizenzverträge. Mithilfe des Urheberrechts wird derVerbraucherschutz ausgehebelt. Der Kunde erwirbt keinEigentum, sondern ein sogenanntes Nutzungsrecht.Das ist erstaunlich, denn um Bücher zu lesen, Musikzu hören oder Filme anzuschauen, braucht man ein sol-ches Nutzungsrecht überhaupt nicht. Im Urheberrechtsteht ausdrücklich: Der reine Werkgenuss ist frei. Manmuss den Urheber nicht um Erlaubnis fragen. Heutewerden Bücher, Musik oder Filme eben oft nicht mehrals materielle, sondern als immaterielle Güter verkauft.Nüchtern betrachtet, hat sich damit lediglich die Ver-triebsform geändert. Statt in einen Laden zu gehen,klickt man auf eine Schaltfläche im Internet.Was man aber gekauft hat, sollte man auch weiterver-kaufen dürfen. Wenn mein Musikgeschmack sich ändert,kann ich meine alten CDs verkaufen. Die Bibliothekmeines Großvaters kann ich ins Antiquariat bringen,wenn ich möchte. Soll es im Bereich des Digitalengrundsätzlich keinen Gebrauchthandel geben? IstSecondhandhandel im Internet verboten?Das steht nirgends. Aber es ist dringend eine gesetzli-che Klarstellung nötig, dass der private Weiterverkaufvon Mediendateien auch tatsächlich legal ist. Das leistetder Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln. Soweitich weiß, legen einige von Ihnen großen Wert darauf,dass es in diesem Land einen freien Verkehrsfluss vonWaren gibt. Dann muss es auch einen freien Second-handhandel geben.Uns ist im Vorfeld dieser Debatte entgegengehaltenworden, wir wollten die Rechte der Urheber einschrän-ken. Das stimmt nicht, im Gegenteil: Das Recht desUrhebers, über sein Werk zu verfügen, wird von diesemGesetzentwurf überhaupt nicht berührt. Nach wie vorentscheidet der Urheber allein, ob er sein Werk druckenlässt, es auf CD veröffentlicht oder ins Internet stellt.Uns ist außerdem vorgehalten worden, wir wollten, dassalle ihre Privatkopien im Internet verscherbeln dürfen.Auch das ist nicht richtig: Privatkopien dürfen sowiesonicht weiterverkauft werden. Außerdem steht in unseremGesetzentwurf ausdrücklich, dass die betreffende Datei,wenn sie verkauft wird, vom eigenen Rechner gelöschtwerden muss und nicht öffentlich zugänglich gemachtwerden darf.Was wir fordern, gibt es in den USA längst: Auf derPlattform ReDigi können Nutzer ihre Musik gebrauchtweiterverkaufen. Eine einstweilige Verfügung dagegenist erfolglos geblieben. Wir wollen erreichen, dass manauch in Deutschland über sein persönliches Eigentumfrei verfügen kann. Das hätten Sie vielleicht von der Lin-ken gar nicht erwartet. Nun, wir wollten Sie überra-schen. Überraschen Sie nun auch uns und stimmen Sieunserem Gesetzentwurf zu.
Der Gesetzentwurf greift ein wichtiges Einzelproblemin der Diskussion um die dringend notwendige Moderni-sierung des Urheberrechts auf und versucht sich aneiner griffigen Lösung. Das ist mehr als anerkennens-wert, und alle Bestrebungen in diese Richtung verdienenunsere ausdrückliche Unterstützung. Die Modernisie-rung des Urheberrechts ist überfällig, weil neben denweiter fortschreitenden technischen Wandel auch eineweitgehend veränderte Nutzung von IT-Technologie ge-treten ist.Insbesondere das Internet und die damit verbundenenNutzungsmöglichkeiten haben geradezu revolutionäreVeränderungen herbeigeführt, die inzwischen fast alleBevölkerungsschichten erreichen. Private wie kommer-zielle Modelle des Austausches von Inhalten und Infor-mationen, Werken und Gegenständen werden von die-sem Wandel erfasst.Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Veränderungenvor dem Hintergrund der bestehenden Rechts- undGrundrechtsordnung zu bewerten, Anpassungsbedarfezu ermitteln und die oft gegenläufigen und komplexenZiele der durch die Veränderungen berührten Gesetzeund Rechtsbereiche auf ihre Bestandsfähigkeit undnotwendige Modifikationen hin zu untersuchen.Oft zeigt sich im Wandel auch mit besonderer Deut-lichkeit, was als bleibender Kern einer Gesetzgebunggelten kann. Wir Grüne meinen, dass mit dem Urheber-recht insbesondere der gesellschaftliche Ausgleich zwi-schen den vielfältigen und unterschiedlichen Interessender gesellschaftlichen Akteure in diesem Feld angestrebtwerden muss. Die Idee des Ausgleichs zwischen denförderungswürdigen individuellen Interessen von Urhe-berinnen und Urhebern auf der einen Seite und denwichtigen Interessen der Allgemeinheit an der möglichstbreiten Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Inhalten, Kul-tur und Wissen steht im Mittelpunkt und hat in vielfälti-gen differenzierten Regelungen gesetzliche Ausprägungerfahren.Wir sind der Auffassung, dass leider in den vergange-nen Jahren Gesetzesinitiativen auf den unterschiedlichs-ten Ebenen auch in Europa und international zu einsei-tig allein in eine Richtung gelaufen sind, nämlich in dieder Verstärkung von Möglichkeiten der Rechteverfol-gung durch die Rechteinhaber.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19697
Dr. Konstantin von Notz
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Im Hinblick auf die Digitalisierung wird weitgehendeiner zunehmend unüberschaubaren Rechtsprechungdas Feld überlassen und mit Blick auf die Nutzerinnenund Nutzer leider ganz überwiegend auf Kriminalisie-rung und Verfolgung gesetzt. Das hat zu einer Polarisie-rung der Gesellschaft in Fragen des Urheberrechts ge-führt, die die Akzeptanz der gesetzlichen Regelungenschwächt und auch vonseiten der Wirtschaft nichtgewollt sein kann, weil die Akzeptanz ihrer Geschäfts-modelle leidet und alle Beteiligten Rechtssicherheit ver-lieren.Vor diesem Hintergrund verdient der Antrag der Lin-ken nähere Erörterung, weil er ein dringend zur Reformanstehendes, aus der Digitalisierung und zunehmendenOnlineverfügbarkeit von geschützten Werken und Inhal-ten entstehendes Teilproblem anspricht.Es ist beklagenswert, dass die Bundesregierung ent-gegen ihrer Ankündigung nicht selbst die notwendigenInitiativen ergreift. Die von ihr vollmundig angekün-digte Reform in Gestalt eines „dritten Korbes des Urhe-berrechts“ steckt in den vielfältigen Fallstricken diesesvon mächtigen Verbands- und Lobbyinteressen gepräg-ten Regelungsumfeldes fest.Das deutlichste Zeichen, dass die Bundesregierungdabei den Kompass für eine sachgerechte Herangehens-weise und Lösung verloren hat, zeigt das jüngst imKoalitionsausschuss verabschiedete Leistungsschutz-recht. Denn keiner der bislang von der Bundesregierungohnehin nur äußerst sparsam ins Spiel gebrachten Vor-schläge ist ausreichend konkret, geschweige dennschlüssig. Geboten wird die Katze im Sack inklusiveRisiken und Nebenwirkungen.Als einseitiges Geschenk an die tradierte Medienin-dustrie bleibt dieser vage Vorschlag in seiner Rechtferti-gung fragwürdig und fachlich neblig. Ob es deshalb je-mals zu einem mit den Grundsätzen des Urheberrechtszu vereinbarenden Entwurf kommen wird, ist ungewiss.Beim Erwerb von unkörperlichen Werkexemplaren– das hat die eingehende Studie der VerbraucherzentraleBundesverband vom April vergangenen Jahres gezeigt –besteht eine einseitig zulasten der Nutzer gehendeSituation. Sei es beim Download von Musikdateien, vonE-Books oder anderen digital erfassten Inhalten, inaller Regel erhalten die Erwerber kein dem analogenErwerbsgeschäft vergleichbares Verfügungsrecht.Stattdessen werden diese im Wege der lizenzvertrag-lichen Bedingung auf das Urheberrecht verwiesen, daskeine Weiterveräußerung des erworbenen Exemplars zu-lässt. Das bedeutet konkret:Die auf einer CD gekaufte Mozartarie kann ich ge-braucht weiterveräußern, die online gekaufte, inhaltlichvöllig identische Mozartarie jedoch nicht. Das führt alsozu der grotesken Situation, dass ein und derselbe Er-werbsvorgang via eines körperlichen Werkstückes wieetwa einer CD den Wiederverkauf eröffnet hätte, nichtaber der Download, ein Widerspruch, für den die sach-liche Begründung fehlt.Geschützt werden damit einseitig allein diejenigengroßen Onlineanbieter wie zum Beispiel iTunes, aberauch viele bundesdeutsche Anbieter, die online vertrei-ben und sich eine entsprechende Privilegierung auf-grund der bestehenden Regelungsdiskrepanz ausbedin-gen, während innovative Geschäftsmodelle behindertwerden. Dass damit eine zeitgerechte Regelung desOnlinehandels vorliege, mag wohl niemand ernsthaftbehaupten.Die gesamte Problematik beschäftigt bereits seit Jah-ren die Gerichte und mittlerweile auch im Fall usedSoftden Europäischen Gerichtshof. Ob etwa der Erschöp-fungsgrundsatz bei immateriellen Gütern greift odernicht, ist umstritten. Das Urteil des EuGH zu usedSoftwird entsprechend dringend erwartet. Gefragt ist des-halb völlig zu Recht der Gesetzgeber.Der vorgelegte Entwurf entscheidet sich in dieserFrage für eine pragmatische Minimallösung. Unabhän-gig von der Frage, ob dieser Lösungsansatz tatsächlichden komplexen Anforderungen des Urheberrechts stand-halten könnte, wirft er praktische Fragen auf.Wenn lediglich die Bereitstellung in einem indivi-dualisierten Webspace oder die Einzelversendung perE-Mail sicherstellen kann, dass der Erwerber bei derWeiterveräußerung vor den Nachstellungen des Rechte-inhabers im Hinblick auf Verwertungsrechte sicher ist,so stellt sich die Frage der Akzeptanz und Praktikabili-tät angesichts einer sich völlig anders darstellendenRealität. Ob auf diese Weise der nach bestehendemRecht offenkundig urheberrechtswidrige Markt desHandels mit Werkstücken wieder eingefangen werdenkann, ist zweifelhaft.Ebenfalls nicht besonders praktikabel erscheint diewohl kaum näher nachprüfbare Vorgabe, wonach derErwerber bei der Weiterveräußerung kein Exemplar zu-rückbehalten darf. Weil man ersichtlich ein entspre-chend dem Verfahren beim körperlichen Werkexemplarnachmodelliertes Rechtsmodell verfolgt, werden Vorga-ben gemacht, die in ihrer Anlehnung an analoge Zeitenschief konstruiert wirken.Es stellt sich deshalb, bei aller Anerkennung für denVersuch einer pragmatischen Lösung, doch die Frage,ob es nicht einer grundlegenderen Herangehensweisedes Gesetzgebers bedarf, um einen entsprechenden Aus-gleich zwischen Urhebern, Verwertungsindustrie undNutzern herbeizuführen. Dabei wären die Eigenheitenund Spezifika des netzgestützten Handels mit digitali-sierten Werkstücken in ihrem Widerspruch zur überkom-menen Urheberrechtsordnung umfassender zu benennenund so zu regeln, dass anbieter- wie nutzergerechte, spe-ziell zugeschnittene Lösungen geschaffen werden. Hiersollte es, wie auch in der Debatte um Pauschalvergütun-gen, keine Denkverbote geben. Diese können von sicher-lich vielen und auf unterschiedlichen Ebenen zu schaf-fende Lösungsansätze bieten, mit denen der Idee desgerechten Interessenausgleichs im Urheberrecht endlichRechnung getragen wird.Zu Protokoll gegebene Reden
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19698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
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Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8377 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea
Steiner, Oliver Krischer, Tabea Rößner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sammlung und Recycling von Elektronik-
schrott verbessern
– Drucksache 17/8899 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.
Vieles an dem Antrag zur Wiedergewinnung wertvol-ler Wertstoffe aus Elektro- und Elektronikschrott ist all-gemeine Ansicht hier im Deutschen Bundestag und beivielen Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern.Und völlig zu Recht begrüßt der Antrag der Grünen dievielfältigen Initiativen der schwarz-gelben Koalitionund ihres Bundesumweltministers in der Frage desSchutzes natürlicher und in der Tat immer wertvollerwerdender Ressourcen. Diese Aufgabe wird von derBundesregierung seit jeher als Querschnittsaufgabewahrgenommen und von kommunaler Ebene bis hin zuEU-Ebene und globaler Ebene als eine der oberstenPrioritäten angepackt.Die ganz überwiegende Zahl der im Antrag genann-ten Punkte können wir als „Fleißarbeit“ loben. Hier istviel aus den Papieren der Bundesregierung und der EUund von anderen Quellen abgeschrieben bzw. zusam-mengetragen worden. Von WEEE über Ökodesign-Richtlinie, Recyclingziele und Sammelquoten und derallfälligen Ressourceneffizienz sind nahezu alle notwen-digen Stichworte aufgeschrieben. Mir fielen zwar nochein paar mehr ein, aber es ist schon eine gute Sammlungder einschlägigen Schlagwörter, die genannt werdenmüssen.Nun ist es leider oft ein kurzer Weg von guten Absich-ten zu schlechter Umsetzung. Und prompt haben dieGrünen wieder einen Beweis für diese These angetreten:Denn kaum haben die Grünen mal wieder eine Idee, vonder sie behaupten, dass sie der Umwelt nutze, da über-fällt die Grünen der politpsychologisch zwanghafteDruck, sofort irgendeine Zwangsmaßnahme vorzuschla-gen; denn ohne Zwangsmaßnahmen, so das offensicht-liche Denkmodell der Grünen, geht nichts. Freie Bürger,freie Menschen, gar mit freiem Willen, das scheint denGrünen ein Graus zu sein. Oder sie können sich garnicht vorstellen, dass es unideologische Menschen gibt,die verantwortungsvoll mit natürlichen Ressourcenumgehen.Sprechen wir vom Highlight des grünen Antrags, vom– Überraschung, Überraschung – Zwangspfand. Daswerden Sie ja nun gar nicht mehr los, dieses Zwangs-pfand. Es hat psychologisch und politisch tiefe Spurenbei den Grünen hinterlassen. Man könnte von einer ver-gifteten Trittin‘schen Schenkung sprechen.Historisch wissen wir, dass die andere Schenkungeine Fälschung war. Politisch wissen wir, dass derTrittin‘sche Zwangsansatz zum Zwangspfand bei Doseneine ganze mittelständische Branche an den Rand ge-drückt hat, nämlich die Glas-Mehrweg-Branche. Auchder rote Nachfolger des grünen Täters hat denTrittin‘schen Schaden nicht reparieren können, undheute tun wir uns schwer, die Struktur für Mehrweg zustärken.Warum gehört dieser Exkurs genau hierher? Ganzeinfach: weil die Grünen nach dem Dosenpfand nun einHandypfand einführen wollen – zwanghaft, natürlich.Und das, obwohl uns das Dosenpfand bitter gelehrt hat,dass der Schaden zwanghafter Handlungen erheblichgrößer sein kann als der ökoideologisch versprocheneNutzen. Zwar ist es wichtig, wertvolle Rohstoffe aus denzirkulierenden Mobiltelefonen nicht sprichwörtlich „imMüll“, das heißt, in der grauen Tonne für Abfall zurBeseitigung, landen zu lassen. Und auch ich werfe, wieMillionen Verbraucherinnen und Verbraucher, einHandy ebenso wenig in den Müll wie einen PC, eineSpielkonsole oder andere technische Geräte. Um daseinmal auch für Ökoideologen klar und einfach auszu-drücken: So etwas tut man nicht; denn wir sind ja nichtblöd.Das ist also gar nicht der Fall. Es stimmt: Seit Jahrenbeklagen wir hier, die Wirtschaft und die Umweltver-bände, dass zig Millionen ungenutzte, alte Mobiltelefonein den oft zitierten Schubladen herumliegen. Allerdingsist es so, dass diese Mobiltelefone von den Käufern mitteils sehr hohen Summen bezahlt wurden, also derenEigentum sind. Und so ist es auch heute: Wer ein Handykauft, der zahlt für dieses kleine Teil einen meist hohenPreis. Das macht das Teil wertvoll, und wertvolleSachen wirft kaum einer weg. Aber selbst kleine, preis-werte Mobiltelefone werden nicht einfach ex und hoppweggeworfen. Große wie kleine Altteile werden, wie dieBranche und jeder privat weiß, zumeist gut aufbewahrt.Oft, wie nicht nur in meinem Fall, werden die zumeistja noch sehr nutzbaren Altgeräte übrigens direkt demKreislauf wieder zugeführt. Wie das geht, ganz ohneZwang, das kann ich den „Zwanghaften“ von derGrünen-Fraktion erläutern: Ein altes Handy, Kabel undanderes Altgerät habe ich auf dessen Nachfrage einemFreund schlicht überlassen – ohne Überlassungspflicht,stellen Sie sich vor, aus rein freiem Willen. Er nannte dasDirektrecycling, und wir beide fanden: Besser geht eskaum. Und alles ohne Zwang, in Freiheit und in Verant-wortung für die Umwelt.Die Grünen sollten auch hier von ihrem und unseremgemeinsamen zukünftigen Präsidenten Joachim Gauck
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19699
Michael Brand
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lernen: Freiheit zur Verantwortung heißt sein Leitmotiv,nicht Zwang zur Verantwortung.Nun könnte man sagen: Es ist richtig, wir brauchendie Rohstoffe. Und weil wir die Rohstoffe brauchen,müssen wir ein Verfahren haben, wie wir die zurückge-winnen können. Und dazu wiederum braucht es Anreize.Stimmt alles. So weit, so gut. Hier aber findet die Gabe-lung statt, kommt der Unterschied zwischen phantasie-los und kreativ, zwischen Zwang und Freiheit: Zwangs-pfand ist kurzsichtig, im Lösungsansatz primitiv und imÜbrigen ordnungspolitisch repressiv.Für die Rücknahme und Rückgabe von ausgedientenAltgeräten mit wertvollen Wertstoffen gibt es nicht nurbereits kommunale und private Strukturen, die auch inZukunft tragen und flexibel ausgebaut werden können.Es gibt auch zahllose Rückgabestellen im Handel, auchbei karitativen Organisationen und in Behörden und In-stitutionen, die aus Verantwortung für die Umwelt undaus anderen Anreizen sammeln, damit sorgfältig recyceltwerden kann. Und das alles geht ökologisch wie ökono-misch effizient und sozusagen zwanglos.Wer will, dass die Menschen ihrer Verantwortung fürdie Umwelt nachkommen und ihren eigenen Nachkom-men – so sie welche haben – eine bessere, gesündereUmwelt hinterlassen, der muss großes Interesse anVerantwortung und Freiheit haben, und dafür kämpfen.Konkret bedeutet das im vorliegenden Fall: umsichtigfür Umwelt eintreten, Ressourcenschutz hoch ansiedeln,Recycling, am besten direkte Wiederverwendung, beför-dern.Beim Thema ITK ist die Folge dieser Freiheit zurVerantwortung, dass wir Produzenten und Abnehmer,Handel und Mobilfunkprovider und vor allem die Millio-nen Nutzer mit intelligenten Anreizen auf, ganz wichtig,freiwilliger Basis zur, wiederum wichtig, nachhaltigenRessourcenschonung auffordern. Zwang schreckt ab,Repression ist Mittel gegen schweren Missbrauch. Dasmag beim problematischen Export in Länder der soge-nannten Dritten Welt mit all den Gesundheitsrisiken undUmweltschäden sehr sinnvoll sein. Und wir sind dieLetzten, die dies nicht verhindern wollten, und nötigen-falls mit aller Macht. Dennoch muss die Debatte überden Kern der Ressourcenschonung geführt werden. Dasbeginnt bei der Produktion, betrifft im Übrigen am Endedie einzelne, verantwortliche Kaufentscheidung einesjeden Konsumenten, auch derer, die Mitglied hier imDeutschen Bundestag sind, und es betrifft nicht nur ITK-Produkte, sondern auch Autos, viele andere Konsumgü-ter, Einrichtungsgegenstände und vieles mehr.Eine „Handypfand“-Debatte daraus zu machen, wiedie Grünen es uns leider vorgeführt haben, ist einfalscher Weg. Deshalb gehört der Antrag, trotz vielerrichtiger abgeschriebener Punkte, politisch aufs Ab-stellgleis. Wir nehmen uns als CDU/CSU die Freiheit,aus Verantwortung diesen Antrag in dieser Form abzu-lehnen.
Als zuständiger Berichterstatter für Abfallwirtschaftin der SPD-Bundestagsfraktion kann ich dem Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich zustim-men. Der Antrag greift ein Problem auf, dass auch wirSozialdemokraten seit längerer Zeit thematisiert haben.Wenn Sie selber genau nachdenken, werden Sie fest-stellen, dass auch Sie ungenutzte, überholte oder defekteElektrogeräte im Haushalt gelagert haben. Dies trifft,davon bin ich überzeugt, auf die meisten deutschenHaushalte zu. Die Sammel- und Recyclingquote fürElektroaltgeräte in Deutschland ist im europäischenVergleich zwar Spitze. Die Umsetzung der europäischenWEEE-Richtlinie war zum damaligen Zeitpunkt angemes-sen und im europäischen Vergleich beispielgebend. Trotz-dem ist gerade im Bereich des Elektroschrotts eine Ver-besserung der Sammlung und des Recycling vonnöten.Gerade in diesem Bereich ist die Quote im Vergleichzu anderen Abfallarten geringer. Wie gesagt, dies liegtauch daran, dass viele Elektroaltgeräte vergessen in denHaushalten herumliegen. Viele Elektrokleingeräte wer-den auch immer noch in den Restmülltonnen entsorgtund gehen damit größtenteils der Kreislaufwirtschaftverloren. Angesichts dieser Realitäten ist eine Verbesse-rung durchaus machbar. Die Sammlung muss für denBürger einfacher werden, dann wird auch die Samm-lungsquote verbessert.In dem Antrag der Grünen-Fraktion wird ausführlichauf die Bedeutung der zurückgewonnenen Wertstoffehingewiesen. Ich brauche dies daher nicht zu wiederho-len. Ich verweise aber darauf, dass von einer unsachge-mäßen Entsorgung von Elektroaltgeräten immer nochökologische oder gesundheitliche Gefahren ausgehen.Die höhere Anzahl von gebrauchten und defekten Ener-giesparlampen im Abfall, insbesondere in Altglascontai-nern, gefährdet nach Untersuchungen aus Skandinaviendie Mitarbeiter von Recyclingunternehmen. FCKW inalten Kühlschränken und heute bereits verbotene giftigeStoffe in Altgeräten gefährden immer noch die Umwelt.Wenige alte Batterien können die stoffliche Verwertungvon Bioabfällen zu Kompost unmöglich machen. Siesehen, es gibt nicht nur wirtschaftliche und rohstoffpoli-tische Gründe für eine Verbesserung des Elektroschrott-recyclings, auch wenn diese sehr wichtig und momentanin der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehen.Aus all diesen Gründen ist eine umgehende Verbesse-rung des Sammelns und des Recyclings von Elektroalt-geräten nötig. Ich begrüße daher auch, dass die Bundes-regierung in einer Antwort auf meine Schriftliche Fragedie Neuregelungen bei der Revision der europäischenElektrogeräterichtlinie, WEEE, befürwortet und umset-zen will. Um dieses Ziel zu erreichen, muss aber amAnfang, bei der Produktion, begonnen werden.Der Ressourcenverbrauch, sowohl der energetischeals auch der stoffliche, muss gesenkt werden. Vor allemaber muss die Lebensfähigkeit, die Langlebigkeit unddie Wiederverwendbarkeit von Elektro-, Elektronik- undIT-Geräten verbessert werden. Ich weiß, davon redenalle, auch die Wirtschaft. Noch sieht die Realität aberanders aus. Machen wir uns nichts vor: Immer nochwerden Elektrogeräte so produziert, dass sie kurz nachAblauf der Gewährleistungspflicht kaputtgehen. Tech-Zu Protokoll gegebene Reden
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19700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Gerd Bollmann
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nisch könnte die Lebensdauer der Geräte, Elektroge-räte, bereits heute viele Jahre länger sein.Aber genau dies geschieht oftmals nicht. Es wird soproduziert, dass der Bürger nach einigen Jahren einneues Gerät kaufen muss. Erhöhung des Umsatzes, nichtnachhaltiges Wirtschaften ist die Realität. Sogar in derForschung, und dies halte ich für einen großen Skandal,werden Methoden erforscht, damit Produkte relativschnell defekt werden. Hier muss sich vieles ändern,nicht nur wie bisher mit Worten, sondern auch mit Taten.Die Produktion muss sich ändern in Richtung Nachhal-tigkeit.Aber nicht nur die Langlebigkeit muss verbessertwerden, auch die Recyclefähigkeit der Produkte mussbei der Produktion berücksichtigt werden. Es müssenrecycelbare Materialen eingesetzt werden. Die leichteZerlegung und anschließende Verwertung muss vonBeginn an berücksichtigt und ermöglicht werden. DasVerlöten, Verschweißen und Vermischen unterschiedli-cher Materialien, mit der Konsequenz, dass sie nichtoder nur schwer stofflich verwertet werden können,müssen massiv verringert werden. Dazu sind auch poli-tische Vorgaben und Anreize beim Produktdesign not-wendig.Der vorliegende Antrag weist hier auf konkreteMöglichkeiten, zum Beispiel die Umsetzung eines Top-Runner-Programms, hin. Die SPD fordert seit langemein solches Programm. Auch die Verlängerung der Ge-währleistungspflicht und konsequentere Herstellerver-antwortung sind gute Ansätze. Eine Rücknahmepflichtdes Handels für Elektrokleingeräte fordern auch wir. Ichhalte das für eine sinnvolle, verbraucherfreundlicheMöglichkeit, die Sammelquote, vor allem für Elektro-kleingeräte, zu verbessern. Diese Rücknahmepflichtsollte meiner Meinung nach umgehend eingeführt wer-den. Es ist nicht nötig, auf den Zeitpunkt zu warten, bisdie EU die Umsetzung vorschreibt.Einige ergänzende Anregungen und kritische Nach-fragen seien mir noch gestattet. Bei der damaligenUmsetzung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzeshat die SPD Regelungen durchgesetzt, welche denBehindertenwerkstätten und anderen sozialen Einrich-tungen weiterhin einen Anteil am Recyclingmarkt gesi-chert haben. Dies hat zu meiner großen Freude auch gutgeklappt. Zahlreiche Kommunen, Entsorgungs- undElektrounternehmen haben Verträge mit Behinderten-werkstätten für das Elektroschrottrecycling abgeschlos-sen. Dort wird eine ökologisch und sozial sinnvolleTätigkeit geleistet. Bei allen notwendigen Reformenmuss dies erhalten bleiben.Es wird hier vorgeschlagen, einen verpflichtendenMindestanteil recycelter Rohstoffe bei der Produktion zuprüfen. Das ist sicherlich überlegens- und prüfungswert.Ich kann mir aber noch nicht vorstellen, wie eine solcheQuote, vor allem bei Importprodukten, zu überprüfen ist.Heute haben wir auch über das Ressourcenschutzpro-gramm der Bundesregierung debattiert. Die Ziele undGrundsätze sind die gleichen wie in dem vorliegendenAntrag. Darüber hinaus hat die Bundesregierung öffent-lich die Zustimmung zu der Novelle der WEEE deutlichgemacht. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diesemAntrag, der ihren Zielen entspricht, zustimmen werden.
Die ungeregelte Ausfuhr von europäischem Elektro-schrott in afrikanische Länder lässt mich nicht unbe-rührt. Es ist nicht akzeptabel, dass wir unseren Dreckeinfach anderswo abladen. Gleichwohl ist ein differen-zierter Blick erforderlich: Es gibt schadstoffbelasteteund kaputte Elektrogeräte, es gibt reparable Elektroge-räte und es gibt funktionstüchtige Geräte, die ihren Wegauf andere Kontinente finden. Ich sehe kein Problemdarin, wenn funktionstüchtige Altgeräte in anderenLändern genutzt werden.Deutschland hat sich auf europäischer Ebene für ef-fektivere Exportregeln eingesetzt. Es hätte auch wenigSinn gemacht, diese auf nationaler Ebene im Alleingangeinzuführen. Schließlich lebt unser Binnenmarkt von of-fenen Grenzen. Es kann nicht in unserem Interesse sein,dass Exportregeln ohne großen Aufwand umgangenwerden.Der europäische Vorschlag der WEEE-Richtlinie istdeshalb hinsichtlich der Exportregeln voll und ganz zubegrüßen. Die Exporteure müssen zukünftig die Ge-brauchsfähigkeit der Geräte nachweisen. Damit könnendie negativen Umwelt- und Gesundheitseffekte in afrika-nischen Ländern wirksam werden. Diese Regelung derRichtlinie wollen wir zügig in nationales Recht umset-zen. An dieser Stelle will ich dem Antrag auch ausdrück-lich beipflichten. Wenngleich dies in meinen Augen auf-grund der Verhandlungsführung der Bundesregierungeigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.Dennoch: An einigen anderen Stellen ist der Antragder Grünen nicht zielführend bzw. spricht nicht alle rele-vanten Probleme an.Die Grünen fordern ein verbessertes System derhaushaltsnahen sortenreinen Sammlung von Elektroge-räten. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich nichtsanderes als eine weitere Elektroschrotttonne. Diese istverbraucherunfreundlich, ohne Umweltnutzen und reali-tätsfremd.Wie Ihnen sicher bekannt ist, plant die Bundesregie-rung die Einführung einer Wertstofftonne. Allerdingssoll diese die gelben Tonnen und gelben Säcke ersetzen.Der gesammelte Inhalt soll an die heutigen Standardsder Sortierung und Verwertung angepasst werden. Beider Wertstofftonne lohnt sich das auch. 600 000 Tonnenmehr werden wir jährlich an Plastik und Metallen demRecycling zuführen.Aufgrund der Kontamination des restlichen Inhaltsund Schwierigkeiten beim Recycling wird Elektroschrottvoraussichtlich bei der Wertstofftonne nicht dabei sein.Eine Tonne nur für Elektroschrott allein lohnt sichnicht. Zwar landen in Deutschland pro Jahr 142 000 Ton-nen an Elektrokleingeräten im Restmüll. Wir verlierendadurch viele Wertstoffe, die wir anderweitig gutgebrauchen könnten. Aber wenn Sie die Zahlen hoch-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19701
Horst Meierhofer
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rechnen: Diese Tonne lässt sich niemals füllen! Ichwette, dass leere Tonnen mit großen Abholzeiträumenspätestens dann voll werden, wenn die sonstigen Tonnenim Hof voll sind. Allerdings nicht mit Elektroschrott,sondern allem möglichen anderen Mist. Damit könnenSie den Elektroschrott nicht mehr sinnvoll nutzen. Nein,diese Tonne macht keinen Sinn.Ein anderer Vorschlag von Ihnen zielt auf die stärkereEinbeziehung des Effizienzgedankens beim Produkt-design und dabei insbesondere auf verbindliche Vorga-ben für das abfallarme Design von Neugeräten. Oder,um es einfacher auszudrücken: Der Hersteller soll,wenn er heute für ein Handy 25 Milligramm Gold und500 Gramm Gummi braucht, in Zukunft nur noch15 Milligramm Gold und 350 Gramm Gummi verbrau-chen. Genau darin steckt ihr Denkfehler. Dadurch, dassSie das Einsparziel unter Zwangsandrohung in denVordergrund stellen wollen, üben Sie Druck auf dieForschungsabteilungen der Unternehmen aus, Effi-zienzeinsparungen über alle anderen Forschungspro-jekte zu stellen.Wir finden es reizvoller, einen Anreiz dafür zu setzen,bei der Handykonstruktion darauf zu achten, dass dieTeile leicht auseinanderzubauen sind und wiedergenutztwerden können. Wenn das funktioniert, ist es auch egal,wie viel Material verwendet worden ist.Hier setzen Sie den Schwerpunkt, „weniger zu ver-brauchen“. Wir setzen den Schwerpunkt, „mehr zu ge-brauchen“. Aus diesem Grund widerspricht die von unsheute in erster Lesung zum Ressourceneffizienzpro-gramm beschlossene Regelung auch ihrem Vorschlag:Wir wollen bei Normungsprozessen neben dem Energie-verbrauch auch andere geeignete Ressourcenaspektevermehrt berücksichtigen. Dies soll die Anreize erhö-hen, ressourceneffiziente Produkte und Dienstleistungenzu entwickeln und zur Marktreife zu führen.Noch in einem dritten Punkt muss ich ihrem Antragwidersprechen: Sie wollen einen verpflichtenden Min-destanteil recycelter Rohstoffe bei der Herstellung vonIT- und Kommunikationsgeräten. Ist Ihnen eigentlichklar, was das bedeutet? Sie müssen für jeden Rohstoff re-gelmäßig die Marktsituation am Sekundärrohstoffmarktanalysieren, ob ausreichend Sekundärrohstoffe über-haupt verfügbar sein könnten. Für manche Stoffe sindnoch keine geeigneten Recyclingverfahren gefunden. Siebrauchen Beamte, die Geräte kontrollieren, umUngleichbehandlungen zu vermeiden. Wie kontrollierenSie das, wenn wie beim Kunststoff die Eigenschaften vonSekundärrohstoffen und Primärrohstoffen verfließen?Die Gerätetypen unterscheiden sich – nicht zuletztdabei, wie Sie jeweils für den Einbau von Recyclingma-terialien geeignet sind. Sie brauchen dann für jedenGerätetyp eine unterschiedliche Quote. Hinter dieserForderung steckt ein bürokratisches und planwirtschaft-liches Monstrum. In der Sache ist es sehr viel vielver-sprechender, das System der Wiederverwendung und desRecyclings von Elektrogeräten zu optimieren.Insgesamt sehe ich im Antrag durchaus Ansätze, diedie FDP so mittragen könnte. An einigen Stellen findensich dennoch undurchdachte und auch fehlerhafte Posi-tionierungen, die zwingend abzulehnen sind.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Sammlungund das Recycling von Elektronikschrott zu verbessern.Zur Verbesserung der Sammlung soll die haushaltsnaheErfassung von Elektrogeräten ausgebaut und der Han-del zur Rücknahme verpflichtet werden. Die Einführungeiner Pfandpflicht soll Anreize für Verbraucherinnenund Verbraucher setzen, die zu entsorgenden Geräte zu-rückzugeben.Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Entschließungs-antrag, Bundestagsdrucksache 17/7509, die Einrichtungvon Pfandsystemen für technische Geräte bereits gefor-dert und unterstützt den Antrag von Bündnis 90/DieGrünen. Die momentanen Erfassungsquoten sind längstnicht ausreichend und außerdem von der Größe der Pro-dukte abhängig. Während Großgeräte meistens bei denkommunalen Sammelstellen abgegeben werden, landenkleinere Geräte vorwiegend im Restmüll und werdendurch die Erfassung größtenteils zerstört.Es sind gerade die kleineren Produkte, mit denenhochwertige Rohstoffe durch die Nichterfassung einerKreislaufwirtschaft entzogen werden. Zum erheblichenTeil belasten die verwendeten Stoffe wegen ihrer Toxizi-tät aber auch massiv die Umwelt. Wegen der enormenZahl der im Umlauf befindlichen Geräte ist die Erfas-sung daher kurzfristig möglichst auf 100 Prozent zu stei-gern. Die Einführung einer Pfandpflicht hält meineFraktion für ein geeignetes Mittel auf dem Weg dahin.Die Antragsteller wollen das Pfand im Rahmen einesPilotprojekts für Mobiltelefone und Smartphones in ei-ner Größenordnung von 10 Euro je Gerät einführen.Dieser Preis ist so weit angemessen.Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wei-tere sinnvolle Forderungen aufgestellt. Es geht beson-ders um die Eindämmung illegaler Müllexporte, dieWeiterentwicklung der Produktverantwortung besondersin Hinblick auf die Minimierung der verwendeten Stoff-mengen und auf längere Haltbarkeiten, die Ausweitungder Garantiezeiten und um höhere Forschungsmittel zurEntwicklung innovativer Recyclingverfahren. In derRede meines Kollegen Ralph Lenkert zum Kreislaufwirt-schaftsgesetz wurden diese Problematiken bereits ange-sprochen und Lösungen vorgestellt.Die Wiederverwendung wird im Antrag angespro-chen. Sie reduziert sich jedoch im Wesentlichen auf dieEntwicklung eines Gebrauchsgütermarktes. Wegen derpermanenten Weiterentwicklung und der kurzen Genera-tionszeiten von Mikroelektronik sind andere Möglichkei-ten auch aus Sicht meiner Fraktion in der Praxis nichtmöglich. Diese Situation ist vor allen Dingen dem aus-ufernden globalen Wettlauf um die besten Produkte ge-schuldet. Sie verursacht systemisch den Verbrauch vonRessourcen und Energie.Die Medien sind weltweit auf das Anheizen des Kon-sums ausgerichtet und erzielen einen großen Teil ihrerZu Protokoll gegebene Reden
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19702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012
Dorothée Menzner
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Einnahmen durch Werbung. Die Abfallproblematik derElektrokleingeräte ist unbedingt auch systembedingt.Eine Entschleunigung ist derzeit kaum möglich. Dazubedürfte es einer Veränderung der Werte. Damit die end-lichen Ressourcen wirkungsvoll geschützt werden kön-nen, bleiben momentan wenig Möglichkeiten offen. Eineder Möglichkeiten wäre die Einführung einer Steuer aufden primären Ressourcenverbrauch. Das fehlt aus unse-rer Sicht im Antrag.Da wir die gestellten Forderungen insgesamt fürrichtig halten, stimmt Die Linke für den Antrag vonBündnis 90/Die Grünen.
Die diesjährige CeBIT setzt auf Wachstum im Elek-tronikbereich. Es wird gejubelt über hohe Zuwachsratenbei Smartphones und Tabletcomputern. Gerade anläss-lich einer Messe wie der CeBIT wird aber auch erneutdeutlich, dass dieses Wachstum in der IT-Kommunika-tionselektronik zu immer kürzerer Nutzungsdauer derGeräte führt und eine immer größere Menge an Elektro-nikschrott produziert wird.Nach aktuellen Schätzungen werden weniger als25 Prozent der ausgedienten Mobiltelefone einer ad-äquaten Verwertung zugeführt. Millionen und Abermil-lionen von Geräten jedoch vergammeln in Schubladen.Fragen Sie sich mal, wie viele Althandys bei Ihnen eintrostloses Dasein in Schubladen fristen? In Deutschlandsind es zwischen 60 und 120 Millionen Geräte.Dabei sind Mobiltelefone heute wahre Schätze. Wiralle horten zu Hause wichtige Ressourcen, insbesonderedie in den letzten Jahren in den Fokus gerückten Selte-nen Erden. Aber Elektronikgeräte insgesamt werdennicht ausreichend recycelt, obwohl allgemein bekanntsein sollte, welche Rohstofflager sie sind. Fernseher undComputer werden illegal nach Afrika oder Asien ver-schifft und dort unter erbärmlichen Bedingungen zer-legt. Damit exportiert Deutschland jährlich mindestens1,6 Tonnen Silber, 300 Kilogramm Gold und 120 Kilo-gramm Palladium, wie eine Studie des Umweltbundes-amtes belegt. Wir könnten noch Lithium und das selteneColtan anführen; auch hier sind entsprechende Zahlenzu finden.Aber dies ist nicht alles: Wir sind über den illegalenExport auch mitverantwortlich für schlimmste gesund-heitliche Schäden bei Menschen in Afrika und Asiensowie für massive Verseuchung der Böden und des Was-sers, die Folgen der unzureichenden Zerlegung unseresE-Schrotts sind. Die Sorge darum mag manch einer vonder FDP als Gutmenschentum abtun, aber wir Grünenübernehmen hier Verantwortung auch für den Umwelt-und Gesundheitsschutz in anderen Ländern der Welt.Uns sind auch die internationalen Auswirkungen unse-res Handelns – anders als den Liberalen – nicht egal.Wir alle kennen die eben skizzierten Tatsachen genau.Auch Umweltminister Röttgen betont in Sonntagsredenimmer wieder gerne, wie wichtig Recycling ist und dasswir die Ressourcen daheim in der Schubladen erschlie-ßen müssen. Der Anteil der in Deutschland gesammeltenund recycelten Elektronikgeräte bleibt jedoch weiterhingering, und konkrete Maßnahmen, um diesen zu stei-gern, vermissen wir schmerzlich. Lieber macht dieKanzlerin Rohstoffdeals mit Diktatoren in Zentralasienund drückt alle Augen zu bei Menschenrechts- undDemokratiefragen.Halten Sie sich vor Augen, wie viele wertvolle Res-sourcen in dem Elektronikschrott zu finden sind, der esnicht zum Recycling schafft. Wir müssen das Problemendlich angehen und Lösungsstrategien entwickeln;deshalb unser Antrag zur Verbesserung der Sammlungund des Recyclings von Elektroschrott.Was ist der erste Schritt zu mehr Recycling? DieGeräte müssen erst mal eingesammelt werden. Dies istdas Hauptproblem. Wir haben das Thema lange mit ver-schiedenen Fachleuten diskutiert, insbesondere die Fra-gen, wie mehr Altgeräte gesammelt werden können.Geeignet dafür ist eine Rücknahmepflicht im Handel.Alleine von Bürgerinnen und Bürgern zu erwarten, dasssie aktiv danach suchen, wo sie ihre Geräte abgebenkönnen, um zum Ressourcenreichtum des Landes beizu-tragen, reicht hier nicht. Die Motivation für sie musserhöht werden, und die Sammlung muss erleichtert wer-den.Wir sehen deshalb die Notwendigkeit, zusätzliche Im-pulse und konkrete finanzielle Anreize für eine bessereSammlung zu setzen und fangen bei den Mobiltelefonenan. Einige werden jetzt wieder rufen: „Oh ein Pfand,muss das sein? Reichen nicht freiwillige Vereinbarungenmit dem Handel zur verbesserten Rücknahme?“ DieErfahrungen zeigen, das reicht nicht. Schon heute kön-nen Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn sie sichinformieren und ein aktives Interesse an der Rückgabehaben, ihr Handy vergleichsweise unkompliziert zurück-geben. Das Sammeln ist nämlich lukrativ. VerschiedeneUnternehmer sind schon unterwegs und verbinden dasHandysammeln auch gern mit preiswerter Imagepflegefür ihr Unternehmen: hier und da ein Euro pro Handyfür die Elbe, den WWF, die Kindernothilfe oder andere.Ob die Geräte dann aber auch wirklich einem quali-fizierten Recycling zugeführt werden, ist nicht immerklar, und in den letzten Jahren hat sich, trotz dieserAngebote, die Menge der gesammelten Altgeräte nichtgesteigert. Noch immer liegen nach Schätzungen 40 bis120 Millionen Althandys in den Schubladen.Wir wollen mit dem Pfand erreichen, dass das Sam-melsystem verbessert wird. Gleichzeitig eröffnet sich fürdeutsche Unternehmen dadurch die Chance, auch tat-sächlich ins hochwertige Recycling zu investieren, weilhier der regelmäßige Nachschub von Altgeräten gesi-chert ist. Das ist mit Pfand und Rücknahme durch denHandel sicher zu erreichen. Wenn man bares Geld fürsein Gerät bekommt, holt man es schnell aus der Schub-lade und bringt es zurück. Funktioniert das PilotprojektHandypfand, dann können wir es leicht ausweiten aufdie anderen Elektronikaltgeräte. Aber das Pfand istnicht die einzige Maßnahme, die wir vorschlagen. Wirhaben gemeinsam mit Expertinnen und Experten ausdem Gebiet ein ganzes Bündel von Maßnahmen entwi-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19703
Dorothea Steiner
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ckelt, die die Sammlung und das Recycling von Elektro-schrott verbessern sollen.Auch wenn sicher nicht alle hier im Haus sofort denvon uns vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen wer-den, in einem sollten wir uns einig sein: Wir müssen jetzthandeln und massiv die Rücknahmequote von Altelek-tronik erhöhen. Ein Warten auf die Eigeninitiative derVerbraucherinnen und Verbraucher allein reicht nicht.Die Ressourcen müssen aktiv gehoben werden.Daher fordern wir Sie auf, mit uns gemeinsam zu dis-kutieren und energisch Maßnahmen auf den Weg zubringen, um dieses Ziel zu erreichen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8899 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit
einverstanden? – Es widerspricht niemand. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es kaum
glauben: Wir sind somit am Schluss unserer heutigen Ta-
gesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 9. März 2012, 9 Uhr,
ein.
Ich hoffe, dass wir uns alle in Frische wiedersehen.
Vielen Dank.
Die Sitzung ist geschlossen.