Protokoll:
17165

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 165

  • date_rangeDatum: 8. März 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:49 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/165 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 165. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 I n h a l t : Wahl des Abgeordneten Stefan Liebich als ordentliches Mitglied in das Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massen- organisationen der DDR“ . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Geschlechterge- rechtigkeit im Lebensverlauf (Drucksache 17/8879) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichberechtigung in Entwicklungs- ländern voranbringen (Drucksache 17/8903) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Anerkennung und Wiedergutmachung des Leids der „Trostfrauen“ (Drucksache 17/8789) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frauen verdienen mehr – Entgeltdiskriminie- rung von Frauen verhindern (Drucksache 17/8897) . . . . . . . . . . . . . . . e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erster Gleichstellungsbericht Neue Wege – Gleiche Chancen Gleichstellung von Frauen und Män- nern im Lebensverlauf (Drucksache 17/6240) . . . . . . . . . . . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Cornelia Möhring, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Geschlechter- gerechte Besetzung von Führungsposi- tionen der Wirtschaft (Drucksachen 17/4842, 17/8830) . . . . . . . Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 19517 B 19517 B 19517 C 19517 D 19517 D 19518 A 19518 A 19518 A 19518 B 19518 C 19519 C 19521 B 19522 C 19524 A 19526 A 19527 C 19529 A 19529 B 19530 B 19531 B 19532 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Ein Jahr Fuku- shima – Die Energiewende muss weiterge- hen (Drucksache 17/8898) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 12. Okto- ber 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indien über Soziale Sicherheit (Drucksache 17/8727) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Eurojust-Geset- zes (Drucksache 17/8728) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu der Siebten Änderung des Über- einkommens über den Internationalen Währungsfonds (IWF) (Drucksache 17/8839) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu den Änderungen vom 30. Sep- tember 2011 des Übereinkommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung der Euro- päischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Drucksache 17/8840) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 19. Septem- ber 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Ge- biet der Steuern vom Einkommen (Drucksache 17/8841) . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffent- lichen Rechts – zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008 (Drucksache 17/8842) . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung der Bildungsfor- schung weiter vorantreiben (Drucksache 17/8604) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kein Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstaltungen (Drucksache 17/8609) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine kostenfreie und um- fassende Betreuungskommunikation im Einsatz (Drucksache 17/8795) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 19533 C 19534 C 1953 D 19537 A 19537 D 19538 D 19539 D 19539 D 19541 B 19542 B 19543 C 19544 A 19545 C 19547 B 19547 D 19549 AC 19551 B 19552 A 19553 C 19554 A 19555 B 19556 C 19557 C 19559 B 19559 C 19559 C 19559 C 19559 D 19559 D 19560 A 19560 A 19560 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 III Für eine moderne und umfassende Be- treuungskommunikation im Einsatz (Drucksache 17/8895) . . . . . . . . . . . . . . . . k) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schweinepest tierschonend bekämp- fen – Notimpfung ersetzt grundloses Keulen (Drucksache 17/8893) . . . . . . . . . . . . . . . . l) Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbraucherschutz stärken – Fi- nanzmarktwächter einführen (Drucksache 17/8894) . . . . . . . . . . . . . . . . m) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing- Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Doping an Olym- piastützpunkten, Bundesleistungszen- tren und Bundesstützpunkten konse- quent bekämpfen (Drucksache 17/8896) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Energie- verbrauchskennzeichnungsrechts (Drucksachen 17/8427, 17/8803, 17/8900) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas Silberhorn, Monika Grütters, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: UNESCO-Welterbestätten in Deutsch- land stärken (Drucksachen 17/7357, 17/8858) . . . . . . . c) – i) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 397, 398, 399, 400, 401, 402 und 403 zu Petitionen (Drucksachen 17/8779, 17/8780, 17/8781, 17/8782, 17/8783, 17/8784, 17/8785) . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen Bun- destag zu benennenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes (Drucksache 17/8881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Zivilcourage gegen Nazis stär- ken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) (Erklärung nach § 32 GO) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsge- setzes (Drucksache 17/8801) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Große Anfrage der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Musikförderung durch den Bund (Drucksachen 17/4901, 17/7222) . . . . . . . . . . 19560 B 19560 B 19560 C 19560 C 19560 D 19561 A 19561 B 19562 A 19562 A 19562 A 19563 B 19564 C 19566 A 19567 A 19567 C 19569 D 19571 A 19572 B 19573 D 19575 A 19576 A 19577 A 19577 D 19578 A 19578 D 19580 A 19582 B 19583 C 19585 B 19586 B 19588 A 19589 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren (Drucksache 17/8882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Schle- cker-Verkäuferinnen unterstützen – Arbeits- plätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss der Beschäftigten stärken (Drucksache 17/8880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dr. Thomas Gebhart, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutsches Res- sourceneffizienzprogramm – Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften (Drucksachen 17/8575, 17/8875) . . . . . . . . . . Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steuerungsfehler bei der Hochschul- zulassung untersuchen und Zulassungsre- form besser unterstützen (Drucksache 17/8884) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Ge- meindefinanzreformgesetzes (Drucksachen 17/8235, 17/8867) . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 19589 B 19591 C 19593 A 19594 A 19595 C 19596 D 19597 D 19599 A 19599 A 19601 A 19602 A 19602 D 19604 A 19605 A 19606 A 19607 C 19608 B 19608 C 19609 C 19610 B 19611 A 19612 C 19613 C 19614 B 19615 C 19616 C 19616 C 19618 A 19619 C 19621 B 19622 B 19623 B 19624 C 19624 D 19625 D 19627 B 19628 B 19629 C 19630 C 19631 C 19632 D 19633 A 19635 B 19637 A 19638 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 V Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Fraktion der SPD: Neurege- lung des Rechts der Sicherungsverwah- rung (Drucksache 17/8760) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Ein- setzung einer Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung (Drucksache 17/7843) . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfah- rensgesetzes (Drucksache 17/8799) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen (Drucksache 17/8883) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: a) Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken (Drucksache 17/8788) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Das Menschen- recht auf Gesundheit umsetzen – Zu- gang zu Medikamenten weltweit ver- wirklichen (Drucksache 17/8493) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans (Drucksachen 17/7774, 17/8396) . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Vereinfachung des Aus- tauschs von Informationen und Erkenntnis- sen zwischen den Strafverfolgungsbehör- den der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Drucksachen 17/5096, 17/8870) . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwi- schen der Regierung der Bundesrepu- blik Deutschland und der Regierung des Staates Kuwait über die Zusam- menarbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7601, 17/8820) . . . . . . . 19639 A 19640 A 19640 B 19640 B 19641 B 19643 A 19644 A 19645 A 19645 D 19647 A 19647 A 19647 B 19647 C 19647 D 19648 A 19649 B 19650 D 19652 A 19652 D 19654 A 19654 A 19655 B 19656 A 19656 D 19657 C 19659 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 zwi- schen der Regierung der Bundesrepu- blik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über die Zusammen- arbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7602, 17/8820) . . . . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Re- publik Kroatien über die Zusammenar- beit bei der Bekämpfung der Organi- sierten und der schweren Kriminalität (Drucksachen 17/7603, 17/8820) . . . . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Kö- nigreichs Saudi-Arabien über die Zu- sammenarbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7604, 17/8820) . . . . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 14. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Re- publik Kosovo über die Zusammenar- beit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7605, 17/8820) . . . . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 30. August 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der Ukraine über die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der Orga- nisierten Kriminalität, des Terrorismus und anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung (Drucksachen 17/7606, 17/8820) . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Bioban- ken als Instrument von Wissenschaft und Forschung ausbauen, Biobanken- Gesetz prüfen und Missbrauch geneti- scher Daten und Proben wirksam ver- hindern – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz von Patientinnen und Patienten bei der genetischen Forschung in einem Biobanken-Gesetz sicherstellen (Drucksachen 17/3868, 17/3790, 17/8873) . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Diplomatische Beziehungen zu Palästina aufwerten (Drucksache 17/8375) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kooperation ermöglichen – Gemein- sam Verantwortung für die großen Heraus- forderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen (Drucksache 17/8902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19659 C 19659 C 19659 C 19659 D 19659 D 19660 A 19660 D 19661 D 19663 A 19663 C 19665 A 19665 B 19668 A 19669 A 19669 D 19670 C 19671 C 19671 C 19672 D 19673 C 19674 B 19674 C 19675 B 19676 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 VII Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Ge- setzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des Aus- weises (Drucksachen 17/6586, 17/8445) . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste (Drucksache 17/8797) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Ermöglichung der privaten Weiter- veräußerung unkörperlicher Werkexem- plare (Drucksache 17/8377) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Oliver Krischer, Tabea Rößner, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Sammlung und Recycling von Elektronikschrott verbessern (Drucksache 17/8899) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 19676 B 19677 B 19678 C 19679 A 19681 A 19682 B 19683 B 19684 D 19685 A 19685 D 19686 B 19686 D 19687 C 19688 A 19688 C 19688 D 19689 C 19690 C 19691 A 19691 D 19692 B 19693 A 19693 A 19694 B 19695 A 19696 A 19696 C 19698 A 19698 A 19699 B 19700 C 19701 C 19702 A 19703 C 19703 C 19705 A 19705 C 19706 D 19707 D 19708 D VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Wirksame Anreize für kli- mafreundlichere Firmenwagen (Tagesordnungspunkt 14) Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken – Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen – Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für eine Strategie zur europäi- schen Integration der Länder des westli- chen Balkans (Tagesordnungspunkt 16) Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 19709 C 19710 D 19711 B 19712 C 19713 B 19713 D 19714 B 19715 B 19716 C 19717 D 19718 C 19719 B 19719 D 19721 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19517 (A) (C) (D)(B) 165. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 163. Sitzung, Seite 19409 A, der zweite Absatz ist wie folgt zu lesen: Man kann es nicht schöner sagen als der Bundesgerichtshof, 5. Senat, in einer Entscheidung vom 9. Mai 2006, Randziffer 28, wo es heißt: „Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsausübung.“ Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19705 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrens- gesetzes (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag hat das Kapitalanleger-Musterverfahrensge- setz – oder kurz KapMuG – im Jahr 2005 beschlossen. Auslöser für die Gesetzesinitiative war eine Prozessla- wine im Jahr 2000 von knapp 15 000 Anlegern, die sich durch einen falschen Verkaufsprospekt der Deutschen Telekom AG zum Aktienkauf bewegt sahen. Bei den Klägern handelte es sich zu einem großen Teil um Men- schen, die erstmals Aktien gekauft hatten, weil sie der „Volksaktie“ der Telekom vertraut hatten. Damals zeigte sich, dass das deutsche Verfahrensrecht für solche Massenverfahren kein geeignetes Instrumen- tarium zur Verfügung stellte – die tatsächlich wie recht- lich außerordentlich komplexen Verfahren zogen sich über Jahre hin. Einige Kläger riefen daraufhin das Bun- desverfassungsgericht an. Dieses sah zwar im Ergebnis das Recht der Kläger auf einen wirkungsvollen, nämlich in angemessener Zeit erfolgenden gerichtlichen Rechts- schutz nicht als verletzt an. Das Bundesverfassungsge- richt machte aber deutlich, dass ein besonderes verfah- rensrechtliches Instrument bei Massenverfahren zur Vermeidung überlanger Verfahrensdauern notwendig sein könnte. Das KapMuG war die Reaktion des Gesetzgebers auf diese Umstände. Es berücksichtigte vor allem die Er- kenntnis, dass falsche Kapitalmarktinformationen oder unrichtige Börsenprospekte keineswegs nur wenige Großinvestoren schädigen können. Auch viele Kleinan- leger mit vergleichsweise geringen finanziellen, soge- nannten Streuschäden können betroffen sein. Aufgrund der Vielzahl der Geschädigten kann die Schadenssumme hier jedoch schnell im mehrstelligen Millionenbereich liegen. Das KapMuG wollte hier ein effektives kollekti- ves Rechtsschutzinstrument zur Verfolgung individueller Schadensersatzansprüche zur Verfügung stellen. Die Kosten für den einzelnen Anleger sollten möglichst klein gehalten und die Gerichte von den massenhaften Klagen entlastet werden. Um das zu erreichen, stellt das KapMuG ein Muster- verfahren zur Verfügung, in dem bestimmte tatsächliche und rechtliche Fragen einheitlich und verbindlich für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle entschieden werden können. Dieses Musterverfahren war ein Novum im deutschen Prozessrecht – der Gesetzgeber hat den An- wendungsbereich daher auf das Kapitalmarktrecht be- schränkt und auch die Geltungsdauer des Gesetzes auf zunächst fünf Jahre befristet. In dieser Zeit sollte das Ge- setz evaluiert werden. Nach einer Verlängerung der Gel- tungsdauer um weitere zwei Jahre tritt das Gesetz nun- mehr am 31. Oktober 2012 außer Kraft. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 08.03.2012 Burchardt, Ulla SPD 08.03.2012 Dreibus, Werner DIE LINKE 08.03.2012 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E. CDU/CSU 08.03.2012 Friedhoff, Paul K. FDP 08.03.2012 Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter CDU/CSU 08.03.2012 Gerster, Martin SPD 08.03.2012 Granold, Ute CDU/CSU 08.03.2012 Gruß, Miriam FDP 08.03.2012 Hinz (Essen), Petra SPD 08.03.2012 Kelber, Ulrich SPD 08.03.2012 Koch, Harald DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Kofler, Bärbel SPD 08.03.2012 Lenkert, Ralph DIE LINKE 08.03.2012 Luksic, Oliver FDP 08.03.2012 Müller (Erlangen), Stefan CDU/CSU 08.03.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 08.03.2012 Pflug, Johannes SPD 08.03.2012 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.03.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 08.03.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 08.03.2012 Weinberg, Harald DIE LINKE 08.03.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Winterstein, Claudia FDP 08.03.2012 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 08.03.2012 Anlagen 19706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) Wie sind nun die Erfahrungen mit dem KapMuG? Unter dem Strich können wir sagen: Das Gesetz hat sich bewährt. Die Evaluation hat ergeben, dass das Muster- feststellungsverfahren nach dem KapMuG ein taugliches Instrument zur Bewältigung von Massenklagen im Be- reich des Kapitalmarktrechts ist. Kleinanleger können Schadensersatzansprüche damit besser bündeln, und die Gerichte sind entlastet worden. Die bisher recht geringe Anzahl der Verfahren zeigt aber auch, dass das Gesetz an einigen Stellen verbessert werden kann und muss. Der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung verbindet die positiven Erfahrungen mit den notwendi- gen Änderungen: Die Grundstruktur und die Prinzipien des bisherigen KapMuG werden beibehalten. Die zahl- reichen Änderungen werden in einem neuen Stammge- setz zusammengeführt, das KapMuG also von Grund auf neu gefasst. Worum geht es im Einzelnen? Zunächst wird der An- wendungsbereich des KapMuG moderat ausgeweitet. Es bleibt zwar bei der Beschränkung auf kapitalmarktrecht- liche Ansprüche; denn für ein allgemeines Instrument des kollektiven Rechtsschutzes für alle zivilrechtlichen Ansprüche ist es noch zu früh, es besteht auch nicht in gleicher Weise ein Bedarf. Das Gesetz soll zukünftig aber solche Schadensersatzansprüche erfassen, die aus einer fehlerhaften Anlageberatung und Anlagevermitt- lung resultieren. Es sollen also nicht nur diejenigen Fälle erfasst werden, in denen der Schadensersatz unmittelbar durch eine fehlerhafte Kapitalmarktinformation verur- sacht wird, sondern auch solche Fälle, in denen ein nur mittelbarer Zusammenhang besteht. Das ist sachgerecht. Die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Verursachung eines Schadens ist in der Praxis häufig schwierig und in der Sache auch nicht angemessen. Des Weiteren wird der Vergleichsabschluss im Mus- terverfahren erleichtert. Nach dem bisherigen KapMuG ist ein Vergleich nur dann möglich, wenn alle Beteiligten – Musterkläger, Musterbeklagte und alle Beigeladenen – diesem zustimmen. Das hat sich in der Praxis als kaum erfüllbar erwiesen. Der Gesetzentwurf führt daher nun- mehr einen gerichtlich gebilligten Vergleich zwischen Musterkläger und Musterbeklagten mit Austrittsmög- lichkeit ein. Dabei hört das Gericht die Beigeladenen le- diglich an, ob der Vergleich eine angemessene Lösung darstellt. Zustimmen müssen sie hingegen nicht mehr. Billigt das Gericht den Vergleich, wird er grundsätzlich für alle Beteiligten verbindlich. Die Beigeladenen kön- nen allerdings innerhalb eines Monats ihren Austritt aus dem Vergleich erklären. Für die Ausgetretenen wird der Vergleich dann nicht verbindlich. Ich begrüße grundsätz- lich, dass der Abschluss eines Vergleiches durch die Ab- kehr vom Zustimmungserfordernis erleichtert wird. Im parlamentarischen Verfahren prüfen müssen wir aller- dings die Frage, ob ein bestimmtes Quorum als Voraus- setzung für die Wirksamkeit des Vergleichs gesetzlich festgelegt werden muss oder ob es ausreicht, dass die Parteien ein solches vereinbaren können. Ziel der Reform ist schließlich, das Musterverfahren zu beschleunigen. Bislang konnten bis zum Beginn des Musterverfahrens viele Monate vergehen. Zukünftig sol- len zulässige Musterverfahrensanträge von den Gerich- ten innerhalb von drei Monaten im Klageregister be- kannt gemacht werden. Das soll für eine stärkere Entlastungswirkung der Gerichte und für einen effekti- veren Rechtsschutz sorgen. Der vorgelegte Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Das KapMuG kann, wie ich meine, mit den vorgesehenen Änderungen entfristet werden. Einige we- nige Kritikpunkte gibt es dennoch, die im parlamentari- schen Verfahren genau zu prüfen sind: Das gilt zunächst für die Frage, ob eine sogenannte einfache Teilnahme am Musterverfahren ermöglicht wer- den kann. Dabei geht es darum, dass geschädigte Anle- ger unterhalb der Schwelle der förmlichen Klageerhe- bung am Musterverfahren beteiligt und insbesondere in die Wirkungen des Musterbescheids bzw. gegebenen- falls Vergleichs einbezogen werden können. Das könnte die Effizienz und die Breitenwirkung des Verfahrens möglicherweise verbessern. Möglicherweise muss auch dem OLG, das für die Ent- scheidung über die Feststellungsziele inhaltlich zustän- dig ist, mehr Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden. Die jetzt vorgesehene Bindung des OLG an den Vorlage- beschluss führt dazu, dass es unter Umständen die im Vorlagebeschluss aufgeführten Feststellungsziele prüfen muss, obwohl es diese nicht für entscheidungserheblich hält. Die Zulassung einer Modifizierung der Vorlageziele muss man daher prüfen. Schließlich sehe ich hinsichtlich der vorgesehenen Verschärfung der Voraussetzungen, unter denen ein Ge- richt nach § 145 ZPO mehrere in einer Klage erhobene Ansprüche trennen und gesondert verhandeln kann, noch Prüfbedarf. Bei dieser Änderung geht es nicht nur um eine Klarstellung im Rahmen des KapMuG, sondern um eine grundlegende Veränderung der zivilprozessualen Rechtslage. Das darf nicht leichtfertig geschehen. Das muss sorgfältig erwogen werden. Insgesamt – und hiermit komme ich zum Ende meiner Rede – hat die Bundesregierung einen durchaus gelunge- nen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich bin zuversichtlich, dass wir im parlamentarischen Verfahren eine Lösung für die aufgezeigten Kritikpunkte finden werden und das Gesetz schnell – vielleicht sogar wie das KapMuG im Jahre 2005 – einstimmig beschließen können. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Das Kapitalanle- ger-Musterverfahrensgesetz, KapMuG, ist ein juristi- scher Testballon, der 2005 losgeschickt wurde und dem zum 31. Oktober 2012 die Luft auszugehen droht. Mit der angestrebten Reform des KapMuG wollen wir nun einige zusätzliche Instrumente an dieser Versuchsanord- nung anbringen und sie wieder aufsteigen lassen, um weitere wertvolle Messwerte zu gewinnen und daraus Erkenntnisse für die zukünftige Gestaltung des deut- schen Rechts zu ziehen. Nach Ablauf der Geltungsdauer des von Anfang an befristeten KapMuG bestünde zunächst die Möglichkeit, das Gesetz auslaufen zu lassen. Dann würde allerdings Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19707 (A) (C) (D)(B) ein im Kern funktionsfähiges Modell der kollektiven Rechtsdurchsetzung aufgegeben. Eine bloße Verlängerung der Geltungsdauer des Ge- setzes ohne inhaltliche Änderungen erschiene jedoch ebenfalls nicht angemessen. Vielmehr sollten die Erfah- rungen der vergangenen sieben Jahre zu einer Überarbei- tung des Gesetzestextes genutzt werden, um im Interesse der Kapitalanleger einen noch effektiveren Rechtsschutz zu ermöglichen und die Durchsetzung des objektiven Kapitalmarktrechts weiter zu befördern. Die Befristung des KapMuG kann dabei aufgehoben werden. Die Überführung des Musterverfahrens in die allge- meine Zivilprozessordnung und damit seine Ausdehnung auf alle zivilrechtlichen Ansprüche streben wir hingegen nicht an. Eine Entwicklung hin zu allgemeinen Sammel- klagen wie im US-amerikanischen Recht lehnen wir ab. Dies hat nicht nur den Grund, dass derartige Instrumente der Rechtsdurchsetzung dem deutschen Recht bisher fremd sind. Vor allem können uns diese Verfahren mit ihren Begleitumständen und ihren Ergebnissen nicht überzeugen. Das bestehende KapMuG soll so nachjustiert werden, dass die Schlagkraft des Gesetzes erhöht und seine Wir- kungsweise verbessert wird. Dazu soll der Anwendungs- bereich präzisiert und moderat erweitert werden. Künftig werden durch das KapMuG alle Prozesse erfasst, in de- nen eine falsche, irreführende oder unterlassene öffentli- che Kapitalmarktinformation eine der entscheidungser- heblichen Tatsachen ist. Damit können auch Ansprüche gegen Anlageberater oder Anlagevermittler wegen soge- nannter uneigentlicher Prospekthaftung geltend gemacht werden, die nach ständiger Rechtsprechung des BGH bisher ausgeschlossen sind. Eine weitere wesentliche Änderung des KapMuG be- trifft die Beschleunigung des Verfahrens, denn besonders hier hat sich gezeigt, dass Optimierungsbedarf besteht. Mit der Verfahrensbeschleunigung soll bereits vor Be- ginn des Musterverfahrens angesetzt werden. Die mitun- ter sehr lange Wartezeit bis zum Beginn eines Muster- verfahrens wird durch Einführung einer Dreimonatsfrist zur Entscheidung über den Musterantrag gestrafft. Unsi- cherheiten über den Beginn eines Musterverfahrens sol- len auch dadurch minimiert werden, dass Beschlüsse des Prozessgerichts, in denen Musterverfahrensanträge als unzulässig verworfen oder wegen Nichterreichen des Quorums zurückgewiesen werden, unanfechtbar werden. Darüber hinaus werden die Vorlagevoraussetzungen an das Oberlandesgericht modifiziert, wobei künftig ein Zeitraum von sechs Monaten für das Erreichen des Quo- rums eröffnet wird. Damit muss nicht mehr wie bisher zunächst abgewartet werden, ob eventuell bereits ge- stellte Musterverfahrensanträge vorliegen, die noch nicht bekannt gemacht wurden. Schließlich ist das Oberlan- desgericht künftig anstelle des Landgerichts für die Er- weiterung des Gegenstands des Musterverfahrens zu- ständig, um eine Befassung verschiedener Gerichte während eines Musterverfahrens und damit drohende zu- sätzliche Verfahrensverzögerungen zu vermeiden. Gerade in Verfahren mit vielen Beteiligten ist auf- grund der Vielschichtigkeit und Komplexität der Einzel- fälle eine rechtlich abschließende Bewertung oft zeit- und kostenintensiv. Die Möglichkeiten zur gütlichen Streitbeilegung sollen daher gestärkt werden. Der Ver- gleichsabschluss bietet sich als effizientes Mittel hierzu an, auch um die erhoffte Entlastung der Justiz zu errei- chen. Bisher scheitern Vergleichsabschlüsse im Musterver- fahren regelmäßig am Erfordernis der Zustimmung aller Beteiligten. Diese wird in der Praxis kaum zu erreichen sein. Zur Überwindung dieses Hindernisses sieht der Ge- setzentwurf die Möglichkeit eines gerichtlich gebilligten Vergleichs zwischen Musterkläger und Musterbeklagtem mit der Besonderheit vor, dass eine Austrittsmöglichkeit geschaffen wird. Hat das Gericht nach Anhörung aller Beteiligten den Vergleichsvorschlag umfassend geprüft und ist der Vergleich geschlossen worden, dann haben die Beteiligten – mit Ausnahme von Musterkläger und Musterbeklagtem – die Möglichkeit, innerhalb einer be- stimmten Frist aus dem Vergleich auszutreten. Damit wird die Wahrung der Interessen aller Beteiligten sicher- gestellt. Jenseits all dieser begrüßenswerten Vorschläge für die Reform des KapMuG dürfen wir jedoch auch die deutlich vernehmbaren kritischen Stimmen aus Literatur und Praxis nicht überhören. Wir müssen beispielsweise genauestens beobachten und sicherstellen, dass das Mus- terverfahren aufgrund seiner schieren Komplexität nicht zu einem „Monstrum“ mutiert und erwünschte Effektivi- täts- und Synergieeffekte untergraben werden. Auch sollten wir zumindest kritisch hinterfragen, warum in den vergangenen sieben Jahren nur eine so geringe Zahl an Musterverfahren durchgeführt worden ist, wobei nach meiner Kenntnis bisher noch keine einzige rechtskräftige Sachentscheidung in einem Musterverfahren ergangen ist. Nicht zuletzt gilt es, sprachliche Unschärfen auszu- räumen und durch präzisere Formulierungen zu ersetzen. Zudem müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie dem Umstand zu begegnen ist, dass das Kostenrisiko insbesondere dadurch immer weiter ansteigt, dass mitt- lerweile viele Rechtsschutzversicherer kapitalmarktrecht- liche Ansprüche vom Leistungsumfang ihrer Versiche- rungen ausschließen oder jedenfalls begrenzen. Im Rahmen der geplanten Sachverständigenanhö- rung werden wir uns mit derartigen Kritikpunkten und Fragestellungen noch einmal intensiv auseinandersetzen. Festzuhalten bleibt, dass die Kapitalanleger weiterhin besonderen Schutz erfahren werden und ihre Rechtsposi- tion durch die Reform des KapMuG gestärkt werden wird. Ingo Egloff (SPD): Heute diskutieren wir ein Gesetz, bei dem schon der Titel sperrig ist, das aber gleichwohl in mehrerer Hinsicht von großer Bedeutung für den Finanzplatz Deutschland ist. Einerseits soll es dem Anle- gerschutz dienen und hat damit auch verbraucherschüt- zende Wirkung, andererseits soll es die Attraktivität des Finanzplatzes und des Rechtsstandortes Deutschland stärken. 19708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) Gerade angesichts der Unsicherheit der Anleger auf- grund der Finanzkrise im Zuge der Lehman-Pleite ist es daher von großer Bedeutung, diese im Jahre 2005 ge- schaffene Regelung weiterzuführen und gleichzeitig aus der seit der Verabschiedung gewonnenen Rechtspraxis die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Deshalb begrüßt die SPD-Fraktion grundsätzlich die Vorlage die- ses Gesetzentwurfs. Wir begrüßen auch, dass der Gesetzgeber hier zumin- dest teilweise die Konsequenzen aus der inzwischen er- folgten Evaluierung des Gesetzes und seines Vollzuges in der Praxis gezogen hat. Dieses Beispiel einer meiner Meinung nach gelungenen Evaluierung sollte uns im Hinblick auf zukünftige Vorhaben veranlassen, öfter eine derartige Überprüfung zu beschließen. Aus der Anwen- dung in der Praxis und der Entwicklung der Recht- sprechung Schlüsse zu ziehen, die in den zukünftigen Gesetzgebungsprozess einfließen, macht Sinn. In der Sache selbst ist es richtig, bestimmte Irritatio- nen zu beseitigen, die durch neue unbestimmte Rechts- begriffe und deren Auslegung durch die Rechtsprechung entstanden sind. So ist die durch unterschiedliche Urteile aufgeworfene Frage, ob ein Musterverfahren mehrere Streitziele haben kann oder nur ein Generalziel, dem sich verschiedene Teilziele oder Streitpunkte unterzu- ordnen haben, jetzt durch den Gesetzgeber entschieden worden. Der Begriff Streitpunkt, der keine Wirkung in der Praxis entfalten konnte, ist durch die Feststellung, dass es mehrere Feststellungsziele im Verfahren geben kann, überflüssig und verschwindet. Es ist auch klar- gestellt worden, dass der Musterverfahrensantrag bereits mit der Anhängigkeit der Klage und nicht erst mit Recht- shängigkeit gestellt werden kann. Auch der Kritik, dass Verfahren zu lange dauern, ist Rechnung getragen worden. Eine Verwerfung des Fest- stellungsziels oder eine Teilverwerfung bei mehreren Teilzielen ist endgültig und kann nicht angefochten wer- den. Dies dient der Beschleunigung, weil Streitigkeiten in Zwischenverfahren abgeschnitten werden und Rechts- klarheit hergestellt wird. Der Rechtsschutz der Anleger wird auch nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Es bleibt der Individualprozess, in dem um Rechtsschutz nachgesucht werden kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Re- gelung in § 3 Satz 1, die für die Bekanntmachung zuläs- siger Musterverfahrensanträge und damit auch für die Entscheidung über die Zulässigkeit des Musterverfah- rensantrages eine Frist von drei Monaten als Sollvor- schrift bestimmt. Damit ist ausdrücklich klargestellt, dass ein Gericht nicht mehr den konkreten Fall fortfüh- ren kann, um zusammen mit dem späteren Urteil den Musterverfahrensantrag für unzulässig zu erklären, weil es der Entscheidung ausweichen will. Eine Fristüber- schreitung ist im Übrigen gemäß § 3 Abs. 2 zu begrün- den. In Ausnahmefällen kann das Gericht bei schwieri- ger Materie allerdings die Frist überschreiten, daher die Sollvorschrift, aber das ist auch sachgerecht. Am wichtigsten ist aber die Frage der Ausdehnung des Musterverfahrens gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 auf solche Tatbestände, in denen der Schadenersatzanspruch nicht nur auf die Verwendung von falschen öffentlichen Kapi- talmarktinformationen gestützt wird, sondern in denen vertragliche Ansprüche wegen fehlerhafter Anlagebera- tung und Vermittlung erfolgt sind. Das ist angesichts der vom BGH getroffenen Entscheidung, dass der Anspruch nicht auf vertragliche Ansprüche gestützt werden kann, eine Klarstellung und Erweiterung, die im Verbraucher- schutzinteresse notwendig ist. Zurecht war kritisiert worden, dass diese BGH-Recht- sprechung, mag sie dogmatisch aus der 2005 gefundenen Gesetzesformulierung so ableitbar gewesen sein, jeden- falls dazu führt, dass das KapMuG in der bisherigen Form dazu führt, dass Falschberatungen in Zusammen- hang mit fehlerhaften Prospektangaben nicht abgedeckt waren und insoweit nicht musterverfahrensfähig waren. Die Kritik des Bundesrates an der neuen Regelung geht meines Erachtens an der Sache vorbei. Damit sind nun- mehr auch die Fragen der erweiterten Prospekthaftung, in denen sich die Haftung aus der Verwendung eines fehlerhaften Prospektes in Zusammenhang mit einer Falschberatung ergibt, in den Bereich der Musterklage- verfahren einbezogen. Die im alten Gesetz enthaltene Vergleichsvorschrift hat sich in der Praxis nicht bewährt. Die Zustimmung al- ler Beteiligter hat sich als nicht realisierbar herausge- stellt. Deshalb ist die gefundene Lösung, dass gemäß § 17 sich Musterkläger und Musterbeklagter vergleichs- weise selbst einigen oder auf Vorschlag des Gerichts einigen, die Beigeladenen die Möglichkeit der Äußerung haben, der Vergleich erst nach Genehmigung des Ge- richts, § 18, geschlossen werden kann, dann unwiderruf- lich ist und den Beigeladenen ein Austrittsrecht, § 19, eingeräumt wird, eine Lösung, die interessengerecht ist. Damit wird die Möglichkeit verbaut, dass sich Muster- kläger und Musterbeklagter zulasten Dritter einigen, und die individuellen Rechte der Prozessbeteiligten bleiben gewahrt. Auf den ersten Blick sind hier seitens der Bundes- regierung notwendige und sinnvolle Änderungen an dem bestehenden Gesetz vorgenommen worden. Wir werden sicherlich im Zuge der Ausschussberatung uns noch aus- führlicher mit dem Evaluationsbericht befassen und auch noch über die weiteren Vorschläge der Sachverständigen diskutieren, die von der Regierung jetzt nicht berück- sichtigt worden sind. Im Interesse der Verbraucher und des Anlegerschut- zes sollten wir zügig über dieses Gesetz beraten. Denn in Zeiten krisenhafter Zuspitzung in der Euro-Zone, wo wir nach Ausführungen von Wirtschaftsforschern feststellen müssen, dass das Vertrauen in die Kapitalmärkte nicht vorhanden ist, müssen wir als Gesetzgeber dafür sorgen, dass ein Höchstmaß an Anlegerschutz realisiert wird und unlauteren Geschäftspraktiken auf allen Ebenen ein Rie- gel vorgeschoben wird. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Schon vor der Fi- nanzkrise haben viele Anlegerinnen und Anleger durch unzureichende Beratung und windige Finanzprodukte auf dem Kapitalmarkt viel Geld verloren. Verantwortli- che wurden selten zur Verantwortung gezogen, da oft- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19709 (A) (C) (D)(B) mals Zeit- und Geldaufwand für eine gerichtliche Klage unverhältnismäßig hoch waren und zu den Verlusten der einzelnen Anlegerinnen und Anleger in keinem Verhält- nis standen. Das Kapitalanleger-Musterverfahren, eingeführt im Jahr 2005, sollte ein schlagkräftiges kollektives Rechts- verfolgungsinstrument sein und dafür sorgen, dass kapi- talmarktrechtliche Vorschriften eingehalten werden. Diese abschreckende Wirkung hat es wohl verfehlt. Fal- sche Informationen und Fehlberatung sind auch heute noch zu oft anzutreffen. Eine wesentliche Ursache für fehlerhafte und unzureichende Beratung liegt in den Fi- nanzprodukten selbst begründet. Deshalb hatte die Linke bereits vor vier Jahren, Anfang 2008, einen Finanz-TÜV vorgeschlagen. Statt „alles ist erlaubt, was nicht verbo- ten ist“ fordern wir, dass in den Finanzmärkten nur das erlaubt sein soll, was auch zugelassen ist. Daher sollen, wie beim Fahrzeug-TÜV, auch beim Finanz-TÜV nur die Produkte auf den Märkten gehandelt werden dürfen, die ausdrücklich eine Zulassung erhalten haben. Diesen Paradigmenwechsel gilt es zu vollziehen. Doch was tut die Koalition? Sie vereinnahmt den Namen Finanz-TÜV und verunstaltet das Konzept bis zur Unkenntlichkeit. Ihr Finanz-TÜV soll künftig Geldanlagen in Produktka- tegorien einordnen und überprüfen, wie Anbieter den neuen Informationspflichten nachkommen. Keine Spur von Zulassungsbeschränkungen für volkswirtschaftlich schädliche Finanzprodukte. Zudem ist die dafür veran- schlagte Summe von 1,5 Millionen Euro völlig unzurei- chend, selbst für ihren Mini-TÜV. Aber der Finanz-TÜV löst nicht das Problem, wie Anlegerinnen und Anleger zu ihrem Recht kommen, wenn sie geschädigt wurden. Die Einführung des Mus- terverfahrens für das Kapitalmarktrecht und die Absicht, es dauerhaft beizubehalten, begrüßen wir. Aber die vor- liegenden Änderungen zum Musterverfahren sind noch nicht ausreichend. Mit diesem Verfahren sollte das Kostenrisiko für die Einzelnen gesenkt werden, was sich in der Praxis als Schuss in den Ofen gezeigt hat. Zwar wird in dem vor- liegenden Gesetzentwurf der zusätzliche Aufwand des Musterklägervertreters entlohnt und diese Entlohnung auf alle Kläger verteilt, aber das ändert nichts an der Tat- sache, dass viele Rechtsschutzversicherer dazu überge- gangen sind, kapitalmarktrechtliche Ansprüche vom Leistungsumfang auszunehmen oder diesen zu begren- zen. Somit bleibt das Kostenrisiko bei den Geschädigten. Auch wenn wir die Ausweitung des Musterverfahrens auf weitere Bereiche der Zivilprozessordnung begrüßen würden, fordern wir letztendlich die Umkehr der Be- weislast und die Einführung einer Sammelklage. Diese hätte den Vorteil, dass das Kostenrisiko für alle beteilig- ten Kläger geringer wäre. Für die Zukunft wäre es be- sonders zielführend, wenn Schwarz-Gelb einen wirkli- chen Finanz-TÜV einführt, der die Finanzprodukte überprüft und zulässt. So wäre sichergestellt, dass viele Klagegründe erst gar nicht entstünden. Dann wären die Gerichte wirklich entlastet. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): I. Als im Jahre 2005 die damalige rot-grüne Koalition das Ka- pitalanleger-Musterverfahrensgesetz (Bundestagsdruck- sache 15/5091) einführte, betrat sie zivilprozessuales Neuland. Vier Hauptziele sollten damit erreicht werden: die Effektivierung des individuellen Rechtsschutzes für Kapitalanleger durch Erleichterung der Geltendmachung ihrer Ansprüche, die Verbesserung der Durchsetzung ob- jektiver kapitalmarktrechtlicher Vorschriften durch Ein- führung eines schlagkräftigen kollektiven Rechtsverfol- gungsinstruments, die Entlastung der Justiz sowie die Stärkung des Justizstandorts Deutschland. Erstens. So bot vor dem Inkrafttreten des KapMuG die Zivilprozessordnung mit der Streitgenossenschaft in Fällen von Streuschäden mit vielen Geschädigten nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit einer Bündelung von Klagen. Insbesondere in diesen Fällen kommt es aber zu vergleichsweise geringen Schadensersatzsummen beim einzelnen Geschädigten, während der angerichtete Ge- samtschaden im mehrstelligen Millionenbereich liegen kann. Ein Musterverfahren nach dem KapMuG erlaubt es, das Prozesskostenrisiko der geschädigten Kapitalan- leger in den Fällen zu senken; in denen sich eine aufwen- dige Beweisaufnahme mit hohen Sachverständigenkos- ten zur Klärung komplizierter kapitalmarktrechtlicher Fragen für den Kläger im Einzelverfahren nicht lohnen würde. Zweitens. Darüber hinaus sollte das KapMuG durch Bündelung einer Vielzahl von gleichgelagerten Gerichts- verfahren die Gerichte merklich entlasten. Komplexe Tatsachen und Rechtsfragen sollten so nur noch einmal mit Bindungswirkung für alle geschädigten Anleger ge- klärt werden müssen, das heißt, es sollte nur einer Be- weisaufnahme bedürfen. Drittens. Schließlich sollte durch die Ermöglichung eines Musterklageverfahrens auch der Justizstandort Deutschland gestärkt werden. Das deutsche Prozessrecht sollte mit dem Musterverfahren modernisiert werden, um Anleger zu veranlassen, vor deutschen Gerichten zu kla- gen und nicht im Wege des sogenannten Forum Shopping auf andere Staaten in Europa oder Amerika auszuwei- chen. Damit sollte dem staatlichen Interesse Rechnung getragen werden, deutsche Kapitalmärkte durch die in- ländische Justiz zu kontrollieren und eine extraterritorial ausgreifende Gesetzgebung anderer Staaten zu verhin- dern (vergleiche Gesetzesbegründung zum KapMuG, Bundestagsdrucksache 15/5091, Seite 17). II. Um zunächst Erfahrungen mit dem Musterver- fahren sammeln und die Auswirkungen genau beobach- ten zu können, trat das KapMuG am 1. November 2005 zunächst befristet auf fünf Jahre in Kraft. Im Juli 2010 wurde die Geltung des Gesetzes bereits einmal für zwei Jahre, bis zum 31. Oktober 2012, verlängert. Wie von Beginn an vorgesehen, wurde die Wirkung des Gesetzes im Jahr 2009 im Auftrag des Bundesjustizministeriums evaluiert. Mit der Studie beauftragt waren Professor Dr. Axel Halfmeier, Professor Dr. Eberhard Feess (beide Frankfurt School of Finance & Management) und Pro- fessor Dr. Peter Rott (Universität Bremen). 19710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) Der Abschlussbericht der Evaluation wurde am 14. Oktober 2009 vorgelegt. Fazit der Studie ist, dass sich das KapMuG bereits nach wenigen Jahren der Test- phase im Grundsatz bewährt hat. Das KapMuG, so das wichtigste Ergebnis, stelle „ein neuartiges, aber insge- samt funktionsfähiges Modell der kollektiven Rechts- durchsetzung im Kapitalmarktrecht“ dar und solle „min- destens verlängert“ werden. Erstens. So konnten tatsächlich Anreize zur Geltend- machung von Ansprüchen von Kapitalanlegern geschaf- fen werden. Dennoch betrachtet hier die Evaluation die Fortschritte noch als zu gering; das Ziel einer breiten Geltendmachung von Streuschäden im Kapitalanlage- recht würde bei weitem verfehlt. Der Grund dafür wird darin gesehen, dass zwar eine Verbesserung im Prozess- kostenrisiko des Einzelnen eingetreten ist, das verblei- bende Risiko aber weiterhin zu hoch sei und die Erleich- terungen des KapMuG nicht weit genug gingen. Sicher lässt sich allerdings sagen, dass die bei Einführung der Musterverfahrensregelung befürchtete untragbare Belas- tung potenzieller Beklagter nicht ersichtlich ist. Zweitens. Nur eingeschränkt erreicht wurde eine Ent- lastung der Justiz. Laut Evaluationsbericht (Seite 87) könne eine wirklich spürbare Entlastung nur erreicht werden, wenn man von dem Erfordernis Abstand neh- men würde, dass jeder Anspruchsteller auch eine Klage im Sinne der §§ 253 ff. ZPO erheben muss. Auch bei den Möglichkeiten, ein Musterverfahren durch Vergleich ab- zuschließen und somit unter anderem die Gerichte zu entlasten, sieht der Evaluationsbericht Verbesserungsbe- darf (Seite 104 f.). Drittens. Bezüglich der Attraktivität des Justizstand- orts Deutschlands käme es zukünftig stärker auf eine Kooperation der beteiligten Justizsysteme an als auf ein „Abblocken“ ausländischer Verfahren, so der Bericht (Seite 88). Ein wirksameres und in seinen Zugangsmög- lichkeiten verbessertes KapMuG könne hier aber einen wichtigen Beitrag leisten. Insgesamt verweist der Evaluationsbericht immer wieder auf das Ergebnis der durchgeführten qualitativen Untersuchung, nach der Einigkeit darüber bestand, dass das KapMuG eine Verbesserung zum vorherigen Rechts- zustand darstelle (zum Beispiel Seite 88). Für uns Grüne bedeutet dieses Ergebnis, dass wir an dem Instrument des Musterklageverfahrens festhalten und es ausbauen wollen. Essenziell ist für uns dabei aber eine Fortentwicklung des Instruments unter Berücksich- tigung der Vorschläge des Evaluationsberichts. III. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierung geht diesbezüglich in die richtige Richtung. Doch reicht es, nach all den positiven Erfahrungen, die wir mit dem Gesetz in den letzten Jahren gemacht haben, nicht aus, einfach am alten Gesetz Nachbesserungen anzubringen. Hier ist mehr Mut und progressives Vorgehen gefragt. Erstens. So ist zu bezweifeln, dass der nun vorlie- gende Gesetzentwurf tatsächlich die notwendigen Er- leichterungen bei Eintritt in das Musterverfahren schafft, da eine Möglichkeit der einfachen Teilnahme am Mus- terverfahren vorerst nicht geschaffen wird. Hier müssen Nachbesserungen folgen. Nach wie vor muss auch jeder Anspruchssteller für sich Klage erheben, was keine weitere Entlastung der Justiz herbeiführt. Lobenswert ist, dass die Koalition mit verbesserten Vergleichsmöglichkeiten in Verbindung mit der Möglichkeit eines Ausstiegs aus dem Verfahren für Beteiligte, die sich einer getroffenen Vergleichsvereinba- rung nicht anschließen wollen, eine wichtige Verbesse- rung einführen will. Ob diese aber ausreichen wird, wer- den wir abwarten und kritisch begleiten müssen. Zweitens. Ganz generell empfiehlt der Evaluationsbe- richt eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Musterklagen auf sonstige zivilrechtliche Ansprüche und befürwortet ausdrücklich eine Aufnahme des Gesetzes in die ZPO (Seite 109). Eine solche Ausweitung – ob in der ZPO oder in einem eigenen Gesetz des kollektiven Rechtsschutzes – wird schon länger nicht mehr nur von uns Grünen gefordert. Bereits im Jahr 2005 hatte sich der Bundesrat dafür ausgesprochen (Bundestagsdrucksache 15/5091, Seite 40), und auch die Bundesrechtsanwalts- kammer hält es in ihrer „Stellungnahme zum Referenten- entwurf eines Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes“ vom September 2011 (BRAK-Stellungnahme-Nr. 55/2011) für „überdenkenswürdig“, dass der Anwendungsbereich des KapMuG nicht auch auf andere Fälle, etwa Fälle der Produkthaftung oder die Haftung für Kartellverstöße, ausgedehnt würde, da auch hier Bedarf bestünde. Warum ist die Koalition hier so zaghaft? Es gäbe nichts zu verlie- ren. Drittens. Schließlich verweist der Evaluationsbericht darauf, dass die defizitäre Rechtsdurchsetzung im Kapi- talmarktrecht nicht allein mit verfahrensrechtlichen Mit- teln zu ändern sein wird. Insbesondere die Beweislast- verteilung bei den im Anwendungsbereich des KapMuG stehenden Anspruchsgrundlagen sei problematisch. Mit dieser essenziellen Frage beschäftigt sich der vorgelegte Gesetzentwurf bedauerlicherweise nicht. Hier müssen weitere Taten folgen. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Das Kapitalanleger-Musterver- fahren ist im Jahre 2005 unter dem Eindruck des Tele- kom-Verfahrens als Instrument zur Bewältigung von Massenklagen eingeführt worden. Der Gesetzgeber hat die Geltung dieses Gesetzes zunächst auf fünf, dann auf sieben Jahre befristet. Zugleich wurde der Bundesregie- rung aufgegeben, die Wirkung des Gesetzes zu eva- luieren, um eine fundierte Entscheidung über eine unbe- fristete Geltung treffen zu können. Das Ergebnis ist eindeutig: Wir schlagen dem Deutschen Bundestag vor, die bisherige Befristung aufzuheben. Denn die Evalua- tion ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das KapMuG grundsätzlich praxistauglich ist. Allerdings ist das Ge- setz an einigen Stellen verbesserungsbedürftig. Wissen- schaft und gerichtliche Praxis sehen dies ähnlich. Daher wird der Anwendungsbereich gegenüber dem bisherigen Recht moderat erweitert und auf Rechts- streitigkeiten mit mittelbarem Bezug zu einer öffent- lichen Kapitalmarktinformation ausgedehnt. Dadurch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19711 (A) (C) (D)(B) können zukünftig auch Prozesse gegen Anlagevermittler und -berater, in denen die Richtigkeit eines Anlagepro- spekts streitig ist, in einem Musterverfahren gebündelt und einheitlich entschieden werden. Die Einbeziehung dieser Verfahren wird die Entlastungswirkung des KapMuG stärken und für eine einheitliche Entschei- dungspraxis der Gerichte in Kapitalanlagesachen sorgen. Die Justiz bedarf hier in Zeiten permanenter Finanz- und Bankenkrise unserer besonderen Unterstützung. Darüber hinaus wird der Vergleichsabschluss im Musterverfahren vereinfacht, um eine gebündelte gütli- che Beilegung von Anlegerstreitigkeiten zu fördern. Mit einem Vergleichsschluss können Hunderte von Aus- gangsverfahren erledigt werden. Dadurch wird das Mus- terverfahren für die Beteiligten attraktiver. Zugleich wird die Justiz entlastet. Aber auch im Vorfeld eines Musterverfahrens müssen wir den Zugang zum Recht für Kapitalanleger gewähr- leisten. Die meisten Kapitalanleger können weder auf eine Rechtsschutzversicherung noch auf Prozesskosten- hilfe zurückgreifen; sie sind daher darauf angewiesen, ihr Prozesskostenrisiko durch einen Zusammenschluss mit anderen Anlegern zu einer Streitgenossenschaft zu senken. Die Zivilprozessordnung gestattet es den Gerichten aber bisher ohne besondere Voraussetzungen, die gemeinsame Klage in Einzelprozesse aufzuteilen. Den Klägern wird damit ihr Kostenvorteil genommen. Der Gesetzentwurf sieht daher eine Präzisierung des § 145 ZPO vor, damit zukünftig eine Verfahrenstren- nung nur zulässig ist, wenn es dafür einen gewichtigen Grund gibt. Die einfache Teilnahme am Musterverfahren wird im Verlauf der parlamentarischen Beratungen sicherlich er- neut thematisiert werden, nachdem der Bundesrat hier Prüfungsbedarf angemeldet hat. Zusätzlich hat der Bundesrat weitere Vorschläge sowie zwei Prüfbitten for- muliert. Darüber werden wir in den Ausschussberatun- gen diskutieren. Ich begrüße aber ausdrücklich, dass der Bundesrat das neue KapMuG mit unbefristeter Geltungsdauer im Grundsatz unterstützt. In die weitere Debatte sollten wir im Übrigen europarechtliche As- pekte einbeziehen. Die Bundesregierung ist überzeugt, dass am Ende der Beratungen das neue Kapitalanleger-Musterverfahrens- gesetz den Kapitalanlegern einen effizienteren Rechts- schutz gewähren wird. Es wird daher dazu beitragen, die Wirksamkeit der kapitalen marktrechtlichen Regeln sicherzustellen. Damit wird das Vertrauen der Anleger in den Finanzmarktstandort Deutschland erhöht werden. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen (Tages- ordnungspunkt 14) Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute einen Antrag der Linken, welcher in ähnlicher Ausrichtung jüngst von den Grünen vorgelegt wurde. Ein rotgefärbter Antrag der Grünen. Zwar gibt rot und grün zusammen gelb, aber liberal ist der Antrag dann trotzdem nicht. Im Gegenteil – er ist ein weiterer Beleg dafür, dass die linke Seite dieses Hauses offenbar nur die Gängelung der Menschen im Kopf hat. Sie wollen die steuerliche Absetzbarkeit des Aufwan- des für Personenkraftwagen über einem CO2-Ausstoß von 125 Gramm reduzieren. Zusätzlich wollen Sie die Besteuerung der privaten Nutzung von Firmenwagen – die bewährte und anerkannte 1-Prozent-Regelung – für Neufahrzeuge ab 2013 abändern und an der Kohlen- dioxidemission ausrichten. Die Fraktion Die Linke im grünen Gewand. Aber ich muss Ihnen bei aller noch folgenden Kritik zugutehalten, dass Ihr Antrag überraschenderweise auf den ersten Blick nicht ganz so populistisch geprägt ist, wie die bekannten Anträge der Grünen, die das gleiche Ziel verfolgen. Auf den zweiten Blick jedoch und nach genauer Durchsicht entpuppt sich Ihr Antrag als Trojanisches Pferd. Letztendlich läuft es wieder auf eine höhere Be- steuerung von Unternehmen und Selbständigen hinaus, welche hochpreisige, vor allem deutsche Firmenwagen anschaffen und nutzen wollen. Sie sagen es ja selber, wenn auch verklausuliert, in Ihrem Antrag, dass die Be- zieher höherer Einkommen abkassiert werden sollen. Dabei müssten Sie doch eigentlich wissen, dass vor allem die von Ihnen angeführten mobilen Pflegedienste zwar oft Kleinst- und Kleinwagen, aber eben häufig auch ältere und daher verbrauchs- und emissionsinten- sive Fahrzeuge fahren. Diese kleinen Unternehmen kön- nen sich keine neue – meist teure und spritsparende – Fahrzeugflotte leisten. Sie belasten also neben den klei- nen und mittleren Unternehmen auch deren meist nicht zu den Großverdienern zählenden Arbeitnehmer, welche aufgrund ihrer Tätigkeit das Firmenfahrzeug auch privat nutzen dürfen. Auch die Abkehr vom anerkannten Bruttolistenpreis als Bemessungsgrundlage ist nicht durchdacht. Große Unternehmen mit Massenbestellungen können viel nied- rigere Anschaffungskosten beim Firmenwagen aushan- deln als die vielen kleinen Handwerksbetriebe oder die kleinen mobilen Pflegedienste. Es wäre schlicht unge- recht, wenn diese Arbeitnehmer beim gleichen Fahrzeug nicht den gleichen vermögenswerten Vorteil zu versteu- ern hätten. Das System der Absetzbarkeit von Betriebsausgaben beim Firmenwagen mit einer ökologischen Ausrichtung zu versehen, widerspricht nicht nur den Grundprinzipien unseres Steuerrechts, sondern führt auch noch zu einer immensen Komplizierung. Wir aber wollen eine Verein- fachung des deutschen Steuerrechts und keine Verkom- plizierung und haben hierzu bereits mit dem Steuerver- einfachungsgesetz erste Schritte unternommen. Weitere werden folgen. Wir wollen nicht zwei in Anschaffungspreis und Nut- zungsdauer gleiche Wirtschaftsgüter nur deshalb unter- schiedlich behandeln, weil sie sich im CO2-Ausstoß un- 19712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) terscheiden. Wir wollen keine ideologisch geprägte Ungleichbehandlung der steuerlichen Abzugsfähigkeit des Aufwandes zu anderen abnutzbaren Wirtschafts- gütern. Ungleichbehandlungen im Steuersystem führen meist zu Fehllenkungen und Fehlanreizen, die letztend- lich weder ökologisch noch wirtschaftlich sinnvoll sind. Kompliziert haben wir bereits, wir brauchen einfach. Auch bei der Abschreibung. Die Abschreibung zeichnet den jährlichen Wertverlust von Firmenvermögen nach. Dies gilt natürlich nach den jetzigen Regelungen auch für Firmenwagen. Das muss auch zukünftig so bleiben. Das System der Absetzbarkeit von Betriebsausgaben kann deshalb auch nicht mit einer ökologischen Ausrich- tung einfach abgeändert werden. Würde man diesem Vorschlag folgen, müsste man in letzter Konsequenz sämtliche Maschinen, Heizungsanla- gen etc. mit einem erhöhten CO2-Ausstoß und auch bei Gebäuden, die geltende Wärmedämmrichtwerte nicht einhalten, unterschiedlich bei der AfA behandeln. Eine vernünftige Grenze kann der Gesetzgeber hier nicht zie- hen. Das Einkommensteuerrecht sollten wir von solchen Überlegungen verschonen. Sie gehen auch von falschen Annahmen bzw. veralte- ten Zahlen aus. Die neu zugelassenen Firmenwagen kön- nen nicht für den von Ihnen behaupteten erhöhten durch- schnittlichen CO2-Ausstoß bei den neu zugelassenen Pkw verantwortlich sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Firmenwagen haben sich im Jahr 2011 im Vergleich zum Jahr 2010 um 5 Prozent und damit wesentlich stärker als bei den priva- ten Neuzulassungen mit 2,8 Prozent reduziert. Die ständige Erneuerung der Firmenfahrzeugflotte durch die Unternehmen trägt erheblich zur Reduzierung der Emissionen bei. Neue Fahrzeuge sind im Vergleich zu ihren Vorgängern meist sparsamer und auch klima- freundlicher. Im Zeitraum von 2008 bis Ende 2011 konn- ten die CO2-Emissionen von Firmenwagen um 25,1 Gramm CO2 pro Kilometer gesenkt werden. Bei den Privatfahr- zeugen ist der CO2-Ausstoß lediglich um 17,3 Gramm CO2 pro Kilometer zurückgegangen. Es gibt im Übrigen bereits jetzt bestehende Len- kungselemente hin zu einem verbrauchs- und emissions- ärmeren Fahrzeug. Größere Kraftfahrzeuge sind in der Regel aufgrund des höheren Kraftstoffverbrauchs bereits mit einer höheren Energiesteuer, bestehend aus der Mi- neralöl- und Ökosteuer, belastet. Aufgrund des größeren Hubraums werden auch regelmäßig höhere Kfz-Steuern fällig. Diese Anreize wurden mit der Umstellung der Kfz-Steuer in eine am CO2- und Schadstoffausstoß orientierte Kfz-Steuer nochmal deutlich erhöht. Die am CO2- und Schadstoffausstoß orientierte Kfz- Steuer und die Energiesteuer sind die sachnäheren und steuersystematisch besseren Lenkungselemente als die von der Fraktion Die Linke gewollte CO2-basierende Firmenwagenbesteuerung. Ich warne auch davor, den Kfz-Markt mit steuerli- chen Verkomplizierungen und letztendlich Steuererhö- hungen zu verunsichern. Denn Ihr Antrag ist nichts an- deres als eine versteckte Steuererhöhung mit Sanktions- charakter. Sie dürfen auch nicht nur an den Fahrer des Fahrzeu- ges denken, sondern müssen auch die 15 bis 20 Arbeit- nehmer berücksichtigen, die mit dem Bau dieses Fahr- zeuges ihre Familien ernähren. Die ständigen Angriffe auf die derzeit bestehende Firmenwagenbesteuerung ist nichts anderes als ein An- griff auf die deutsche Automobilindustrie mit über 750 000 Beschäftigten. Die Deutsche Automobilindus- trie investiert bereits zig Milliarden in verbrauchsarme und effizientere Fahrzeuge und im Übrigen auch in eine umweltfreundlichere Produktion. Die Fortschritte sind bemer-kenswert und weltweit anerkannt. Hören wir auf, unser Steuerrecht zu missbrauchen, und überlassen wir die Entscheidung über die Wahl des Fahrzeuges bitte den Menschen selbst. Der indirekten Verunglimpfung der deutschen Autobauer und der Gän- gelei der Autofahrer werden wir jedenfalls nicht die Hand reichen. Nicolette Kressl (SPD): In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke eine Ausrichtung der Firmen- und Dienstwagenbesteuerung an ökologischen Kriterien. Die Firmen- und Dienstwagenbesteuerung ist immer wieder Gegenstand parlamentarischer Debatten. Reformbedarf wird bei allen Parteien ausgemacht. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass die vom Verkehrssektor und insbesondere von den Personenkraft- wagen verursachten Emissionen reduziert werden müs- sen. Die in der EU-Flottenverbrauchsverordnung vorge- gebene schrittweise Reduzierung der Emissionswerte für Personenkraftwagen muss unbedingt umgesetzt werden. Nach Auffassung der SPD müssen dazu auch steuer- rechtliche Anreize zur Anschaffung verbrauchsärmerer Fahrzeuge geschaffen werden. Die Firmen- und Dienst- wagenbesteuerung muss deshalb ökologisch ausgerichtet werden. Wir dürfen es uns aber auch nicht zu einfach machen. Zunächst muss bei der Neuausrichtung der Firmenwa- genbesteuerung das im Steuerrecht geltende objektive Nettoprinzip beachtet werden. Betrieblich bzw. beruflich veranlasste Aufwendungen sind danach grundsätzlich von den Einnahmen abziehbar. Der Betriebs- bzw. Wer- bungskostenabzug kann allerdings auf die angemessenen Ausgaben beschränkt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann der Betriebsausga- benabzug außerdem aufgrund von Lenkungszwecken, wie der Reduzierung klimaschädlicher Emissionen, ein- geschränkt werden. Die steuerlichen Grundprinzipien stehen somit einer ökologischen Ausrichtung der Fir- menwagenbesteuerung nicht entgegen. Die Abzugsbe- schränkung muss aber immer durch eine zielgenaue Lenkungswirkung, das heißt eine effektive Emissions- reduzierung, gerechtfertigt sein. Bei der Firmen- und Dienstwagenbesteuerung müs- sen über die ökologischen Gesichtspunkte hinaus auch noch wirtschaftliche und soziale Belange berücksichtigt werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19713 (A) (C) (D)(B) Die Begrenzung des steuerlichen Betriebsausgaben- abzugs für Firmenwagen mit höherem Spritverbrauch muss so ausgestaltet werden, dass sie auch kleine Unter- nehmen, beispielsweise Handwerksbetriebe, nicht über- fordert. Die Einführung der emissionsbezogenen Be- schränkung des Betriebsausgabenabzugs für erstmals zugelassene Fahrzeuge erscheint mir ein gangbarer Weg zu sein. Dies würde es den Betrieben erlauben, sich bei ihren Neuanschaffungen an den strengeren Emissions- grenzen zu orientieren, und würde es ihn somit ermögli- chen, höhere Steuerbelastungen zu vermeiden. Auch bei der Dienstwagenbesteuerung müssen wir mit Augenmaß vorgehen und die Auswirkungen einer Reform auf die Dienstwagennutzer in den Blick nehmen. Fahrzeuge der Luxusklasse, die von Spitzenverdienern zum Vergnügen gefahren werden, sind die Ausnahme. Die Mehrheit der Dienstwagennutzer verfügt über ein mittleres Einkommen ist bei seiner täglichen Arbeit auf den Dienstwagen angewiesen. Eine emissionsabhängige Anhebung der Dienstwagenbesteuerung würde viele Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer empfindlich belas- ten. Diesen Aspekt berücksichtigt der Antrag der Linken immerhin. Schließlich muss die Neuausrichtung auch adminis- trierbar sein und darf zu keinen unverhältnismäßigen Bürokratiekosten führen. Durch die schrittweise Anhe- bung der Emissionsgrenzwerte entsteht bereits ein höhe- rer Verwaltungsaufwand. Im Interesse der Unternehmen, der Dienstwagennutzer und der Finanzämter müssen wir die Besteuerungsverfahren möglichst einfach ausgestal- ten. Bei der Reform der Firmen- und Dienstwagenbesteu- erung handelt es sich also um ein anspruchsvolles Unter- fangen. Wir dürfen uns dabei weder hinter den Prinzi- pien des Einkommensteuerrechts verstecken noch einseitige Interessen verfolgen. Es kommt vielmehr auf eine umfassende Abwägung der ökologischen Zielset- zung mit den wirtschaftlichen und sozialen Belangen an. Dr. Daniel Volk (FDP): Die FDP-Bundestagsfrak- tion steht für eine Umweltpolitik der Generationenge- rechtigkeit und der Innovation. Beim Klimaschutz ste- hen wir zum Ziel, die CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Im Koalitionsvertrag haben wir uns in vielen Bereichen damit durchgesetzt, marktwirt- schaftliche Elemente in der Gestaltung der Umweltpoli- tik verstärkt anzuwenden und den Unternehmen Pla- nungssicherheit durch eine verlässliche Politikgestaltung zu geben. Wir stehen für eine vernünftige Umweltpolitik ohne ideologisch verblendete Flickschusterei und einsei- tige Belastung, wie Sie es vorschlagen. Ihr Antrag ist damit nicht in Einklang zu bringen, da er das bestehende Steuerrecht nur verkompliziert und für die Menschen noch unverständlicher macht. Ebenso durchbrechen Sie mit Ihrem Antrag eine Vielzahl von steuerrechtlichen Grundprinzipien, indem Sie den Be- schäftigten vorschreiben, welche Autos sie fahren dürfen und welche nicht. Sie wollen das steuerliche Nettoprin- zip ebenso beerdigen wie jegliche steuerpolitische Ver- nunft, und dabei schaffen Sie neue bürokratische Belas- tungen sowohl für die Unternehmen als auch für die Steuerzahler. So pluralistisch unsere Gesellschaft ist, so unter- schiedlich sind auch die Bedürfnisse der Menschen. Ein Singlehaushalt kommt sicher mit einem kleinen Auto zu- recht. Eine Großfamilie hingegen benötigt schon eher ein größeres Auto oder gar einen Kleinbus. Dass diese Autos dann erheblich teurer werden und so vor allem Fa- milien belastet werden, nehmen Sie wieder einmal billi- gend in Kauf. Mit uns ist eine solche Politik aber nicht zu machen. Sie verteufeln jeden Dienstwagenfahrer als Umwelt- sünder und vergessen dabei völlig, dass der Dienstwagen mittlerweile auch im normalen Arbeitnehmermittelfeld angekommen ist. Diese Menschen denken eher praktisch und bevorzugen Modelle der Mittelklasse, die sie sich auch leisten können und die ihren familiären Bedürfnis- sen entsprechen; denn die private Nutzung müssen sie aus eigener Tasche bezahlen. Zudem verkennen Sie die Leistungen einer Branche mit mehr als 700 000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und unzähligen Auszubildenden. Die Automobilbran- che hat damit einen wichtigen Anteil am deutschen Job- wunder. Im Jahr 2010 hat die deutsche Automobilindustrie circa 20 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert, um das Fahren sicherer und umweltschonen- der zu machen. Das Ende der Entwicklung umweltscho- nender Fortbewegungsmöglichkeiten ist längst noch nicht erreicht, aber die deutsche Automobilindustrie ist auf einem guten Weg und weltweit in vielen Bereichen als Innovationsführer geschätzt. Ihr Antrag würde nicht nur dem Wirtschafts- und Innovationsstandort Deutsch- land erheblich schaden, er würde auch den Unternehmen dringend benötigte Liquidität entziehen. Für die CO2-Reduzierung gehen wir Liberale einen anderen Weg, zum Beispiel mit der von uns eingeleiteten Liberalisierung des Busfernverkehrs. Wir werden damit insbesondere mittelständischen Unternehmern neue Chancen und Wettbewerbsmöglichkeiten eröffnen. Das wird außerdem zu vielfältigeren Angeboten und günsti- geren Alternativen für die Kunden führen. Sie können sich künftig – ohne staatliche Bevormundung – frei zwi- schen Bahn und Bus entscheiden. Diese Öffnung im Fernbusverkehr haben wir Liberale angestoßen, und wir haben lange dafür gekämpft. Wir unterstützen mit dem Gesetz den Umstieg vom Auto zum Bus. Der Bus wird damit zu einer echten Alterna- tive zum Auto. Positive Effekte auf die vollen Autobah- nen und den CO2-Ausstoß sollten nur einige Folgen da- von sein. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Wenn es uns in Deutschland gelingen soll, bis zum Jahre 2020 den CO2- Ausstoß um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, so sind vielfältige Maßnahmen nötig. Die Veränderung der steuerlichen Behandlung der Firmenwagen ist dafür ein wichtiger Baustein. Gerade im Verkehrssektor steigt der absolute Ausstoß von Emissionen an. Firmenwagen ha- 19714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) ben daran einen großen Anteil. Während noch 1995 der Anteil der Firmenwagen 38 Prozent betrug, waren es 2008 bereits 60 Prozent, Tendenz weiter steigend. Somit ist es entscheidend, welche Pkw von den Fir- men eingekauft und gefahren werden. Bei 77 Prozent al- ler im Jahre 2008 neu zugelassenen Fahrzeuge lag der durchschnittliche Emissionswert über 200 Gramm CO2 pro Kilometer. Diese Entwicklung ist eindeutig das Er- gebnis fehlerhafter steuerlicher Anreize, und diese gilt es zu beseitigen. Aktuell existieren keine verbindlichen Li- mits für den abzugsfähigen Aufwand von Firmenwagen. Die Kosten für diese Fehlentwicklung zahlen letztlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. So darf das nicht weitergehen, hier müssen wir umsteuern. Von uns und den Grünen liegen ja bereits Vorschläge auf dem Tisch, wie die Firmenwagenbesteuerung ausse- hen könnte. In einigen Punkten, wie zum Beispiel der Wirkung der Heranziehung der Anschaffungskosten bzw. des Listenpreises, steckt aber noch Diskussionsbe- darf. Offene Fragen sollten wir ausführlich und unter Umwelt- sowie Anreizgesichtspunkten in der Anhörung mit Experten und Expertinnen diskutieren und gegebe- nenfalls Änderungen vornehmen. Notwendig ist daher erstens, die Ansetzung der Kos- ten für einen Firmenwagen CO2-abhängig zu gestalten. Zweitens ist die sogenannte 1-Prozent-Regelung neu auszugestalten und ebenfalls vom CO2-Ausstoß abhän- gig zu machen. Hier müsste unserer Meinung nach eine Differenzierung bei der Besteuerung des geldwerten Vorteils stattfinden. Im Vergleich mit dem Antrag der Grünen haben wir bei der 1-Prozent-Regelung eine so- ziale Komponente eingefügt, indem wir Kleinwagen mit geringem CO2-Ausstoß besserstellen wollen. Denn Kleinwagen werden insbesondere in der mobilen Alten- pflege genutzt. Die Grenzwerte im Grünen-Antrag fin- den wir daher zu ambitioniert, denn nahezu alle derzeit vorhandenen Firmenwagen erfüllen nicht den zum 1. Ja- nuar 2013 geforderten Grenzwert. Wir müssen aufpas- sen, dass wir die Unternehmen nicht überfordern. Ge- rade im Beruf der Altenpflege, den ich ansprach, wird man nicht einfach so eine Erneuerung der Firmenwagen- flotte vornehmen können. Der dortige Firmenwagen ist unserer Meinung auch nicht als Privileg anzusehen, son- dern eher als Ausgleich für die schlechte Entlohnung. Meine Damen und Herren von der Koalition, geben Sie endlich Ihre Blockadehaltung gegenüber einer Neu- regelung der steuerlichen Behandlung der Firmenwagen auf. Unsere Vorschläge sind letztlich auch eine Chance für den Autostandort Deutschland, weil durch ihre Umset- zung die Nachfrage nach ökologisch verträglichen Per- sonenkraftwagen mit geringerem CO2-Ausstoß massiv steigen würde. Somit dürfte es sich auch für die Auto- mobilindustrie lohnen, konsequenter und schneller ge- nau solche Autos zu produzieren. Innovationen sind stets wachstumsfördernd. Schauen Sie sich nur an, wie viele Arbeitsplätze in den letzten Jahren in diesem Bereich entstanden sind. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Dienst- wagenprivileg abbauen und Besteuerung CO2-effizient ausrichten“, so lautet der Titel des Antrags, den ich vor sechs Wochen für meine Fraktion eingebracht habe. „Wirksame Anreize für klimafreundliche Firmenwagen“ – so lautet der Titel Ihres Antrags. Das klingt erst mal gut. Ich freue mich, dass damit zumindest die Überschrift Ihres Antrags unserem Anliegen entspricht. Da hören die Gemeinsamkeiten dann allerdings auch schon auf. Denn wenn man sich Ihre Forderungen genau anguckt, dann kann man eigentlich nicht glauben, dass Sie diesen Vor- schlag ernst meinen. Sollte die Regierung Ihren Antrag tatsächlich umsetzen, dann wäre es eine Katastrophe für die Klimapolitik im Verkehrsbereich und dazu eine völ- lig absurde und unfaire Ausweitung des Dienstwagenpri- vilegs. Das Verwirrende ist: In der Begründung Ihres Antrags treffen Sie durchaus den Kern des Problems. Sie schrei- ben: „In der Europäischen Union darf der neu zugelas- sene Fuhrpark ab 2020 im Durchschnitt nicht mehr als 95 Gramm CO2 pro Kilometer verbrauchen.“ Zum Ver- gleich: Die deutsche Neuwagenflotte ist heute mit 151 Gramm CO2 je Kilometer noch weit von diesem Zielwert entfernt. Sie schreiben weiter, dass dieses Ziel eigentlich nicht ausreicht, und dass die Umweltverbände sogar einen Flottenwert von 80 Gramm im Jahr 2020 befürworten. Auch hier sage ich: Ja, genau. Das ist auch unsere Position. Darauf aufbauend haben wir auch unse- ren Antrag geschrieben, weil wir überzeugt sind, dass man mit unserem Vorschlag für die Änderung der Dienstwagenbesteuerung das Ziel erreicht. Doch das, was Sie hier vorlegen, das passt vorne und hinten nicht zusammen. Wenn ich mir Ihren Vorschlag genauer anschaue, bekomme ich den Eindruck, dass Sie sich beim Antragschreiben auf dem Taschenrechner ver- tippt haben. Sie wollen, dass der geldwerte Vorteil, also der Pau- schalbetrag, den ein Angestellter versteuern muss, weil er von seiner Arbeitgeberin einen Dienstwagen gestellt bekommt, nicht mehr nach dem Listenpreis des Autos berechnet werden soll, sondern nach den tatsächlichen Anschaffungskosten. Darüber kann man reden, da durch die heute gültige Regelung die Anschaffung von Gebrauchtwagen als Dienstwagen benachteiligt wird. Doch dazu muss Ihnen auch klar sein: Kein Neu- wagen wird zum Listenpreis des Herstellers verkauft. Experten gehen davon aus, dass der tatsächliche Ver- kaufspreis von Neuwagen ungefähr 20 Prozent unter dem Listenpreis liegt, den der Hersteller empfiehlt. Um die Besteuerung des geldwerten Vorteils auf dem glei- chen Niveau wie heute zu halten, muss dieser Schritt also unbedingt mit einer Anhebung des Prozentsatzes bei der sogenannten 1-Prozent-Regel verbunden wer- den. Wenn also der tatsächliche Anschaffungspreis 20 Prozent unter dem Listenpreis liegt, müsste man aus der 1-Prozent-Regel eine 1,25-Prozent-Regel machen, um die private Nutzung von Neuwagen genauso zu besteuern, wie es heute der Fall ist. Sie aber schlagen genau das Gegenteil vor: Sie wollen die 1-Prozent-Regel zu einer 0,9-Prozent-Regel machen. Rechnet man Ihren Vorschlag sauber zu Ende, so führt das zu einem absurden Ergebnis: Wer von seiner Arbeit- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19715 (A) (C) (D)(B) geberin einen Dienstwagen gestellt bekommt, der 151 Gramm CO2 pro Kilometer ausstößt, der muss bis 2020 Jahr für Jahr weniger Steuern für die Nutzung des Dienstwagens bezahlen als heute. 151 Gramm CO2 pro Kilometer, wir erinnern uns, entspricht den Durch- schnittsemissionen der heutigen Dienstwagenflotte. Ein Audi A6 etwa pustet heute so viel CO2 in die Luft. Meine Damen und Herren von der Linken, das ist ganz klarer umweltpolitischer Unsinn. Wie wollen Sie mit solchen Regeln erreichen, dass der durchschnittliche Emissionswert in acht Jahren, also 2020, bei 80 Gramm pro Kilometer liegt? Dazu ist Ihr Vorschlag natürlich auch völlig unfair. Schon heute genießen Dienstwagenfahrer große Privile- gien gegenüber ihren Kollegen, die ihren Autokauf und die Kosten für Sprit, Versicherung und Reparaturen von ihrem Nettogehalt bezahlen müssen. Denn das Mehr an Steuern für den geldwerten Vorteil wiegt die realen Kos- ten, die ein Auto verursacht, nie auf. Ihr Vorschlag führt also dazu, dass das Fahren eines spritfressenden Audi A6 dauerhaft noch stärker subventioniert würde als bis- her. Die Obleute des Finanzausschusses haben in der letz- ten Woche vereinbart, noch vor der Sommerpause ein Fachgespräch zur Besteuerung von Dienst- und Firmen- wagen zu veranstalten. Ich glaube, dass dieser Ent- schluss sehr sinnvoll war. Denn „Wirksame Anreize für klimafreundliche Fir- menwagen“ – das wollen wir auch. Ob man das mit Ihrem Antrag erreichen kann, darüber sollten wir uns dann nochmal genau unterhalten. Zur Vorbereitung emp- fehle ich Ihnen die Lektüre unseres Antrags zur Reform der Dienstwagenbesteuerung. Denn im Gegensatz zu Ihrem Antrag hält bei uns der Titel das, was er ver- spricht. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Forschung und Produktentwicklung für ver- nachlässigte und armutsassoziierte Erkran- kungen stärken – Das Menschenrecht auf Gesundheit umset- zen – Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Anette Hübinger (CDU/CSU): Wir stellen heute ein Thema in den Mittelpunkt unserer Debatte, dessen Aus- wirkungen auf die Weltbevölkerung noch immer in wei- ten Teilen – innerhalb und außerhalb Deutschlands – un- terschätzt werden. Ich spreche von den sogenannten tropischen und armutsassoziierten Krankheiten. Auf den ersten Blick haben die Schlagworte „tropisch“ und „armutsassoziiert“ nichts mit uns zu tun. Schaut man aber über den eigenen – deutschen – Tellerrand hinaus, wird schnell deutlich: Es handelt sich um ein internatio- nal drängendes Problem! Mehr als 1 Milliarde Men- schen weltweit leiden oder sterben an Krankheiten wie der afrikanischen Schlafkrankheit, an Chagas, an Leish- maniose oder dem Dengue-Fieber, um nur vier zu nen- nen. In die Begrifflichkeit müssen aber auch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose mit aufgenommen werden, da die Forschung zum großen Teil nicht den besonderen Herausforderungen und Anforderungen an die Behand- lung der Erkrankten in Entwicklungs- und Schwellenlän- dern Rechnung trägt. Diese Krankheiten werden aber noch mit einem wei- teren Adjektiv in Verbindung gebracht. Man bezeichnet sie als vernachlässigte Krankheiten. Vernachlässigt des- halb, weil sich die Forschung diesen Krankheiten wenig widmet und weil demzufolge gar keine Medikamente, keine tropengeeigneten Medikamente oder keine Medi- kamente zu einem erschwinglichen Preis auf dem Markt sind. Der Grund hierfür ist die Armut der Betroffenen! Wo kein Geld zu verdienen ist, da halten sich die For- schungsanstrengungen von privaten Pharmaherstellern sehr in Grenzen. Dieser Umstand kann und darf uns nicht gleichgültig sein! Vielmehr sind wir aufgefordert, unser Wissen und unsere Fähigkeiten in den Dienst dieser Menschen zu stellen. Wir müssen dies aus humanitärer Verantwortung tun, aber auch damit diese Krankheiten und ihre Folgen nicht zum Entwicklungshemmnis für die Menschen und für die Länder, in denen sie leben, werden. Staatliches Engagement ist gefragt. Dieser Herausforderung stellen wir uns heute erneut mit unserem Antrag. Wir betreten damit nicht gänzliches Neuland, sondern wollen unsere Anstrengungen forcieren, um unserer Verantwortung für die globale Gesundheit auch gerecht zu werden. Klar ist angesichts einer solch großen Herausforde- rung, dass das deutsche Engagement nicht alle Probleme allein wird schultern können. Wir brauchen Partner. Das heißt, wir müssen mit anderen Ländern zusammenarbei- ten, wir müssen die Pharmafirmen mit ins Boot holen und wir müssen private Initiativen – ein prominentes Beispiel ist auf diesem Gebiet die Bill & Melinda Gates Stiftung – einbinden. Eine sehr interessante Kooperationsform sind die so- genannten Produktentwicklungspartnerschaften, abge- kürzt PDP. PDP sind nichtprofitorientierte Organisatio- nen, die Diagnostika, Impfstoffe oder Medikamente zur Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziier- ten Krankheiten entwickeln und – ganz wichtig – kosten- günstig in Entwicklungs- und Schwellenländern zum Einsatz bringen. In PDP fließen privates, staatliches und unternehmerisches Engagement zusammen, und genau das wollen wir. Die Bundesregierung hat schon früh erkannt, dass dies ein sehr erfolgversprechender Weg zur Eindäm- mung von vernachlässigten, tropischen und armutsasso- ziierten Krankheiten ist und unterstützt diesen innovati- ven Forschungs- und Produktentwicklungsansatz. Die christlich-liberale Koalition begrüßt daher, dass für den Zeitraum von 2011 bis 2015 eine Summe in Höhe von 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wird. Um die- 19716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) sem Anliegen Nachdruck zu verleihen, haben wir den Titelansatz für das Jahr 2011 um weitere 2 Millionen Euro erhöht. Das Engagement der Bundesregierung zielt dabei auf die Medikamentenentwicklungen gegen die Afrikani- sche Schlafkrankheit, gegen Viszerale Leishmaniose, die Chagas-Krankheit und Wurmerkrankungen sowie auf die Entwicklung einer Diagnostikplattform für vier para- sitäre Erkrankungen – Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria – und auf die Ent- wicklung eines Malariaimpfstoffes für Schwangere. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass 22 Millionen Euro finanzielle Unterstützung von PDP im internationa- len Vergleich keine riesige Hausnummer darstellen und das nur ein Anfang sein kann. Aber genau das ist der springende Punkt. Wir befinden uns am Anfang eines – hoffentlich gemeinsamen – Weges. Deshalb war es vonseiten der Bundesregierung genau die richtige Entscheidung, einen abgrenzbaren und somit besser sichtbaren Bereich auszuwählen und dort gezielt Forschung zu unterstützen. Den Fokus auf die Errei- chung der Millenniumsentwicklungsziele 4 – Verringe- rung der Kindersterblichkeit – und 5 – Verringerung der Müttersterblichkeit – zu legen, ist somit ein guter wie auch wichtiger Anfang. Für uns als christlich-liberale Koalition ist klar: Wenn sich die finanzielle Unterstützung der ausgewählten PDPs bewährt, wollen wir den jetzigen Ansatz weiter- entwickeln. Für eine neue Förderrunde nach 2015 darf es dann auch keine Denkverbote hinsichtlich der Einbezie- hung von HIV/Aids und Tuberkulose geben. Mit unserem Antrag streben wir für die zweite För- derrunde, die nach meiner Meinung kommen muss, eine höhere Förderung an. Dafür werde ich mich einsetzen. Im Gegensatz zu allen Oppositionsparteien hier im Hause tragen wir als christlich-liberale Koalition eine große Verantwortung für den Bundeshaushalt. So sehr wir für die Bekämpfung vernachlässigter und armuts- assoziierter Krankheiten „brennen“, können wir dennoch keine Fantasiesummen fordern. Das sagen wir ehrlich. Aber wir sagen auch, dass auf das einmal Zugesagte auch Verlass sein muss. Das deutsche Engagement im Bereich vernachlässigte Krankheiten geht über PDP hinaus. Es reicht von der Grundlagenforschung an deutschen Universitäten über die deutsche Beteiligung an der europäisch-afrikani- schen Initiative EDCTP, European and Developing Countries Clinical Trials Partnership, bis hin zur Verbes- serung der medizinischen Versorgung vor Ort durch Maßnahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit. Unser Antrag zielt darauf, dieses Engagement der Bundesregierung zu verstetigen und das deutsche Enga- gement im Bereich der globalen Gesundheit auszubauen. Dabei kommt es darauf an, ein ausgewogenes Verhältnis von Grundlagenforschung zu der Unterstützung von pro- duktorientierter Forschung sicherzustellen, wobei auch Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern zu forcieren sind. Wir wollen, dass Förderstrategien künftig so ausge- richtet sind, dass erfolgversprechende Produkte konse- quent bis zur breiten Anwendung in der Krankenversor- gung entwickelt werden; denn wir wollen, dass den Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern geholfen wird. Ihr Schicksal und ihre Chancen auf Ent- wicklung sind eng mit unserem eigenen Schicksal ver- bunden. Ich freue mich auf den politischen Diskurs über das Thema im Laufe des anstehenden parlamentarischen Be- ratungsverfahrens. Ich denke, in dem verfolgten Ziel ha- ben wir eine breite Übereinstimmung. Diese brauchen wir auch, um das Thema zukünftig noch mehr voranzu- bringen. René Röspel (SPD): Rückblickend kann festgestellt werden, dass die sogenannten vernachlässigten Krank- heiten – bzw. die Erforschung von Behandlungsmöglich- keiten derselben – nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Politik in der Vergangenheit nur wenig Be- achtung gefunden haben. Umso erfreulicher ist es, dass sich nach vielen Jahren der Untätigkeit nun endlich die Politik des Themas angenommen und es im parlamenta- rischen Raum Berücksichtigung gefunden hat. Aller- dings wäre es wünschenswert, wenn das Thema auch im Plenum seine angemessene Wertschätzung finden würde: Mit Bedauern ist festzustellen, dass nicht nur am heutigen Tag, sondern zum wiederholten Mal die De- batte zu diesem Thema nicht im Plenum geführt wird, sondern zu Protokoll geht. Es sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob eine echte parlamentarische Wertschät- zung dieses Themas – und letztlich der Respekt für die Menschen, die von diesen Krankheiten betroffen sind – nicht einen angemesseneren Umgang im Plenumsbetrieb erfordert? Der vorliegende, von den Koalitionsfraktionen einge- brachte Antrag verweist auf die Potenziale von Produkt- partnerschaften – sogenannte PDP – bei der Bekämp- fung der vernachlässigten Krankheiten. Leider muss mit Bedauern festgestellt werden, dass sich der Antrag im Wesentlichen auf Tatsachenbeschreibungen bzw. die Wiedergabe der derzeitigen Situation beschränkt. Der Appell nach einer Ausweitung der Förderung bzw. einer künftigen Fortführung derselben wird leider nicht mit der Forderung nach der Bereitstellung von konkreten Haushaltsmitteln für dieses Vorhaben unterfüttert. Zwar wird ein Mittelaufwuchs in den „kommenden Jahren“ angestrebt. Allerdings wird weder der Zeithorizont noch die notwendige Höhe dieses Mittelaufwuchses spezifi- ziert. Dies ist enttäuschend, zumal man von einem An- trag der Legislative doch erwarten könnte, dass er an die Exekutive konkrete Forderungen stellt. Ebenfalls merkwürdig ist die Forderung, dass PDP im Bereich der „Diagnose oder Behandlung“ der vernach- lässigten Krankheiten gefördert werden sollen. Ist dies nicht per se Sinn und Zweck dieses Förderprogramms? Aber nicht nur das: Der Antrag weist noch weitere Forderungen auf, deren Sinnhaftigkeit sich dem geneig- ten Leser nur schwer erschließt. So wird etwa unter Punkt 10 gefordert, dass „die nationale Förderung im Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19717 (A) (C) (D)(B) Bereich der Grundlagenforschung, präklinischen For- schung und der klinischen Forschung fortzusetzen“ sei. Droht diesen Formen der Forschung in Deutschland ein Ende? Und wenn ja, dann sei an dieser Stelle die (diabo- lische) Frage erlaubt, was denn die Alternative zu diesen Formen der Forschung im Gesundheitsbereich sein soll. Nach meinem Kenntnisstand hat es die moderne Medi- zin und Gesundheitsforschung bisher nicht geschafft, auf einem anderen Wege Behandlungsmöglichkeiten für er- krankte Patienten bereitzustellen. Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass ein Teil des Forderungskatalogs nicht konsistent ist: So wird in Forderung Nr. 5 explizit darauf verwiesen, dass bei der Förderung von PDP ein „ausgewogenes Verhältnis von Grundlagenforschung“ und „produktorientierter For- schung“ anzustreben ist. Doch schon in Forderung Nr. 6 findet sich der Verweis, dass bei der Unterstützung von PDP die „bedarfsorientierte […] Entwicklung […] von Medikamenten im Vordergrund“ stehen soll. Da fragt sich selbst der wohlgesonnene Leser „Was denn nun?“. Ausgewogene Grundlagenforschung oder doch eine schnelle und output- bzw. bedarfsorientierte Anwen- dungsforschung? Wie eine leere Hülse wirkt der in Nr. 11 gestellte Ap- pell, die „Wissensbasis für die Verbesserung der medizi- nischen Versorgung in den Schwellen- und Entwick- lungsländern zu verbreitern“. Stellt sich nur die Frage, wessen Wissensbasis verbreitert werden soll. Die uns- rige zu den Verhältnissen vor Ort, oder die in den Ziel- ländern? Lobend sei an dieser Stelle der Tatendrang der Forde- rungen Nr. 12 und 13 erwähnt. Hier wird vollmundig zu Capacity-Building-Maßnahmen aufgerufen. Eine solche Forderung lässt sich stets leicht aufstellen. Wenn man es jedoch ernst meint, dann muss dafür auch zusätzliches Geld bereitgestellt werden. Es ist fraglich, wie nachhal- tige und substanzielle Maßnahmen zur Steigerung der Forschungskapazitäten in den betroffenen Zielländern geschaffen werden sollen, wenn für das jährliche Ge- samtbudget der PDP-Förderung nur 5 Millionen Euro veranschlagt sind. Zudem bleibt offen, wie viel von die- sem Geld tatsächlich in den Zielländern ankommen soll. Weiterhin wäre es wünschenswert, wenn geplante Maß- nahmen im Bereich des Capacity Building – deren Wichtigkeit hier nicht infrage gestellt wird – nicht auf Kosten des PDP-Forschungsbudgets gehen würden. Bei- des, gute Forschung und nachhaltige Strukturen in den betroffenen Zielländern, sind nur durch adäquate Finanz- mittel erreichbar. Inhaltliche Qualität beruht auch in die- sem Fall maßgeblich auf finanzieller Quantität. Der Appell, die klinische Forschung der „Großen Drei“, also HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose über die EDCTP-Initiative weiter voranzutreiben, ist redlich. Wa- rum setzt man sich aber vonseiten der Regierung nicht auf europäischer Ebene dafür ein, dass künftig auch die klinische Forschung für andere vernachlässigte Krank- heiten über dieses Finanzierungsinstrument gefördert wird? Es wäre doch wünschenswert, wenn die Bekämp- fung der vernachlässigten Krankheiten in den Entwick- lungsländern nicht nur eine nationale, sondern auch eine europäische Aufgabe wird, zumal es auf europäischer Ebene bereits erfolgversprechende Finanzierungsinstru- mente gibt. Unter Nr. 16 wird die Forderung nach einer künftigen Fortführung der PDP-Förderung von einer positiven Evaluation der ersten Förderrunde abhängig gemacht. Zwar ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass förderpoliti- sches Handeln sich einer kritischen Prüfung zu stellen hat. Allerdings sollte man doch erwarten können, dass diejenigen, die die Forderung nach einer „positiven Eva- luation“ stellen, auch spezifizieren können, was über- haupt Gegenstand einer solchen Evaluation sein soll. Soll bei einem solchen Begutachtungsverfahren die Grundlagenforschung oder die anwendungsorientierte Entwicklung von Medikamenten im Fokus stehen? Oder etwa das Vergabeverfahren des BMBF selbst? In letzte- rem Fall wäre es zu begrüßen, wenn das Schicksal der PDP nicht von der Leistungsfähigkeit des Ministeriums und seinen Projektträgern abhängig gemacht wird. Denn dies wäre eine unsachgemäße Bewertung eines an sich positiven Ansatzes. In der Gesamtschau wird deutlich, dass der vorlie- gende Antrag einer grundlegenden Überarbeitung be- darf. Eine vernünftige und nachhaltige Förderpolitik für PDP braucht ein klares Bekenntnis der Politik, welches sich auch in der Bereitstellung adäquater Haushaltsmittel widerspiegelt. Wenn die Exekutive es nicht vermag, diese Mittel in angemessenem Maße bereitzustellen, dann muss es die Aufgabe des Parlamentes mit seiner Haushaltshoheit sein, dies mit Nachdruck einzufordern. Leider vermag der vorliegende Antrag der Koalitions- fraktionen dies nicht. Deshalb werden wir nicht zustim- men. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Wir sprechen heute über zwei Anträge, bei denen ich viel Übereinstimmung erkenne. Das ist gerade bei diesem Thema außerordent- lich erfreulich. Es gibt Übereinstimmung bei den Zie- len: In beiden Anträgen geht es darum, die Millen- niumsentwicklungsziele im Auge zu behalten und sich ihnen anzunähern. Es gibt Übereinstimmung in der Beurteilung des Istzustandes: Beide Anträge konstatie- ren, dass die Krankheiten, um die es hier geht, durch Armut verursacht werden und ihrerseits wiederum die Ursache für Armut sind. Die Krankheiten sind teilweise behandelbar und wären in vielen Fällen vermeidbar, wenn, ja wenn die Lebensumstände der betroffenen Menschen andere wären. Beide Anträge beleuchten auch das Problem der sogenannten Großen Drei, HIV/ Aids, Malaria und Tuberkulose, die von der Welt- gesundheitsorganisation nicht zu den 17 vernachlässig- ten Tropenkrankheiten gezählt werden, die aber ohne Zweifel armutsassoziiert sind und gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern sehr oft tödlich verlaufen. Selbst bei den vorgeschlagenen Maßnahmen gibt es viel Übereinstimmung: Es gilt, Forschungs- und Versor- gungslücken zu schließen, und dazu können Produktent- wicklungspartnerschaften, PDP, beitragen. Ich freue mich sehr darüber, dass auch im Antrag der Opposition die Förderung von Produktentwicklungspart- 19718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) nerschaften eine große Rolle spielt und dass dieses neue Instrument bei den Forderungen der Grünen gleich an erster Stelle platziert ist. Wir Koalitionsfraktionen stel- len für den ersten Förderzeitraum 20 Millionen Euro für PDP zur Verfügung. Die Grünen fordern 100 Millionen Euro – aber dafür sind sie ja auch in der Opposition und müssen nicht sagen, woher das Geld kommen soll. Umso erfreulicher ist, finde ich, dass die Bundes- regierung sich bereits für drei Organisationen entschie- den hat, die PDP organisieren und dafür Förderung erhalten sollen, nämlich für die Drugs for Neglected Diseases, DNDi – diese Organisation entwickelt Medi- kamente gegen die Afrikanische Schlafkrankheit, Vis- zerale Leishmaniose, die Chagas-Krankheit und gegen Wurmerkrankungen –, die Foundation for Innovative New Diagnostics, FIND – hier wird eine Diagnoseplatt- form für die vier parasitären Erkrankungen Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria ent- wickelt – und die European Vaccine Initiative, EVI – diese Initiative entwickelt einen Malariaimpfstoff für Schwangere. Wenn diese Ansätze erfolgreich sind, wer- den in absehbarer Zeit Medikamente und Impfstoffe für die Betroffenen nicht nur zur Verfügung stehen, sondern auch erreichbar und zugänglich sein. Das wäre ein gro- ßer Schritt in die richtige Richtung. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es natürlich auch ein paar Unterschiede zwischen dem Antrag der Koalitionsfraktionen und dem Antrag der Grünen gibt. Das zeigt sich schon in den Überschriften. Bei den Grünen geht es um die ganz großen Ziele, das Menschenrecht auf Gesundheit und den weltweiten Zugang zu Medikamen- ten. Da kommt unser Anliegen sehr viel bescheidener daher: Wir fangen klein an und wollen – nur – Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armuts- assoziierte Erkrankungen stärken. Damit haben wir aber bereits angefangen, und wir haben für verschiedene Maßnahmen die Mittel auch bereitgestellt. Es könnte sein, dass das für die betroffenen Menschen in den Ent- wicklungs- und Schwellenländern ein nicht unerheb- licher Unterschied, ja sogar der entscheidende Vorteil ist. Es stimmt, dass die Armen dieser Welt nur über geringe Kaufkraft verfügen und deshalb für die Pharma- industrie keinen besonders interessanten Markt darstel- len. Die Grünen meinen, da müssten Zwangsmaßnah- men ergriffen werden, die allerdings – das sehen sie durchaus realistisch – schwer durchsetzbar seien. Wir Liberalen sind da pragmatisch. Wir sind der Meinung: Wenn die Pharmaindustrie sich auf Medikamente kon- zentriert, mit denen sich Gewinne erzielen lassen, ist das nicht irgendwie verwerflich, sondern das ist marktwirt- schaftlich erfolgreiches Handeln. Wenn wir Politiker erreichen wollen, dass auch ver- nachlässigte Krankheiten erforscht und Behandlungen ermöglicht werden, wo keine Gewinne zu erwarten sind, dann müssen wir Anreize schaffen. Das BMBF schafft solche Anreize, indem es die Entwicklung von Produk- ten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von ver- nachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten för- dert und unterstützt – mit bis zu 28 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis 2014. Wenn Sie meinen, dass das viel zu wenig ist, haben Sie sicher recht. Aber wir haben leider nicht die Mög- lichkeit, alles zu finanzieren, was erforderlich und wün- schenswert wäre. Dass die Bundesregierung in diesen Zeiten dennoch so viel Geld lockermacht, um kranken Menschen in armen Ländern zu helfen, verdient Aner- kennung. Wir glauben nicht, dass Zwangsmaßnahmen zum Erfolg führen. Die Politik ist für die politischen Ziele zuständig. Und wenn die Bundesregierung ein Förder- programm startet, um ihre politischen Ziele zu verfolgen und in diesem Fall die Bekämpfung von vernachlässig- ten und armutsassoziierten Krankheiten zu unterstützen, dann finden wir das richtig und leisten als Abgeordnete unseren Beitrag dazu, dass die ergriffenen Maßnahmen zum Erfolg führen. Deshalb möchte ich bis in die Reihen der Grünen hinein dafür werben, den Antrag der Koali- tionsfraktionen zu unterstützen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Koalition hat ge- kreißt und einen Zwerg geboren. Den „Forschungszwerg Deutschland“ nämlich. So bezeichnet die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ unser Land nach einer Analyse der deutschen Forschungsförderung zu vernachlässigten und armutsbedingten Krankheiten. Die Bundesregierung hat sich in den vergangenen Jahren zaghaft diesem Thema genähert und eine erste Initiative etwa zur Förderung von Produktentwicklungs- partnerschaften mit NGOs und Industrie gestartet. Lang hat es gedauert, und ohne den Druck von uns und den anderen Oppositionsfraktionen wäre wohl gar nichts passiert. Diese begonnenen Maßnahmen sollen nun, so der Koalitionsantrag, verstetigt werden. Das ist gut und unterstützenswert, reicht aber angesichts der Problemdi- mension längst nicht aus. Der Forschungsreport von „Ärzte ohne Grenzen“ kommt denn auch in seiner Analyse zu einem ernüch- ternden Ergebnis, ich zitiere: Die Steigerung der Mittel ist zunächst einmal durchaus erfreulich, jedoch belegt sie leider keinen Politikwechsel. Sie liegen lediglich im Rahmen der derzeitigen Wachstumsraten der Forschungsaus- gaben in Deutschland. Diese Einschätzung lässt sich an Beispielen verdeutli- chen. Die neue Förderung für die Produktentwicklungspart- nerschaften etwa haben wir Linke immer unterstützt. „Ärzte ohne Grenzen“ lobt sie ebenfalls, stellt die 22 Millionen Euro für vier Jahre bis 2014 aber auch ins Verhältnis zu den 70 Millionen Euro, die etwa die Nie- derlande für diesen Zeitraum zur Verfügung stellen. Für die Tuberkuloseforschung gab Deutschland 2009 inklusive der EU-Mittel etwa 15 Millionen Euro aus, die USA hingegen 181 Millionen, Großbritannien immer noch 33,2 Millionen. Der deutsche Beitrag zur Bekämpfung vernachlässig- ter Krankheiten steht in keinem Verhältnis zu unserer Wirtschaftskraft. Selbst das Niedrigsteuerland USA Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19719 (A) (C) (D)(B) wendet gemessen am Bruttoinlandsprodukt zehnmal mehr auf! Vom europäischen Ziel, bis 2015 0,7 Prozent des BIP zur Förderung der Entwicklungszusammenar- beit auszugeben, ist unser Land weit entfernt. Auch bei den nichtmonetären Maßnahmen bleibt die Koalition hinter dem Notwendigen zurück. Zum Um- gang mit Patenten und anderen Wissensgütern, die in der Forschung erarbeitet werden, finden wir keine Aussage im Koalitionsantrag. Meine Fraktion hat vorgeschlagen, internationale Patentpools zu unterstützen sowie eine gerechte Lizenzpolitik zur verbindlichen Voraussetzung einer öffentlichen Förderung zu machen. Wir haben Sie aufgefordert, EU-Handelsabkommen wie etwa ACTA oder das EU-Indien-Abkommen nicht zu unterzeichnen, wenn der Zugang zu Medikamenten dadurch beeinträch- tigt werden könnte. Leider steht diese Regierung weiter zu ACTA. Wir wollen ärmere Länder beim Aufbau einer eigenen Generikaproduktion unterstützen. Auch zu dieser Frage haben Sie leider keine Antwort gegeben. So sehr ich das Engagement einzelner Kolleginnen, etwa von Frau Hübinger, auch schätze: diese Koalition tut nicht genug, um ihren Anteil zur Bekämpfung ver- nachlässigter und armutsbedingter Krankheiten beizutra- gen. Wir werden Ihren Antrag nicht ablehnen, aber um vom Forschungszwerg zum Forschungsriesen zu wer- den, müssen Sie nicht nur Schwerpünktchen, sondern ei- nen echten Schwerpunkt setzen. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Recht auf Gesundheit ist ein Menschenrecht. Dennoch haben etwa 1,7 Milliarden Menschen keinen Zugang zu essenziellen Medikamenten. Krankheiten haben ernstzunehmende sozioökonomische Auswirkungen und blockieren eine positive gesellschaftli- che Transformation. Einerseits sind viele Krankheiten in Entwicklungs- und Schwellenländern armutsbedingt, an- dererseits fördern Krankheiten Armut, die nicht nur die Erkrankten und deren Familien trifft, sondern gesamtge- sellschaftliche negative Auswirkungen hat. Diese Erkenntnis ist zwar ziemlich banal – es hat aber in der Entwicklungspolitik sehr lange Zeit gebraucht, bis diese so erkannt und konkret verankert wurde. Erst im Jahr 2000 wurde das Gesundheitsproblem durch die Millenniumsentwicklungsziele als eine zentrale Größe der Entwicklungszusammenarbeit definiert. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir auch wirklich das Mögliche in unserem Wirkungskreis tun, um dem berechtigten Ge- sundheitsbedürfnis der Menschen in Entwicklungslän- dern gerecht zu werden. Bei der Versorgung mit medizi- nischen Produkten gibt es mehrere Problembereiche, die wir in unserem Verantwortungsbereich hier in Deutsch- land und Europa lösen müssen. Ich möchte an dieser Stelle vor allem zwei Aspekte herausgreifen. Um den Zugang zu den notwendigen Präventions- mitteln, Impfstoffen, Diagnostika und Medikamenten wesentlich zu verbessern, muss sowohl die Forschungs- als auch die Versorgungslücke weitgehend geschlossen werden. Das heißt, dass wir einerseits die Forschungs- agenda an den Bedürfnissen der Menschen in Ländern des Südens ausrichten müssen und die öffentliche For- schungsförderung für vernachlässigte und armutsbe- dingte Krankheiten auf nationaler wie auf europäischer Ebene deutlich ausbauen und neue Forschungsförde- rungsmechanismen prüfen und implementieren müssen. Andererseits müssen wir die Versorgung der armen Bevölkerung mit bereits existierenden medizinischen Produkten ermöglichen. Der Gesundheitsbereich ist aber ein von Gewinnstreben dominierter Billionenmarkt. Hohe Medikamentenpreise schließen viele Menschen in Entwicklungsländern vom Zugang aus. Besonders im Umgang mit geistigem Eigentum brauchen wir ein Umdenken und eine faire Lizenzpolitik. Die Hälfte der Gelder im Bereich der medizinischen Forschung kommt weltweit aus staatlichen Mitteln. Hieraus ergibt sich eine klare gesellschaftliche Verantwortung, die wir nicht weiter ignorieren dürfen. Öffentlich finanzierte For- schungsförderung muss zukünftig mit sozialen Kriterien verknüpft werden, um im Sinne einer gerechten Lizenz- politik auch Menschen in ärmeren Ländern erleichterten Zugang zu Medikamenten, Impfstoffen und anderen medizinischen Produkten zu ermöglichen. Wir müssen auch endlich zu einer kohärenten Politik im Gesundheitsbereich kommen. Es ist aber völlig inko- härent, wenn wir einerseits versuchen, vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit das Menschenrecht auf Gesundheit zu verwirklichen, und gleichzeitig über bila- terale Freihandelsverträge alles getan wird, die Privile- gien der Pharmaindustrie nicht nur zu erhalten, sondern sogar mit den sogenannten TRIPS-Plus-Bestimmungen auszuweiten. Diese gehen über die international verein- barten Standards zu geistigem Eigentum hinaus und schränken gravierend die Schutzklauseln ein. Dies ist nicht nur inkohärent, sondern eine Missachtung des Menschenrechts auf Gesundheit. In unserem Antrag versuchen wir, gerade diese Punkte aufzuzeigen, und stellen entsprechende Forde- rungen. Der Antrag der Koalition enthält zwar viele gute Forderungen, die wir selbstverständlich auch unterstüt- zen. Aber ein Problem gibt es mit Ihrem Antrag: Er ist nicht ganz glaubwürdig. Wenn Sie es aber ernst mit den 17 Forderungen meinten, dann würden Sie auch klar sa- gen, dass diese nicht umsonst zu erhalten sind. Ich sehe keine einzige konkrete finanzielle Forderung in Ihrem Papier. Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sind in der Entwicklungspolitik aber nun mal zentrale Elemente. Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Wir beraten heute zwei Anträge, die sich demselben Ziel widmen: dem Kampf gegen armutsassoziierte und vernachlässigte Erkrankungen. Ich freue mich besonders, dass beide Anträge anerkennen, dass unsere Politik eine Basis ge- schaffen hat, auf der aufgebaut werden kann und die es weiterzuentwickeln gilt. Mit dem Förderkonzept für vernachlässigte und ar- mutsassoziierte Erkrankungen und der Verankerung im Gesundheitsforschungsprogramm hat diese Bundesre- gierung zum ersten Mal Forschung für die Gesundheit 19720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 (A) (C) (D)(B) der Ärmsten in der Welt zum Regierungsziel erhoben. Die Elemente des Forschungskonzepts sind erstens Stär- kung der relevanten nationalen Forschung, zweitens ein substanzieller Beitrag zur Entwicklung dringend benö- tigter Diagnostika, Impfstoffe und Medikamente und drittens Unterstützung von qualitativ hochwertiger und wettbewerbsfähiger Gesundheitsforschung in den Ent- wicklungsländern selbst. Armutsassoziierte und vernachlässigte Erkrankungen – das sind zwei Kategorien, die immer im selben Atemzug genannt werden, aber doch Unterschiede aufweisen. Armut schränkt den Zugang zu Gesundheitsleistungen dramatisch ein. Das gilt weltweit, nicht nur in Entwick- lungsländern. Deshalb sind die „Großen Drei“ – HIV/ Aids, Tuberkulose und Malaria – immer noch tödliche Seuchen und bleiben große Herausforderungen, trotz ih- rer relativen Behandelbarkeit und trotz beträchtlicher Forschungsmittel, die zu ihrer Bekämpfung aufgewandt werden. Dagegen sind Krankheiten wie viele Wurm- erkrankungen, Dengue-Fieber oder die Chagas-Krank- heit tatsächlich vernachlässigt. Für ihre Behandlung feh- len häufig adäquate Behandlungsmöglichkeiten, und Forschung findet wegen mangelnder Relevanz für die entwickelten Länder nicht oder kaum statt. In unserem Förderkonzept differenzieren wir deshalb auch zwischen den „Großen Drei“ und den „vernachläs- sigten“ Krankheiten. Forschung zu den „Großen Drei“, vor allem zu HIV und TB, unterstützt die Bundesregie- rung seit langem. Mit dem geplanten Deutschen Zen- trum für Infektionskrankheiten werden wir hier ein neues Kapitel aufschlagen. Das Zentrum wird voraus- sichtlich Ende des Monats seine letzte Evaluation durch- laufen haben. Es setzt seinen Schwerpunkt gerade in die Erforschung von HIV, TB und Malaria im Armutskon- text. Wir vereinen hier die namhaftesten deutschen uni- versitären und außeruniversitären Forschungsstandorte. So sorgen wir dafür, dass der Transfer von Forschungs- ergebnissen zum Nutzen für die Patienten beschleunigt wird. Partnerinstitutionen des Deutschen Zentrums für Infektionskrankheiten, zum Beispiel in Tansania, Bur- kina Faso oder Gabun, garantieren, dass auch die Ent- wicklungsländer unmittelbar an der Forschung partizi- pieren können. Der Kampf gegen HIV, TB und Malaria steht im Fo- kus eines weiteren wichtigen Elementes unseres Förder- konzepts. Das ist der deutsche Beitrag zur EDCTP, der European and Developing Countries Clinical Trials Part- nership. EDCTP ist ein Erfolgsmodell für die klinische Forschung in und mit Entwicklungsländern. Vor allem ist es ein Erfolgsmodell für eine wirkliche partnerschaft- liche Zusammenarbeit von Forschern aus armen mit For- schern aus reichen Ländern. Deutschland war maßgeblich an der Gründung von EDCTP im Jahre 2003 beteiligt. Unser stetes Bekenntnis zu EDCTP hat dieser wertvollen Initiative über die ers- ten schweren Jahre geholfen. Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass EDCTP im neuen europäi- schen Programm für Forschung und Innovation eine wichtige Rolle spielt. EDCTP II wird – so sieht es nach heutigem Planungsstand aus – mit deutlich mehr Geld die klinische Entwicklung von Medikamenten und Impf- stoffen gegen die „Großen Drei“ weiter vorantreiben. EDCTP II wird aber auch seine Erfahrung und seine Ka- pazitäten zukünftig dem Kampf gegen andere vernach- lässigte Erkrankungen zur Verfügung stellen. Eine Ihrer Forderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, haben wir also bereits erfüllen können. Zum ersten Mal geht eine Bundesregierung auch den Kampf gegen die „echten“ vernachlässigten Erkrankun- gen, wie etwa Flussblindheit, Afrikanische Schlafkrank- heit oder Leishmaniose, programmatisch und gezielt an. Wir haben hier die nationale Forschungsförderung er- heblich intensiviert. Vor allem haben wir mit der ersten großvolumigen Unterstützung von Produktentwick- lungspartnerschaften oder PDP klare Zeichen gesetzt. In einem qualitätsgesicherten Verfahren wurden zunächst 20 Millionen Euro für vier Jahre zur Verfügung gestellt. Wenn jetzt Forderungen erhoben werden, sofort erheb- lich mehr Mittel bereitzustellen, dann sage ich: Gemach! Erst einmal müssen wir Erfahrungen mit dieser für uns neuen Förderlinie sammeln. Dann werden wir entschei- den, wie viele zusätzliche Mittel für welche PDP inves- tiert werden müssen. Wir beraten uns mit anderen wich- tigen Förderern, wie der Bill & Melinda Gates Stiftung oder anderen Geberländern, im Rahmen der multilatera- len PDP-Funders Group oder bilateral mit den Gebern, die eine ähnliche Förderpolitik wie wir verfolgen, wie zum Beispiel den Niederlanden. Eins aber ist jetzt schon sicher: Auch mit den von Bündnis 90/Die Grünen gefor- derten 100 Millionen Euro würden wir nicht großflächig alle Produktentwicklungspartnerschaften unterstützten können. Wir müssen gezielt dort ansetzen, wo wir mit unserer Unterstützung den größtmöglichen Nutzen erzie- len können. Eine Vorfestlegung schon jetzt auf Krank- heiten oder bestimmte Produkte hilft nicht weiter. Investitionen in Forschung in den Entwicklungslän- dern sind der Schlüssel für eine nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn wir dabei helfen, in den armen Län- dern wettbewerbsfähige Forschungsstrukturen der Bio- medizin aufzubauen, wenn wir weiter dabei helfen, For- schung besser in die Ausbildung von Ärzten und medizinischen Fachberufen zu integrieren, wenn wir uns dafür einsetzen, die Forschung direkt und schnell nutz- bar für die Versorgung vor Ort zu machen, erst dann ver- folgen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Genau dies wer- den wir mit der geplanten Förderung von sogenannten Gesundheitsforschungsnetzen in Subsahara-Afrika tun. Wir haben dieses neue Element unseres Förderkonzepts mit internationalen Stakeholdern beraten. Alle deutschen Förderorganisationen sind eingeladen, hier mitzuma- chen. In Kürze werden wir mit afrikanischen Organisa- tionen und Institutionen die wichtigsten Bedürfnisse vor Ort herausarbeiten. Unsere Förderung wird 2013 begin- nen. Wir planen, ab 2014 hierzu bis zu 10 Millionen Euro jährlich zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregierung hat in recht kurzer Zeit viel be- wirkt. Forschung für armutsbedingte und vernachläs- sigte Erkrankungen ist – im Gegensatz zu früher – kein unbeschriebenes Blatt mehr in der deutschen For- schungspolitik. Wir können uns, auch international, mit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19721 (A) (C) (D)(B) dem sehen lassen, was wir bewirkt haben. Auf diesem Weg werden wir weitergehen, und zwar gemeinsam und auf Augenhöhe mit unseren Partnern in den betroffenen Ländern. Deutschland ist im Hinblick auf seine Gesundheits- versorgung eines der privilegiertesten Länder der Welt. Deshalb ist es uns Verpflichtung, einen substanziellen und nachhaltigen Beitrag für diejenigen zu leisten, für deren Krankheiten aufgrund von Armut bis heute oft we- der Diagnostika noch Therapieverfahren zur Verfügung stehen. Forschung ist dafür der beste Weg. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westli- chen Balkans (Tagesordnungspunkt 16) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Vor fast genau 13 Jahren haben Sie dem völkerrechtswidrigen Angriffs- krieg auf Jugoslawien ihre Zustimmung gegeben. Da- mals haben Sie Ihre Zustimmung zum Krieg sogar perfi- derweise mit der Gefahr eines „neuen Auschwitz“ begründet. Das war unerträglich und widerlich. In Ihrem nun zur europäischen Integration der daraus hervorge- gangenen Länder und Entitäten vorgelegten Antrag for- dern Sie – nur von Serbien, wohlgemerkt – eine weitere „Auseinandersetzung mit dem Zerfall Jugoslawiens“. Vielleicht sollten Sie sich selbst einmal damit auseinan- dersetzen, was Sie mit Ihrer Zustimmung zum NATO- Bombardement auf Jugoslawien zu diesem „Zerfall“ bei- getragen haben. Und vielleicht sollten Sie sich auch ein- mal damit auseinandersetzen, was Ihre Politik der Unter- stützung von Rebellen- und Separatistenbewegungen je nach Interessenlage für Folgen hat. Sie von den Grünen, besonders Frau Beck, sehen keine deutsche Verantwor- tung, keine Schuld. Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der deutschen Anerkennungspolitik gegenüber Kroatien und Slowenien, dem NATO-Überfall auf Jugo- slawien und der Herauslösung des Kosovo und den an- schließenden Konflikten in Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, dem Georgien-Krieg 2008 und den Kon- flikten im Südkaukasus, die kurz vor der Explosion ste- hen. In Ihrem Antrag fordern Sie, meine Damen und Herren der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, auf dem Balkan noch genau eine Grenze zu ziehen. Dieser Grenzposten zwischen Serbien und dem Kosovo wird gerade alltäglich von deutschen Soldaten und Polizisten gegen den Widerstand der im Norden des Kosovo ansäs- sigen Bevölkerung durchgesetzt. Es kommt Tränengas zum Einsatz, und manchmal wird scharf geschossen. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass diese Grenze völkerrechts- widrig auch von den Staaten der EU anerkannt wird, die aufgrund eigener sezessionistischer Bestrebungen wis- sen, was das bedeutet. Das ist eine im wahren Sinne des Wortes imperialistische Politik. Diese Art des Rechtsni- hilismus in der internationalen Politik legt die Axt an die Wurzel des friedlichen Zusammenlebens weltweit. Das müssen Sie endlich einmal einsehen. Ich fordere Sie auf: Kehren Sie endlich um auf diesem Weg! Kehren Sie zu- rück zum Völkerrecht! Es ist beinahe traurig, dass nur noch die Linke im Bundestag als einzige Fraktion für eine völkerrechtskonforme Außenpolitik steht. Diese Politik der neuen Grenzziehungen setzt sich bei Ihnen gerade so in Afrika fort – und hat auch dort schreckliche Folgen. Sie erkennen keinen Zusammen- hang zwischen der Zerschlagung Jugoslawiens und den zunehmend sezessionistischen Bestrebungen der SPLM/A im Sudan. Ihre Kollegin im EP, Franziska Brantner, ließ sich vor diesem Hintergrund zu der Aussage hinreißen, man solle doch einmal die alten Kolonialgrenzen in Afrika „überdenken“. Sehen Sie denn nicht die Folgen dieser Politik? Afrika erlebt eine neue Welle gewaltsa- mer Sezessionsbestrebungen, in Somalia wurde ein neuer Staat Khatumo ausgerufen; infolge des Libyen- Krieges wollen Tuareg-Kämpfer das Azawad von Mali abtrennen. Die Rebellen in Libyen selbst, die Sie unter- stützt und anerkannt haben wollten, haben vor wenigen Tagen die Unabhängigkeit der Cyrenaika erklärt, und ge- genwärtig eskalieren auch wieder die Kämpfe zwischen der senegalesischen Armee und den Casamance-Rebel- len. Die EU-Außenpolitik nutzt diese Instabilität, indem sie wahlweise mit Rebellen, Sezessionisten oder Dikta- toren zusammenarbeitet, um möglichst billig an Roh- stoffe heranzukommen. Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, laufen ihr dabei applaudierend und von Menschenrechten faselnd hinterher. Entsprechend stili- sieren Sie in Ihrem Antrag auch die EU zur „historischen Errungenschaft“ und fordern deren weiteren Umbau nach den Prinzipien des Imperialismus: Die Beitrittsstaa- ten – allen voran wird immer Serbien genannt – sollen Kriterien erfüllen, die innerhalb der EU längst für obso- let erklärt worden sind. Sie fordern „erhebliche Anstren- gungen“ zur „wirtschaftlichen Transformation“ und schweigen zu den gesellschaftlichen Zerwürfnissen, die diese neoliberalen Reformprogramme mit sich bringen. Selbst wenn die Staaten des westlichen Balkans eines Tages in die EU aufgenommen werden sollten, sollen sie nicht dieselben Rechte haben wie die alten, „zentralen“ Staaten der EU. Sie sollen weitere Beitritte nicht „blo- ckieren“ dürfen. Die Linke lehnt eine solche Politik der doppelten Standards ab. In Wirklichkeit zielt Ihr Antrag darauf ab, diese mili- tärisch herbeigebombten Kleinstaaten dauerhaft als voll- wertige Mitglieder aus der EU herauszuhalten. Die vor- geschlagenen Maßnahmen zur Verhinderung von „Un- gleichzeitigkeiten der Länder bei der Annäherung“, ge- meinsame „Übergangsregelungen“, werden ein willkom- menes Werkzeug sein, diese Staaten – auch bei Erfüllung aller Kriterien – in einer peripheren Partnerschaft außen vor zu lassen. Auch aus diesem Grund lehnt die Linke den vorgelegten Antrag ab. Eine friedliche und solidarische Außenpolitik ist in Deutschland möglich. 165. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3Gleichstellungspolitik TOP 4Energiewende TOP 31Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 32Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 2Wahl zum Deutschen Ethikrat ZP 3Aktuelle Stunde zu Zivilcourage gegen Nazis TOP 5Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz TOP 6Musikförderung durch den Bund TOP 7Rohstoffderivatemärkte TOP 8Erhalt der Arbeitsplätze bei Schlecker TOP 9Deutsches Ressourceneffizienzprogramm TOP 10Hochschulzulassung TOP 11Gemeindefinanzreformgesetz TOP 12Sicherungsverwahrung TOP 13Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz TOP 14Klimafreundlichere Firmenwagen TOP 15Bekämpfung armutsassoziierter Erkrankungen TOP 16Integration der Länder des westlichen Balkans TOP 17Strafverfolgungsinformationsaustauch in der EU TOP 18Vertragsgesetze über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich TOP 19Patientenschutz bei der genetischen Forschung TOP 20Diplomatische Beziehungen zu Palästina TOP 21Kooperation in Bildung und Forschung TOP 22Sozialgesetzbuch IX –Fristenregelungen– TOP 23Überwachung von Mitgliedern des Bundestages TOP 24Private Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare TOP 25Recycling von Elektroschrott Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716500000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle ganz besonders herzlich.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Alle?)


– Alle, ausnahmslos, selbstverständlich. Wir können ja
einmal sehen, ob es noch Anlässe für besonders ausge-
suchte Begrüßungen gibt.

Jedenfalls müssen wir vor Eintritt in die Tagesord-
nung noch eine Wahl durchführen, weil der Kollege
Korte aus dem Kuratorium der „Stiftung Archiv der
Parteien und Massenorganisationen der DDR“ aus-
scheidet. Auf Vorschlag der Fraktion Die Linke soll als
neues ordentliches Mitglied der Kollege Stefan Liebich
berufen werden. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu? –
Das ist der Fall. Dann ist der Kollege in das Kuratorium
der Stiftung gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD

Tarifeinheit sicherstellen – Tarifzersplitterung
vermeiden

(siehe 164. Sitzung)


ZP 2 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benen-
nenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats
gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes

– Drucksache 17/8881 –

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE

Zivilcourage gegen Nazis stärken

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Ich mache wie immer auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der am 1. März 2012 (162. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur Mit-
beratung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Hochqualifizierten-Richtlinie der
Europäischen Union
– Drucksache 17/8682 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offen-
sichtlich so. Dann ist das so beschlossen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis f:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

Geschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf

– Drucksache 17/8879 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleichberechtigung in Entwicklungsländern
voranbringen

– Drucksache 17/8903 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Anerkennung und Wiedergutmachung des
Leids der „Trostfrauen“
– Drucksache 17/8789 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Frauen verdienen mehr – Entgeltdiskriminie-
rung von Frauen verhindern
– Drucksache 17/8897 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Erster Gleichstellungsbericht

Neue Wege – Gleiche Chancen
Gleichstellung von Frauen und Männern im
Lebensverlauf
– Drucksache 17/6240 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring,
Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE

Geschlechtergerechte Besetzung von Füh-
rungspositionen der Wirtschaft
– Drucksachen 17/4842, 17/8830 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Bundesministerin Dr. Kristina Schröder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
vergangene Jahr war in mehrfacher Hinsicht ein wichti-
ges Jahr für Frauen. In Deutschland ging es dabei vor al-
len Dingen um die Frage, wie wir mehr Frauen Chancen
auf Führungspositionen eröffnen können. Wir haben hart
um den besten Weg gerungen, und wir werden auch wei-
terhin darum ringen. Ich denke, die unterschiedlichen
Positionen dabei sind klar; da müssen und da werden wir
auch nicht drum herumreden.

Wir können heute wieder vor allen Dingen darüber re-
den, was alles nicht geht. Besser wäre es, in den Mittel-
punkt zu stellen, was möglich ist.


(Zuruf von der SPD: Na, dann man zu! – Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])


Und da stellen wir fest: Allein durch die Debatten, die
wir, auch in diesem Parlament, immer wieder geführt ha-
ben, ist in den Unternehmen eine Menge in Bewegung
gekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Oh Gott, wenn das eine Menge ist!)


Wenn ich mit den Personalvorständen der DAX 30
spreche, dann sagen die mir etwa, dass ihr Wort heute in-
nerhalb des Unternehmens ein ganz anderes Gewicht hat
als noch vor wenigen Jahren. Vor kurzem wurden sie
noch belächelt, wenn sie zum Thema Frauenförderung
gesprochen haben. Heute werden die Personalvorstände
um Strategien gebeten.

Die Flexiquoten für alle Führungsebenen unter dem
Vorstand, die durch die DAX 30 im Jahr 2011 eingeführt
wurden, waren ein wichtiger Schritt in Richtung faire
Chancen. Leider haben diesen Fortschritt nur wenige ge-
würdigt. Viele haben sich über die Zielmarken sogar lus-
tig gemacht. Damit sind sie genau denjenigen in den Rü-
cken gefallen, die in den Unternehmen den Wandel
gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dabei ist es doch viel schwieriger, den Frauenanteil in
allen Führungsebenen auf 25 Prozent zu erhöhen als
zum Beispiel nur im Vorstand, der vielleicht nur vier
Köpfe umfasst. 25 Prozent von 500 hilft mehr Frauen als
25 Prozent von 4.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sage ich: Wir dürfen hier keine reine Elitendis-
kussion führen, sondern es geht um faire Chancen für
alle Frauen in Führungspositionen.

Meine Damen und Herren, ein wichtiges Jahr für
Frauen war das vergangene Jahr aber auch außerhalb
Deutschlands. Vor gut einem Jahr begann in Tunesien
das, was wir heute arabischer Frühling nennen. Fast
überall kämpfen Frauen in vorderster Reihe für Freiheit,
Teilhabe und Demokratie.





Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)



(Zurufe der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie weiterer Abgeordneter vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/ CSU]: Lassen Sie doch einmal eine Frau ausreden!)


– Wenn Sie das erheiternd finden, finde ich das interes-
sant. – Sie riefen über Facebook und Twitter zu Demon-
strationen auf. Sie prangerten in ihren Blogs gesell-
schaftliche Missstände an. Sie gingen genauso wie
Männer für ihre Rechte auf die Straße. Sie ließen sich
nicht einschüchtern von Gewalt und Terror. Sie spürten,
dass es auf ihre Kraft ankommt im Ringen um gesell-
schaftlichen Fortschritt.

Ich war deshalb gestern anlässlich des Weltfrauenta-
ges gemeinsam mit Abgeordneten in Tunesien. Wir wa-
ren in Tunesien, um uns selbst ein Bild von den Entwick-
lungen zu machen; denn ich bin überzeugt: Wenn Frauen
in der arabischen Welt es schaffen, ihre Rechte durchzu-
setzen, dann ist das ein Signal für Frauen in der ganzen
Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Warum schaffen Sie das nicht?)


Der letzte Friedensnobelpreis ging an drei Frauen, die
in ihren Ländern die Gesellschaft verändert haben. Das-
selbe Selbstbewusstsein, dieselbe Kraft habe ich gestern
in Tunesien gespürt. Wir haben aber auch Skepsis und
Ängste gespürt, das Gewonnene wieder zu verlieren
oder sogar einen Rückschritt zu erleben.


(Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Es spricht für sich, wie Sie darauf reagieren, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe mit Präsident Marzouki gesprochen, der we-
gen seines Engagements für Freiheitsrechte jahrelang im
Exil lebte. Ich habe mit weiblichen Mitgliedern der ver-
fassunggebenden Versammlung gesprochen, die hart da-
rum ringen, ob die Scharia tragender Teil der Verfassung
wird. Ich habe mit Frauenrechtlerinnen gesprochen, die
seit den 80er-Jahren fordern, dass Frauenrechte vorbe-
haltlos gelten. Und ich habe jungen Bloggerinnen zuge-
hört. Diese jungen Frauen haben mit ihren Tastaturen
eine Diktatur erschüttert und sturmreif geschrieben. Jetzt
wollen diese Frauen ihr Land mit gleichen Rechten und
guten Chancen in einer freien Demokratie aufbauen.
Diese Frage stellt sich in vielen Ländern, gerade auch
am Internationalen Frauentag. Deutschland steht hinter
all den Frauen in der Welt, die sich in ihren Ländern für
Gleichberechtigung, für Demokratie und für Menschen-
rechte einsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was macht Deutschland selbst? – Zurufe von der SPD)


Auch in Deutschland ist Gleichberechtigung der
Frauen noch nicht überall verwirklicht, obwohl sie seit
über 60 Jahren im Grundgesetz steht. Doch ihre Veran-
kerung im Grundgesetz hat es ermöglicht, über Jahr-
zehnte hinweg kontinuierlich an ihrer Verwirklichung zu
arbeiten. Ohne dieses permanente Ringen um Gleichbe-
rechtigung wäre es um Wohlstand, um Zusammenhalt,
um Demokratie in unserer Gesellschaft sicherlich sehr
viel schlechter bestellt.

Ich denke, die Botschaft, die am heutigen Internatio-
nalen Frauentag von Deutschland ausgehen sollte, lautet:
kein gesellschaftlicher Fortschritt ohne faire Chancen für
Männer und Frauen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja peinlich! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das war alles? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Das ist doch nicht zu fassen! – Caren Marks [SPD]: Wo ist der Inhalt?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716500100

Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Ziegler für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1716500200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Das war’s also von unserer Frauen-
ministerin!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Nicht-Frauenministerin! – Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wo ist denn der Fraktionsvorsitzende?)


– Unser Fraktionsvorsitzender ist hier im Raum.


(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Ich meinte Sie gar nicht, ich meinte so mehr links!)


Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir Gleichstel-
lungspolitikerinnen hier im Deutschen Bundestag eben-
falls über dieses Thema, nämlich den Internationalen
Frauentag, diskutiert. Damals war es der 100. Frauentag,
den wir hier im Plenum gewürdigt haben – über alle
Fraktionsgrenzen hinweg. Wir alle waren uns einig: Wir
müssen Frauenrechte auch heute noch erkämpfen – also
im Gegensatz zur Ministerin, die das nicht tut –, weil sie
uns nicht in den Schoß fallen.

Was hat sich denn in dem einen Jahr getan? Nichts!
Die Bundesregierung hat das wichtige Feld der Gleich-
stellungspolitik völlig brachliegen lassen. Wir sind von
einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer die glei-
chen Verwirklichungschancen haben, ebenso weit ent-
fernt wie 2011. Die Probleme kennen wir alle. Der
Gleichstellungsbericht, auf den sich die Ministerin ei-





Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)


genartigerweise überhaupt nicht bezogen hat, der aber
Grundlage der heutigen aktuellen Debatte ist,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Peinlich, peinlich, Frau Ministerin!)


führt uns diese Defizite kompakt und schmerzlich vor
Augen. Die Rahmenbedingungen für Frauen stimmen
nicht, und das gilt für alle Bereiche.

„Menschen müssen essen, aber Frauen deshalb nicht
kochen“, hat einmal eine feministische Journalistin ge-
sagt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das lässt sich beliebig fortsetzen: Familien müssen bes-
ser finanziell unterstützt werden, aber Frauen deshalb
nicht von Erwerbsarbeit ferngehalten werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Männer müssen gerechten Lohn bekommen, aber Frauen
deshalb nicht mit Niedriglöhnen und Minijobs abge-
speist werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unternehmen müssen rentabel arbeiten, aber Frauen des-
halb nicht systematisch von Führungsfunktionen abge-
halten werden.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, im Gegenteil!)


Frauen sind in Deutschland strukturell benachteiligt.
Das Unbehagen darüber wächst aber – unter uns Abge-
ordneten hier im Bundestag, aber auch in weiten Teilen
der Gesellschaft. Es vergeht mittlerweile kaum eine Wo-
che, in der nicht ein gleichstellungspolitisches Thema
die Schlagzeilen bestimmt:

Am 26. Februar hatten 250 Journalistinnen ihre meist
männlichen Chefs mit der Forderung nach einer Frauen-
quote für Führungsfunktionen in Verlagen und Redaktio-
nen konfrontiert.

Am 1. März hat das Gremium, das die Bundeskanzle-
rin in Sachen Forschung und Innovation berät, die Ab-
schaffung des Ehegattensplittings und den Verzicht auf
das Betreuungsgeld angemahnt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Am 5. März hat die EU-Kommissarin Viviane Reding
eine EU-weite Frauenquote in Aussicht gestellt, weil
Freiwilligkeit nichts oder so gut wie nichts gebracht hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die einen sehen den Innovationsstandort Deutschland
in Gefahr, wenn Fachkräfte fehlen. Sie wollen deshalb
den Schatz heben, den die vielen Millionen Frauen dar-
stellen, die trotz vielfach guter Ausbildung nicht oder
nicht in vollem Umfang erwerbstätig sind. Die anderen
wollen endlich das Versprechen unserer Demokratie auf
gleiche Lebenschancen unabhängig vom Geschlecht ein-
lösen. Die Motive mögen also unterschiedlich sein; einig
sind sich aber fast alle über den Weg: Wir brauchen eine
aktive staatliche Gleichstellungspolitik. Wir brauchen
gesetzliche Lösungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur die Bundesregierung sieht das nicht. Es ist wie im
Märchen von Frau Holle: Gesetzliche Regelungen hän-
gen wie eine überreife Frucht am Baum und rufen unse-
rer Ministerin Schröder zu: „Ach, schüttel mich, ach,
schüttel mich, wir sind lange überfällig!“ Doch unsere
Ministerin verschließt Augen und Ohren und geht belei-
digt am Baum vorbei.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die schüttelt nicht! Das ist die Pechmarie!)


Schlimm ist, dass Sie diesen Realitätsverlust mit fata-
len politischen Fehlentscheidungen kombinieren. Sie
lassen nicht vom Betreuungsgeld, obwohl alle Stimmen
vehement vor diesem Instrument warnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Statt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, will
Ministerin von der Leyen den Irrweg Minijobs sogar
noch ausweiten.


(Zuruf von der SPD: Unglaublich!)


Die Bundeskanzlerin schaut dem Treiben desinteressiert
zu. Sie lässt sich viel lieber in Europa hofieren, als zu
Hause die Kärrnerarbeit zu machen.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion hat die Kärrnerarbeit gemacht. Wir
haben überzeugende und umsetzbare Konzepte entwi-
ckelt. Wir haben Antworten, um beim Kitaausbau
Tempo zu machen. Wir stehen für einen gesetzlichen
Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro. Wir haben In-
strumente entwickelt, mit denen in Betrieben gleiche
Löhne von Frauen und Männern verwirklicht werden
können – gesetzlich und verbindlich. Und morgen wer-
den wir hier einen Gesetzentwurf für eine 40-Prozent-
Quote in Aufsichtsräten und Vorständen debattieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich könnte Ihnen, Frau Ministerin, jetzt zurufen: Grei-
fen Sie doch unsere Konzepte einfach auf und setzen Sie
sie um!


(Beifall bei der SPD)






Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)


Wir alle wissen: Das werden Sie nicht tun. Ihnen, Frau
Ministerin, könnte ich auch zurufen: Machen Sie doch
endlich Ihre Hausaufgaben! – Aber auch das werden Sie
nicht tun. Ich glaube, selbst die Kolleginnen und Kolle-
gen aus der Koalition erwarten nicht wirklich, dass Sie
sich noch in eine feurige Frauenrechtlerin und patente
Politikerin verwandeln könnten.

Ich will aber Ihnen, den Parlamentarierinnen und Par-
lamentariern, etwas zurufen: Lassen Sie uns über Frak-
tionsgrenzen hinweg das Gemeinsame betonen! Einig
sind wir uns doch darin, dass wir eine gesetzliche Quote
für Frauen in Führungspositionen brauchen – und eben
noch in diesem Jahr; denn im Jahr 2013 werden viele
Aufsichtsräte neu gewählt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Parlamentarierinnen haben doch schon in der Vergan-
genheit die eine oder andere gesetzliche Regelung, die
für Frauen einen Fortschritt gebracht hat, gemeinsam
und solidarisch erzielt. Und daran waren jeweils auch
viele Männer beteiligt. Das war bei den Regelungen zum
Schwangerschaftsabbruch, dem Rechtsanspruch auf ei-
nen Kindergartenplatz im Jahr 1992 und dem Verbot von
Vergewaltigungen in der Ehe, das seit 1997 gilt, der Fall.
Lassen Sie uns solche Beispiele zum Vorbild nehmen!
Lassen Sie uns für eine gesetzliche Quote gemeinsam
Mehrheiten im Deutschen Bundestag gewinnen! Lassen
Sie uns gemeinsam ein weiteres Frauenrecht erkämpfen!

Die Zeit läuft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716500300

Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin Bracht-

Bendt das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1716500400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Mit-
telpunkt unseres Antrages heute zum Internationalen
Frauentag steht Geschlechtergerechtigkeit im Lebens-
verlauf.


(Elke Ferner [SPD]: Nichts steht da drin!)


Das klingt etwas sperrig. Der Begriff spiegelt aber genau
das wider, wo es in der Lebenswirklichkeit heute hakt.
Deshalb legt die christlich-liberale Koalition mit dem
vorliegenden Antrag bewusst den Finger in die Wunde.


(Christel Humme [SPD]: Da steht doch gar nichts drin!)


Gleichstellungspolitik ist für uns Lebensverlaufspolitik,
das heißt, dass wir als Koalition auf die Veränderungen
wesentlicher institutioneller und soziokultureller Rah-
menbedingungen mit klaren Konzepten reagieren wol-
len.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Wo sind denn die Konzepte?)


– Frau Humme, Sie haben vielleicht auch noch die Mög-
lichkeit, etwas zu sagen.

Die Zeiten der Einverdienerfamilie, in denen der
Mann das Geld verdient und die Frau Hausfrau und Mut-
ter ist, sind bekanntlich vorbei. Ob Bankkauffrau, Jour-
nalistin oder Wissenschaftlerin: Nur noch selten hängen
Frauen heute ihren Beruf an den Nagel, um sich aus-
schließlich um Familie und Haushalt zu kümmern. Da-
bei geht es keineswegs immer um den Wunsch nach be-
ruflicher Karriere und Selbstverwirklichung. Häufig
reicht ein einziges Gehalt gar nicht aus, um über die
Runden zu kommen.

Moderne Gleichstellungspolitik muss heute eine Ant-
wort geben auf die vielfältigen Lebensverläufe von
Frauen und Männern. Phasen des Lebens in einer Part-
nerschaft, des Alleinerziehens oder der Arbeitslosigkeit
können sich abwechseln. Frauen entscheiden sich in der
Familienphase häufig dafür, Teilzeit zu arbeiten. Kurz-
fristig ist das die Chance, um den Spagat zwischen Fa-
milie mit kleinen Kindern und Beruf hinzubekommen.
Jungen Frauen muss aber klar sein, dass dies keine Dau-
erlösung sein sollte, um später nicht in Altersarmut ab-
zurutschen.

Dabei muss berücksichtigt werden, dass der oder die
Einzelne nicht unbedingt immer freiwillig die Weichen
für einen anderen Lebensverlauf neu stellt. Der Verlust
des Arbeitsplatzes und die berufliche Neuorientierung
können das Leben ziemlich durcheinanderbringen – oder
wenn der Ehepartner krank wird und zu Hause gepflegt
werden muss oder die an Demenz erkrankte Mutter.

Was die Situation von pflegenden Angehörigen be-
trifft, hat die Koalition mit dem neuen Familienpflege-
zeitgesetz ja schon einen wichtigen Meilenstein gesetzt.
Sie können nun im Beruf kürzer treten, um für kranke
Angehörige da zu sein, ohne ganz ohne Einkommen da-
zustehen und ohne später in Altersarmut abzurutschen.
Dieses Gesetz ist ein wichtiger erster Schritt auf dem
Weg zu Geschlechtergerechtigkeit. Unser Wunsch ist,
dass nicht mehr vor allem Frauen, sondern auch mehr
Männer als bisher Verantwortung in der Pflege überneh-
men.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber es gibt noch mehr zu tun. Deshalb bin ich froh
über die aufschlussreichen Erkenntnisse des Ersten
Gleichstellungsberichtes, der die Grundlage für unseren
Antrag bildet. Darin heißt es


(Zurufe der Abg. Caren Marks [SPD] und Elke Ferner [SPD])


– hören Sie bitte mal zu –: Um Geschlechtergerechtig-
keit zu erreichen, müssen zunächst die Ursachen, die für
die Schieflagen verantwortlich sind, gezielt benannt
werden. Dazu gehört, dass Kinder kein Karrierehinder-
nis sein dürfen. Es ist kein Geheimnis: Immer noch ver-
zichten gut ausgebildete Frauen auf ihre Karriere, weil





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


es keine zuverlässige und vor allem keine auf ihre Be-
dürfnisse zugeschnittene Kinderbetreuung gibt.


(Zuruf von der LINKEN: Und keine bezahlbare!)


Die Bundesregierung hat mit dem Rechtsanspruch auf
einen Kitaplatz für unter Dreijährige einen wichtigen
Beitrag geleistet. Jetzt sind die Länder und die Kommu-
nen in der Pflicht, ebenso die Unternehmen. Berufstätige
Eltern wünschen sich in ihrem Beruf mehr Freiräume
und flexiblere Arbeitszeiten – mehr Zeitsouveränität,
wie wir das im Antrag nennen.


(Christel Humme [SPD]: Wo ist denn die Wahl überhaupt für Frauen und Männer?)


Ich bin sicher, dass deutlich mehr Frauen leitende
Positionen wahrnehmen könnten und würden, wenn sich
Väter mehr Zeit für die Familie nehmen würden. Laut
den Aussagen von jungen Männern wollen sie das auch.
Eine Veränderung ist also festzustellen. Es hakt aber
noch an einigen Stellen. Zwar ist es ein gutes Signal,
dass 25 Prozent der Väter Elternzeit in Anspruch neh-
men, aber es besteht weiterhin Nachholbedarf, an der
Akzeptanz in Beruf und Gesellschaft zu arbeiten. Da-
rüber sind wir uns ja einig. Dass Väter mehr Zeit zu
Hause bei der Familie haben, scheitert aber teilweise da-
ran, dass sich eine Familie das schlicht nicht leisten
kann, weil das Gehalt der Mutter nicht ausreicht, um
über die Runden zu kommen. Deshalb besteht Hand-
lungsbedarf bei der Entgeltgleichheit. Dabei setzen wir
auf Transparenz und Eigeninitiative, und nicht wie Sie
von der Opposition auf staatliche Bevormundung.


(Beifall bei der FDP)


Noch ein Stichwort: Präsenzkultur. Unsere skandina-
vischen Nachbarn machen es uns vor. In Norwegen und
Schweden ist es nichts Besonderes, wenn der leitende
Mitarbeiter am Nachmittag seine Kinder von der Kita
abholt. Ziel liberaler Politik ist die Chancengesellschaft
mit Wahlfreiheit. Hören Sie gut zu! Der Gleichstellungs-
bericht bestätigt einmal mehr, dass Chancen und Risiken
immer noch ungleich auf die Geschlechter verteilt sind.
Berufliche Verwirklichungschancen nehmen immer
noch in erster Linie Männer wahr, während Pflegeaufga-
ben weiterhin meistens von Frauen geleistet werden.
Hier liegt in unserer Gesellschaft noch einiges im Argen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Und wo ist die Wahlfreiheit?)


Denn eine Chancengesellschaft – und die streben wir an –
basiert auf Respekt und Anerkennung für die Leistung in
der Familie, und nicht nur für Erfolge im Beruf.

Meine Damen und Herren, der Gleichstellungsbericht
thematisiert, wie Frauen und Männer in eine nachteilige
Situation geraten, und zeigt Wege, wie sie wieder
herauskommen. Das unterstützen wir. Ein besonderes
Augenmerk richte ich dabei auf die Ursachen der Ent-
geltunterschiede zwischen Männern und Frauen. Ge-
haltsunterschiede bei gleicher Qualifikation aufgrund
des Geschlechts sind aus liberaler Sicht in keiner Weise
hinnehmbar.


(Beifall bei der FDP)


Gleichstellung heißt für mich aber auch, Jungen und
Mädchen zu motivieren, bei der Berufswahl neue Wege
zu gehen. Wenn es uns gelingt, mehr Mädchen für tech-
nische Berufe zu begeistern und mehr Jungen für soziale
Berufe wie zum Beispiel Erzieher, dann kommen wir
dem Ziel einer geschlechtergerechten Gesellschaft ent-
schieden näher.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716500500

Die Kollegin Yvonne Ploetz erhält nun das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716500600

Den Internationalen Frauentag, Herr Präsident, liebe

Kolleginnen und Kollegen, feiern wir heute zum
101. Mal. In meiner Fraktion sind heute nur Frauen an-
wesend. Wir sind die erste reine Frauenfraktion in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Männer machen frei? – Zuruf von der Regierungsbank: Wo sind die Männer?)


Damit wollen wir heute ein starkes Zeichen dafür setzen,
dass wir Frauen die Männerdomänen – nicht nur in der
Politik – ganz problemlos meistern.


(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn bei Ihnen der Fraktionsvorstand?)


Die Männer der Linksfraktion machen heute ein Ta-
gespraktikum, und zwar in einem sogenannten typischen
Frauenberuf.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie ja selber lachen!)


Sie werden das würdigen, was Frauen in Deutschland
Tag für Tag leisten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sorgt für Tu-
mult. Ich will Ihnen aber sagen: Bei der Emanzipation
müssen alle mit, Frauen wie Männer.


(Beifall bei der LINKEN)


Leider ist das noch nicht bei allen angekommen. Sicher-
lich kennen auch Sie sehr wenige Kfz-Mechanikerinnen
oder Lufthansa-Managerinnen. Dafür gibt es viele
schlechte Gründe, zum Beispiel altbackene Unterneh-
menskulturen oder die traditionellen Geschlechter- und
Berufsbilder. Sie aufzubrechen, genau darum muss es
uns gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der LINKEN)






Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)


Damit sind wir auch bei der Debatte, die derzeit die
Frauenpolitik bestimmt, nämlich die mittlerweile durch-
aus salonfähig gewordene Forderung nach einer Frauen-
quote in Führungsetagen. Da wurde Berlin in dieser Wo-
che von Brüssel überholt: EU-Justizkommissarin Reding
hat angekündigt, dass es eine EU-weite Regelung zu ei-
ner verbindlichen Frauenquote geben soll. Sie hat genau
zur richtigen Zeit ein Signal gesendet, nämlich einen Tag
nachdem die FDP in einem Zwergenaufstand


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt dann aber „Zwerginnenaufstand“!)


Familienministerin Schröder umgepustet hat und die
Flexiquote in Ablage P wie Phrasen abgelegt wurde. Ich
weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich peinlicher finden
soll: diese bisslose Flexiquote oder das kampflose Ein-
knicken der Frauenministerin in Frauenfragen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, 2012 ist
es an der Zeit, dass Old-Boys-Networks und Business-
machos nicht mehr einen Notausknopf in den Fahrstüh-
len drücken können, in denen Frauen in die Führungseta-
gen fahren;


(Beifall bei der LINKEN)


ihr Aufstieg muss eine Selbstverständlichkeit sein. So-
lange das nicht so ist, lassen wir uns in unserer Forde-
rung nach einer 50-Prozent-Quote nicht beirren.


(Beifall bei der LINKEN)


Für viele Frauen ist Aufstieg aber wirklich noch eine
reine Utopie. Sie haben ganz andere, viel existenziellere
Probleme. Da ist zum Beispiel Katharina L. aus Mün-
chen. Sie ist Altenpflegerin, und das seit Jahren. Sie trägt
eine enorme Verantwortung für die Menschen, die sie
pflegt, und leistet körperliche Schwerstarbeit. Trotzdem
ist die Wertschätzung für ihre Arbeit nicht sonderlich
hoch. Sie hat keinerlei Aufstiegschancen, und sie ver-
dient rund 1 000 Euro weniger als zum Beispiel ein Ma-
schinenbauer. Mir kann wirklich niemand erklären, wo-
her dieser Lohnunterschied kommen soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb fordern wir, die Linke, wie es so schön in Köln
heißt: Mehr Cash in de Frauentäsch!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir fordern, dass Frauen wie Katharina endlich in den
Fokus der frauenpolitischen Debatte in Deutschland
kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Genau deshalb lenken unsere Männer heute die Auf-
merksamkeit gezielt dahin. Gregor Gysi ist beispiels-
weise in einer Kita, Uli Maurer beim Friseur,


(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rita Pawelski [CDU/CSU]: Beim Friseur arbeitet der? Welcher hat sich denn dazu bereit erklärt?)


und Steffen Bockhahn putzt in Rostock.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich wette, sie werden dort enorm gute Arbeit leisten und
erfahren, mit welchen Problemen die Friseurin, die Rei-
nigungsfrau, die Erzieherin und viele andere zu kämpfen
haben.

Es ist doch so: Frauen regeln den Haushalt, erziehen
die Kinder, unterstützen den Partner und versorgen die
Eltern. Sie leiten das berühmte kleine Familienunterneh-
men. Sie geben richtig viel und bekommen richtig wenig
zurück. Ich glaube, damit muss heute endlich Schluss
sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Da halte ich es mit einer ganz mutigen Feministin aus
dem Saarland, Marlies Krämer, die für die Frauen den
Männern sagt:

Wir wollen die Hälfte der
bezahlten Arbeit und Macht
Wir geben dafür die Hälfte
der unbezahlten Hausarbeit


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ein völlig altes Frauenbild!)


Wie sieht es denn auf dem Arbeitsmarkt aus? Die Er-
werbsquote von Frauen ist gestiegen, aber hauptsächlich
durch die Zunahme von Teilzeitarbeit, und das, obwohl
ein Großteil der Teilzeitarbeitnehmerinnen viel lieber
Vollzeit arbeiten würde. Die Aussage des Geschäftsfüh-
rers des Handelsverbands Deutschland am letzten Frau-
entag, die Frauen wollten solche prekären Beschäftigun-
gen, finde ich überhaupt nicht nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist doch erwiesen: Junge Frauen machen die besse-
ren Abschlüsse, leisten aber den Löwenanteil an den
richtig schlecht bezahlten Minijobs. Akademikerinnen
scheint es im Sonderangebot zu geben. Alleinerziehende
stehen oftmals wirklich ganz allein da und haben richtig
Angst vor Armut und Prekarität, und zwar für Mutter
und Kind. Um hier zu helfen, wäre doch eines ganz
wichtig: eine gut ausgebaute Infrastruktur in der Kinder-
betreuung. In Dänemark werden 64 Prozent der unter
dreijährigen Kinder ganztags betreut. Nur so geht doch
die Gleichung von Beruf und Familie wirklich für jeden
und jede auf.


(Beifall bei der LINKEN)


Will man das gesamte Knäuel, das es an Problemen
gibt, entwirren, dann gibt es dafür sogar einen Leitfaden.
Das ist das Sachverständigengutachten für den Ersten
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Darin sind
die Herausforderungen Punkt für Punkt aufgelistet. Um
nur einige Beispiele zu nennen: Sie müssen dafür sor-
gen, dass Pflege- oder Erziehungszeiten anerkannt wer-
den, dass Niedriglohnfallen endlich beseitigt werden,
dass der Mindestlohn eingeführt wird, dass das Ehegat-
tensplitting abgeschafft wird und dass mit einem Ent-
geltgleichheitsgesetz mit dem katastrophalen Lohnunter-
schied zwischen Männern und Frauen endlich Schluss





Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)


gemacht wird. Sie müssen doch nur Ihr eigenes Gutach-
ten lesen und umsetzen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716500700

Frau Kollegin.


Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716500800

Ich komme zum Schluss. – Für all das möchten wir

heute als Fraktion ein Zeichen setzen. Liebe Kolleginnen,
liebe Frauen, nach 101 Jahren ist viel erreicht. Doch es
gibt noch viel zu tun. Deshalb frei nach Astrid Lindgren:
Lasst euch nicht unterkriegen! Seid frech und wild und
wunderbar!

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Die Abgeordneten der LINKEN erheben sich – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Oh nein, jetzt stehen die auch noch auf! Das ist ja peinlich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716500900

Renate Künast ist die nächste Rednerin für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716501000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Erst hatte ich gedacht, ich
könnte sofort zu der doch bemerkenswert schlechten
Rede der Ministerin Stellung nehmen.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ha! Ha!)


Aber nun muss ich mich vorher noch mit einigen Worten
an Sie wenden, Frau Ploetz.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das war eine sehr gute Rede von Frau Ploetz!)


Ihre Rede empfinde ich als Frau – das empfinden sogar
die Männer; das gilt zumindest für die in unserer Frak-
tion – als eine ganz tolle Vorführung zum 101. Frauen-
tag. Jetzt wissen wir, dass Ulrich Maurer heute endlich
dazu kommt, zum Friseur zu gehen. Das ist auch logisch,
weil es bei Gysi keinen Sinn machen würde. Aber was
hat das mit dem Frauentag zu tun? Ich verstehe es nicht.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir haben ein Schaltjahr. Das hat 366 Tage. Vielleicht
könnten die Jungs ihr Praktikum an irgendeinem anderen
der 365 Tage machen – notfalls auch am Wochenende;
da haben wir nämlich keine Sitzung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sehr gut!)


Nun zur Rede der Ministerin. Wenn ich so richtig ge-
mein wäre, würde ich aus meinem Herzen keine Mörder-
grube machen, Frau Schröder, und sagen: Die Rede war
so beachtenswert, dass sie unbedingt ins Archiv von
Alice Schwarzer, in den FrauenMediaTurm, gehört.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dieses Archiv wird aber nur von wenigen Besucherin-
nen pro Jahr aufgesucht, sodass es schade wäre. Es soll-
ten doch mehr Frauen und auch mehr Männer, die sich
für Gleichstellung interessieren, von dieser Rede wissen.

Sie haben hier in aller Ruhe vorgetragen, welches die
Sorgen der Frauen auf dem Globus sind und welchen
Freiheitskampf sie führen. Wir wissen das. Ich habe zum
Beispiel zuletzt Frau Tawakkul Karmann aus dem Jemen,
eine der drei – nicht zwei – Nobelpreisträgerinnen, ge-
troffen. Wissen Sie, was sie sagte? Sie sagte: Wir brau-
chen eure ganz konkrete Unterstützung. Frau Schröder,
ich habe kein einziges Wort von konkreter Unterstützung
für diese Kämpferin gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christel Humme [SPD]: Sie bloggt!)


Sie haben geschrieben, dass Sie den tunesischen Präsi-
denten, vor dem auch ich Respekt habe, getroffen haben.
Aber wo war das Programm?

Man könnte viel dazu sagen, wie viel Unterstützung
diese Frauen brauchen. Es gibt Arbeitssklavinnen. Es
gibt Genitalverstümmelung. Es gibt Frauen, die deswe-
gen Unterstützung brauchen, weil nach einer Revolution
und Umwälzungen letztendlich doch wieder nur die
Männer die entsprechenden Positionen übernehmen.
Kein Wort zu irgendeinem Programm! Deshalb war die
Rede dürftig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Übrigen gibt es Arbeitssklavinnen auch hier in
Deutschland und in Europa. Sie gab es sogar in Bot-
schaften in Berlin. Es gibt auch hier in Deutschland
Genitalverstümmelung. Kein Wort von Ihnen dazu! Des-
halb war das nicht die Rede, die die Frauen dieses Lan-
des erwartet und verdient haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist der 101. Frauentag – es ist das Jahr 2012, wir
sind im 21. Jahrhundert –, und wir reden immer noch
darüber, dass Frauen, die erwerbstätig sein wollen und
müssen, keine Kindergartenplätze finden. Wir reden
immer noch über die Frage, wie Frauen in Führungseta-
gen kommen; denn das ist unser gutes Recht. Wir reden
immer noch darüber, dass Frauen für gleiche Arbeit
weniger Gehalt bekommen.

Wenn wir in diesem Land unterwegs sind, begegnen
uns in allen Gehaltsgruppen beeindruckende Frauen, die
trotz schlechter Infrastruktur ihre Frau stehen und ihren
Alltag meistern. Denen können und müssen wir heute
angesichts der Lage in Deutschland unseren Respekt
aussprechen.





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch in der Wissenschaft arbeiten viele Frauen. Wis-
senschaftliche Mitarbeiterinnen und Juniorprofessorin-
nen bekommen teilweise nur befristete Verträge, sie wer-
den schlecht bezahlt, und es gibt kein ausreichendes
Betreuungsangebot für ihre Kinder, obwohl sie sich in
einer Lebensphase befinden, in der sie Kinder haben, die
betreut werden müssen. Auch bei alleinerziehenden Leh-
rerinnen mit einer halben Stelle reicht das Gehalt nicht.
Hinzu kommt, dass das Angebot der Kindergärten sehr
schlecht ist. Sie haben große Schwierigkeiten, ihren All-
tag zeitlich zu organisieren, und müssen durch die
Gegend hetzen. Es gibt Friseurinnen, die sagen: Ich
würde den Job ja gerne machen, aber von 5 Euro die
Stunde kann ich nicht leben.

Selbst Frauen in Spitzenpositionen in der Wirtschaft
müssen sich in unserem Land, wenn sie sich für einen
Aufstieg bewerben, immer wieder die Frage anhören:
Können Sie das überhaupt? – Im Jahr 2012 ist das ein
unhaltbarer Zustand in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Deshalb freue ich mich, dass Frauen auch aus diesem
Haus parteiübergreifend die Berliner Erklärung formu-
liert haben. Ich wünsche mir, dass möglichst viele
Frauen und auch Männer diese Erklärung unterschrei-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe mich, ehrlich gesagt, sogar mehr gefreut, als
ich erfahren habe, dass es die Aktion „Pro Quote“ gibt,
die von jungen Journalistinnen und Journalisten ins
Leben gerufen wurde. Wir wissen doch: In den Zeitun-
gen wird zwar über die Situation der Frauen berichtet,
aber in den Chefetagen der Verlage sitzen trotzdem im-
mer noch nur Männer. Auch in diesem Bereich könnte
sich etwas ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Als Aktivität in den nächsten 365 Tagen wünsche ich
mir, dass wir uns endlich der Umsetzung der Forderung
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widmen und den in
Deutschland herrschenden Lohnunterschied beseitigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU] und Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])


Die OECD hat festgestellt: In keinem europäischen
Land ist der Lohnunterschied zwischen Frauen und
Männern so groß wie in Deutschland, er beträgt nämlich
21,6 Prozent. Das ist beschämend. Was sagt Frau von
der Leyen dazu? Sie gibt zwar viele Interviews, aber
dazu habe ich von ihr nichts gehört. Von der FDP wage

ich gar nicht erst zu sprechen. Dabei war sie früher eine
Zeit lang Bürgerrechtspartei; sie hätte sich also für glei-
che Löhne einsetzen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir bringen einen Antrag zur Entgeltgleichheit ein.
Das ist der Anfang. Wir müssen uns auch bewusst
machen, wie viel Lohn in den sogenannten Frauenberu-
fen gezahlt wird. Erzieherinnen, Hebammen, Pflegerin-
nen und Verkäuferinnen leisten zentrale Beiträge für
unsere Gesellschaft. Bei Schlecker stehen derzeit über
10 000 Frauen vor der Kündigung. Wo ist denn da Frau
von der Leyen? Viele Frauen arbeiten in schlecht bezahl-
ten, prekären Verhältnissen. Frau von der Leyen, wo ist
eigentlich die Qualifizierungsgesellschaft, die Sie diesen
Frauen anbieten?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mein letzter Punkt: die Quote. Sie hat uns alle lange
Zeit beschäftigt, und sie wird uns auch noch eine Zeit
lang beschäftigen. Ich finde es ernüchternd, dass es an
dieser Stelle nicht weitergeht, aber wir bleiben dran. Ich
habe alle Vorstände der DAX-30-Unternehmen ange-
schrieben. Von einem der vier großen Energieversorger
bekam ich einen Brief, der einen Satz enthielt, den ich
einmal vorlesen möchte: Das Schlimmste, was den
Frauen passieren kann, ist, dass Damen in Positionen
gesetzt werden, die sie möglicherweise nicht ausfüllen
können.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


In großer Übereinstimmung mit wahrscheinlich allen
Frauen aus den Fraktionen sage ich: Die Frauen unseres
Landes sind bereit. Gerade nach der Bankenkrise 2008,
nach der Euro-Krise und allen Krisen danach sind wir
bereit, die Debatte aufzunehmen, ob wir die Aufgaben
ausfüllen können oder nicht. Wir sind bereit, uns einem
Wettbewerb mit den Männern zu stellen; denn schlechter
kann es gar nicht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Mein letzter Gedanke, Herr Präsident. – Dieses Parla-
ment hat einen Auftrag. Es kann nicht sein, dass es in
unserem Land so viele Frauen mit exzellenten Schulab-
schlüssen, Berufsabschlüssen und Hochschulabschlüs-
sen gibt, und am Ende trotzdem immer die Männer ein-
gestellt werden. Ich schlage vor: Widmen wir uns einmal
den Themen Quote und Personalfindung; denn wenn
Frauen in den Schulen und in der Ausbildung besser
sind, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns endlich
um die Bestenauslese kümmern. Es kann nicht sein, dass
die Auslese darin besteht, einfach immer nur Männer
einzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


Wir tragen in diesem Haus eine Verantwortung. Die-
ses Haus hat 620 Abgeordnete. Im Jahr 2012 haben die
Frauen dieses Landes eine Erwartung.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716501100

Frau Kollegin.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716501200

Sie erwarten, dass dieses Haus den Mut hat, notfalls

fraktionsübergreifend eine Initiative zu ergreifen – ich
verweise in diesem Zusammenhang auf frühere Initiati-
ven: Organspende, Stammzellforschung, Patientenverfü-
gung und Abtreibung, also § 218 StGB –, die den Frauen
zu mehr Rechten verhilft, und zwar noch in diesem Jahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716501300

Ingrid Fischbach erhält jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1716501400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich kann nicht umhin, kurz auf meine
Vorrednerinnen einzugehen. Frau Ziegler, Sie haben
viele positive Beispiele aus dem Bereich der Gleichstel-
lungspolitik und der Frauenpolitik genannt. Sie haben
erwähnt, was vom Parlament umgesetzt wurde. Sie
haben nur vergessen, zu sagen, dass wir daran immer
beteiligt waren.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Ja!)


Wir haben immer mitgemacht. Alles, was umgesetzt
wurde, ist mithilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
umgesetzt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Nein, nicht mit allen! Mit einigen aus Ihrer Fraktion!)


– Die großen Maßnahmen sind mit uns umgesetzt wor-
den. – Das zeigt, und das ist wichtig: Wir können unsere
Vorhaben nur gemeinsam umsetzen.

Über einige der Kritikpunkte, die Sie in Ihrer Rede
genannt haben, kann man reden. Frau Ziegler, man muss
aber auch feststellen, dass der Erste Gleichstellungs-
bericht nicht unter Rot-Grün erstellt worden ist. Da
haben Sie etwas verpasst. Er liegt heute auf dem Tisch.
Diesen Bericht hat die Familien- und Frauenministerin
auf den Weg gebracht. Das muss man der Fairness halber
sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Daran war auch die SPD beteiligt!)


– Frau Humme, Sie sind immer beteiligt; das weiß ich ja.
Aber Sie dürfen manchmal auch Vorreiter sein. In der
Opposition sind Sie immer sehr schnell mit dem Wort.

Aber wenn Sie in Regierungsverantwortung standen,
haben Sie sich immer schnell von starken Worten des
Kanzlers – Stichwort „Gedöns“ – zurückhalten lassen.
Da waren Sie dann nicht so durchschlagskräftig, wie Sie
es eigentlich sein sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seien wir doch ehrlich: Wir haben verschiedene Pro-
bleme zu lösen. Sie hatten diese Probleme, und wir haben
diese Probleme. Wir müssen sehen und erkennen – da-
rauf möchte ich zu Beginn meiner Rede hinweisen –,
dass wir es nur gemeinsam schaffen können. An dieser
Stelle muss ich feststellen, dass Sie, meine Kolleginnen
von der Linken, ein ganz falsches Beispiel gesetzt haben.
Gleichstellungspolitik ist keine Frauenpolitik, und sie ist
ohne Männer überhaupt nicht zu machen. Sie haben
heute ein vollkommen falsches Signal gesetzt. Das geht
überhaupt nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Künast, ich habe gemerkt, dass Sie die Sache mit
dem Archiv von Alice Schwarzer in NRW getroffen hat.
Sonst hätten Sie keinen Satz darüber verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über das Problem des Wiedereinstiegs von
Frauen in den Beruf reden, wenn wir über Entgeltun-
gleichheit reden – ich richte mich damit an die Grünen
und die SPD –, dann müssen wir auch über die damit
verbundenen Probleme sprechen. Ein solches Problem
ist die mangelhafte Kinderbetreuung. Sie mahnen zu
Recht an, dass der Ausbau der Kinderbetreuung für unter
Dreijährige nicht schnell genug vorangeht. In Nord-
rhein-Westfalen zum Beispiel haben Sie jetzt alle Mög-
lichkeiten der Welt, die Sache voranzubringen. Ich bitte
Sie im Sinne eines gemeinsamen Handelns: Tun Sie das!
Sehen Sie zu, dass die Zahlen besser werden! Das wäre
ein großes Ding für die Frauen. So können Sie die Ver-
einbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit wirklich vo-
ranbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es nicht
hinnehmbar, dass Frauen in Deutschland – das ist wirk-
lich ein großes Manko – heute im Durchschnitt immer
noch weit über 20 Prozent weniger verdienen als Män-
ner.


(Elke Ferner [SPD]: Wo bleibt Ihr Gesetz?)


Auch diesbezüglich brauchen wir CDU/CSU-Frauen uns
nicht zu verstecken, Frau Ferner. Wenn ich darüber
nachdenke, welche Initiativen auf den Weg gebracht
wurden, fällt mir auf, dass dies in der Zeit der Großen
Koalition und in dieser Legislaturperiode der Fall war.
Wir wollen Transparenz in der Lohngestaltung.


(Elke Ferner [SPD]: Auf freiwilliger Basis! Da können Sie auch mit Gänsen über Weihnachten diskutieren!)






Ingrid Fischbach


(A) (C)



(D)(B)


– Das können Sie ja machen. Aber das machen wir nicht.
Wir bieten Logib-D und den eg-check. Wir wollen, dass
transparent ist, was Unternehmen den beschäftigten
Frauen und Männern zahlen. Es gibt entsprechende
rechtliche Vorgaben.


(Elke Ferner [SPD]: Also alles in Ordnung!)


Es dürfte also gar nicht passieren, dass Frauen weniger
verdienen als Männer. Es passiert aber trotz der rechtli-
chen Vorgaben. Das heißt, wir müssen die Schlupflöcher
ausfindig machen, sie klar benennen und schließen.
Wenn es sein muss, wenn es gar nicht anders geht, müs-
sen wir auch mit einer gesetzlichen Initiative dagegen
vorgehen; das ist überhaupt keine Frage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen dafür sorgen, dass die Gründe, die zu die-
sen Entgeltungleichheiten führen, beseitigt werden. Ich
habe gerade schon gesagt, dass ein Grund die Unterbre-
chung der Erwerbstätigkeit von Frauen ist. Wir müssen
also darüber nachdenken, wie wir mit den Erwerbsunter-
brechungen umgehen, und dafür sorgen, dass sie kürzer
werden und dass Frauen schneller und ohne Einkom-
mensverlust in den Beruf zurückkehren können. Das
wird unser Ziel sein.

Das heißt, wir müssen die Frauen beim Wiederein-
stieg stärker unterstützen. Auch da brauchen wir uns
überhaupt nicht zu verstecken. Die „Perspektive Wieder-
einstieg“ ist unter der Familienministerin auf den Weg
gebracht worden. Wir sagen: Es ist wichtig, dass Frauen
Unterstützung erhalten. Ganz wichtig in diesem Zusam-
menhang – darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen –
sind die haushaltsnahen Dienstleistungen. Diese müssen
wir stärker ausbauen, damit Frauen und Männer, die zu-
rück in den Beruf wollen, sie in Anspruch nehmen kön-
nen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass diejeni-
gen, die diese Dienstleistungen ausüben, einen
vernünftigen und fairen Lohn erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich komme zum letzten Punkt; meine Redezeit neigt
sich dem Ende zu. Wie gehen wir mit der Bewertung von
Kindererziehungs- und Pflegezeiten um? Unserer Frak-
tion ist ganz wichtig, dass wir den Frauen, die große Er-
werbsunterbrechungen hatten und in einem Alter sind, in
dem sie nicht mehr viel eigene Vorsorge treffen können,
das Signal geben, dass wir ihre Situation im Blick haben.
Wir müssen zum Beispiel die Anerkennung der Kinder-
erziehungszeiten in der Rente verbessern, vor allen Din-
gen für die Kinder, die vor 1992 geboren sind.


(Christel Humme [SPD]: Alles Reparaturbetrieb, Frau Fischbach!)


Wir müssen deutlich machen, dass Kindererziehung und
Pflege gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, Frau
Humme. Deswegen müssen wir im Bundestag darüber
sprechen. Wir müssen Antworten auf diese Fragen fin-
den und den Frauen, die diese Arbeit leisten, Anerken-
nung zollen. Das ist wichtig und, ich denke, unser aller
Ziel.

Ich habe mit der Aussage, dass Gleichstellungspolitik
sowohl Männer als auch Frauen angeht, begonnen. Frau-
enfragen sind immer, egal wie wir es drehen, auch Män-
nerfragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir brauchen die Männer, um die Probleme zu lösen und
Mehrheiten für entsprechende Maßnahmen zu finden.
Eines ist uns dabei klar: Gleichberechtigung hat immer
mit Rechten, aber auch mit Pflichten zu tun; diese betref-
fen Männer und Frauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716501500

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Christel Humme

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1716501600

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

230 Seiten dick ist das Sachverständigengutachten zum
Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Auf
diesen 230 Seiten wird dargelegt, was in Deutschland im
Bereich der Gleichstellungspolitik fehlt und was wir un-
bedingt tun müssen. Die Stellungnahme der Bundesre-
gierung dazu ist sehr dünn.


(Caren Marks [SPD]: Die Rede war noch dünner!)


Weniger Interesse am Thema Gleichstellung kann die
Bundesregierung eigentlich nicht zum Ausdruck brin-
gen.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Sie wissen doch, dass Quantität nicht gleich Qualität ist!)


Frau Fischbach, ich dachte, dass Sie dieses Gutachten
einmal zur Hand nehmen und einen Antrag dazu schrei-
ben werden.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Wir haben einen Antrag geschrieben! Einen guten!)


– Es ist richtig, Sie haben einen Antrag geschrieben, aber
Sie haben nicht eine einzige Forderung dieses Gutach-
tens aufgegriffen,


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dann haben Sie unseren Antrag nicht gelesen!)


obwohl Ihnen dieses Gutachten Handlungsempfehlun-
gen auf dem Silbertablett präsentiert, die Sie einfach nur
hätten übernehmen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen ha-
ben uns sehr über das Gutachten gefreut; denn es bestä-
tigt, dass unser Kurs zur Gleichstellung der richtige ist.
Unser Kurs hat die gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen und Männern – in diesem Punkt gebe ich Ihnen





Christel Humme


(A) (C)



(D)(B)


vollkommen recht – im Erwerbs- und Familienleben
zum Ziel.

Was ist die Kernforderung dieses Gutachtens? Es for-
dert von uns Politikerinnen und Politikern eine konsis-
tente Gleichstellungspolitik, die den gesamten Lebens-
verlauf in den Blick nimmt. Erstens fordern die
Sachverständigen eine Abkehr von starren Rollenbil-
dern. Frauen wollen nicht mehr nur Zuverdienerinnen
sein und Männer nicht immer nur die Haupternährer.

Sie fordern zweitens eine Abkehr von alten Struktu-
ren. Denn sie sind es, die die Frauen in Deutschland
nach wie vor benachteiligen, und nicht, wie Sie, Frau
Schröder, aber auch die Kanzlerin häufig unterstellen,
die Frauen selbst, weil sie nicht mutig genug sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Last, not least fordern sie von uns, dass wir die richti-
gen politischen Weichen stellen, und zwar von Anfang
an und ohne Zickzackkurs. Wir müssen vermeiden, dass
wir heute Vorteile gewähren, die später, zum Beispiel bei
der Rente, zu Nachteilen werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
rungsfraktionen, wie lauten Ihre Antworten darauf? In
Ihrem Antrag jedenfalls finde ich dazu nichts;


(Elke Ferner [SPD]: Gar nichts!)


denn dann müssten Sie sich klar vom Modell der Zuver-
dienerin verabschieden. Aber ich glaube, dazu fehlt Ih-
nen der Mut. Das war in der Vergangenheit so und ist
auch jetzt so.


(Beifall bei der SPD – Caren Marks [SPD]: Schade eigentlich!)


Im letzten Jahr fand eine Veranstaltung zu diesem
Gutachten statt, an der auch die Vorsitzende der Sach-
verständigenkommission, Frau Professor Klammer, teil-
genommen hat. Sie ist gefragt worden, welche Themen
die Politikerinnen und Politiker ihrer Meinung nach zu-
erst angehen sollten, wenn sie den gesamten Forderungs-
katalog des Gutachtens abarbeiten wollten. Sie hat ge-
sagt: Minijobs und Ehegattensplitting. – Ich denke, das
ist richtig so. Denn wir wissen: Minijobs sind weiblich,
verfestigen die Zuverdienerrolle und führen unausweich-
lich in die Armut; das haben wir heute schon mehrfach
gehört.

Die überwiegende Mehrheit der erwerbstätigen
Frauen arbeitet in schlecht bezahlter Teilzeit oder in
noch schlechter bezahlten Minijobs. Für immer mehr
Frauen ist der Minijob die einzige Erwerbsquelle; das
kommt fatalerweise hinzu. Dabei wollen die Frauen
mehr arbeiten. Sie wollen Vollzeit arbeiten und vor allen
Dingen finanziell auf eigenen Füßen stehen. Was tun
Sie? Statt sich um diese Frauen und ihre Wünsche zu
kümmern, wollen Sie die Minijobs sogar ausweiten. Das
ist meiner Ansicht nach ein fataler Irrweg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, zu Recht erhebt
die Kommission auch die Forderung, das Ehegattensplit-

ting zu reformieren. Wir Sozialdemokratinnen und So-
zialdemokraten sehen das genauso. Denn zusammen mit
der Steuerklasse V signalisiert das Ehegattensplitting:
Frauen, bleibt doch zu Hause! Denn dann hat euer Ehe-
mann als Alleinverdiener einen großen Steuervorteil.

Selbst die von der Bundesregierung eingesetzte Ex-
pertenkommission „Forschung und Innovation“ hat das
Ehegattensplitting in ihrem Bericht zum Fachkräfteman-
gel, den sie in der letzten Woche vorgelegt hat, als
schädlich bezeichnet und gegeißelt. Sie machte deutlich,
dass es vornehmlich für Frauen Anreize schafft, keiner
oder nur einer geringen Beschäftigung nachzugehen.
Genau diese Kritikpunkte aufzugreifen, wäre der rich-
tige Ansatz. Sie sollten darüber nachdenken und auch im
Steuerrecht etwas tun. Sie sollten das Ehegattensplitting
reformieren und eine Reform der Minijobs durchführen.
Aber beides packen Sie nicht an. Sie lassen die Frauen
mit ihrem lebenslangen Armutsrisiko allein. Mehr noch:
Sie verschärfen das Problem und schütten Öl ins Feuer;
denn Sie wollen gleichzeitig das Betreuungsgeld einfüh-
ren.

Ich denke, alles zusammen – eine Ausweitung der
Minijobs, das Betreuungsgeld und keine Änderungen im
Steuerrecht – wird dazu führen, dass Sie alte Rollenbil-
der und alte Strukturen zementieren und – das ist wich-
tig, festzuhalten – schon jetzt die falschen Weichen stel-
len. Frau Bracht-Bendt, ich bin der festen Überzeugung:
An dieser Stelle betreiben Sie staatliche Bevormundung;


(Beifall bei der SPD)


denn Sie tun genau das Gegenteil von dem, was im Gut-
achten vorgeschlagen wird.

Liebe Frau Ministerin, in Ihrem Buch werden wir le-
sen können – das haben Sie angekündigt –, dass Ihnen
eine Gesellschaft vorschwebt, in der Frauen und Männer
endlich frei entscheiden können, wie sie leben wollen.


(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das wollen wir auch!)


Wenn das Ihr politischer Kompass ist,


(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Ja! Das ist übrigens gar nicht so neu bei uns!)


dann frage ich mich, warum Sie alles dafür tun, die her-
kömmliche Rollenverteilung von Frauen und Männern
beizubehalten. Hören Sie doch auf, den Menschen Wahl-
freiheit vorzugaukeln, aber eine anders ausgerichtete
Politik zu machen!

Ich appelliere an Sie: Lesen Sie den Gleichstellungs-
bericht sehr sorgfältig und aufmerksam! Nehmen Sie die
beschriebenen Handlungsoptionen ernst! Wir brauchen
keinen Rahmenplan – er liegt uns jetzt eigentlich vor –,
sondern einen konkreten Aktionsplan für Gleichstellung,
und zwar so schnell wie möglich, damit Sie in Ihrer Poli-
tik nicht schon jetzt die falschen Weichen stellen und die
Risiken in den Lebensläufen der Frauen erhöhen. Weiten
Sie die Minijobs nicht aus, und stoppen Sie das Betreu-
ungsgeld! Investieren Sie in Betreuungsplätze! Schaffen
Sie für die Frauen mit einer verbindlichen Quote einen
Zugang zu den Chefetagen! Verabschieden Sie ein Ent-





Christel Humme


(A) (C)



(D)(B)


geltgleichheitsgesetz, wie wir es bereits gefordert haben
und wie es die Grünen heute fordern! Führen Sie einen
Mindestlohn ein, der den vielen Frauen im Niedriglohn-
sektor hilft! Machen Sie endlich eine konsistente Gleich-
stellungspolitik!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716501700

Nun erhält der Kollege Patrick Döring das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Der Quotenmann! Diese Quote gefällt mir, Herr Präsident!)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1716501800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

und die Einzelne sind Grund und Grenze liberaler Poli-
tik. In einer offenen Gesellschaft ist die Gleichberechti-
gung von Mann und Frau eine Selbstverständlichkeit.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht man an der Zusammensetzung Ihrer Fraktion!)


In einer offenen Demokratie müssen alle, die in der poli-
tischen Realität Verantwortung tragen, sich diesem Ziel
verpflichtet fühlen. Wir tun das.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in
der Frage, wie man dieses Ziel erreicht, sind wir uns aber
nicht immer einig. Es ist natürlich nur konsequent, ge-
schätzte Kollegin Humme, dass Sie ein Entgeltgleich-
heitsgesetz fordern. Ich rufe der Kollegin Künast zu:
Ihre Rede haben Sie, was den Inhalt anbelangt, am fal-
schen Ort gehalten. Wir müssen mit den Arbeitgeberin-
nen und Arbeitgebern sowie mit den Arbeitnehmerin-
nen- und Arbeitnehmervertretern sprechen, damit es
nicht zu einer ungerechten Entlohnung in den Unterneh-
men kommt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716501900

Herr Kollege Döring, darf Ihnen der Kollege Beck

eine Zwischenfrage stellen?


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1716502000

Unbedingt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716502100

Bitte schön, Herr Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716502200

Sie sprachen davon, dass die Geschlechtergerechtig-

keit und die Gleichstellung von Mann und Frau eine li-
berale Selbstverständlichkeit sei. Da diese Punkte für Sie
so selbstverständlich sind, möchte ich Sie fragen – ich
weiß es nämlich nicht –: Wie hoch ist eigentlich der
Frauenanteil in Ihrer Fraktion?


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Zahlen auf den Tisch! Fakten!)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1716502300

Geschätzter Kollege Beck, das wissen Sie ganz ge-

nau, weil Sie es vorhin noch im Handbuch nachgeschaut
haben. Ich gebe aber offen zu, dass wir noch daran arbei-
ten müssen, mehr Frauen in Parlamenten zu haben.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Geschätzter Herr Kollege, 25 Prozent der Abgeordne-
ten im Deutschen Bundestag sind weiblich. Wir sehen
aber auch in einigen Landesverbänden wie zum Beispiel
in meinem Landesverband, im Landesverband Nieder-
sachsen, dass man auch ohne Quote fast eine 50-50-Si-
tuation herstellen kann. Viele Kolleginnen und Kollegen
bewerben sich um Mandate, geschätzter Kollege Beck.
In einer Demokratie ist es aber nun einmal so, dass das
Wahlverhalten nicht so steuerbar ist, wie das vielleicht in
Ihrer Partei der Fall ist.


(Beifall bei der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ich persönlich glaube, dass Sie den
jungen, gut ausgebildeten und engagierten Frauen in
Deutschland zu wenig zutrauen. Sie trauen – bei allem
Respekt – einer neuen Generation von Verantwortungs-
trägern in Unternehmen und Wissenschaft zu wenig zu.
Ich jedenfalls nehme wahr, dass es heute in den Unter-
nehmen – egal ob groß oder klein – eine Selbstverständ-
lichkeit ist, nicht mehr in den antiquierten Rollenbildern
zu denken, die Sie hier zum Teil vorgetragen haben.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Träume!)


Junge Frauen und junge Männer wissen, dass sie ge-
meinsam Unternehmen gestalten können. Dafür müssen
wir die Rahmenbedingungen verbessern, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört in ganz besonderer Weise die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf. Deshalb ist es besonders
bedauerlich, dass heute kein Vertreter der Länder anwe-
send ist. Ich selbst habe mich in meiner unternehmeri-
schen Verantwortung sehr intensiv darum bemüht, Kin-
derbetreuungsplätze im Unternehmen zu schaffen. Für
ein mittelständisches Unternehmen ist es aber schlicht
unmöglich, die Standards einzuhalten, die in manchen
Ländern gelten. Dies gilt zum Beispiel für abgehängte
Waschbecken und abgehängte Klos, die kleine Kinder zu
Hause auch nicht haben. Diese muss man aber in einem
Unternehmenskindergarten vorhalten. Wir müssen weg
von dieser Vorstellung, wenn wir wollen, dass Unterneh-
men Betreuungsplätze schaffen, die der Arbeitsrealität
der Frauen entsprechen, also nicht auf einen Zeitraum
von 9 bis 12 Uhr beschränkt sind.


(Beifall bei der FDP)






Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)


Frau Kollegin Humme, ich habe mich über Ihre Argu-
mentation sehr gewundert. Als der Gesetzentwurf, in
dem das Recht auf Teilzeit festgeschrieben wurde, in
diesem Hause von Rot-Grün eingebracht und verab-
schiedet wurde, ist das von den Vertretern der damaligen
Koalition als herausragender gleichstellungspolitischer
Fortschritt verkauft worden. Ich bin der festen Überzeu-
gung, dass flexible Arbeitszeiten – Teilzeit heißt nicht
nur halbtags, sondern auch Dreiviertelstellen oder
90-Prozent-Stellen – den Unternehmen und auch den
Frauen in den Unternehmen guttun. Deshalb habe ich
Ihre Argumentation überhaupt nicht verstanden. Übri-
gens nutzen auch zunehmend mehr Männer diese Mög-
lichkeit in den Unternehmen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nein, gesetzliche Regelungen sind nicht alles. Des-
halb ein letztes Wort:


(Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)


Wir setzen auf Verantwortung, Initiative und Selbst-
bestimmung.


(Lachen der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])


Wer die Zusammensetzung der Vorstände und Aufsichts-
räte von Aktiengesellschaften verändern will, der sollte
schon morgen von den DAX-30-Unternehmen jeweils
eine einzelne Aktie erwerben und auf deren Hauptver-
sammlungen die Reden halten, die Sie hier gehalten
haben; denn dort wird entschieden, und zwar immer bes-
ser, geschätzte Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das tun wir schon längst, Herr Döring! So peinlich! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Meinen Sie, das können wir nicht?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716502400

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Cornelia Möhring

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Möhring (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716502500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist heute tatsächlich das erste Mal, dass ein Gleichstel-
lungsbericht der Bundesregierung im Deutschen Bun-
destag diskutiert wird, und es ist überhaupt das erste
Mal, dass es so einen Gleichstellungsbericht gibt.

Nun könnte Hoffnung aufkeimen, dass es zukünftig
um die Gleichstellung von Frauen und Männern besser
bestellt sein wird. Aber dazu kann ich an dieser Stelle
nur sagen: „Pustekuchen“, obwohl vor einem Jahr, als
das Sachverständigengutachten vorgestellt wurde, auch
das Lob aus der Bundesregierung groß war. Es wurde als
Meilenstein gefeiert, und aus dem gesamten Ministerium
war zu hören, wie wunderbar es doch sei, dass die Le-
bensverläufe von Frauen und Männern nun systematisch
verglichen würden.

Tatsächlich haben das Sachverständigengutachten
und die darin enthaltenen Handlungsempfehlungen
große Begeisterung hervorgerufen, nämlich bei Frauen-
verbänden, bei Gleichstellungsbeauftragten, bei Ge-
werkschaften und auch bei vielen von uns hier. Ich
betone aber: Dies bezog sich auf das Gutachten der
Sachverständigenkommission und deren Handlungs-
empfehlungen und nicht auf das, was die Bundesregie-
rung daraus schlussfolgert, oder die Maßnahmen, die sie
eventuell angeschoben hat.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Seitdem tragen Sie die Methode, die Lebensverlaufs-
perspektive zu betrachten, wie eine Monstranz vor sich
her. Natürlich ist es richtig, dass man, wenn man sich die
Lebensverläufe von Männern und Frauen anguckt, zu
ganz anderen Schlussfolgerungen kommt, als wenn man
nur einen bestimmten Teil ihres Lebens herausgreift. Sie
handeln aber in keiner Weise nach den Erkenntnissen,
sondern sogar völlig entgegengesetzt. Sie kommen aus
Untersuchungen, aus Prüfungen und aus Erhebungen
überhaupt nicht mehr heraus.


(Beifall bei der LINKEN)


Dafür will ich Ihnen auch einige Beispiele nennen.
Alle Experten sind sich darüber einig, dass die Alters-
armut – besonders auch die von Frauen – zunehmen
wird. Welchen Impuls gibt unsere Ministerin? Es soll
eine Untersuchung darüber in Auftrag gegeben werden,
wie sich unterschiedliche Lebenswege auf die Alters-
sicherung auswirken. Ich kann Ihnen dazu nur sagen:
Das Geld können Sie sich sparen bzw. sollten Sie in so-
ziale Projekte stecken.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Ergebnis lautet nämlich: Wer in seinem Leben zwi-
schen seinen Erwerbszeiten immer wieder arbeitslos ist,
wer wegen der Betreuung von Kindern und Angehörigen
längere Zeiten nicht erwerbstätig sein kann oder wer in
Teilzeit oder zu Niedriglöhnen arbeiten muss, der wird
im Alter von Armut bedroht sein. Das ist so sicher, wie
zwei mal zwei vier ist, und es ist sicher, dass davon über-
wiegend Frauen betroffen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiteres Beispiel, das hier auch schon angeklun-
gen ist: Alte Rollenbilder von dem, wie eine gute Frau
und wie ein guter Mann sein soll, behindern die Gleich-
stellung. Eine gute Möglichkeit, solche alten Rollen-
bilder aufzubrechen, ist – das wird auch im Gutachten
empfohlen –, wenn sich junge Väter mehr um ihre Kin-
der und um die Sorgearbeit kümmern können. Viele
Männer wollen das auch. Anstatt aber das Elterngeld
auszubauen, mehr Vätermonate zu ermöglichen und
neue Anreize zu schaffen, tun unsere Regierungsparteien
was? Sie treiben neue Varianten der Herdprämie voran,
zuletzt in Form des Betreuungsgeldes. Das verfestigt
aber alte Rollenbilder und ist eher eine Reanimation der
Hausfrauenrolle und alles andere als Gleichstellungs-
politik oder emanzipatorisch.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Cornelia Möhring


(A) (C)



(D)(B)


Eine zentrale Handlungsempfehlung der Sachverstän-
digen dreht sich um das Thema „Arbeit in Minijobs“.
Jede fünfte erwerbstätige Frau und jeder zehnte erwerbs-
tätige Mann arbeiten inzwischen ausschließlich in Mini-
jobs. Das „Mini“ bezieht sich dabei nicht auf die einge-
setzte Arbeitszeit; die ist bei Minijobberinnen manchmal
nämlich sehr ausufernd. Das „Mini“ bezieht sich noch
immer auf die Bezahlung und auf die Rente im Alter, die
nämlich zwangsläufig auch sehr mini ausfällt.

Im Gutachten – das wurde schon betont – wird darauf
hingewiesen, dass dann, wenn man es mit der Reduzie-
rung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten im Be-
schäftigungssystem ernst meint, die Abschaffung von
Minijobs ein zentrales Element einer entsprechenden
Politik sein muss. Was tut die Bundesregierung? Sie
ignoriert diese Empfehlung und beschließt die Auswei-
tung der Minijobs und die Anhebung der Zuverdienst-
grenze.

Würde man den Gleichstellungsbericht wirklich ernst
nehmen und wesentliche Schritte in der Gleichstellungs-
politik für Frauen und Männer wollen, dann bräuchten
wir keine weiteren Untersuchungen, sondern müssten
lediglich die Handlungsempfehlungen der Sachverstän-
digen in Gesetze umwandeln,


(Beifall bei der LINKEN)


zum Beispiel in ein Gesetz für einen flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn, in ein Gesetz zur Umwand-
lung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige
Arbeit oder in ein Gesetz für eine solidarische Renten-
versicherung.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundes-
regierung hat gleichstellungspolitisch schon lange das
Handtuch geworfen. Es wird Zeit für eine andere.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bevor die Kollegen von SPD und Grünen jetzt frohlo-
cken: Das schaffen auch Sie nicht ohne die Linke.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716502600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Müller-Gemmeke

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Stellen Sie sich vor, eine Frau geht
einkaufen, beim Bezahlen nimmt die Kassiererin die
Zeitschrift und reißt erst einmal ein paar Seiten heraus.
Dann behält sie eine von vier Bananen, und vom Kuchen
bekommt die Frau auch nur drei Viertel. Der Mann
hinter ihr an der Kasse bekommt hingegen den ganzen
Kuchen.

Das hört sich absurd an; doch dieses Bild ist nicht
meiner Fantasie entsprungen. Es ist aus einem kurzen
Video der EU-Kommission, das auf unkonventionelle

Weise darstellt, was bei uns traurige Realität ist. Denn
Frauen verdienen in Deutschland noch immer weniger
als Männer. Es ist also an der Zeit, dass wir gemeinsam
diese Entgeltdiskriminierung beenden; denn Frauen ver-
dienen mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Entgeltdiskriminierung funktioniert oft unmittelbar
und direkt, beispielsweise wenn eine Abteilungsleiterin
als Nachfolgerin eines Mannes mit gleicher Qualifizie-
rung und derselben Berufserfahrung 300 Euro weniger
verdient. Hier wird der Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ missachtet. Das ist ungerecht und nicht
akzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schwieriger aufzudecken ist die mittelbare Entgelt-
diskriminierung, wenn es also um den gleichen Lohn für
gleichwertige Arbeit geht. Sie verbirgt sich in Regelun-
gen, die nicht zwischen Männern und Frauen unterschei-
den und dennoch auf Männer und Frauen unterschiedlich
wirken. Besonders diskriminierungsanfällig sind dabei
die Kriterien, mit denen Arbeit bewertet wird.

Wenn ein Mann beispielsweise auf dem Bau Steine
schleppen muss, dann wird diese Kraftanstrengung
selbstverständlich bezahlt, das Heben und Umbetten als
körperliche Belastung bei Frauen in der Pflege hingegen
nicht. Auch die emotionalen Belastungen in Frauenberu-
fen werden häufig nicht bewertet und somit auch nicht
bezahlt.

Entgeltdiskriminierung ist also Realität, obwohl im
Grundgesetz, im AGG und im Europarecht die Gleich-
stellung und das Verbot der Entgeltdiskriminierung ver-
ankert sind. Im 21. Jahrhundert muss damit endlich
Schluss sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Selbstverpflichtungen und Freiwilligkeit haben zu
nichts geführt. Die Entgeltlücke ist sogar noch größer
geworden. Deshalb fordern wir Grünen mit unserem
Antrag ein eigenständiges Gesetz gegen Entgeltdiskrimi-
nierung. In einem ersten Schritt sollen die Tarifpartner
und Betriebe verbindlich überprüfen und nachweisen,
dass tarifliche und nichttarifliche Entgeltregelungen
diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Das reicht aber
nicht aus. Die Betriebe und der öffentliche Dienst müs-
sen auch die Umsetzungspraxis überprüfen. Denn die
Anwendung darf vor Ort nicht wieder zu neuen Diskri-
minierungen führen.

Bei der Überprüfung setzen wir – anders als die Bun-
desministerin – auf analytische Arbeitsbewertungsver-
fahren. Entscheidend ist, dass die Kriterien transparent
und nachvollziehbar sind, die Tätigkeiten ihrem Wesen
nach beurteilt werden und die Kriterien somit diskrimi-
nierungsfrei gewählt sind, also endlich für Frauen und
Männer gleichermaßen gelten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


Bei Überprüfungen allein wollen wir es aber nicht be-
lassen: Selbstverständlich müssen entdeckte Diskrimi-
nierungen auch beseitigt werden. Deshalb soll die Anti-
diskriminierungsstelle des Bundes eine Kontrollbefugnis
erhalten. Wir brauchen auch Sanktionen und insbeson-
dere ein Verbandsklagerecht. Denn wir brauchen ein
wirksames Gesetz und keinen zahnlosen Tiger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, im Gleich-
stellungsbericht „Neue Wege – Gleiche Chancen“ steht
die Überprüfung mit Arbeitsbewertungsverfahren im
Fazit. Wir Grüne haben mit unserem Antrag die Vor-
schläge konkretisiert. Wir nehmen also die Autorinnen
ernst. Dies erwarten wir jetzt auch von der Bundesregie-
rung; denn Frauen verdienen mehr.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD] und Inge Höger [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716502700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1716502800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder ein
Weltfrauentag, wieder ein Jahr vorbei. Wie in jedem Jahr
ziehen wir in unserem Parlament frauenpolitische
Bilanz. Der Brennpunkt unserer Gleichstellungsdebatte
liegt in diesem Jahr beim Thema „Frauen in Führungs-
positionen“. Nach dem letzten Jahr, als wir – das wurde
schon erwähnt – 100 Jahre Weltfrauentag gefeiert haben,
ist hier trotz zahlreicher Beteuerungen und guter Vor-
sätze leider zu konstatieren, dass sich sehr wenig getan
hat. So ist der Anteil von Frauen in Toppositionen ledig-
lich um 2 Prozentpunkte gestiegen. Das Thema ist sehr
frustrierend. Die Strukturen sind stark verkrustet, und
der Widerstand in der Wirtschaft ist noch immer sehr
heftig. So ist es ein bemerkenswert negatives Signal,
dass im Januar auf der Siemens-Hauptversammlung eine
30-Prozent-Frauenquote mit 93 Prozent der Stimmen
abgeschmettert wurde. 93 Prozent der Stimmen, so viel
Einigkeit würde ich mir bei manch anderen Themen
wünschen.

Wir stellen jedes Jahr erneut fest, dass Frauen die bes-
seren Abschlüsse machen und mittlerweile die soge-
nannten richtigen Fächer studieren. Zudem hatten die
Unternehmen seit der Vereinbarung von 2001 elf Jahre
Zeit – also länger als die von uns geforderten zehn Jahre –,
weibliche Nachwuchskräfte zu fördern und einen ent-
sprechenden Pool aufzubauen. Vor diesem Hintergrund
freue ich mich – wenn auch noch viel Wasser den Main
hinunterfließen wird, wie es bei uns heißt – auf Unter-
stützung aus Brüssel. Frau Reding sagt, sie möge zwar
die Quote nicht, brauche sie aber für Ergebnisse. Ich
denke, ganz genau darauf kommt es an.

Enttäuscht bin ich daher über die Aussage, die Dis-
kussion müsse vertagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, wir haben die Diskussion schon zu lange ver-
tagt. Früher wurde in Deutschland – das ist an die SPD-
Fraktion gerichtet – Basta-Politik betrieben. Diese haben
wir mittlerweile überwunden. Wir müssen uns daher mit
den Themen gut auseinandersetzen. Es ist wichtig, den
Druck aufrechtzuerhalten und gemeinsam für eine
gleichberechtigte Teilhabe zu kämpfen.

Selbstverständlich arbeiten wir auch an anderen The-
men der Gleichstellungspolitik. Ich bin über den Ersten
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung sehr froh;
den hat die Union in Auftrag gegeben, und auf den
bezieht sich unser heutiger Antrag. Dieser Bericht ist ein
Meilenstein der Frauenpolitik.


(Elke Ferner [SPD]: Die Bundesregierung hat den in Auftrag gegeben!)


– Aber Sie müssen zugeben, dass die CDU/CSU zum
Großteil die Bundesregierung stellt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man leider nicht leugnen!)


Wenn Sie sich unseren Antrag genau durchlesen – hören
Sie zu; das ist wichtig; ich bin sicher, dass darüber Kon-
sens im ganzen Haus besteht –, dann stellen Sie fest,
dass wir unter anderem fordern, den Gleichstellungs-
bericht zu institutionalisieren. Ich denke, dieser Forde-
rung kann sich jeder anschließen.

Der Gleichstellungsbericht zeigt, dass es in allen
Etappen des Lebensverlaufs noch viel zu tun gibt.
Frauen unterbrechen ihr Berufsleben noch immer – auch
im Jahr 2012 – häufiger und länger als Männer, um sich
um die gemeinsamen Kinder oder um pflegebedürftige
Angehörige zu kümmern, und zwar nicht immer nur um
die eigenen Eltern, sondern oft auch – wie es für Frauen
typisch ist – um die Schwiegereltern. Frauen ermögli-
chen Männern oftmals gerade durch dieses Engagement
den beruflichen Aufstieg und nehmen dabei Einkom-
menseinbußen für sich selbst in Kauf.

Die Kollegin Fischbach hat es bereits angesprochen:
Ein besonderes Problem stellt daher die Alterssicherung
dar. Wir müssen aber auch über Minijobs reden. Frauen
haben häufig Minijobs und – das ist ein menschliches
Phänomen – berücksichtigen oft nur die aktuelle Situa-
tion. Sie sagen sich: Wenn ich beispielsweise im März,
April oder Mai 2012 einen Minijob habe, dann habe ich
erst einmal keine Abzüge. Das scheint wunderbar zu
sein. Aber das ist wenig vorausschauend. Denn was pas-
siert im Alter? Ein Minijob ist oft nur eine vorüberge-
hende Lösung. Die aus dem Moment heraus betrachteten
Vorteile sind nämlich langfristig mit großen Nachteilen
verbunden.

Deswegen ist es jetzt an uns – das tun unsere beiden
Fraktionen auch –, uns zu überlegen, wie wir die Forde-
rungen aus dem Gleichstellungsbericht gezielt umsetzen.





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)



(Christel Humme [SPD]: 450 Euro für Minijobs in Zukunft, ist das die Lösung? – Weiterer Zuruf von der SPD: Wovon träumen Sie denn nachts?)


– Wir werden es tun. Wir werden uns mit diesem Gleich-
stellungsbericht auseinandersetzen.

Natürlich dürfen wir im Rahmen einer ehrlichen Be-
standsaufnahme – Sie haben ja gemerkt, dass ich auch
mit Kritik nicht spare – nicht übersehen, dass wir in an-
deren Bereichen schon sehr viel erreicht haben. Der
Ausbau der Kinderbetreuung läuft auf Hochtouren. Da
ist mein eigenes Bundesland, Bayern, federführend mit
dabei.


(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD] und Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man bei null startet, hat man enorme Zuwachsraten! Das stimmt!)


Es gibt das Elterngeld, das nach wie vor ein ganz großes
Erfolgsmodell ist und auf das wir wahnsinnig stolz sind,
und wir machen Programme für den Wiedereinstieg.

Bevor Herr Trittin noch einmal so genussvoll lacht:
Schauen Sie sich einmal die rot-grüne Regierung in
NRW an. Dort läuft es nämlich mit Abstand am schlech-
testen in ganz Deutschland, was den Ausbau der Kinder-
betreuung betrifft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie müssen Ihren zuständigen Damen, die dort an der
Regierung sind, vielleicht noch einmal ein bisschen An-
schub geben; denn es kann nicht sein, dass NRW das
Geld, das wir als Bund zur Verfügung stellen, überhaupt
nicht abruft, sodass die Kinder in Nordrhein-Westfalen,
die es in vielen Bereichen nötig haben, nicht die Chance
haben, eine adäquate, gute und qualitativ hochwertige
Kinderbetreuung zu bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zurück zu dem, was wir schon erreicht haben: Wir
haben gute Programme zum Wiedereinstieg, dazu, wirk-
lich wieder gut in den Beruf hineinzukommen; auch das
ist ein Topthema. Ich würde mir auch wünschen, dass die
Unternehmen noch wesentlich mehr beispielsweise auf
neue Medien setzten, um eine Abkoppelung, die gerade
in der Schwangerschaft bzw. im Mutterschutz entstehen
kann, gar nicht erst zuzulassen. Diese Möglichkeiten
werden noch zu wenig genutzt.

Mit unserem Hilfetelefon, das wir für Frauen in Not-
situationen eingerichtet haben, haben wir ebenfalls wirk-
lich Gutes auf den Weg gebracht.

Sie sehen also, wir haben an einigen Stellen schon
sehr viel getan. Selbstverständlich gibt es noch sehr viel
mehr zu tun. Ich bin mir aber sicher, dass keine junge
Frau und selbstverständlich auch kein junger Mann noch
Lust hat, sich im Zusammenhang mit der Gleichstellung
noch einmal um 10 oder 20 Jahre vertrösten zu lassen.

Von meiner Seite aus kann ich Ihnen nur sagen: Wir
wollen das anpacken. Ich möchte diese Rede 2013 nicht
mehr halten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716502900

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Karin Roth für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1716503000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Es ist erfreulich, dass wir in diesem Parlament dazu
in der Lage sind, am heutigen Internationalen Frauentag
mit dem Blick nach außen eine gemeinsame Strategie
und gemeinsame Forderungen festzulegen. Ich danke
deshalb meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Ko-
alitionsfraktionen sehr dafür, dass sie gemeinsam mit
dem Bündnis 90/Die Grünen und der SPD heute einen
Antrag zur Gleichberechtigung der Frauen in den Ent-
wicklungsländern vorlegen.

In diesem Antrag wird zu Recht darauf hingewiesen,
dass 70 Prozent der Armut in den Entwicklungsländern
weiblich ist. Das heißt, dass das, was wir heute auch für
unser Land konstatieren – wir beklagen immer noch,
dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-
wertige Arbeit“ nicht gilt und dass der Zugang von
Frauen zu höheren Positionen in unserem Land nicht
möglich ist –, in verschärftem Maße natürlich gerade
auch für Frauen in Entwicklungsländern und insbeson-
dere für Frauen in Schwellenländern gilt.

Da reicht eine Reise nach Tunesien nicht aus, um zu
sagen, dass man unter Berücksichtigung der Scharia ja
ein bisschen weitergekommen ist. Ich glaube, das ist ein
bisschen zu wenig für die Gleichstellungspolitik, die wir
hier wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Gleichstellung von Frauen überall:
politisch, sozial und wirtschaftlich. Deshalb bin ich sehr
froh, dass wir in diesem Antrag deutlich zum Ausdruck
gebracht haben, dass der Zugang der Frauen in die Poli-
tik, in die Verwaltung und in die Justiz Vorrang haben
muss und dass wir vor allem besondere Regelungen
brauchen. Ich weiß, dass sich einige Männer in den Ko-
alitionsfraktionen schwergetan haben, weil das Thema
Quote natürlich ein Reizthema ist – keine liberale Selbst-
verständlichkeit, versteht sich. Daher haben wir uns da-
rauf geeinigt, das so zu formulieren.

Ich bin dankbar dafür, dass man anerkennt, dass es
ohne eine Frauenquote nicht geht; das gilt sowohl für die
Wirtschaft wie für die Politik. Für uns, die Sozialdemo-
kraten, steht natürlich fest, dass die Frauenquote notwen-
dig ist, um die gläserne Decke zu durchbrechen. Anders
geht es nicht, meine Damen und Herren, vor allen Din-





Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)


gen liebe Kolleginnen und Kollegen; das wissen wir. Es
geht um Macht, es geht um Einfluss. Jawohl, wir Frauen
wollen Einfluss, wir Frauen wollen Macht, auch in die-
sem Parlament.

Ich freue mich, dass wir uns auch darüber verständigt
haben, Gewalt gegen Frauen in den Entwicklungslän-
dern nicht nur nicht zu akzeptieren, sondern sie auch an-
zuprangern und durch Programme zu bekämpfen. Wenn
man sich unseren Antrag anschaut, sieht man, was wir
wollen: zum Beispiel vonseiten des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ei-
nen Gender-Aktionsplan, der mit der Europäischen
Union abgestimmt ist, damit wir die Frauen in den Ent-
wicklungsländern in allen Bereichen, in der Wirtschaft,
in der Politik, gemeinsam voranbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Offensichtlich hat dieses Thema, Gender, eine beson-
ders aggressiv machende Wirkung, insbesondere bei
Männern der Koalition. Herr Brüderle, dass Sie sich über-
haupt hierherwagen, ist eine unglaubliche Geschichte.


(Rainer Brüderle [FDP]: Steinmeier ist ja auch da!)


Ich habe mir sagen lassen, dass Herr Kauder und Sie
nicht bereit waren, eine Gender-Strategie mitzutragen,
weil Gender etwas ist, was man eigentlich nicht versteht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716503100

Frau Kollegin Roth, wenn es so wäre, würde das aber

sein Recht des Zutritts zum Plenarsaal nicht aushebeln.


(Heiterkeit)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1716503200

Herr Präsident, ich schlage vor: Denken Sie über ein

solches Verbot nach.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Frau Bär, Sie haben gesagt, Sie wollten in 2013 nicht
noch einmal eine Rede halten müssen, in der Sie Glei-
ches beklagen müssten. Ich gebe Ihnen recht. Ich bin si-
cher, dass die Kolleginnen in den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP in den nächsten zwölf Monaten noch
viel Überzeugungsarbeit leisten werden, um die Herren
ihrer Fraktionen und ihrer Parteien davon zu überzeu-
gen, dass Gender bedeutet, dass Frauen überall den glei-
chen Zugang zu allen Positionen, zu allen Möglichkeiten
in Schule, Beruf und Ausbildung usw. haben. Wenn sie
das nicht wollen, dann kann man ihnen nicht helfen.
Aber dann müssen sie wirklich darüber nachdenken, ob
sie eigentlich noch auf der Höhe der Zeit sind. Ich würde
sagen: Das sind sie nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt zum guten Schluss. Wir haben im Bereich der
Entwicklungspolitik gemeinsam sehr viel vor. Ich muss
sagen: Eines hat mich ein bisschen gestört, nachdem ich
den Antrag 17/8903 heute Morgen auf meinen Schreib-
tisch bekommen hatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen, ich danke Frau Pfeiffer und
Frau Wöhrl und ich danke Frau Dr. Christiane Ratjen-
Damerau dafür, dass sie diesen Antrag unterschrieben
haben. Normalerweise müssten Sie, Herr Brüderle, Herr
Kauder und Frau Hasselfeldt es sein, die einen solchen
Antrag unterschreiben; aber sie haben es nicht getan.
Das ist schade; das ist zu bedauern. Wir lassen uns aber
nicht auseinanderdividieren. Dieser Antrag ist so gut,
dass er umgesetzt werden muss. Ich gehe davon aus,
dass uns dieses Parlament in dieser Frage unterstützt, da-
mit wir in der Entwicklungspolitik einen Schritt weiter-
kommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716503300

Nun erhält die Kollegin Ratjen-Damerau für die FDP-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):
Rede ID: ID1716503400

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Meine lie-

ben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen
und Herren! Frau Roth, ich greife nur kurz auf, was Sie
gesagt haben, und möchte mich bei Herrn Brüderle be-
danken, dass er heute gekommen ist und sich meine
Rede zu dem von mir unterzeichneten Antrag anhört.
Herzlichen Dank, Herr Brüderle!


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Beifall bei der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1716503500
Ich war
gestern mit einigen Kollegen in Tunesien.


(Rainer Brüderle [FDP]: Steinmeier geht!)


– Herr Brüderle, jetzt wollen wir uns auf diesen Antrag
konzentrieren.


(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Das geht alles zulasten meiner Redezeit, Herr Brüderle.


(Caren Marks [SPD]: Die Frage ist, ob er das auch versteht!)


Kollegen und ich waren gestern mit der Bundesminis-
terin in Tunesien. Wir sprachen dort mit Frauen, ohne
die die Revolution in Tunesien nicht möglich gewesen
wäre. Diese Frauen haben mutig und stark in das revolu-
tionäre Geschehen eingegriffen. Sie sind bei Diskussio-
nen vertreten und schreiben Manifeste. Sie haben auch
jetzt noch eine starke Stimme und setzen sich für die
Rechte der Menschen, insbesondere für die Chancen-
gleichheit der Frauen, ein.





Dr. Christiane Ratjen-Damerau


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])


Ich muss sagen: Ich war sehr beeindruckt von den jun-
gen Frauen, die gut ausgebildet und mutig sind und über
das Internet ihre Meinungen und ihre Freiheitsgedanken
verbreiten.

Faire Chancen für Frauen sind die Voraussetzung für
Frieden, Sicherheit und Wohlstand in einer Gesellschaft
und in der gesamten Welt. Frauen sind der Schlüssel der
Entwicklung von Gesellschaften. Dort, wo Frauen weit-
gehend gleichberechtigt leben können, entwickeln sich
Gesellschaften schneller. Das Wirtschaftswachstum
nimmt zu, und die Armut wird verringert.

Die Weltbank hat nachgewiesen, dass Länder, in de-
nen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei
Erziehung, Beschäftigung und Eigentumsrechten gering
sind, weniger Probleme mit Unterernährung und Kinder-
sterblichkeit haben. Die Wirtschaft dieser Entwicklungs-
länder wächst schneller, und sie werden verantwortungs-
voller regiert.

Verbesserte Bildungs- und Lebenschancen für Frauen
tragen außerdem zu einer bewussten Familienplanung
und zu einer Verminderung des Bevölkerungswachstums
bei. Außerdem ist bewiesen, dass von Frauen erarbeite-
tes Geld zu einem größeren Teil der Familie zugute-
kommt als das von den Männern erarbeitete Geld.

Doch Frauenrechte sind nicht nur ein volkswirtschaft-
licher Faktor oder eine Frage des Wirtschaftswachstums.
Die Forderungen und Ansprüche der Frauen sind ein un-
verzichtbares und völkerrechtlich verankertes Menschen-
recht. Es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen in
Entwicklungsländern dieselben Rechte – im Familien-
recht, im Landrecht, im Scheidungsrecht oder im Erb-
recht – besitzen. Es müsste selbstverständlich sein, dass
ihre körperliche Gesundheit und Unversehrtheit genauso
wertvoll sind wie die der Männer.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])


Und es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen die
gleichen Möglichkeiten und Chancen haben wie Män-
ner.

Doch 70 Prozent der extrem armen Menschen sind
Frauen, und zwei Drittel dieser Personen sind Analpha-
beten. Die Gesundheit und die sexuelle Selbstbestim-
mung der Frauen in vielen Teilen der Welt werden wenig
geachtet. Jede Minute stirbt eine Frau an den Folgen ei-
ner zum Teil ungewollten Schwangerschaft oder Geburt.
Frauen besitzen in den Entwicklungsländern nur 2 Pro-
zent der Landfläche, und sie besetzen weltweit nur
17 Prozent der Parlamentssitze. Diese Beispiele zeigen,
dass wir zwar einen weltweiten Konsens über die Bedeu-
tung der Frauen haben, dieser aber noch nicht zu einem
umfassenden Wandel bei den Rechten und Möglichkei-
ten geführt hat.

Daher fordern wir, die Entwicklungspolitikerinnen
der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der Grünen, in un-
serem interfraktionellen Antrag, dass die Bundesregie-

rung die Weltgemeinschaft noch stärker als bisher bei
der Umsetzung der Ziele auf dem Weg zur Gleichbe-
rechtigung von Mann und Frau unterstützt


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und dass sie bei der Auswahl ihrer Instrumente in der
Entwicklungspolitik darauf achtet, dass diese auf
Gleichberechtigung hinwirken und die Belange der
Frauen und Mädchen eine angemessene Berücksichti-
gung finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])


Wir fordern außerdem unsere Partnerländer auf, dass sie
Verantwortung übernehmen, ihrer Verantwortung ge-
recht werden und insbesondere den weiblichen Teil ihrer
Bevölkerung vor Gewalt und Ungerechtigkeit schützen.

Uns allen ist gerade am Weltfrauentag schmerzlich
bewusst, dass viele Frauen und Mädchen noch immer an
Unterdrückung und Diskriminierung leiden. Für mich ist
es daher besonders wichtig, dass wir diesen Antrag nicht
als Regierungskoalition, sondern als Entwicklungspoliti-
kerinnen über die Fraktionsgrenzen hinaus stellen, dass
wir uns mit den Frauen in den Entwicklungsländern soli-
darisch zeigen und dass wir zusammenarbeiten, wenn es
darum geht, uns für alle Mädchen und Frauen in der
Welt einzusetzen.

An dieser Stelle danke ich ganz besonders meinen
Kolleginnen Sabine Weiss, Ute Koczy und Frau Roth für
die tolle, sehr kollegiale und nette Zusammenarbeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716503600

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Nadine Schön

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Bild der tunesischen Revolution ist das Bild einer jungen
Frau auf den Schultern eines jungen Mannes inmitten
der protestierenden Menschenmenge, in ihren Händen
ein Transparent. Das Bild der tunesischen Revolution ist
weiblich. Das haben uns gestern die Aktivistinnen in Tu-
nis deutlich gemacht. Der Stolz und die Überzeugung
der tunesischen Frauen, für die richtige Sache gekämpft
zu haben, waren bei unseren Gesprächen gestern deut-
lich zu spüren.

Was aber auch zu spüren und wirklich mit Händen zu
greifen war, war Angst: Angst vor der Gefahr des Rück-
schritts, gerade jetzt in der Phase der Transformation in
Tunesien, Angst davor, dass im neuen tunesischen





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


Rechts- und Verfassungssystem die Scharia gelten
könnte und Frauenrechte hintangestellt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr bewusst wurde
mir bei diesen Gesprächen am Vortag des Weltfrauen-
tags: In keinem Land der Welt ist Gleichberechtigung
erreicht. Auch im Jahr 2012 kämpfen überall auf der
Welt Frauen um Gleichberechtigung und Partizipation.
Nirgends ist das Erreichte sicher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb finde ich es gut, dass wir heute neben der
nationalen Perspektive auch einen Antrag mit der globa-
len Perspektive beraten. Liebe Kollegen, auch wenn Sie
sich eben darüber lustig gemacht und das bagatellisiert
haben: Uns ist es nicht egal, wie es den Frauen in der
Welt ergeht, und deshalb reden wir heute sowohl über
das Nationale als auch über das Globale.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Da haben wir von Ihnen den wenigsten Nachholbedarf, Frau Schön!)


Deutschland spielt eine wichtige Rolle in der globalen
Gleichstellungspolitik. Wir sind ein anerkannter und re-
spektierter Partner für viele Länder bei Projekten, zum
Beispiel auch bei der neuen Organisation UN Women.
Deshalb bekennen wir uns mit diesem Antrag gerade
auch zu unserer Verpflichtung gegenüber dieser Organi-
sation, sowohl finanziell als auch organisatorisch. Das
ist am heutigen Tag ein starkes Zeichen.

Wir sind international auch Vorbild: Vorbild mit unse-
rer modernen Methode, mit unserem modernen Ansatz
in der Gleichstellungspolitik, nämlich der Gleichstel-
lungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive.


(Elke Ferner [SPD]: Welche Gleichstellungspolitik denn?)


Lebensverlaufsperspektive heißt: Wir richten unsere
Gleichstellungspolitik nicht an Momentaufnahmen aus
und schon gar nicht nach einem einzigen Praktikumstag
in einem Frauenberuf. Wir betrachten die langfristigen
Folgen von Lebensentscheidungen von Frauen und Män-
nern. Allzu oft – das zeigt auch der Gleichstellungsbe-
richt – haben von Frauen und Männern gemeinsam
getroffene Entscheidungen im Lebensverlauf einseitig
negative Auswirkungen auf Frauen, so etwa beim
Thema Entgeltungleichheit oder auch bei der Rente.
Deshalb ist das gezielte Betrachten der konkreten
Lebensverlaufsperspektive wichtig, wenn es darum geht,
die richtigen Maßnahmen zu treffen.


(Elke Ferner [SPD]: Welche denn?)


Bisher können wir bei den Themen Entgeltgleichheit
und Rentensituation nicht zufrieden sein.


(Caren Marks [SPD]: Vom Beschreiben ändert sich nichts!)


Wir können auch mit der politischen Partizipation auf
allen Ebenen nicht zufrieden sein. „Wer nervt mehr als
Claudia?“ ist eine wirklich gute Aktion der Grünen.

Wir können auch mit dem Anteil von Frauen in Füh-
rungsetagen der Wirtschaft nicht zufrieden sein – ein
Thema, das gerade in den letzten Tagen wieder intensiv
diskutiert wird. Wir müssen uns zusammen mit der Wirt-
schaft doch ehrlich fragen, ob wir wirklich die Europäi-
sche Union brauchen, um in Deutschland zu mehr
Frauen in Führungspositionen zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen uns zusammen mit der Wirtschaft fragen,
wie attraktiv wir eigentlich für ausländische weibliche
Fachkräfte sind, wenn sie in den Führungsetagen der
deutschen DAX-Unternehmen nur geschlossene Sys-
teme, nahezu ohne Frauen, vorfinden. Wie attraktiv sind
eigentlich technische Berufe, wenn es keine weiblichen
Vorbilder gibt? Welche Signale senden wir an Frauen
meiner Generation, die motiviert ins Berufsleben star-
ten? Ich will nicht, dass meine Generation die nächste
ist, die an der gläsernen Decke hängen bleibt. Ich will,
dass Politik und Wirtschaft das Thema Frauen in Füh-
rungspositionen noch heute angehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles das sind
Punkte, bei denen wir wirklich unzufrieden sind, was wir
am heutigen Weltfrauentag auch artikulieren sollten.
Was wir aber nicht machen sollten und was uns wirklich
keinen Schritt weiterbringt, ist, gegenseitige Beschimp-
fungen, Diffamierungen und die Unterstellung auszu-
sprechen, es würde uns nicht um die Rechte der Frauen
gehen, wie wir das heute wieder in vielen Reden erlebt
haben. Um den richtigen Weg in der Sache kann man
streiten, aber gegenseitige Diffamierungen sind garan-
tiert der falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der zweite Fehler, den wir nicht machen sollten, ist,
das Erreichte als selbstverständlich zu nehmen. Wir
haben in den vergangenen Jahren viel erreicht, etwa bei
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch beim
Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt und – ganz
aktuell im letzten Jahr – vor Zwangsheirat.

Wir haben weitere Verbesserungen erarbeitet, etwa
das Chancengleichheitsgesetz, das bundesweite Hilfs-
telefon – ein ganz wichtiges Thema für Frauen in Not –
und auch Partizipationsmöglichkeiten in allen Bereichen
geschaffen. Wir sind an vielen Punkten dran, und auch
das sollte am heutigen Tag erwähnt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An einem Tag wie dem Weltfrauentag sollten wir die
Punkte nennen, bei denen wir unzufrieden sind; wir soll-
ten aber auch die Erfolge benennen, und wir sollten die
Erfolge nie für selbstverständlich halten, sei es hier in
Deutschland, in Tunesien oder weltweit. Das ist mein
Anliegen am heutigen Weltfrauentag. Deshalb danke ich
an dieser Stelle allen, die sich beruflich, ehrenamtlich
oder einfach tagtäglich im Alltag dafür einsetzen, dass es
mehr Gleichberechtigung in Deutschland gibt.

Herzlichen Dank an Sie alle.





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716503700

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1716503800

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Sozialdemokratie war immer auch international
aufgestellt. Eines der wichtigsten Ziele der politischen
Arbeit von August Bebel war, gegen Vorurteile zu kämp-
fen, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entge-
gengestanden haben. Er hatte vor 133 Jahren recht, und
er hat es heute leider immer noch. Das zeigen uns die
jährlichen Debatten um den Internationalen Frauentag.
Von der Ministerin habe ich diesbezüglich leider wenig
gehört. Ich frage mich: Wie will sie Gleichstellung
umsetzen? Welche Rezepte bietet sie an? Das hätte sie
uns heute sagen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elke Ferner [SPD]: Das weiß sie doch selber nicht!)


Die Internationalen Frauentage haben regelmäßig
zwei Schwerpunkte: auf der einen Seite der Kampf
gegen die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben
und im gesellschaftlichen Leben und auf der anderen
Seite die Situation von Frauen, die Opfer von Gewalt
geworden sind. Zum ersten Themenbereich ist schon
viel gesagt worden. Ich kann meinen Vorrednerinnen,
die sich gegen strukturelle Benachteiligung ausgespro-
chen haben, die dagegen kämpfen und sich zum Beispiel
für ein generelles Gleichstellungsgebot in der Privatwirt-
schaft einsetzen, für ihre Aussagen, die über die Landes-
grenzen hinaus wahrgenommen werden sollten, auch aus
menschenrechtlicher Sicht nur gratulieren und sie darin
bestärken.

Chancengleichheit durch Bildung und der Anspruch
auf gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit sind
weltweit Fundamente, auf die sich das Selbstbewusst-
sein von Frauen gründet. Dieses Selbstbewusstsein und
die Stärke brauchen Frauen auf der ganzen Welt, um
einen Platz im Leben zu finden und ihn zu verteidigen.
Besonders perfide ist es, dieses Selbstbewusstsein zu
brechen. Da bin ich beim Thema Gewalt gegen Frauen.
Hier bin ich bei vielen anderen Bereichen, die in diesem
Zusammenhang mit der schlechten Situation von Frauen
angesprochen werden müssen.

Eine Bemerkung zu der Reise nach Tunis: Man hätte,
denke ich, wie wir es im Menschenrechtsausschuss
immer getan haben, die Gespräche vor der Revolution
führen müssen und nicht erst danach.


(Beifall bei der SPD – Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU]: Wären Sie mal mitgefahren!)


Gewalttätiges Vergehen an Frauen ist zum Beispiel
seit Urzeiten ein brutales Mittel, den Kriegsgegner zu
demütigen. Diese Art der Kriegsführung gab es in den
Weltkriegen – dokumentiert zum Beispiel in der Ausstel-
lung „Verbrechen der Wehrmacht“ – und auch in den
Bürgerkriegen der letzten Jahrzehnte.

Ich möchte die Debatte zum Anlass nehmen, auf eine
Gruppe von Frauen aufmerksam zu machen, die bis heute
um ihre Anerkennung und ihre Ehre kämpft, nämlich die
sogenannten Trostfrauen. Sie sind heute über 80 Jahre alt.
Im Zweiten Weltkrieg waren sie junge Mädchen, die
jüngsten waren elf, zwölf Jahre alt. Die Japaner, Verbün-
dete Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, haben sie aus
einer Reihe von asiatischen Ländern verschleppt. Sie
mussten in Militärbordellen japanischen Soldaten dienen.
Zu dem körperlichen Leid kam die Scham. Erst im Jahre
1992 haben diese Frauen es gewagt, an die Öffentlichkeit
zu treten. Seit 20 Jahren bemühen sie sich um Anerken-
nung, Wiedergutmachung und eine offizielle Entschuldi-
gung. Ich denke, der Mut ist bewundernswert. Ich kann
die Bundesregierung nur auffordern, auf die japanische
Regierung einzuwirken – 67 Jahre nach dem Ende des
Krieges –, allen überlebenden Frauen Entschädigungen
zu zahlen und die staatlichen Archive für eine transpa-
rente, öffentliche Aufarbeitung zu öffnen. Ich bin sicher,
auch die UN-Sonderberichterstatterin für sexuelle
Gewalt gegen Frauen in Konflikten wäre Ihnen, liebe
Bundesregierung, für eine solche Initiative sehr dankbar.


(Beifall bei der SPD)


Noch eine Anmerkung an Herrn Döring – er hat uns
schon verlassen, vielleicht können Sie ihm das ausrich-
ten –: Die Frauenquote der FDP-Fraktion beträgt
24,7 Prozent – für den Fall, dass die Frage noch einmal
gestellt wird und er sie nicht beantworten kann.

Vielen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716503900

Sabine Weiss hat nun das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Sabine Weiss (CDU):
Rede ID: ID1716504000

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! „Lassen Sie uns
Frauen das Gemeinsame suchen“; Kollegin Ziegler, das
haben Sie gegen Ende Ihres Beitrags heute gesagt. Dies
geht aber nicht – das hat auch meine Vorrednerin, Frau
Schön, betont – mit gegenseitigen und zum Teil unhalt-
baren Vorwürfen. Wenn Sie in diesem Zusammenhang
unsere Bundeskanzlerin erwähnen, möchte ich hier ein-
mal deutlich und klar sagen: Wir können doch froh und
stolz sein, dass wir mit ihr eine Frau an unserer Spitze
haben, die sich für unser Land gerade gegen die Männer
in dieser Welt durchsetzt.





Sabine Weiss (Wesel I)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Sie tut aber nichts für die Frauen! – Caren Marks [SPD]: Was macht sie für die Gleichstellung? Nichts!)


An die Kolleginnen der Linken auch von mir eine
kleine Anmerkung: Wenn Sie heute Ihre Männer von der
Debatte ausschließen oder zum Friseur schicken,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die kriegen hinterher das Protokoll! Da können Sie sicher sein!)


dann hat das nichts mit Gleichstellung zu tun. Das ist
nicht unser Ansatz. Das wollen wir nicht, und schon gar
nicht uniformiert, ob mit lila Schal oder anderswie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute haben wir den Internationalen Frauentag; und
als Entwicklungspolitikerin möchte ich im Rahmen die-
ser Debatte einen Blick auf die armen Länder dieser
Erde werfen. Frauen in vielen Teilen dieser Welt können
von dem, was wir hier mittlerweile erreicht haben, nur
träumen. Armut, Bildungs- und Chancenlosigkeit sowie
Krankheit haben in vielen Teilen der Welt ein überwie-
gend weibliches Gesicht. Welche Chancen ein dort gebo-
rener Säugling bekommen wird, entscheidet sich viel zu
häufig dadurch, welche Gene er hat: xx oder xy, also
Mädchen oder Junge. Besonders dramatisch ist die Si-
tuation von behinderten Frauen, denen wir deutlich mehr
Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, und ohne die
Beteiligung von Frauen ist nirgendwo ein Staat zu
machen. Die Benachteiligung von Frauen wird oft aus-
schließlich mit Kultur und Tradition begründet.

Ich möchte hier und heute auf einen Aspekt eingehen,
der mir besonders am Herzen liegt – eine Menschen-
rechtsverletzung, die so grausam ist, dass ich nie müde
werde, sie überall und immer wieder anzuprangern: die
weibliche Genitalverstümmelung. 150 Millionen Frauen
weltweit sind genitalverstümmelt. Unter der Entfernung
der äußeren Geschlechtsorgane leiden die Frauen ein
Leben lang, körperlich und seelisch, wenn sie überhaupt
überleben.

Die Genitalverstümmelung ist in etlichen Entwick-
lungsländern nicht unter Strafe gestellt; in anderen steht
sie offiziell unter Strafe, wird jedoch nicht verfolgt. Die
Tradition ist alt, und nach wie vor herrscht in etlichen
Ländern die Einstellung, dass nur eine beschnittene Frau
eine gute Frau ist. Ich kann und will mich nicht damit
abfinden, dass weiterhin 3 Millionen Mädchen pro Jahr
diese Tortur erleiden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen weitere Maßnahmen gegen diese unsägliche
Praxis vorantreiben. Dazu gehört es zum Beispiel auch,
Beschneiderinnen dabei zu unterstützen, ein anderes
Auskommen zu finden und unsere Partnerländer in der

Implementierung einer Ächtung der Genitalverstümme-
lung zu beraten.

Wir senden mit unserem Handeln in Deutschland Si-
gnale an die Frauen in den Entwicklungsländern aus.
Wenn man in Deutschland beispielsweise die Genital-
verstümmelung mit einem eigenen Straftatbestand unter
Strafe stellen würde, wäre das meines Erachtens ein
wichtiges gesellschaftspolitisches Zeichen und auch ein
Signal für die Entwicklungsländer, in denen Genitalver-
stümmelung eben nicht unter Strafe steht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich, dass wir heute am Weltfrauentag
einen überfraktionellen Antrag zum Thema „Gleich-
berechtigung in Entwicklungsländern voranbringen“
präsentieren können; denn dies zeigt, wie wichtig dieses
Thema für uns alle ist, und auch, wie sehr uns die Situa-
tion der Frauen und Mädchen am Herzen liegt. Gleich-
stellung – oder wie immer man es auch nennen mag – ist
immer ein Schlüsselthema, hier bei uns und in aller Welt.
Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, nicht hier und
auch sonst nirgendwo auf dieser Welt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich kann für mich, für viele Frauen, aber auch für viele
Männer sagen: Was immer auch nötig ist, um die Le-
bensbedingungen von Frauen in Entwicklungsländern
ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken – wir sind
dabei.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716504100

Erika Steinbach ist die letzte Rednerin zu diesem Ta-

gesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1716504200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Weltfrauentag ist natürlich auch immer Anlass, auf das
spezifische Leid von Frauen hinzuweisen. Frau Kollegin
Graf hat vorhin zu Recht darauf hingewiesen, dass es ja-
panische Bordelle gegeben hat, in denen 100 000 bis
200 000 Frauen zur Prostitution gezwungen worden
sind. Der größte Teil der Opfer waren Koreanerinnen.
Sie stammten aber auch aus anderen Ländern, aus China,
Taiwan, den Philippinen, Indonesien, aber auch aus Ja-
pan selbst. Das Leid dieser Frauen ist wirklich uner-
messlich. Viele starben an den Folgen von Krankheit,
Folter und Hunger oder durch Erschöpfung. Die Frauen,
die diese Hölle der Zwangsbordelle überlebt haben,
überstanden häufig das Nachfolgende nicht: Sie fühlten
sich voller Scham und Schande und nahmen sich selbst
das Leben.





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)


Die Angehörigen der Toten wie die Überlebenden
brauchen unser Mitgefühl. Aber, Frau Kollegin Graf, ei-
nes dürfen wir nicht übersehen – wir dürfen die Augen
davor nicht verschließen –: Weltweit wurde und wird lei-
der auch heute noch das Mittel der Vergewaltigung als
Kriegsmittel eingesetzt. Die sexuelle Gewalt gegen
Frauen nahm in den Kriegen des 20. Jahrhunderts er-
schreckende Ausmaße an. Es ist nicht nötig, nach Asien
zu schauen: Stalins Rote Armee


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


hat weit mehr als 2 Millionen Frauen, Mädchen und Kin-
der vergewaltigt, Baltinnen, Polinnen, Deutsche, Unga-
rinnen, Ukrainerinnen, russische Zwangsarbeiterinnen.
Allein in Budapest sollen nach Einmarsch der Roten Ar-
mee Schätzungen zufolge 100 000 Frauen vergewaltigt
worden sein. Man schätzt die Zahl der deutschen verge-
waltigten Frauen auf etwa 1,9 Millionen. Nur sind die
Zahlen gar nicht exakt zu benennen, weil sehr viele
Frauen nicht darüber reden können. Es gelingt ihnen
nicht, dieses Trauma abzuschütteln.

In den 90er-Jahren mussten wir auf dem Balkan fas-
sungslos beobachten, dass diese Pest der Kriegsführung
immer noch vorhanden ist. Afrika ist heute ein beredtes
Beispiel dafür, was sich auf diesem Felde abspielt. Die
Opfer werden traumatisiert. Damit trifft man die Men-
schen, aber auch die Seele eines jeden Volkes.

Die Menschenrechtsverletzungen an den „Trost-
frauen“ – so werden die japanischen Opfer genannt –
sind mit Entschädigungszahlungen alleine in keiner
Weise zu heilen. Die Aufarbeitung, die in Japan inzwi-
schen beginnt, muss innerhalb der japanischen Gesell-
schaft erfolgen. Aber, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, ausgerechnet zum ersten Jahres-
tag der japanischen Erdbebenkatastrophe mit dem nach-
folgenden Tsunami und 15 000 Toten bringen Sie einen
Antrag ins Plenum ein, der dieses schwer geschlagene
Land wegen eines Vergehens aus der Mitte des 20. Jahr-
hunderts an den Pranger stellt. Ich finde das absolut in-
stinktlos, weil es dabei um ein generelles Thema geht; es
ist kein spezifisch japanisches Thema. Suchen Sie sich
einen anderen Zeitpunkt aus!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eines müssen wir auch sehen: Die Mahnungen an Ja-
pan sind wohlfeil, solange man die Augen davor ver-
schließt, in welchen unvorstellbaren Dimensionen auf
unserem europäischen Kontinent Massenvergewaltigun-
gen als Mittel der Politik und der Kriegsführung einge-
setzt worden sind. Nichts davon ist aufgearbeitet.

Meine liebe Kolleginnen und Kollegen von den So-
zialdemokraten, fordern Sie doch Ihren Exbundeskanz-
ler Gerhard Schröder auf, zu seinem Lupenreinen-De-
mokraten-Freund Putin zu gehen und ihn zu bitten, die
Gräuel der Roten Armee an Frauen, Mädchen und Kin-
dern aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen. Dann tun
Sie ein gutes Werk.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich biete Ihnen aber gerne an, dass wir unter den
Fraktionen einen gemeinsamen Antrag zu dieser Ge-
samtthematik machen. Das alleine auf Japan zu fokus-
sieren, finde ich zu diesem Zeitpunkt schlichtweg unan-
ständig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716504300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8879, 17/8789, 17/8897 und
17/6240 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8903 mit dem
Titel „Gleichberechtigung in Entwicklungsländern vo-
ranbringen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Antrag ist
mit breiter Mehrheit angenommen.

Unter dem Tagesordnungspunkt 3 f geht es um die Be-
schlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Geschlechterge-
rechte Besetzung von Führungspositionen der Wirt-
schaft“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf der Drucksache 17/8830, diesen Antrag
der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Diese Beschlussempfehlung ist mehrheit-
lich angenommen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Ein Jahr Fukushima – Die Energiewende muss
weitergehen

– Drucksache 17/8898 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Auch hier ist interfraktionell eine Debattenzeit von
90 Minuten vorgesehen. – Offenkundig gibt es darüber
Einvernehmen. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jürgen Trittin.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716504400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Sonn-

tag jährt sich eine dreifache Katastrophe. Ein Erdbeben
und ein Tsunami zerstörten weite Teile der Küste Japans.
20 000 Menschen kamen ums Leben. Mehrere Tausend
Menschen sind bis heute vermisst. Unsere Gedanken





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


sind an diesem Tag bei den Opfern und ihren Angehöri-
gen.

Das Erdbeben und der Tsunami haben nicht nur
Schiffe an Land gespült, sondern auch sechs Reaktoren
bei Fukushima so beschädigt, dass man sie nicht mehr
unter Kontrolle bekam. In mindestens drei dieser Reak-
toren kam es zur Kernschmelze. Wir haben es mit einem
dreifachen Super-GAU zu tun. Das Undenkbare, das Un-
vorstellbare trat ein.

Ein Jahr nach dieser Katastrophe leben heute noch
320 000 Menschen in Notunterkünften. Nur der aller-
kleinste Teil von 23 Millionen Tonnen Schutt konnte bis-
her geräumt werden. Viele Kommunen weigern sich, den
Schutt auf ihre Deponien zu nehmen, weil sie fürchten,
er sei radioaktiv verseucht.

Die dreifache Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami
und Super-GAUs brachte unendliches Elend und Leid.
Sie brachte aber nicht nur Leid, sondern war auch eine
ökonomische Katastrophe. Die Münchener Rück bezif-
fert die Schäden auf 210 Milliarden Euro und spricht von
der größten Naturkatastrophe überhaupt.

Fukushima war auch eine ökologische Katastrophe.
Das Norwegian Institute for Air Research hat errechnet,
dass die in Fukushima freigesetzte Menge an Radioakti-
vität die größte zivile Freisetzungsmenge in der Ge-
schichte der Menschheit war.

Und was war die Reaktion? Die Betreiberfirma Tepco
und die japanische Regierung reagierten so wie immer,
wenn es um Atomkraft geht, und von einem solchen Ver-
halten in Deutschland konnten wir erst heute Morgen lei-
der wieder bezüglich der verrosteten Atommüllfässer in
Brunsbüttel lesen. Es wird verschwiegen und abgewie-
gelt. Die Folge in Japan war: Es wurde zu spät und viel
zu zögerlich evakuiert. Bis heute sind weite Teile des
Landes radioaktiv verseucht. Das gilt nicht nur für die
unmittelbare Nachbarschaft, auch in der Millionenstadt
Tokio haben wir Werte, die eine Belastung aufzeigen.

Das Verschweigen und Beschönigen geht bis heute
weiter. Menschen wird versprochen, sie könnten zurück-
kehren, dabei ist derzeit gerade mal ein Reaktor notdürf-
tig mit einem Zelt abgedeckt. Nach wie vor tritt Radio-
aktivität aus. Die Katastrophe ist einfach nicht vorbei.
Überall noch werden Lebensmittel verkauft, die selbst
die nach oben manipulierten Grenzwerte überschreiten.

Wann und wie mit dem Rückbau begonnen wird, ist
ungewiss. Sie müssen sich klarmachen: Mit dem Rück-
bau des Reaktors Three Miles Island in den USA konnte
erst 30 Jahre nach der Katastrophe überhaupt begonnen
werden. Von einer baldigen Rückkehr der Menschen
kann also leider nicht die Rede sein.

Fukushima hat die Einstellung der Menschen zur
Atomkraft weltweit verändert. Italien lehnte in einem
Volksentscheid den Einstieg in die Atomenergie ab, in
der Schweiz wurde ein Neubauverbot beschlossen, und
selbst in Frankreich gibt es in Umfragen Mehrheiten ge-
gen den Neubau von Atomkraftwerken. In Japan liefern
gerade einmal zwei der 54 Atomkraftwerke Strom; der

Rest wurde vom Netz genommen, weil sich niemand
traut, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Die Katastrophe traf in Deutschland eine Regierung
im atompolitischen Blindflug. Sie hatte gerade beschlos-
sen, die Laufzeiten über 2040 hinaus zu verlängern.
Durch Fukushima wurde die Bundesregierung von der
Anti-AKW-Bewegung, von Grünen, von Sozialdemo-
kraten und von Linken gezwungen, eine Halse in der
Atomenergiepolitik hinzulegen; sie musste in voller
Fahrt die Richtung wechseln. Sie haben vor knapp einem
Jahr die acht ältesten Kraftwerke stillgelegt. Sie wollen
bis 2022 aussteigen. Das rot-grüne Ausstiegsgesetz
wurde reaktiviert.

In Deutschland gibt es jetzt einen Konsens über den
Ausstieg. Ich sage sehr deutlich: Das ist gut so, und wir
begrüßen das.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber wir haben in Deutschland noch keine Energie-
wende; vielmehr sind wir an manchen Stellen Zeuge ei-
ner schwarz-gelben Konterrevolution gegen die Energie-
wende.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)


Wer die Energiewende wirklich will, der muss für den
Ausbau erneuerbarer Energien, für mehr Energieeffi-
zienz und für Energieeinsparung sorgen. Aber was tun
Sie? Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien
durch Ihre EEG-Novelle abwürgen.


(Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP])


Sie blockieren seit einem Jahr ein verbindliches Energie-
effizienzziel der EU von 20 Prozent, obwohl Ihre eigene
Kanzlerin dieses Ziel in der EU durchgesetzt hat. Sie
sind dagegen, dass das, was die Bundeskanzlerin durch-
setzt, in Europa verbindlich wird. Sie verweigern ein eu-
ropäisches, ambitioniertes Klimaschutzziel von 30 Pro-
zent bis 2020. Die Folge sind billige CO2-Zertifikate und
ein Wiederanstieg des Ausstoßes von CO2 aus Braun-
kohlekraftwerken. Das nenne ich eine energiepolitische
Bankrotterklärung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie zerstören Investitionssicherheit. Erst treiben Sie
den Strompreis nach oben, indem Sie die Energiever-
schwendung in Großbetrieben durch Haushalte und
kleine Handwerksbetriebe subventionieren lassen. Als
Sie dann feststellen müssen, dass die Preise sehr stark
gestiegen sind, behaupten Sie, dass Sie das EEG novel-
lieren müssen. Die Wahrheit ist: Ohne diese Beschlüsse
wäre die EEG-Umlage gesunken und nicht gestiegen.
Der Preistreiber im Erneuerbare-Energien-Gesetz ist
nicht der Bereich der erneuerbaren Energien, er heißt
schlicht und ergreifend Rösler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


Lieber Kollege Kauch, Sie behaupten, es ginge Ihnen
um den Preis bzw. die Kostendämpfung. Wenn das so ist,
dann frage ich mich: Warum senken Sie besonders den
Anteil der preiswertesten Form der Energieerzeugung
durch Photovoltaik auf Freiflächen ab? Nein, es geht Ih-
nen nicht um den Preis. Sie wollen am Ende den Ein-
speisevorrang für erneuerbare Energien abschaffen. Des-
wegen gibt es nicht mehr 100 Prozent Einspeisung. Sie
wollen schlicht und ergreifend mehr Strom von RWE
und Eon. Sie wollen mehr Strom aus Kohlekraftwerken
statt mehr Strom aus Wind und Sonne im Netz haben.
Das ist Ihr Plan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit dem Atomausstieg hat Deutschland den richtigen
Weg eingeschlagen. Die Welt schaut auf dieses Land.
Wir müssen hier zeigen, dass wir in der Lage sind, die
Energieerzeugung eines großen, wichtigen Industrielan-
des auf eine erneuerbare, effiziente und sparsame Basis
zu stellen. Dafür brauchen wir mehr als den Ausstieg.
Dafür brauchen wir die Energiewende. Sie gefährden
diese Energiewende durch das Desinteresse des Umwelt-
ministers, durch die aktiven Bemühungen des frosch-
fressenden Teils Ihrer Koalition.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Schon wieder ein Joke!)


Die Energiewende ist machbar: mit einem konsequen-
ten Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien, mit
Investitionen in Speicher und Netze, mit Energieein-
sparung und mit verbindlichen Energieeffizienzzielen.
Diese Lehre aber haben Sie aus Fukushima noch zu
ziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716504500

Nächster Redner ist der Kollege Michael Paul für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716504600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am

11. März des letzten Jahres, 14.46 Uhr Ortszeit, gab es
vor der Küste Japans, 130 Kilometer vor Sendai, ein
Erdbeben mit der Stärke 9,0 auf der Richterskala. Das
war eines der stärksten Erdbeben, das jemals gemessen
wurde. Circa eine Stunde später traf eine Tsunamiflut-
welle auf das Festland, zwischen 7 und 15 Meter hoch.
Über 15 800 Menschen starben, 3200 werden noch heute
vermisst. Über 6000 Menschen wurden infolge des
Erdbebens und des Tsunamis verletzt. Über 350 000
Menschen verloren ihr Heim, davon 80 000 im Umkreis
des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi. Große Flächen
sind immer noch kontaminiert, radioaktiv belastet. Das
sind die schrecklichen Folgen des 11. März 2011 in
Japan. Im Namen meiner Fraktion spreche ich dem japa-
nischen Volk unser tief empfundenes Mitgefühl für das
erlittene, unendliche Leid aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vor dem Hintergrund dieser Zahlen halte ich es auch
heute, ein Jahr später, für unangemessen, die Ereignisse
in Japan allein auf den Reaktorunfall in Fukushima und
den Kernenergieausstieg hierzulande zu reduzieren.
Heute, ein Jahr später, wissen wir: Im Kernkraftwerk
Fukushima lagen Meerwasserpumpen zur Kühlung der
Reaktorblöcke samt elektrischem Antrieb nur 5 Meter
über dem Meeresspiegel. Auch die Dieselgeneratoren
für den Notstrom für alle Blöcke der Anlage Fukushima
lagen im selben Raum nebeneinander, ebenfalls nur
5 Meter über der Wasserlinie. Die Türen des Reaktor-
gebäudes waren nicht gegen eindringendes Wasser gesi-
chert, sodass die Pumpen und Generatoren ausfielen, als
sie überflutet wurden, was letztlich dazu führte, dass es
zur Kernschmelze in drei Blöcken des Kraftwerkes kam.

Heute wissen wir: Es gab in den letzten 510 Jahren al-
lein 16 Tsunamis mit über 10 Meter Wellenhöhe. Das
heißt, statistisch tritt ein solcher Tsunami mit einer sol-
chen Wellenhöhe in Japan etwa alle 30 Jahre auf. Die
Schutzmauer der Anlage in Fukushima war so konstru-
iert, dass sie einer Flutwelle von maximal nur 5,70 Meter
standhalten konnte. Es sind also massive Fehler bei der
Auslegung der Anlage gemacht worden. Um es ganz
klar zu sagen: Diese Anlage hätte so niemals an dieser
Stelle errichtet werden dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Anders als unmittelbar nach dem Beben wissen wir
heute: Hier wurden die Regeln für die erforderliche
Schadensvorsorge grob nicht eingehalten. Das hat nichts
damit zu tun, dass sich das sogenannte Restrisiko ver-
wirklicht hat; denn „Restrisiko“ – das sagt auch das
Verfassungsgericht – heißt, dass eine der Technik inne-
wohnende Gefahr verwirklicht wird, die vom mensch-
lichen Erkenntnisvermögen nicht erfasst ist. Dass ein
Kernkraftwerk an der Küste des Pazifiks einem Tsu-
nami, mit dem in dieser Gegend der Welt etwa alle
30 Jahre zu rechnen ist, standhalten muss, erschließt sich
jedem; dies geht sicher nicht über das menschliche
Erkenntnisvermögen hinaus. Mit Restrisiko hat das also
nichts zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Vor diesem Hintergrund können wir alle froh sein,
dass dort – über die fürchterlichen Folgen des Erdbebens
und des Tsunamis hinaus – radiologisch, also durch
radioaktive Strahlung bedingt, nicht mehr passiert ist. In
der letzten Woche war der langjährige Vorsitzende der
Strahlenschutzkommission, Professor Michel, bei uns im
Umweltausschuss. Auch er hat festgestellt: Durch radio-
aktive Strahlung gab es in Japan keine Toten und keine
Verletzten.


(Marco Bülow [SPD]: Er hat auch gesagt, dass die Strahlung erst in Jahren wirkt! Sie lernen nicht dazu!)


Auch in Zukunft, Herr Bülow, wird es weder bei der Be-
völkerung noch bei den Arbeitern im Kraftwerk gesund-





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


heitliche Auswirkungen durch radioaktive Strahlung ge-
ben,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! – Weiterer Zuruf des Abg. Marco Bülow [SPD])


vorausgesetzt die von der japanischen Regierung ergrif-
fenen Maßnahmen werden fortgesetzt.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar nichts gelernt!)


Dass Sie von der SPD und von den Grünen ausge-
rechnet das, was der langjährige Vorsitzende der Strah-
lenschutzkommission sagt, in Zweifel ziehen – er wurde
von Jürgen Trittin in die Kommission geholt und von
Sigmar Gabriel zum Vorsitzenden befördert –, das
spricht Bände.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Frank Schwabe [SPD]: Was wollen Sie damit sagen?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716504700

Herr Kollege, es gibt eine Zwischenfrage der Kolle-

gin Vogt. Möchten Sie diese zulassen?


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716504800

Ja, gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716504900

Bitte schön.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1716505000

Herr Kollege Paul, wenn das alles unproblematisch ist

und kaum dramatische Folgen hat – so beschreiben Sie
es –, könnten Sie uns dann bitte erklären, wieso die Bun-
desregierung den Atomausstieg in der Form beschlossen
hat, wie sie ihn beschlossen hat?


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716505100

Frau Vogt, das kann ich gerne tun.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war ja dagegen!)


Wir haben die Situation in Japan zu einem Innehalten
genutzt und uns mit der Frage beschäftigt, ob unsere
Energiepolitik so, wie wir sie angelegt haben, unter an-
derem im Energiekonzept von 2010, fortführbar ist. Im
Bundestag, im Bundesrat und auch in der Bevölkerung
war eine große Mehrheit der Auffassung – in diesem
Punkt war man sich einig –,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Waren auch Sie der Auffassung?)


dass es keine Verlängerung der Laufzeiten – diese hatten
wir ursprünglich beschlossen – geben soll.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da waren die sich vor Fukushima schon einig!)


Spätestens im Jahre 2022 wird die Nutzung der Kern-
energie zur elektrischen Energieerzeugung in Deutsch-
land beendet sein.

Die zwei Arbeiter, deren Bilder wir vor einem Jahr im
Fernsehen gesehen haben, die Verbrühungen durch ra-
dioaktiv belastetes Kühlwasser erlitten haben, konnten
nach wenigen Wochen der Beobachtung aus dem Kran-
kenhaus entlassen werden, da sie Gott sei Dank keine
Schäden durch radioaktive Strahlung davongetragen
haben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt machen Sie schon wieder so weiter! Das ist unglaublich!)


– Sie müssen die Fakten zur Kenntnis nehmen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir nehmen vor allen Dingen Ihre Rede zur Kenntnis! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Welche Fakten denn?)


Dass der Tsunami und das Erdbeben schreckliche Folgen
hatten, ist unbestritten. Dass wir radiologisch gesehen
unheimliches Glück hatten, steht auch außer Frage. Das
hat unter anderem damit zu tun, dass – anders als in
Tschernobyl – ein Sicherheitsbehälter vorhanden war,
der verhindert hat, dass noch mehr Strahlung ausgetreten
ist.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Machen Sie jetzt Urlaub in Fukushima, Herr Paul?)


Wir haben in Deutschland die richtigen Schritte ein-
geleitet. Die Reaktor-Sicherheitskommission wurde
beauftragt, unverzüglich alle deutschen Kernkraftwerke
auf den Prüfstand zu stellen, gerade auch unter dem
Gesichtspunkt, ob unwahrscheinliche Ereignisse – auch
in einer Kombination miteinander – gefährlich werden
können. Das Ergebnis war eindeutig: Die Sicherheits-
reserven deutscher Anlagen sind deutlich größer. Das
haben mittlerweile auch die Stresstests auf europäischer
Ebene bestätigt. Nicht nur Naturkatastrophen wie Erd-
beben und Hochwasser wurden dabei betrachtet, sondern
auch menschlich beeinflusste Ereignisse wie Flugzeug-
absturz und Terrorangriff.

Es kann also nicht davon die Rede sein, wie jetzt im
Antrag der Grünen zu lesen ist, dass die Bundesregie-
rung zur Sicherheit laufender Anlagen nichts geliefert
hätte. Aber Sicherheit – auch das gilt es festzuhalten –
hört nicht an den Grenzen auf. Allein in Europa sind
über 150 Kernkraftwerke in Betrieb, weltweit sind es
über 430. An dieser Stelle sind wir uns mit den Kollegen
der Grünen einig: Das Risiko eines nuklearen Unfalls
wird nicht dadurch minimiert, dass wir Deutschland zur
kernkraftfreien Zone erklären. Auch in unseren Nach-
barländern in Europa werden weiter Kernkraftwerke
betrieben und neue gebaut.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aha!)


Daher begrüße ich außerordentlich, dass die Bundes-
kanzlerin auf europäischer Ebene durchgesetzt hat – ich
bedanke mich dafür bei ihr –, dass für alle Anlagen in





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


Europa die Durchführung von Stresstests veranlasst
wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, Sie müssen auch zu einem Stresstest!)


Die Ergebnisse dieser Stresstests müssen auch in unse-
ren Nachbarländern umgesetzt werden, und vorgeschla-
gene Maßnahmen müssen durchgeführt werden. Das
erhöht nicht nur die Sicherheit bei unseren Nachbarn
– Radioaktivität kennt keine Grenzen –, sondern auch
die Sicherheit bei uns.

Auch weltweit wird die Kernenergie in Zukunft eine
Rolle spielen – ob wir das gut finden oder nicht –, schon
allein deshalb, weil energiehungrige Schwellenländer
wie China, Indien, Brasilien und Südkorea nicht auf die-
sen Energieträger verzichten wollen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Brasilien“ ist ein gutes Stichwort!)


Weil dies so ist und weil wir den Bau neuer Anlagen dort
nicht verhindern können,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn „nicht verhindern“? Sie fördern das! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aha! Und deswegen helfen wir dabei, ja? Das ist ja nicht zu fassen!)


halte ich es im Interesse unserer eigenen Sicherheit für
vollkommen richtig, dazu beizutragen, dass dort deut-
sche Technologie mit ihren anerkannten, hohen und
durch Forschung ständig weiterentwickelten Sicherheits-
standards zum Einsatz kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie argumentieren Sie da eigentlich?)


Die beschlossene Energiewende hat eine Reihe von
Herausforderungen mit sich gebracht. Schon vorher wa-
ren unsere Ziele weltweit einmalig ehrgeizig. Wir verfol-
gen unter anderem das Ziel, den CO2-Ausstoß bis Mitte
des Jahrhunderts um 85 Prozent zu reduzieren.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716505200

Herr Kollege?


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716505300

Ja, bitte?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716505400

Es gäbe noch eine zweite Zwischenfrage, diesmal von

der Kollegin Bulling-Schröter. Möchten Sie auch diese
Zwischenfrage zulassen?


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716505500

Gern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716505600

Bitte schön.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716505700

Herzlichen Dank, Herr Dr. Paul. – Ich habe Ihre Rede

sehr aufmerksam verfolgt. Wir sind uns einig, dass
AKW – wenn wir sie schon nicht verhindern können –
nicht dort gebaut werden dürfen, wo es zu Erdbeben
kommt. Bald steht ja die Entscheidung der Bundesregie-
rung zu Angra 3, einem AKW, das in einem Erdbeben-
gebiet in Brasilien gebaut werden soll, an. Sie haben ge-
sagt: Wir haben wenig Einfluss darauf, ob im Ausland
AKW gebaut werden oder nicht. Wir können lediglich
deutsche Technik zur Verfügung stellen. – Bald geht es
aber auch um das notwendige Geld. Eine Hermesbürg-
schaft steht an. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob die
Bundesregierung Ihrer Meinung nach bereit ist, zu
sagen: Wir finanzieren kein AKW, das in einem Erdbe-
bengebiet gebaut werden soll und unsicher ist. – Die ent-
sprechenden Studien haben sicher auch Sie in dieser Wo-
che erhalten. Meine Frage: Wie stehen Sie dazu?


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716505800

Meines Wissens hat die Bundesregierung zu diesem

Zweck Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis der
Gutachten liegt, soviel ich weiß, noch nicht vor. Die Re-
gierung wird im Lichte der Ergebnisse der Gutachten
auch über die Hermesbürgschaften entscheiden.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ein Jahr nach Fukushima ist festzustellen: Was die nu-
klearen Folgen angeht, sind wir Gott sei Dank mit einem
blauen Auge davongekommen. Es hätte angesichts der
Fehler, die beim Bau der Anlage gemacht worden sind,
viel schlimmer kommen können. Der beschleunigte
Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie, den die
große Mehrheit dieses Hauses und des Bundesrates be-
schlossen hat, hat die Herausforderungen noch größer
gemacht, als sie ohnehin schon waren. Um unser Ziel,
eine sichere, bezahlbare und umweltfreundliche Energie-
versorgung zu gewährleisten, zu erreichen, haben wir
noch viel Arbeit vor uns. Die Energiewende ist kein
Selbstläufer. Die Koalition nimmt diese Herausforde-
rung entschlossen an.


(Frank Schwabe [SPD]: Das merkt man!)


Deutschland muss auch in Zukunft auf höhere Sicher-
heitsstandards für Kernkraftwerke in Europa und welt-
weit drängen,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Nicht nur in Deutschland!)


im Interesse der Sicherheit vor Ort, aber auch im Inte-
resse unserer eigenen Sicherheit.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716505900

Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1716506000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Paul, ich bin Ihnen für Ihre Worte, die Sie als erster
Redner von der Koalition in dieser Debatte gewählt
haben, ausgesprochen dankbar.


(Frank Schwabe [SPD]: Selbstentlarvend! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön entlarvend! – Marco Bülow [SPD]: Das war wie ein Wahlwerbespot!)


Denn diese Worte zeigen, dass wir mitnichten über den
Berg sind und dass das, was vor einem Jahr auch mit Ih-
ren Stimmen beschlossen wurde, für viele nur Taktik war
und nichts mit Überzeugung und Bewusstsein zu tun
hatte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wollten Sie uns sagen? Sie haben gesagt, es gab
Baumängel und unglückliche Umstände. Das ist doch ei-
gentlich eine Rechtfertigung für die Auffassung „Atom-
technologie ist gar nicht schlimm, Atomtechnologie darf
halt nur nicht mit unglücklichen Umständen verkettet
werden.“ gewesen. – Herr Paul, Sie sind auf dem völlig
falschen Dampfer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Bundesumweltminister, Sie haben in den Reihen
der Abgeordneten Platz genommen. Sie haben vorhin
viel mit Ihrem Kollegen diskutiert. Ich hoffe, es ging um
diese Rede. Ich frage Sie an dieser Stelle: Was ist das für
ein Zeichen, wenn, ein Jahr nachdem wir diese Katastro-
phe erlebt haben, hier eine Rechtfertigungsrede für all
diejenigen gehalten wird, die sagen: Wartet einmal ab,
wenn wir es weiter verschlafen, werden sie irgendwann
wieder auf uns zukommen, dann werden wir den Macht-
kampf gewinnen. – Denn nichts anderes steht dahinter,
ein großer Machtkampf der vier großen Energieversor-
ger gegen dezentrale Einheiten, gegen Genossenschaften
vor Ort, gegen Bürgerinnen und Bürger, die sehr viel
weiter sind als Sie, Herr Paul.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können die Rede immer wieder nachlesen, die
Sie gerade gehalten haben. Wir können jetzt nachemp-
finden, was in Ihren Reihen und in dieser Regierung los
sein muss, wenn es darum geht, etwas zugunsten von
erneuerbaren Energien zu beschließen, wenn es darum
geht, ein bisschen in Richtung Effizienz zu gehen. All
das bedeutet für Sie eine innere tiefe Auseinanderset-
zung. Ich merke heute Morgen, dass Sie noch lange nicht
beim neuen Denken angekommen sind. Sie sind noch im
alten Denken verhaftet, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wann begreifen wir endlich, was dort geschehen ist?
Ein Tipp von mir: Gestern Abend lief eine hervorra-
gende ZDF-Dokumentation im Fernsehen mit dem Titel
„Die Fukushima-Lüge“. Diese zeigt, dass die größten
Herausforderungen und die größten Gefahren in Fuku-
shima noch vor uns liegen, weil es latente Gefahren gibt,
die zu einem Desaster führen könnten.

Herr Paul, schauen Sie sich solche Sendungen an!
Reden Sie dann mit uns darüber, was das tatsächlich für
die Menschen vor Ort bedeutet! Ich finde, die abstrakte
Diskussion ist das eine, das Beschäftigen mit den
Schicksalen vor Ort ist ein anderes.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Vor einigen
Monaten hatte ich die große Ehre, die Schirmherrschaft
für einen Parlamentarischen Abend von Greenpeace zu
übernehmen. An dieser Veranstaltung nahmen Men-
schen aus Fukushima teil, die beschrieben haben, wie es
ihnen augenblicklich geht, dass sie Existenzen aufgeben
mussten und nicht mehr in ihre Häuser und ihre Kinder
nicht mehr in die Schulen zurückkehren konnten. Diese
Menschen erleben tagtäglich, was diese Katastrophe für
sie bedeutet.

Ich sage Ihnen auch: Wir haben noch mehrere Zeit-
zeugen. Wir haben seit Jahrzehnten eine katastrophale
Situation in Tschernobyl. Wir können jeden Tag Kontakt
mit den Initiativen aufnehmen, um zu erfahren, was die
Menschen in Weißrussland heute noch, Jahrzehnte nach
der Katastrophe, spüren.

Herr Paul, ich fordere Sie auf: Diskutieren Sie mit
diesen Menschen! Versuchen Sie, zu verstehen, was eine
solche Katastrophe bedeutet, aber nicht nur für uns, son-
dern auch für die Menschen vor Ort! Ich bin mir sicher,
dann würden Sie diese Rede nie wieder halten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Das haben wir doch gemeinsam getan!)


Wann begreifen wir endlich, wie teuer die Energie-
wende ist? Wann begreifen wir in diesem Parlament end-
lich, welche volkswirtschaftlichen Folgekosten durch
eine einzige derartige Katastrophe entstehen? Wann be-
greifen wir endlich, dass die Energiewende Geld kostet,
aber das Warten auf diese Energiewende für nachfol-
gende Generationen um ein Vielfaches teurer werden
wird, liebe Kolleginnen und Kollegen? Tun wir doch
nicht so, als ob das, was in den vergangenen Jahrzehnten
in Deutschland passiert ist, billig gewesen ist. Wir haben
fossile Energie und Atomtechnologie mit Milliarden-
beträgen subventioniert. Nur deswegen ging das mit der
Wirtschaft und den Verbraucherinnen und Verbrauchern.


(Zuruf des Abg. Michael Kauch [FDP])


– Ja, Herr Kauch, dazu bekenne ich mich auch. Wir
bekennen uns aber auch zum Umstieg; denn das ist die
Zukunft, aber nicht die fossilen Energieträger und nicht
die Atomtechnologie, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)


Sie werden von einem Sozialdemokraten von diesem
Pult aus nicht hören, dass wir von dem, was wir 2001
begonnen haben, abrücken. Denn das war die eigentliche
Energiewende, an der Sie im Übrigen heute noch partizi-
pieren. Die Leute haben sich von Ihrem Schlingerkurs
zum Glück größtenteils nicht beeindrucken lassen, son-
dern investieren weiter. Damit rühmen Sie sich heute.
Das sind aber die Erfolge von Rot-Grün aufgrund des
EEGs und aufgrund des Ausstiegsbeschlusses. Da kom-
men Sie überhaupt nicht mit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie werden von einem Sozialdemokraten an diesem
Pult nicht hören, dass uns die Wirtschaft, die Industrie
etc. egal sind. Deswegen müssen wir das Ganze auch
adäquat steuern.

Das Schlimmste, was Sie für die Wirtschaft gemacht
haben, ist doch, dass Sie den Schlingerkurs eingeschla-
gen und Investitionsunsicherheit und nicht Investitions-
sicherheit geschaffen haben. Jeder kleine Handwerker
leidet augenblicklich zum Beispiel unter Ihrer Debatte
über die Solar- und Photovoltaikförderung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir versuchen wollen, die Interessen von Wirt-
schaft und Verbrauchern in Einklang zu bringen, dann
müssen wir überlegen, wie wir das hinbekommen kön-
nen. Das erreichen wir nicht dadurch, dass wir einfach
nur die Großindustrie entlasten. Dafür sind wir zwar
auch, aber es kann nicht sein, dass der einfache Mittel-
ständler und der Verbraucher diese Kosten tragen müs-
sen, sondern wir brauchen hier andere Systeme. Tun Sie
nicht so, als ob die erneuerbaren Energien den Strom-
preis im Augenblick in die Höhe treiben. Das ist mit-
nichten der Fall, sondern die Preise resultieren auch aus
den Freistellungen von Netzentgelten oder beispiels-
weise auch von der EEG-Umlage, die Sie für die Wirt-
schaft und die Unternehmen durchgesetzt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Lutz Knopek [FDP]: Also doch wirtschaftsfeindlich!)


– Nein, eben nicht, sondern das, was Sie hier machen, ist
wirtschaftsfeindlich. 340 000 neue Arbeitsplätze im Mit-
telstand: Das ist die Wirtschaft der Zukunft, das ist die
rot-grüne Politik, wie sie hier seit 2001 betrieben wird
und die Sie durch Ihren Kurs gefährdet haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich abschließend noch einen weiteren
Part ansprechen; denn er hängt natürlich ganz eng mit
der Energiewende zusammen. Es geht um die Frage, wie
wir Effizienzprogramme, zum Beispiel zur Gebäude-
sanierung etc., eigentlich finanzieren.

Sie haben hier vor einiger Zeit die Innovation des
Lebens ausgerufen, indem Sie den Klima- und Energie-
fonds ins Leben gerufen haben. Heute stellen wir fest:

Die Hälfte der Einnahmen, die Sie eingeplant hatten,
konnten Sie nicht realisieren. Damit stehen ganz viele
Programme, die für die Energiewende sehr wichtig
wären, zur Disposition. Auch das zeigt, wie dünn das Eis
ist, auf dem Sie augenblicklich wandern.

Wenn man die Rede des Kollegen Paul hinzunimmt,
dann weiß man: Sie wollen die Energiewende eigentlich
nicht; Sie haben noch das alte Denken. Insofern müssen
wir alle gemeinsam aufpassen, dass Sie es endlich ver-
stehen und dass sich spätestens 2013 tatsächlich etwas
bewegt – für die Wirtschaft, für die Verbraucher und für
die Umwelt in Deutschland.

Ich danke Ihnen ganz herzlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716506100

Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege

Michael Kauch.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1716506200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Trittin hat sich, glaube ich, in fünf seiner sieben Minuten
Redezeit mit der Vergangenheit beschäftigt.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So heißt auch der Antrag!)


Den Rest der Zeit hat er die Regierung beschimpft. Die
Grünen haben keinen einzigen konstruktiven Vorschlag
zur Lösung der Probleme gebracht, vor denen wir bei der
Energiewende stehen. Das zeigt, welches Niveau Ihre
Politik inzwischen hat.


(Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Niveau kann noch unterboten werden, Herr Kauch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie unseren Antrag!)


Die Energiewende ist auf einem guten Weg. Die SPD
kann hier noch so oft eine Büttenrede zum Weltfrauentag
halten. Dafür ist heute der falsche Tag; das muss man
eigentlich am Rosenmontag machen. Diese Energie-
wende ist politisch unumkehrbar, und dazu steht diese
Koalition geschlossen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Aber Sie haben auch für die Verlängerung gestanden!)


Die Union und die FDP haben einen schnellen Aus-
stieg aus der Kernkraft durchgesetzt.


(Frank Schwabe [SPD]: Was!)


Er war übrigens schneller, als es das Gesetz von Rot-
Grün vorsah. Nach dem Trittin-Gesetz von 2001 wären
einige der Reaktoren, die wir abgeschaltet haben, noch
immer am Netz. So viel zur Modernität Ihrer Politik!





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)



(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Anders als Sie vor zehn Jahren sorgen wir eben nicht nur
für den Ausstieg, sondern wir sorgen auch für den Ein-
stieg in ein neues Zeitalter der Energieversorgung. Das
ist diese Koalition!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erste Erfolge zeigen sich. Nie zuvor war der Anteil
der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung so
hoch wie in 2011,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotz Schwarz-Gelb!)


und zwar nicht wegen der Politik von Rot-Grün, wie
Herr Miersch eben gesagt hat, sondern weil wir die Aus-
bauziele erhöht und die entsprechenden Anreize gesetzt
haben.


(Lachen bei der SPD)


Die Zielmarken für die Photovoltaik sind unter dieser
Regierung doppelt so hoch wie unter SPD-Umwelt-
minister Gabriel. Das ist die Wahrheit, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nie zuvor war der Energieverbrauch nach der Wie-
dervereinigung so niedrig wie 2011. Auch das ist die
Wahrheit, wenn es um Energieeffizienz in Deutschland
geht.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das sagen Sie, Herr Kauch!)


Die Stabilität des Stromnetzes konnte trotz der Ab-
schaltung von acht Kernkraftwerken mit erheblichen
Anstrengungen gesichert werden. Das zeigt: Die markt-
wirtschaftliche Ordnung ist ausgezeichnet in der Lage,
auf Veränderungen der Rahmenbedingungen zu reagie-
ren. Man stelle sich vor, was dabei herausgekommen
wäre, wenn wir das Modell der Linken hätten, nämlich
sozusagen ein VEB Netz: eine staatliche Netzgesell-
schaft. Ich möchte mir nicht ausmalen, welche Blackouts
wir mit einer solchen Verwaltungsgesellschaft in diesem
Jahr gehabt hätten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist es für meine Fraktion – ich denke, ich
spreche auch für die Koalition – ein Anlass, all denen zu
danken, auf deren Leistungen wir bei der Energiewende
nicht verzichten können. Es sind die vielen Ingenieure
und Techniker, die dafür sorgen, das System stabil zu
halten. Es sind die Menschen, die in neue Energie inves-
tieren. Es sind die Stromhändler, die Angebot und Nach-
frage zusammenbringen. Es sind die Planer, die die drin-
gend notwendigen Stromtrassen auf den Weg bringen.
Es sind auch all die Menschen in den Naturschutzver-
bänden, die, anders als die Grünen, die unvermeidlichen
Konflikte zwischen erneuerbaren Energien und Natur-

schutz konstruktiv lösen wollen. All diesen Menschen
ganz herzlichen Dank!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bla, bla, bla!)


Die FDP will eine Energieversorgung, die sicher, ver-
lässlich und umweltverträglich ist und für die Menschen
bezahlbar bleibt. Das ist auch eine soziale Frage. Wir
kümmern uns darum, dass unsere Industrie wettbewerbs-
fähig bleibt. Dabei geht es nicht um Konzerninteressen,
sondern um die Arbeitsplätze von vielen tausend Men-
schen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Kauch, denken Sie daran, dass Sie an Ihrer Rede gemessen werden können!)


– Ich denke auch daran, dass Sie als SPD daran gemes-
sen werden könnten, was die Ministerpräsidentin von
Nordrhein-Westfalen jeden Tag als Forderung an die
Bundesregierung stellt, nämlich die industriellen Kerne
in Deutschland zu erhalten. Wir erhalten die industriel-
len Kerne in Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Das sieht man bei der Solarwirtschaft!)


Wenn die SPD sagt, wir würden die Großkonzerne
entlasten, und dafür würden die armen Verbraucher
bezahlen, halte ich ihr entgegen: Die energieintensiven
Großkonzerne sind unter SPD-Umweltminister Gabriel
immer entlastet gewesen. Was wir geändert haben, ist,
dass auch der energieintensive industrielle Mittelstand
entlastet wird. Wir schaffen nämlich Wettbewerbsgleich-
heit. Sie sind die Partei der Konzerne. Wir sind die Partei
für den Mittelstand. Das zeigt sich wieder eindeutig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das glaubt Ihnen nur keiner mehr in Deutschland!)


Bisher ist der Strompreisanstieg moderat ausgefallen.
Das soll so bleiben. Deshalb kürzen wir die Solarförde-
rung, und zwar nicht deshalb, weil wir die Photovoltaik
kaputtmachen wollen, sondern weil die immer weiter
sinkenden Anlagepreise endlich an die Verbraucherinnen
und Verbraucher weitergegeben werden müssen. Die
Stromkunden sind nämlich diejenigen, die letzten Endes
von den erneuerbaren Energien profitieren sollen. Dafür
sorgen wir.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir dürfen aber nicht nur auf den Stromsektor
schauen. Die Energiewende entscheidet sich nicht
zuletzt im Wärmesektor. Wir brauchen mehr Wärme-
dämmung für Gebäude und mehr Ökoheizungen. Dabei
gilt für uns: Wir wollen Anreize statt Zwang.

Wir haben als Koalition am Sonntag noch einmal
bekräftigt, dass das Programmvolumen von 1,5 Milliar-
den Euro für die Gebäudesanierung steht. Wir wollen
auch die steuerliche Förderung der energetischen Sanie-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


rung. Die hat diese Koalition im Bundestag beschlossen,
und es sind SPD und Grüne, die im Bundesrat blockie-
ren. Wo Sie wie im Bundesrat Verantwortung tragen, tor-
pedieren Sie die Energiewende. Auch das ist ein Teil der
Wahrheit in der Energiepolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Wahrheit kann da nicht die Rede sein!)


Wir werden als FDP darauf drängen, dass wir auch im
Bereich erneuerbare Wärme Fortschritte erzielen. Auch
hier gilt der Grundsatz „Anreize statt Zwang“. Wir wol-
len kein Ordnungsrecht, sondern ein haushaltsunabhän-
giges Förderinstrument. Dazu haben wir bereits in unse-
rem Wahlprogramm ein Modell vorgelegt, das zeigt, wie
man eine Mindestmenge erneuerbarer Wärme für alle
Großhändler vorschreiben kann, die Öl und Gas verkau-
fen. Wir sind offen für Vorschläge. Aber wir glauben,
dass dieses Thema endlich angegangen und dieses Pro-
blem endlich gelöst werden muss. Das ist ein weiterer
wichtiger Baustein unserer Energiewende.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716506300

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716506400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Namen der Linksfraktion möchte ich zu Beginn mei-
ner Rede aller Opfer der drei Katastrophen in Japan ge-
denken. – Erst das Leid Tausender Menschen im vergan-
genen Jahr hat dazu geführt, dass in Deutschland das
Fortschreiten auf dem Pfad der unverantwortlichen Nut-
zung der Atomkraft beendet wurde. Eigentlich ist das
beschämend. Richtigerweise wurden acht Atomkraft-
werke sofort abgeschaltet. Der endgültige Ausstieg
wurde – wenn auch zu spät, aber immerhin – bis 2022
beschlossen.

Die Notwendigkeit der Energiewende ist klar. Die
Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft, der Weg
hin zur Wärme- und Stromerzeugung zu 100 Prozent aus
erneuerbaren Energiequellen, ist unumgänglich.


(Beifall bei der LINKEN – Zustimmung des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Dies erfordert aber von uns allen ein tatsächliches Um-
denken. Es erfordert neue Ansätze für dezentrale, kommu-
nale, kleinteilige Lösungen. Es erfordert Durchsetzungs-
kraft und auch finanzielle Mittel für eine zielgerichtete
Forschung, für eine zielgerichtete Förderung und für ei-
nen sozialen Ausgleich insbesondere für Menschen mit
niedrigem oder gar keinem Einkommen – aber diese bit-
ten Sie jetzt wieder zur Kasse, um die energieintensiven
Unternehmen zu entlasten –, es erfordert Geld für den
Ausbau von Netzen und Speicherkapazitäten.

Die Regierungsbilanz dazu ist beschämend. Im Januar
dieses Jahres nahm der Bundeswirtschaftsminister am
Empfang der IHK, des Unternehmerverbandes und der
Handwerkskammer in Leipzig teil. Er wurde mit einem
Heft und einem Koffer beschenkt, auf denen das Wort
„Energiewende“ zu lesen war. Der Koffer wurde geöff-
net. Er war allerdings leer. Genauso sieht Ihre Regie-
rungspolitik aus: Sie haben bisher nichts dazu beigetra-
gen, die Energiewende wesentlich voranzutreiben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Einzige, was Herr Rösler in den Koffer packen
könnte, wären Sunblocker. Er könnte auch das Schild
„Energiewende“ überstreichen; denn er betreibt nicht
wirklich eine Energiewende. Aufgrund Ihrer Fehlkon-
struktion der Finanzierungsbasis – Sie haben die Einnah-
men des Energie- und Klimafonds an die Handelspreise
der CO2-Zertifikate gebunden – droht selbst das wenige
Geld, das Sie zur Verfügung stellen wollten, zur Hälfte
wegzubrechen. Es droht eine Kürzung von 780 Millio-
nen auf 452 Millionen Euro. Damit wird es Bundes-
minister Röttgen unter anderem nicht mehr möglich
sein, überhaupt noch Effizienzforschung zu betreiben.
Das ist eine Katastrophe.

Als Letztes möchte ich Sie eindringlich bitten: Wenn
Sie eine Lehre aus Fukushima, also aus der Gefährdung
von Atomkraftwerken durch Erdbeben, ziehen wollen,
dann seien Sie konsequent und geben keine Hermes-
bürgschaft für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in
Brasilien; denn dieses Kraftwerk soll in einem Erdbe-
bengebiet errichtet werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716506500

Jens Koeppen hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1716506600

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Am Sonntag jährt sich zum ersten
Mal der Tag, an dem zuerst ein Erdbeben der Stärke 9
und danach ein Tsunami mit einer 15 Meter hohen Welle
Leid, Elend, Tod, Verwüstung und Obdachlosigkeit nach
Japan gebracht haben. Allein diese Naturkatastrophe hat
die Welt zum Erstarren gebracht. Aber damit war es
noch nicht genug. Als Folge der Naturkatastrophen er-
eignete sich durch menschliches und technisches Versa-
gen, geparrt mit technologischer Arroganz, der größte
anzunehmende Unfall in einigen Kernreaktoren. Men-
schen verloren ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Hei-
mat, weil Lehren und Wissen über Naturkatastrophen in
Verbindung mit Kernenergieproduktion vehement miss-
achtet wurden.

Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir ein Jahr da-
nach an dieser Stelle in der Kernzeit im Deutschen Bun-
destag an diese schrecklichen Ereignisse erinnern und an





Jens Koeppen


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(D)(B)


die Menschen denken, die an diesem Tag zu Schaden ge-
kommen sind.

Noch am 11. März 2011 hat die japanische Regierung
den nuklearen Notstand ausgerufen. Wenige Tage später
haben wir in Deutschland ein Moratorium bei der Kern-
energieproduktion in Deutschland beschlossen.

Sie kennen alle die weitere Entwicklung. Im Konsens
haben wir gemeinsam die Energiewende beschlossen,
eine Energiewende hin zu regenerativen Energien. Und
wir haben beschlossen, dass die Kernenergieproduktion
in Deutschland früher als geplant eingestellt wird.

Natürlich ist eine Kausalität klar erkennbar. Dennoch
halte ich den Antrag so, wie Sie ihn gestellt haben, für
falsch. Ich halte ihn auch für reaktiv; denn er macht den
Eindruck, dass er das Ereignis sehr stark instrumentali-
siert. Zumindest auf mich macht er auch den Eindruck,
dass daraus politisches Kapital geschlagen werden soll.
Das ist aus meiner Sicht trivial und durchsichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


So etwas hat bei Ihnen aber Methode. Das ist ähnlich
wie bei dem prognostizierten Klimawandel; denn an sol-
chen Ereignissen richtet sich Ihre ganze Argumenta-
tionskette in der Energiepolitik aus.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf das Ereignis des Klimawandels!)


Das ist unzureichend. Es ist auch einfallslos. Wir müssen
nämlich viel mehr agieren, statt nur zu reagieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Darauf sind wir jetzt gespannt!)


Denn stellen Sie sich doch einfach einmal vor, es hätte
keine Naturkatastrophen wie in Fukushima, wie in Har-
risburg vor 30 Jahren oder wie in Tschernobyl gegeben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn da reagiert? – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Stellen Sie sich das einfach einmal vor! Stellen Sie sich
auch vor, Herr Beck, statt hier herumzuschreien, es gäbe
keinen Klimawandel, der ja prognostiziert wird. Auch
und gerade dann müssen wir mit den Ressourcen, die
uns zur Verfügung gestellt sind, schonend umgehen


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist aber gut, dass Sie uns das sagen!)


und haben wir die Pflicht, die Energieträger zu nutzen,
die nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben auch die Pflicht, danach zu suchen, dazu zu
forschen und diese zu entwickeln. Das ist unsere Auf-
gabe – nicht mehr und nicht weniger.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!)


Meine Damen und Herren, als ich geboren wurde,
lebten 3 Milliarden Menschen auf der Erde. Jetzt sind es
ungefähr 7 Milliarden. In wenigen Jahrzehnten, viel-
leicht in wenigen Jahren, werden es 9 Milliarden Men-
schen sein. Die Frage ist doch: Hält dieser Planet das
aus? Werden die Menschen alle satt werden? Werden sie
genügend Energie haben? Das ist die Frage, vor der wir
stehen.

Deshalb ist der Umbau der Energieversorgung not-
wendig – nicht wegen Three-Eleven in Japan und nicht
wegen des vom IPCC vorausgesagten Klimawandels,
sondern aufgrund einer Vernunftentscheidung, die wir
gemeinsam getroffen haben. Dann stehen Sie doch end-
lich einmal dazu!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deutschland soll eine der energieeffizientesten und
umweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt sein –
bei wettbewerbsfähigen Energiepreisen und bei hohem
Wohlstand. Natürlich müssen wir sehen, wie wir das hin-
bekommen: weniger fossile Energieträger, effizienter
Umgang mit den Ressourcen, weniger Emissionen und
natürlich die Maßgabe, die oben ansteht, dass Energie
kein Luxusgut werden darf.

Nur die moderne Zeit und der technologische Fort-
schritt ermöglichen diese Entscheidung. Es gilt darum,
diese solide umzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vor allen Dingen müssen wir – das ist ganz wichtig –
auch bei der Energiewende und bei den Gesetzesnovel-
len auf Akzeptanz für die moderne Energiepolitik ach-
ten; denn das Ganze ist weiß Gott kein Selbstläufer.

Ich komme aus einer Gegend, in der sehr viel erneuer-
bare Energien produziert werden. Auch dort gilt sehr oft:
Not in my backyard; überall könnt ihr Windräder auf-
stellen, überall könnt ihr Solarfelder aufbauen, überall
könnt ihr Netze verlegen, aber nicht bei mir vor der
Haustür.

Meine Damen und Herren, viele in diesem Hause,
aber auch in der Gesellschaft wissen ganz genau, was sie
alles nicht wollen. Aber wenn es um Alternativen und
neue Ideen geht, sind die Bedenken da, und alles wird
beklagt. Diesem Missstand müssen wir vehement entge-
gentreten: mit weniger Ideologie, weniger partikularem
Egoismus und mehr Offenheit. Sonst stockt die Energie-
wende – und das gilt es zu verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, die EEG-Novelle ist not-
wendig. Mich erstaunen schon Ihre massiven Angriffe.
Mich erstaunen auch die Kurzsichtigkeit und das Aus-
blenden der Fakten. Ich bin fest davon überzeugt, dass
die geplante Novelle die Akzeptanz sichert und dass eine
Preisentwicklung, wie sie durch den unbegrenzten Zu-
bau von Solaranlagen eingetreten ist, diese Zustimmung
erschwert. Dazu nur eine Zahl: Im Jahr 2011 haben die





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


Verbraucherinnen und Verbraucher 7 Milliarden Euro
für die Photovoltaikvergütung ausgegeben – 7 Milliar-
den Euro! Dagegen betrugen die gesamten Mittel für das
Elterngeld im Jahr 2011 4,7 Milliarden Euro. Hier be-
steht also ein krasses Missverhältnis, und das müssen
wir einfach angehen. Das ist eine ganz einfache Rechen-
aufgabe.

Mit der EEG-Novelle wollen wir dafür sorgen, dass die
Netzstabilität gewährleistet wird, dass Anreize zum Ei-
genverbrauch geschaffen werden, dass die ersten Schritte
zur Dezentralisierung vollzogen werden. Außerdem wol-
len wir dafür sorgen – es wurde schon angesprochen –,
dass die mittlerweile entstandenen Kostensenkungen bei
der PV-Vergütung an die Verbraucher zurückgegeben
werden. Das ist unsere Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu brauchen wir innovative Produkte statt billiger
Produkte. Wir brauchen, gerade bei den Anlagen, höhere
Wirkungsgrade statt hoher Renditen; denn nur 15 Pro-
zent der Module, die in Deutschland durch die PV-Ver-
gütung an den Markt gebracht werden, stammen aus
unserer Produktion. Auch das ist ein krasses Missver-
hältnis. Wir werden den Wettbewerb mit den chinesi-
schen Modulen nicht dadurch gewinnen, dass wir die
Preise um 10 oder um 20 Cent senken; diesen Wettbe-
werb können wir nur mit Innovationen gewinnen.

Mein Resümee: Der Umbau unseres Erneuerbare-
Energien-Gesetzes ist unabdingbar. Es ist Zeit für einen
radikalen Systemwechsel im EEG. Wir müssen das EEG
zu einem Technologiegesetz umbauen. Sie selbst haben
die Bundesregierung in Ihrem Antrag aufgefordert, bis
zum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien auf
dem Strommarkt auf über 45 Prozent auszubauen. Wie
soll ein Produkt, das annähernd 50 Prozent Marktanteil
hat, noch 20 Jahre lang gefördert werden? Das geht
volkswirtschaftlich einfach nicht. Das kann man nie-
mandem erklären.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir müssen dazu kommen,
dass wir smart einspeisen und nicht blind. Wir müssen
dafür sorgen, dass wir Energieversorgung machen und
nicht Renditeversorgung. Wir müssen endlich dazu kom-
men, dass wir verfügbare Energien haben und nicht
flüchtige Energien. Wir müssen außerdem dafür sorgen,
dass wir technisches Know-how belohnen und nicht
kaufmännische Cleverness.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716506700

Marco Bülow bekommt jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marco Bülow (SPD):
Rede ID: ID1716506800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Miersch hat gerade darauf hingewiesen: Gestern
gab es eine beeindruckende ZDF-Doku – ZDFzoom –,
die noch einmal deutlich gemacht hat, wie das Geflecht
von Politik, Atomlobby und Medien die Energiepolitik
in Japan dominiert hat. Dieses Geflecht hat auch dafür
gesorgt, dass so etwas wie das möglich geworden ist,
was wir vor einem Jahr in Fukushima erlebt haben. Dazu
gab es gestern keine Aussagen von Umweltpolitikern
oder von Umweltschützern, sondern vom ehemaligen
Präsidenten, von Gouverneuren, die deutlich gemacht
haben, dass in der dortigen Politik eigentlich immer nur
verheimlicht, verschwiegen, gelogen und getäuscht wor-
den ist und dass das auch nach Fukushima immer noch
der Fall ist: Es werden falsche Informationen herausge-
geben; man kann immer noch nicht glauben, was dort
veröffentlicht wird.

Wir erleben hier leider immer wieder ähnliche Szena-
rien: Auch hier gibt es weiterhin Märchenstunden. Herr
Paul hat sie vorhin fortgeführt, nach dem Motto: Ist ja al-
les gar nicht so schlimm. Wir brauchen vielleicht doch
kein Umdenken. Womöglich war das Umdenken zu
schnell. Von all dem, was dort passiert ist, werden die
Menschen nicht betroffen sein.


(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Was hat denn nicht gestimmt, Herr Bülow? Wo ist denn der Fehler? Fakten, Fakten, Fakten!)


Ich denke, mit den Märchenstunden sollten wir endlich
aufhören, und wir sollten endlich Tacheles reden. Wenn
wir den Ausstieg machen, dann sollten wir ihn auch
ernst nehmen und nicht hinterher wieder zerreden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bestätigt hat Fukushima vor allen Dingen, dass
Mensch und Technik versagen können – eine menschli-
che Eigenschaft, die gar nicht verwerflich ist, die aber
ausschließt, dass wir Technologien nutzen, die einen sol-
chen Schaden anrichten können. Bestätigt hat Fuku-
shima auch, dass es eine Illusion war, dass es Sicherheit
gibt, egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen man trifft,
egal welche Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden
und egal wie achtsam die Menschen sind.

Klar ist auch geworden, dass man in Japan sehr viel
Glück gehabt hat, weil es nur 12 Kilometer von Fuku-
shima entfernt ein Atomkraftwerk gab, in dem es auch
fast eine Kernschmelze gegeben hätte. Man hat auch
deswegen Glück gehabt, weil der Blow-out genau zu ei-
nem Zeitpunkt stattgefunden hat, als der Wind nicht in
Richtung Tokio wehte. Der ehemalige Ministerpräsident
von Japan hat gesagt, es sei nahe daran gewesen, dass
die Tepco-Mitarbeiter abgezogen worden wären. Das
hätte bedeutet, dass man Tokio hätte evakuieren müssen.
Vor diesem Hintergrund kann man heute nicht davon
sprechen, dass alles doch gar nicht so schlimm war. Ge-
nau diese Fakten sollten wir uns in Deutschland einmal
vornehmen.





Marco Bülow


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber auch hier werden die Lügen- und Märchenge-
bilde fortgesetzt. Sie haben uns nach dem Atomausstieg
Deutschlands erzählt, dies würde bedeuten, dass hier die
Lichter ausgehen würden – spätestens im Winter hätten
wir einen Energienotstand –, dass wir Atomstrom vor al-
len Dingen aus Frankreich importierten müssten und
dass der Strompreis steigen würde. Diese Märchen hat
man auch noch nach Fukushima erzählt, um uns vom
Atomausstieg abzuhalten.

Was ist passiert? Erstens. Der Strompreis an der
Börse ist erst leicht gestiegen; mittlerweile ist er wieder
auf dem Stand, wie er vorher war. Zweitens. Frankreich
hat im Winter Strom aus Deutschland importieren müs-
sen. Ansonsten wären nämlich im Atomland Frankreich
die Lichter ausgegangen, nicht in Deutschland.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört!)


Drittens. Wir haben festgestellt, dass wir auch weiterhin
in der Lage sind, den Atomausstieg zu kompensieren,
und dass wir gerade durch den Ausbau der Erneuerbaren
die Energiewende wirklich schaffen können. Das sind
die Fakten, die im Zuge der Diskussion und der Bilanz
ein Jahr nach Fukushima sowie der Frage, wie wir weiter
mit dem Atomausstieg umgehen, auf den Tisch müssen.

Wir müssen vor allen Dingen auch darüber diskutie-
ren, wie es insgesamt, auch international, weitergeht;
denn viele sagen jetzt: Wir steigen doch in Deutschland
aus. Es ist doch alles gut. – Das ist es eben nicht. Es gibt
weiterhin eine Reihe von Problemen. Wir haben in
Deutschland noch über zehn Jahre Atomkraftwerke am
Netz. Wir brauchen weitere Jahrzehnte – auch das müs-
sen wir den Menschen sagen –, um diese Atomkraft-
werke abzubauen und die Materialien einzulagern. Vor-
sichtige Schätzungen gehen davon aus, dass es
18 Milliarden Euro kosten wird. Wir werden in Deutsch-
land weiterhin eine Diskussion über die Endlager führen;
das Trauerspiel von Asse und Gorleben haben wir ja
häufig schon an anderer Stelle erörtert. Zudem werden
wir damit leben müssen, dass die folgenden Generatio-
nen die Lasten der Atomenergie jahrzehnte-, jahrhunder-
telang tragen müssen, ohne jemals irgendeinen Vorteil
davon gehabt zu haben. Auch das, so denke ich, muss
immer wieder erwähnt werden.

Wenn man es ernst meinte – ich zweifle heute nach
den Reden von Herrn Paul und anderen noch stärker da-
ran, dass es die Union wirklich ernst meint –, dann
müssten wir auch international dafür sorgen, dass es ei-
nen Atomausstieg gibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn viele Länder setzen weiterhin auf Atom. Es gibt
benachbarte Länder, die an den deutschen Grenzen
Atomkraftwerke haben, die auch zu den Pannenreakto-
ren gehören. Wir haben in Europa lächerliche Stresstests

durchgeführt, die viele Kriterien eben nicht berücksichti-
gen, wie zum Beispiel einen Flugzeugabsturz. Wenn die
Union und die Regierung es ernst meinten, dann würden
sie darauf hinarbeiten, in Europa ebenfalls zu einem
Atomausstieg zu kommen, und würden nicht Euratom
weiter fördern; denn bei Euratom ist ganz klar festgelegt,
dass der Ausbau der Atomenergie das Ziel ist. So ein
Machwerk von früher muss beendet werden. Deutsch-
land muss sich dafür einsetzen, dass Euratom in ein För-
derinstrument für erneuerbare Energien umgewidmet
wird. Das muss doch die Zielrichtung sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch müssen wir darauf hinwirken, dass die For-
schungsmittel anders eingesetzt werden. Es kann doch
nicht sein, dass wir die Förderung für ein anderes Projekt
in Europa, ITER – es war einmal eine Förderung in
Höhe von 5,5 Milliarden Euro angesetzt –, mittlerweile
auf 13 Milliarden Euro hochschrauben, immer mit der
Aussage: Die Kernfusion wird in 40 Jahren einen Bei-
trag zur Energieversorgung leisten. – Das hat man schon
vor 20 Jahren gesagt. Ich sage heute voraus: Auch in
20 Jahren wird man noch von 40 Jahren sprechen. Diese
Gelder könnte man viel sinnvoller bei erneuerbaren
Energien und Effizienztechnologien einsetzen. Aber
auch dazu hört man von der Union kein Wort; es gibt
keine Initiative.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der größte Skandal ist, dass wir in Deutschland wie-
der Hermesbürgschaften für Atomkraftwerke geben wol-
len, die in aller Welt gebaut werden, beispielsweise An-
gra 3. 1,3 Milliarden Euro gibt die Bundesregierung an
Bürgschaften für Angra 3. Das ist ein Atomkraftwerk in
Brasilien, das in Deutschland nach den neuesten Krite-
rien überhaupt nicht mehr gebaut werden dürfte.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es darf auch in Brasilien nicht gebaut werden!)


Es soll in einer Küstenregion gebaut werden. Dahinter
ist ein Hang, an dem Erdrutschgefahr besteht. Ein Gut-
achten besagt deutlich: Wenn dieses Atomkraftwerk ge-
baut wird, besteht die große Gefahr, dass es Fukushima II
wird. – Das heißt, wir steigen in Deutschland aus, för-
dern aber mit deutschem Geld Atomkraftwerke, bei de-
nen die gleichen Gefahren bestehen wie in Fukushima.
Das ist ein Riesenwiderspruch, und diesen Widerspruch
müssen Sie auflösen, wenn Sie es ernst meinen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rot-Grün hat mit den Hermesbürgschaften Schluss
gemacht. Ich sage: Wenn die SPD wieder in Verantwor-
tung kommt, wird es keinen Cent für Atomkraftwerke
international geben, sondern wir werden auch internatio-
nal dafür sorgen, dass es eine Energiewende mit Erneu-





Marco Bülow


(A) (C)



(D)(B)


erbaren und Effizienztechnologien gibt, dass nicht weiter
auf Atomkraft gesetzt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn die Union es ernst meint, sollte sie genau dort an-
fangen.

Wir haben auf der einen Seite schöne Reden – heute
allerdings weniger, und wahrscheinlich wird es auch
Herrn Röttgen schwerfallen, die Aussagen von Herrn
Paul schönzureden bzw. zurechtzubiegen –, auf der an-
deren Seite aber Einschnitte bei den Erneuerbaren, einen
Klimafonds, der nicht greift, weil er zu wenig Geld hat,
Effizienz, die nicht vorankommt, international Doppel-
zusagen, obwohl die Mittel nur einmal ausgeteilt werden
können, und weiterhin international ein Festhalten an der
Atompolitik.

Zum Schluss ein Satz, der vielleicht noch einmal eini-
ges deutlich macht. Herr Rösler hat neulich Herrn Klaus
Töpfer als konservativen Weltverbesserer beschimpft.
Herr Rösler zeigt damit, denke ich, wes Geistes Kind er
ist. Mir sind Wertkonservative jedenfalls viel lieber als
neoliberale Yuppies, die Politik als reines Machtgeschäft
betrachten. Ich hoffe, dass in der Union ein Umdenken
stattfindet. Ich weiß, dass es in der Union Leute gibt, die
es ernst meinen. Ich hoffe, sie überzeugen die Mehrheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Kauch [FDP]: Das war ein Angebot! Ihr spielt wieder mit uns! Das war die Botschaft!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716506900

Klaus Breil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1716507000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Fukushima hat uns klar vor Augen geführt:
Menschliches Handeln hat deutliche Grenzen. Mein
tiefstes Mitgefühl gilt den Opfern und deren Angehöri-
gen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bundesregierung und die Koalition haben damals
umgehend reagiert. Die Entscheidungen wurden partei-
übergreifend mitgetragen.

Herr Kollege Bülow, kann man etwas eigentlich noch
ernster angehen, als wir es mit unseren gemeinsamen
Entscheidungen getan haben? Ein bisschen weniger
Polemik wäre angemessen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Hermesbürgschaften für Atomkraftwerke abschaffen, zum Beispiel!)


Parteiübergreifende Entscheidungen würde ich mir wei-
terhin wünschen. Wenn ich den vorliegenden Antrag
sehe, hege ich allerdings Zweifel, dass es dazu kommt.

Deutschland hat seit Jahren einen rückläufigen Ener-
gieverbrauch bei einem beachtlichen wirtschaftlichen
Wachstum. 2011 lag der Energieverbrauch gut 5 Prozent
unter dem Referenzwert von 2008. Diese Entkopplung
von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum haben
nur wenige andere EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen
geschafft.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir bekennen uns zu dem Ziel, die Energieeffizienz
in der EU bis 2020 um 20 Prozent zu steigern. Wir wollen
eine verbindliche Zielfestlegung mit hoher Flexibilität
bei der Umsetzung. Die bereits erfolgten Effizienzmaß-
nahmen vieler Unternehmen müssen dabei aber aner-
kannt werden. Die EU-Mitgliedstaaten sollen wählen
können zwischen einer Steigerung der Energieeffizienz
um 6,3 Prozent oder einer Senkung des Energieverbrauchs
um 4,5 Prozent innerhalb von drei Jahren. Sie hingegen
reden im Antrag von einer deutschen Blockadehaltung
bei der Energieeffizienz in der EU.

Beim Netzausbau die gleiche Unvernunft und Igno-
ranz in Ihrem Antrag! Bereits einen Monat nach dem
Unglück in Fukushima hat das Wirtschaftsministerium
die ständige Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“
ins Leben gerufen. Eine Ihrer grünen Kolleginnen sitzt
übrigens dort im Beirat. Hier sorgen Netzbetreiber, Bun-
des- und Länderinstitutionen sowie Verbraucher- und
Umweltverbände für Lösungsvorschläge zum Netzaus-
bau. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind: gesellschaftli-
che Akzeptanz, Planungs- und Genehmigungsverfahren,
regulatorische Rahmenbedingungen für Investitionen,
die Netzanbindung von Offshorewindparks und vieles
mehr. All dies sind laufende Aktivitäten, die Sie in Ih-
rem Antrag immer noch einfordern. Sie ignorieren also
Fakten wider besseres Wissen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Umbau der Energiemärkte ist mit erheblichen
Kosten verbunden. Deshalb darf die Energiepolitik nicht
nur rein mengenmäßige Zielgrößen im Auge haben.
Energiepreise müssen wettbewerbsfähig sein, damit die
deutsche Industrie im internationalen Wettbewerb beste-
hen kann. Auch die privaten Haushalte sind auf bezahl-
bare Energiepreise angewiesen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wurde auch in Japan immer wieder argumentiert!)


Der energetische Umbau wird noch schneller und rei-
bungsloser funktionieren, wenn Sie als Opposition die
Realität anerkennen. Sie aber unterlaufen den Umbau,
wenn Sie mit unehrlichen Anträgen weiterhin Unsicher-
heit vor Ort schüren. Sie sollten sich lieber Ihrer Verant-
wortung bewusst werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716507100

Dorothée Menzner hat jetzt das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716507200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte die Erfolge, die kleinen Er-
folge, die im letzten Jahr erzielt wurden, nicht kleinre-
den. Ich möchte aber deutlich sagen: Wir sind genau an
der Stelle, an der wir ohne den Ausstieg aus dem Aus-
stieg, wie er nach 2009 erfolgt ist, heute auch wären. Als
Lehre aus Fukushima sage ich: Das ist deutlich zu we-
nig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bis vor wenigen Tagen war ich 14 Tage in Japan unter-
wegs, quer durch das Land, habe mit vielen Menschen,
mit Politikern, mit Wissenschaftlern, mit Bürgerinnen
und Bürgern, gesprochen und habe viele Präfekturen be-
sucht. Wie ist die Situation in Japan heute, knapp ein Jahr
nach dem Desaster?

Erstens. Rund 80 Prozent der Japanerinnen und Japa-
ner sind für einen schnellstmöglichen Atomausstieg. Es
finden große Demonstrationen statt. Inzwischen haben
sie auch Unterstützung von berühmten Leuten. Ich nenne
nur zwei Namen, die auch in Deutschland einen gewissen
Bekanntheitsgrad haben: zum einen den Schauspieler
Taro Yamamoto und zum anderen den Nobelpreisträger
Kenzaburo Oe. Ich habe mit beiden gesprochen. Beide
haben mir erzählt, sie bezahlen ihr Engagement mit öf-
fentlicher Ächtung, mit weniger Aufträgen, mit finan-
ziellen Einbußen und mit Anfeindungen. Ich denke, das
wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Gesellschaft.

Zweitens. Wenn man Japanerinnen und Japaner auf
ihre Regierung und ihre Verantwortungsträger anspricht
und sie fragt, ob sie glauben, dass das Richtige passiert
ist und das Richtige getan wird, dann erntet man von al-
len ein verächtliches Lachen. Regierung und Verant-
wortliche haben jegliches Vertrauen verspielt.

Drittens. Es sind noch zwei von insgesamt 54 Atom-
kraftwerken am Netz. Egal wo ich unterwegs war, ich
habe nirgends Energieengpässe feststellen können. Es
gab keine Stromausfälle. Wenn man durch Japan fährt,
stellt man fest: Es gibt, auch ganz kurzfristig, ein riesiges
Energieeinsparpotenzial.

Viertens. Die Stadt Fukushima ist eine Stadt mit ur-
sprünglich 2 Millionen Menschen. Es ist ein industrielles
Zentrum, landschaftlich wunderbar gelegen. Die Stadt
gehört nicht zum Evakuierungsgebiet. Die Strahlenwerte
sind aber höher als die, die ich im 20-Kilometer-Gürtel
im Süden gemessen habe. Es ist eine sterbende Stadt.
Alle Menschen, die es sich ökonomisch halbwegs leisten
können, ziehen weg, weil sie wissen, dass die Strahlung,
der sie ausgesetzt sind, auf Dauer schädlich ist. Viele
können sich aber ökonomisch den Wegzug nicht leisten,
weil sie es nur auf eigene Kosten tun können, da die
Stadt nicht zum Evakuierungsgebiet gehört.

Angesichts dieser und weiterer Beobachtungen habe
ich hinterfragt: Was sind die Ursachen? Wie kommt es
dazu? Es gab interessante und sehr erschreckende Ant-
worten. Ich habe mich lange mit dem Kernphysiker Pro-
fessor Hiroaki Koide von der Universität Kioto unterhal-
ten. Er hat mir zwei Dinge deutlich gemacht.

Erstens. Japan hat in den letzten Jahren zu keinem
Zeitpunkt Atomstrom gebraucht, um sich mit Energie
versorgen zu können. Sie hatten immer genug andere
Möglichkeiten, Strom zu produzieren. Genau das wird
deutlich, wenn es jetzt keine Engpässe gibt. Man kann
darüber diskutieren, ob die Öl- und Kohlekraftwerke das
Gelbe vom Ei und zukunftsweisend sind. Aber das Ri-
siko der Atomtechnik für die Stromversorgung der Men-
schen und der Industrie einzugehen, war nicht notwen-
dig.

Zweitens. Die Situation ist beileibe nicht im Griff. Bis
heute kann kein Wissenschaftler sagen, was in den drei
Blöcken los ist, weil die Strahlung schlicht und ergrei-
fend zu hoch ist und kein Mensch genauer hineinschauen
kann. Die größte Gefahr, die häufig gar nicht in unserem
Blickfeld liegt, geht von Block 4 aus – er war am
11. März abgeschaltet –, in dessen Obergeschoss sich ein
Abklingbecken mit 1 500 Brennelementen befindet. Die
Tragkonstruktion des Gebäudes ist dermaßen ange-
knackst, dass man sie abstützen musste. Fachleute gehen
davon aus, dass ein mittleres Erdbeben ausreichen
könnte, um die gesamte Konstruktion zum Kollabieren
zu bringen. Selbst Regierungsvertreter geben zu, dass in
einem solchen Fall die Evakuierung Tokios, eines Groß-
raums mit 30 Millionen Menschen, notwendig würde.

Drittens. Wir stellen fest: Japan hat bislang keine
Abkehr von der Atomtechnik beschlossen. Angesichts
dessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das deutlich
fordert, fragt man sich: Was steckt dahinter? Es ist
bereits angesprochen worden – ich konnte die Dokumen-
tation nicht sehen –: Die Macht der Atomkonzerne in
Japan ist enorm. Sie haben einen Rieseneinfluss auf die
Medien, aber auch auf politische Entscheidungsträger.
Das ist sicherlich ein Grund. Einen zweiten Grund, den
mir Historiker von der Universität in Hiroshima erläutert
haben, möchte ich nicht verschweigen. Gerade in der
Zeit, als ich in Japan war, haben Regierungsvertreter die-
sen zweiten Grund deutlich artikuliert; bei uns ist er in
den Medien nicht aufgetaucht. Der zweite Grund lautet:
Man möchte sich die Option auf eine Atombombe erhal-
ten. Die zivile Nutzung der Atomkraft gehört nämlich
unteilbar immer auch zur militärischen.

Mein Fazit daraus – dieses Fazit sollten wir gemein-
sam ziehen und nicht aus den Augen verlieren –: Die
Situation ist auch nach einem Jahr hochbrisant, und man
hat sie noch längst nicht im Griff.

Insgesamt möchte ich festhalten: Einige Konzerne
haben, ähnlich wie in anderen Ländern, enorme
Gewinne mit der Atomenergie gemacht. Die Menschen
jedoch zahlen, und zwar dreifach: Zum Ersten zahlen sie
durch den Verlust von Heimat und von sozialen Zusam-
menhängen. Sie verlieren ihr Zuhause, weil es verstrahlt
ist oder evakuiert werden musste. Zum Teil sind sie aus
freien Stücken gegangen, weil sie ihren Kindern und





Dorothée Menzner


(A) (C)



(D)(B)


ihrer Familie ein Leben dort nicht weiter zumuten woll-
ten. Zweitens zahlen sie mit der Gefahr des Verlustes
ihrer Gesundheit. Es gibt zwar relativ wenige akut Strah-
lenkranke; aber auf lange Sicht ist diese Strahlung hoch-
gefährlich, was Ihnen jeder Mediziner gerne bestätigen
wird. Drittens zahlen sie, indem sie die Kosten des Gan-
zen tragen. Sie tragen die Kosten privat, weil sie ein
Haus haben, das sie nicht mehr vermieten oder nicht
mehr selbst bewohnen können, für das sie aber weiterhin
die Hypotheken zahlen müssen. Sie zahlen es auch über
Steuern und Abgaben sowie aufgrund der ökonomischen
Probleme, die dieses Land zwangsläufig hat und noch
lange Zeit haben wird.

Das wäre in keinem Land der Welt anders; das wäre
auch in Deutschland im Falle eines Falles nicht anders.
Im Laufe der Jahre haben einige Wenige die Profite
gemacht, aber die normale Bevölkerung zahlt die Zeche.
Ich meine, nach Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima
ist es an der Zeit, dass wir daraus lernen. Das, was hierzu
bislang beschlossen wurde, ist jedoch deutlich zu wenig.
Ein Atomausstieg, und zwar ein unumkehrbarer, muss
schnellstmöglich erfolgen. Ein solcher Ausstieg ist deut-
lich schneller als erst 2022 möglich; hierzu haben wir
entsprechende Unterlagen vorgelegt, und Wissenschaft-
ler belegen das.


(Beifall bei der LINKEN)


Des Weiteren ist es notwendig, dass wir, die wir für
einen Ausstieg kämpfen, uns international vernetzen: auf
der parlamentarischen Ebene, aber auch in den gesell-
schaftlichen Bewegungen. Die japanischen Kolleginnen
und Kollegen haben das erkannt und kämpfen darum. Im-
merhin haben wir es mit globalen Konzernen zu tun, die
sich dagegenstellen. Es ist zudem notwendig – auch
wenn wir nur einen lockeren Ausstiegsbeschluss haben –,
uns dafür einzusetzen, dass unsere Technik nicht in
anderen Ländern importiert wird und wir kein Geld für
die Entwicklung von Atomkraftwerken in andere Länder
geben. Natürlich gehört auch dazu, dass wir bei uns vor
Ort einmal sehr genau hinschauen. Auch hier gibt es
durchaus Sicherheitsmängel und Probleme. Ich erinnere
nur an die verrosteten Fässer in Brunsbüttel, über die
gestern Berichte durch die Medien gingen.

Deswegen: Ich habe heute gelernt, dass diese Regie-
rung weiterhin Druck braucht; das ist noch nicht geges-
sen. Ich glaube, die Menschen haben das auch kapiert
und werden sich zahlreich an den fünf Demos und an der
Lichterkette am Sonntag beteiligen – zum Gedenken der
Opfer in Japan und für einen schnellstmöglichen Atom-
ausstieg.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716507300

Sylvia Kotting-Uhl hat jetzt das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716507400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
sehen: Die Opposition reist, um sich die Dinge vor Ort
anzuschauen. Ich war seit Mai letzten Jahres dreimal in
Japan, um Gespräche zu führen. Ich werde morgen wie-
der dorthin reisen, um bei den großen Demonstrationen
in Fukushima und Tokio zu reden.


(Zuruf von der FDP: Super CO2-Bilanz!)


Ich bin dort nicht als Grüne unterwegs, die gegen die
Bundesregierung zu Felde zieht, sondern als Botschafte-
rin Deutschlands.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Menschen dort bewundern das Beispiel Deutsch-
lands und brauchen es auch. Ich glaube, Sie unterschät-
zen die Verantwortung, die wir mit dem Bekenntnis zum
Atomausstieg und zur Energiewende in Deutschland
weltweit übernommen haben. Das ist nicht nur eine
deutsche Geschichte; das ist eine weltweite Aufgabe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe bei meiner ersten Reise nach Japan in den
Gesprächen gelernt, dass die Desinformation durch die
japanischen Behörden, die Regierung und Tepco, über
die dort viel geklagt wird, kein Problem Japans ist, son-
dern ein Problem der Atomkraft. Jedes Land wäre mit
den Auswirkungen eines GAUs total überfordert. Das ist
die Botschaft, die ich aus Japan mitgenommen habe.

Japan braucht den Umstieg auf erneuerbare Energien
und mehr Energieeffizienz. Wie denn sonst, Kolleginnen
und Kollegen, soll Japan seinen Energiebedarf selbst bei
Einsparungen stillen? Dieses erdbebengefährdete Gebiet
muss weg von der Atomkraft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Für diesen Umstieg braucht Japan ein Beispiel. Japan ist
ein hochindustrialisiertes Land. Die gleichen Argumenta-
tionen, die wir heute Morgen wieder gehört haben – die
Wirtschaft braucht bezahlbare Energiepreise, sonst
drohe der Untergang Deutschlands –, sind auch heute
noch in Japan zu hören. Es gibt eine große Furcht davor,
dass die Wirtschaft geschädigt wird, wenn man von der
Atomkraft Abstand nimmt. Japan braucht aber den
Atomausstieg zum Überleben; das hat uns doch dieses
Ereignis in Fukushima gezeigt. Deshalb braucht Japan
ein Beispiel; Japan braucht Unterstützung. Hier vermisse
ich ein Wort der Unterstützung von unserer Bundeskanz-
lerin; ich vermisse diesbezüglich überhaupt Worte dieser
Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)


Was heißt es denn, den Atomausstieg ernst zu neh-
men? Das heißt, die Energiewende hier voranzubringen
und sie eben nicht, wie wir es erleben, an die Wand zu
fahren. Das heißt, die Ausrichtung der Forschung an die
neuen Ziele anzupassen, und es heißt, weltweit, vor
allem in dem getroffenen Land Japan, für eine neue Aus-
richtung der Energiepolitik zu werben und zu zeigen,
dass und wie es geht. Das ist unsere Aufgabe. Es wäre
die Aufgabe dieser Bundesregierung, mit dieser Bot-
schaft dorthin zu gehen und vor Ort davon zu überzeu-
gen, dass es anders geht, dass man die Atomkraft nicht
braucht. Darauf warten wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716507500

Der Kollege Josef Göppel hat das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1716507600

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende

ist die historische Konsequenz aus dem Unfall von
Fukushima. Die würdigste Art, der Opfer zu gedenken,
ist, den Weg in eine neue Energiepolitik einzuschlagen,
die solche Opfer in der Zukunft unmöglich macht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE])


Das ist der Weg der deutschen Energiewende.

Ich finde es schon bemerkenswert, und es freut mich,
wenn eine Grüne hier sagt, sie gehe als Botschafterin
Deutschlands nach Japan und Deutschland werde in der
Welt bewundert. In der Tat: Das deutsche Experiment
wird in der Welt skeptisch und hoffnungsvoll beobach-
tet. Das ist auch kein Wunder; denn kein anderes Land
hat eine solche Konsequenz aus diesem Unfall gezogen.
Frau Kotting-Uhl, ich meine, Sie sollten sich in dem
Punkt korrigieren: Sie müssen nicht auf Worte von Frau
Merkel warten, weil Frau Merkel mit der Tat geantwor-
tet hat. Die deutsche Energiewende ist vollzogen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man muss allerdings sagen, dass das nicht möglich
gewesen wäre, wenn nicht die deutsche Bevölkerung
über Jahrzehnte diese Grundstimmung aufgebaut hätte.
Nur diese Grundstimmung hat es ermöglicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Grundstimmung darf uns veranlassen, in diesem
Zusammenhang zu sagen: Wir sind stolz auf unser Land
und unsere Bevölkerung; denn dem Weg, mit dem die
Deutschen Zukunftsgerichtetheit ausdrücken, möchten
viele andere Länder folgen. Das erleben alle, die interna-
tional unterwegs sind.

Darüber hinaus muss man feststellen: Ein Jahr nach
diesem Ereignis haben uns die Alltagsprobleme ein-
geholt. Für mich lautet der wichtigste Satz aus dem
Beschluss des Koalitionsausschusses vom vergangenen
Sonntag: Wir müssen sicherstellen, dass wieder eine aus-
reichende finanzielle Ausstattung des Klimafonds herge-
stellt wird. – Das heißt nichts anderes, als dass wir auf
europäischer Ebene eine Heraufsetzung des Klimaziels
von 20 auf 30 Prozent brauchen


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


und dass die vagabundierenden, überschüssigen Zertifi-
kate eingesammelt werden.

Auch an dieser Stelle freut mich der Beifall der Oppo-
sition; denn Deutschland hat erklärt, dass auf nationaler
Ebene eine CO2-Minderung von 40 Prozent beschlossen
wurde und dass Deutschland diese Ankündigung auch in
den Brüsseler Verhandlungen aufrechterhält. Wir wis-
sen, dass es im Moment drei osteuropäische Länder gibt,
nämlich Polen, Bulgarien und Rumänien, die sich mit
ihrem Veto gegen diese Maßnahmen stemmen. Für uns
ist das existenziell, weil Deutschland 100 Prozent seiner
Einnahmen aus dem Emissionshandel in den Klimafonds
steckt, während der Durchschnitt auf europäischer
Ebene bei nur 50 Prozent liegt. Es kommt entscheidend
darauf an, dass wir hier einen Durchbruch erzielen; das
muss an dem einjährigen Gedenktag der Energiewende
deutlich gemacht werden. Die Berliner Bühne ist dafür
nur begrenzt ausschlaggebend; maßgeblich ist hier die
europäische Ebene.

Was sich hier abspielt, ist im Kern eine technologi-
sche Wende, die die Politik nur nachvollzogen hat; denn
die Fortschritte in der Mikroelektronik sind es, die eine
kleinteilige Energieversorgung möglich machen. Der
Weg führt von den zentralen Großkraftwerken zur klein-
teiligen Energieversorgung. Der Weg führt auch von den
anonymen Aktienpaketen zum breiten Volkseinkommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist doch völlig klar, dass es da Widerstände gibt; denn
das führt zu Verschiebungen in der Wertschöpfungskette.
Ich sitze für eine Partei im Deutschen Bundestag, für die
CSU, die für ein breit gestreutes Einkommen, für den
Mittelstand und für das Handwerk eintritt. All das wird
mit der Energiewende erreicht.

Wir erleben eine echte Volksbewegung in der Grün-
dung von Energiegenossenschaften. Wir erleben auch,
dass die Marktdurchdringung die Preise sinken lässt. Es
ist eine Tatsache, dass im Jahr 2011 der durchschnitt-
liche Großhandelsstrompreis an der Leipziger Börse von
6,0 auf 5,5 Cent je Kilowattstunde gefallen ist, weil die
Erneuerbaren die Mittagsspitzen brechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Josef Göppel


(A) (C)



(D)(B)


Auch das muss im Zusammenhang mit der Diskussion
um eine EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent je Kilowatt-
stunde gesagt werden; denn dies ist immer nur ein Diffe-
renzbetrag.

Natürlich muss man auch über die Befreiungen disku-
tieren. Ich bin für die Befreiung unserer energieinten-
siven Betriebe, damit sie wettbewerbsfähig bleiben.
Aber man darf über diese 3,5 Cent nicht ohne Berück-
sichtigung der preissenkenden Wirkung der erneuer-
baren Energien und der kostenerhöhenden Wirkung der
Befreiungen diskutieren. Das muss auch einmal gesagt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Insbesondere die Entwicklung im Bereich der Solar-
energie ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn wir die
Novelle, die morgen in erster Beratung im Parlament
behandelt wird, beschließen, dann beträgt die durch-
schnittliche Vergütung für eine Kilowattstunde Solar-
strom 17 Cent; sie ist damit 1 Cent billiger als eine Kilo-
wattstunde Windstrom von der See. Das ist eine
technologische Erfolgsgeschichte, die langfristig anhal-
ten wird. Warum? Im Bereich der erneuerbaren Energien
gibt es ein besonderes Charakteristikum. Man hat eine
hohe Anfangsinvestition, aber im weiteren Verlauf sind
die Betriebskosten niedrig; denn der „Brennstoff“ für
Wind und für Solar kostet nichts. Das bedeutet: Wenn
erst einmal investiert wurde und die anfallenden Kosten
abgeschrieben sind, dann kommt es tendenziell zu sin-
kenden Strompreisen. Das ist eine positive Aussicht für
die Verbraucher. Deswegen ist der eingeschlagene Weg
richtig, und es ist gut, dass er entschlossen gegangen
wird.


(Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich möchte noch einmal auf die Energiegenossen-
schaften zu sprechen kommen, die sich im ganzen Land
bilden. Das ist nicht nur etwas für die ländlichen Räume.
Wir sollten auch entsprechende Rahmenbedingungen
schaffen, damit sich Mieter in den Großstädten zum
Beispiel an Solaranlagen auf den Dächern beteiligen
können, die die Häuser dann unmittelbar mit Strom ver-
sorgen. Die Zukunft liegt in der zellenartigen Struktur, in
der kleinteiligen Stromversorgung, die die Belastung der
großräumigen Netze verringert und auf diese Art und
Weise Wertschöpfung und Einkommen vor Ort schafft.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716507700

Der Kollege Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1716507800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

dreifache Katastrophe von Fukushima steht für tiefe

menschliche und politische Einschnitte: Erdbeben, Tsu-
nami, Atomunfall – für die Betroffenen in Japan bedeu-
tet diese schlimme Kettenreaktion großes persönliches
Leid. Viele Familien haben ihre Angehörigen und ihre
Heimat verloren. Nach wie vor ist die Strahlenbelastung
in der Region um Fukushima kaum einschätzbar, und
weitere Risiken sind nicht abzuschätzen. Unser Mitge-
fühl gilt den Opfern von Fukushima.

Die vielen Mahnwachen und Großdemos, die es in
Deutschland gab, haben gezeigt, wie groß die Angst vor
den Gefahren der Kernenergie ist. Bei Naturkatastrophen
sind wir weitgehend machtlos, bei der Wahl der Energie-
erzeugung allerdings nicht. Politisch gesehen stellt
Fukushima eine Zäsur dar, weil erstmals ein technisch
hochgerüstetes Land die Kontrolle über die Atomkraft
verloren hat, und zwar trotz höchster Sicherheitsstan-
dards und trotz gut ausgebildeter Ingenieure. Sind wir
wirklich besser? Nur scheinbar haben auch Union und
FDP begriffen, wie wenig sicher diese Form der Ener-
gieerzeugung ist. Hinzu kommt die immer noch unge-
löste Endlagerfrage.

Die Kehrtwende der Kanzlerin war ohne Frage be-
achtlich, wenngleich wir an der Motivation für den
Atomausstieg zweifeln.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie wollte die Baden-Württemberg-Wahl retten! Das ist ihr nicht gelungen!)


Passend dazu schrieb die Süddeutsche Zeitung vorges-
tern:

Angela Merkel und die Atomkraft – das ist die Ge-
schichte einer langen Beziehung, aus der sie am
Ende schnell ausstieg. Weil sie ihr politisch keine
Energie mehr brachte.

Wenn ich sehe, wie viel Geld das Bundesministerium für
Bildung und Forschung in die Atomforschung steckt und
dass es zudem auf das Exportpotenzial deutscher Atom-
technologie verweist, bezweifle ich, dass Schwarz-Gelb
tatsächlich von der Kernkraft abgekehrt ist. Die Ausfüh-
rungen des Kollegen Paul haben das heute gezeigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wo ist er eigentlich geblieben, der Herr Paul?)


Die SPD-Fraktion steht ohne Wenn und Aber zum
Ausstieg aus der Atomkraft. Allein mit dem Abschalten
der Atomkraftwerke ist die gewünschte Energiewende
aber noch lange nicht vollzogen. Vielmehr ist es jetzt
notwendig, den eingeleiteten Umbau unseres Energie-
systems hin zu einem nachhaltigen, sicheren und sozial
gerechten System fortzusetzen, und zwar mit Volldampf.
Wenn ich mir das Regierungshandeln der letzten Monate
anschaue, dann stelle ich fest, dass dieser Dampf fehlt.
Wir brauchen dringend mehr politische Anstrengungen
beim Netzausbau, bei der Speicherung von Strom und
Wärme, bei den modernen Kraftwerkstechnologien und
vor allem im Bereich der Energieeffizienz.

Ich lese viele Schlagworte und Überschriften, aber es
fehlt die Strategie. Vor allem fehlt die stringente und





Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)


transparente Koordinierung der Energiepolitik. Wer ist
denn überhaupt verantwortlich für die Energiewende?


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wir alle!)


Frau Merkel selbst, der Wirtschaftsminister oder viel-
leicht Herr Röttgen? Oder schaltet am Ende sowieso
Herr Schäuble das Licht aus, weil das Geld fehlt und der
Energie- und Klimafonds auf Sand gebaut ist? – An
dieser Stelle hat die Koalition nicht geklatscht, Herr Kol-
lege Göppel.

In der Zwischenbilanz zur Energiewende, die seitens
der Bundesregierung am 23. Februar 2012 vorgelegt
wurde, steht geschrieben, dass die Bundesregierung ei-
nen Steuerungskreis zur Umsetzung der Energiewende
einsetzen will, und zwar auf Ebene der Staatssekretäre.
Wenn ich weiterlese, stelle ich aber fest, dass dieser
Kreis halbjährlich zusammenkommen soll. Das kann
doch nicht wahr sein. Deutschland will einen System-
wechsel, der komplexer und ehrgeiziger nicht sein
könnte, und die Staatssekretäre treffen sich zwei Mal im
Jahr. Das ist definitiv zu wenig.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Trotz aller Kritik bleibt festzuhalten, dass es viele
gute Ansätze und Projekte auf dem Weg zur Energie-
wende gibt. Wir müssen sie allerdings besser fördern
und darauf drängen, dass gute Beispiele schnell und
flächendeckend Schule machen. Ich will ein Beispiel
nennen: Meine Heimatstadt Bottrop in Nordrhein-West-
falen steht wie keine andere Stadt für das, was ich unter
Energiewende verstehe. Wir wandeln uns von der Berg-
baustadt zur Modellstadt für Klimaschutz und Energie-
effizienz. Jahrzehntelang haben wir mit der Förderung
von Steinkohle für Energie gesorgt, und wir tun es im-
mer noch. Dass die Kohleförderung trotz modernster
Technologien und bestausgebildeter Bergleute vorbei
sein soll, bedauere ich persönlich. Dennoch gehen wir
unter und über Tage neue Wege. In den Schächten könn-
ten Pumpspeicherkraftwerke entstehen, um zur Versteti-
gung volatiler Energien beizutragen. Grubenbaue könn-
ten in Zukunft als Energiespeicher dienen. Schon heute
kann die Wärme des Grubenwassers zur Gebäudeversor-
gung genutzt werden, und über Tage entsteht die Innova-
tion City Ruhr. Herzstück des Modellprojektes ist die
energetische Sanierung eines kompletten Stadtteils.
Wenn es gelingt, die bestehenden Gebäude in einer Grö-
ßenordnung von 14 400 klimafreundlich zu sanieren und
den CO2-Ausstoß bis 2020 um die Hälfte zu reduzieren,
wird dies ein Vorbild für weitere Projekte in ganz
Deutschland sein.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Jede Kilowattstunde, die eingespart wird, braucht nicht
erzeugt zu werden, braucht nicht transportiert zu werden
und verursacht keine Emissionen. Das ist die Wende, die
wir brauchen.

Herzlichen Dank. Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716507900

Angelika Brunkhorst hat jetzt das Wort für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])



Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1716508000

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Die Grünen nehmen den Jahrestag der Reaktorkatastro-
phe von Fukushima zum Anlass für einen Rundum-
schlag gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie
und fordern den absoluten, den weltweiten Atomaus-
stieg. Ich halte diese Forderung für anmaßend; denn das
ist nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt
genesen. – Ich denke, dass alle Staaten souverän sind
und selbst über ihre Energieversorgung entscheiden
wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Marco Bülow [SPD]: Dann dürfen wir nicht über Menschenrechte reden und über alles andere auch nicht!)


Im Umweltausschuss haben wir mehrfach über Fuku-
shima diskutiert. Zuletzt hat die Strahlenschutzkommis-
sion am 29. Februar 2012 darüber berichtet.

Aufgrund des Erdbebens brach die öffentliche Strom-
versorgung zusammen, aber die Reaktoren blieben
zunächst unbeschädigt. Auch die Schnellabschaltung er-
folgte noch. Erst durch den folgenden Tsunami, durch
die hohe Welle, wurden die Notstromversorgung und die
Notkühlsysteme außer Kraft gesetzt. So konnte die
Nachzerfallswärme nicht mehr abgeführt werden, und es
kam zur Katastrophe.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716508100

Frau Kollegin, Herr Rebmann würde Ihnen gerne eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?


Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1716508200

Nein, das möchte ich nicht.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!)


Der Vollständigkeit halber muss man an dieser Stelle
sagen, dass der Reaktorunfall von Fukushima auch eine
andere, grundlegende Ursache hat, nämlich die Fehlaus-
legung der Anlage an sich. Die Anlage ist nur für Erd-
beben bis zur Stärke 8 der Richterskala ausgelegt und
vor Tsunamis bis zu einer Wellenhöhe von 5,70 Meter
geschützt. Man hätte bei der Konstruktion der Anlage
also eine entsprechend höhere Eindeichung vorhalten
müssen. Tatsächlich waren die Notstromdieselaggregate
und die Notkühlpumpen vor der Überflutung infolge des
Tsunamis nicht ausreichend geschützt.

In Deutschland sind keine vergleichbaren Erdbeben
und auch keine Tsunamis zu erwarten; die Seite des
Erdballs, auf der wir leben, ist davon kaum betroffen.
Mehrfachkatastrophen in dieser Dimension sind in
Deutschland nicht zu befürchten.





Angelika Brunkhorst


(A) (C)



(D)(B)


Alle deutschen Kernkraftwerke verfügen über mehr-
fach hintereinander gestaffelte Sicherheitsbarrieren;
diese sind technisch unterschiedlich wirksam. Durch
diese Grundsätze der Redundanz und Diversität wird in
Deutschland ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet.
Dies ist weltweit anerkannt.


(Marco Bülow [SPD]: Ja, so wie in Japan! Das war auch weltweit anerkannt!)


Alle deutschen Kernkraftwerke an Standorten mit ent-
sprechender Gefährdung wurden bei ihrer Errichtung
gegen Hochwasser und Erdbeben ausgelegt. Bei der
Auslegung der Kernkraftwerke beispielsweise gegen
Erdbeben wird im kerntechnischen Regelwerk das
stärkste anzunehmende Erdbeben in einem Umkreis von
200 Kilometern zugrunde gelegt.

Es war richtig, dass nach den Erfahrungen mit Fuku-
shima zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Kon-
trollen deutscher Kernkraftwerke diese gesonderte Risi-
koanalyse stattgefunden hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es wäre schön, wenn auch die Grünen die positiven Er-
gebnisse dieser Sicherheitsanalyse erwähnen würden.

Ich glaube, dass unsere Kernkraftwerke über ein ho-
hes Sicherheitsniveau verfügen. Dies wird durch die sehr
strenge atomrechtliche Aufsicht der zuständigen Behör-
den in den Ländern gewährleistet.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Hennenhöfer! Genau!)


– Er arbeitet nicht in einer Landesbehörde. Nein danke,
Herr Trittin.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein danke, Herr Hennenhöfer, würde ich sagen!)


Deutschland wird Japan gerne helfen, zum einen
moralisch – Japan hat natürlich unser Mitgefühl –; zum
anderen werden wir Japan mit unseren Erfahrungen, mit
unserem technischen Wissen und Know-how unterstüt-
zen, wenn die Japaner das möchten.


(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP])


Die Katastrophe in Japan führte auch in Deutschland
zu einer Neubewertung der Risiken; dies war richtig. Die
Kanzlerin hat gehandelt. Ich möchte hier noch einmal
sagen, dass die Koalition im Sommer 2011 – abwei-
chend vom Energiekonzept aus 2010, in dem wir bereits
das Ziel bekräftigt hatten, perspektivisch auf die Kern-
energie zu verzichten – eine Neuausrichtung der
Nutzung der Kernenergie vorgenommen hat. Wir werden
beschleunigt aus der Nutzung der Kernenergie ausstei-
gen und einen beschleunigten, ambitionierteren, ver-
nunftorientierten und gangbaren Weg in das Zeitalter der
regenerativen Energien aufzeigen. Ich denke, wir sind
auf einem guten Weg.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716508300

Dieter Jasper hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dieter Jasper (CDU):
Rede ID: ID1716508400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ei-
nem Jahr, am 11. März 2011, hielt die Welt den Atem an.
An diesem Tag bebte vor der japanischen Ostküste die
Erde. Das Epizentrum des Bebens lag rund 150 Kilome-
ter nordöstlich des Kraftwerkes Fukushima. Nach weni-
gen Sekunden erreichten die Primärwellen das Kraft-
werk. Das Beben dauerte ungefähr zwei Minuten und
hatte eine Stärke von 9,0. Eine knappe Stunde später
trafen die ersten der bis zu 15 Meter hohen Wellen in
Fukushima ein.

Das Kernkraftwerk besteht aus sechs Reaktorblöcken.
Neben jedem Reaktor befindet sich ein Abklingbecken
zur Zwischenlagerung verbrauchter und neuer Brenn-
elemente. Reaktoren und Abklingbecken müssen perma-
nent gekühlt werden. Die eintreffenden Primärwellen
des Bebens bewirkten eine Schnellabschaltung der drei
in Betrieb befindlichen Reaktoren. Gleichzeitig fiel die
externe Stromversorgung aus, sodass die Kühlung durch
Notstromaggregate sichergestellt werden musste. Bis
dahin war die Situation noch überschaubar und be-
herrschbar.

Dann erreichten die Tsunamiwellen das Kraftwerk.
Die Reaktorblöcke wurden vollkommen überschwemmt.
Die in den Gebäuden befindlichen Generatoren fielen
aus und somit die gesamte Kühlung. Trotz verzweifelter
Rettungsmaßnahmen kam es zu einer Überhitzung der
Reaktoren und der Abklingbecken und in der Konse-
quenz zu Kernschmelzen in den drei Reaktoren. Explo-
sionen führten zu schweren Verwüstungen des Kraft-
werks und des Kraftwerksgeländes. Die Strahlenbelas-
tung auf dem Gelände wuchs stark an. Vier von sechs
Reaktorblöcken wurden vollständig zerstört. Die Entsor-
gungsarbeiten werden mehrere Jahrzehnte dauern. Die
verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt sind nicht
abzuschätzen. Jeder von uns hat die furchtbaren Bilder
vor Augen, die alle Sender seinerzeit weltweit live über-
mittelten. Diese schlimmen Tage werden uns immer in
Erinnerung bleiben. Wir fühlen mit den japanischen Bür-
gerinnen und Bürgern, die durch diese Katastrophe un-
mittelbar bedroht wurden und es heute noch werden.

Und doch war da auch dieses Gefühl der Fassungslo-
sigkeit: Wie konnte es sein, dass eine technisch so hoch
stehende Nation wie Japan scheinbar so hilflos bei der
Bewältigung dieser Katastrophe war? Natürlich stellte
sich auch die Frage: Ist so etwas auch bei uns in
Deutschland denkbar und möglich? Rein technisch be-
trachtet hatte sich durch den Unfall in Fukushima die Si-
cherheitslage der Reaktoren in Deutschland nicht geän-
dert. Aber das Erdbeben in Japan hatte nicht nur das
Kraftwerk Fukushima erschüttert und zerstört. Erschüt-
tert und zerstört wurde auch das bis dahin vorherr-





Dieter Jasper


(A) (C)



(D)(B)


schende Vertrauen, dass die Risiken der Kernkraft be-
herrschbar seien.


(Beifall der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es fand auf politischer Ebene eine Neubewertung der
Risiken statt. Auch das bis dahin Unvorstellbare wurde
jetzt als Möglichkeit akzeptiert. Das geltende Energie-
konzept sah zwar einen Ausstieg aus der Kernkraft vor,
aber erst zu einem späteren Zeitpunkt. Jetzt fand eine
grundlegende Korrektur statt. Die Energiewende wurde
vollzogen. Acht Kraftwerke wurden vom Netz genom-
men; die restlichen folgen bis zum Jahr 2022. Deutsch-
land stand und steht somit vor einer seiner größten He-
rausforderungen seit der deutschen Einheit.

Doch wie kann eine der wichtigsten Volkswirtschaf-
ten der Welt seine Energieversorgung binnen zehn Jah-
ren auch ohne Kernkraftwerke sicherstellen? Kernele-
ment der Energiewende ist der Ausbau der erneuerbaren
Energien. Das sind in erster Linie Wind, Sonne und Bio-
masse. Bei der Stromerzeugung haben diese Energiefor-
men sprunghaft zugelegt. Es wurde zwischenzeitlich ein
Anteil von über 20 Prozent erreicht. Dazu haben vor al-
len Dingen die stärkere Nutzung von Windenergie und
Biogas sowie der kräftig gestiegene Solarstromanteil
beigetragen.

Diesem dynamischen Ausbau der Regenerativen ste-
hen erhebliche Probleme gegenüber. Da ist zunächst die
Infrastruktur zu nennen. Die Deutsche Energie-Agentur
schätzt den Bedarf an zusätzlichen Hochspannungslei-
tungen auf bis zu 4 500 Kilometer. Doch der notwendige
Ausbau insbesondere der Trassen von Nord- nach Süd-
deutschland stößt in Teilen der Bevölkerung auf erhebli-
che Widerstände. Oft sind es leider die Vertreter der Par-
teien, die sich hier im Bundestag als Gralshüter
ökologischer Energiepolitik aufführen, die vor Ort in der
ersten Reihe der Protestierer stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier wären mehr Standvermögen und weniger Populis-
mus hilfreich, um die notwendigen Maßnahmen durch-
führen zu können.

Zweites Thema: Netzsicherheit. Zu den größten Pro-
blemen der regenerativen Energien gehören deren hohe
Volatilität und die fehlenden Speichermöglichkeiten.
Dies gilt insbesondere für Energie aus Wind und Sonne.
Eine der wenigen bisher vorhandenen Möglichkeiten der
Speicherung bieten Pumpspeicherwerke. Doch hier gilt
das Gleiche wie beim Netzausbau: Es reicht nicht aus, in
Berlin Forderungen zu stellen. Man muss diese auch vor
Ort vertreten und darf sich nicht wegducken, wenn es
schwierig wird. So machen derzeit beispielsweise im
Schwarzwald die örtlichen Bündnisgrünen Front gegen
ihren eigenen Ministerpräsidenten, der dort den Bau ei-
nes Pumpspeicherwerks plant. Bei allem Verständnis für
die Bedenken der Menschen vor Ort sollte es gerade für
die Grünen eine Selbstverständlichkeit sein, hier aufklä-
rend und vermittelnd zu wirken. Einfach nur dagegen zu
sein, hilft nicht wirklich weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aufgrund der hohen Volatilität der regenerativen
Energien brauchen wir zukünftig weiterhin grundlastfä-
hige Gas- und Kohlekraftwerke. Wir haben in Nord-
rhein-Westfalen und speziell in meinem Wahlkreis einen
funktionierenden Steinkohlebergbau. Die Steinkohle ist
eine unserer letzten nationalen Energiereserven. Vor dem
Hintergrund der bestehenden großen Unsicherheiten
würde eine weitere Förderung der heimischen Stein-
kohle ein Mehr an Sicherheit und ein Mehr an Zuverläs-
sigkeit bewirken. Deshalb trete ich in der Konsequenz
für den Bau neuer hocheffizienter Kohlekraftwerke mit
verbessertem Wirkungsgrad ein.

Die Realität bei uns in Nordrhein-Westfalen ist leider
eine andere. Bereits gebaute hochmoderne Kohlekraft-
werke wie das in Datteln werden aufgrund des Wider-
stands des grünen Umweltministers verhindert und nicht
in Betrieb genommen. Eine Investitionsruine von über
1 Milliarde Euro droht. Dies ist sowohl unter Klima-
schutzgesichtspunkten als auch unter dem Aspekt einer
sicheren Energieversorgung nicht zu verstehen. Lieber
Kollege Gerdes von der SPD, ich hätte mir von Ihnen
eine klare Aussage zugunsten des Bergbaus bei uns in
Deutschland gewünscht. Ich glaube aber, dass wir uns da
auf der gleichen Linie bewegen.


(Michael Gerdes [SPD]: Ja, auf einer Linie!)


Dritter und letzter Punkt: die Kosten; dieser Aspekt
ist für mich als Wirtschaftspolitiker besonders wichtig.
Die Menschen in Deutschland wollen mit großer Mehr-
heit den Ausstieg aus der Kernenergie. Dies hat vielfäl-
tige Konsequenzen, natürlich auch monetäre. Eine der
Konsequenzen wird sein, dass die Kosten für die Ener-
gieversorgung steigen. Aktuell erhalten Ökostromprodu-
zenten von den Verbrauchern einen Betrag von
3,59 Cent pro Kilowattstunde. Das sind bereits etwa
14 Prozent des gesamten Strompreises. Die Bürger und
die Unternehmen dürfen aber nicht überfordert werden.
Der Strom muss nicht nur sicher und sauber, er muss
auch bezahlbar bleiben. Das ist nicht nur eine Frage der
Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Frage der Ak-
zeptanz der Energiewende in der deutschen Bevölke-
rung.

Ich will dies am Beispiel der Photovoltaik deutlich
machen, zu der wir morgen noch eine ausführliche
Debatte führen werden. Gegenüber 2009 wurde die
Einspeisevergütung für Solarstrom nahezu halbiert. Den-
noch wurden in den beiden letzten Jahren jeweils
7 500 Megawatt neu installiert.

Vor dem Hintergrund rapide gefallener Weltmarkt-
preise für PV-Module ist die aktuelle Anpassung der
Vergütungssätze konsequent und folgerichtig. Unser ge-
meinsames Ziel muss es sein, dass die Photovoltaik
schon in einigen Jahren Marktreife erlangt und ohne För-
derung auskommt.

Die von unserem Umweltminister Norbert Röttgen
und dem Wirtschaftsminister gemeinsam getroffene Ent-
scheidung, im Bereich der PV einen klaren Einschnitt
vorzunehmen, ist richtig, nachvollziehbar und findet
meine volle Unterstützung.





Dieter Jasper


(A) (C)



(D)(B)


Photovoltaik wird in Deutschland weiterhin erfolg-
reich sein. Die deutsche PV-Industrie zählt zu den inter-
nationalen Technologieführern. Gleichzeitig besteht die
Herausforderung darin, die mit dem inländischen Zubau
verbundenen Kosten für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher wirkungsvoll zu steuern und in überschaubaren
Grenzen zu halten.

Fazit: Den regenerativen Energien gehört die Zu-
kunft. Der Weg dorthin ist schwierig, bietet aber gerade
für unsere Unternehmen in Deutschland vielfältige
Chancen. Die weitere Umsetzung des Energiekonzepts
muss zügig und konsequent erfolgen. Wir brauchen
wettbewerbsfähige Energiepreise auf Basis einer effi-
zienten und umweltschonenden Energieerzeugung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zu den wichtigsten zukünftigen Aufgaben zählen der
zügige Ausbau leistungsfähiger Netze, die Steigerung
der Energieeffizienz, der Zubau effizienter und flexibler
Gas- und Kohlekraftwerke, mehr Markt und mehr
Marktintegration sowie eine permanente Kostenkon-
trolle, um eine Fehlallokation der Fördermittel zu ver-
meiden und die Kosten der Energiewende zu begrenzen.

Unser Bundesumweltminister Norbert Röttgen macht
hier einen ganz hervorragenden Job. Es geht bei der Ener-
giewende nicht um kurzfristigen Beifall, den sich Vertre-
ter von Rot und Grün gerne auf interessegeleiteten Veran-
staltungen abholen. Wenn die Energiewende erfolgreich
gelingen soll, dann müssen ökologische Notwendigkeiten
und ökonomische Erfordernisse abgewogen und mit-
einander verknüpft werden. Die Bundesregierung und
Norbert Röttgen sind hier auf einem guten Weg.

Die Neuausrichtung der Energieversorgung in Deutsch-
land ist jedoch eine Gemeinschaftsaufgabe und kann – so
die Ethikkommission – nur mit einer gemeinsamen An-
strengung auf allen Ebenen der Politik, der Wirtschaft und
der Gesellschaft gelingen.

Herzlichen Dank und Glück auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716508500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8898 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann verfahren wir so.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis m auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 12. Oktober 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Indien über Soziale Sicherheit

– Drucksache 17/8727 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Eurojust-Gesetzes

– Drucksache 17/8728 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Sieb-
ten Änderung des Übereinkommens über den
Internationalen Währungsfonds (IWF)


– Drucksache 17/8839 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
derungen vom 30. September 2011 des Über-
einkommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung
der Europäischen Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung

– Drucksache 17/8840 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 19. September 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Re-
publik Türkei zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen

– Drucksache 17/8841 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 30. November 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Zen-
tralrat der Juden in Deutschland – Körper-
schaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung
des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Zentralrat der Juden in Deutschland – Kör-
perschaft des öffentlichen Rechts –, zuletzt ge-
ändert durch den Vertrag vom 3. März 2008

– Drucksache 17/8842 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Förderung der Bildungsforschung weiter vo-
rantreiben

– Drucksache 17/8604 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Kein Zugang von Kindern und Jugendlichen
zu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstal-
tungen

– Drucksache 17/8609 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für eine kostenfreie und umfassende Betreu-
ungskommunikation im Einsatz

– Drucksache 17/8795 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

j) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine moderne und umfassende Betreu-
ungskommunikation im Einsatz

– Drucksache 17/8895 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

k) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schweinepest tierschonend bekämpfen – Not-
impfung ersetzt grundloses Keulen

– Drucksache 17/8893 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Verbraucherschutz stärken – Finanzmarkt-
wächter einführen
– Drucksache 17/8894 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleis-
tungszentren und Bundesstützpunkten konse-
quent bekämpfen
– Drucksache 17/8896 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 32 a bis i. Es
handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkte 32 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Energieverbrauchskenn-
zeichnungsrechts
– Drucksachen 17/8427, 17/8803 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/8900 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/8900, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
17/8427 und 17/8803 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen
wollen, bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion. Bünd-
nis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Die Linke hat
sich enthalten.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, erheben sich bitte. – Die Gegner stehen bitte
jetzt auf. – Wer sich enthalten möchte, steht bitte jetzt
auf. – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ange-
nommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-
vor.

Tagesordnungspunkt 32 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Thomas Silberhorn, Monika Grütters,
Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann,
Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

UNESCO-Welterbestätten in Deutschland
stärken

– Drucksachen 17/7357, 17/8858 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Ulla Schmidt (Aachen)

Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth (Augsburg)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/8858, den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei
Zustimmung durch die Koalition angenommen. Die Op-
position hat abgelehnt.

Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 32 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 397 zu Petitionen

– Drucksache 17/8779 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 32 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 398 zu Petitionen

– Drucksache 17/8780 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und die SPD angenommen. Dagegen
hat die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich
enthalten.

Tagesordnungspunkt 32 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 399 zu Petitionen

– Drucksache 17/8781 –

Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 400 zu Petitionen

– Drucksache 17/8782 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmen
durch die Linke angenommen. Alle anderen waren dafür.

Tagesordnungspunkt 32 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 401 zu Petitionen

– Drucksache 17/8783 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und die SPD angenommen. Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen ge-
stimmt.

Tagesordnungspunkt 32 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 402 zu Petitionen

– Drucksache 17/8784 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktio-
nen und die Linke, dagegen haben Bündnis 90/Die Grü-
nen und SPD gestimmt. Die Sammelübersicht ist
angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 403 zu Petitionen

– Drucksache 17/8785 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalition und Gegenstimmen durch die Oppo-
sition angenommen.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:

Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benen-
nenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats
gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes

– Drucksache 17/8881 –

Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
daher gleich zur Abstimmung.

Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag
auf Drucksache 17/8881? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig ange-
nommen.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Zivilcourage gegen Nazis stärken

Das Wort für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Ingrid Remmers.


(Beifall bei der LINKEN)



Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716508600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir haben in Deutschland ein Problem mit Rechts-
extremismus. Einigen ist diese Erkenntnis früher, ande-
ren später gekommen. Spätestens seit der Aufdeckung
des NSU-Terrors kann aber wohl niemand mehr leug-
nen, dass alle friedliebenden Menschen gemeinsam ge-
gen Nazis vorgehen müssen. Rechtsextremismus gefähr-
det das friedliche Zusammenleben; er gefährdet die
Meinungsfreiheit, die Sicherheit des Einzelnen und nicht
zuletzt unser Bild im Ausland.


(Beifall bei der LINKEN)


Erst in den vergangenen Tagen sind wieder Waffenla-
ger von Neonazis in verschiedenen Bundesländern ent-
deckt worden. Mein Wahlkreisbüro in Ahlen wurde in
nicht einmal zwei Jahren bereits dreimal von Rechtsex-
tremen angegriffen; ähnlich geht es vielen anderen lin-
ken Abgeordneten.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das erlebe ich in Göttingen auch!)


Aber nicht nur deswegen bin ich immer wieder froh,
zu sehen – ob in Dresden, Münster oder anderswo –,
dass viele Bürgerinnen und Bürger friedlich, humorvoll
und effektiv gegen Nazis demonstrieren und ihre Auf-
märsche zum Desaster machen.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Umso schockierender ist es, wie auf den friedlichen Pro-
test vonseiten der Behörden und auch von Teilen der Re-
gierungen in Bund und Ländern immer wieder reagiert
wird. Das beginnt mit der illegalen Sammlung von
Handydaten in Dresden, geht weiter mit der unerklärli-

chen Tatenlosigkeit der Verfassungsschützer bei den
NSU-Morden und endet beim Verhalten vieler Polizei-
einheiten gegenüber friedlichen Gegendemonstranten
bei Naziaufmärschen.

Ja, ich weiß, dass auch Rechtsextreme in einem
Rechtsstaat Versammlungsfreiheit genießen. Ich weiß
aber auch, dass die Polizei nicht unter allen Umständen
gezwungen ist, einer Nazidemo den Weg freizuprügeln.
Hier muss doch die Verhältnismäßigkeit gewahrt blei-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin weiterhin der Meinung, dass friedliche Sitz-
blockaden der Demoroute keine Straftat darstellen.
Darin wird mir sicherlich auch Herr Thierse zustimmen,
gegen den schon einmal ein Verfahren wegen Nötigung
eingeleitet wurde, weil er in Berlin friedlich sitzend den
Nazis den Weg versperrt hatte. Dieses Verfahren wurde
letztlich wegen geringer Schuld eingestellt. Anders als
bei meinen Parteikollegen Janine Wissler, Willi van
Ooyen, André Hahn und Bodo Ramelow wäre wahr-
scheinlich auch niemand auf die Idee gekommen, Herrn
Thierse deswegen die Immunität abzuerkennen.

Meine Immunität als Abgeordnete wurde am letzten
Samstag von in Münster eingesetzten Polizeikräften
massiv beschädigt. Trotz meiner Kenntlichmachung als
parlamentarische Beobachterin wurde ich von einer Poli-
zeibeamtin tätlich angegriffen und anschließend festge-
nommen, nachdem ich darum gebeten hatte, in einem
Konflikt deeskalierend wirken zu dürfen.

Aber mein Beispiel steht nur exemplarisch für die
vielen Menschen, die dem Aufruf, auch der Politik, fol-
gen und tatsächlich Zivilcourage zeigen


(Beifall bei der LINKEN)


und die zum Dank zunehmend in ihrer Bewegungsfrei-
heit und, wie auch in Münster, in einer Vielzahl ihrer
Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden. Das darf in
einem Rechtsstaat nicht passieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist doch paradox, dass heutzutage in Deutschland
den Nazis ihre grundgesetzlich geschützte Meinungsfrei-
heit gewährt wird und sie so mit ihrer menschenverach-
tenden Ideologie durch die Städte ziehen dürfen, wäh-
rend gleichzeitig der berechtigte und auch so notwendige
Protest der Couragierten auf abgeschiedene Kundge-
bungsplätze ausgelagert wird, wo ihn niemand sieht oder
hört. Es ist doch paradox, dass sich wegen der Nazis
Menschen mit Zivilcourage in ihrer eigenen Stadt nicht
mehr frei bewegen dürfen und dass die Wasserwerfer der
Polizei auf Demokratinnen und Demokraten statt auf
Nazis zielen. Ein Blick ins Internet zeigt: Die Nazis
lachen sich darüber kaputt. Es ist auch paradox, dass
Anwohnerinnen und Anwohner vorab von der Polizei
aufgefordert werden, keine Protestplakate und Trans-
parente aufzuhängen, weil die Nazis gefährlich sind.


(Zurufe von der LINKEN: Unglaublich! Unerhört!)






Ingrid Remmers


(A) (C)



(D)(B)


Die im Vorfeld in Münster getroffenen Absprachen
der Polizei mit den Menschen in den Wohnvierteln wur-
den so desaströs nicht umgesetzt oder gar ins Gegenteil
verkehrt, dass die Anwohnerinnen und Anwohner nun
einen offenen Brief an den Polizeipräsidenten und die
Öffentlichkeit gerichtet haben. Dazu ein kleiner Hinweis
an die Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Egal wie
groß möglicherweise Ihre Vorurteile gegenüber den
meist jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten sind,
zeigt das Ganze einmal mehr, dass dieses Problem längst
die Mitte der Gesellschaft erreicht hat und deshalb auch
Sie ansprechen sollte.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht erst seit dem letzten Samstag, der mich per-
sönlich sehr verstört hat, wünsche ich mir eine breite ge-
sellschaftliche und politische Debatte darüber, wie wir
künftig damit umgehen wollen, dass zugunsten der
Grundrechte von Nazis die Grundrechte von Demokra-
tinnen und Demokraten eingeschränkt werden. Ja, wir
müssen gemeinsam dahin kommen, das Grundgesetz zu
achten, aber für alle Menschen, allen voran die soge-
nannten Aufrechten. Dazu gehört unter anderem die
Kenntlichmachung der Polizeibeamtinnen und -beamten
und der Abzug der V-Leute aus der NPD. Dazu gehört
auch, dass die gesamte bisherige Vorgehensweise auf
den Prüfstand gestellt wird und neue Wege gesucht wer-
den.

Lassen Sie uns zusammen diese inzwischen verkehrte
Welt wieder zurechtrücken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716508700

Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat jetzt das Wort

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1716508800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Zuerst möchte ich denjenigen dan-
ken, die am vergangenen Samstag in Münster gegen den
Neonazi-Aufmarsch demonstriert haben. Ich danke auch
Ihnen, Frau Remmers, dass Sie die Situation so, wie sie
ist, angesprochen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich brauche dazu keine Ausführungen zu machen. Es ist
gut, wenn die Situation und die Sorgen, die wir mit dem
Neonazi-Aufmarsch und allem, was drumherum passiert
ist, haben, deutlich angesprochen werden. Schlimm ist
aus meiner Sicht, dass es noch immer 300 Neonazis gab,
die den Weg nach Münster gefunden haben und ihre
unsäglichen Parolen in die Öffentlichkeit haben tragen
können. Wir haben keine Toleranz gegenüber diesen
Neonazis, weder inhaltlich noch personell.


(Beifall im ganzen Hause)


Positiv ist aber, dass 5 000 Männer und Frauen ein
Zeichen gegen diese dummen Menschen gesetzt haben


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und dass auch Abgeordnete aus Bund und Land darunter
waren. Wichtig ist dabei, dass die weit überwiegende
Mehrheit der Demonstrantinnen und Demonstranten
friedlich ein Zeichen gesetzt hat, so wie es das Demon-
strationsrecht gebietet, ein Recht, um das uns andere
Gesellschaften beneiden. Sie haben damit auch gezeigt,
dass Rassismus, Zerstörung und Gewalt nicht toleriert
werden und dass eine zivile Gesellschaft anders mitei-
nander umgeht. Sie haben das beste Vorbild gegeben,
wie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit zu
nutzen ist. Die Versammlungen müssen friedlich abge-
halten werden.

Es verbieten sich aggressive Ausschreitungen, das
Vorgehen gegen Personen, Sachbeschädigungen ein-
schließlich Schottern, also das Beschädigen von Gleisen,
genauso wie Nötigungen; Sie haben das bereits ange-
sprochen. Ich glaube allerdings, dass auch das Anketten
an Schienen oder andere Gegenstände den Straftat-
bestand der Nötigung erfüllt. Wer meint, gewalttätig
demonstrieren zu müssen,


(Zuruf von der LINKEN: Worüber reden Sie eigentlich?)


genießt die Versammlungsfreiheit nicht und – passen Sie
bitte auf – spielt den braunen Rattenfängern in die
Hände.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Einmal zum Thema kommen!)


Daher sollten Sie gewalttätige Demonstrationen nicht
tolerieren.


(Zuruf von der LINKEN)


– Das ist kein Unsinn. Ich erkläre es Ihnen. Genau das
wollen Rechtsradikale, Rechtsextreme bzw. rechte Ter-
roristen doch.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sie bringen einiges durcheinander!)


Sie wollen, dass ihre Aktionen medial immer wieder in
den Fokus gerückt werden. Deswegen bitte ich Sie:
Unterstützen Sie gewaltfreie Demonstrationen!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das könnte die CDU auch mal machen!)


Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Lin-
ken, heute machen, ist falsch. Ich wünsche mir, dass wir
in Respekt vor der Sache etwas gemäßigter miteinander
debattieren. Sie wollen politischen Nutzen aus dem
Engagement gegen rechts ziehen.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Unverschämtheit! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir engagieren uns seit Jahrzehnten, im Gegensatz zu Ihnen!)


Ich weiß, dass gerade die Polizei in Münster allen
Abgeordneten die Teilnahme an der Demonstration ein-
geräumt hat und dass es Leitlinien der Einsatzleiter gab,





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


wonach Abgeordnete betreut und an alle Orte gefahren
werden sollten, zu denen sie möchten. Dazu musste man
sich natürlich bei der Polizei anmelden und seinen Abge-
ordnetenausweis mitbringen, so wie es der CDU-Kol-
lege Josef Rickfelder und zwei Kolleginnen von den
Grünen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag getan
haben. Diese Abgeordneten hatten sich angemeldet und
sind mit der Polizei zu den jeweiligen Orten gefahren.
Die Polizei ist hier kooperativ. Man muss dieses Ange-
bot aber auch wahrnehmen.

Frau Remmers, Sie haben das nicht gemacht. Sie
haben sich weder angemeldet noch ihren Abgeordneten-
ausweis dabei gehabt.


(Zuruf von der LINKEN: Wie kommen Sie denn dazu?)


– Das ist so. Frau Remmers hat das in einem Interview
selbst gesagt. Da müssen Sie Ihre Kollegin schon fragen.

Die Polizei ist des Weiteren bemüht, dann, wenn
jemand behauptet, Abgeordneter zu sein, das aufzuklä-
ren. Nur muss der Betreffende mitwirken. Der Polizei-
präsident Hubert Wimber hat aber auch gesagt, er hätte
sich eine optimalere Verhaltensweise seiner Polizei
gewünscht.


(Zuruf von der LINKEN: Er soll sich entschuldigen!)


Juristisch gesehen war der Einsatz jedenfalls nicht
rechtswidrig; er war einwandfrei. Frau Kollegin, Sie sind
im Rahmen einer polizeilichen Aktion in eine körper-
liche Auseinandersetzung geraten.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Sie waren doch nicht da!)


Sie konnten sich nicht ausweisen und sind dem Platzver-
weis der Polizisten nicht nachgekommen.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Sie waren doch nicht dabei!)


Daher war es richtig, dass eine Personenidentifizierung
stattgefunden hat; denn jeder kann sagen, er sei Abge-
ordneter, Staatsanwalt oder Polizist. Dann muss man
sich entsprechend ausweisen können. Das konnten Sie
aber nicht.


(Frank Schwabe [SPD]: Sind Sie der Staatsanwalt?)


Als Sie zur Dienststelle verbracht wurden, war es richtig,
dass Sie durchsucht wurden, und zwar zu Ihrem Schutz,
zum Schutz der Polizisten und zum Schutz weiterer
Beteiligter. Dies ist ein völlig rechtmäßiges Verhalten.

Ich frage mich, wie in solchen Situationen eine gelbe
Weste mit der Aufschrift „Parlamentarischer Beobach-
ter“ helfen soll. Eine solche Funktion gibt es gar nicht.
Zwischen wem wollten Sie eigentlich schlichten, Frau
Kollegin Remmers? Wollten Sie zwischen rechte und
linke Gewalttäter gehen? Wollten Sie dort dazwischen-
gehen, wo die Polizei ihren Kopf hinhalten muss?


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist dummes Zeug, was Sie sagen!)


Oder wollten Sie nicht eher zwischen linke Demonstran-
ten und die Polizei gehen, um Aktionismus zu zeigen
und Ihre Klientel zu bedienen? Ich halte das alles für
nicht sehr glücklich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, dass Sie fast nie auf Demos sind! Keine Ahnung!)


Ich würde mir wünschen – das ist mein letzter Satz –,
dass Zivilcourage sich dadurch zeigt, dass wir gemein-
sam für eine zivile Demonstration ohne Gewalt einste-
hen – da bin ich gerne mit Ihnen gemeinsam bei der
nächsten Demonstration dabei, Frau Remmers –, aber
dann, wenn Gewalttaten stattfinden, die staatlichen
Organe unterstützen.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716508900

Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass es in einer

Aktuellen Stunde keine Kurzinterventionen gibt, auch
wenn jemand persönlich angesprochen worden ist. –
Jetzt gebe ich Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1716509000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Herr Kollege Sensburg, Sie haben wirk-
lich gut angefangen und auch Applaus bekommen. Das,
was danach kam, wurde aber immer unterirdischer. Dazu
komme ich gleich auch noch.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich für mich persönlich kurz zusammenfassen
sollte, was das beste Rezept gegen Nazis und gegen
menschenverachtende Ideologie ist, würde ich zwei
Punkte nennen.

Erstens: niemals Räume lassen; die Räume für Nazis
und für rechtsextreme Ideologie dichtmachen.

Zweitens: Solidarität der gesamten Bevölkerung mit
den Betroffenen erklären.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


„Keine Räume lassen“ meine ich in vielfältiger Hin-
sicht. Wir dürfen keine Jugendklubs und keine Vereine
den Nazis überlassen. Wir dürfen Szeneläden nicht
akzeptieren, wie das gerade in Chemnitz passiert ist.
Dort ist ein neuer Thor-Steinar-Laden eröffnet worden –
zunächst unter dem Namen „Brevik“. Da fehlt nur das I
zu dem Namen des Massenmörders, der in Norwegen
zahllose sozialdemokratische Jugendliche niedergemet-
zelt hat; ein wirklich widerwärtiger Vorgang. Es war der
Widerstand der Chemnitzerinnen und Chemnitzer, der
zumindest in einem ersten Erfolg zur Umbenennung die-
ses Ladens geführt hat. Ich spreche hier bewusst von





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


einem ersten Schritt. Wir dürfen solche Szeneläden in
unserem Land generell nicht akzeptieren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


„Keine Räume“ bedeutet auch, Nazis nicht in Parla-
mente zu lassen, also Wahlkampf zu machen. Das heißt,
Räume über den Stammtischen nicht preiszugeben –
eine der schwersten Aufgaben, glaube ich. Es heißt aber
auch, dieser Ideologie und den Nazis auf der Straße
keine Räume zu lassen; weder den Kameradschaften, die
ganze Ortschaften drangsalieren – da ist sicherlich vor
allen Dingen die Polizei gefragt –, noch bei Demonstra-
tionen. Dafür ist neben staatlichen Institutionen und der
Polizei auch eine starke Zivilgesellschaft besonders
wichtig.

Zumindest verbal hat die Bundesregierung das auch
anerkannt. Ich habe die Merkel-Rede bei der Gedenkver-
anstaltung für die Opfer des NSU sehr wohl gehört. Ehr-
lich gesagt, bin ich während ihrer Rede aber ganz unru-
hig auf meinem Stuhl hin und her gerutscht; denn das,
was sie da erzählt hat, passt leider mit der Realität und
der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht
zusammen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Jahr bin ich wieder Erstunterzeichnerin des
Aufrufs des Bündnisses Dresden-Nazifrei gewesen, weil
ich das gemeinschaftliche friedliche Entgegentreten
gegenüber Nazis legitim finde. Und mehr noch: Ich
glaube sogar, dass Menschen, die das tun, unser aller
Solidarität brauchen.

Herr Sensburg, ich gebe die Aufforderung gerne an
Sie zurück. Unterstützen auch Sie als CDU friedliche
Demonstrationen gegen Rechtsextremismus.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU] – Zuruf von der FDP: Friedliche, ja!)


Da haben Sie noch Luft nach oben, und zwar jede
Menge.

Ich rate uns allen dazu, das Vorgehen gegen die Kol-
legin Remmers sachlich und ruhig zu klären. Es ist in
unser aller Interesse und im Interesse unserer Demokra-
tie, dass hier ein vernünftiger Umgang gefunden wird
und auch Entschuldigungen ausgesprochen werden.

Ich habe gegenüber der Bundesregierung aber auch
noch an anderen Stellen ein mulmiges Gefühl, wenn ich
mir anschaue, mit welchem Misstrauen sie der Zivil-
gesellschaft gegenübertritt.

Als erstes Stichwort nenne ich die Extremismusklau-
sel der Ministerin Schröder. Sie ist absurd, sie ist
schändlich, und sie behindert die Zivilgesellschaft da,
wo diese notwendig ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu nennen ist aber auch ihr Kompetenzzentrum gegen
Rechtsextremismus. Das ist aus meiner Sicht eine Ver-
staatlichung von Aufgaben, die die Zivilgesellschaft in
der Vergangenheit schon ganz gut hinbekommen hat


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Verstaatlichung? So ein Quatsch!)


und auch in Zukunft sicherlich sehr gut hinbekommen
würde, wenn man sie denn ließe. Stattdessen steht jetzt
das Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus im
Raum.

Über den Sachstand informiert man sich aus meiner
Sicht am besten in der letzten Ausgabe der heute-show.
Bisher ist da nämlich überhaupt nichts geklärt. Das dür-
fen wir uns nicht leisten, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss ganz generell sagen: Ihre Präventionsarbeit
gegen Rechtsextremismus kommt im Moment ohne viel
Sachverstand aus.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Wie Ihre Rede!)


Ich lese in Ihren Texten immer häufiger davon, dass Sie
pädagogisch-präventive Arbeit mit rechtsextremen Ju-
gendlichen vorantreiben wollen. Das Ganze kulminiert
aus meiner Sicht in der absurden Förderung des Projek-
tes „Dortmund den Dortmundern“, in dem normale Ju-
gendliche mit Autonomen Nationalisten zusammenar-
beiten sollen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, ich stand mit
20 Jahren das erste Mal vor einer Schulklasse und habe
antirassistische Bildungsarbeit gemacht. Ich kann Ihnen
aus meiner eigenen Erfahrung sagen: Mit einem rechts-
extremen Jugendlichen in einer Schulklasse kommt man
klar; da kann man etwas bewirken. Aber wenn Sie glau-
ben, man könne mit einer ganzen Gruppe von rechts-
extrem orientierten Jugendlichen arbeiten, dann muss
ich sagen: Sie haben von politischer Bildung wirklich
keine Ahnung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist absurd, das ist Geldverschwendung, und das ist
naiv. Wenn Naivität und Rechtsextremismus zusammen-
kommen, dann wird es gefährlich.

Ich kann Ihnen nur raten, sich auf den Hosenboden zu
setzen, sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusam-
menzusetzen, zuzuhören, nachzudenken


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: „Nachdenken“ ist das richtige Stichwort!)


und die Zivilgesellschaft einzubinden, statt sie verächt-
lich zu machen. Derzeit jedenfalls muss ich sagen: Diese
Bundesregierung ist im Bereich Prävention gegen
Rechtsextremismus extrem versetzungsgefährdet.





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716509100

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1716509200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Als ich den Titel der heutigen Aktuellen Stunde las,
habe ich mich gefreut. Es geht darum, dass die Linke das
Thema auf die Tagesordnung bringt, wie man Rechts-
extremismus in Deutschland bekämpft. Das tut man am
besten, indem man mit Zivilcourage die Zivilgesell-
schaft Gesicht zeigen lässt, indem man demonstriert, in-
dem man immer wieder dagegen eintritt, wenn Intole-
ranz und ein feindliches, unchristliches Menschenbild
die Diskussion beherrschen.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Richtig!)


Gegen Rechtsextremismus kämpft man nicht allein
mit repressiven Mitteln. Natürlich müssen Straftäter ver-
folgt werden, natürlich müssen Menschen, die Verfas-
sungsfeinde sind, beobachtet werden, und natürlich müs-
sen wir dafür sorgen, dass Prävention auch im Bereich
Strafrecht Platz greift. Aber wir werden den Kampf ge-
gen rechts nicht gewinnen, wenn wir nicht alle die Bin-
dungskräfte unserer Parteien, der FDP, der CDU, der
CSU, der SPD, der Grünen und auch der Linken, nutzen,
um den Kampf gegen die Überzeugungen der Rechts-
extremen zu gewinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass ein Ansatz, der allein auf Verbote setzt,
etwa darauf, die NPD oder bestimmte Vereine zu verbie-
ten – so sinnvoll das im Einzelfall sein mag –, zu eindi-
mensional ist. Er wird deswegen nicht tragen. Das war
der erste Punkt.

Mein zweiter Punkt. Ich war allerdings betrübt, dass
wir anlässlich eines Einzelfalls ein solch wichtiges
Thema diskutieren. Es handelt sich um einen Einzelfall,
den keiner von uns abschließend beurteilen kann. Herr
Sensburg hat dazu viele richtige Worte gefunden. Ich
glaube, dieses Thema ist zu ernst, als dass wir eine ein-
zelne Demonstration und einen einzelnen Vorfall für
eine Aktuelle Stunde missbrauchen und ins Zentrum der
Debatte rücken sollten.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ist leider kein Einzelfall!)


Wir müssen uns darüber einig werden, dass wir alle ge-
meinsam gegen rechts vorgehen, statt solche Einzelfälle
zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zur Aufklärung solcher Fälle gibt es Behörden in diesem
Staat, etwa Strafverfolgungsbehörden. Man kann
Rechtsmittel einlegen, wenn man unrecht behandelt
worden sein sollte, was sich mir bei Ihnen, Frau
Remmers, noch nicht erschließt. Aber es ist nicht die
Aufgabe des Parlaments, eine Art Ersatzstrafverfol-
gungsbehörde oder Demonstrationsfreiheitssicherungs-
behörde zu werden; vielmehr müssen wir Parlamentarier
uns über das politische Vorgehen gegen Rechtsextremis-
mus verständigen.

Ein dritter Punkt. Ich glaube, wir müssen unseren Ex-
tremismusbegriff schärfen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Lazar, ich hoffe, Sie klatschen gleich immer
noch. – Wir haben einerseits, wie im Antisemitismusbe-
richt der Bundesregierung sehr überzeugend dargelegt,
linksextremistische Tendenzen in unserer Gesellschaft,
die diesen Staat bedrohen, wir haben religiös motivierten
Extremismus in Deutschland, und – das ist das gravie-
rendste Problem – wir haben Rechtsextremismus in
Deutschland. Immer dann, wenn wir in diese Links-
rechts-Debatten verfallen,


(Zuruf von der LINKEN: Was?)


wenn wir nicht sagen: „Jede Form des Extremismus
muss verfolgt und bekämpft werden“, dann tun wir der
Sache keinen Gefallen.


(Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


Wir müssen stattdessen dafür sorgen, dass in Deutsch-
land jede Form von Extremismus bekämpft wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich persönlich verstehe auch nicht, warum Sie sich
damit so schwertun, weil ich Sie alle als gute Demokra-
ten kennen und schätzen gelernt habe.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Alle?)


– Fast alle, Herr Kauder. – Deswegen müsste es Ihnen
doch ein Leichtes sein, sich von solchen Tendenzen ab-
zugrenzen.

Ein vierter Punkt. Natürlich können wir den Extre-
mismus in Deutschland nicht überall mit den gleichen
Mitteln bekämpfen. Es ist eben nicht sinnvoll, die glei-
chen präventiven Maßnahmen gegen rechts wie gegen
links einzusetzen,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


es ist nicht sinnvoll, religiös motivierten Extremismus
genau so anzugehen wie den Rechtsextremismus.

Wie erinnern uns vielleicht an die 90er-Jahre, als in
Deutschland viele Menschen entsetzt über das waren,
was beispielsweise in Rostock geschehen ist. Wir erin-
nern uns auch an die Präventionsprogramme, die damals
aufgelegt wurden. Aus heutiger Sicht wirken sie fast
hilflos. Warum? Sie waren gut gemeint, aber es gab





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


keine klare Vorstellung davon, wo der politische Extre-
mismus in Deutschland sitzt, welche Strukturen er hat
und wie man ihn angehen muss. Insofern sind wir heute
deutlich weiter. Unsere Erkenntnisse sollten wir auf die
Bekämpfung auch des Linksextremismus und des reli-
giösen Extremismus übertragen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Schlussendlich freue ich mich über den Ansatz der
Linken: Zivilcourage, Aufstehen, Gesicht zeigen, im
persönlichen Umfeld für Toleranz kämpfen, auch für To-
leranz unter uns allen als Demokraten – das ist, glaube
ich, ein besserer Ansatz als ein rein repressives System.
Nur wenn wir die Mitte der Gesellschaft stärken, werden
wir diesen Kampf gewinnen. Dazu fordere ich alle auf.
Ich freue mich, wenn wir das gemeinsam tun können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716509300

Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716509400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So

wie der Anfang der Rede des Kollegen Sensburg gut
war, war der Schluss der Rede vom Kollegen Ruppert
gut.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Es werden Noten vergeben! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Oberlehrerin!)


Ich denke, wir sind uns wirklich im gesamten Hause ei-
nig, dass Zivilcourage wichtig ist. Ich erinnere daran,
dass in Münster das gesamte demokratische Spektrum
zur Demonstration aufgerufen hat, also auch CDU und
FDP. Das ist sehr gut und ist bei dem Thema auch sehr
wichtig. Wir sollten uns dabei so wenig wie möglich
auseinanderdividieren lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Allerdings ist es so, dass sich bei Demonstrationen
die Abgeordneten nicht bei der Polizei anmelden müs-
sen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen unseren Abgeordnetenausweis dabeihaben,
damit wir ihn der Polizei vorzeigen können, aber wir
müssen uns nicht anmelden. Das ist in diesem Zusam-
menhang wichtig.


(Iris Gleicke [SPD]: Das wäre ja noch schöner! Da würde ich mich herzlich bedanken, wenn ich mich irgendwo anmelden müsste!)


Die Polizei muss natürlich eine Demonstration schüt-
zen, egal welche; denn das Versammlungsrecht ist ein
Grundrecht und ist deshalb sehr hoch angesiedelt. Aller-
dings ist es nicht hinnehmbar, wenn die Polizei unver-
hältnismäßig reagiert. In diesem Sinne müssen die Vor-

kehrungen, die in Münster getroffen worden sind,
untersucht und ausgewertet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Demonstrationen und auch Blockaden können wich-
tig und notwendig sein.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht das Gleiche!)


Ich möchte einige Beispiele der letzten Wochen aus
Sachsen erzählen. Sachsen ist meistens berühmt für
seine negativen Beispiele, aber in den letzten Wochen
hatten wir auch Positives zu berichten.

Am letzten Montag gab es eine sehr große Antinazi-
demo in Chemnitz, wo die Rechtsextremen wieder ein-
mal ihren sogenannten Trauermarsch durchziehen woll-
ten. Dort ist es der Polizei gelungen, deeskalierend zu
wirken und dafür zu sorgen, dass Demonstrationen in
Hör- und Sichtweite möglich waren. Das ist gut so, und
das ist wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Genauso gut hat es in diesem Jahr in Dresden ge-
klappt. Am 13. Februar, als die Nazis in Dresden den
Tag der Bombardierung ausnutzen wollten, gab es fried-
liche Blockaden, die wichtig waren, weil die Strecken
freigehalten wurden. Es ist friedlich geblieben. Auch
hier hat die Polizei deeskalierend eingewirkt. Die Nazis
mussten ihre Route verkürzen. Sie sind einmal kurz um
den Block gelaufen und haben sich darüber wahrschein-
lich nicht sehr gefreut.

Am 18. Februar haben wir dann noch einmal eine gut
besuchte, bunte Demo in Dresden gehabt. Seit vielen
Jahren gibt es eine gute Arbeit vor Ort in Dresden. Es ist
das dritte Jahr in Folge, dass die Demonstration so er-
folgreich war. Ich möchte von hier aus allen Demons-
trantinnen und Demonstranten von nah und fern danken,
dass sie uns bundesweit unterstützt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern ist es,
bei Demonstrationen unterstützend, beobachtend und
deeskalierend tätig zu sein.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Was? Wo steht das?)


Allerdings ist es auch Aufgabe der Politik, die Rahmen-
bedingungen für zivilgesellschaftliche Initiativen zu
schaffen, das heißt für uns, die passenden präventiven
Programme für die Bürgerinnen und Bürger aufzulegen,
die sich in ihrer Region gegen alte und neue Nazis enga-
gieren.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wir haben Gewaltenteilung!)


Man muss leider konstatieren, dass die Regierung hier in
den letzten Jahren nichts dazugelernt hat. Die Ministerin
legt lieber Programme gegen sogenannten Linksextre-





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)


mismus auf. In der letzten Woche war in den Medien zu
lesen, dass das Deutsche Jugendinstitut, das eine Evalua-
tion dieses Programms durchgeführt hat, diesem Pro-
gramm ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hat. Es
wurde kritisiert, dass der Begriff „Linksextremismus“
wissenschaftlich völlig unzureichend ist. Man kann nicht
die richtigen Programme auflegen, weil man gar nicht
weiß, was da der Ansatz ist. Deshalb rufe ich die Minis-
terin auf, die 2,5 Millionen Euro endlich den Program-
men gegen Rechtsextremismus zur Verfügung zu stellen;
denn dort ist das Geld immer noch sehr nötig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Kollegin Kolbe hat die Extremismusklausel ange-
sprochen. Nach den aktuellen Vorfällen kann ich über-
haupt nicht nachvollziehen, dass Sie immer noch daran
festhalten und ausgerechnet von denen, die sich tagtäg-
lich, auch in schwierigen Regionen, für unsere Demo-
kratie engagieren, eine Unterschrift abverlangen.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wo ist das Problem?)


Das ist wirklich kontraproduktiv. Von daher – auch wenn
Sie es nicht mehr hören können; wir machen so lange
weiter, bis wir es geschafft haben –: Die Extremismus-
klausel muss wirklich endlich weg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wo ist das Problem?)


Positiv zu erwähnen ist, dass wir im November nach
den Erkenntnissen zum NSU wirklich einmal einen ge-
meinsamen Antrag hinbekommen haben. Damit ist jetzt
im gesamten Spektrum hier im Bundestag klar: Es ist
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns stel-
len müssen.

Allerdings: Was kam danach? Aktionismus! Ministe-
rin Schröder stellt das nun doch nicht gekürzte Budget
der Bundesprogramme nicht den Initiativen zur Verfü-
gung, sondern schafft ein Informations- und Kompetenz-
zentrum. Ich kann nur noch einmal wiederholen: Es gibt
genügend Know-how und Vernetzung. Was fehlt, ist die
nachhaltige Förderung. Das ist die Hauptaufgabe. Es
geht nicht darum, noch zusätzliche Strukturen zu schaf-
fen, die den Leuten vor Ort überhaupt nicht zugutekom-
men.

Ganz zum Schluss möchte ich sagen, dass wir die
richtigen Lehren aus all den Ereignissen ziehen müssen,
egal ob wir auf Demonstrationen, auf der Straße oder
hier im Plenum sind. Wir müssen mehr in unsere Demo-
kratie investieren. Wir müssen die engagierten Initiati-
ven und Projekte unterstützen und dürfen sie nicht, wie
es die Koalition immer noch tut, behindern.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716509500

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1716509600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!

Sehr geehrte Kollegen! Es ist schauderlich und erschre-
ckend, dass in unserem Land fast kein Wochenende
mehr vergeht, an dem sich nicht in irgendeiner Stadt, in
irgendeiner Gemeinde rechtsradikale Fratzen zeigen und
ihre widerwärtigen und menschenverachtenden Parolen
kundtun. Ich möchte gerade deshalb wirklich an dieser
Stelle all denjenigen ganz herzlich danken, die jedes Wo-
chenende Gesicht zeigen und deutlich machen, dass
Rechtsradikale, dass Neonazis in Deutschland nichts zu
suchen haben, dass sie nicht willkommen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hunderte von Menschen zeigen jedes Wochenende in
Deutschland Gesicht. Sie zeigen damit Zivilcourage.

Auch in meinem Wahlkreis, der sehr ländlich struktu-
riert ist, gab es in der jüngsten Vergangenheit zwei
schreckliche Vorfälle. Zweimal fanden Aufmärsche von
Neonazis statt; einmal ist ein Gasthof okkupiert worden.
Ich bin froh, dass es beide Male möglich war, in einem
breiten gesellschaftlichen Konsens alle politisch und ge-
sellschaftlich relevanten Gruppierungen dazu zu brin-
gen, Gesicht zu zeigen. Die Gegendemonstrationen ver-
liefen durchweg friedlich, ohne Waffen,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Waffen? – Gegenruf des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Grundgesetz!)


und so soll es auch sein. Art. 8 Grundgesetz schützt die
Versammlungsfreiheit in Deutschland. Das ist mit Si-
cherheit eines der wichtigsten und vornehmsten Grund-
rechte. Er schützt das Recht aller Deutschen, sich ohne
Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.

Leider sind die Demonstrationen am vergangenen
Samstag in Münster-Rumphorst diesem Kriterium nicht
gerecht geworden. Es gab neun Gegendemonstrationen
– an einer davon haben Sie, Frau Kollegen Remmers,
teilgenommen –, die nicht friedlich waren. Ich möchte
nur einmal aus der Berichterstattung der örtlichen Presse
zitieren: Es gab mehrere Antifa-Demonstranten, die
extra zur Gegendemonstration anreisten, Waffen und
Feuerwerkskörper bei sich führten und diese nicht der
Polizei übergeben wollten, als sie dazu aufgefordert
wurden. Sie wurden daraufhin festgenommen, und ihr
Zug musste vollständig geräumt werden. Friedlicher
Protest sieht anders aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mehrmals haben bis zu 300 Menschen, teilweise ver-
mummte Gegendemonstranten, versucht, Absperrungen





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


zu durchbrechen, was ihnen an mindestens zwei Stellen
auch gelang. Friedlicher Protest sieht anders aus.

Polizisten sind mit Steinen und Wasserflaschen durch
Gegendemonstranten mehrmals beworfen worden.
Friedlicher Protest sieht auch hier anders aus.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ins-
gesamt sind am vergangenen Samstag in Münster sechs
Menschen verletzt worden, darunter vier Polizeibeamte.
Es sind insgesamt 24 Personen festgenommen worden,
überwiegend wegen des Vorwurfs, Körperverletzungen
begangen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
geleistet zu haben.


(Zuruf von der LINKEN: Ja, durch Friendly Fire! – Gegenruf des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist menschenverachtend, was Sie da machen von der Linken!)


32 Personen wurden in Gewahrsam genommen, 62 Per-
sonen wurden Platzverweise erteilt.

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, wie die Vorge-
schichte dieser Gegendemonstration aussah. So hatten
sich am 1. März die Vertreter des Aktionsbündnisses
„Keinen Meter den Nazis“ zu einer Strategiebespre-
chung versammelt, bei der die Gegendemonstrationen
vorbereitet werden sollten. Vor 150 Teilnehmern wurden
Hilfestellungen und Anleitungen gegeben, wie man am
effektivsten Polizeiabsperrungen umgeht. Zusätzlich
wurden die Teilnehmer darüber „informiert“, dass bei
Massendelikten dieser Art die Strafverfolgung an ihre
Grenzen stößt oder teilweise gänzlich unmöglich ge-
macht wird. Dann verwundert es nicht, wenn sich zwei
Tage später mehrere Hundert Menschen bewusst gegen
die Anordnungen der Einsatzkräfte stellen und somit
gegen das Versammlungsrecht verstoßen.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ja, wie die Kollegin auch!)


Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urtei-
len deutlich gemacht, dass Art. 8 des Grundgesetzes
politisch neutral ist. Er schützt sowohl Meinungen und
Äußerungen von Rechten als auch von Linken. Als gute
Demokraten müssen wir aushalten,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


dass wir uns mit Äußerungen und Meinungen konfron-
tiert sehen, die uns nicht lieb sind. Es ist aber nicht
hinnehmbar, dass unter dem Mantel der Versammlungs-
freiheit Straftaten begangen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dies war in eklatanter Form am vergangenen Samstag in
Münster der Fall.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sie waren ja gar nicht dabei!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion Die Linke, ich halte es für einen Treppen-
witz, dass ausgerechnet Sie sich zum Gralshüter der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung und unserer
sozialen Marktwirtschaft machen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie trifft man bei solchen Demos ja nicht!)


Ausgerechnet Sie, die offenkundig verfassungswidrige
Tendenzen aufweisen, über eine kommunistische Platt-
form verfügen, die 1 500 Mitglieder hat,


(Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


die Ergebenheitsadressen an einen Fidel Castro zu des-
sen 85. Geburtstag schreiben, die immer noch Probleme
mit dem Existenzrecht Israels haben, gerieren sich hier
als großer Gralshüter der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Kollege Mayer, das ist wirklich peinlich!)


Das ist wirklich schauderlich. Das ist in jeder Hinsicht
bemerkenswert.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist schauderlich, was Sie hier reden!)


Ich kann hier nur sagen: Versammlungsrecht ist wich-
tig. Art. 8 ist ein wichtiges Grundrecht. Es gilt, dies zu
achten und die Regeln einzuhalten, wenn man Gegende-
monstrationen vornimmt.

In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und
Herren: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Peinlich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716509700

Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1716509800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu

einem Satz, den Sie, Herr Kollege, gerade geäußert
haben, möchte ich vor allem Stellung beziehen. Sie
haben gesagt: Wir müssen es aushalten, wenn es linke
Demonstrationen gibt und wenn es rechte Demonstratio-
nen gibt. – Nein, wir müssen rechte Demonstrationen
nicht aushalten.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies passt auch in Ihrer Rede nicht zusammen: In Ihrem
ersten Satz haben Sie erst denjenigen gedankt, die auf
die Straße gehen, um gegen Rechtsextremismus und
gegen die Demonstration zu demonstrieren, und dann
anschließend gesagt, wir müssten sie aushalten. Das
passt nicht zusammen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Da haben Sie etwas verwechselt!)






Sönke Rix


(A) (C)



(D)(B)


Nein, wir brauchen allen zivilgesellschaftlichen Mut
dazu, dagegen anzugehen, allen friedlichen Mut dazu,
dagegen anzugehen. Den sollten wir auch nutzen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich danken wir allen gemeinsam, die auf die
Straße gehen, wenn irgendwo Nazis aufmarschieren
wollen, und gegen Rechtsextremismus demonstrieren.
Genau dann ist es richtig und wichtig, sich zu zeigen,
statt sich zu verstecken. Wir alle kennen die Diskussio-
nen in einigen Orten und Kreisen, wo es dann heißt: Ach
komm, wenn die da sind, lasst die doch einfach mar-
schieren. Schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit; das
haben sie doch alles gar nicht verdient. – Nein, wir müs-
sen aufmerksam sein; denn wenn wir sie nicht wahrneh-
men und nicht beobachten, dann begehen sie noch viel
mehr schlimme Taten. Deshalb brauchen wir sichtbare
Gegendemonstrationen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Der Anstand der Anständigen und der Zuständigen
schließt uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich
auch mit ein.


(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)


Wir sind Vorbilder für die Zivilgesellschaft, wir sind
hoffentlich auch alle Teil dieser Zivilgesellschaft. Des-
halb sollten wir nicht nur dann zu Demonstrationen ge-
hen, wenn es vielleicht gerade en vogue ist; vielmehr
sollten wir auch dann demonstrieren und gegen Nazis
auf die Straße gehen, wenn es gerade nicht en vogue
oder vielleicht schwierig ist, auf der Straße zu stehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hier
fehlt es manchmal am ganz breiten Bündnis. Die Ge-
werkschaften und die Kirchen sind immer mit dabei;
meistens auch die Sozialdemokraten, die Linken und die
Grünen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Und die Autonomen?)


Aber das Schmieden großer Bündnisse scheitert häufig
daran, dass vonseiten der CDU, CSU oder FDP niemand
teilnehmen will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wenn Sie die Autonomen mit drauf haben!)


Jeder Protest gegen Nazis muss unterstützt werden.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht jeder! Nein, nein, nein!)


– Jeder friedliche Protest muss unterstützt werden.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ja!)


Wenn es dabei nach Ihrer Ansicht Menschen gibt, die
sich mit einreihen und die nicht friedlich sind, dann müs-

sen Sie zeigen, dass Sie als friedliche Gruppe größer
sind. Also reihen Sie sich mit ein und zeigen Sie damit,
dass Sie die Unfriedlichen nicht tolerieren!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sortieren Sie mal Ihre Leute da aus!)


Bei der Frage, wie wir mit den Nazis umgehen, geht
es um unsere eigene Grundeinstellung zu diesem Thema
und darum, was wir ihnen zur Verfügung stellen. Ich
habe den Reden genau zugehört und finde es in Ord-
nung, dass gesagt wird, dass wir uns allgemein mit dem
Thema Extremismus beschäftigen müssen. Egal auf
welcher politischen Seite oder in welche Richtung er
passiert, wir haben ihn nicht zu dulden. In Debatten aber,
in denen es um Zivilcourage gegen den Rechtsextremis-
mus geht, müssen wir uns mit dem Thema Rechtsextre-
mismus beschäftigen. Denn im Kampf gegen Nazis und
gegen Rechtsextremismus bedarf es einer anderen Zivil-
courage und einer anderen Herangehensweise als gegen
andere politische Extremisten.

Diese Gleichmacherei von Links- und Rechtsextre-
mismus führt leider auch dazu, dass wir die eine Art von
Extremismus herabspielen. Nachdem im Zusammen-
hang mit der Entdeckung der Morde durch die Nazis
deutlich geworden war, welche dramatischen Fakten
sich dahinter verbergen, darf es nicht sein, dass gleich-
zeitig die Familienministerin sagt: Aber es gibt auch
schlimmen Extremismus auf der linken Seite. – Das ist
eine Verhöhnung der Opfer und vor allen Dingen der
Angehörigen der Opfer.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kurz nachdem aufgedeckt wurde, dass die Morde von
Nazis begangen wurden, haben wir hier gemeinsam
beschlossen, dass wir Hindernisse und Hemmnisse ab-
bauen wollen, um zivilgesellschaftliche Aktivitäten
gegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Bis jetzt ist
nichts passiert. Kein einziges Hemmnis ist abgebaut
worden. Ein Zeichen können Sie setzen – Herr Kues, be-
stellen Sie Frau Schröder einen schönen Gruß –: Sie soll
endlich die Extremismusklausel wieder abschaffen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme gerade aus dem Untersuchungsausschuss,
der die Nazimorde aufarbeiten soll. Wir haben uns als
Beweismaterial die Sequenzen aus diesem schrecklichen
Film mit dem rosaroten Panther angeschaut, der auch in
den Medien eine Rolle spielte. Ich will noch einen
Appell loswerden: Wir dürfen nicht zulassen, dass sich
Nazis unsere Symbole, unsere Plätze und unseren Raum
aneignen. Hier müssen wir fortwährend Widerstand leis-
ten und sagen: Nein, all das gehört uns; die Räume,
Symbole und Plätze gehören uns. Wir sind die Demokra-
ten, und wir sind in der Mehrheit.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder Sönke Rix [CDU/CSU]: Am 1. Mai gehört die Stadt aber auch nicht den Vermummten, sondern uns!)





(A) (C)


(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716509900

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege

Patrick Kurth.


(Beifall bei der FDP)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1716510000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ein entschiedenes Vorgehen gegen Rechtsextremis-
mus ist Konsens in diesem Hause. Alle demokratischen
Kräfte gehen gemeinsam gegen Rechtsextremismus und
rechte Gewalt vor. Rechtsextremismus schädigt unsere
Gesellschaft, schädigt unsere Demokratie. Insbesondere
Deutschland hat eine historische Verantwortung und
Sensibilität; wir haben eine wehrhafte Demokratie.

Aber es gibt Schwierigkeiten im Umgang mit Rechts-
extremismus. Ich will darauf eingehen. In den letzten
Jahren, vor allen Dingen in den letzten Monaten – be-
dingt durch die schrecklichen Taten, die offenkundig
wurden und dazu führten, dass über dieses Thema gere-
det wird –, kamen zu all den berechtigten Diskussionen
Phänomene hinzu, gegen die wir uns entschieden ge-
wehrt haben: Es wurde davon geredet, dass es rechts-
extreme Hochburgen gäbe, dass ganze Regionen in
Deutschland rechtsextrem wären, dass es No-go-Areas
gäbe. Da wurde die Situation nicht nur nicht richtig
dargestellt, sondern die Darstellung schlug sogar ins Ge-
genteil um: Plötzlich spielten Städte in Thüringen wie
Jena eine Rolle; ein Parlamentarischer Geschäftsführer
forderte hier in einer Debatte, dass die Bundeswehr dort
einmarschieren sollte oder Ähnliches. Ich muss sagen:
Hier wird die Realität falsch wahrgenommen.

Am 20. April 2000, also vor zwölf Jahren, an einem
bewussten Datum, gab es in Erfurt, zum ersten Mal in
meinem Heimatland, einen Anschlag auf eine Synagoge.
Einen Tag später kamen 50 Leute zu Mahnwachen. Ei-
nen weiteren Tag später kamen 6 000 Leute zu Demon-
strationen und Mahnwachen. Wenn wir diese schreck-
lichen Taten in der Öffentlichkeit benennen, dann
benennen wir bitte auch im gleichen Atemzuge, dass die
Deutschen, in dem Fall die Thüringer, aufstehen und ge-
gen Rechtsextremismus demonstrieren. Die Mehrheit
haben die Rechten in keiner einzigen Region in Deutsch-
land, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das zweite Problem in der Debatte, die wir hier füh-
ren, ist der Umgang mit dem Begriff „Rechtsextremis-
mus“. Wir Politiker tun immer so, als wäre die Defini-
tion von Rechtsextremismus klar, als gäbe es eine
eindeutige Begrifflichkeit. Wir dürfen und können es
nicht kritisieren, dass das in Überschriften und Aufrufen
vereinfacht wird. Aber hier in diesem Raum, in dem wir
Gesetze und Maßnahmen beschließen, sollten wir nicht
so über Rechtsextremismus reden, als ob jedem klar
wäre, worum es geht. Das wird der tatsächlichen wissen-

schaftlichen, rechtlichen und politischen Debatte nicht
gerecht.

Sie von der Linken reden in diesem Hause sehr oft
von Faschismus, Antifaschismus usw. Diese Begriffe
sind aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung völ-
lig raus.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was?)


Die Begriffe „Faschismus“ und „Antifaschismus“ kön-
nen nicht das Phänomen des modernen Rechtsextremis-
mus erklären. Sie befleißigen sich, sie als politische
Kampfbegriffe zu verwenden.

Das gilt auch für Rot und Grün, die ein Mischmasch
der Begriffe „Extremismus“ und „Faschismus“ verwen-
den und die Ansätze entsprechend vermengen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch! – Zuruf der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Wir, die bürgerliche Mitte in diesem Hause, gehen
von einer Positivierung aus. Wir fragen: „Wofür stehen
wir ein?“, und nicht: „Wogegen definieren wir uns?“ Wir
stehen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Wir wehren uns gegen diejenigen, die gegen die freiheit-
lich-demokratische Grundordnung vorgehen, egal ob sie
links, rechts, oben, unten, hinten oder vorne sind. Wir
bekämpfen diejenigen, die gegen die freiheitlich-demo-
kratische Grundordnung vorgehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir lehnen es deshalb auch
ab, Extremisten mithilfe von Extremisten zu bekämpfen;
das schließt sich aus.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird ja immer peinlicher!)


Wir lehnen es ab, Extremisten mit den Mitteln der Extre-
misten zu bekämpfen. Das geht nicht.

Alle hier sind gegen Rechtsextremismus. Viele haben
ein Problem damit, als Antifaschisten bezeichnet zu wer-
den, weil sie dann mit Autonomen, Anarchisten und
Fundamentalisten in einer Reihe stehen,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


die hier nicht hingehören und die unsere Freiheit und
Demokratie genauso bekämpfen. Deswegen ist der Be-
griff „antifaschistisch“ völlig falsch und daneben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, auch das muss gesagt wer-
den: Zu den Mitteln der Extremisten gehört zum Teil
auch, Pflastersteine auf Polizisten zu werfen, Versamm-
lungen zu sprengen, Blockaden zu errichten, Polizeisper-
ren mit Gewalt zu durchbrechen. Das hat mit demokrati-
schen Umgangsformen nichts zu tun. Es hat auch nichts
mit bürgerlichem Engagement gegen Nazis zu tun. Wir
lehnen das entschieden ab.





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Am Ende möchte ich sagen: Das Leben ist immer
konkret. Wir können hier im Bundestag viele Reden
halten; aber die Probleme müssen vor Ort angepackt
werden.


(Zuruf von der LINKEN: Genau das machen wir!)


– Das machen Sie von der Linken in ganz hervorragen-
der Weise: Es gibt in Sachsen-Anhalt einen Ort, in dem
ein hoher Funktionär der NPD in der örtlichen Freiwilli-
gen Feuerwehr tätig ist.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann gehen Sie doch zu Ihrem FDP-Kollegen! Der wirkt da auch mit!)


Die Bürgermeisterin dieses Ortes ist von den Linken.
Angesprochen von der FDP, ob man möglicherweise mit
der Aufnahme des Passus „Unsere Mitglieder bekennen
sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ in
die Satzung, wie bei vielen Vereinen in Sachsen-Anhalt
oder Thüringen geschehen, dafür sorgen könne, dass der
NPD-Funktionär nicht mehr in der Jugendfeuerwehr
tätig ist, sagte diese linke Bürgermeisterin: Nein, den
kenne ich persönlich. Ich kann nichts Schlechtes über
ihn sagen.


(Zuruf von der LINKEN)


Meine Damen und Herren, das Leben entscheidet sich
vor Ort. Vor Ort müssen Sie aktiv werden. Daher kann
ich Sie nur auffordern: Halten Sie hier keine Schaufens-
terreden. Seien Sie vor Ort aktiv.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Gehen Sie mit der Demokratie und mit den Antidemo-
kraten richtig um. Setzen Sie sich auch damit auseinan-
der, wie Antifaschisten in diesem Land die Demokratie
bedrohen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP – Zurufe von der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Das ist ja peinlich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716510100

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716510200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die

rechte Seite des Hauses hier heute wieder bietet, zeigt,
wie Sie Rechtsextremismus weiterhin verharmlosen. Sie
versuchen, Opfer zu Tätern umzudefinieren, indem Sie
sagen, dass sie entweder etwas mit Gewalttätern zu tun
hätten oder dass sie Extremisten seien. Darin sind Sie
schon recht geübt. Das haben wir bei den NSU-Morden
gesehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unerträglich! Das ist eine Schweinerei jetzt!)


Es ist wirklich ein Skandal, wie Sie hier auftreten.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist üblich in diesem Haus, dass wir hier insbeson-
dere an Gedenktagen Reden gegen den Rechtsextremis-
mus hören. Am 27. Januar hat der Bundestagspräsident
sehr richtige Worte gefunden, als er sagte: Es gibt viele
Menschen – beispielsweise Menschen, die in Vereinen
organisiert sind –, die den Rechtsextremen, die durch
ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegen-
treten. Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen,
nicht wegsehen und Diskriminierung nicht unwiderspro-
chen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel
geben und Mut machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch ich, meine Damen und Herren, habe es am letz-
ten Wochenende in Münster sehr ermutigend gefunden,
dass Tausende von Münsteraner Bürgerinnen und Bür-
gern gegen die Nazis auf die Straße gegangen sind und
dass vor allem die Anwohner den Nazis, die durch ihre
Straßen gingen, mit Transparenten deutlich gemacht ha-
ben: Nazis raus! Ihr habt in unserem Land nichts zu su-
chen!


(Beifall bei der LINKEN)


Doch der staatliche Umgang mit Zivilcourage gegen
rechts ist leider ein ganz anderer als der, der oft in Fest-
tagsreden beschworen wird. Die Polizeiwillkür, die un-
sere Kollegin Ingrid Remmers in Münster am eigenen
Leib erfahren musste, ist leider nur die Spitze des Eis-
berges.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Warum war das denn Willkür?)


Viele junge Menschen, die auf die Straße gehen, müssen
diese Polizeiwillkür erleben und werden nicht selten an-
gegriffen. Daher muss man diese Vorkommnisse ernst
nehmen, darf sie nicht verharmlosen und darf nicht sa-
gen, das sei alles nicht so schlimm.


(Beifall bei der LINKEN)


Hier muss man vielleicht auch noch einmal deutlich
sagen: Sie sollten von dem Polizeipräsidenten in Müns-
ter lernen. Immerhin hat er sich dafür entschuldigt, was
seine Polizisten dort veranstaltet haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, damit es ganz klar ist:
Schuld sind keineswegs nur die übereifrigen Polizisten.
Die Bundesregierung selbst – das haben wir heute hier
gehört – stellt den Antifaschismus unter extremistischen
Generalverdacht.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jetzt bin ich die Bundesregierung!)






Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


Der Fisch stinkt, wie wir wissen, vom Kopfe her. So
heißt es beispielsweise auf der Webseite des Verfas-
sungsschutzes – Zitat –:

Der „Antifaschismus“ zielt nur vordergründig auf
die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebun-
gen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das stimmt doch in weiten Bereichen!)


Vielmehr bekämpfen Linksextremisten … die frei-
heitliche demokratische Grundordnung als „kapita-
listisches System“,


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das steht auch auf den Antifa-Seiten!)


um deren angeblich immanente Wurzeln des „Fa-
schismus“ zu beseitigen.

Mit anderen Worten: Wer gegen Nazis auf die Straße
geht, der steht in den Augen der Bundesregierung offen-
bar schon mit einem Fuß außerhalb des Grundgesetzes.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist doch ein Unsinn, Frau Jelpke!)


Nach dieser Maxime knebelt übrigens die Familienmi-
nisterin, die bei dieser Debatte nicht anwesend ist, die
zahlreichen bürgerschaftlichen Projekte gegen Rechts-
extremismus mit der Extremismusklausel. Es ist heute
schon mehrfach gesagt worden, dass diese Klausel weg
muss.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach dieser Maxime prügeln auch Polizisten in Münster
und andernorts Nazis den Weg frei. Das muss man ganz
klar so sagen. Das ist staatlicher Anti-Antifaschismus in
Reinform.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere Sie auf: Lesen Sie, was die Nazis auf ihren
Homepages schreiben, dann stellen Sie nämlich fest,
dass sich die Nazis eins ins Fäustchen lachen.

Tausende Antifaschisten waren in den letzten Jahren
aktiv, sie haben sich zum Beispiel im Februar in Dresden
dem größten Naziaufmarsch seit Jahren entgegenge-
stellt. Was war die Antwort der staatlichen Seite? Knüp-
pel, Tränengas und ein Ermittlungsverfahren wegen Bil-
dung einer kriminellen Vereinigung,


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


und zwar nicht gegen Nazis, sondern gegen Antifaschis-
ten. Millionen von Handydaten von unbescholtenen
Bürgern wurden gespeichert. Die Immunität mehrerer
Landtagsabgeordneter wurde aufgehoben, weil sie zur
Blockade des Naziaufmarsches aufriefen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sendungsbewusstsein, oder was?)


Das ist die traurige Realität, wenn Bürger gegen Na-
zis aktiv werden. Daran wird sich auch nichts ändern, so-
lange kein Umdenken bei der Regierung und auf der

rechten Seite des Hauses stattfindet, solange Sie in Ihrer
ideologischen Verbohrtheit


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)


Antifaschismus für eine Einstiegsdroge zur Revolution
halten


(Beifall bei der LINKEN)


und solange Sie weiterhin beide Augen vor dem alltägli-
chen Terror der Nazibanden verschließen. Leider ist es
Realität, dass Sie jahrelang vor dem Problem des rechten
Terrors beide Augen verschlossen haben.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selbst nicht! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, also bitte!)


Seit 1990 haben wir über 160 Tote zu beklagen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716510300

Kommen Sie bitte zum Schluss.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja, Sie sind am Ende!)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716510400

Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. – In diesem

Jahr verzichten die Nazis übrigens erstmals darauf, in
Dresden zu marschieren. Das ist einzig und allein der Er-
folg der Blockaden gewesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann Sie daher nur aufrufen: Beteiligen Sie sich an
den Blockaden gegen die Nazis!


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Aufruf zur Straftat!)


Das ist die Sprache, die diese nicht gerne hören.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716510500

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Ruprecht Polenz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1716510600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

bin mir nicht so sicher, ob der bisherige Verlauf dieser
Aktuellen Stunde die Menschen in Deutschland tatsäch-
lich ermutigt, Zivilcourage gegen Nazis zu zeigen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dann tun Sie jetzt Ihren Teil dazu!)


Ich befürchte, dass der unbefangene Zuhörer von dieser
Aktuellen Stunde den Eindruck vermittelt bekommt: Wir
streiten untereinander und verlieren aus dem Blick, wo-
rum es eigentlich geht.


(Beifall der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)


Warum ist es wichtig, Zivilcourage gegen Nazis zu
zeigen? Es ist wichtig, weil sie unsere Werte nicht teilen,
weil sie gegen die gleiche Würde aller Menschen sind
und dumpfe Ressentiments vor allen Dingen gegenüber
Ausländern schüren, weil sie gewalttätig sind und antise-
mitisches Gedankengut verbreiten. Es ist allerdings auch
zu beobachten, dass manche sich sozusagen zur Tarnung
zu 150-prozentigen Freunden Israels gerieren, weil sie
dann per definitionem keine Rechtsradikalen mehr sein
können und umso ungehinderter ihre Hetze gegen Mus-
lime vom Stapel lassen können. Darum geht es.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man muss diesem Hass und dieser Fremdenfeindlichkeit
– vor allen Dingen dem Hass, der sich gegen die Mus-
lime und gegen den Islam richtet und der nichts mehr
mit Religionskritik zu tun hat – entgegentreten.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich darf Ihnen vor dem Hintergrund der heutigen De-
batte eine E-Mail vorlesen, die im Augenblick ziemlich
viele Menschen bekommen, die aufgrund ihres Namens
als Menschen mit Migrationshintergrund erkennbar sind.
Ich zitiere:

Wir möchten Sie mit diesem unserem persönlichen
Anschreiben dazu veranlassen, in Ihrem eigenen
Sinne unser Land freiwillig, friedlich und gewalt-
frei zu verlassen, da ansonsten für Ihre und Ihrer
Familie Gesundheit und Leben nicht garantiert wer-
den kann.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Unglaublich!)


Weiter heißt es:

Verstehen Sie den Ernst der Lage und handeln Sie
danach, bevor es für Sie und Ihre Familie zu spät
ist.


(Iris Gleicke [SPD]: Warum lesen Sie diesen Dreck hier vor?)


Sollte diese Aufforderung zum Verlassen unseres
Landes ignoriert, missachtet oder dieser nur spär-
lich nachgekommen werden, gehen Sie davon aus,
dass wir diese Ausweisung zur Not mit allen uns
zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen wer-
den,


(Stefan Rebmann [SPD]: Diesen Schwachsinn kann man doch hier nicht verlesen!)


um dieses Problem für uns zu lösen, was wir mit
diesem Schreiben jedoch doch gerne verhindern
wollen.

Als Verfasser bezeichnet sich eine sogenannte Reichsbe-
wegung.

Sie fragen, warum ich das hier vorlese. Weil ich
glaube, dass bekannt sein muss, was Menschen per
E-Mail an Drohadressen bekommen. Nur so können wir
bei der Mehrheit der Bevölkerung Empathie wecken und

die Menschen dazu bringen, sich mit dieser Bevölke-
rungsgruppe solidarisch zu zeigen. Hier hilft nur Trans-
parenz. Deshalb habe ich das mit Abscheu hier vorgele-
sen: damit man sich dagegen wendet und Solidarität
zeigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Deshalb war es, als die Nazidemonstration in Münster
angekündigt wurde, auch richtig, nicht zu schweigen,
nicht wegzuschauen und sich nicht wegzuducken. Es gab
eine einstimmige Resolution der sieben Fraktionen bzw.
Gruppierungen im Rat, die zu friedlichen Gegendemons-
trationen aufgerufen haben. Wir vier Bundestagsabgeord-
nete aus Münster, Frau Klein-Schmeink, Herr Strässer,
Herr Bahr und ich, haben ebenfalls gemeinsam dazu auf-
gerufen, friedlich gegen die Demonstration der Nazis auf-
zutreten. Das war erfolgreich. Über 5 000 Menschen ha-
ben demonstriert. Auf der größten Kundgebung haben
der Oberbürgermeister, Vertreter des DGB und der Kir-
chen sowie der Vorsitzende des Integrationsrates gespro-
chen. Das war ein starkes Signal gegen die Nazis.

Jetzt zu dem Punkt, dem in dieser Debatte viel zu viel
Raum gegeben wurde, nämlich zur Frage, wie das mit
Gewaltausschreitungen am Rande der Kundgebung war.
Wenn wir unsere Werte verteidigen, dann müssen wir
uns auch selber danach richten. Zu unseren Werten gehö-
ren auch unsere Rechtsordnung, Recht und Gesetz. Die
Versammlungsfreiheit schützt auch das Demonstrations-
recht – hören Sie jetzt gut zu – von verfassungsfeindli-
chen Organisationen, solange sie nicht verboten sind.
Das ist das Konzept unserer wehrhaften Demokratie.
Auf diese Weise soll politische Auseinandersetzung
stattfinden. Es ist Aufgabe der Polizei, das sicherzustel-
len. Wenn man die Polizei dafür denunziert und sagt, sie
mache sich mit den Nazis gemein, dann denunziert man
unseren Rechtsstaat, meine Damen und Herren von der
Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die offenen Fragen, die angesprochen worden sind,
werden untersucht. Frau Kollegin, Sie haben nicht er-
zählt, dass sich der Polizeipräsident inzwischen schrift-
lich bei Ihnen entschuldigt hat.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Doch! Das ist gesagt worden!)


Das wird geklärt. Ich denke, das sollte nicht im Mittel-
punkt stehen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Es ist eben kein Einzelfall! Das ist das Problem!)


Der Spiegel hat die Ereignisse des vergangenen Wo-
chenendes in einem Bericht so zusammengefasst – ich
darf zitieren –:

Neue Bühne, alte Parolen: Erstmals sind Hunderte
Neonazis durch das zutiefst bürgerliche Münster
marschiert. Die Stadt reagiert ebenso vorbildlich





Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)


wie entschieden: Mit Transparenten, Sprechchören
und Trillerpfeifenkonzerten protestieren Tausende
gegen die Extremisten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716510700

Jetzt hat das Wort die Kollegin Sonja Steffen für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1716510800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Rechtsextre-
mismus ist ein nationales Problem, das in diesem Jahr
durch die Aufdeckung der Morde des NSU einen sehr
traurigen Höhepunkt erlebte.

Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern
haben 22,7 Prozent der Wähler in Usedom-Stadt die
NPD gewählt. In Kamminke, einem Ort ganz in der
Nähe der Grenze zu Polen, waren es 23,9 Prozent und in
Bansin-Dorf 24,9 Prozent, und das, obwohl Usedom
eine lebendige Insel ist. Usedom hat nichts mit den Dör-
fern gemein, die sich von der Welt aufgegeben fühlen.

In dieser Debatte geht es um Zivilcourage gegen
rechts und um die Stärkung derselben. Sie verlangt Mut,
die Zuversicht der Menschen, dass ihnen nichts passiert,
wenn sie sich den Nazis entgegenstellen, und sie ver-
langt Entschiedenheit. Usedomer Bürgerinnen und Bür-
ger stellen sich mutig mit den ihnen zur Verfügung ste-
henden Mitteln gegen den Rechtsextremismus. Es gibt
zum Beispiel einen Bürgermeister auf Usedom, der die
Satzung geändert hat, als die NPD eine neue Sporthalle
nutzen wollte, um dort ihre Aufmärsche zu üben. Er ging
dabei das Risiko ein, dass diese Satzung einer rechtli-
chen Überprüfung vielleicht nicht standhalten würde.


(Sönke Rix [SPD]: Aber er hat es gemacht!)


In Heringsdorf ist es seit zwei Jahren verboten, dass Par-
teien ihre Plakate an Laternenmasten anbringen.

In meinem Wahlkreis und in ganz Mecklenburg-Vor-
pommern zeigen die Menschen Flagge, indem sie Nazi-
Aufmärschen mutig mit Storch-Heinar-T-Shirts entge-
gentreten, obwohl NPD-Anhänger dabeistehen und sie
provokant fotografieren, um Angst zu schüren. Im Land-
tag von Mecklenburg-Vorpommern ist die NPD leider
noch mit fünf Abgeordneten vertreten. Die demokrati-
schen Fraktionen dort haben sich darauf verständigt,
dass auf jeden Antrag der NPD nur ein Abgeordneter im
Namen aller demokratischen Fraktionen mit einem Re-
debeitrag antwortet.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gegen die Nazis sprechen die demokratischen Parteien
im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mit einer
Stimme.

Wahrscheinlich haben viele von uns schon Aktionen
gegen rechts organisiert und begleitet. Wir haben uns ge-
ärgert – mein Kollege Sönke Rix hat vorhin schon darauf
hingewiesen –, wenn Widerstand und Zivilcourage an
technokratischen Bedenken scheiterten. Viele von uns
haben schon das Argument gehört, man dürfe nicht so
viel über die NPD reden, damit sie nicht so viel Auf-
merksamkeit bekommt.

Leider ist es auch in meinem Wahlkreis in Stralsund
so, dass das Aktionsbündnis gegen rechts nicht von den
kommunalpolitischen CDU-Abgeordneten begleitet
wird, obwohl darin Kirchen, Gewerkschaften und eine
Reihe von Vereinen vertreten sind. Nein, wir müssen die
rechtsextremen Aktionen nicht aushalten. Es ist richtig
und wichtig, dass sich die Menschen dem braunen Hau-
fen mutig entgegenstellen. Wir als Parlamentarier haben
das Recht und die Pflicht, diese Zivilcourage zu beglei-
ten und zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was Ihnen in Münster passiert ist, Frau Remmers,
finde ich persönlich schlimm und entwürdigend. Ich
hoffe, dass es für Sie keine Nachwirkungen geben wird.
Gleichzeitig hoffe ich, dass es für die handelnden Poli-
zeibeamten hingegen Nachwirkungen geben wird, dass
dort ermittelt und der Sachverhalt aufgeklärt wird.

Aber ich frage: Darf und muss die Zivilcourage so
weit gehen, dass uns Bundestagsabgeordneten ein Son-
derstatus eingeräumt wird?


(Sönke Rix [SPD]: Eben nicht!)


Sollten wir, wenn es um Rechtsextremismus geht, von
der Möglichkeit der Immunität Gebrauch machen dür-
fen, um uns vor Aktionen der Staatsanwaltschaft und der
Polizei zu schützen? Die verfassungsrechtlich verankerte
Immunität ist ein hohes Gut, aber kein Freifahrtsschein
für Abgeordnete. Das ist gut und richtig so. Sie alle ken-
nen die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten ge-
nauso gut wie ich. Sie wissen, dass der Immunitätsaus-
schuss nie in eine Beweiswürdigung eintritt und keine
Feststellungen über Recht oder Unrecht, Schuld oder
Nichtschuld trifft. Ob Sitzblockaden eine Nötigung dar-
stellen, dürfen wir im Immunitätsausschuss nicht prüfen
und bewerten.

Für den einzelnen Abgeordneten ergeben sich hier
keine Sonderrechte. Er hat nur den Anspruch, dass sich
der Bundestag bei der Entscheidung über eine Aufhe-
bung der Immunität nicht von sachfremden Motiven lei-
ten lässt. Deshalb darf der Immunitätsausschuss auch bei
Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete, die im Zu-
sammenhang mit Aktionen der Zivilcourage gegen
rechts eingeleitet werden, keine Beweiswürdigung oder
politische Wertung vornehmen; denn dann würde die Ar-
beit des Immunitätsausschusses willkürlich. Das gilt für
alle Abgeordneten, für Herrn Thierse genauso wie für
Sie, Frau Remmers. Er ist nicht anders behandelt worden





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


als andere Abgeordnete, die sich im Wege der Zivilcou-
rage gegen die Rechten gestellt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt andere Mittel, die uns zur Verfügung stehen
bzw. die wir schaffen und stärken müssen. Viele sind
hier schon genannt worden. Ich will mich deshalb auf
zwei beschränken. Ein Mittel ist, den Menschen, vor al-
lem den Menschen in Ostdeutschland, eine bessere Per-
spektive zu bieten, um dem rechtsextremistischen Ge-
dankengut den Boden zu entziehen. Schließlich gehört
auch ein Verbot der NPD dazu, damit sie unsere schönen
Städte und Landschaften zukünftig nicht mehr mit ihren
widerlichen Plakaten verschandeln kann und damit wir
ihre Äußerungen in den Parlamenten nicht länger ertra-
gen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716510900

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1716511000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Zivilcourage bedeutet sozialverantwortliches Han-
deln und geschieht beispielsweise in Situationen, in de-
nen zentrale Wertüberzeugungen und soziale Normen
wie Menschenwürde, Menschenrechte oder Gerechtig-
keit verletzt werden. Zivilcouragiert handelt eine Person,
wenn sie bereit ist, trotz drohender Nachteile für die ei-
gene Person als Einzelner für die Wahrung humaner und
demokratischer Werte einzutreten.

In Deutschland haben wir starke demokratische
Strukturen, aber auch funktionierende Sicherheitsstruk-
turen. Für mich hört Zivilcourage dort auf, wo das De-
monstrationsrecht von Gegendemonstranten gebrochen
wird. Diese Schlussfolgerung ziehe aus den aktuellen
Demonstrationen der Neonazis in Münster.

Eines der wesentlichen Merkmale unserer Demokra-
tie ist, dass wir auch Meinungen zulassen und tolerieren,
die nicht unsere demokratischen und rechtsstaatlichen
Grundprinzipien und Wertvorstellungen widerspiegeln,
wie es der Kollege Polenz vorhin schon sagte. In Art. 5
und Art. 8 des Grundgesetzes sind die Meinungs- und
die Versammlungsfreiheit ausdrücklich garantiert. Die
Ausübung des grundgesetzlich garantierten Versamm-
lungsrechts ist jedoch dann eindeutig verletzt, wenn, wie
in Münster geschehen, Gegendemonstranten versuchen,
Polizeiabsperrungen zu überwinden. Dies hat für mich
nun wirklich nichts mehr mit Versammlungsfreiheit und
Zivilcourage zu tun.


(Sönke Rix [SPD]: Das haben aber nicht alle Demonstranten gemacht!)


Den erheblichen Zuwachs im neonazistischen Spek-
trum und die steigende Gewaltbereitschaft innerhalb der
Neonazi-Szene betrachte auch ich mit größter Sorge.
Wir müssen verhindern, dass rechtsextremistische Ideo-
logien zu Mord und Terror führen. Deswegen setzen wir
im familienpolitischen Bereich auf Prävention bei Kin-
dern und Jugendlichen. Für die Prävention gegen
Rechtsextremismus geben wir so viel Geld aus wie keine
andere Bundesregierung zuvor.

Mit verschiedenen Aktions- und Bundesprogrammen
hat die Bundesregierung erfolgreich pädagogische Bil-
dungsprojekte und Beratungsangebote gegen Rechts-
extremismus unterstützt. Hauptzielgruppe waren Kinder
und Jugendliche, deren Eltern, Erziehungsberechtigte,
Lehrer, Erzieher und seit 2007 auch explizite Meinungs-
träger im Umfeld der Jugendlichen. Insbesondere mit
dem Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz
stärken“ wollen wir die Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen durch präventiv-pädagogische Arbeit stär-
ken. Kinder und Jugendliche müssen gegen rechtsextre-
mistisches Gedankengut immun werden. Der beste
Impfstoff ist, dass wir unsere Kraft darauf verwenden,
sie für unsere Werte wie Demokratie, Toleranz und Welt-
offenheit zu gewinnen.

Für das Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kom-
petenz stärken“ stehen jährlich 24 Millionen Euro zur
Verfügung. Da die Verwaltung intern durch das Bundes-
amt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
wahrgenommen wird, haben wir Einsparungen in Höhe
von 2 Millionen Euro erzielt. Unser Ziel war nicht, bei
der überaus erfolgreichen Projektarbeit zu sparen. Im Ge-
genteil: Wir haben die Bekämpfung des Rechtsextremis-
mus verstärkt, indem wir die Gelder weiter aufgestockt
haben. Auf Antrag meiner Fraktion wurde der bestehende
Haushaltstitel „Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt,
Toleranz und Demokratie“ im Haushaltsjahr 2012 um
2 Millionen Euro erhöht.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Die Kürzung haben Sie zurückgenommen! Das ist ein Unterschied!)


Auch wenn wir den Rechtsextremismus mit allen uns
zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, so müssen
wir doch stets auf dem Boden unserer freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung bleiben. Dazu, liebe Kollegen
von der Opposition, gehört auch die Extremismusklau-
sel. Diese hat sich bewährt und bleibt bestehen. Wir kön-
nen Extremismus nicht mit Extremismus bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für mich gilt eine absolute Nulltoleranz gegenüber
denjenigen, die nichts anderes im Sinn haben, als sich
gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung
zu stellen. In den vergangenen Jahren haben wir im
Kampf gegen den Rechtsextremismus durch die Erpro-
bung unterschiedlicher Ansätze viel Wissen und Kompe-
tenz gewonnen. Dieses Wissen wollen wir zukünftig
auch für die Gesellschaft nutzbar machen. Zu diesem
Zweck ist bis Ende dieses Jahres die Einrichtung eines
bundesweiten Informations- und Kompetenzzentrums
geplant. Dabei handelt es sich um eine Plattform zum





Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)


Wissenstransfer: von zivilgesellschaftlichen Organisa-
tionen an Multiplikatoren im Bildungssystem und an die
Zivilgesellschaft.

Zum Schluss, meine Damen und Herren, ein Appell
an Sie alle: Nur wenn wir uns alle aktiv für Toleranz und
für die Werte und Errungenschaften unserer Demokratie
einsetzen, können wir den Rechtsextremismus erfolg-
reich aus unserer Gesellschaft verbannen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716511100

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Zu einer Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach
§ 32 unserer Geschäftsordnung erteile ich das Wort der
Kollegin Ingrid Remmers von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716511200

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie werden mir

nachsehen, dass ich spätestens nach dem Beitrag des
Kollegen Sensburg das dringende Bedürfnis habe, einige
Punkte klarzustellen.

Der Kollege Sensburg hat behauptet, ich hätte mich
am letzten Samstag nicht ausweisen können.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Abgeordnetenausweis!)


Ich möchte klarstellen, dass ich meine Abgeordnetentä-
tigkeit bzw. mein Mandat zu jedem Zeitpunkt innerhalb
von einer Minute hätte nachweisen können.

Darüber hinaus möchte ich feststellen, dass während
des gesamten Samstags an keiner Stelle meine Identität
infrage gestellt wurde. Meine Identität ist erst im Nach-
hinein infrage gestellt worden, als klar war, was man
sich hier geleistet hat.


(Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Hatten Sie einen Abgeordnetenausweis dabei oder nicht?)


An dieser Stelle möchte ich auch darauf eingehen,
dass der Kollege Polenz von gewaltbereitem Protest ge-
sprochen hat. Ich möchte Ihnen die Situation einmal ver-
anschaulichen. Es war eine angemeldete und genehmigte
Kundgebung, die ausgelagert war zwischen zwei Sied-
lungen auf einem Feld und einem Feldweg, wo niemand,
aber auch gar niemand diesen Protest wahrnehmen oder
hören konnte. Dass junge Menschen, die zu diesen De-
monstrationen gereist sind, um ihre Meinung im Kampf
gegen rechts kundzutun, diesen Kundgebungsplatz ir-
gendwann auch verlassen möchten, weil sie mit ihrem
Protest nirgendwo wahrgenommen werden, muss man
anders sehen, als es hier dargestellt wird. Es war keine
Gewaltbereitschaft, sondern der Wunsch, zeigen zu kön-
nen, wo man steht, und dagegen angehen zu können.

Was am Samstag auf diesem Kundgebungsplatz pas-
siert ist, ist einzig und allein, dass sich junge Leute vom
Kundgebungsplatz in Richtung einer nicht abgesperrten
Siedlung abgesetzt haben. Die Absperrung wurde erst

viel später errichtet. Dieses Verlassen hat zu einem mas-
siven Polizeieinsatz geführt.

Ich habe versucht, zu intervenieren, als ein junger
Mann, der etwas abseits gelaufen ist, um weiter in Rich-
tung Demoroute zu kommen, zu Boden geworfen wor-
den ist. Ein Polizist hat sich auf ihn gekniet – sein Knie
war im Nacken des Mannes – und hat seinen Arm nach
hinten gedrückt. Der Polizist ist in dieser Position ge-
blieben, obwohl der junge Mann überhaupt keinen Wi-
derstand geleistet hat.

Diese Situation war für mich Anlass, hinzugehen. Als
ich von einer Polizistin aufgehalten worden bin, habe ich
sofort gesagt, wer ich bin. Ich war jederzeit als Abgeord-
nete identifizierbar.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Woran denn? – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Am Ausweis wahrscheinlich!)


– Wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich hatte selbst-
verständlich meinen Personalausweis in der Tasche.
Zwei Meter hinter mir stand mein Mitarbeiter mit sei-
nem Mitarbeiterausweis, auf dem auch mein Name steht.
Das hat aber niemand wissen wollen. Niemand hat in-
frage gestellt, dass ich Abgeordnete bin. Deswegen
spielt der Punkt, ob ich den richtigen Ausweis in der Ta-
sche hatte, überhaupt keine Rolle; denn das war jederzeit
feststellbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber auch der junge Mann, um den es eigentlich ging,
ist nicht gewalttätig gewesen, sondern er hat versucht,
den Kundgebungsplatz zu verlassen. Er ist massiv ange-
griffen und niedergedrückt worden, und ich wollte ver-
mittelnd eingreifen.

Ich bitte Sie, das zu respektieren. Sie sind nicht dort
gewesen und konnten die Situation also nicht beobach-
ten, genauso wie die Koalitionsfraktionen ohnehin bei
keinem Kampf gegen rechts irgendwo auftauchen und in
dieser Frage eher ein Totalausfall sind.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716511300

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes

– Drucksache 17/8801 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim
Otto das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


H
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1716511400


Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit der Energiewende stellen wir
unsere Energieversorgung auf eine neue Grundlage. Für
diesen Umbau brauchen wir neben dem Ausbau der er-
neuerbaren Energien, neuer Netze und Speichertechno-
logien auch Investitionen in neue hochmoderne Kraft-
werke sowie eine signifikante Steigerung der Effizienz.

Mit dem Entwurf einer Novelle des KWKG schlagen
wir jetzt ein Bündel von Maßnahmen vor, durch das die
Kraft-Wärme-Kopplung deutlich vorangebracht werden
kann und gleichzeitig auch Anreize für Investitionen in
neue Erzeugungsanlagen gesetzt werden.

Die Bundesregierung steht zur Kraft-Wärme-Kopp-
lung als Effizienztechnologie. Durch Nutzung der bei
der Stromerzeugung anfallenden Abwärme für Heizzwe-
cke können Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent er-
reicht werden, wenn ein entsprechender Wärmebedarf
besteht. Unbestrittenes Ziel ist es, bis zum Jahre 2020
den Anteil der Stromerzeugung aus KWK-Anlagen auf
25 Prozent zu steigern. Sie wissen es sicherlich: Momen-
tan beträgt dieser Anteil 15 Prozent.

Der Ihnen jetzt vorliegende und heute zu debattie-
rende Gesetzentwurf enthält insbesondere eine Auswei-
tung der Förderung von Wärmenetzen. Ein intensivierter
Ausbau der Netze erschließt neue Wärmesenken und ist
somit ein Schlüssel zur Steigerung des Anteils von
KWK. Weiterhin soll die Förderung von Modernisie-
rungsmaßnahmen deutlich erleichtert und eine neue
Möglichkeit zur Unterstützung der Nachrüstungen mit
KWK geschaffen werden. Hierdurch kann die Effizienz
bestehender Anlagen deutlich gesteigert werden.

Neu aufgenommen wurde auch eine Möglichkeit zur
Förderung von Wärmespeichern. Wärmespeicher bieten
eine Möglichkeit zur Entkopplung der Stromerzeugung
von der Nutzung der Wärme. Hierdurch können KWK-
Anlagen flexibler eingesetzt werden und besser zum
Ausgleich der zwangsläufig fluktuierenden Einspeisung
erneuerbarer Energien beitragen.

Der Regierungsentwurf enthält schließlich für emis-
sionshandelspflichtige Anlagen eine Anhebung der Zu-
schläge um 0,3 Cent pro Kilowattstunde. Der Vorschlag
zielt auf den Ausgleich der ab dem Jahre 2013 schritt-
weise beginnenden Einbeziehung der Wärmeerzeugung
in den Emissionshandel. Er soll also trotz dieser begin-
nenden Zusatzbelastung Anreize für Neuinvestitionen
setzen.

Einige Verbände und auch der Bundesrat haben die-
sen Teil des Gesetzentwurfes kritisiert. Sie fordern eine
Anhebung der Zuschläge auf breiterer Front. Die Bun-

desregierung hat zugesagt – sie wird das auch tun –, die
Vorschläge gerade im Hinblick auf eine Anreizwirkung
für notwendige Investitionen in flexible neue Kraftwerke
zu prüfen und gegebenenfalls im Laufe des Beratungs-
verfahrens einen konkreten Vorschlag hierzu vorzulegen.

Zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen,
dass das KWKG, anders als andere umlagefinanzierte
Förderinstrumente, eine feste Begrenzung der Kosten
der von den Verbrauchern zu tragenden Umlagen auf
750 Millionen Euro pro Jahr enthält. Durch diesen festen
Deckel bleibt auch die maximale Belastung der Verbrau-
cher kalkulierbar. Selbst im Falle einer vollen Ausschöp-
fung des Betrages würde sich der Strompreis für End-
kunden nur um circa 0,3 Cent pro Kilowattstunde
erhöhen. Ich will aber klarmachen: Im vergangenen Jahr,
2011, betrugen die Zusatzkosten


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 0,03 Cent!)


für die Verbraucher gerade einmal 0,03 Cent pro Kilo-
wattstunde. – Herr Kollege Krischer, ich freue mich,
dass wir wenigstens in diesem einen Punkt über diesel-
ben Informationen und über Einigkeit verfügen.

Meine Damen und Herren, ich denke, dass dieser
Deckel und damit die Kalkulierbarkeit der Kosten für die
Verbraucher ein weiteres wirtschaftliches Argument für
die Effizienztechnologie Kraft-Wärme-Kopplung ist. Ich
freue mich auf eine konstruktive Debatte heute hier im
Plenum des Bundestages und anschließend natürlich
auch in den zuständigen Ausschüssen.

Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716511500

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1716511600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Wir hatten in der letzten Sitzungswoche eine Aktuelle
Stunde zum Thema Energieeffizienz. Es gab berechtigte
Kritik vonseiten der Opposition an dem Handeln – oder
sagen wir vielleicht besser: Nichthandeln – der Bundes-
regierung.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Jetzt tun wir etwas!)


Heute liegt ein Gesetzentwurf zum Thema Kraft-
Wärme-Kopplung vor. Kraft-Wärme-Kopplung ist aner-
kanntermaßen ein wesentlicher Pfeiler in jeder Effi-
zienzstrategie.

Wir möchten uns bedanken, Herr Staatssekretär, dass
Sie etwas vorgelegt haben, das als Grundlage für die
Beratungen im Deutschen Bundestag dienen kann. Es
hat zwar lange gedauert, aber immerhin: Es geht in die
richtige Richtung. Wir sind auch fair genug, das an einer
solchen Stelle zu sagen.





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


Beim Thema Effizienz wird genau wie beim Thema
KWK von allen Seiten immer wieder betont, es sei sozu-
sagen eine Allzweckwaffe. Deswegen muss man erheb-
lich daran arbeiten, um damit voranzukommen.

Es gilt deshalb als Allzweckwaffe, weil KWK auf der
Angebotsseite, also bei der Strom- und Wärmeerzeu-
gung, ein Effizienzangebot ist und weil sie in einem Sys-
tem, das wir weiterentwickeln wollen und das flexibel
sein soll, über Wärmespeicher einen besonderen Beitrag
leisten kann. Wir müssen aber auch darauf achten, dass
wir in diesem Bereich nicht nur Kraftwerke bauen, son-
dern auch dafür sorgen, dass Wärmesenken vorhanden
sind. Deswegen geht es auch um den Ausbau und die
Verdichtung von Wärmenetzen. Wenn wir erfolgreich
sind, dann entlasten wir über mehr Dezentralität letztlich
auch Übertragungsnetze im Strombereich und stabilisie-
ren insgesamt die Strom- und Wärmeversorgung.

Insofern ist zu loben, dass wir heute eine taugliche
Beratungsgrundlage bekommen haben. Ganz verkneifen
können wir uns aber nicht die Kritik daran, dass es so
lange gedauert hat und dass zwei konservative und zwei
liberale Wirtschaftsminister dieses Thema so lange vor
sich hergeschoben haben.


(Beifall bei der SPD)


Richtig ist auch – das kann auch niemand abstreiten –,
dass es einen engen Zusammenhang mit dem Thema
Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gibt. Denn in
ein Szenario mit verlängerten Laufzeiten von Atomkraft-
werken hat der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung
natürlich nicht richtig hineingepasst. Das wäre eine
Konkurrenz für die großen Kraftwerke der großen Vier
gewesen. Deswegen hat man das in den vergangenen
Jahren nicht angepackt.

Jetzt ist es Gott sei Dank so weit. Die Vorlage, die Sie
geliefert haben, ist von den Marktakteuren insgesamt po-
sitiv aufgenommen worden, vermutlich auch deshalb,
weil man aufgrund der Erfahrungen in der Vergangen-
heit gar nicht mehr damit gerechnet hat.

Jedenfalls ist klar, dass wir im Deutschen Bundestag
eine Anhörung beantragen werden, um das auch aufzu-
greifen, was Sie als konstruktives Angebot – wir nehmen
das ernst – gerade gemacht haben, als Sie gesagt haben,
dass Sie noch flexibel sind und Sie die konstruktive
Kritik und die Vorschläge aus den Branchen prüfen und
gegebenenfalls noch in Ihr Konzept einarbeiten wollen.

Dabei wird es unter anderem um die Frage der Zu-
schlagshöhen gehen. Sie haben gerade einige Beispiele
genannt. Ich stimme dem von Ihnen genannten Krite-
rium für die Höhe des Zuschlags zu, der so hoch sein
muss, dass er zu dem gewünschten Ausbauziel von
25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung führt.

Sie haben als zweites Stichwort die Modernisierung
von Kraftwerken genannt. Ich glaube, dass das bisher er-
heblich unterschätzt worden ist und dass wir sogar eine
Menge an finanziellen Ressourcen einsparen können,
wenn wir gerade bei der Modernisierung von Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen und -netzen erfolgreich sind.
Wir müssen sehr genau darauf achten, dass wir nicht

durch falsch gesetzte Schwellen dieses Thema totma-
chen, bevor es überhaupt begonnen hat, zu atmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch aus den Branchen hören wir, dass das, was bis-
her vorgeschlagen worden ist, nämlich dass man die Mo-
dernisierung ein Stück weit antreiben will, in der Grund-
richtung richtig ist, dass man aber, wenn man das
umsetzen will, was möglich ist, auch darüber nachden-
ken muss, ob man die Schwellen nicht niedriger anset-
zen muss, also die Modernisierung auch dann unter-
stützt, wenn weniger als 50 oder 30 Prozent einer Anlage
modernisiert werden.


(Klaus Barthel [SPD]: Wir schlagen in der richtigen Höhe zu!)


Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist die
industrielle Kraft-Wärme-Kopplung. Wir wissen, dass es
diese Anlagen gerade im industriellen Bereich vielfach
gibt. Wir müssen aber sehr genau darauf achten, dass wir
diesen Markt am Leben erhalten. Auch dabei gilt es, das
Potenzial auszuschöpfen, indem wir die richtigen An-
reize setzen. Dazu gibt es entsprechende Vorschläge aus
der Branche.

Einige Vorschläge betreffen übrigens nicht das Kraft-
Wärme-Kopplungsgesetz selbst, sondern andere, flan-
kierende Gesetze, etwa das Erneuerbare-Energien-
Gesetz oder das Energiewirtschaftsgesetz. Wenn man
dabei die Rahmenbedingungen falsch setzt, kann da-
durch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durchaus
behindert werden.

Uns geht es auch um das Ausschöpfen des Potenzials
der Mini-KWK- und der Mikro-KWK-Anlagen. Es gibt
ein großes Interesse der Bevölkerung, hier aktiv zu wer-
den. Aber dann müssen die Rahmenbedingungen stim-
men. Aus diesem Grunde sollten wir uns das noch ein-
mal genauer anschauen.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben das Emissionshandelssystem angespro-
chen. Es hat indirekt Auswirkungen auf die Kraft-
Wärme-Kopplung. Wir begrüßen sehr, dass es zum Aus-
gleich der Auswirkungen des Emissionshandelssystems
entsprechende Zuschläge geben soll. Wir bitten aber
auch hier, noch einmal über die Höhe der Zuschläge
nachzudenken und die Vorschläge aus der Branche zu
prüfen. Ich denke, das wird eines der Themen der bevor-
stehenden Anhörung sein. Insbesondere müssen wir
darüber nachdenken, wie wir Anlagen, die nicht in das
Emissionshandelssystem einbezogen sind, behandeln
wollen. Wir dürfen nicht durch Maßnahmen an einer
Stelle negative Nebeneffekte an einer anderen Stelle er-
zeugen.

Wenn man ein Fazit ziehen will: Wir freuen uns, dass
es jetzt eine verhandlungsfähige Grundlage gibt. Wir
freuen uns auf die Anhörung und Beratungen im Deut-
schen Bundestag und hoffen, dass wir am Ende zu einem
Ergebnis kommen, das seinen Niederschlag in den
Marktaktivitäten zum Bau und zur Modernisierung von





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen sowie zur Verdichtung
und zum Ausbau der Wärmenetze finden wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716511700

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Bareiß von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1716511800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Lieber Kollege Hempelmann, herzlichen Dank
für Ihren konstruktiven Beitrag. Ich glaube, dass Sie
recht haben: Das, was jetzt vorliegt, ist eine sehr gute
Grundlage für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung.
Sie wird eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung
der Energiewende spielen. Wir brauchen die Kraft-
Wärme-Kopplung mehr denn je, um die hohen Ziele un-
seres Energiekonzepts tatsächlich erreichen zu können.

Erlauben Sie mir, trotz Ihrer sehr konstruktiven Rede
ein paar wenige Kritikpunkte anzusprechen. Sie haben
gesagt, bei der Kraft-Wärme-Kopplung gehe es viel zu
langsam voran. Sie selber können vor Ort dafür sorgen,
dass die Kraft-Wärme-Kopplung verstärkt zum Einsatz
kommt. Ich habe schon öfter von diesem Rednerpult aus
gesagt – Sie lächeln schon, Herr Hempelmann; Sie wis-
sen offenbar, was nun kommt –: In Nordrhein-Westfalen
steht eine der modernsten und größten Kraft-Wärme-
Kopplungsanlagen, die es in Europa gibt. Sie könnte
hundertausend Haushalte mit Wärme beliefern und war-
tet nur darauf, ans Netz zu gehen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Sie meinen das, was Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen verbockt hat!)


Aber die rot-grüne Regierung in Düsseldorf schafft es
nicht, diese Anlage ans Netz zu bekommen. Dieses Pro-
blem haben wir häufiger vor Ort.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Aber wir müssen uns an Recht und Gesetz halten!)


Es gibt noch andere Beispiele dafür, dass Rot-Grün
gegen die Kraft-Wärme-Kopplung ist. Im niedersächsi-
schen Stade wartet ein Chemiewerk dringend darauf,
dass eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage ans Netz geht.
Dadurch könnten 40 Prozent des CO2-Ausstoßes einge-
spart werden. Hier könnten wir ebenfalls vorangehen.
Aber die Grünen im Landtag in Niedersachsen verhin-
dern das und demonstrieren ständig dagegen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind in der Opposition! Da regiert Schwarz-Gelb! Das ist die Mehrheit!)


Ähnlich verhält es sich beim Kraftwerk Staudinger in
Hessen. Überall demonstrieren und agieren Sie gegen
Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte. Aber auch Sie über-
nehmen vor Ort Verantwortung und sollten für solche

Projekte kämpfen. Deshalb fordere ich Sie auf, nicht nur
große Reden zu halten, sondern auch vor Ort für die
Kraft-Wärme-Kopplung einzutreten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Kraft-Wärme-Kopplung hat schon heute einen
großen Anteil an unserer Stromversorgung. Mehr als
15 Prozent unseres Stroms kommen aus der Kraft-
Wärme-Kopplung. Wir haben das Ziel, bis 2020 den An-
teil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung
auf 25 Prozent zu steigern. Wir sind derzeit auf einem
guten Weg. Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung
zeigt, dass wir unter den jetzigen Rahmenbedingungen
wahrscheinlich 21 Prozent schaffen können, obwohl wir
in den letzten zwei, drei Jahren enorme Kritik erfahren
mussten. Wenn wir die Stellschrauben, die wir jetzt
anpacken, justiert haben, werden wir sicherlich die ange-
strebten 25 Prozent erreichen.

Dies ist sinnvoll – meine beiden Vorredner haben es
schon angesprochen –: Während normale fossile Kraft-
werke einen Wirkungsgrad von 40 bis 50 Prozent errei-
chen, erzielen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen einen
Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent. Wenn wir nicht nur
in eine Zukunft der regenerativen Energien starten wol-
len, sondern auch in eine energieeffiziente Zukunft ge-
hen möchten, brauchen wir mehr Kraft-Wärme-Kopp-
lung. Auch das ist eine wichtige Botschaft des heutigen
Tages.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist in diesem Zusammen-
hang von Bedeutung: der Beitrag der Kraft-Wärme-
Kopplung zur Netz- und Systemstabilität. Die größte
Herausforderung der nächsten Jahre wird sicherlich die
hohe Volatilität in unseren Netzen sein. Ich glaube, dass
die Kraft-Wärme-Kopplung hier eine ganz entschei-
dende Rolle spielen könnte. Deshalb müssen wir die
richtigen Weichen stellen, damit die Volatilität auch
durch die Kraft-Wärme-Kopplung ausgeglichen wird.

Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahr
ein Energiekonzept vorgelegt, das seinesgleichen sucht.
Dieses Energiekonzept baut auf einer bezahlbaren, um-
weltverträglichen und sicheren Energieversorgung in un-
serem Land auf. Die Kraft-Wärme-Kopplung passt hier
hervorragend hinein.

Sie wird unter dem ersten Gesichtspunkt, den ich ge-
nannt habe, der Bezahlbarkeit, in den nächsten Jahren
eine größere Rolle spielen. Vor dem Hintergrund, dass
wir heute beim Ausbau der erneuerbaren Energien, für
die nächsten 20 Jahre gerechnet, von Kosten in Höhe
von 200 Milliarden Euro ausgehen, wird die Kraft-
Wärme-Kopplung mit dafür sorgen, dass die Energie-
wende in den nächsten Jahren bezahlbar bleibt.

Schließlich stellen unsere Verbraucher immer öfter
die Frage, wie sie die Strompreise in den nächsten Jah-
ren bezahlen können. Diese Frage wird aber nicht nur
von den Privatverbrauchern aufgeworfen. Auch die In-
dustrie, die Ihnen seit kurzem so stark am Herzen liegt
und die die Energiepreise immer stärker infrage stellt,
braucht zukünftig verlässliche und günstige Energie-
preise. Wir sollten darauf achten, dass die Industrie, die





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


nach wie vor einen sehr hohen Anteil an der Wertschöp-
fung in Deutschland hat – er liegt bei 25 Prozent –, hier
nicht abgewürgt wird, sondern eine gute, verlässliche
Energieversorgung zu bezahlbaren Preisen angeboten
bekommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb brauchen wir unter anderem mehr Kraft-
Wärme-Kopplung. Wir brauchen aber – ich sage es in al-
ler Deutlichkeit; wir haben es heute schon mehrfach dis-
kutiert – weniger Photovoltaik; denn das ist sicherlich
ein Ansatz, der in Deutschland nicht in der Form um-
setzbar ist wie andere Bereiche.

Wir haben im letzten Jahr schon viel getan; das
möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Bereits im Jahr
2011 haben wir den ersten Grundstein für den Ausbau
der Kraft-Wärme-Kopplung gelegt. Im Rahmen unserer
Diskussion über die Energiewende haben wir im Früh-
jahr 2011 eine Gesetzesnovellierung vorgelegt, wodurch
wir die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung flexibler
gestaltet und Investitionssicherheit für die nächsten
Jahre geschaffen haben. So haben wir das Kriterium der
maximal zulässigen Betriebsjahre aus dem Gesetz he-
rausgenommen und haben als Grundlage für die Förde-
rung nur noch maximal 30 000 Betriebsstunden festge-
legt.

Darüber hinaus haben wir den Förderzeitraum, der im
Jahr 2016 endete, bis 2020 verlängert. Konkret hat das
dazu geführt, dass Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte
auch in den nächsten zwei Jahren verwirklicht werden,
bis die neue Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgeset-
zes dann auch greift.

Diese beiden Gesetzesveränderungen haben also dazu
geführt, dass die Kraft-Wärme-Kopplung auch in diesem
Jahr weiter ausgebaut wird.

Mit der Novelle, die jetzt kommen wird, wollen wir
weitere, noch bessere Investitionsanreize liefern, Büro-
kratie abbauen und die bestehende Förderung noch ein-
mal optimieren.

Es wurden schon viele Punkte angesprochen, die im
Gesetzentwurf eingearbeitet sind. Ich möchte einige we-
nige Punkte, die mir besonders wichtig sind, noch ein-
mal herausstreichen.

Der erste Punkt ist das Thema Speichertechnologie,
das vorhin schon angesprochen wurde. Meines Erach-
tens wird dieser Bereich nicht nur in den Zeiten enorm
wichtig, in denen wir wenig Strom und wenig Energie
haben, sondern auch in den Zeiten, in denen wir viel
Strom und viel Energie haben, weil wir dann wiederum
Reserven schaffen können, um die enormen Spitzen, die
kommen werden, auch abfangen zu können. Dabei wird
das Thema Speicher eine große Rolle spielen.

Mit dem jetzigen Ansatz, Wärmespeicher stärker zu
fördern, ermöglichen wir es meiner Einschätzung nach
auch kleineren Einheiten, beispielsweise Stadtwerken,
etwas zu tun. Auch sie können dann in Wärmenetze in-
vestieren, was vielleicht zu einem größeren diesbezügli-
chen Angebot in Städten und Gemeinden führt. Eine
wichtige Komponente in Verbindung mit der Förderung

von Wärmenetzen ist die Förderung von Kältenetzen;
das ist neu. Damit haben wir einen weiteren wichtigen
Ansatz mit aufgenommen.

Hier bieten wir ein Gesamtfördervolumen von
150 Millionen Euro an, damit in diese Bereiche stärker
investiert wird. Das macht dann Projekte auch wirt-
schaftlich, was derzeit in vielen Regionen nicht der Fall
ist. Damit werden wir in den nächsten Jahren meines Er-
achtens noch einmal einen Investitionsschub auslösen,
wie er auch heute schon besteht. In den letzten zwei Jah-
ren haben wir 797 Kilometer Wärmefern- und -nahnetze
ausgebaut. Mit einer Förderung in Höhe von 64 Millio-
nen Euro haben wir ein Investitionsvolumen von über
250 Millionen Euro erzielt. Das zeigt, dass das System
– zu bezahlbaren Preisen – funktioniert und vor Ort für
viel Effizienz sorgt.

Darüber hinaus wollen wir die Modernisierung von
Kraft-Wärme-Kopplung vorantreiben, alte, also beste-
hende fossile Kraftwerke zu Kraft-Wärme-Kopplungs-
anlagen umbauen, wie beispielsweise in Stade oder beim
Kraftwerk Staudinger; das bezieht sich auf die Projekte,
die ich vorhin genannt habe. Auch das ist sicherlich ein
Weg, um unseren bestehenden Kraftwerkspark zu mo-
dernisieren und um hier Investitionen zu ermöglichen.

Ein weiterer Punkt – er liegt mir ebenso wie Herrn
Hempelmann sehr am Herzen – ist die dezentrale Ener-
gieversorgung durch Mikro- und Mini-KWK-Anlagen;
sie sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirtschaftlich.
Auch da wollen wir etwas tun. Ich halte den im Gesetz-
entwurf verfolgten Ansatz, zu pauschalisieren, zu ver-
einfachen und zu entbürokratisieren, für richtig. Ganz
konkret: Wir versuchen, es den Kleinanlagen möglich zu
machen, zu investieren. Eine einfache Umsetzung der
Förderung soll ein Anreiz sein, schneller an Geld zu
kommen und Investitionen zu tätigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was für kleine Anlagen gilt, gilt auch für große Anla-
gen. Ab 2013 wird der Emissionshandel teilweise auch
für Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gelten. Das heißt,
wir müssen einen gewissen Ausgleich in Erwägung zie-
hen. Deshalb halte ich den im Gesetzentwurf verankerten
Ansatz, eine zusätzliche Vergütung von 0,3 Cent einzu-
führen, für richtig. Dadurch müssten größere Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen nicht stillgelegt werden; viel-
mehr könnte man schauen, wie beim Emissionshandel
für einen Ausgleich gesorgt werden kann.

Das Gute an all den Punkten, die ich genannt habe,
ist, dass wir einen Förderdeckel haben: 750 Millionen
Euro dürfen maximal ausgegeben werden. Das heißt, der
Verbraucher wird bis zu einem Betrag von maximal
750 Millionen Euro belastet. Ich erlaube mir die Rand-
notiz: Eine solche Förderobergrenze wünsche ich mir
auch für andere Bereiche, in denen wir ein bisschen effi-
zienter vorgehen sollten. Hier, bei der Kraft-Wärme-
Kopplung, funktioniert die Deckelung. Ich glaube, dass
wir gegenüber dem Verbraucher guten Gewissens sagen
können, dass wir damit auf der sicheren Seite sind, und
dass wir ihm eine KWK-Umlage von maximal 0,3 Cent
zugestehen können.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


Trotz aller Euphorie und Freude über die Kraft-
Wärme-Kopplung müssen wir uns in den nächsten zwei,
drei Jahren stärker darüber unterhalten, welchen Vorrang
die Kraft-Wärme-Kopplung bekommen soll. Wir werden
meines Erachtens immer mehr in einen Systemkonflikt
mit den erneuerbaren Energien hineingeraten; das stellen
wir schon heute in den Diskussionen mit Betreibern von
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen fest, beispielsweise mit
Industrieunternehmen, die sehr stark auf Kraft-Wärme-
Kopplung setzen. Wir haben einen Einspeisevorrang bei
den erneuerbaren Energien; dieser Vorrang war und ist
richtig. Wenn wir den Anteil der erneuerbaren Energien
in den nächsten Jahren auf 30 Prozent erhöhen wollen
und den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung auf 25 Pro-
zent steigern wollen, dann werden sich diese beiden
Systeme irgendwann einmal gegenseitig behindern. Zu-
künftig müssen wir Marktdesigns kreieren, um mehr
Wettbewerb im Energiemarkt zu ermöglichen.

Der vorliegende Gesetzentwurf wurde von der Mehr-
heit der einzelnen Betroffenen dieser Branche begrüßt;
das finde ich sehr gut. Auch die Opposition scheint kon-
struktiv mitarbeiten zu wollen. Insofern freue ich mich
auf die kommende Gesetzesberatung. Ich glaube, dass
sie für uns eine große Chance bedeutet. Sie ist ein weite-
rer Baustein auf dem Weg der Energiewende. Wir hatten
heute Morgen, ein Jahr nach Fukushima, eine große De-
batte dazu. Mit diesem Gesetzentwurf werden unsere
Pläne ganz konkret. Der richtige Ansatz ist, nicht da-
rüber zu diskutieren, wo wir aussteigen, sondern da-
rüber, wo wir einsteigen. In die Kraft-Wärme-Kopplung
steigen wir ein, und deshalb herzlichen Dank an die Re-
gierung für diesen Gesetzentwurf.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716511900

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter

von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716512000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Strom von unten ist die Devise der Energiewende. Die
Erzeugung des Stroms soll an erster Stelle natürlich re-
generativ geschehen: mit Windkraft, Solarzellen oder
Biomasse. Strom von unten kann es aber auch dezentral
auf Basis von Erdgas geben, vorzugsweise dann, wenn
nicht nur Strom erzeugt wird, sondern im gleichen Pro-
zess auch Wärme. Hierbei wird im Vergleich zur ge-
trennten Erzeugung viel CO2 eingespart. Wir reden von
der Kraft-Wärme-Kopplung, KWK.

Ich möchte eingangs eine Lanze für die Mini-KWK
und die BHKW, die Blockheizkraftwerke, brechen. Ei-
ner neuen Studie zufolge könnte ihr Einsatz die Bundes-
bürgerinnen und Bundesbürger allein bis 2020 um bis zu
eine halbe Milliarde Euro entlasten, wenn sie intelligent
vernetzt werden. Zudem sind sie eine Brückentechnolo-
gie par excellence.

In Verbindung mit Wärmespeichern können viele
kleine stromgeführte BHKW zusammengeschaltet als
flexibles virtuelles Kraftwerk fungieren, Stichwort
„Schwarmstromkonzept“. In Zeiten schwankender Ein-
speisung aus Windkraftanlagen – darüber wurde gerade
gesprochen – werden die Anlagen hoch- oder herunter-
gefahren, um die Differenz zum Strombedarf regional
auszugleichen. Sie können also zur Integration der er-
neuerbaren Energien in das Stromsystem beitragen. Weil
Energieerzeugung und -verbrauch ortsnah stattfinden,
könnte der Ausbau des deutschen Stromnetzes deutlich
bescheidener ausfallen als bislang geplant. Das ist also
ein weiterer Vorteil; denn der Strom muss nicht mehr so
weit transportiert werden, und dies wird eine Menge
Geld einsparen.

Der KWK-Zuschlag fließt jedoch nach dem vorlie-
genden Gesetzentwurf weiterhin nur unabhängig vom
Zeitpunkt der Erzeugung. Damit besteht aber weniger
Interesse für die Anwender, Beiträge zur Systemintegra-
tion – ich habe vorhin erklärt, was das ist – zu leisten,
sprich, in dem Augenblick Strom zu produzieren, in dem
in einer Region zu wenig Windstrom anfällt. Es ist sinn-
voll, wenigstens übergangsweise einen Flexibilitätsbo-
nus für virtuelle Kraftwerke zu zahlen, um einen Anreiz
dafür zu schaffen, die Mini-KWK in den Strommarkt zu
integrieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Deutsche Umwelthilfe hat einen Vorschlag für
eine Flexibilitätsprämie gemacht. Vielleicht schauen Sie
sich diesen einmal an, Herr Bareiß. Schwarmstromkon-
zepte sollen dann eine zusätzliche Förderung erhalten,
wenn sie erstens eine gemeinsame Steuerung haben und
zweitens ausgeschlossen ist, dass die KWK-Anlagen
wärmegeführt sind; denn dann würden sie sich nicht zur
flexiblen Fahrweise eignen. Auf der anderen Seite müs-
sen klassische wärmegeführte KWK-Anlagen auch vor
Maßnahmen des Netzmanagements geschützt werden,
etwa wenn Netzbetreiber bei Starkwinden die Abschal-
tung von Erzeugungsanlagen erzwingen. Auch darüber
haben Sie kurz gesprochen. KWK-Anlagen, die in ein
Fernwärmenetz einspeisen, dürfen jedoch nicht einfach
zwangsabgeschaltet werden, solange ihre Wärme der
Beheizung von Haushalten dient. Das geht dann natür-
lich nicht.

Aber das ist bisweilen schon passiert, beispielsweise
in Jena in diesem Winter. Im Rahmen des Erzeugungs-
managements des Netzbetreibers 50 Hertz Transmission
musste das örtliche Heizkraftwerk mehrere Tage herun-
tergeregelt werden. In den Wohnblöcken in Jena-Lobeda
zog darauf allmählich die Kälte ein. Das geht natürlich
überhaupt nicht. Das kann nun auch nicht Ergebnis der
Energiewende sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Immerhin umfasst der Regierungsentwurf erstmals
die Förderung von Wärme- und Kältespeichern. Dies ist
ein echter Fortschritt; denn die Wärmespeicherung für
stromgeführte KWK ist im Wettbewerb mit Heizkesseln
oft nicht wirtschaftlich, gleichwohl die CO2-Gesamtbi-
lanz bei KWK deutlich besser ist. Diese gute Treibhaus-





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


gasbilanz macht BHKW im Übrigen auch zu einer guten
Zwischenlösung, um schnell und preiswert CO2 im Ge-
bäudesektor einzusparen. Bei 20 oder 30 Jahre alten
Häusern dürfte es nämlich sinnvoller sein, zunächst auf
die KWK als Klimaschutzmaßnahme zu setzen, als im
Rahmen einer energetischen Sanierung funktionstüch-
tige Gebäudeteile herausreißen zu müssen. Darüber
muss man diskutieren.

Wir begrüßen zudem, dass der Gesetzentwurf zwei
Neuerungen enthält, die auch die Linke in der letzten
Wahlperiode gefordert hatte. Zum einen ist das Ziel von
25 Prozent KWK-Strom bis 2020 nun im Gesetz veran-
kert, zum anderen soll die Stromabnahmeverpflichtung
durch Netzbetreiber auch über die KWK-Förderzeit hi-
naus gelten. Ferner wurde für Kleinstanlagen bis 2 Kilo-
watt ein sinnvoller Investitionsanreiz geschaffen, indem
die Möglichkeit zur pauschalen Auszahlung der Zulage
für 30 000 Vollnutzungsstunden besteht. Damit steht den
Investoren das Geld direkt bei der Anlagenbeschaffung
zur Verfügung.

Hohe Liquidität bereits in der Investitionsphase, das
ist übrigens eines der Geheimnisse der Expansionsstrate-
gie chinesischer Anbieter in Deutschland beim Verkauf
von Photovoltaikanlagen. Die Chinesen haben Zah-
lungsziele von einem halben Jahr. Damit ist für die
Betreiber die Investitionsphase durchfinanziert – ein äu-
ßerst lukratives Geschäft. Vielleicht sollte die Bundes-
regierung zur Verteidigung der heimischen Solarmodul-
produktion entsprechende Kreditprogramme kreieren,
damit heimische Modulhersteller den Investoren ähnli-
che Konditionen bieten können.

Aber zurück zur KWK. Unverständlich ist, dass der
Deckel für die KWK-Förderung von 750 Millionen Euro
weiter bestehen bleibt. Ich sage dies angesichts der Tat-
sache, dass Deutschland momentan noch weit von dem
Ziel – KWK-Anteil von 25 Prozent – entfernt ist.

Halten wir uns vor Augen, dass die Abwärme des
deutschen Kraftwerksparks ausreicht, den gesamten Ge-
bäudebestand zu heizen, so wird klar, welche Potenziale
hier liegen. Wir als Linke stellen uns darum die Frage,
ob es ausreicht, dass das KWK-Gesetz nur als Förder-
instrument fungiert. Aus unserer Sicht ist es vielmehr
Zeit für verpflichtende Vorgaben für den Einsatz von
KWK sowie Wärme- und Kälteplänen. Ein solcher Rah-
men hat in anderen Ländern zu einem KWK-Anteil von
bis zu 50 Prozent geführt. Die EU-Kommission macht
Vorgaben in diese Richtung. Das müssen wir diskutie-
ren. Das wäre vernünftig.

Zum Schluss noch: Die Blockaden des Bundeswirt-
schaftsministeriums in Brüssel zeigen leider, dass zu-
mindest Herr Rösler von der Energiewende immer noch
nicht viel begriffen hat. Also: Lernen Sie sie, Herr
Rösler!


(Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. Klaus Breil [FDP] – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jetzt gehe ich! Wenn ich so was höre! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Unter Protest verlässt der Kollege den Saal! Das haben Sie nun davon! – Gegenruf der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Auf Wiedersehen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716512100

Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer von Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716512200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bareiß, ich hatte mir echt vorgenommen, hier ein-
mal ein nettes Wort über die Koalition zu sagen.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Kein Zwang! – Franz Obermeier [CDU/CSU]: Tun Sie sich keinen Zwang an!)


Aber nach Ihrem Beitrag fällt das wieder sehr schwer.
Das Einzige, was Ihnen beim Thema Kraft-Wärme-
Kopplung einfällt, ist – das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen –: Datteln und Staudinger.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Und alles zusammen!)


Das habe ich bei Ihnen gehört.

Zu Datteln sage ich Ihnen:


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Da wird es konkret!)


Eine schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-
Westfalen unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers – die
Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an ihn;


(Heiterkeit bei der SPD)


das ist schon ein bisschen länger her; der Mann ist ein
bisschen in der Versenkung verschwunden –


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!)


hat dort ein Kraftwerk gebaut,


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Er hat gebaut!)


zu dem alle zuständigen Gerichte gesagt haben, nicht aus
einem Grund, aus einem Dutzend von Gründen, dass das
ein offizieller Schwarzbau ist. Jetzt ist eine andere Lan-
desregierung, eine rot-grüne Landesregierung, dabei, mit
großem Aufwand und großer Sorgfalt die Fehler zu repa-
rieren. Das können Sie denen nicht vorhalten. Das sind
Ihre Fehler!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zum Thema Staudinger. Da unterlaufen genau die
gleichen Fehler. Da droht etwas Ähnliches. Wer ist da
verantwortlich? Mir ist neu – die Kollegin Maisch
könnte das wissen; ich habe es jedenfalls nicht mitbe-
kommen –, dass in Hessen die Grünen regieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wird demnächst dazu kommen, aber das ist noch
nicht der Fall. Auch da trägt Schwarz-Gelb die Verant-
wortung.





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Es geht hier um Kraft-Wärme-Kopplung, und da sind
Staudinger und Datteln allenfalls Randanekdoten, die
man erzählen kann, weil da auch ein paar Megawatt
Wärme ausgekoppelt worden sind.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Immerhin!)


Es geht um etwas ganz anderes.

Wir haben ein Ziel, nämlich 25 Prozent des Stroms
aus KWK zu erzeugen. Wir sind im Moment bei 13 oder
14 Prozent.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: 15 Prozent! – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: 15,8 Prozent!)


Wir wollen das in den nächsten acht Jahren mehr oder
weniger verdoppeln. Es gibt unterschiedliche Zahlen,
aber im Grunde geht es darum, dass wir das verdoppeln.
Wenn wir das schaffen, dann erledigen sich viele Fragen,
die in der Energiewende eine Rolle spielen, dann brau-
chen wir kein Kraftwerksförderungsprogramm, wie Sie
es wollen; denn wir schaffen das dann mit Kraft-Wärme-
Kopplung. Das funktioniert dann auch so. Das ist alle-
mal eine bessere Lösung, als fossile Kohlekraftwerke,
reine Kondensationskraftwerke, zu subventionieren, wie
Sie das vorhaben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Hier wird oft ein Gegensatz aufgebaut – das kam in
der Debatte bisher noch nicht, aber das hört man manch-
mal in den Diskussionen –, nämlich zwischen Kraft-
Wärme-Kopplung und erneuerbaren Energien. Ich sage
klipp und klar: Erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-
Kopplung ergänzen sich ideal, weil Kraft-Wärme-Kopp-
lung die Back-up-Kapazität darstellen kann, wenn der
Wind nicht weht, die Sonne nicht scheint und die Erneu-
erbaren nicht liefern können. Da sind die Speicherpoten-
ziale. Das müssen wir erschließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Das können wir vor allen Dingen
durch eine dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung schaffen,
indem wir in Millionen von Heizungskellern, in denen
noch alte Heizungsanlagen laufen, stromerzeugende
Heizungen bauen. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir rund
um die Ballungsgebiete – es wurden Datteln und Stau-
dinger, in der Nähe von Rhein-Main, erwähnt – Kohle-
kondensationskraftwerke bauen, und gleichzeitig heizen
wir mit teurem, aus Russland importiertem Gas schlecht
isolierte Wohnungen. Das müssen wir zusammenbrin-
gen. Da müssen wir jeden Keller zum Kraftwerk ma-
chen; Tausende Anlagen bauen. Es gibt viele Unterneh-
men, die solche Anlagen bauen. Diese Unternehmen
müssen wir stärken. Das muss das Ziel der Politik sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva BullingSchröter [DIE LINKE])


Dass das geht, belegen viele andere Länder, die eine
konsequente KWK-Politik betrieben haben, wie zum
Beispiel die Niederlande mit einem KWK-Anteil von

über 30 Prozent, Finnland mit einem ähnlich hohen An-
teil, Dänemark sogar mit einem Anteil von über 50 Pro-
zent. Unser 25-Prozent-Ziel in Deutschland ist dagegen
eher bescheiden. Das Problem ist, dass man es politisch
wollen muss. Herr Bareiß, hierzu habe ich von Ihnen
nichts gehört. Die letzten zwei Jahre dieser Regierung
waren für die Kraft-Wärme-Kopplung völlig verlorene
Jahre.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Hören Sie einmal zu!)


Sie haben ein Energiekonzept vorgelegt. In diesem
kommt die Kraft-Wärme-Kopplung nicht mehr vor. Sie
taucht lediglich in einem Nebensatz auf. Das ist die
Realität von Schwarz-Gelb. Sie mussten schmerzlich ka-
pieren, dass Sie ohne die Kraft-Wärme-Kopplung nicht
auskommen. Sie müssen an dieser Stelle etwas vorlegen,
wenn Sie die Energiewende halbwegs ernsthaft anstre-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Ergebnis ist – das hat der Staatssekretär gerade
mit entwaffnender Ehrlichkeit gesagt –, dass wir ein
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz haben, das schon lange
hätte novelliert werden müssen; denn es hat praktisch
seine Wirkung verloren. Die Umlagesumme pro Kilo-
wattstunde ist auf 0,032 Cent gesunken. Das sind Ihre ei-
genen Zahlen. Das sind drei hundertstel Cent. Hier pas-
siert praktisch nichts mehr. Es steht an der Stelle still,
weil Sie es verpasst haben, früher zu handeln. Genau das
ist das Problem. Jetzt legen Sie uns eine Gesetzesnovelle
vor. Hierzu sage ich ganz offen: Nach dem, was ich von
dieser Regierung in den letzten zwei Jahren erlebt habe,
ist dies schon etwas.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Dass überhaupt etwas kommt, kann man positiv sehen.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es muss gar nichts darin stehen, Hauptsache es kommt!)


An anderen Stellen – hier nenne ich das Erneuerbare-
Energien-Wärmegesetz und die Energieeffizienzrichtli-
nie – treiben Sie es in die andere Richtung. Da machen
Sie überhaupt nichts. Da blockieren Sie nur. Dass Sie
hier etwas vorlegen, ist immerhin etwas. In Schulnoten
ausgedrückt, würde ich es mit mangelhaft plus mit Ten-
denz zu ausreichend benoten. Immerhin kommt von Ih-
nen etwas.

Ich sage aber auch klipp und klar: Wer die Energie-
wende ernsthaft betreiben will, muss mehr tun als das,
was hier vorgelegt wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Hier gibt es in der Tat einige richtige Punkte. Es reicht
aber bei weitem nicht aus, wenn wir das 25-Prozent-Ziel
tatsächlich erzielen wollen. Ich will ein paar Beispiele
nennen: Wir brauchen eine Erhöhung der Fördersätze.
Ich glaube – das habe ich eben auch von der Bundes-





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


regierung gehört –, dass man das inzwischen selbst ge-
merkt hat. Man muss in allen Anlagenkategorien etwas
drauflegen, damit wir hier vorankommen, wenn tatsäch-
lich etwas passieren soll. Wir brauchen einen Flexibonus
als Anreiz zur Verbesserung und Nutzung der Speicher-
kapazität. Dort muss etwas passieren. Die Probleme mit
dem Netzanschluss für Klein-KWK-Anlagen müssen ge-
löst werden. Solange die bürokratischen Hürden beste-
hen bleiben, kommen Sie überhaupt nicht voran.

Last, not least ein ganz wichtiger Punkt: Sie wollen
zum ersten Mal die Wärmespeicher fördern. Das ist völ-
lig richtig. Das Mindestspeichervolumen von 5 Kubik-
metern betrifft aber nur die größeren Anlagen. Bei den
interessanten Klein-, Mini- und Mikro-KWK-Anlagen
kommen Sie überhaupt nicht voran. Hier muss mehr pas-
sieren.

Jenseits des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes muss
man noch auf einen Punkt hinweisen, der ganz wichtig
ist, der nicht in diesem Gesetz enthalten ist. Das ist das
Mini-KWK-Programm. In der Großen Koalition wurde
es von Herrn Gabriel eingeführt. Herr Röttgen hatte nach
seinem Amtsantritt nichts Besseres zu tun, als dieses
Programm nach langer Unklarheit wieder einzustamp-
fen. Jetzt führen Sie es wieder ein. Sie brauchen ein hal-
bes Jahr, um die Förderrichtlinie zu schaffen. Wir hören
jetzt, dass kein Geld im Energie- und Klimafonds vor-
handen ist. Wahrscheinlich wird am Ende wieder gar
nichts bezahlt werden können. So verunsichert man eine
junge, innovative Branche, die sich in den letzten Jahren
entwickelt hat. Das haben Sie in zwei Jahren geschafft.
Ihre Bremsspuren sind an allen Ecken und Enden zu er-
kennen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716512300

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716512400

Da kann ich nur an Sie appellieren, dass wir im Aus-

schuss eine konstruktive Beratung darüber hinbekom-
men, wie man das, was Sie hier vorgelegt haben – das
Gesamtkonzept Ihrer KWK- und Energiepolitik –, ver-
bessern kann. Ich hoffe, dass wir vielleicht eine vernünf-
tige Lösung im Sinne der Sache finden.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva BullingSchröter [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716512500

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus

Breil das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1716512600

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Mit der Novelle des KWK-Gesetzes passen wir die
schon bestehenden Anreize für Investitionen in hocheffi-
ziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an die Realität
an.

Hören Sie gut zu, Herr Kollege Krischer: Sie haben
davon gesprochen, was wir brauchen, ich werde jetzt
vortragen, was wir machen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie in der Vergangenheit verschwiegen!)


An unserem Ziel hat sich nichts geändert. Wir wollen
den Anteil der Stromerzeugung aus KWK bis 2020 auf
25 Prozent erhöhen. Aktuell liegen wir noch bei 16 Pro-
zent.

Bedauerlicherweise hat uns die Zwischenüberprüfung
gezeigt, dass wir auf der Basis des aktuell gültigen Ge-
setzes lediglich 20 Prozent erreichen werden.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Welche Überraschung!)


Ich persönlich – hören Sie zu, Herr Krischer –


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ganz Ohr!)


glaube das nicht; vielmehr glaube ich, dass bis 2020
mehr drin ist,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wissen, dass da mehr drin ist, aber nicht in Ihrem Gesetzentwurf!)


und dieses Potenzial wollen wir heben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sowohl Anlagen der allgemeinen Versorgung als auch
industrielle Anlagen könnten vielerorts noch Teile ihrer
Abwärme absetzen. Es bedarf lediglich genauerer Ana-
lysen. Wärmesenken sind häufig vorhanden, häufiger als
meistens angenommen wird. Gerade in meiner Heimat-
region, inklusive meiner Heimatgemeinde Bernried in
Oberbayern, mache ich die Erfahrung, dass viel mehr
Potenzial vorhanden ist, als bisher angenommen wurde.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau! Daran ist die CSU schuld!)


Allerdings – und das möchte ich an dieser Stelle deut-
lich sagen – verwahre ich mich gegen jede Verpflich-
tung, neue Kraftwerke mit Wärmeauskopplung bauen zu
müssen. Solchen Vorgaben wie in der EU-Energieeffi-
zienzrichtlinie müssen wir von vornherein entschieden
entgegentreten. Wir setzen eben nicht auf Zwang. Daher
wird es in der Novelle im Rahmen der Möglichkeiten
maßvolle Erhöhungen der Zuschläge geben. Es werden
fortan auch Nachrüstungen gefördert, sowohl bei Kraft-
werken der allgemeinen Versorgung als auch bei Indus-
trieanlagen.

Wir wollen mit der Novelle außerdem den Bau von
Wärmenetzen, der zuletzt ins Stocken geriet, und den
Bau von Wärmespeichern stärker unterstützen. Die Spei-
cher sind dabei besonders wichtig; dadurch können die
Anlagen bei unterschiedlicher Wärme- und Stromnach-
frage auch einmal nur stromgeführt gefahren werden.
Unser zukünftiger Energiemix mit zunehmender Ein-





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)


speisung fluktuierender Leistung braucht diese Flexibili-
tät.

Auf diese Anforderung reagieren die großen Versor-
ger im Übrigen auf ihre eigene Weise. In Essen – bei Ih-
nen, Herr Hempelmann –,


(Rolf Hempelmann [SPD]: „VoRWEg gehen“!)


in München, Stuttgart und Berlin rauchen nämlich die
Köpfe. Abseits der Ballungsgebiete sollen flächende-
ckend BHKW eingesetzt werden. Die einst marktbeherr-
schenden Akteure suchen sogar die Zusammenarbeit mit
den Kommunen. Sie tun dies aus der Erkenntnis heraus,
dass nur das zielführend sein kann. Das ist eine Art der
Rekommunalisierung, mit der ich mich anfreunden
kann. So viel zum Thema „Konterrevolution“, das Herr
Trittin heute Morgen ansprach – Herr Krischer, das kön-
nen Sie ihm ja einmal ausrichten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie sind ein Konterrevolutionär, oder wie?)


Die Sache hat noch einen weiteren positiven Neben-
effekt: Werden die skizzierten Pläne realisiert, bräuchte
man möglicherweise nur eine geringere Zahl an neuen
Gaskraftwerken, zum Beispiel auch in Bayern, wo ich
herkomme.

Interessant finde ich auch die Mini- und Mikro-
KWK-Anlagen bis 2 Kilowatt Leistung. Dort haben wir
die Rahmenbedingungen vereinfacht. Die Zuschlags-
zahlungen werden im neuen Gesetz pauschaliert.
„Schwarmstrom“ ist das Stichwort, unter dem mehr und
mehr Verteilnetzbetreiber den Einsatz von Mini- und Mi-
kro-KWK-Anlagen planen. In diesem Zusammenhang
finde ich auch den Vorschlag des Bundesrates, die För-
derung für Anlagen auf Brennstoffzellenbasis anzuhe-
ben, höchst interessant.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Vorre-
den der Opposition habe ich entnommen, dass wir uns
im Ziel einig sind; allein der Weg unterscheidet uns lei-
der wie so oft. Aber Sie können sicher sein, dass der
Ausbau der KWK wie die gesamte Energiewende bei
uns in guten Händen ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch ein Kalauer zum Schluss! – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagte der Wolf zum Schäfer!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716512700

Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1716512800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Breil, Sie

haben eingangs ein ehrliches Wort gesprochen, nämlich
dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wir
brauchen, und dem, was Sie tun. Das war durchaus ehrli-
cher als Ihre Schlusspointe.

Herr Bareiß, ich muss eines deutlich sagen: Sie kön-
nen sich darauf verlassen – das wissen Sie auch –, dass
wir versuchen, das Gesetzgebungsverfahren beim Thema
KWK konstruktiv zu begleiten. Es geht aber nicht, nun
zu sagen: Jetzt geht’s los! – Sie haben eben wieder ge-
sagt: Jetzt erfolgt der Einstieg in die Kraft-Wärme-
Kopplung. – Der Einstieg in die Förderung der Kraft-
Wärme-Kopplung ist vor mehr als zehn Jahren gesche-
hen. Eines, was Sie in dieser Legislatur gemacht haben,
war, den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durch die
Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke nach-
haltig zu behindern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE] – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Ach was! Unsinn!)


Sie haben doch im letzten Jahr sicher auch mit Vertretern
der Stadtwerke und anderen gesprochen: Viele Projekte
des Neubaus von KWK-Anlagen, die lange geplant wa-
ren, die in der Pipeline waren, sind daraufhin auf Eis ge-
legt worden. Das heißt, Sie haben den Ausbau der Kraft-
Wärme-Kopplung zunächst einmal nachhaltig behindert.

Ich sage aber ganz klar: Wir wollen jetzt nicht beim
Nachkarten bleiben, sondern nach vorn schauen. Ich
muss jetzt hier nicht noch einmal den Werbeblock für die
Kraft-Wärme-Kopplung einschieben; die Vorzüge sind
nachhaltig beschrieben worden. Herr Staatssekretär, ich
will Ihren Beitrag ausdrücklich würdigen. So eine Rede
von einem Staatssekretär Ihres Hauses hätte es hier vor
zwei Jahren noch nicht gegeben.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Natürlich hätte es das gegeben! – Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Von mir schon!)


– Das stelle ich ja lobend fest.

Sie sind jetzt sicherlich in einer Situation, in der Sie
an vielen Stellen erkennen, welche Weichenstellungen
notwendig sind, und wissen, woran das KWKG krankt.
Allerdings fehlt Ihnen noch ein bisschen der Mut, dann
die Maßnahmen konsequent zu Ende zu bringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Ich will auf einige Bereiche eingehen.

Ja, die Kraft-Wärme-Kopplung ist der ideale Partner
des Ausbaus der erneuerbaren Energien, insbesondere
der fluktuierenden erneuerbaren Energien; denn die
Kraft-Wärme-Kopplung ist bedarfs- und verbrauchsge-
recht steuerbar. Die Wärme ist heute schon speicherbar;
im Strombereich führen wir immer so eine tolle Debatte
über die Thematik der Speicherung. Im Wärmebereich
haben wir die Möglichkeit, vorhandene Speicherkapazi-
täten zu verbessern und auszubauen. Wir haben natürlich





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)


auch – das ist ein weiterer großer Vorteil – eine sehr
breite Brennstoffpalette. Ich sage einmal: Der Weg vom
fossilen Zeitalter ins Zeitalter der erneuerbaren Energien
ist mit der Kraft-Wärme-Kopplung darstellbar, nicht nur
mit fossilen Brennstoffen, sondern auch mit Technolo-
gien wie beispielsweise der Erdwärme.

Das alles wissen wir; das alles wurde von allen Frak-
tionen bestätigt. Wenn wir uns einig sind, dass die Kraft-
Wärme-Kopplung diese Rolle spielen soll, ist jetzt die
Frage zu stellen: Reicht denn das, was jetzt im vorgeleg-
ten Entwurf vorgesehen ist?


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Darüber reden wir!)


– Darüber reden wir. – Ich will deutlich machen, dass die
Verlängerung der Anmeldezeiträume bis 2020, die Sie
2011 durchgeführt haben – Kollege Bareiß hat das ge-
sagt –, ein erster wichtiger Schritt war; wir haben das da-
mals entsprechend unterstützt.

Entscheidend ist jetzt aber – ich beginne natürlich mit
dem Kernthema –, wie wir die Schaffung zusätzlicher
Kapazitäten im Markt tatsächlich anreizen. Der Kern
dieses Anreizes ist natürlich Cash, ist die Frage: Wie
werden wir die Fördersätze künftig ausgestalten? Da
muss man vorsichtig sein und schauen, was tatsächlich
angemessen ist und wo es wirtschaftliche Nachteile gibt.
Da muss man auch noch einmal in den Erfahrungsbe-
richt und in das Gutachten schauen. Leider werden im
Erfahrungsbericht und im Gutachten die Kraftwerkska-
pazitäten, die von besonderer Bedeutung sind, nur unzu-
reichend beleuchtet. Aber wir, ich denke, auch Sie, wis-
sen – das klang an –, dass wir hier zusätzliche Anreize
brauchen. Denn eines ist doch klar – das haben Sie selbst
gesagt –: Die Erhöhung der Zuschläge um 0,3 Cent, die
Sie jetzt im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz vorsehen, ist
nichts anderes als der Ausgleich einer Benachteiligung,
die über den Emissionshandel entsteht, aber kein zusätz-
licher Anreiz. Damit alleine werden Sie keine neuen Zu-
bauten schaffen. Das heißt, wir brauchen hier eine mode-
rate Erhöhung. Verbändeübergreifend werden Hausnum-
mern genannt. 0,5 Cent sind ein Betrag, der geringfügig
darüber liegt und der aus unserer Einschätzung erforder-
lich sein wird, um neue Projekte anzureizen, und – das
will ich bei Umlagedebatten sagen – der nicht dazu füh-
ren wird, dass wir mit der Umlage ein Problem bekom-
men.

Sie selbst haben die Entwicklung dargestellt. Ich will
noch einmal die absoluten Zahlen nennen. Wir haben
insgesamt 750 Millionen Euro pro Jahr als oberen De-
ckel für die Umlage vorgesehen. Nach den Prognosen,
die uns vorliegen, gehen wir ab dem Jahr 2011 in der
Summe auf eine Größenordnung von unter 150 Millio-
nen Euro zu. Wir haben also auch auf Basis dessen, was
in der Großen Koalition vereinbart wurde, genügend Po-
tenzial im Markt.

Ich möchte jetzt einige Punkte und konkrete Vor-
schläge meiner Fraktion zur Verbesserung des vorgeleg-
ten Entwurfes aufgreifen; eines klang auch bei Herrn
Breil an. Richtig ist, dass wir in dem veränderten Ener-
giemarkt jetzt auch stärker auf die stromgeführte Kraft-

Wärme-Kopplung gucken müssen, um gerade die Flexi-
bilität im Strommarkt abzubilden. Das heißt allerdings,
dass wir für die stromgeführte KWK einen zusätzlichen
Anreiz brauchen werden. Wir schlagen daher an dieser
Stelle vor, die Vergütung nicht erneut unterschiedlich zu
gestalten, sondern die Zahl der anrechnungsfähigen Voll-
benutzungsstunden von 30 000 auf 40 000 auszudehnen.

Für uns ist es ein großes Problem, dass der Ausbau
der Mini- und Mikro-KWK sowie der industriellen
KWK mit ihren großen Potenzialen durch diesen Ent-
wurf nicht hinreichend angereizt wird. Aus welchem
Grund? Gerade im Bereich der industriellen KWK ist es
künftig so: Wenn ein industrieller KWK-Betreiber bei-
spielsweise Unternehmen der chemischen Industrie ver-
sorgt, die selber dem Emissionshandel unterliegen, dann
kommt er nicht in den Genuss dieser Begünstigung. Also
lohnen sich zusätzliche Investitionen für ihn schlichtweg
nicht. Wir glauben, dass Anreize für diese Kraft-Wärme-
Kopplungsanlagen der Industrie geschaffen werden
müssen.

Ebenso müssen zusätzliche Anreize für die Mini- und
Mikro-KWK geschaffen werden. Schwarmstrom toll zu
finden, ist das eine. Dann muss man im Gesetz allerdings
auch abbilden, wie man die nachweisbaren Benachteili-
gungen beseitigt. Das heißt, auch für den Ausbau der
Mini-KWK brauchen wir eine zusätzliche Förderung.
Wir schlagen vor, diese mit einem sogenannten System-
dienstleistungsbonus zu kombinieren und, sofern kleine
Mini-KWK-Anlagen im Markt regelbar Systemdienst-
leistungen erbringen, hierfür zusätzlich 2 Cent vorzuse-
hen.

Zwei Punkte zum Schluss, die in dieser Debatte im-
mer wichtig sind. Zunächst zur Frage, wie wir Moderni-
sierungen stärker anreizen. Ja, Sie haben einen richtigen
Schritt gemacht. Sie haben die Grenze, die im alten
KWKG war – für Modernisierung mussten 50 Prozent
der Kosten für einen Neubau ausgegeben werden –, auf
25 Prozent abgesenkt. Ich glaube, dass wir auch damit
weitere Potenziale verschwenden. Denkbar ist, auf
10 Prozent zu gehen, mit einem gleitenden Anstieg. Ich
bitte, das zu überlegen. Wir werden diese Vorschläge si-
cherlich auch nach der Anhörung machen.

Wir verschenken an zwei Punkten Potenziale. Das gilt
zum einen für die Speicherförderung. Es macht keinen
Sinn, die förderfähige Speichergröße nach unten zu be-
grenzen; das hat der Kollege Krischer vorhin deutlich
gemacht. Nun ist eine Größe von 5 Kubikmetern vorge-
sehen. Eine Förderfähigkeit muss allerdings auch bei
kleineren Anlagen gegeben sein, um auch die Betreiber
kleinerer KWK-Anlagen und Schwarmstromnutzer zu
erreichen.

Zum anderen darf die Fördersumme nicht auf 5 Mil-
lionen Euro je Projekt gedeckelt werden. Denn es gibt
auch größere Speicher, die wir brauchen und die wichtig
sind. Daher glauben wir, dass diese Begrenzung ebenso
nicht erforderlich ist wie die Begrenzung der Investi-
tionszuschüsse für den Netzausbau. Auch diese Summe
ist in ihrer Höhe gedeckelt. Das verhindert, dass gerade
große Potenziale ausgeschöpft werden; beispielsweise
könnten in Nordrhein-Westfalen vorhandene Anlagen
ausgebaut werden. Auch hierzu werden wir Vorschläge
machen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716512900

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1716513000

Herr Präsident, das will ich gerne machen. – Ich

komme zum Ergebnis: An vielen Stellen haben Sie die
Schwachstellen erkannt. Um diesen Entwurf allerdings
gut auszugestalten und zu erreichen, dass wir gemein-
sam das Ziel von 25 Prozent KWK-Strom erreichen,
müssen wir Nachbesserungen vornehmen. Ich habe ei-
nige wenige genannt. Ich hoffe, dass Ihr Angebot, konst-
ruktiv mit der Opposition zusammenzuarbeiten, dann
auch in der Praxis gilt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716513100

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1716513200

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es waren

eine bemerkenswerte Diskussion und eine bemerkens-
werte Beratung in diesem Hause, Herr Becker. Die kons-
truktive Art war wohltuend. Herr Staatssekretär, ich
danke Ihnen.

Die Bundesregierung legt heute einen offenbar ausge-
sprochen guten Gesetzentwurf vor.


(Klaus Breil [FDP]: So ist das!)


Herr Staatssekretär, Ihr Angebot, dass wir in der Be-
ratung über die einzelnen Punkte noch reden können,
werden wir sicher annehmen. Es ist in der Tat so, dass
man über eine ganze Reihe von Details durchaus noch
reden kann. Es ist auch nicht so – wie von Herrn
Krischer dargelegt –, dass für uns die Stromerzeugung
durch Kraft-Wärme-Kopplung und die Stromerzeugung
durch die erneuerbaren Energien etwas Gegensätzliches
ist. Ich vertrete eher die umgekehrte Auffassung: Wenn
wir das Ganze klug gestalten, dann wird die Kraft-
Wärme-Kopplung einen nennenswerten Beitrag zum
Ausgleich der volatilen Stromerzeugung im Bereich er-
neuerbare Energien leisten können. Die zentrale Frage
ist: Wie bekommen wir das hin? Darauf werden wir in
der parlamentarischen Beratung und in der Anhörung
unseren Schwerpunkt legen.

Wir meinen es mit der Energiewende ernst. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie wer-
den sich daran gewöhnen und Ihre Standardreden um-
schreiben müssen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


In der nächsten Zeit werden Sie sich häufig mit von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzesvorlagen befas-

sen müssen, aus denen hervorgeht, wie wir die Instru-
mente zum Gelingen der Energiewende einsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da freue ich mich drauf! – Rolf Hempelmann [SPD]: Wird auch Zeit!)


Wir werden nicht mehr auf pauschale Vorwürfe eingehen
müssen, beispielsweise auf den Vorwurf, dass es zu
lange gedauert hat, bis wir eine Novelle zum Kraft-
Wärme-Kopplungsgesetz hinbekommen haben.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Ein einfaches Geständnis reicht!)


Herr Staatssekretär, mir ist es schon lieber, wenn die
Bundesregierung mit der Vorlage von Gesetzesentwür-
fen wartet, bis eine fundierte Grundlage aufgrund von
Erfahrungsberichten vorliegt, damit wir in der parlamen-
tarischen Beratung relativ rasch zu guten Ergebnissen
kommen. Ich möchte eine vernünftige Basis für die an-
stehenden Entscheidungen haben.

Es stimmt nicht, dass der Bundesregierung der Mut
fehlt. Wir beraten eine ganze Reihe von Novellen, durch
die wir zielorientiert an das Gelingen der Energiewende
herangehen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie uns doch ein paar Beispiele! Wir sind so gespannt!)


Ich will nicht auf die sieben wesentlichen Punkte der Ge-
setzesnovelle eingehen – sie wurden schon mehrfach ge-
nannt –; vielmehr möchte ich auf die Frage eingehen,
wie es uns gelingen kann, dass wir die Kraft-Wärme-
Kopplung stärker unter dem Aspekt der Stromführung
sehen, wie wir mit dem angebotenen Instrument der För-
derung der Erhöhung der Speicherkapazitäten stärker
dazu beitragen können, dass aus diesem Bereich größere
Mengen an Strom nachgeführt werden, sobald bei der
Stromerzeugung im Bereich der erneuerbaren Energien
Schwankungen entstehen.

Die Kraft-Wärme-Kopplung hat mit Sicherheit eine
neue Bedeutung bekommen. Über die Frage, ob wir die
Grenze für die Förderfähigkeit von 30 000 Kilowattstun-
den auf 40 000 Kilowattstunden erhöhen können, müs-
sen wir reden. Das scheint ein interessanter Ansatz zu
sein. Dies müsste man einmal ausrechnen.

In diesem Zusammenhang interessiert mich die Frage
– das werden wir in der Anhörung klären –: Wo genau
liegen die wirklichen Potenziale? Liegen sie im Groß-
kraftwerksbereich, für den es eine Anhebung der Um-
lage zum Ausgleich des Zertifikatehandels geben soll?
Oder bieten die Minikraftwerke die besseren Chancen?

Im Bereich Minikraftwerke haben wir einen technolo-
gischen Prozess hinter uns. Nach meinen Informationen
sind die Minikraftwerke in den zurückliegenden Zeiträu-
men immer besser geworden. Auch wir müssen noch ei-
nen Lernprozess durchlaufen. Ich wehre mich prinzipiell
nicht dagegen, im Bereich Minikraftwerke ganz konkret
über eine direkte Förderung nachzudenken.





Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)


Der Gesetzentwurf wurde im Plenum sehr positiv auf-
genommen, Herr Staatssekretär. Ich meine, wir sollten in
der parlamentarischen Beratung die sachliche Auseinan-
dersetzung in der Form, in der wir das in dieser Stunde
getan haben, fortsetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716513300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8801 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Musikförderung durch den Bund

– Drucksachen 17/4901, 17/7222 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Siegmund Ehrmann von der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1716513400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wer viel fragt, kriegt viele Antworten“, so die Über-
schrift einer ersten Analyse der Antwort auf die Große
Anfrage der SPD-Fraktion zur Musikförderung durch
den Bund in der Neuen Musikzeitung. In der Tat haben
wir ein breit gefächertes Spektrum von Fragen unterbrei-
tet. Für die umfassenden Antworten der unterschiedli-
chen Ressorts und der unterschiedlichen Förderinstitu-
tionen bedanke ich mich ausdrücklich bei allen, die
daran mitgewirkt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Zunächst einmal möchte ich diese Debatte einordnen
und daran erinnern, dass die Bundesmusikförderung uns
bereits in der letzten Legislaturperiode grundlegend be-
schäftigt hat. Seinerzeit haben wir in der Großen Koali-
tion gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der
Union einen Antrag unterbreitet, der insbesondere da-
rauf ausgerichtet war, der populären Musik seitens des
Bundes mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Aus diesem
Impuls ist die „Initiative Musik“ entstanden, die mittler-
weile mächtig Fahrt aufgenommen hat. Seitdem wurde

das Thema „Musikförderung durch den Bund“ wieder-
holt im Ausschuss behandelt. Ich nenne nur die Stich-
worte „Bundeskulturstiftung“ und „JeKi“ und erinnere
an diverse Debatten mit Vertretern des Deutschen Mu-
sikrates und der „Initiative Musik“, aber auch an Ge-
sprächsrunden, zum Beispiel mit Vertretern der Bundes-
konferenz Jazz.

Nachdem wir uns mit einer Fülle von Einzelaspekten
befasst haben, ist es nun an der Zeit für eine Bestands-
aufnahme. Es ist Zeit für eine Gesamtschau der Musik-
förderung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wel-
che Ziele die Bundesregierung mit ihrer Förderung
verfolgt. Nach welchen Kriterien fördert sie Musik, und
welche Schwerpunkte setzt sie dabei? Kurz: Welches
Konzept liegt der Musikförderung des Bundes zu-
grunde?

Ich will mich in meinem Debattenbeitrag im Wesent-
lichen auf die Fragen der Musikförderung beschränken.
In der Großen Anfrage sind noch andere wichtige
Aspekte angesprochen worden, zum Beispiel die wirt-
schaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und
Künstler oder Fragen zu den rechtlichen Rahmenbedin-
gungen, zum Beispiel zum Urheberrecht. Es wird sicher-
lich andere Gelegenheiten geben, um darüber an dieser
Stelle vertieft zu debattieren. Ich konzentriere mich auf
die Frage der Musikförderung.

Zunächst möchte ich einen Überblick geben. Die Ant-
wort der Bundesregierung zeigt das breite Spektrum des
Engagements für die Musik. Rund 44 Millionen Euro
wurden im Jahr 2010 für Konzerte, Festspiele, Wettbe-
werbe, für die Arbeit der Verbände und für Forschungs-
projekte aufgewandt – von der Klassik und neuer Musik
über Jazz, Pop und Rock bis zu Electro und Hip-Hop;
viele Genres sind davon betroffen. Einige Formate
werden institutionell gefördert, andere erhalten einmalig
oder wiederholt Projektförderung. Der BKM ist betei-
ligt. Eine Fülle von Ministerien ist auf diesem Gebiet
unterwegs. Es gibt aber auch wichtige Institutionen, die
gewissermaßen als Förderagenturen für die Bundes-
regierung tätig werden, zum Beispiel die Kulturstiftung
des Bundes, der Deutsche Musikrat oder die „Initiative
Musik“, die ich schon erwähnte. Bezogen auf Berlin
nenne ich die Kulturveranstaltungen des Bundes in
Berlin GmbH und den Hauptstadtkulturfonds. Man kann
die allgemeinen Ziele der Musikförderung, die man in
der Antwort der Bundesregierung findet, einfach nur un-
terstreichen. Es geht um die Wahrung des kulturellen Er-
bes auch in der Musik, es geht um die Förderung und
Entwicklung der zeitgenössischen Musik und ihre
Rezeption, und es geht auch um die Präsenz der Musik
in der auswärtigen Kulturpolitik. Das ist überhaupt nicht
streitig.

Aber die Antwort der Bundesregierung auf unsere
Frage nach Konzepten und Kriterien der Musikförde-
rung stellt uns – das muss ich deutlich sagen – nicht zu-
frieden. Sie offenbart tatsächlich ein Förderkonzept,
auch wenn es nicht explizit so genannt wird, aber es ist
ein, wie ich finde, sehr zweifelhaftes Förderkonzept, das
im Wesentlichen auf drei Regeln basiert.





Siegmund Ehrmann


(A) (C)



(D)(B)


Die erste Regel lautet: Jeder, wie er meint.


(Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Unterschiedliche Entscheidungsträger in unterschiedli-
chen Ministerien oder beauftragten Institutionen be-
schließen ohne einen übergreifenden Plan, ohne eine
übergreifende Idee, wen sie in welcher Weise fördern,
und vor allen Dingen, in welcher Höhe. Dabei koordinie-
ren sie sich, so steht es in der Antwort, allenfalls „anlass-
bezogen“, was immer das heißen mag. Es ist – einmal
abgesehen vom Deutschen Musikrat, der Kulturstiftung
des Bundes und der „Initiative Musik“ – nicht immer
klar, an welchen Kriterien sich Förderentscheidungen
orientieren.

Nur ein Kriterium taucht wie ein roter Faden in den
verschiedenen Antworten auf: die gesamtstaatliche Be-
deutung. Natürlich sind die Länder in unserer föderalen
Ordnung vorrangig in Obligo, aber es bleibt offen, wann
und in welchem Maße es gerechtfertigt ist, dass sich der
Bund mit einem begründeten Interesse engagiert. Dieser
Frage weicht die Bundesregierung aus. Dafür, worin ge-
nau das Bundesinteresse besteht, lässt sich ein Zitat
finden: Das „lässt sich angesichts der Vielfalt der Sach-
verhalte nicht verallgemeinern.“ So schreibt es die Bun-
desregierung in ihrer Antwort. Aber wenn sich die Ver-
antwortung des Bundes gewissermaßen subsidiär aus der
Verantwortung der Länder ableitet, wie es gestern der
Staatsminister in unserem Ausschuss ausdrücklich be-
tont hat, dann müssten sich die Länder ihrer fördernden
Eigenverantwortung bewusst sein und ihr nachkommen.

Ich will das an einem Beispiel darstellen. Man muss
klären, ob diese Art und Weise der Förderung durchgän-
gig der Fall ist. Das Festival JazzBaltica – es findet,
Wolfgang Börnsen, in deinem wunderschönen Schles-
wig-Holstein statt –


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Hervorragendes Festival!)


ist sicherlich ein tolles Festival. Es ist durch schwere
Krisen gegangen. Ich begrüße es außerordentlich, dass
sich der Bund für das Jahr 2012 zu einer Anschubfinan-
zierung für das Festival durchgerungen hat. Aber wie
steht es – Stichwort „Subsidiarität“ – um die Verantwor-
tung des Landes Schleswig-Holstein? Die Stadt Tim-
mendorfer Strand ist mit 75 000 Euro dabei. Das Land
Schleswig-Holstein ist sozusagen Nutznießer des
Marketings durch das Festival, aber aktives Handeln,
eine finanzielle Unterstützung ist nicht zu erkennen.

Auch andere Festivals haben nationale und internatio-
nale Bedeutung. Kommunen und Länder finanzieren sie
erheblich; gleichwohl werden diese nicht durch den
Bund gefördert. Was sind also die Kriterien für eine
Förderung? Ist die konkrete Förderentscheidung im Ver-
gleich zu ähnlich gelagerten Projekten nachvollziehbar
und gerecht? Diese Fragen bleiben offen.

Die zweite Regel lautet: Das haben wir schon immer
so gemacht. Das verdeutliche ich anhand des sogenann-
ten Omnibusprinzips. Dies gilt insbesondere für die in-
stitutionelle Förderung. Das heißt, wenn jemand dauer-

haft institutionelle Förderung bekommt, ist diese auch
langfristig gesichert. Eine neue institutionelle Förderung
ist nur vorstellbar, wenn eine andere wegfällt. Nur wenn
jemand anders aussteigt, kann ein Neuer einsteigen. Das
bedeutet, dass ohne kritische Reflexion einige wenige
seit vielen Jahren eine institutionelle Förderung erhalten;
alle anderen haben Pech und können allenfalls jedes Jahr
erneut Projektanträge stellen. Permanente Projektverlän-
gerung bindet den Bundeshaushalt ohnehin.

Dies hat zwei Effekte. Auf der Seite der Antragsteller
ist es Planungsunsicherheit – bekomme ich eine Zuwen-
dung? –, also ein wirtschaftlicher Effekt. Der zweite Ef-
fekt ist ein kolossaler Verwaltungsaufwand in einer Zeit,
in der man Bürokratie eigentlich abbauen möchte. Dies
ist also wirtschaftlich und administrativ problematisch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieses Prinzip – das haben wir schon immer so ge-
macht – verfestigt die Förderstrukturen und Ungleich-
gewichte zwischen der Förderung des kulturellen Erbes
durch die klassische Musik und den neueren Genres.
Natürlich ist die Pflege des kulturellen Erbes wichtig,
aber wir tragen auch eine Verantwortung für die zeitge-
nössische Musik. Dem steht das starre Fördersystem im
Wege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin die
„Initiative Musik“ angesprochen. Auf sie wird immer
dann verwiesen, wenn es um populäre Musik geht. Sie
macht auch gute Arbeit; das will ich überhaupt nicht be-
streiten. Aber sie kann längst nicht all das stemmen, was
ihr aufgebürdet wird. Die jährliche Zuwendung liegt in
diesem Jahr bei etwa 1,5 Millionen Euro; sie kommt
übrigens aus dem Etat des BKM, also des Kulturstaats-
ministers. Die „Initiative Musik“ hat nicht vorrangig
eine kulturfördernde Funktion, sondern eher eine kultur-
wirtschaftliche Dimension. Ich erlaube mir an dieser
Stelle, die Frage aufzuwerfen, wieso der Etat des Wirt-
schaftsministers dafür nicht stärker herangezogen wird.
Das ist zumindest eine Frage, über die wir einmal disku-
tieren sollten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Zwischen dem Aufsichtsrat der „Initiative Musik“
und der Bundeskonferenz Jazz finden Dialoge statt.
Allerdings gibt es hier nach wie vor kulturpolitischen
Diskussionsbedarf; damit müssen wir uns auseinander-
setzen. Diese Diskussionen darf man nicht einfach, wie
in einer Hamsterrolle, in Gremien hineinschieben, son-
dern wir müssen uns mit diesen Fragen auch in der
Kulturpolitik aktiv beschäftigen. Die entsprechenden
Debatten sind bereits aufbereitet. Es geht zum Beispiel
um die Fragen: Wie sieht es eigentlich mit der Spielstät-
tenförderung aus? Inwieweit kann man den Bund hier
ernsthaft in die Verantwortung nehmen? Ich will die
Antworten nicht vorwegnehmen; aber diese Debatte
muss geführt werden. Es gibt einen weiteren Streitpunkt.
Was steht im Vordergrund: die Künstlerförderung oder





Siegmund Ehrmann


(A) (C)



(D)(B)


die Infrastrukturförderung? Auch diese Debatte muss
geführt werden. Ich glaube, hier ist die Musikpolitik des
Bundes gefordert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Herbst letzten Jahres hat sich der Deutsche Kom-
ponistenverband hilfesuchend an den Staatsminister ge-
wandt und auf die Probleme der neuen Musik aufmerk-
sam gemacht. Der Staatsminister hat diese Nöte in
seinem Antwortschreiben grundsätzlich anerkannt und
angeregt, dass man über die richtigen Schritte und vor-
dringlichen Konzepte auch öffentlich diskutieren müsse.
Genau darum geht es. Das ist eine richtige Feststellung.
Es geht um eine öffentliche Debatte darüber, welche
Schwerpunkte der Bund künftig in der Musikförderung
setzt. Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrem Hause ge-
nug Expertise, um diese Debatte zu führen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Er ist leider nicht da! – Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Der Staatsminister ist nicht da! Sein Stuhl ist leer! – Gegenruf des Abg. Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Also wirklich! Das ist ja so was von kleinlich!)


– Ich muss sagen: Mir ist im Vorfeld signalisiert worden,
dass er aufgrund einer Terminkollision nicht hier sein
kann.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Eben! Das wussten wir doch!)


Allerdings verdient dieses Thema natürlich auch seine
Präsenz in diesem Hause.


(Christoph Poland [CDU/CSU]: Aber wir haben alle gewusst, dass er nicht kann! Dafür war er ja heute Morgen da!)


Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716513500

Herr Kollege.


Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1716513600

Die dritte Regel des Förderkonzepts lautet: Kontrolle

ist gut, Vertrauen ist besser. Auch was die Evaluation be-
trifft, besteht dringender Klärungsbedarf. Eine Evalua-
tion wird von der Bundeskulturstiftung und der „Initia-
tive Musik“ durchgeführt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716513700

Herr Kollege!


Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1716513800

Ich komme zum Schluss.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716513900

Nicht dass Sie nach Ablauf Ihrer Redezeit noch einen

vierten Punkt ansprechen. Das war mir jetzt zu heikel.


Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1716514000

Nein, Frau Präsidentin. Schönen Dank für Ihr Ver-

ständnis. – Ich führe meinen Gedanken ganz kurz zu
Ende: Es ist sehr wichtig, dass wir uns mit den Ergebnis-
sen der Evaluation durch die Bundeskulturstiftung und
die „Initiative Musik“ auseinandersetzen. Kurzum: Was
nach dieser Anfrage nottut, ist, dass der Ausschuss mit
allen Akteuren in einen intensiven gemeinsamen Dialog
über die künftige Ausrichtung der Musikförderung ein-
tritt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716514100

Der Kollege Wolfgang Börnsen hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1716514200

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Mit Ihrer

freundlichen Zustimmung möchte ich in das Thema
Musik auf besondere Weise einführen.


(Der Redner intoniert „Viva la Musica!“ – Heiterkeit und Beifall – Zurufe: Bravo!)


Man könnte das auch als Kanon singen. Leider lässt die
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages das nicht
zu.


(Zurufe: Oh! – Wie schade!)


Es gäbe zwischen uns nicht einmal Misstöne.


(Gisela Piltz [FDP]: Na ja! Das kann ich nur für uns sagen!)


Ich möchte mit einer Bemerkung beginnen, die an das
anschließt, was Siggi Ehrmann gesagt hat. Siggi
Ehrmann, es ist richtig, manche Komposition im Bereich
der politischen Musikförderung ist überprüfenswert.
Vergiss aber nicht, Siggi: Die Grundlagen für die Musik-
förderung nach diesen Kriterien haben drei sozialdemo-
kratische Staatsminister gelegt. Jetzt soll ein christdemo-
kratischer Staatsminister das regeln. Vergiss nicht: Die
Sozialdemokraten haben in der Großen Koalition diese
Art der Förderung auch begrüßt. Die Einlassung, dass
das überprüfenswert ist, teilen wir, und wir werden uns
auch aktiv beteiligen.

Deutschland ist ein starkes Musikland. Über 7 Millio-
nen Mitbürgerinnen und Mitbürger musizieren oder sind
in Chören engagiert. Unsere Orchesterlandschaft mit
750 erstklassigen Sinfonie- und Staatsorchestern ist
weltweit einzigartig. Über 50 000 Rock-, Pop- und Jazz-
bands, fast 50 000 Kirchen-, Laien- und Profichöre sind
von Flensburg bis Freiburg aktiv. 60 Millionen Men-
schen hören jährlich Chorkonzerte in unserem Land.

Die Musikwirtschaft unseres Landes mit einem Um-
satz von fast 6 Milliarden Euro gehört zur Weltspitze.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Wolfgang Börnsen (Bönstrup)



(A) (C)



(D)(B)


Erfreulich und ermutigend ist, dass jeder vierte Ju-
gendliche in Deutschland selbst Musik macht. Das ist
ein tolles Ergebnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Dank der Unionsfraktion und sicher auch des
ganzen Hauses gilt den Musikverbänden, den Vereinen,
den Musikschulen und -erziehern, den Chorleitern und
Dirigenten, die alle zu einer klingenden Republik beitra-
gen.

Musik bildet, verbindet, begeistert, baut Brücken zu
den Migranten und zwischen den Generationen.

Die Große Anfrage weist nach, das Notenbuch der
Bundesregierung ist wohlfeil geschrieben, auch wenn
manche Komposition überarbeitet werden muss. Allein
die jährliche Bundesförderung beträgt 44 Millionen
Euro. Noch umfangreicher sind die Leistungen der
Kommunen und der Länder.

Verdienstvoll hat sich die Bundeskulturstiftung der
zeitgenössischen Musik angenommen, und zwar mit
42 Millionen Euro in den vergangenen Jahren. Engagiert
und ideenreich trägt der Deutsche Musikrat, der weltweit
größte Kulturverband dieser Art, zu einem vielfältigen
Musikleben bei und rechtfertigt damit die jährliche Bun-
desförderung von über 4 Millionen Euro.

Auch wenn die Musikförderung verfassungsgemäß
auf Projekte von gesamtstaatlicher Bedeutung be-
schränkt sein muss, ist es dem amtierenden Staatsminis-
ter gelungen, neue Akzente zu setzen. Kulturförderung
ist zugleich Musikförderung. Die Abgrenzung zwischen
allein auf die Kunst ausgerichteter Kulturförderung und
dem Wachstumsmarkt der Kreativ- und Kulturwirtschaft
ist gefallen. Die Tür für viele neue Arbeitsplätze ist da-
mit geöffnet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die vor fünf Jahren gegründete „Initiative Musik“,
die über 450 Maßnahmen im populären Bereich präsen-
tieren kann, ist beispielgebend dafür. Neben Bernd
Neumann, Hans-Joachim Otto, Monika Griefahn hat
Dieter Gorny wesentlich zu dieser Erfolgsgeschichte
beigetragen.

Einen Boom erfahren derzeit die über 1 000 öffentli-
chen und privaten Musikschulen mit über 1 Million
Schülerinnen und Schülern. Wartelisten gibt es jedoch
nicht allein für die Jungen, sondern auch für die Senio-
ren. Die Zahl ihrer Bewerbungen hat sich verdoppelt.
Auch bei ihnen gibt es Engpässe.

Musik wird als lebensbereichernd empfunden.

Bei der Musikeinzelförderung durch den Bund sind
drei sogenannte B-Standorte besonders bemerkenswert.
Berlin erhält bedingt durch den Hauptstadtvertrag mit
jährlich gut 16 Millionen Euro die höchste Zuwendung.
Es folgen Bonn – NRW eingeschlossen – und Bayerns
Bayreuth, derzeit eine komplizierte Baustelle, musika-
lisch jedoch von internationaler Bedeutung.

Diese Einschätzung teilte auch Bundeskanzler
Gerhard Schröder, der als erster Kanzler diesen Opern-

tempel im Jahr 2003 besuchte und ihm seinen Regie-
rungssegen gab. Beobachter der Premiere registrierten
damals, dass die „Schwarze“ Frau Merkel in Grün ge-
kommen war, die „Grüne“ Roth in Pink und der „Rote“
Schily im Smoking. Das fraktionsübergreifende Be-
kenntnis zu den Bayreuther Festspielen von damals
sollte auch heute noch halten; denn die weltweite Bedeu-
tung von Richard Wagner hat sich nicht geändert. Des-
wegen bin ich für eine Gemeinsamkeit in Bayreuth.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Neben der Auffassung zum Handlungsfeld Bayreuth
und zu einer verbesserten Perspektive für den Jazz teilen
wir auch die Auffassung des Deutschen Musikrates zur
Reform des Urheberrechtes: „Stillstand entrechtet Urhe-
ber“ – so seine These; „ohne Komponisten keine Mu-
sik“.

Die Piraterie im Netz ist eine Herausforderung für
den Kultur- und den Arbeitsmarkt in Deutschland – und
für den Standort ebenso. 900 Millionen Songs wurden
alleine 2010 illegal im Netz genutzt. Die Musikwirt-
schaft erleidet jährlich einen Schaden von 90 Millionen
Euro. Sachkenner sagen für alle Kulturbereiche – Film
und Theater eingeschlossen – einen jährlichen Verlust
von insgesamt 70 000 Arbeitsplätzen voraus. Diese Ent-
wicklung vernichtet Arbeitsplätze, entmutigt die Kreati-
ven und schadet unserem Land.

Das gilt auch für eine andere Sache: Das Jahresein-
kommen von Musikern in Deutschland ist mit
11 500 Euro ausgesprochen dürftig. Das gilt es, zu ver-
bessern. Das gilt auch für die Einkommen der Lehrbe-
auftragten an den 24 Musikhochschulen. Wir haben der
KMK geschrieben und hätten es für aufrichtig gehalten,
wenn die Fraktion der Grünen darauf aufmerksam ge-
macht hätte, dass sie in den Ländern ebenfalls eine Mit-
verantwortung trägt; denn die Lehrbeauftragten sind
Ländersache.


(Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Baden-Württemberg hat den Antrag gestellt!)


Die Musik – damit komme ich zum Ende – steht bei
der jungen Generation gleich nach der Freundschaft an
zweiter Stelle – weit vor dem Sport und dem Internet.
Als ehemaliger Schlagzeuger von Jazzbands kann ich
das durchaus nachvollziehen. Musik fasziniert. 82 Pro-
zent der 12- bis 19-Jährigen besitzen einen MP3-Player.
Musik hören ist Volkssport geworden, selbst Musik ma-
chen sollte es aber auch sein.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716514300

Herr Kollege.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1716514400

In der Lessingschule in Nordhausen wird aus diesem

Wunsch sicher schon bald Wirklichkeit.

Frau Präsidentin, ich komme jetzt wirklich zum
Schluss.






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716514500

Wirklich.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1716514600

Deshalb begrüßen wir die Initiative „Jedem Kind ein

Instrument“. 70 000 Schüler sind daran bereits beteiligt.
Der Bund fördert dies mit 10 Millionen Euro. Ich würde
mir wünschen, dass die ganze Republik von dieser neuen
Initiative profitiert.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716514700

Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716514800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich singe leidenschaftlich gerne, aber meistens nicht sehr
gut. Insofern erspare ich uns hier eine Intonation zu Be-
ginn dieser Rede.

Musik spielt im kulturellen Selbstverständnis der
Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche
Rolle. … Die Bundesregierung misst der Pflege des
Musiklebens … einen hohen Stellenwert bei.

Solch Grundsätzliches liest man gerne. Man vernimmt
es mit Freude, Genugtuung, ja, Stolz. Deutschland ist
eine Musiknation – von alters her bis auf den heutigen
Tag.

Wenn man dann allerdings in der umfangreichen Ant-
wort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur
Musikförderung durch den Bund in dem konkreten,
sachlichen Teil der Statistik nachliest, welche Jahresein-
kommen 2009 die Musikerinnen und Musiker nach Aus-
kunft der Künstlersozialkasse hatten – Orchestermusiker
„Ernste Musik“: 9 237 Euro im Jahr, Instrumentensolist
„Ernste Musik“: 10 498 Euro im Jahr, Oper-, Operetten-
und Musicalsänger: 9 585 Euro im Jahr, Lied- und Ora-
toriensänger: 10 335 Euro im Jahr –, dann muss man sa-
gen: Hier stimmt doch etwas nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Siegmund Ehrmann [SPD] und Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hier tut sich ein gravierender Unterschied zwischen der
Proklamation und der Wirklichkeit auf. Auch Kompo-
nisten, Texter und Librettisten kommen im Jahr gerade
einmal auf rund 16 000 Euro. Das sind 1 333 Euro im
Monat. Man könnte sagen: Glanz und Elend spiegelt
diese Ausarbeitung der Bundesregierung zur Musikför-
derung durch den Bund.

Staatsminister Neumann hat gestern im Kulturaus-
schuss betont, dass die Förderung durch den Bund nur
subsidiär, also zusätzlich, ist, da die Förderung von Mu-
sik vorrangig Aufgabe der Länder ist. Das ändert aber
nichts an den Arbeits- und Einkommensverhältnissen

der Musikerinnen und Musiker in all den vielfältigen
Sparten der Kunst in unserem Land.


(Gisela Piltz [FDP]: Dann halten Sie doch mal so eine Rede im Landtag!)


Es ist zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden Be-
richt eine wichtige Übersicht vorliegt. Sie könnte aller-
dings strukturierter und systematischer sein. Am besten
wäre es, wenn sie einem umfassenden Kulturbericht zu-
geordnet wäre, wie ihn die Enquete-Kommission „Kul-
tur in Deutschland“ bereits vor Jahren gefordert hat.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Musikförderung des Bundes hat zwei Ziele: ei-
nerseits die Bewahrung des Erbes und die umfassende
Erschließung und Vermittlung seiner Potenziale und an-
dererseits die Entwicklung der zeitgenössischen Musik
und ihre Rezeption. Das ist nicht leicht zu leisten, wenn
die Mittel nicht von Jahr zu Jahr steigen. Denn die
Pflege des Erbes wird nicht von sich aus weniger. Aber
das Zeitgenössische nimmt zu und braucht mehr Unter-
stützung und Mut zum Experiment. Wie kann man also
die Balance halten und Gerechtigkeit walten lassen?

Rund 44 Millionen Euro stellte die Bundesregierung
für die Musikförderung 2010 zur Verfügung. Ein Viertel
dieser Summe ging an die Rundfunkorchester und Chöre
in Berlin. Das ist eine Aufgabe und Verpflichtung, die
aus der Vereinigung unseres Landes herrührt. Es ist eine
glanzvolle Verpflichtung von wahrhaft gesamtstaatlicher
Relevanz. Das Gleiche gilt für die Verpflichtungen im
Hauptstadtkulturvertrag, Kostenfaktor: 4,3 Millionen
Euro.

Es bleiben rund 28 Millionen Euro als Fördersumme.
Werden sie gerecht verteilt zwischen Alt und Neu? Jazz-
musikerinnen und -musiker haben in diesen Tagen mehr
als tausend Unterschriften gesammelt und fordern mehr
staatliche Subventionen und vor allem mehr Spielstätten
sowie Gleichbehandlung mit der ernsten Musik.

In der Künstlerförderung der „Initiative Musik“ ent-
fallen 17,7 Prozent auf Jazzprojekte. Das entspricht ei-
ner erbärmlichen Summe von rund 230 000 Euro im
Jahr, und gefördert wird nur dann, wenn die Musiker
selbst 60 Prozent der Projektkosten aufbringen können.
Wie sollen da viele Bands, Talente und Musiker unter
dieser Regelung noch gefördert werden?


(Beifall bei der LINKEN)


Lässt sich dabei noch von einer einigermaßen gerechten
Mittelverteilung reden? Nein.

Ein Umverteilungsvorschlag: Rund 2,3 Millionen
Euro fließen jedes Jahr vom Bund an die Bayreuther
Festspiele, ein Musikereignis, das sich vor Nachfrage
kaum retten kann. 400 000 Kartenbitten können jedes
Jahr nicht berücksichtigt werden. Die Bundesregierung
gibt an, dass sie seit 1953 die Festspiele mitfinanziert,
damit sie – das ist ein Zitat – bei bezahlbaren Karten für
breite Bevölkerungsschichten zugänglich seien. Das ist
doch Hohn und Spott!





Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schauen Sie sich doch an, was heute in Bayreuth pas-
siert. Bezahlbare Karten für breite Bevölkerungsschich-
ten? Ich sage: Hohn und Spott. Solange dies so ist, könn-
ten die 2,3 Millionen Euro gut anderen Projekten
zugutekommen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Bei der Bundesliga ist es das Dreifache!)


Das wäre dann übrigens das Zehnfache für den Jazz und
damit für zeitgenössische Musik.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716514900

Reiner Deutschmann hat das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Reiner Deutschmann (FDP):
Rede ID: ID1716515000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordent-
lich, dass wir heute im Deutschen Bundestag die Gele-
genheit haben, uns einmal etwas ausführlicher mit der
Musikförderung des Bundes auseinanderzusetzen.

Musik ist für Deutschland ein ganz wichtiger Bereich
des kulturellen Schaffens und integraler Bestandteil un-
seres kulturellen Erbes. Komponisten wie Bach,
Brahms, Beethoven oder Schubert, um nur einige zu
nennen, haben die musikalische Landschaft nicht nur
Deutschlands, sondern der Welt geprägt. Deutsche Or-
chester sind in der Welt geschätzt und werden für ihre
Darbietungen verehrt. Auch deutsche Musik, zum Bei-
spiel von Kraftwerk oder der mitteldeutschen Band „To-
kio Hotel“, war und ist ein Aushängeschild deutscher
musikalischer Schaffenskraft. Ich lasse es mir in diesem
Zusammenhang nicht nehmen, auch „Silbermond“ zu er-
wähnen. Diese Gruppe hatte schließlich ihre Anfänge als
Schülerband in meinem Wahlkreis Bautzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das war der Werbeblock!)


Die Förderung der Musik hat in Deutschland durch-
aus eine jahrhundertelange Tradition. Bereits an Fürsten-
höfen fand sie statt. Die FDP-Bundestagsfraktion be-
grüßt daher das Engagement sowohl des Staates als auch
des Privatsektors; denn gerade Verlage und Label sorgen
sich um eine blühende Musiklandschaft in Deutschland.
Ohne diese Unterstützung wären viele Erfolge von
Künstlerinnen und Künstlern einfach nicht denkbar.

Ich denke, es ist unbestritten, dass für die Musikför-
derung in erster Linie Länder und Kommunen zuständig
sind. Deshalb gibt es auch kein ganzheitliches Musikför-
derkonzept des Bundes, wie von der SPD gewünscht.
Nur dort, wo das gesamtstaatliche Interesse es gebietet,
kann der Bund als Förderer tätig werden. Dass sich der

Bund dieser Verantwortung in entsprechenden Größen-
ordnungen stellt, wissen wir nicht erst seit der Beantwor-
tung der Großen Anfrage, über die wir gerade sprechen.
Das spüren wir bei jeder Haushaltsdebatte. Auf die seit
Jahren vorgenommenen Weichenstellungen – das wurde
vom Kollegen Börnsen schon gesagt – können wir als
Abgeordnete des Deutschen Bundestags durchaus stolz
sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Musik ist beides: Sie ist Kultur- und zugleich Wirt-
schaftsgut. 2009 setzte die Musikindustrie 5,5 Milliarden
Euro um. Zehntausende Menschen arbeiten in diesem
Sektor und finanzieren dadurch ihren Lebensunterhalt.
Der Musiksektor ist somit ein wichtiger Bestandteil der
Kultur- und Kreativwirtschaft unseres Landes. Dass es
auch hier soziale Probleme gibt, ist uns allen bewusst.
Wir haben in verschiedenen Bereichen versucht, nachzu-
steuern. Aber nicht alles ist Sache des Bundes. Wir kön-
nen beispielsweise nicht beeinflussen, wie viel eine
Schauspielerin oder ein Sänger an einem Landestheater
verdient.

Eine der größten Herausforderungen für die Musik-
wirtschaft ist ohne Zweifel die Digitalisierung. Lassen
Sie mich an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Kreativi-
tät muss sich lohnen. Kreative müssen von ihrer Arbeit
leben können. Dies gelingt nur, wenn wir es schaffen,
auch in Zeiten des Internets einen gerechten Ausgleich
zwischen den Interessen der Rechteinhaber und der Nut-
zer geistigen Eigentums zu erzielen. Dazu gehört aber
auch, dass die Wirtschaft weitere Modelle entwickelt,
die es ermöglichen, zu attraktiven Bedingungen Werke
legal im Internet zu erwerben.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Auch damit begegnen wir nachhaltig den millionenfa-
chen illegalen Downloads. Eines ist ganz klar: Die FDP-
Bundestagsfraktion steht ohne Wenn und Aber für die
Rechte der Urheber als geistiger Mütter und Väter ihrer
Werke. Mit uns wird es immer eine Unterstützung für
das geistige Eigentum geben. Das kann ich Ihnen versi-
chern.

Was tut der Bund konkret für die Förderung der Musik-
landschaft in Deutschland und über die Grenzen hinaus?
Dazu gibt die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der SPD detailliert und umfassend Aus-
kunft. Aber auch ein Blick in den jeweiligen Haushalts-
plan des Bundes hilft hier weiter. 2010 wurden insge-
samt 44,2 Millionen Euro durch den Bund für die
Musikförderung ausgegeben. Mit zahlreichen Maßnah-
men bewahrt der Bund unser musikalisches Erbe, fördert
zeitgenössische Musik und transportiert deutsches Mu-
sikschaffen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik – zum Beispiel durch das Auswärtige Amt
oder durch Mittlerorganisationen wie das Goethe-Insti-
tut – in alle Welt.

Über die Kulturstiftung des Bundes wurde – das ist
schon mehrfach erwähnt worden – das Projekt „Jedem
Kind ein Instrument“ angeschoben und unterstützt. Es
war erstmals im Ruhrgebiet verfügbar und ist inzwi-





Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)


schen von elf Bundesländern aufgegriffen und eigen-
ständig weitergeführt worden. Wir fördern Orchester wie
die Rundfunkorchester und Chöre in Berlin und ebenso
Sparten wie den Jazz durch Projekte wie das Bundesjazz-
orchester oder durch das Projekt „Jugend jazzt“. Wir un-
terstützen den Deutschen Musikrat jährlich mit rund
3 Millionen Euro. Was dort geleistet wird, ist durchaus
sehenswert. Die schon erwähnte „Initiative Musik“ ist
beispielgebend für den Export deutscher Musikkunst.
Dadurch können wir Bands und Solokünstler hervorra-
gend unterstützen und international bekannt machen.

Ich möchte aber auch die Bayreuther Festspiele er-
wähnen. Der Bund bekennt sich ausdrücklich zu diesem
Ereignis von Weltgeltung. Aber aus gegebenem Anlass
möchte ich genauso deutlich darauf hinweisen, dass die
bestehenden Probleme im Bereich der wirtschaftlichen
Führung gelöst werden müssen.

Ich möchte hier aber auch den Tanz thematisieren;
denn er stellt für mich eine ganz besondere Form der
Umsetzung von Musik dar. Dazu gehört zum einen die
direkte Förderung des Tanzes. Zum anderen müssen
Tänzer in besonderer Weise sozial abgesichert werden.
Schließlich kann dieser Beruf aufgrund der körperlichen
Belastung nur zeitlich begrenzt ausgeübt werden. Des-
halb setzen wir Liberale uns sehr stark für die Stiftung
„TANZ – Transition Zentrum Deutschland“ ein, die Tän-
zern hilft, nach dem Ende der Karriere eine neue berufli-
che Perspektive zu finden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nach Ministerien aufgeschlüsselt, fördern neben dem
BKM und dem Auswärtigen Amt das Bundeswirt-
schaftsministerium und das Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung die Musik.

Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen der Initiative
„Kultur- und Kreativwirtschaft“ oder, ganz konkret,
durch Messeförderung im Ausland. Nennen möchte ich
aber auch solche Forschungs- und Bildungsprojekte wie
die Begleitforschung zum Projekt „Jedem Kind ein In-
strument“ oder den Bundeswettbewerb Komposition
2010, in dessen Rahmen sich Schülerinnen und Schüler
mit Eigenkompositionen beteiligen konnten. Es ist mir
wichtig, dass die Förderung durch den BKM und andere
nachhaltig erfolgt. Es ist besonders erfreulich, dass man
erkennen kann, dass die Ziele des Bundes tatsächlich er-
reicht werden; genannt wurde schon das sehr erfolgrei-
che Projekt „Jedem Kind ein Instrument“.

Anschubfinanzierungen, gerade für Festivals, können
nachweislich Anreize für neue Entwicklungen schaffen.
Zu Recht spricht die Bundesregierung in ihrer Antwort
auf die Große Anfrage von einem „kulturpädagogischen
Impuls“. Damit stärken wir nicht nur die Kreativen im
Bereich der Musik, sondern wir tun auch etwas für die
kulturelle Bildung unserer jungen Menschen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig!)


Ich stelle also abschließend fest, dass wir, der Bund,
im Bereich Musik gut aufgestellt sind. Natürlich könnte
das eine oder andere noch umfassender gefördert wer-

den. Da gibt es durchaus noch Spielraum, insbesondere
beim Feintuning. Im Bereich Jazz sind wir das gerade
angegangen. Ich bin mir durchaus bewusst – dafür stehe
ich auch ein –, dass nicht alles, was über Jahrzehnte ge-
fördert wurde, immer wieder gefördert werden muss. Da
sollten wir tatsächlich einiges auf den Prüfstand stellen;
vieles wächst nach, und die Töpfe werden nicht unbe-
dingt größer. Deshalb muss man auch über Förderungen
einmal neu nachdenken. Wichtig ist für uns als Kultur-
politiker, dass wir neuen Ideen gegenüber aufgeschlos-
sen sind; denn Kunst und Kultur leben von der Kreativi-
tät der Menschen und sind damit eine ganz wichtige
Voraussetzung für die weitere Entwicklung unserer ge-
samten Gesellschaft.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716515100

Jetzt hat Agnes Krumwiede das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.


(Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD])



Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716515200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir begrüßen die Große Anfrage der SPD
sehr.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir auch!)


Die Antworten sagen einiges aus über das Musikförder-
konzept der Bundesregierung: Sie hat nämlich keins.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


In ihrer Antwort gesteht die Regierung ein, dass eine De-
finition gesamtstaatlicher Relevanz konkretisiert werden
muss. Wenn aber keine genaue Definition vorliegt, stellt
sich die Frage, auf welcher Grundlage überhaupt Mittel
an Kulturinstitutionen und Festivals vergeben werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Die Wagner-Festspiele jedenfalls entwickeln sich für
die Bundesregierung zur Götterdämmerung von gesamt-
staatlicher Bedeutung. Nachdem mittlerweile der Baye-
rische Oberste Rechnungshof interveniert hat, ergreift
der Kulturstaatsminister – lieber spät als nie – endlich
die Initiative und sorgt hoffentlich dafür, dass die
Wagner-Festspiele keine Exklusivveranstaltung zur Un-
terhaltung eines Fördervereins bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Christoph Poland [CDU/CSU]: Wagner ist exklusiv, nicht die Veranstaltung!)


Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für musi-
kalisches Schaffen steht nicht im Fokus der Bundesre-
gierung. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von
Musikern liegt bei 11 700 Euro. Altersarmut ist vorpro-
grammiert. Erschreckend hilflos sind die Antworten der





Agnes Krumwiede


(A) (C)



(D)(B)


Bundesregierung auf Fragen zur sozialen Absicherung
und zur Altersvorsorge für Musiker: Jeder könne mit der
Riester-Rente aufstocken, und die Einkünfte durch Urhe-
ber- und Leistungsschutzrechte seien ja auch eine geeig-
nete Altersversorgung. In die Riester-Rente einzahlen
kann nur, wer es sich leisten kann. Einkünfte durch
Urheber- und Leistungsschutzrechte als Altersversor-
gungsquelle zu nennen, zeugt von Inkompetenz. Ganze
Berufsgruppen im Bereich Musik, zum Beispiel die In-
strumentallehrer, hat die Bundesregierung offenbar ver-
gessen. Musikunterricht ist nicht urheberrechtlich ge-
schützt.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist Sache der Kommunen und der Länder! Das ist keine Bundesangelegenheit!)


Die Lage vieler Lehrkräfte im Bereich Musik ist prekär.
Dabei übernehmen sie hauptsächlich die Förderung von
Musik in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben Ihnen mit unserem Antrag, zum Beispiel
zu Reformen des Arbeitslosengeld-I-Bezugs, ein allge-
mein gültiges Modell präsentiert, das Sie nur umsetzen
müssten, um die Bedingungen für Künstler und Musiker
zu verbessern. Außerdem brauchen wir branchenspezifi-
sche Mindestlöhne – auch im Kulturbetrieb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Gravierende Schwachstellen offenbart die Bundesre-
gierung auch bei der sogenannten Exportförderung. Was
die Zuschüsse für Tourneen betrifft, sind deutsche Solo-
künstler und Bands gegenüber anderen Ländern klar im
Nachteil. Exportförderung für Auslandstourneen erhal-
ten bei uns in erster Linie prominente Bands, die es ja
wohl am wenigsten nötig hätten.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das Goethe-Institut macht eine sehr umfangreiche Arbeit für alle Bereiche!)


Die Bundesregierung sollte sich am skandinavischen
Vorbild orientieren und ein Programm zur Tourförde-
rung von Bands auflegen. Ob Jazz, Hip-Hop, Rap, Punk
oder Techno – bei fast allen Fragen nach der Förderung
neuer musikalischer Ausdrucksformen verweist die Bun-
desregierung auf die „Initiative Musik“. Über 40 Millio-
nen Euro gibt der Bund pro Jahr für Musikförderung aus,
die „Initiative Musik“ bekommt 1,5 Millionen Euro.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und den Beitrag der Wirtschaft darf man nicht vergessen!)


Davon sollen so gut wie alle neuen Musikbereiche geför-
dert werden. Zum Vergleich: Die Wagner-Festspiele er-
halten pro Jahr rund 2 Millionen Euro, und damit wird
nur ein einziges Festival finanziert.

Auch was die zeitgenössische Klassik betrifft, ist von-
seiten der Bundesregierung Saure-Gurken-Zeit angesagt.
Das erfolgreiche Programm „Netzwerk Neue Musik“ ist

gerade ausgelaufen; jetzt klafft eine große Lücke bei der
Förderung zeitgenössischer Klassik. Was an Neuem in
der Musik entsteht, muss gleichberechtigt an Mitteln aus
dem Kulturetat beteiligt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zukunft unserer Musiklandschaft besteht in einem
Überwinden des qualitativ unterscheidenden Denkens in
U- und E-Musik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir brauchen ein anderes Kulturverständnis, eines
ohne Scheuklappen. Das geht schon bei den Spielstätten
los.


(Gisela Piltz [FDP]: Sagen Sie das mal Ihren Kollegen in den Ländern!)


Ein Konzerthaus ist eine Spielstätte für alle. Dort sollten
Angebote und Aufführungen für Jung und Alt, Reich
oder Arm einen Platz finden. Opern, Theater und andere
Institutionen müssen als Kulturerlebnisorte für alle Be-
dürfnisse begriffen und bespielt werden, nicht als exklu-
sive Heimat einer Musikrichtung. Wir brauchen institu-
tionelle und Projektförderung, bei der Interaktion von
Musikbereichen, also Jugendkultur, Pop und Klassik, ge-
nauso vorgesehen ist wie eine Mindestgage, ein ausge-
wogener Frauenanteil und der interkulturelle Austausch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christoph Poland [CDU/CSU]: Sollen jetzt Frauen die Männerrollen übernehmen?)


Es gibt viel zu tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnen
gemeinsam ein Musikförderkonzept zu entwickeln, das
unserer Tradition als dem Land der großen Komponisten
gerecht wird.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716515300

Christoph Poland hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Christoph Poland (CDU):
Rede ID: ID1716515400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon
Napoleon wusste, dass Musik von allen Künsten den
tiefsten Einfluss auf das Gemüt hat und ein Gesetzgeber
sie deshalb am meisten unterstützen soll. Das tun wir,
das tut die Bundesregierung.

Ich kann Ihnen nach 32 Jahren Tätigkeit als Musik-
lehrer und nach 18 Jahren Tätigkeit als Musikveranstal-
ter hier und heute sagen, dass wir für Musikveranstaltun-
gen auf Anfrage immer Sponsoren und Unterstützer
gefunden haben, egal wie wir um Unterstützung gebeten
haben.





Christoph Poland


(A) (C)



(D)(B)



(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig! Das ist die Realität!)


Die umfassenden Antworten auf die 74 Fragen der
SPD zeigen, wie großartig und umfangreich die Förde-
rungen des Bundes sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die schon genannten über 44 Millionen Euro für die Mu-
sikförderung, die zur Verfügung gestellt werden, sind ein
beredtes Beispiel dafür. Für seine Förderung hat der
Bund objektive, überprüfbare Kriterien formuliert. Da-
bei ist, so finde ich, die Nachhaltigkeit bei den geförder-
ten Projekten besonders wichtig. Wir sehen es am Bei-
spiel JeKi, welche Auswirkungen es haben kann, wenn
ein Projekt angeschoben wird.

Der Bund fördert Einrichtungen und Projekte mit ge-
samtstaatlicher Bedeutung. Das haben wir heute schon
gehört. Dazu kommt die Förderung der Musik als Teil
der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Als Bei-
spiel für die Förderung von Leuchttürmen der Kultur
möchte ich folgende hervorheben: Beim Mitteldeutsche
Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin-
gen e. V. handelt es sich um ein Leuchtturmprojekt in
den neuen Bundesländern. Durch das Zusammenwirken
von drei Ländern und dem Bund wird ein Beitrag zur
Bewahrung, Erforschung und aktiven Vermittlung der in
dieser Region überreichen Zeugnisse des musikalischen
Erbes von Bach, Händel, Schütz, Telemann und weiteren
Komponisten geleistet.

Auch das Musikfestival auf Usedom mit seinem
grenzüberschreitenden europäischen Ansatz bekommt
zu Recht eine Bundesförderung. In diesem Jahr ist dort
das Thema russische Musik.

Ein weiteres Beispiel sind die Zuschüsse für die
Dachverbände der Laienmusik. Denken Sie an den Deut-
schen Musikrat! Dort werden Veranstaltungen und Pro-
jekte der musikalischen Breitenarbeit und der nationale
Spitzennachwuchs gefördert. Ich freue mich daher be-
sonders über die Förderung des Bundesjugendorchesters
und des Wettbewerbs „Jugend musiziert“.

Übrigens gibt es auch Bundeswettbewerbe für Ju-
gendbands.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ja!)


Nur denke ich, dass es unser Uranliegen sein muss, in
Deutschland die Hochkultur zu erhalten.

Mit der einmaligen Anschubfinanzierung des Bundes
und des Landes Nordrhein-Westfalen für die Etablierung
eines ECHO Jazz im Jahr 2010 sollte ein neues Forum
entstehen. Das läuft nun ohne Förderung erfolgreich
weiter. Die herausragenden Leistungen bundesweit und
international im Bereich des Jazz sollen gewürdigt und
öffentlich wieder mehr wahrgenommen werden. Der An-
teil von nur noch 1,4 Prozent des Jazz am Gesamtumsatz
der Plattenindustrie ist ein Vermarktungsproblem,


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ja!)


aber auch Ausdruck einer schwindenden Anerkennung
des Jazz in der breiten Öffentlichkeit.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Leider!)


Daher möchte ich an dieser Stelle auch die Förderung
des Jazz im Rahmen der „Initiative Musik“ hervorheben.
Als Professor Gorny hierzu im Ausschuss war, deutete
sich eine fraktionsübergreifende Neigung an, den Jazz
stärker zu unterstützen.

Die Forderungen der Bundeskonferenz Jazz wurden
von der „Initiative Musik“ aufgenommen und ausgewer-
tet. Hier die Bilanz: 88 Jazzmusiker und Jazzprojekte
wurden von 2008 bis 2011 mit 1,5 Millionen Euro geför-
dert.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Guter Anfang!)


Auch das ist ein Spitzenergebnis.

Das ebenfalls vom Bund geförderte Bundesjazzor-
chester kümmert sich um den Nachwuchs. Hier leistet
die „Initiative Musik“ ebenfalls erfolgreiche Arbeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Musikförderung
des Bundes ist historisch gewachsen und strukturiert. Sie
unterstützt das vielfältige Musikleben in Deutschland.
Musik ist ein zentraler Bestandteil unseres kulturellen
Selbstverständnisses.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716515500

Jetzt hat das Wort für die CDU/CSU der Kollege Paul

Lehrieder.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1716515600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! In ihrer Antwort auf die Große An-
frage der SPD-Fraktion zur Musikförderung des Bundes
verdeutlicht die unionsgeführte Bundesregierung einmal
mehr, welch großes Gewicht sie auf die Förderung von
Musik legt, und das ist gut so.

Die Antwort auf die Große Anfrage mit ihren 74 Fra-
gen umfasst immerhin 47 Seiten. Das zeigt die ganze
Bandbreite – es wurde von einigen Vorrednern bereits
darauf hingewiesen – der vielfältigsten Facetten der Mu-
sikförderung in Deutschland.

Kollege Börnsen hat in seiner Auftaktrede bereits da-
rauf hingewiesen – man kann es gar nicht oft genug wie-
derholen –: 44 Millionen Euro hat die Bundesregierung
2010 für die Förderung der Musik in Deutschland zur
Verfügung gestellt.

Frau Kollegin Krumwiede, Sie sagen, es könne man-
ches noch besser werden, die soziale Absicherung der
Künstler müsse verbessert werden. Sie wissen doch ge-
nauso gut wie ich, dass wir derzeit über eine Verände-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


rung des Künstlersozialversicherungsgesetzes verhan-
deln. Wir wollen die soziale Absicherung der Künstler,
den Arbeitslosengeld-I-Bezug, schon in den nächsten
Wochen verbessern.


(Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden reicht nicht! Wir brauchen Ergebnisse!)


Wir kümmern uns auch im Ausschuss für Arbeit und So-
ziales um die Belange der Künstler. Das ist bei uns in gu-
ten Händen. Frau Krumwiede, machen Sie sich mal
keine Sorgen!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das bezweifle ich! Es dauert alles ein bisschen lang!)


Ich freue mich natürlich immer, wenn bei solchen De-
batten auch die Nutznießer unserer Förderung als Zu-
schauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne dabei sind.
Insbesondere die jungen Leute können von dem vielfälti-
gen Musikangebot in den Schulen, aber natürlich auch in
den Vereinen profitieren.

Ja, es ist richtig: Die Musikförderung des Bundes ist
eine Facette. Sie ist die Ergänzung zu den Maßnahmen
der Länder und der Kommunen. In Bayern etwa gibt es
den Bayerischen Musikplan, durch den eine großzügige
Unterstützung der Musik, auch der Laienmusik, erfolgt.

Für den letzten Redner einer Debatte ist es immer
schwierig, noch viel Neues und Sinnstiftendes beizutra-
gen. Ich möchte mich deshalb auf zwei Facetten be-
schränken. Das ist einmal der Bereich der Laienmusik;
hierauf hat der Kollege auch schon kurz hingewiesen.
Um die Laienmusik als Teil der Breitenkultur geht es in
Abschnitt X Ihrer Anfrage, Herr Kollege Ehrmann.

Es ist schon beeindruckend, wenn man sich die Zah-
len aus der Anfrage vor Augen führt. Allein die Bundes-
vereinigung Deutscher Orchesterverbände umfasst elf
Mitgliedsverbände und immerhin 23 000 Laienorchester.
Dort wird eine hervorragende Arbeit geleistet. Machen
Sie sich einmal klar, welche Jugendarbeit in den Lai-
enorchestern betrieben wird! Wir hatten gerade auf
Antrag der Linken eine Aktuelle Stunde mit dem Titel
„Zivilcourage gegen Nazis stärken“. Wenn wir die Pro-
gramme des Familienministeriums gegen rechts und ent-
sprechend auch gegen links einbeziehen, so können Sie
eigentlich gar nicht ermessen, welche wertvolle Jugend-
arbeit in den Kapellen, in den Gesangsvereinen, in den
Chören und natürlich auch in den Sportvereinen geleistet
wird und was dadurch auch für den Staat an Prophylaxe
und Zusammenhalt generiert wird. Das, was wir in den
Laienorchestern haben, ist ein Wert, ein Goldschatz der
Gesellschaft, auf den man in einer solchen Debatte aus-
drücklich hinweisen sollte. Für die geleistete Arbeit
möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände
hat deutschlandweit immerhin 48 500 Chöre mit
2,5 Millionen Mitgliedern. Hier sind Ehrenamtliche un-
terwegs, die in ihrer Freizeit anderen Mitbürgerinnen

und Mitbürgern Lebensqualität, Freude am Leben,
Freude am Gesang – der Kollege Börnsen hat es sich
nicht nehmen lassen, hier zu singen – vermitteln. Das
zeigt, dass wir optimistisch und positiv in die Zukunft
schauen können. Das können wir auch über unsere
Chöre und Verbände organisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Gerade das Ehrenamt!)


Ich bedanke mich noch einmal bei der Jugendarbeit.
Ich selber bin stellvertretender Bezirksvorsitzender im
Nordbayerischen Musikbund, war viele Jahre lang als
Kreisvorsitzender für 75 Blaskapellen zuständig. Jetzt
bin ich für 360 Kapellen mit zuständig. Ich weiß aus ei-
gener Erfahrung: Wenn über 300 000 Kinder und Ju-
gendliche allein über die Deutsche Bläserjugend vom
Bund mit gefördert werden, so ist das eine sinnvolle zu-
kunftsfähige Jugendarbeit. In mehr als 10 000 Spiel-
manns- und Fanfarenzügen sind unsere Jugendlichen or-
ganisiert.

Frau Kollegin Jochimsen, eines tut mir weh, wenn Sie
versuchen, Jazzmusik und Bayreuth gegeneinander aus-
zuspielen. Wir sollten uns in Deutschland mit unserer
vielfältigen Kulturszene beides leisten können. Bayreuth
darf gefördert werden. Ich bin froh, dass der Staatssekre-
tär der Debatte zugehört hat. Herr Kollege Koschyk, das
ist ein Aushängeschild deutscher Kultur. Das sollte man
nicht verstecken und man sollte nicht sagen: Wir können
es nicht fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Bekanntheitsgrad Bayreuths ist nicht nur für die
Region, nicht nur für Bayern, nicht nur für Deutschland,
nicht nur für Europa wichtig, er ist für die ganze Welt
wichtig. Wir sind stolz darauf, dass Wagner und Bay-
reuth auch über die Festspiele ein Markenzeichen für
deutsche Kultur sind. Das sollten wir nicht schlechtre-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen wir nicht! Die Zustände dort sind schon schlimm genug!)


Ich wünsche uns weiterhin ein konstruktives Mitar-
beiten, damit wir die Kultur in Deutschland weiterentwi-
ckeln, Frau Kollegin Krumwiede, damit wir in Zukunft
eine vielfältige Kulturlandschaft mit Laienorchestern,
Profiorchestern, Jazzkapellen, Schlagzeugen in Jazzka-
pellen – dort hat der Kollege Börnsen früher gespielt –
haben. Wenn das gut weitergeht, hat die Gesellschaft da-
von einen Nutzen. Dafür Sorge zu tragen, ist auch die
Aufgabe der Politik. Herzlichen Dank an alle Gutmei-
nenden, die hier mitwirken.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716515700

Damit schließe ich die Aussprache.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren

– Drucksache 17/8882 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Hierzu haben die Fraktionen verabredet, eine Drei-
viertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Herr Börnsen, ich weiß nicht, ob Sie jetzt im Duo sin-
gen wollen. Vielleicht ist das auch draußen möglich.

Ich würde gern dem Kollegen Ralph Brinkhaus für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1716515800

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Er wird Ihnen den Ge-

fallen tun, die Rede nicht vorzusingen.

Meine Damen und Herren! Der Zugang zu Rohstoffen
ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch
aus sozialen Gründen die zentrale Frage des 21. Jahrhun-
derts. Deswegen ist es richtig, dass sich die Bundesregie-
rung und die Koalitionsfraktionen dazu entschieden ha-
ben, das zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen.
Im Übrigen weiß ich, dass sich auch die Oppositions-
fraktionen intensiv mit diesem Thema befassen. Es gibt
eine Vielzahl von Initiativen – in der Außenpolitik, in
der Wirtschaftspolitik, in der Landwirtschaftspolitik und
in der Entwicklungshilfe –, die das Thema Rohstoffe be-
treffen.

Ich denke, es ist Zeit, dass auch wir Finanzpolitiker
uns mit diesem Thema beschäftigen, und zwar ganz kon-
kret mit der Spekulation mit Rohstoffen, mit Rohstoffde-
rivaten und Rohstofftermingeschäften. Dies will ich Ih-
nen anhand von fünf Punkten erläutern:

Erster Punkt: Worum geht es überhaupt? Was sind
Rohstoffderivate? Rohstoffe kennen wir alle, die holt
man aus der Erde oder vom Acker. Mit Rohstoffen ist im
Übrigen schon immer gehandelt worden, vom Klafter
Holz in der Antike bis zu den Seltenen Erden, die man
heute braucht, um Handys zu produzieren. Es gab auch
immer schon die Spekulation mit Rohstoffen oder Ter-
mingeschäfte mit Rohstoffen: Als Beispiel nenne ich den
Bauern im Mittelalter, der sein Saatgut nicht bezahlen
konnte und dafür dem Saatguthändler versprochen hat:
Ich gebe dir für das Saatgut im Herbst einen Teil meiner

Ernte. – Heutzutage ist es der Stahlproduzent, der eine
feste Lieferverpflichtung gegenüber VW und Audi zu ei-
nem gewissen Preis zu erfüllen hat und der heute schon
wissen möchte, was er am Ende des Jahres für Eisenerz
bezahlen muss.

Diese beiden Beispiele haben eines gemeinsam: Ers-
tens werden Verträge über Dinge abgeschlossen, die es
körperlich noch nicht gibt und die noch nicht zur Verfü-
gung stehen. Zweitens sind diese Geschäfte gar nicht so
unvernünftig; denn sie machen wirtschaftlich durchaus
einen Sinn.

Trotzdem machen wir uns Sorgen um den Markt für
Rohstoffderivate. Warum machen wir uns diese Sorgen?
Diese Sorgen machen wir uns deswegen, weil wir einige
alarmierende Entwicklungen sehen. Die erste alarmie-
rende Entwicklung ist die starke Schwankung der Roh-
stoffpreise. Normal wäre es, dass die Rohstoffpreise stei-
gen, weil es eine erhöhte Nachfrage gibt, weil auf dieser
Welt mehr Menschen leben, die essen und etwas konsu-
mieren wollen. Dass die Preise jedoch stark schwanken,
ist beunruhigend – im Übrigen nicht nur für uns in der
Politik, sondern auch für die mittelständische Wirtschaft,
die ja damit leben muss.

Zweiter Punkt. Wir sehen, dass im Rohstoffderivate-
bereich eben nicht nur der von mir erwähnte Bauer oder
das Stahlwerk, zusammen mit den Hausbanken, tätig
sind. Nein, wir sehen vielmehr, dass in diesem Bereich
auch Investmentbanken Fuß fassen und sich dort Hedge-
fonds und Versicherungen tummeln. Wir sehen, dass un-
glaublich viel Kapital in diesen Bereich hineinfließt und
dass es in dem Zusammenhang immer wieder Empfeh-
lungen gibt: Geht weg von unsicheren Produkten wie
beispielsweise Staatsanleihen und investiert in Roh-
stoffe!

Das müsste uns zunächst einmal nicht beunruhigen,
und wir könnten sagen: Es ist uns doch egal, was da pas-
siert. Aber wir sind gebrannte Kinder, und zwar deshalb,
weil es auf dem Markt der Finanzderivate zu einer ähnli-
chen Entwicklung kam. Es gibt einige Parallelen: Man
hat Sicherungsgeschäfte getätigt über Zins und über
Währung. Das geschah aus sehr gutem Grund und war
Anfang der 80er-Jahre auch noch eine tolle Sache.

Dann haben wir jedoch gesehen, dass sich das Volu-
men dieser Geschäfte verhundertfacht hat. Ein erhebli-
cher Teil der Probleme, zu denen es im Rahmen der Fi-
nanzmarktkrise gekommen ist, ist genau auf diesen
Moloch Derivatemärkte zurückzuführen, der mittler-
weile das Vielfache des Bruttosozialproduktes der gan-
zen Welt umfasst und der mit menschlichem Vorstel-
lungsvermögen von den Zahlen her mit all den Nullen
schon gar nicht mehr fassbar ist. Dementsprechend muss
er derzeit von uns mühsam zurückgeführt werden.

Genau diese Probleme wollen wir im Zusammenhang
mit den Rohstoffmärkten vermeiden. Das wollen wir
auch aus einem anderen Grund, nämlich weil Rohstoffe
eine andere Bedeutung haben als Geld. Ich kann gegebe-
nenfalls ohne Geld Stahl produzieren, aber nicht ohne
Eisenerz. Das heißt: Es hängt viel von diesen Rohstoffen
ab. Deswegen führen Rohstoffe auch zu sehr starken





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Verwerfungen. Wegen Rohstoffen werden Kriege ge-
führt, beispielsweise im Kongo wegen Coltan. Aufgrund
von Rohstoffspekulationen kommt es zu Hungersnöten
und sozialen Verwerfungen. Ich denke, deswegen ist es
wichtig, dass wir dieses Thema anpacken.

Dritter Punkt: Wie packen wir es an? Welche Mög-
lichkeiten stehen uns offen? Zunächst einmal brauchen
wir Transparenz. Wir müssen wissen, was dort über-
haupt passiert. Alles, was ich bislang gesagt habe, beruht
auf Indizien. Es handelt sich um Vermutungen, weil
diese Geschäfte völlig intransparent abgewickelt wer-
den. Deswegen brauchen wir Meldepflichten und Platt-
formen, über die diese Geschäfte abgewickelt werden.

Weiterhin brauchen wir Regeln für Rohstoffderivate-
geschäfte, und zwar strenge Regeln, damit wir nicht in
eine Risikosituation hineingeraten, wie das bei den Fi-
nanzmärkten der Fall war. Überdies brauchen wir außer
den Regeln noch eine Aufsicht, die die Einhaltung der
Regeln überwacht. Diese Aufsicht muss vor allem kom-
munizieren, nicht nur im Finanzmarktbereich, sondern
beispielsweise auch mit der Welternährungsorganisation
oder mit anderen Organisationen, die für Rohstoffe zu-
ständig sind.

Schließlich brauchen wir ein Eingriffsinstrumenta-
rium. Die Aufsicht muss auch eingreifen können. Sie
muss sagen können: „Geschäfte in dieser Höhe erlauben
wir nicht“ – da spricht man von Positionslimits – oder:
„Wir untersagen Geschäfte ganz“ oder – letzter Punkt –
„Wir untersagen missbräuchliche Geschäfte“, zum Bei-
spiel wenn Insiderhandel stattfindet. Ich denke, es gibt
einige Eingriffsmöglichkeiten. Aber einer Eingriffsmög-
lichkeit wollen wir uns versagen: dem kompletten Ver-
bot von Rohstoffderivategeschäften; denn sie können –
ich habe es bei meinem Eingangsbeispiel gesagt – durch-
aus den wirtschaftlichen Nutzen der Absicherung haben.

Wer kann das umsetzen? Am besten natürlich die
G 20, indem sie eine weltweite Regelung findet, bei der
kein Land ausscheren kann. Die Erfahrungen, die wir
mit der G 20 gemacht haben, die sich im Übrigen mit
diesem Thema beschäftigt, ist, dass das erstens lange
dauert und dass zweitens immer wieder irgendwelche
Länder sagen: „Wir machen da nicht mit“. Insofern müs-
sen wir ganz realistisch sein: Wir haben da keine schnel-
len Ergebnisse zu erwarten.

Die zweite Möglichkeit wäre eine Lösung auf europäi-
scher Ebene. Die Europäische Kommission hat ein
Positionspapier hierzu vorgelegt. Das ist auch ein Aufruf
an die Bundesregierung, daran mitzuarbeiten und sich
einzubringen. Ich denke, wir werden dort einiges auf den
Weg bringen können.

Zur letzten Möglichkeit. Wenn auch das nicht fruchtet
und wir auf europäischer Ebene nichts hinbekommen,
dann müssen wir schauen, was wir auf deutscher Ebene
regeln können. Wir haben das in einigen Fällen durch-
exerziert. So haben wir im Alleingang die Leerverkäufe
verboten; heute ist das europäischer Standard. Wir haben
ein Gesetz zur Restrukturierung von Banken auf den
Weg gebracht. Heute steht in der Zeitung: Österreich
schreibt das so ab, wie wir es aufgesetzt haben. Das

heißt, es lohnt sich, an der einen oder anderen Stelle vo-
ranzugehen. Ich glaube, das Thema ist so wichtig, dass
man das auch hier machen sollte.

Aber es gibt natürlich auch Kritiker, die sagen: Die
Rohstoffderivatemärkte sollten gar nicht reguliert wer-
den, weil Spekulationen und Derivate wichtig sind; denn
sie tragen dazu bei, dass es auf den Märkten eine bessere
Preisfindung gibt, dass Liquidität, dass Angebot und
Nachfrage organisiert werden. Richtig; das wollen wir
auch. Aber wenn wir erkennen, dass die Finanzderivate-
märkte ein Volumen von über 600 Billionen US-Dollar
haben, ein Vielfaches des Bruttosozialprodukts, das in
der Welt erwirtschaftet wird – ich habe es eben schon er-
wähnt –, dann müssen wir ganz ehrlich sagen: Ein so
großes Volumen brauchen wir nicht, damit die richtigen
Preise entstehen und Liquidität in den Markt kommt.
Deswegen sagen wir ganz klar: Es gibt eine Legitimation
dafür, in diese Märkte einzugreifen und sie zu regulie-
ren. Die Argumente der Gegner einer Regulierung an
sich sind an der Stelle zu schwach, als dass ich sie gelten
lassen würde.

Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erklärt, wa-
rum wir das Thema Rohstoffderivate angehen müssen.
Ich habe aufgezählt, mit welchen Instrumenten man das
machen kann. Ich habe Ihnen gezeigt, wer das machen
kann bzw. auf welcher Ebene man das machen kann. Ich
habe auch gesagt, dass es Kritiker gibt, aber dass man
mit den kritischen Argumenten durchaus umgehen kann.
Ich denke, alles in allem ist das Thema wert, dass wir es
angehen. Der Entschließungsantrag, der heute von der
CDU/CSU-Fraktion zusammen mit den liberalen Kolle-
gen vorgelegt wird, ist dabei ein erster Schritt, genauso
wie der Kongress zu diesem Thema, den die CDU/CSU-
Fraktion am Montag zusammen mit den Finanzpoliti-
kern, aber auch mit den Entwicklungspolitikern durch-
geführt hat. Diese ersten Schritte sind wichtig, aber es
sind natürlich nicht die abschließenden Schritte; wir sind
nicht am Ende.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Am Ende sind Sie schon!)


Wir sind sehr gespannt darauf, welche zusätzlichen
Anregungen wir von der Opposition, von der Wissen-
schaft und auch aus der Praxis bekommen. Ich glaube, es
ist höchste Zeit, dass wir Finanzpolitiker uns mit diesem
Thema beschäftigen, dass wir es angehen. Insofern
freuen wir uns auf eine kritische, konstruktive Diskus-
sion. Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir bei den
Rohstoffderivatemärkten relativ schnell verhindern, was
bei den Finanzderivatemärkten passiert ist. Ich bin opti-
mistisch, dass wir das gemeinsam hinbekommen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716515900

Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1716516000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Tatsache, dass die Regierungskoalition die Verwer-
fungen auf den Rohstoffmärkten endlich hier im Deut-
schen Bundestag thematisiert, muss man schon als Fort-
schritt bezeichnen. Der Kollege Brinkhaus nennt das
hier „die ersten Schritte“. Das sind späte erste Schritte.
Die Probleme werden schon lange thematisiert. Sie sind
vielfach auch in diesem Hause diskutiert worden; es gab
dazu verschiedene Initiativen. Wir von der SPD-Fraktion
wie auch andere haben dieses Thema schon vor längerer
Zeit angesprochen. Lange hat es gedauert; immer gab es
abwehrende Reaktionen. Jetzt scheint ein gewisser Ruck
durch die Koalition gegangen zu sein. Da kann man nur
sagen: Schwarz-Gelb, bravo! – Das hat aber lange ge-
dauert und wurde wirklich Zeit.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Ihr hättet es ja selber machen können!)


Ihr Antrag mit der Überschrift „Rohstoffderivate-
märkte gezielt regulieren“ weckt große Erwartungen.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Wir warten auf Ihre Anregungen!)


Wenn man ihn sich allerdings genauer anschaut, dann
macht sich – so war es jedenfalls bei mir, Herr Kollege –
tiefe Enttäuschung breit. Denn ähnlich wie in der Rede
meines Vorredners werden die Probleme hier auf einer
beschreibenden Ebene benannt, und es sind Tausende
von Prüfaufträgen vorgesehen. Es kommt aber nichts
Konkretes. Es sind alles Dinge, die lange bekannt sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag kommt sehr spät.

Sie greifen viele Verwerfungen auf und wollen erst
einmal die Entwicklung beobachten. Meine Damen und
Herren, Sie sind nicht auf der Vogelwarte eines Natur-
reservats. Sie regieren. Sie können sich nicht mit Be-
obachtungen zufriedengeben, sondern müssen an dieser
Stelle handeln.

Ich sage das auch deshalb, weil wir – da will ich auf-
nehmen, was hier eben gesagt worden ist – Entwicklun-
gen auf den Rohstoffmärkten wahrnehmen, die nicht
mehr damit zu erklären sind, dass sich Angebot und
Nachfrage auseinanderentwickeln, dass die Nachfrage
zu groß ist, dass es vielleicht realwirtschaftliche Fakto-
ren wie Produktionseinbrüche und Produktionsschwie-
rigkeiten, Naturkatastrophen und anderes gibt. Diese
Einflüsse sind es eben nicht, die dazu geführt haben,
dass es auf den Rohstoffmärkten zu Preisexplosionen, zu
Preisblasen und anderem gekommen ist und immer mehr
Menschen in die Hungersnot getrieben werden, dadurch
allein 40 Millionen im letzten Jahr. Das ist mit realwirt-
schaftlichen Faktoren nicht mehr zu erklären. In diesem
Zusammenhang möchte ich den Präsidenten der Welt-
bank, Herrn Zoellick, zitieren, der von einem giftigen
Gemisch aus menschlichem Leid und sozialem Aufruhr
spricht und darauf hinweist, dass es zu Verselbstständi-

gungen auf den Derivatemärkten gekommen ist, die zu
dieser Situation geführt haben.

Es hat Preisexplosionen gegeben. Der Preis für
Grundnahrungsmittel beispielsweise hat sich verdoppelt.
Bei Weizen, Mais, Reis ist es in den Jahren zwischen
2000 und 2011 sogar zu einem Anstieg von über
150 Prozent gekommen. Den Grund dafür hat Kollege
Brinkhaus angesprochen. Allerdings hat er die Verselbst-
ständigung auf diesen Derivatemärkten als Marktent-
wicklung bezeichnet. 1990 waren wir in der Situation,
dass die Derivatemärkte ein Weltvolumen von 2 Billio-
nen Euro und das reale Weltbruttoinlandsprodukt 20 Bil-
lionen Euro umfasst haben; es herrschte also ein Verhält-
nis von 1 : 10. Im Jahre 2010 waren es 600 Billionen
Euro an Derivaten und 60 Billionen Euro an realem
Weltbruttoinlandsprodukt. Das Verhältnis betrug also
10 : 1. Die Welt ist auf den Kopf gestellt worden, und
das ist auch die Ursache für die Explosion auf den Roh-
stoffmärkten. Dies müssen wir mit den Regulierungen
auf den Finanzmärkten angehen. Davon sprechen wir
schon lange, aber Sie nehmen das erst jetzt auf – zu spät,
wie ich schon sagte.


(Beifall bei der SPD)


Wenn man sich anschaut, was Sie jetzt prüfen wollen,
dann stellt man fest, dass Sie nichts weiter machen, als
sich in dem Regime zu bewegen, das wir schon kennen
und das aufgrund der Regulierung, die die Europäische
Kommission vorschlagen wird, kommen wird. Da geht
es um die Finanzmarktrichtlinie zur Regulierung des
Wertpapierhandels; MiFID ist angesprochen worden. Sie
sagen, man solle sie nutzen, um die Transparenz auf den
Märkten zu erhöhen. Richtig! Aber was heißt das kon-
kret? Sind Sie bereit, sehr schnell Maßnahmen zu ergrei-
fen, damit wir zentrale Verrechnungsstellen für die Be-
reiche einrichten, die neben den Börsen und im Schatten
von wichtigen wirtschaftlichen Ereignissen bestehen?
Das sagen Sie nicht konkret. Sie sprechen davon, dass
das Entstehen von Preisblasen eingeschränkt werden
soll. Wie wollen Sie das machen, meine Damen und
Herren? Auch darauf finden wir keinen Hinweis. Bei
Agrarderivaten fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein,
als die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen. Ich
sage es noch einmal: Das ist zu spät.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben das elf Jahre nicht gemacht! Sie haben recht: Das ist zu spät!)


– Diese Entwicklung ist in den letzten elf Jahren voran-
geschritten, aber man hat das erst mit Ausbruch der
Finanzkrise gemerkt, Herr Kollege.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Haben Sie das auch schon gemerkt? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war vor 2009!)


Ich will deutlich sagen: Es war der sozialdemokratische
Finanzminister Peer Steinbrück, der in Pittsburgh mit
deutlichen Worten vorangegangen ist.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So, so! Deutliche Worte! Aber die Leerverkäufe haben Dr. Carsten Sieling Sie zugelassen! Ihr habt die Finanzmärkte liberalisiert!)





(A) (C)


(D)(B)


Seit 2009 regieren Sie. Sie schaffen an dieser Stelle
überhaupt nichts. Ihre Krakeelerei drückt Ihre Armselig-
keit aus; sie zeigt nämlich, dass Sie keine Argumente
haben. So kommen Sie nicht weiter.


(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihr auch nicht! Ihr habt die Finanzmärkte liberalisiert! Ihr seid jetzt ganz groß, wo ihr in der Opposition seid! Vorher habt ihr liberalisiert, sonst gar nichts! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Das ist doch Quatsch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716516100

Herr Kollege, möchten Sie die Zwischenfrage des

Kollegen Heiderich zulassen? – Bitte schön.


Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1716516200

Herr Kollege Sieling, ist Ihnen bekannt, dass die Bun-

deskanzlerin schon beim G-8-Gipfel ein Programm auf
den Weg gebracht hat, um die Spekulationen auf den
Agrarmärkten einzudämmen? Ist Ihnen dieses Pro-
gramm bekannt? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
wir bereits gehandelt haben und dass ein Teil der Lö-
sung, nämlich erst einmal Transparenz auf den Märkten
zu schaffen, bereits existiert? Insofern agieren wir nicht
erst heute, sondern schon seit geraumer Zeit.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1716516300

Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege. Das ist mir

sehr wohl bekannt, und nicht nur mir.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Aha! – Klaus Breil [FDP]: Das ist interessant!)


Dieses Thema wird seit Jahren, allerspätestens zum jet-
zigen Zeitpunkt intensiv diskutiert: in der Öffentlichkeit,
auf internationalen Plattformen und auch hier im Hause
aufgrund verschiedener Aktivitäten und Anträge. Wir
sind überrascht und auch entsetzt darüber, dass die Ko-
alition erst jetzt aufwacht. Sie hätten schon viel weiter
sein können, wenn Sie sich in diesem Punkt von der
Kanzlerin hätten mitschleppen lassen.


(Klaus Breil [FDP]: Hättet ihr doch machen können! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wo bleiben Ihre Anträge?)


Ich frage mich: Warum kommen Sie erst jetzt mit Ihren
Prüfaufträgen? Warum dackeln Sie erst jetzt hinterher?
Das zeigt nur: Diese Koalition ist nicht handlungsfähig
und nicht in der Lage, entsprechende Maßnahmen zu er-
greifen.


(Klaus Breil [FDP]: Sie haben jahrelang nichts gemacht! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Immer dasselbe!)


– Herr Kollege, es ist natürlich immer dasselbe, weil das
Elend mit Schwarz-Gelb immer dasselbe ist.


(Klaus Breil [FDP]: Fakten! – Weitere Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist die Ursache. Verwechseln Sie nicht Ursache und
Wirkung.

Muss das eigentlich so laut sein, Frau Präsidentin?


(Heiterkeit)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716516400

Das muss nicht so sein. Sie sind aber auf jeden Fall

lauter; für Sie haben wir das Mikrofon angestellt.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1716516500

Das nutze ich auch für mich. Ich bedanke mich.

Ich möchte zum Schluss sagen,


(Jens Ackermann [FDP]: Zum Schluss zum Thema!)


dass ich es natürlich nicht versäumt habe, mir anzu-
schauen, was Herr Rösler in den letzten Tagen vorgelegt
hat. Auch dies ist ein Dokument in dem bereits genann-
ten Sinne: eine Aufzählung von bekannten Allgemein-
plätzen. Die Bereitschaft, zu handeln, fehlt. Nehmen Sie
sich endlich der Entwicklung auf den Derivatemärkten
an, und ergreifen Sie entsprechende Maßnahmen! Ich
frage mich, warum Sie zu den vielen Vorschlägen, die es
gibt, nichts Konkretes sagen. Warum ergreifen Sie nicht
die Gelegenheit beim Schopf und schlagen uns die Ein-
führung eines wesentlichen Instruments vor?


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Machen Sie wenigstens einen Vorschlag! Nur einen einzigen!)


Warum sprechen Sie sich nicht für die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer zur Beschränkung der Finanz-
märkte aus?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich hoffe, die nächsten Redner haben trotz der FDP den
Mut, das zu sagen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Mein Gott! Ein ganz Großer! So viel Mut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716516600

Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1716516700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! In der Tat ist dieses Thema von außerordentli-
cher Wichtigkeit, und zwar aus zwei Gründen. Zum ei-
nen ist die Rohstoffversorgung von elementarer Bedeu-
tung für die deutsche Wirtschaft. Die Industrie muss mit
Rohstoffen versorgt werden. Die Industrie produziert
Güter und schafft damit überhaupt erst die Möglichkeit,





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


dass sich der Arbeitsmarkt im tertiären Sektor so wahn-
sinnig gut entwickelt, wie er sich in der Vergangenheit
entwickelt hat. Rohstoffe sind die Grundlage für jedes
erfolgreiche Wirtschaften, für jede Form von Wirt-
schaftswachstum. Deswegen haben sie eine große Be-
deutung für Deutschland.

Zum anderen gibt es Rohstoffe, die wir alle zum Le-
ben brauchen, nämlich die Lebensmittel. Deshalb erfährt
dieses Thema eine besondere Beachtung. Es wird von
den Menschen in besonderer Art und Weise wahrgenom-
men, weil es ihr unmittelbares Lebensumfeld betrifft.
Dieses Thema ist daher moralisch-ethisch aufgeladen.

Dieser Bereich ist nicht grau, vielmehr bunt, auf gar
keinen Fall aber schwarz-weiß. Rohstoffderivatgeschäfte
sind wichtig für die Realwirtschaft; denn sie hat ein Inte-
resse daran, sich gegen Risiken abzusichern. Der Her-
steller von Pommes frites zum Beispiel möchte das
ganze Jahr über Pommes frites anbieten, und zwar in
gleichbleibender Qualität und – das ist auch aus Sicht
der Verbraucher wichtig – zu einem gleichbleibenden
Preis. Deswegen versucht er, sich Kartoffeln möglichst
frühzeitig zu sichern. Dazu nutzt er ein Derivat. Insofern
haben Derivate eine wichtige Funktion auf diesem
Markt.

Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen schon im-
mer gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenen
Faktoren beeinflusst werden. Da ist zum einen die
Knappheit des Gutes. Es kommt darauf an, wie man an
das Gut herankommt. Das ist teilweise relativ aufwen-
dig. Das wird klar, wenn wir zum Beispiel an den Berg-
bau denken. Wir haben Unwägbarkeiten: Wenn eine
Grube verschüttet ist, steht sie erst einmal nicht zur Ver-
fügung. Das bedeutet, dass es sofort zu einer Verknap-
pung des Gutes und in der Folge zu einer Preisschwan-
kung kommt. Auf den Agrarmärkten hat man mit dem
Bevölkerungswachstum zu kämpfen und nicht zuletzt
mit dem Wetter und der politischen Lage in den jeweili-
gen Fördergebieten, die bezogen auf einige Märkte au-
ßerordentlich heikel ist.

Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unter-
wegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand muss
das Risiko übernehmen. Nicht immer hat man eine ent-
sprechende Gegenpartei zur Verfügung. Das heißt, man
braucht jemanden, der bereit ist, zu sagen: Okay, ich
nehme dieses Risiko auf mich. – Das kennen wir bei-
spielsweise von den Buddenbrooks. In dem großen Ro-
man von Thomas Mann hat Thomas Buddenbrook die
Jahresernte von Gut Pöppenrade zum halben Preis „auf
dem Halm“ gekauft und damit Schiffbruch erlitten, weil
es einen Hagelschlag gegeben hat. Buddenbrook hat als
Spekulant das Risiko auf sich genommen. In diesem Fall
war das positiv für den Gutsbesitzer; denn er hatte für
seine Ernte zumindest den halben Preis erzielt.

Wir beobachten – auch das ist richtig –, dass Finanz-
investoren zunehmend auf Rohstoffmärkte ausweichen.
Diese Entwicklung kann man durchaus erklären: Die Fi-
nanzinvestoren weichen von den stärker regulierten
Märkten auf einen Markt aus, von dem sie den Eindruck
haben, dass er noch nicht so stark reguliert ist. Man muss
sagen: Auch das ist nicht zuletzt ein Erfolg der Regulie-

rungsbemühungen dieser Bundesregierung und der sie
tragenden Koalitionsfraktionen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir wollen diese „Finanzialisierung“ der Rohstoff-
märkte, wie es heißt, an dieser Stelle aber nicht. Wir
möchten, dass die Rohstoffmärkte ganz normal, von den
natürlichen Preisschwankungen getrieben werden. Sie
sollen einen realwirtschaftlichen Hintergrund haben und
von den natürlichen Faktoren beeinflusst werden. Diese
Finanzialisierung kann die Schwankungen verstärken.
Das genau wollen wir nicht.

Was wir auch nicht wollen, sind entsprechende Preis-
obergrenzen im Bereich der Landwirtschaft – das ist ein
Instrument, das immer wieder ins Spiel gebracht wird –;
denn wenn man eine Preisobergrenze festsetzt, muss
man natürlich auch eine Preisuntergrenze festsetzen, so-
zusagen einen Mindestpreis einführen. Das wäre ein
Eingriff in den Markt, den wir an dieser Stelle nicht wol-
len.

Mit dem vorliegenden Antrag sollen die Bemühungen
der Bundesregierung unterstützt werden. Er liefert Argu-
mente und zielt darauf, dass der Deutsche Bundestag
seinen politischen Willen zum Ausdruck bringt. Die
Maßnahmen, die die Bundesregierung auf G-20- und
EU-Ebene bereits angestoßen hat, sollen weiter in die
richtige Richtung vorangetrieben werden.

Wir schlagen ein Bündel von Maßnahmen vor, mit
denen wir die Fehlentwicklungen in den Griff bekom-
men können. Die Transparenz ist ein ganz scharfes
Schwert;


(Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt man über Nebeneinkünfte auch, bei der Offenlegung! Dafür ist die FDP gar nicht!)


denn der Spekulant scheut das Licht. Eine Spekulation
ist nur dann erfolgreich, wenn Sie über Wissen verfügen,
das nur Sie haben. Nur dann können Sie Gewinne ma-
chen. Daneben haben wir die Positionslimits. Auch das
ist ein Mittel, um Spekulationspositionen zu vermeiden.

Wir wollen eine verstärkte Zusammenarbeit der Auf-
sichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Überblick
zu haben, wie sich ein Markt entwickelt, und Fehlent-
wicklungen zielgerichtet unterbinden zu können. Da-
rüber hinaus greift der Antrag den Hochfrequenzhandel
auf – es ist richtig, dass dies getan wird – und verortet
ihn als einen Bereich, der einer Regulierung bedarf.
Auch hier unterstützen wir die Bundesregierung in ihren
Bemühungen, diesen Bereich einer Regulierung zuzu-
führen. Die Hochfrequenzhändler sollen unter Finanz-
aufsicht gestellt werden, und den Börsenbetreibern sol-
len weitere Mittel an die Hand gegeben werden, um
gegebenenfalls einzuschreiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unter dem Strich geht es in dem Antrag um Folgen-
des: Wir unterstützen die bereits getroffenen Maßnah-
men der Bundesregierung sowie die von ihr mitgetrage-





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


nen Maßnahmen auf EU-Ebene und auf G-20-Ebene.
Wir als Deutscher Bundestag dokumentieren hier unse-
ren Willen, die Bundesregierung bei der Umsetzung der
Maßnahmen, die bereits getroffen wurden, weiterhin zu
unterstützen. Es ist ein sehr guter Antrag. Man kann ihm
zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716516800

Ulla Lötzer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716516900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Natürlich müssen wir in diesem Zusammenhang über die
Rolle der Finanzmarktakteure und der neuen Finanzin-
vestoren auf den Rohstoffmärkten reden. Sie haben zwi-
schen 2003 und 2008 ihre Investitionen in die Rohstoff-
märkte von 13 Milliarden Euro auf 200 Milliarden Euro
erhöht; inzwischen haben sie diese Summe verdoppelt.

Die Deutsche Bank ist einer der wichtigsten Spieler in
diesem Derivatemarkt. Sie hat knapp 5 Milliarden US-
Dollar direkt in Agrarrohstofffonds und knapp 3,6 Mil-
liarden US-Dollar in Energiefonds investiert, 45 eigene
Rohstofffonds aufgelegt und beschäftigt in diesem Be-
reich 250 Fachleute in 21 Städten. Sie wollen mir doch
nicht im Ernst sagen, dass dies mit einer Absicherung
gegen Preis- und Währungsschwankungen bei Realge-
schäften zu tun hat. Das hat mit Spekulationen und Mil-
liardengewinnen zu tun.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus Breil [FDP]: Das ist Marktanalyse!)


Der Agrarfonds der Deutschen Bank gilt als weltweit
größter. Es geht aber nicht nur um Spekulationen. Diese
Anleger sind zusammen mit den fünf bis sechs großen
Bergbaukonzernen, den Rohstoffhändlern wie Glencore
und den Agrarmultis verantwortlich für Hungersnöte,
Landgrabbing, skandalöse Arbeits- und Umweltbedin-
gungen beim Abbau von Rohstoffen in Entwicklungs-
ländern und, wie es in Ihrem Ressourceneffizienzpro-
gramm heißt, für 18 Kriege, die durch Konflikte um
Rohstoffe verursacht werden. Deshalb sind diese De-
batte und entsprechende Maßnahmen dringend erforder-
lich. Es ist schön, dass jetzt auch Schwarz-Gelb dieses
Thema aufgreift und einen Vorschlag macht; besser spät
als nie. Aber die Maßnahmen, die Sie treffen, sind in
jeglicher Hinsicht völlig unzureichend.

Erstens. Sie sind nicht, wie hier eben dargestellt, der
Treiber auf der Ebene der G 20, wenn es um die Begren-
zung geht, sondern eher der Bremser. Bei Agrarrohstof-
fen und sogenannten Konfliktmetallen sind zum Beispiel
selbst die USA weiter. Sie treffen Maßnahmen, die die
Bundesregierung ablehnt. Dort wurde beispielsweise das
Vorsichtsprinzip eingeführt. Das heißt, dass Behörden
aufgefordert sind, exzessiver Spekulation vorzubeugen.
Das fehlt bei Ihnen völlig. In den USA wurde bereits
2010 festgelegt, dass börsennotierte Unternehmen und

deren Zulieferer der Aufsichtsbehörde Rechenschaft
über die Herkunft bestimmter Konfliktrohstoffe und da-
mit zusammenhängender Zahlungsströme ablegen müs-
sen. Die Einführung einer solchen Vorschrift auf euro-
päischer Ebene verweigert die Bundesregierung.

Zweitens. Der europäische Vorschlag sieht zumindest
Obergrenzen für die Zahl der abgeschlossenen Verträge
vor, die einzelne Händler eingehen können, sogenannte
Positionslimits. Sie wollen das jetzt mit alternativen Re-
gelungen, über die Sie sagen, sie hätten eine gleichwer-
tige Wirkung, aufweichen. Das wäre wieder das perfekte
Schlupfloch für die Finanzindustrie, die ihre Lobbytätig-
keit seit Wochen in diese Richtung konzentriert.

Drittens. Sie ziehen keine Konsequenz aus Ihrer Ana-
lyse des Hochfrequenzhandels. Dieser wird durch eigen-
ständig handelnde Hochleistungscomputer auf Basis
elektronisch erhaltener Marktinformationen betrieben.
Wegen der großen Menge lassen sich hier mit minimalen
Kursdifferenzen Milliardengewinne erzielen. Das hat
nichts, aber auch gar nichts mit einer Absicherung gegen
Preisänderungen oder Wechselkursrisiken bei realen Ge-
schäften zu tun. Deshalb gehört der Hochfrequenzhandel
wie andere außerbörsliche Geschäfte ganz einfach ver-
boten und nicht nur registriert.


(Beifall bei der LINKEN)


Viertens. Sie machen keine konkreten Vorschläge zur
Erhöhung der Transparenz bezüglich Rohstoffhändlern,
-investoren und -produzenten. Das wäre aber neben der
Beschränkung der Spekulation äußerst dringend.

Die FDP meinte bei einer Anhörung Anfang Februar
dieses Jahres, dass die Regierungen der Entwicklungs-
länder selbst die Verantwortung dafür hätten, transpa-
rente Rohstoffwertschöpfungsketten aufzubauen. Ich be-
streite sicherlich nicht, dass es in dem einen oder
anderen Land schwache Regierungsstrukturen und Kor-
ruption gibt. Aber auch Sie wissen, dass die Rohstoff-
märkte durch mächtige transnationale Konzerne und in-
zwischen auch durch Finanzinvestoren außerordentlich
vermachtet sind.

Es gibt viele Beispiele dafür, dass lateinamerikani-
sche Länder die Rohstoffförderung aufgrund ihrer nega-
tiven Erfahrungen mit diesen skrupellosen Konzernen in
die eigene Hand nehmen wollen oder zumindest hohe
Konzessionszahlungen oder Steuern verlangen. Dann
aber werden sie wegen Wettbewerbsverzerrung vor die
WTO gezerrt. Der freie Zugang zu billigen Rohstoffen
ist Ihnen wichtiger als Umwelt- und Sozialstandards, die
Entmachtung der Konzerne und Finanzmarktakteure
oder die Verhinderung von Spekulation.

Kurzum: Sie schützen nicht die Produzenten und Un-
ternehmen, die realwirtschaftliche Risiken absichern.
Erst recht nicht schützen sie die Menschenrechte. Sie
sorgen auch nicht für Konfliktfreiheit in Rohstofffragen.
Sie sind die Bremser. Wenn Sie tatsächlich etwas tun
wollen, dann müssen Sie endlich von dieser Bremse ge-
hen, auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716517000

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege

Dr. Gerhard Schick.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass uns dieser Antrag vorliegt, ist grundsätzlich zu be-
grüßen. Die Fragen sind bloß: Was steht eigentlich Sub-
stanzielles drin? Ist das dem Problem wirklich angemes-
sen? Herr Brinkhaus hat gerade gesagt, wir müssten im
Hinblick auf Rohstoffderivate das verhindern, was bei
Finanzderivaten passiert ist. Diesem Satz kann ich nur
zustimmen. Man muss aber darauf hinweisen, dass die
jüngsten Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten
sehr viel damit zu tun haben, dass die Europäische Zen-
tralbank gerade viel zusätzliche Liquidität in den Markt
gibt und dies notwendig geworden ist, weil die Bundes-
regierung das Problem mit ihrer Krisenpolitik nicht in
den Griff bekommen hat. Das ist ein Teil der unangeneh-
men Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Was? Sie haben doch alles abgewehrt! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja an den Haaren herbeigezogen!)


Konkret zu Ihrem Antrag. Sie fordern erstens die kon-
sequente Umsetzung der von den G 20 beschlossenen
Maßnahmen. Das klingt knackig. Aber Sie weichen
diese Forderung wieder auf. Ich will das deutlich ma-
chen: Die G 20 haben beschlossen, dass konkrete Ex-
ante-Positionslimits eingesetzt werden und die Regulato-
ren über diese verfügen sollten. Was steht in Ihrem An-
trag? Es sollen Alternativen zu starren Ex-ante-Limits
intensiv geprüft werden. Die harten Regeln, die die G 20
festgelegt haben, wollen Sie offensichtlich nicht mehr.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ist es!)


Daran sieht man, dass hinter Ihren knackigen Worten an
manchen Stellen im Endeffekt eine Aufweichung der
G-20-Positionen steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Heiße Luft!)


Das zweite Beispiel hört sich sehr interessant an. Sie
wollen, dass angemessene Eingriffsinstrumente einge-
führt werden und die Transparenz erhöht wird. In Punkt
2 c Ihres Antrags heißt es, man müsse den legitimen Ab-
sicherungsinteressen der Realwirtschaft angemessen
Rechnung tragen. Wer die entsprechende Debatte in den
USA verfolgt hat, weiß: Dort ist nicht darüber geredet
worden, dass die Interessen der Finanzindustrie einge-
schränkt werden könnten. Dort hat man vielmehr ganz
gezielt die realwirtschaftlichen Unternehmen vorge-
schickt. Dadurch wurde die knackige Regulierung im
Hinblick auf Derivate im Endeffekt verhindert.

Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie mit einer an-
gemessenen Berücksichtigung der Realwirtschaft mei-
nen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wird

als eigentlich gedacht. Wenn Sie diesen Interessenkon-
flikt nicht klar offenlegen, dann sagen Sie nicht, was Sie
wollen. Dann sind die Überschriften, die Sie liefern,
nicht viel wert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Herr Schick, wenn da nicht mehr kommt, dann ist das ein guter Antrag gewesen!)


Ich möchte ganz konkret auf einen Schwerpunkt ein-
gehen, den wir in dieser Debatte legen. Dies betrifft die
Frage der Agrarrohstoffe. Herr Sänger hat gesagt, diese
Debatte sei manchmal moralisch-ethisch aufgeladen. Da
hat es mich schier vom Stuhl gerissen. Die Debatte ist
nicht aufgeladen, sondern es ist eine ethische Debatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wenn in Deutschland oder in Europa Menschen in
Produkte investieren und davon profitieren, wenn der
Preis für Weizen steigt, und wenn auf der anderen Seite
der Erde der Preis für Weizen steigt und deswegen Men-
schen Schwierigkeiten haben, ihren Hunger zu stillen,
dann ist das eine ethische Frage, und die muss man be-
antworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was steht dazu in Ihrem Antrag? Sie treten lediglich
dafür ein, für Agrarderivate zusätzliche und strengere
Regulierungsmaßnahmen zu „prüfen“.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Gegenvorschlag von Herrn Schick!)


Wir haben bereits einen Antrag vorgelegt, den Sie
abgelehnt haben. In diesem Antrag haben wir etwas
Konkretes dazu vorgeschlagen. Wir haben in diesem An-
trag vorgeschlagen, Finanzinstituten soll untersagt wer-
den, in physische Agrarrohstoffe zu investieren; denn
wir müssen das trennen vom Markt für Finanzderivate.
Banken sollen natürlich nach wie vor mit Finanzderiva-
ten handeln müssen. Der Rohstoffbereich muss aber
davon getrennt werden, damit die „Finanzialisierung“,
die Sie beklagen, wirklich zum Halten kommt. Ohne
diese Schneise werden Sie das Phänomen, das Sie bekla-
gen, nicht stoppen. Den Antrag, den wir dazu gestellt
haben, haben Sie aber abgelehnt. Offensichtlich haben
Sie ein Problem damit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem sind wir der Meinung, indirekte Investitio-
nen über Derivate in Agrarrohstoffe sollen untersagt
werden. Wir sagen: Mit Essen spielt man nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will ein konkretes Beispiel nennen. Um einmal
nicht die Deutsche Bank zu zitieren, habe ich mir ange-
botene Produkte noch einmal angeschaut und ein Pro-
dukt der Royal Bank of Scotland ausgewählt, nämlich
ein Open-end-Zertifikat auf Weizen. Solche Produkte





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


werden im Internet und an anderen Stellen schön bewor-
ben: Profitieren Sie von der rasanten Preisentwicklung
von Agrarrohstoffen. Dies ist eines der Produkte, bei
dem Sie das tun können.

Wir halten es ethisch aber nicht für richtig, die Preise
von Produkten in die Höhe zu treiben, die die Lebens-
grundlagen von anderen Menschen sind. An dieser Stelle
sind wir für Verbote auf Finanzmärkten. Wir meinen, in
diese Richtung sollte die Bundesregierung auch hier in
Deutschland tätig werden, aber nicht nur einen Marke-
tingantrag hier vorlegen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716517100

Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1716517200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Beiträge der Opposition waren nicht wirk-
lich sehr hilfreich in einer doch sehr wichtigen Debatte
zu einem sehr wichtigen und bewegenden Thema, das
aus ethischen Gründen zu diskutieren ist, Herr
Dr. Schick. Wir sind Menschen – das gilt wahrscheinlich
für viele in diesem Haus –, die aus einer christlichen
Motivation heraus Politik machen für die Menschen in
der Verantwortung für unser Land, für Europa,


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Für die ganze Welt!)


aber auch für die ganze Welt, ja, auch für die ganze Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen müssen wir hier Regelungen finden, die
angemessen sind. Das Thema ist aber nicht so einfach
abzugreifen, wie Sie es angesprochen haben, Herr
Dr. Schick. Ich glaube, man muss auch hier in die Veräs-
telungen der Thematik schauen. Einfach Dinge zu ver-
bieten – das hatte der Kollege Brinkhaus angesprochen –,
das kann man aufgrund der weltweiten Komplexität der
Materie nicht.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Doch, das geht schon! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wer braucht denn das Produkt, von dem ich gesprochen habe?)


Wir sind dabei, Regelungen zu finden. Herr
Dr. Sieling, Ihre Rede war diesem Thema nicht ange-
messen. Sie beschuldigen uns, wir würden Dinge auf die
lange Bank schieben.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist leider so! Das freut mich ja nicht!)


Sie waren jedoch auch einmal an der Regierung und
haben das Thema nicht angepackt. Wir sind dabei, einen
großen Strauß von Themen zu bearbeiten, den Euro zu

retten und vieles mehr richtig anzugehen und verlässli-
che Entscheidungen für die Menschen auf den Weg zu
bringen. Dazu gehört auch der Rohstoffhandel. Wir müs-
sen Lösungen für die Menschen finden, die angemessen
und praktikabel sind. Das geht halt nicht mehr allein be-
zogen auf Deutschland, sondern das geht nur europaweit
bzw. weltweit.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Die ganze Welt wartet drauf!)


Deswegen ist die Bundeskanzlerin dabei, auf der Ebene
der G 20 darüber zu verhandeln. Auf der europäischen
Ebene sind wir dabei, diese auf der Ebene der G 20 aus-
gehandelten Dinge umzusetzen. Das dauert einfach. Hier
brauchen wir auch die Unterstützung des ganzen Hauses.

Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig,
dass etwas getan werden und man verlässliche Lösungen
finden muss. Der Populismus, den Sie hier an den Tag
gelegt haben, Herr Sieling, gehört aus meiner Sicht nicht
wirklich dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber Ihre Marketingnummer auch nicht!)


– Na ja, wir machen hier kein Marketing, sondern ver-
lässliche Politik für die Menschen in Deutschland und in
der Welt. Ich habe ja vorhin versucht, das anzusprechen.

Prinzipiell sind Termingeschäfte im Rohstoffbereich
nicht allgemein zu verteufeln. Sie dienen sowohl den
Produzenten von Rohstoffen als auch den realwirtschaft-
lichen Unternehmen als Instrument zur Absicherung vor
Preisrisiken. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass
Rohstoffderivate auch für spekulative Zwecke eingesetzt
werden. Diese Spekulationen müssen wir verhindern;
denn es darf nicht sein, dass hier Fehlentwicklungen auf-
treten. Hier müssen gezielte Regulierungsmaßnahmen
eingefordert werden.

Fehlende Liquidität und mangelnde Absicherung sind
Auswirkungen und können vor allem auf den Märkten
zu schweren Verwerfungen führen. Wir als Bundesrepu-
blik Deutschland haben in unserem Land nicht unbe-
dingt sehr viele Rohstoffe. Deswegen ist für uns der
Rohstoffhandel natürlich wichtig. Wie vorhin schon
angesprochen, gehört auch eine effiziente Regulierung
auf die Tagesordnung unseres politischen Handelns.

Die Transparenz ist eines der großen Themen, die wir
hier ansprechen müssen. Es muss eine Aufsicht geben,
die die Fehlentwicklungen sehr frühzeitig erkennt. Preis-
übertreibungen auf den Terminmärkten müssen ein-
gedämmt werden. Eine solide Informationsbasis be-
schränkt darüber hinaus auch die Gefahren von Markt-
missbrauch. Die Europäische Kommission hat bereits in
ihrem Vorschlag zur Überarbeitung der MiFID konkrete
Vorschläge zur Verbesserung der Transparenz gemacht.

Die Transparenz ist aber nur ein Schritt für eine er-
folgreiche Regulierung. Damit die Aufsichtsbehörden
gegen Fehlentwicklungen effektiv vorgehen können,
brauchen sie die nötigen Eingriffsbefugnisse. Im
Rahmen der MiFID soll es hierzu die Möglichkeit zur
Verhängung von Positionslimits geben.





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


Weitere wichtige Bestandspunkte unseres Antrags
sind die strengere Regulierung des Hochfrequenzhan-
dels, die Verbesserung der Aufsicht, die Prüfung strenge-
rer Regeln für Agrarderivate und striktere Marktmiss-
brauchsregelungen für Rohstoffderivate. Meine sehr
geehrten Damen und Herren der Linken, wir arbeiten
also schon daran, die Themen, die Sie angesprochen ha-
ben, umsetzen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Spekulationen mit Rohstoffen, gerade im Nah-
rungsmittelbereich, halte ich für bedenklich. Wir, die
christlich-liberale Koalition, setzen uns daher für eine
effektive Regulierung der Rohstoffderivatemärkte ein.
Wir fordern eine rasche Umsetzung der Regeln auf euro-
päischer Ebene. Das Wohlergehen der Menschen, meine
sehr geehrten Damen und Herren in diesem Hohen
Hause, muss Ziel unseres Handelns sein.

Kollege Brinkhaus hat es angesprochen: Wir haben in
dieser Woche einen sehr interessanten Kongress der
Fraktionen gehabt, auf dem auch der Bundesfinanz-
minister gesprochen hat. Er hat eine sehr wichtige Äuße-
rung gemacht, die wir alle uns als Handlungsrahmen
geben sollten. Er sagte: Wir müssen die Manipulations-
risiken auf diesen Märkten verringern. Wenn wir dem
Treiben tatenlos zusehen, haben wir aus der Finanzkrise
nichts gelernt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Schlüsse aus
der Krise, die wir im Moment bewältigen, ziehen kön-
nen, auch in diesem Bereich. Wir leben in einem Land,
in dem die Menschen darauf vertrauen, dass die Politik
die Dinge verantwortungsvoll umsetzt und dass wir dem
Handlungsrahmen folgen: unserem Grundgesetz und der
Wirtschaftsordnung, die wir uns gegeben haben, nämlich
der sozialen Marktwirtschaft.

Es gilt hier, dass Regelungen getroffen und Grenzen
gesetzt werden. Dies gilt auch in Bezug auf den Roh-
stoffhandel. Das darf aber nicht nur in unserem Land,
sondern muss auch auf europäischer Ebene und weltweit
passieren. Deswegen sollten wir gemeinsam daran arbei-
ten, dass wir Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung
in unserem Land, in Europa und weltweit sichern kön-
nen.

Deswegen bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren An-
trag; denn nur gemeinsam können wir verlässlich Politik
für die Menschen in unserem Land und auf dieser Welt
machen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716517300

Für die SPD-Fraktion hat Lothar Binding das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1716517400

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen wa-
ren enttäuscht darüber, dass wir den Antrag nicht
rundum gut finden; denn die Überschrift finden wir
rundum gut. Was erwartet man unter der Überschrift
„Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“? Man hat
schließlich seine Erwartungen, und als Opposition er-
wartet man auch konkrete Vorschläge.

Wir finden aber nichts zur Finanztransaktionsteuer.
Wir finden nichts zum Trennbankensystem. Wir finden
nichts dazu, wie Handelsplattformen organisiert werden
müssen, um graue und schwarze Märkte in den Griff zu
bekommen. Wir finden nichts dazu, wie Sie zwischen
spekulativem und notwendigem Hedging unterscheiden
wollen. Man merkt: Wir finden nichts Konkretes.

Herr Brinkhaus wollte uns erklären, wie das Thema
angepackt werden muss. Im Antrag finden wir das Stich-
wort „Transparenz“. Transparenz funktioniert immer
und überall; deshalb funktioniert es letztlich nirgends.


(Beifall bei der SPD)


Im Antrag ist von angemessenen Eingriffsinstrumen-
ten die Rede. Grundsätzlich sind wir sofort dafür, aber
wir müssen auch wissen, was das konkret ist. Sie wollen
den legitimen Absicherungsinteressen angemessen
Rechnung tragen. Schon wieder heißt es „angemessen“.
Wir wollen doch alle angemessene Politik machen. Das
muss man so nicht aufschreiben.

Sie wollen strengere Regulierungsmaßnahmen. Die
wünschen wir uns auch. Aber wie wollen Sie vorgehen?
Wollen Sie irgendetwas Spezielles verbieten, oder haben
Sie Ideen? Nein. Es bleibt im Abstrakten und Allgemei-
nen. Das macht die Sache kompliziert.

Wir haben schon viel über Ethik gehört. Vielleicht
können wir die Moral noch dazunehmen. Die Agrar-
märkte sind total unter Druck. Agrarmärkte heißt auch:
Weizen, Mais und Sojabohnen. Wir wissen genau: Die
Volatilität, also die Schwankungsbreite, der Preise im
Zeitverlauf führt dazu, dass die Preise kontinuierlich
steigen. Die kontinuierliche Preissteigerung hat etwas
mit kontinuierlicher Gewinnzunahme zu tun. Die konti-
nuierliche Gewinnzunahme hat etwas damit zu tun, dass
immer mehr Menschen ärmer werden. Deshalb wollen
wir etwas dagegen tun.


(Beifall bei der SPD)


Das kommt daher, dass Finanzinvestoren nicht nur
von den Preisschwankungen profitieren, nein, sie erzeu-
gen sie auch. Deshalb muss man genau da ansetzen, Ar-
bitragegeschäfte auf dieser Ebene zu verbieten. Diesen
Mut muss man haben. Das widerspricht natürlich jedem
neoliberalen Konzept, demzufolge klar ist: Die Märkte
reinigen sich selbst. Genau diese Ideologie müssen wir
durchbrechen. Das merkt man Ihrem Antrag nicht an.
Das hätten wir uns als Opposition aber gewünscht, weil
es in diesen Märkten ein starkes Herdenverhalten gibt.
So schaukeln sich die Preise auf.





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


Wir wissen: Es gibt Schwarmintelligenz. Wir haben
aber auch gelernt: In diesen Märkten gibt es noch mehr
Schwarmdummheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb glaube ich, wir müssen den strengen, monoto-
nen Preisgestaltungen durch diese Menschen oder sogar
Preisgestaltungen, die durch automatische Investitions-
entscheidungen entstehen, begegnen. Denn sowohl bei
den Preissteigerungen machen Menschen Gewinne als
auch dann, wenn die Preise sinken. Wenn wir Pech
haben und es nur dumm genug anstellen, dann zahlt hin-
terher der Steuerzahler zuerst den Gewinn des einen und
dann den Gewinn des anderen.

Wenn man diese Mechanismen nicht aufbricht, dann
läuft der Antrag ins Leere. Mit dem Abstraktionsniveau,
auf dem Sie Ihren Antrag formuliert haben, haben wir,
glaube ich, noch keine Instrumente, um die Verteuerung
spekulativer Transaktionen, eine Verlangsamung der
Handelsfrequenz und eine Verlängerung der Assethalte-
fristen zu erreichen und um letztendlich bestimmte not-
wendige Hedgefunktionen in der Realwirtschaft zu er-
halten.

Wir wissen alle: Hedging an sich ist nicht böse, aber
so, wie es heute betrieben wird, ist es sehr oft schädlich
und vergrößert die Armut in der Welt.

Ich glaube, dass es nicht nur um Finanzpolitik geht.
Ich will nur einen Aspekt erwähnen. Es geht auch
darum, Handelsplätze zu koordinieren. Dazu braucht
man eine funktionierende Außenpolitik. Wenn wir uns
so dilettantisch aufstellen und weiterhin eine solche
Außenpolitik betreiben, dass das Misstrauen gegenüber
Deutschland zunimmt, dann kann der Finanzminister
international keine diplomatische Plattform finden, auf
der er das verabredet.

Wir müssen deshalb eine Außenpolitik höherer Quali-
tät erreichen. Wenn wir das schaffen, dann können wir
eine bessere Finanzpolitik machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Schwierig mit dem vorhandenen Personal! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wie war das mit der Schwarmdummheit? Die gibt es nicht nur auf den Finanzmärkten!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716517500

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8882 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Dazu sehe ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Ar-
beitsplätze und Tarifverträge erhalten – Ein-
fluss der Beschäftigten stärken

– Drucksache 17/8880 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu
eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Sabine
Zimmermann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716517600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Bei Schlecker sollen 11 750 Arbeitsplätze ab-
gebaut werden. Es sind vor allen Dingen Frauenarbeits-
plätze. Viele Frauen sind alleinerziehend und viele jen-
seits der 50. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich
die Kolleginnen und Kollegen von Schlecker begrüßen,
die heute „ihre“ Debatte verfolgen. Herzlich willkom-
men!


(Beifall bei der LINKEN)


Ich denke, ich spreche in eurem Namen, wenn ich sage:
Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung den
Schlecker-Beschäftigten bisher kein klares Signal gege-
ben hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht hier um die nackte Existenz der Kolleginnen und
Kollegen sowie ihrer Familien. Wir können doch nicht
zulassen, dass so viele Arbeitsplätze in Deutschland ab-
gebaut werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Linke sagt klar: Die Politik trägt eine Mitverant-
wortung. Sie alle hier, die Fraktionen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP, haben die Ge-
setze gemacht, die es einem Herrn Schlecker erlauben,
ein Unternehmen mit Milliardenumsätzen nach Gutsher-
renart zu führen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch absurd!)


Sie alle haben auch durch die Gesetzeslockerungen etwa
bei den Ladenöffnungszeiten dazu beigetragen, einen
brutalen Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel an-
zuheizen und eine Spirale nach unten in Gang zu setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Politik kann sich also nicht aus der Verantwortung
stehlen. Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben am
Wochenende verlauten lassen, es seien 20 000 offene
Stellen im Einzelhandel vorhanden. Sie haben aber ver-
gessen, zu erwähnen, dass es zugleich 300 000 arbeits-
lose Menschen in dieser Branche gibt. Wie soll das denn
der Markt regeln?





Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


Offen bleibt auch, welchen Beitrag die Bundesregie-
rung wenigstens für eine mögliche Transfergesellschaft
leisten will. Hier brauchen wir schnell klare Antworten.


(Beifall bei der LINKEN)


Es drängt sich im Übrigen der Verdacht auf: Dieser Re-
gierung sind Frauenarbeitsplätze weniger wert, und das
heute, am 8. März.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Die Linke legt heute einen Antrag zur Rettung der Ar-
beitsplätze bei Schlecker vor. Es geht um die Beschäftig-
ten. Es geht nicht um Anton Schlecker. Er hat dieses De-
saster maßgeblich zu verantworten. Er muss mit seinem
vollen Familienvermögen haften. Wir brauchen hier
volle Transparenz über die Vermögensverhältnisse von
Anton Schlecker.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Beschäftigten haben das Unternehmen großge-
macht, mit ihrer Hände Arbeit. Sie haben Betriebsräte
gegründet. Sie haben für Tarifverträge gestritten. Das al-
les darf doch nicht umsonst gewesen sein. Wir fordern
von der Bundesregierung, sich für ein alternatives Unter-
nehmenskonzept starkzumachen. Das, was der Insolvenz-
verwalter jetzt vorgelegt hat, ist kein Unternehmenskon-
zept, sondern ein Kahlschlagkonzept.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Beschäftigten und Verdi wollen etwas anderes. Sie
wollen die Filialen und die Arbeitsplätze weitgehend ret-
ten.

Denkbar wäre etwa der Umbau des Unternehmens zu
einem modernen Nahversorger mit starker Belegschafts-
beteiligung.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konsum!)


– Sie können eigene Ideen einbringen – das ist ganz ein-
fach – und nach mir noch reden.

Für einen solchen Umbau kann es dann auch staatli-
che Hilfen geben. Um dies zu entwickeln, bedarf es aber
Zeit. Deshalb fordern wir eine Änderung des Insolvenz-
rechts und auch, dass das Insolvenzgeld länger als drei
Monate gezahlt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn die Kolleginnen und Kollegen brauchen Zeit. Man
muss ihnen die Pistole von der Brust nehmen.

Arbeitslosigkeit kostet pro Beschäftigten rund
18 000 Euro pro Jahr. Selbst wenn jeder zweite Beschäf-
tigte einen neuen Job findet, würden sich die gesell-
schaftlichen Folgekosten der Arbeitslosigkeit auf
113 Millionen Euro im Jahr belaufen. Es wäre doch
Wahnsinn, wenn die Politik Arbeitslosigkeit statt Ar-
beitsplätzen finanzieren würde. Ich fordere Sie im Na-
men der vielen Tausend Beschäftigten von Schlecker
und der Linken auf, endlich zu handeln. Die Zeit drängt.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716517700

Paul Lehrieder hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1716517800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Für die Zuschauer auf den Tribünen,
insbesondere für die Beschäftigten der Firma Schlecker:
Auf der linken Seite dieses Hauses fehlen heute die
Männer, weil heute der Internationale Frauentag ist. So
geht die Linke mit Ihrem Anliegen um. Die Hälfte der
Fraktion wird ausgegrenzt, wenn es darum geht, über
diesen Tagesordnungspunkt zu diskutieren.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist ja lächerlich! – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was die machen, ist reine Schaumschlägerei! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Das ist Ihr Verständnis von Demokratie, meine Damen
und Herren von den Linken.

Wir arbeiten lieber mit unseren Frauen zusammen,
um die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Die Grünen
machen es genauso. Die SPD macht es so. Die FDP
macht es so. Bei den Linken trägt man exotische Tücher
und grenzt die Hälfte der Fraktion aus. Also, so etwas
habe ich noch nicht erlebt. Es erschüttert mich.

Seit Bekanntgabe der Insolvenzanmeldung des Dro-
geriekonzerns von Anton Schlecker Ende Januar häufen
sich die Hiobsbotschaften über Filialschließungen und
drohende Entlassungen. Das Ausmaß der Pleite hat alle
überrascht. Daher ist es nur verständlich, dass die derzeit
rund 12 000 betroffenen, zumeist weiblichen Beschäftig-
ten sorgenvoll in die Zukunft blicken. Mit dem vorlie-
genden Antrag „Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen
– Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss der
Beschäftigten stärken“ haben auch die Kolleginnen und
Kollegen der Linksfraktion – heute sind es nur Kollegin-
nen – bewiesen, dass sie sich dazu ein paar Gedanken
gemacht haben. Das ist im Grunde lobenswert; doch lei-
der sind ihre gutgemeinten Vorschläge wie so oft nicht
zielführend.


(Zuruf von der LINKEN: Haben Sie bessere?)


Uns allen liegt das Schicksal der Schlecker-Beschäf-
tigten am Herzen. Daher hat sich unsere Bundesarbeits-
ministerin, Frau Dr. von der Leyen – sie verfolgt die
ganze Debatte hier; sie zeigt, dass sie hinter den
Schlecker-Beschäftigten steht, mehr als diejenigen, die
populistische Anträge stellen –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


bereits mit dem Vorstandsmitglied der Bundesagentur
für Arbeit, Herrn Raimund Becker, mit dem Verdi-Chef
Frank Bsirske und mit dem vorläufigen Insolvenzver-
walter Arndt Geiwitz getroffen, um das weitere Vorge-
hen zu besprechen.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört!)






Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Dabei hat Frau Ministerin Dr. von der Leyen klarge-
stellt, dass die bislang bei Schlecker beschäftigten Frauen
gute Perspektiven haben, schnell wieder einen Arbeits-
platz zu finden, und zwar nicht allein wegen ihrer Quali-
fikation. Derzeit ist die Nachfrage im Einzelhandel nach
guten Mitarbeitern hoch, sodass die Chancen auf Ver-
mittlung sehr gut sind. Dies bestätigte der Chef der Bun-
desagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, bereits in der
vergangenen Woche. Seit Jahren baut der Einzelhandel
neue Arbeitsplätze auf. Derzeit gibt es in dieser Branche
gut 20 000 offene Stellen.


(Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Frau Gysi meldet sich! – Gegenruf der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das war eben ausgesprochen verräterisch! Das sollte Ihnen peinlich sein! – Weiterer Gegenruf von der LINKEN: Herrn Lindner ist nichts peinlich!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716517900

Frau Zimmermann möchte gerne eine Zwischenfrage

stellen. Möchten Sie das zulassen?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1716518000

Sie möchte sie in Ermangelung der Männer stellen.

Ich würde sie von Herrn Birkwald genauso annehmen. –
Bitte, Frau Zimmermann, selbstverständlich, gern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716518100

Bitte schön.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716518200

Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Lehrieder, ich

habe eine Frage: Worauf beruht Ihre Erkenntnis, dass die
Schlecker-Beschäftigten, wenn sie denn gekündigt wer-
den, auf dem Markt aufgefangen werden? Schließlich
weist die Statistik, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe,
20 000 offene Stellen aus, während diese Branche
300 000 Arbeitslose verzeichnet?


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist schlichtweg falsch! Die Zahlen sind falsch!)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1716518300

Die Schlecker-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ha-

ben eine vernünftige Ausbildung; sie sind gut eingear-
beitet. Natürlich wird eine Umschulung erforderlich
sein. Wenn man bisher Reinigungsmittel oder Zahnpasta
verkauft hat und in Zukunft vielleicht Damenoberbeklei-
dung verkaufen soll, dann kann man nicht von heute auf
morgen umsteigen. Aber: Motivierte, freundliche, gut
ausgebildete weibliche Beschäftigte – ich kenne sie aus
meinem Wahlkreis – werden in vielen Einzelhandelsun-
ternehmen gebraucht. Deren Beschäftigung schon jetzt
schlechtzureden und zu sagen: „Das können sie nicht; sie
werden nicht gebraucht; sie erhalten keine sozialversi-
cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse“, das ist
Ihre Denkweise, aber nicht unsere. Lassen Sie uns versu-
chen, mit möglichst viel Erfolgsorientierung an diese
Geschichte heranzugehen. Lassen Sie uns dann in ein

paar Wochen einmal schauen, was dabei herausgekom-
men ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Von diesen guten Voraussetzungen werden gerade die
Schlecker-Mitarbeiter profitieren können; ich habe es
bereits ausgeführt. Hätten Sie ein bisschen gewartet,
Frau Zimmermann, hätte sich Ihre Frage möglicherweise
erübrigt.

Qualifiziertes Personal hat gute Chancen, abseits der
reinen Drogeriemarktsparte eine Anstellung zu finden.
Laut Handelsverband Deutschland haben die Unterneh-
men zwischen Juni 2010 und Juni 2011 rund 62 000 Jobs
geschaffen, davon 60 000 sozialversicherungspflichtige.
Insgesamt ist die sozialversicherungspflichtige Beschäf-
tigung im Einzelhandel zuletzt stärker als die geringfü-
gige Beschäftigung gewachsen. Auch das ist eine posi-
tive Entwicklung, die Sie in Ihren Anträgen regelmäßig
nicht beschreiben. Von einer Verdrängung sozialversi-
cherungspflichtiger Beschäftigung durch geringfügige
Beschäftigung, wovor Sie immer eindrucksvoll warnen,
kann folglich in dieser Branche nicht die Rede sein.

Unter enormem Zeitdruck haben vor zwei Tagen die
Verhandlungen zwischen Insolvenzverwalter und Ge-
werkschaft über einen Sozialplan für den Abbau von
11 750 Arbeitsplätzen beim Unternehmen Schlecker be-
gonnen. Voraussichtlich bis zum Ende der Woche wer-
den alle Beteiligten geklärt haben, ob die notwendigen
Voraussetzungen für eine Transfergesellschaft geschaf-
fen werden können. Auch die Einrichtung einer dezen-
tralen Onlinetransfergesellschaft ist im Gespräch.
Zudem wird geprüft, ob für die Qualifizierung der Mitar-
beiter Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds in
Anspruch genommen werden können.

Ich möchte noch auf einen stereotypen Passus in Ih-
rem Antrag eingehen. Auf Seite 3 oben schreiben Sie,
ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde würde die
Kaufkraft um 26 Milliarden Euro erhöhen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Schauen Sie doch einmal, was gestern in Berlin passiert
ist: In Berlin ist vom Bürgermeister ein Mindestlohn von
8,50 Euro abgelehnt worden mit der Begründung, hier-
durch würden keine Arbeitsplätze geschaffen werden
können.


(Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist doch nicht von uns!)


– Moment! Sie regieren doch in Berlin mit. In Berlin
gibt es eine rot-rote Regierung, die es noch nicht einmal
schafft, einen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg
zu bringen. Und jetzt schreiben Sie wieder 10 Euro in Ih-
ren Antrag. Machen Sie die Hausaufgaben, wo Sie Ver-
antwortung haben, und dann schauen wir, was dabei he-
rauskommt.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Die Linken waren an der Regierung!)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716518400

Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1716518500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Schlecker ist eine Schande
für Deutschlands Unternehmen, und das nicht erst seit
der spektakulären Pleite, die wir erleben mussten. Mitbe-
stimmungsrechte wurden immer wieder mit Füßen getre-
ten. Mitarbeiterinnen wurden bespitzelt, und Tariflöhne
wurden nicht gezahlt.

Wir alle hier im Plenum des Bundestages werden uns
noch an die XL-Schweinerei von Schlecker erinnern.
Das ist noch nicht so lange her. 2010 haben wir hier in-
tensiv darüber diskutiert. Damals wurden Schlecker-Fi-
lialen geschlossen und wenig später auf der anderen
Straßenseite als XL-Schlecker als eigenständige GmbH
wieder aufgemacht.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das alles wissen wir ja! Darauf haben wir reagiert!)


Die Mitarbeiterinnen wurden aus den alten Schlecker-Fi-
lialen entlassen. Sie haben ihre Arbeit verloren, aber
dann ein Angebot von der extra gegründeten Leihar-
beitsfirma Menia erhalten, um bei XL-Schlecker die
gleiche Arbeit, die sie vorher getan haben, zum Teil für
den halben Lohn zu leisten.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das haben wir jetzt gesetzlich geregelt!)


Das ist eine Sauerei. Dies haben wir hier scharf kritisiert.
Diese Firmenphilosophie und Unternehmensstrategie
von Anton Schlecker – dies haben wir hier gesagt – ist
schon damals, 2010, hart kritisiert worden.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das haben wir inzwischen geregelt! Wir haben Ihre Lücke geschlossen, Frau Hiller-Ohm!)


Ministerin von der Leyen wurde schon 2010 zum
Handeln aufgefordert, solchen miesen Praktiken einen
gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Leider ist es so, dass
Leiharbeiter sehr lange auf ihren Mindestlohn warten
mussten. Es hat sehr lange gedauert, bis dies endlich
durchgesetzt wurde. Aber unsere Forderung „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ wurde noch immer nicht umge-
setzt. Da ist sie noch in der Bringschuld. Bis heute ist
nichts umgesetzt. Auch das ist eine Schande für Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie kam es zur Schlecker-Pleite? Es wurden verhee-
rende Managementfehler gemacht. Sinkende Kunden-
und Umsatzzahlen wurden schlichtweg verschlafen. Ein
Unternehmen mit über 25 000 Beschäftigten, überwie-
gend Frauen, wurde voll an die Wand gefahren. Viel-
leicht haben einige von Ihnen am Montag im ZDF die
Sendung Frontal 21 gesehen. Es war ganz interessant,
was dort eine Gewerkschafterin zu dem Thema ausge-

führt hat. Sie sagte, sie habe das Gefühl, dass Anton
Schlecker sein Unternehmen wie eine Würstchenbude
geführt habe und nicht professionell wie ein multinatio-
nales Großunternehmen. Und wieder müssen die
Beschäftigten die Suppe auslöffeln. Etwa 2 400 der bun-
desweit 5 400 Schlecker-Filialen sollen geschlossen
werden. 12 000 der insgesamt über 25 000 Beschäftigten
– zu über 90 Prozent Frauen – sind betroffen. Das bedeu-
tet: Jeder zweite Arbeitsplatz fällt weg. Betroffen sind
vor allem – das wurde schon gesagt – viele ältere Be-
schäftigte, alleinerziehende Frauen und auch viele Teil-
zeitbeschäftigte. Diese Frauen, diese Menschen können
nichts für die Pleite.

Vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt ein
Scherbenhaufen. Was können wir tun? Wie kann man
den Betroffenen am besten helfen? Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Linken, fordern in Ihrem Antrag
Staatshilfen für Schlecker und die Entwicklung eines
neuen Zukunftskonzepts, damit die Filialen und somit
die Arbeitsplätze weitgehend erhalten bleiben.

Wir hier im Bundestag können keine Konzepte ma-
chen. Dies ist Aufgabe des Insolvenzverwalters. Der
sieht offensichtlich keine andere Lösung als die Schlie-
ßung der 2 400 Filialen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist noch nicht geklärt!)


Das müssen wir erst einmal so zur Kenntnis nehmen.
Auch Wirtschaftsexperten diagnostizieren, dass Schlecker
in der derzeitigen Form und Größe keine wirtschaftlich
erfolgreiche Zukunft haben kann.

Wir müssen nun überlegen: Was kann getan werden?
Sie haben Vorschläge gemacht. Unser Wirtschaftsminis-
ter Nils Schmid aus Baden-Württemberg hat sich auch
schon mit Vorschlägen zu dem Thema geäußert.


(Josip Juratovic [SPD]: Sehr gut!)


Ganz wichtig finde ich, dass zügig Transfergesellschaf-
ten gegründet werden und den entlassenen Mitarbeiterin-
nen schnell und gezielt neue Perspektiven eröffnet und
vor allen Dingen neue Arbeitsstellen vermittelt werden.


(Beifall bei der SPD)


Die Drogeriekette Rossmann hat bereits angekündigt,
dass sie allein in diesem Jahr 1 000 neue Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter einstellen will. Das wäre schon ein
erster Schritt.

Aber natürlich brauchen die Beschäftigten auch Un-
terstützung von unserer Arbeitsministerin; da stimme ich
Ihnen voll zu. Die Arbeitsministerin ist gefordert, diese
strukturelle Kurzarbeit im Sinne der Beschäftigten zu
bewältigen.

Wir als SPD haben in entsprechenden Krisen sehr
gute Erfahrungen mit unserem damaligen Arbeitsminis-
ter Olaf Scholz gemacht. Er hat in solch kritischen Situa-
tionen sehr schnell, sehr gut und sehr zielgenau gehan-
delt.


(Beifall bei der SPD – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie vergessen Schröder bei Holzmann! Das ist total in die Hose gegangen!)






Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


Ich erwarte, dass Ähnliches genauso zielführend auch
von Ministerin von der Leyen geleistet wird. Es wurde
gesagt, dass schon Gespräche mit Verdi geführt werden.
Ich bin sehr auf die Ergebnisse gespannt. Wir haben für
die nächste Ausschusssitzung auch schon einen Bericht
zu diesem Thema angefordert.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich müssen auch die Arbeitsagenturen und die
Jobcenter ran. Das ist ganz wichtig. Die Arbeitsplätze
fallen nicht vom Himmel; das ist uns allen klar. Wir
müssen jetzt sicherstellen, dass die betroffenen Frauen
gute Beratung, Qualifizierung und Umschulung, wenn es
sein muss, also Unterstützung, erhalten und dass sie
dann mit aller Kraft in neue Arbeit vermittelt werden. Es
muss alle Kraft aufgewandt werden, damit dies gelingt.

Was brauchen wir dafür? Sind die Agenturen und Job-
center dafür ausreichend ausgestattet? Natürlich braucht
man dafür Personal. Natürlich braucht man auch Geld
für arbeitsmarktpolitische Instrumente; das ist doch klar.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, daran hapert es
jetzt leider. Die Bundesregierung hat die Mittel für ak-
tive Arbeitsmarktpolitik massiv gekürzt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Es sind auch weniger Arbeitslose!)


Zahlreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente wurden
von Pflicht- in Ermessensleistungen umgewandelt und
damit praktisch abgeschafft.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Das ist eine ganz schlimme Sache, die uns jetzt auf die
Füße fällt. Wir sehen: Arbeitslose haben in der Bundes-
regierung keine Lobby. Das müssen wir wieder ändern.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frauen sind besonders betroffen. Die Entlassungen bei
Schlecker verdeutlichen, wie die Arbeitsmarktsituation
vieler Frauen in Deutschland aussieht: Sie haben oft un-
sichere Arbeitsplätze. Die Arbeit wird schlecht bezahlt.
Gut zwei Drittel von ihnen sind Niedriglohnbeschäftigte.
Das betrifft sogar jede dritte Frau mit Vollzeitstelle. Kar-
rierechancen sind gering. Viele arbeiten in Teilzeit und
verdienen damit 4 Euro im Durchschnitt weniger als in
einer Vollzeitstelle. Ihre Arbeitsplätze sind in der Regel
schlecht abgesichert. Ein Beispiel sind die Minijobs.
Eine Frau, die zwei Kinder erzogen hat und 30 Jahre lang
in einem Minijob gearbeitet hat, kommt damit auf monat-
lich sage und schreibe knapp 150 Euro Rente.

Das geht so nicht. Das müssen wir ändern. Wir müs-
sen alle Kraft darauf richten, um diese Situation in
Deutschland zu verbessern. Jetzt muss unser Augenmerk
den Frauen von Schlecker gelten, damit wir dort einen
Schritt vorankommen, und wir müssen den dort beschäf-
tigten Frauen unsere Solidarität zeigen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716518600

Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1716518700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Eines vorweg: Die FDP lehnt diesen Antrag der
Linken ab.


(Zurufe von der LINKEN: Überraschung!)


Es ist schließlich noch gar nicht so lange her, da waren
Arbeitsplätze bei der Firma Schlecker für Sie der Inbe-
griff von schlechter Arbeit.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran ist Schlecker gescheitert!)


Jetzt sehen Sie das offenbar komplett anders. Sie rühmen
Schlecker als Nahversorger. Bei mir entsteht der Ein-
druck, dass Sie die Schlecker-Insolvenz als Vorwand
nutzen, um hier im Parlament mal wieder die Gutmen-
schen zu mimen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Die Beschäftigten der Firma Schlecker erleben der-
zeit eine sehr belastende Zeit für sich und ihre Familien.
Sie erleben eine Zeit der Anspannung, der Existenzangst
und der Ungewissheit. Die Verantwortlichen im Unter-
nehmen versuchen gleichzeitig mit Hochdruck, die
Firma zu retten. In dieser Situation einen solchen Antrag
zu stellen, zeigt Ihre wahre Geisteshaltung. Auf dem Rü-
cken der Betroffenen formulieren Sie Forderungen, die
den Menschen bei Schlecker mitnichten helfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Woher wissen Sie das? Haben Sie mit Betroffenen gesprochen?)


Wie konstruiert Ihr Antrag ist, zeigt schon der Titel.
Darin sprechen Sie ausschließlich die Verkäuferinnen
an. Es gibt bei Schlecker natürlich auch Verkäufer und
andere männliche Angestellte. Auch die haben Familien
zu ernähren und bangen um ihre Arbeitsplätze. Diese
männlichen Angestellten passen aber nicht zum Welt-
frauentag und damit nicht zu Ihrem Antrag. Es geht Ih-
nen gar nicht um die Sache selbst, sondern nur um einen
weiteren Anlass, Ihr Verständnis von Staatswirtschaft zu
transportieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie regen beispielsweise an, dass die Politik ein nicht
näher erklärtes Zukunftskonzept für Schlecker erarbeiten
soll. Jetzt möchte ich Sie doch direkt fragen: Glauben
Sie allen Ernstes, dass Politiker die besseren Unterneh-
mer sind?


(Zurufe von der LINKEN: Bei Ihnen nicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, auch Ihre
volkswirtschaftliche Erfahrung müsste doch für die Ein-





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


schätzung reichen, dass Planwirtschaft auf Dauer nicht
gut geht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Unternehmer wie Honecker!)


Und was machen Sie dann bei Betrieben, die nicht die
Größe und damit die öffentliche Aufmerksamkeit wie
Schlecker haben? Soll die Politik für alle Firmen ein Sa-
nierungskonzept erarbeiten, die in Schwierigkeiten sind?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Opel zum Beispiel!)


Nein, das ist vollkommen absurd und passt nur in Ihr
schräges Verständnis einer Volkswirtschaft.

Aber es geht noch weiter: Natürlich fordern Sie in
dem Antrag auch, dass die Bundesregierung mit Geld
helfen soll. Auch bei dieser Argumentation bleibt offen,
warum ausgerechnet im Fall von Schlecker und nicht
auch bei anderen Unternehmen. Oder plädieren Sie für
die generelle Verstaatlichung insolventer Firmen?

Ein weiterer Punkt in Ihrem Katalog sind neue For-
men der Mitbestimmung bis hin zur Übernahme insol-
venter Unternehmen durch die Belegschaft in Form von
Genossenschaften. Genossenschaften sind per se nichts
Schlechtes, aber glauben Sie allen Ernstes, dass es für
Mitarbeiter attraktiv ist, ein insolventes Unternehmen in
diesem Stadium zu übernehmen?


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Generaldirektor Schabowski!)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, all diese
Punkte zeigen, dass dieser tragische Fall von Unterneh-
mensinsolvenz nur Anlass ist, Ihre wirtschaftspoliti-
schen Irrungen aufzuzeigen. Sie legen mit diesem An-
trag einen kruden Mix aus Frauentag, Mindestlohn und
Subventionen vor, ohne ein wirkliches Interesse an einer
Lösung des Falls Schlecker zu haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Zum Mindestlohn steht kein Wort drin!)


Eine solche Politik wird der Situation der betroffenen
Menschen nicht gerecht. Was jetzt wirklich zählt, sind
Taten.


(Zurufe von der LINKEN)


Die Verantwortlichen bei Schlecker sind aufgefordert,
alle weiteren Schritte vor allem im Interesse des Unter-
nehmens einzuleiten. Die bestehenden Instrumente sind
dafür ausreichend. Gerade das Beispiel Schlecker zeigt,
dass die Marktwirtschaft offensichtlich stark genug ist,
Konzepte, die nicht funktionieren, zum Scheitern zu
bringen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! – Zuruf der Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE])


Die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sehr
gut. Ich denke, den Beschäftigten von Schlecker wird es
angesichts ihres guten Ausbildungsstandes möglich sein,

Alternativarbeitsplätze zu finden. Die Bundesregierung
hat jedenfalls ein großes Interesse daran, dass möglichst
viele Arbeitsplätze bei Schlecker gerettet werden. Wir
haben allerdings kein Interesse daran, in Deutschland
wieder die Planwirtschaft einzuführen.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716518800

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716518900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 12 000

Schlecker-Beschäftigten, weit überwiegend Frauen,
droht der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Schuld an die-
sem Desaster trägt einzig und allein die katastrophale
Unternehmensführung des Schlecker-Patriarchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Hier ist auch ein Geschäftsmodell gescheitert – ein Ge-
schäftsmodell, das auf Lohndrückerei, Entrechtung der
Beschäftigten und inakzeptable Arbeitsbedingungen ge-
setzt hat.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spitzelei!)


– Und auf Spitzelei, genau. – Das alles hat ebenfalls
dazu beigetragen, dass die Kunden weggeblieben sind
und der Laden dichtgemacht werden musste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Politik trägt an der Schlecker-Pleite nun wirklich
keine Schuld. Wir haben sie nicht verbockt. Trotzdem
sind wir jetzt in der Pflicht, den Schlecker-Beschäftigten
ein Angebot zu machen, um ihnen eine neue Jobperspek-
tive zu eröffnen. Natürlich muss es zunächst einmal da-
rum gehen, dass unter Beteiligung der Beschäftigten
– das möchte ich betonen – ein Zukunftskonzept entwi-
ckelt wird. Aber selbst wenn das gelingt, wird es nicht
dazu führen, dass alle Beschäftigten weiterhin eine be-
rufliche Perspektive bei Schlecker haben. Deswegen
müssen wir auch denjenigen Beschäftigten ein Angebot
machen, denen die Arbeitslosigkeit droht, und zwar ein
Angebot – das will ich an dieser Stelle betonen –, das
über die Perspektive des Einzelhandels hinausgeht. Da-
für brauchen wir dringend eine Transfergesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Frau von
der Leyen in dieser Debatte nicht das Wort ergriffen hat,
und zwar deswegen, weil sie presseöffentlich verspro-
chen hat, bis zum Ende dieser Woche die Transfergesell-
schaft in trockenen Tüchern zu haben. Es wäre für uns





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


alle interessant, einen Bericht über den Stand der Dinge
zu erhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In der Branche heißt es übrigens: Wer bei Schlecker
schafft, der schafft es überall. Ich finde, das sagt sehr
viel aus über das Durchhaltevermögen und die Leidens-
fähigkeit, aber auch über das Arbeitsethos dieser Frauen.
Diese Frauen können etwas. Es ist unsere Aufgabe, sie
darin zu unterstützen, dieses Können auszubauen. Dafür
brauchen wir die Transfergesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein spezielles Problem der Schlecker-Insolvenz be-
steht darin, dass die bedrohten Arbeitsplätze über ganz
Deutschland verteilt sind. Deswegen kann man nicht
einfach sagen: In der Branche gibt es doch eine Menge
freier Arbeitsstellen. Diese freien Arbeitsstellen müssen
auch in dem kleinen Ort vorhanden sein, in dem eine Fi-
liale zugemacht wird. Es kommt eben sehr stark auf die
besondere regionale Arbeitsmarktsituation an. Deswe-
gen geht es nicht nur darum, die Frauen von Schlecker
aus in einen anderen Supermarkt zu vermitteln,


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was wäre denn daran so schlimm?)


sondern es geht auch darum, diese Krise als Chance für
die Beschäftigten zu nutzen und sie auch für andere Zu-
kunftsberufe zu qualifizieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum sollen sie zukünftig nicht die Beschäftigtenlücke
im Erziehungsbereich, in der Pflege oder auch in män-
nerdominierten Zukunftsberufen füllen? Das wäre gut
für die Betroffenen, und das wäre gut für diese Bran-
chen.

Meine Damen und Herren, heute sind die Betriebsräte
gemeinsam mit Verdi auf die Straße gegangen. Sie haben
für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstriert und die
Politik zum Handeln aufgefordert. Sie fordern, Arbeit zu
organisieren statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Ich
finde, daran sollten wir uns halten.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716519000

Das Wort hat nun Gitta Connemann für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1716519100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

komme aus einem kleinen Dorf aus Ostfriesland. Dort
gibt es einen Bäcker und zwei Dorfläden, und es gab
Schlecker. Dort erwarben Ältere und Mütter ihre Drogerie-
produkte. Die Filiale ist geschlossen worden. Diese Ge-

schäftsaufgabe ist für die Gemeinde ein großer Verlust.
Es ist aber eine persönliche Katastrophe für die Beschäf-
tigten und ihre Familien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren von der Linken, aus diesem
menschlichen Leid, das sich hinter jeder Verkäuferin,
übrigens auch hinter jedem Verkäufer, verbirgt, versu-
chen Sie einmal mehr, politisches Kapital zu schlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Sie hätten ja auch etwas beantragen können!)


Denn es geht Ihnen erkennbar nicht um die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter von Schlecker. Sie suchten ein
Thema für den heutigen Weltfrauentag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren von der Linken, es gibt
keine Fraueninsolvenz, es gibt auch keine Männerinsol-
venz, es gibt nur eine Insolvenz in Gänze. Die tut jedem
weh, insbesondere den Familien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir von der Union wehren uns dagegen, dass die
Linke die Mitarbeiterinnen von Schlecker für ihre ideo-
logischen Anträge in Geiselhaft nimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD])


Diese Mitarbeiterinnen – und ich habe, anders als Sie,
mit diesen gesprochen – haben eine bessere Behandlung
verdient.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Ich spreche aus eigener Erfahrung: Anders als Sie mit
Ihren lila Schals brauche ich keine Symbolpolitik; denn
anders als Sie bin ich eine gelernte Verkäuferin und habe
mit diesen Frauen die Schulbank gedrückt. Ich bin heute
noch mit diesen Frauen befreundet.


(Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Mit diesen Frauen sind Sie befreundet! Wow!)


Sie verkauften übrigens nicht nur in diesen Filialen,
sondern sie leiteten auch diese Filialen. Deshalb ist ihr
Ruf in der Branche – Frau Pothmer hat zutreffend darauf
hingewiesen – zu Recht sehr gut.

Die Konkurrenten von Schlecker buhlen um diese
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, übrigens ohne Staats-
hilfe, Frau Hiller-Ohm.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Deshalb ist die Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz
wirklich begründet, übrigens auch wegen der dezentra-
len Struktur von Schlecker. Denn die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter – 12 000 an der Zahl – werden nicht an





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


einem Ort entlassen, sondern über das Bundesgebiet
verteilt.


(Zuruf von der LINKEN)


Nach Aussagen des Handelsverbandes Deutschland
haben sie eine gute Chance, auch weil der Arbeitsmarkt
übrigens besser ist, als es uns der Antrag der Linken
glauben lässt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im vergangenen Jahr sind über 60 000 Stellen im Einzel-
handel entstanden. Der Handel meldet auch jetzt offene
Stellen. Wenn Sie, Frau Zimmermann, andere Zahlen an-
führen, dann sage ich Ihnen ganz deutlich: Diese sind
falsch. Es geht Ihnen hier um eine bewusste Dramatisie-
rung aus parteipolitischem Kalkül.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Das stimmt ja gar nicht!)


Natürlich brauchen die Schlecker-Beschäftigten, die
nicht sofort am Arbeitsmarkt unterkommen, eine Per-
spektive. Ich sage ganz deutlich im Namen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion: Sie können sich auf uns ver-
lassen.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Denn wir werden ihnen reale Hilfe geben. Sie brauchen
keine lila Schals und keine Girls’-Day-Ausflüge der
männlichen Abgeordneten. Was sie brauchen, ist reale
Hilfe, zum Beispiel in Form einer Transfergesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da bin ich dankbar, dass die Gespräche auf Hochtouren
laufen, dass sich das Bundesarbeitsministerium dieser
Sache so intensiv annimmt. Wir in der Union werden
dafür sorgen, dass Gelder für diese Transfergesellschaft
bereitstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Wort, Frau Kollegin!)


Übrigens: Sinnigerweise steht im Antrag der Linken
kein nennenswertes Wort über Transfergesellschaften
etc.


(Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Haben Sie das nicht gelesen? Natürlich steht das da!)


Es geht Ihnen auch nicht um die Beschäftigten, sondern
um den Aufbau des real existierenden Sozialismus.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


So wollen Sie Schlecker vergesellschaften, vielleicht in
memoriam Konsum oder HO. Dafür verlangen Sie eine
Anschubfinanzierung durch den Bund. Ich warne Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition: Der
künstliche Erhalt von Unternehmen durch den Staat ist
in der Vergangenheit stets grandios fehlgeschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Neue Heimat, co op AG oder Holzmann lassen grü-
ßen. Gescheiterte Unternehmen lassen sich nicht retten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716519200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Zimmermann?


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1716519300

Immer sehr gerne.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716519400

Frau Connemann, nehmen Sie bitte Folgendes zur

Kenntnis: Sie sagen, es stehe nicht in unserem Antrag
drin, dass wir eine Insolvenzgeldverlängerung bzw. die
Gründung einer Transfergesellschaft fordern. Das sind
zwei Hauptforderungen in unserem Antrag. Sind Sie
meiner Meinung, dass Sie nicht gelesen haben, was wir
formuliert haben?


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1716519500

Liebe Frau Zimmermann, ich habe es so genau gele-

sen, dass mir die Augen übergequollen sind.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe den Antrag hier vor mir liegen, und wissen Sie,
was mich an diesem Antrag am meisten erbost? Das ist
die Tatsache, dass eigentlich schon der erste Satz in die-
sem Antrag Ihre Absicht entblößt. Sie fordern uns auf,
gerade und besonders am Internationalen Frauentag den
Kampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäf-
tigten um ihre Arbeitsplätze zu unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn das alles ist, sich nur
am Frauentag für Beschäftigte einzusetzen,


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


dann ist uns das zu wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Übrigens, was Ihre staatlichen Hilfen angeht, so
könnte auch jeder andere Unternehmer fragen: Weshalb
wird mir nicht geholfen?


(Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD])


Auch dies beweist: Die Schlecker-Insolvenz ist für Sie
nur ein Vorwand für den Umbau dieser Wirtschaftsord-
nung.


(Lachen bei der LINKEN)


Ihre Forderungen bleiben dabei immer dieselben. Das
macht sie nicht besser.

So wollen Sie zum Beispiel die paritätische Mitbe-
stimmung ab 100 Mitarbeitern. Bislang gilt dafür ein
Schwellenwert von 2 000 Beschäftigten, und ich frage
mich: Haben Sie sich schon einmal annähernd Gedanken
darüber gemacht, dass ein kleiner Handwerksbetrieb mit
einer Aktiengesellschaft wie der Daimler AG in keiner
Weise zu vergleichen ist?





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)



(Cornelia Möhring [DIE LINKE]: 100 Mitarbeiter! Kleiner Handwerksbetrieb?)


Nach Ihrem Willen müssten dann auch solche Betriebe
Aufsichtsräte einrichten. Was für Kosten und was für ein
wahnsinniger bürokratischer Aufwand!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dann wünschen Sie sich ein erzwingbares Mitbestim-
mungsrecht des Betriebsrates in wirtschaftlichen Fragen.
Mit unternehmerischer Freiheit hat das nichts mehr zu
tun.


(Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])


Ich erinnere Sie daran: Diese Freiheit wird durch das
Grundgesetz geschützt. Aber was interessiert Sie schon
unsere Verfassung, meine Damen und Herren von der
Linken? Doch einen Pieps.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Und schließlich soll nach Ihrem Willen der Aufsichts-
rat an Belegschaftsabstimmungen gebunden sein.
Wissen Sie wirklich nicht, dass der Aufsichtsrat eine
Überwachungsfunktion hat? Er ist aus gutem Grund ein
unabhängiges Gremium, das nur dem Unternehmens-
wohl verpflichtet ist. Eine Bindung seiner Entscheidun-
gen an Voten welcher Art auch immer würde genau diese
Unabhängigkeit konterkarieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren von der Linken, aus unse-
rer Sicht hat sich die Mitbestimmung in unserem Land
bewährt. Aber was mich an Ihrem Antrag noch sehr viel
mehr stört als die immerzu wiederholten rechtlichen und
inhaltlichen Mängel, ist seine Unredlichkeit; das möchte
ich betonen. Sie versuchen, aus dem Scheitern eines Un-
ternehmens,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das haben Sie jetzt zum vierten Mal gesagt! Sagen Sie mal was zu Anton Schlecker! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Das kann man euch nicht oft genug sagen!)


aus dem Verlust von Arbeitsplätzen und aus menschli-
chem Leid politisches Kapital zu schlagen. Mit diesem
Versuch lassen wir Sie nicht durchkommen. Deshalb
werden wir den Antrag ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Was tun Sie denn gegen die Zerstörung von Arbeitsplätzen?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716519600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8880 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart,
Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Deutsches Ressourceneffizienzprogramm –
Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften

– Drucksachen 17/8575, 17/8875 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Eva Bulling-Schröter
Oliver Krischer

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamen-
tarischen Staatssekretärin Katherina Reiche für die Bun-
desregierung das Wort.

Ka
Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1716519700


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rohstoffengpässe können das Wachstum in Europa ge-
fährden. Das ist leider keine abstrakte Betrachtung mehr,
sondern wird zunehmend zu einer konkreten Gefahr.

Die KfW hat vor kurzem eine Studie zur Rohstoff-
versorgung in Deutschland in Auftrag gegeben. Sie stuft
die Versorgungslage für 13 mineralische Rohstoffe mitt-
lerweile als kritisch oder sehr kritisch ein: darunter Ger-
manium, das für die Produktion von Glasfaserkabeln ge-
braucht wird, oder Rhenium, das in Legierungen
Flugzeugturbinen Festigkeit verleiht, Gallium für Mikro-
chips, Seltene Erden für Batterien bzw. Generatoren oder
Indium für Displays. Die Studie sieht in der zunehmen-
den Rohstoffverknappung Risiken, aber auch Chancen
gerade für deutsche Unternehmen. Hier setzen wir mit
dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm an, kurz
ProgRess, das in der vergangenen Woche durch das Bun-
deskabinett beschlossen worden ist. Ich möchte mich bei
den Fraktionen von CDU/CSU und FDP bedanken, dass
sie uns in ihrem gemeinsamen Antrag unterstützen.

Wir erleben derzeit weltweit die Entwicklung, dass
die Nachfrage nach Rohstoffen dramatisch ansteigt.
2009 wurden ungefähr 60 Milliarden Tonnen an Roh-
stoffen eingesetzt. Das sind doppelt so viel wie Ende der
70er-Jahre und noch ein Drittel mehr als im Jahr 2000.
Im Jahr 2050 werden Prognosen zufolge 9 Milliarden
Menschen auf der Welt leben. Entwicklungs- und
Schwellenländer werden dann Industrieländer sein, das
heißt, dass sich der in Industriegesellschaften lebende





Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche


(A) (C)



(D)(B)


Bevölkerungsanteil verdreifachen wird – mit all ihren
Bedürfnissen nach Wohlstand, Konsumgütern und Roh-
stoffen.

Ein effizienter Umgang mit Rohstoffressourcen ist
deshalb eine Schlüsselkompetenz zukunftsfähiger Ge-
sellschaften. Wer dies frühzeitig erkennt, der wird nicht
nur helfen, Umweltbelastungen zu vermeiden, sondern
wird auch seine Wettbewerbsfähigkeit auf globalen
Märkten stärken und dadurch Beschäftigung sichern.
Roland Berger Consulting hat eine Verdreifachung des
Umsatzes im Leitmarkt Rohstoffeffizienz von 95 Mil-
liarden Euro im Jahr 2007 auf 335 Milliarden Euro im
Jahr 2020 prognostiziert. Diese Zahlen beschreiben sehr
gut die ökonomische Dimension, über die wir sprechen.
Deutschland hat die besten Voraussetzungen, sich zu ei-
ner der ressourceneffizientesten Volkswirtschaften der
Welt zu wandeln. Innovationskraft, deutsche Ingenieurs-
kunst, eine moderne Industrieinfrastruktur, anspruchs-
volle Umweltstandards, aber auch ein hohes Nachhaltig-
keitsbewusstsein unserer Bevölkerung tragen dazu bei.

Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm ist ein
wichtiger Schritt auf dem Weg, Wirtschaftswachstum
und Wohlstand möglichst weitgehend vom Ressourcen-
einsatz zu entkoppeln und Umweltbelastungen zu redu-
zieren. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette be-
trachtet. Es geht um die sichere Versorgung mit
Rohstoffen, es geht darum, die Rohstoffeffizienzen in
der Produktion zu steigern, den Konsum effizienter zu
gestalten, eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft
weiter auszubauen sowie übergreifende Instrumente zu
nutzen.

Das Programm setzt insbesondere auf Marktanreize,
auf Information, Beratung, Bildung, Forschung und
Innovation, auf freiwillige Maßnahmen und deren
Stärkung sowie auf Initiativen in Wirtschaft und Gesell-
schaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Anhand konkreter Beispiele wird ausführlich dargestellt,
wie in besonders relevanten Feldern Ressourcen effi-
zienter genutzt werden können. Um ein Beispiel zu nen-
nen: Beim Recycling von Kupfer aus Kupferschrotten
nach dem neuesten Stand der Technik werden im
Vergleich zur Primärproduktion 30 Prozent Energie ein-
gespart, bei der Verarbeitung von Aluminiumschrott
können sogar 90 Prozent Energieaufwand eingespart
werden.

Mit steigendem Rohstoffbedarf werden Recycling
und die Verwendung von Sekundärrohstoffen immer
lohnender. Hier haben wir mit der Novelle des Kreislauf-
wirtschaftsgesetzes, das gerade von Bundestag und Bun-
desrat verabschiedet wurde, wichtige Maßnahmen er-
griffen. Dieses Gesetz ist ein wichtiges Instrument
unserer Ressourceneffizienzpolitik.

Mitte Januar hat das Europäische Parlament die Revi-
sion der Richtlinie über Elektro- und Elektronikaltgeräte
verabschiedet. Es lohnt, hier anzusetzen; denn nach An-
gaben der Europäischen Kommission produziert jeder
EU-Bürger im Durchschnitt pro Jahr 17 Kilogramm

Elektroschrott. Im Jahr 2020 werden es 24 Kilogramm
sein. Auch diese Ressourcen müssen wir besser nutzen.

Die Richtlinie enthält auch Regelungen, um den ille-
galen Export von Elektroaltgeräten in Zukunft besser be-
kämpfen zu können. Auch dies ist dringend erforderlich.
Vielleicht erinnert sich einer von Ihnen an das UNICEF-
Foto des Jahres 2011, das einen kleinen Jungen auf einer
Müllkippe in Ghana zeigt, der Elektroschrott verbrennt.
Das ist ein sehr bedrückendes Bild.

Noch ist das Verfahren auf europäischer Ebene nicht
endgültig abgeschlossen. Nach Inkrafttreten der Richtli-
nie werden wir diese durch eine Änderung des Elektro-
und Elektronikgerätegesetzes in Deutschland in nationa-
les Recht umsetzen. Der Kampf gegen den illegalen
Export von Elektroschrott ist ebenso wie die Steigerung
der Ressourceneffizienz mehr als nur eine Änderung von
abfallrechtlichen Vorschriften. Das ist, wie ich finde,
auch Teil unserer ethischen Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Angesichts eines zunehmenden Wettlaufs um Res-
sourcen und Rohstoffe wird die Rohstoffquelle „Res-
sourceneffizienz“ weiter an Bedeutung gewinnen, und
ökonomische Anreize werden zunehmen. Deutschland
kann und wird zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und
Ressourceneinsparung zwei Seiten einer Medaille sind.
Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesam-
tes ist die Inanspruchnahme von Rohstoffen in Deutsch-
land zwischen 2000 und 2010 bei deutlich gestiegenem
Wirtschaftswachstum um 11,2 Prozent gesunken.

Durch den Aufbau einer geeigneten Recyclinginfra-
struktur eröffnen sich auch Schwellen- und Entwick-
lungsländern Chancen für eine eigene Entwicklung.
Nach den UNEP-Zahlen – wir vertrauen diesen Zahlen –
wird beispielsweise der Elektroschrott aus Computern in
China und Südafrika um 200 bis 400 Prozent ansteigen.
In Indien werden es sogar 500 Prozent mehr sein.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716519800

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Ka
Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1716519900


Gerne. – Ressourceneffizienz ist also nicht nur eine
ökologische Notwendigkeit, sondern ein zentrales Ele-
ment und ein internationales Markenzeichen. Ich möchte
schließen mit Ernst Ulrich von Weizsäcker, der sagte:

Wenn die Preise uns vorgaukeln, die Natur sei un-
endlich, rennen der technische Fortschritt und die
Zivilisation in den Abgrund.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716520000

Das Wort hat nun Gerd Bollmann für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1716520100

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Ressourcenschutz und knapper werdende Rohstoffe
sind inzwischen ein viel diskutiertes Thema. Zahlreiche
Medienberichte über knapper und teurer werdende Roh-
stoffe haben einer breiten Öffentlichkeit die Wichtigkeit
vor Augen geführt. Begrifflichkeiten wie Seltene Erden,
Rohstoffmangel oder strategische Ressourcen tauchen
immer wieder auf. Die deutsche Wirtschaft warnt davor,
dass ein Mangel an wichtigen Rohstoffen Wirtschafts-
wachstum und Arbeitsplätze gefährdet. Allen Beteiligten
scheint klar zu werden, dass Rohstoffe nicht unendlich
vorhanden sind und ein anderer Umgang damit dringend
vonnöten ist.

Daher begrüßen wir ausdrücklich den Antrag.
40 Jahre nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachs-
tums“ des Club of Rome und elf Jahre nach Einsetzung
des Nachhaltigkeitsrates durch die rot-grüne Bundesre-
gierung wird die Notwendigkeit eines umfassenden Res-
sourcenschutzes allseits bejaht. Viele Jahre nachdem un-
ser allseits geschätzter ehemaliger Kollege Ernst Ulrich
von Weizsäcker als Leiter des Wuppertal-Instituts die
Diskussion über Nachhaltigkeit angestoßen und mitge-
prägt hat, bemüht sich nun auch die schwarz-gelbe Bun-
desregierung um ein umfassendes, nachhaltiges Res-
sourcenschutzprogramm.


(Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP])


Meine Damen und Herren von Union und FDP, letzte
Woche hat das Bundeskabinett dem Deutschen Ressour-
ceneffizienzprogramm, kurz: ProgRess, zugestimmt. Die
SPD begrüßt, dass ein solches Programm vorgelegt wird.
Für die deutsche Industrie und Wirtschaft sei, so die
Bundesregierung, eine ausreichende Versorgung mit
Rohstoffen äußerst wichtig. Dies stimmt, und entspre-
chende Konsequenzen sind notwendig.

Die Sozialdemokratie setzt sich seit langem für einen
nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen und ihren
Schutz ein. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregie-
rung jetzt, zwar spät, aber umfangreich, ein Ressour-
ceneffizienzprogramm vorlegt.

Die Probleme scheinen erkannt zu sein; auch Lösungs-
ansätze und konkrete Maßnahmen werden teilweise ge-
nannt. Kernaussagen sind unter anderem: effizienterer
Umgang mit Rohstoffen, Verbindung der ökologischen
Notwendigkeiten mit den ökonomischen Chancen, so-
ziale und globale Verantwortung als zentrale Orientie-
rung bei der nationalen Ressourcenpolitik. Weiterhin
werden folgende Ziele genannt: Verbesserung der Kreis-
laufwirtschaft, mehr Recycling, Kaskadennutzung, Ver-
ringerung des Pro-Kopf-Verbrauchs von Rohstoffen und
qualitatives Wachstum. Diese Kernaussagen und Ziele
sind lobenswert; sie sind richtig. Ich denke, heutzutage
wird sich niemand öffentlich dagegen aussprechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Horst Meierhofer [FDP])


Ebenso sind einige Punkte vor allem im Hinblick auf
Forschung und Entwicklung durchaus positiv zu bewer-
ten. Aber schauen wir uns einmal die Umsetzung an. Bli-

cken wir auf das, was fehlt. In dem Antrag der Koali-
tionsfraktionen und im Regierungsprogramm zum
Ressourcenschutz werden hohe Recyclingquoten insbe-
sondere für mineralische Abfälle gefordert. Das ist gut
so. Aber warum haben Sie dann beim gerade erst geän-
derten Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz höhere
Verwertungsquoten abgelehnt?


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Skandal!)


Warum haben Sie für Bauschutt eine Verwertungsquote
von 70 Prozent durchgesetzt, wenn bereits 2008 in
Deutschland 93 Prozent stofflich verwertet wurden?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum haben Sie durchgesetzt, dass die energetische
Verwertung der stofflichen Verwertung sozusagen durch
die Hintertür wieder nahezu gleichgesetzt wird, obwohl
dies europäischem Recht widerspricht? Warum gibt es
im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz keine konkre-
ten Aussagen zur Abfallvermeidung, obwohl dies nach
Ihren eigenen Feststellungen wichtig ist?

Meine Damen und Herren von Union und FDP, die
sozialdemokratische Bundestagsfraktion, der Bundesrat
und auch die Fraktion der Grünen hatten Änderungsan-
träge gestellt, in denen man sich für genau dies aus-
sprach: für höhere Recyclingquoten, für den eindeutigen
Vorrang der stofflichen Verwertung und für konkrete
Abfallvermeidung. All diese Anträge haben Sie abge-
lehnt.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)


Ähnlich sieht es bei den Elektroaltgeräten aus. Sie be-
klagen den illegalen Export von Elektroschrott, und Sie
fordern höhere Sammel- und Verwertungsquoten. Die
Revision der Elektro-Altgeräte-Richtlinie der EU haben
Sie begrüßt, auch die darin enthaltene Rücknahmepflicht
für Elektrokleingeräte und die Beweisumkehrpflicht
beim Export; dies ist im Übrigen eine hervorragende Re-
gelung. Richtig so! Aber warum setzen Sie dies nicht so-
fort um? Warum warten Sie? Niemand hindert Sie, sofort
eine Rücknahmepflicht der Händler für Elektrokleinge-
räte und Energiesparlampen einzuführen.

In der Befragung der Bundesregierung in der letzten
Sitzungswoche hat Bundesumweltminister Röttgen
zweimal betont, dass die Ressourceneffizienz bis 2020
verdoppelt werden soll. In der unmittelbar vorher been-
deten Ausschusssitzung wurde ein Antrag der Grünen
mit dem gleichen Ziel von Union und FDP abgelehnt.
Warum?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! Das wird Herr Meierhofer gleich erläutern!)


Das haben wir und auch einige Abgeordnete von FDP
und CDU/CSU nicht verstanden.

Es wird die Berücksichtigung von Menschen- und Ar-
beitnehmerrechten, von Umwelt- und Gesundheitsschutz
beim internationalen Rohstoffabbau und -handel gefor-





Gerd Bollmann


(A) (C)



(D)(B)


dert; das ist völlig richtig. Wo aber findet sich die Be-
rücksichtigung dieser Rechte beim Regierungsabkom-
men mit Kasachstan? Warum wird deutscher Müll nach
China exportiert, dort unter menschenunwürdigsten Be-
dingungen per Hand verarbeitet und dies dann in
Deutschland als stoffliche Verwertung anerkannt? Damit
unsere Quoten eingehalten werden? Damit China mehr
Sekundärrohstoffe erhält?

Transparenz im Rohstoffsektor wird gefordert. Aber
die Bundesregierung blockiert die Ausarbeitung der
EU-Richtlinie zur projektbasierten Offenlegung von
Zahlungsströmen von Rohstoffunternehmen an ausländi-
sche Regierungen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist ja unerhört!)


Mir ist bewusst, dass gerade im Spannungsfeld von wirt-
schaftlichen Interessen und Menschenrechten die Errei-
chung der genannten Ziele schwierig ist. Aber gerade
hier ist mehr möglich, als die jetzige Bundesregierung
leistet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bundesumweltminister Röttgen will Ressourcenwelt-
meister werden. Die Bundesregierung schafft es aber
noch nicht einmal, die öffentliche Beschaffung konse-
quent an Ressourcenschonung auszurichten. Liebe Kol-
leginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte weni-
ger Schlagworte benutzen und dafür mehr handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch einige Anmerkungen zu dem, was fehlt. Das
Europaparlament hat vor kurzem ebenfalls ein Ressour-
censchutzprogramm gefordert; das haben wir gerade ge-
hört. Das Europaparlament geht jedoch viel weiter als
Schwarz-Gelb. Es fordert zum Beispiel ein Top-Runner-
Programm in den Bereichen Energie und Rohstoffeffi-
zienz. Davon lese ich bei ProgRess nichts. Daher nehme
ich an, dass Sie – wie in der Vergangenheit – ein Top-
Runner-Programm ablehnen. Ebenso setzt sich das
EU-Parlament für ein auf Ressourcenschutz und besse-
res Recycling ausgerichtetes Produktdesign ein. Klare
Regeln für die Produktion werden gefordert. Auch dies
fehlt im Deutschen Ressourceneffizienzprogramm. Vor-
gaben beim Produktdesign und Maßnahmen zur Abfall-
vermeidung fehlen in Deutschland. Ich sehe auch keine
Initiativen der jetzigen Regierung, dies zu ändern.

Zum Schluss noch ein Wort zu der von Union und
FDP vorgeschlagenen Art der Umsetzung des Ressour-
censchutzes. In dem schwarz-gelben Antrag wird der
Vorrang freiwilliger Lösungen vor Gesetzen und Verord-
nungen gefordert. Die Mehrwegquote, freiwillige Rück-
nahmesysteme wie Lightcycle und andere freiwillige
Vereinbarungen in unserem Bereich sind meistens nicht
erfüllt worden. Ich könnte Ihnen viele solcher freiwilli-
gen Vereinbarungen nennen: im sozialen Bereich, in der
Bildung, der Wirtschaft oder gerade heute, am Weltfrau-

entag, freiwillige Vereinbarungen speziell in diesem Zu-
sammenhang. Eines ist diesen freiwilligen Vereinbarun-
gen weitestgehend gemeinsam: Sie sind fast immer
gescheitert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Erfolgreich waren sie nur in dem Bestreben der Betroffe-
nen, gesetzliche Regelungen zu verhindern.

Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
zur Erreichung der wichtigen Ziele beim Ressourcen-
schutz reichen freiwillige Vereinbarungen nicht aus. Wir
brauchen gesetzliche Vorgaben. Wir brauchen mehr als
ein Programm, das nur auf dem Papier steht. Wir brau-
chen ein Programm, das in der realen Politik umgesetzt
wird. Es darf nicht mehr, wie bisher, nach dem Motto
„Gut reden, anders handeln“ regiert werden. Nicht das
Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716520200

Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1716520300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bollmann, ich habe nicht verstanden, ob die SPD
unserem Antrag trotzdem zustimmt. Wahrscheinlich
werden Sie ihm wohl zustimmen, weil Sie das Positive
daran erkennen, auch wenn es Ihnen vielleicht nicht
ganz ausreicht. Das wäre ein positives Signal. Ich glaube
nämlich, dass das Kabinett ein wegweisendes Programm
beschlossen hat.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das glauben Sie doch selber nicht!)


Ich denke, dass es wirklich etwas bringt, Umwelt und
Wirtschaft endlich zu verzahnen, für einen besseren Ver-
braucherschutz und für bessere Kennzeichnungen zu
sorgen und durch das Ressourceneffizienzprogramm ins-
gesamt voranzukommen; das ist doch das Entschei-
dende. Deswegen: Herzlichen Dank für die Initiative!
Wir wollen sie mit unserem Antrag untermauern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben festgestellt, dass die Grünen auf europäi-
scher Ebene unsere Vorschläge gar nicht so schlecht fin-
den, Herr Krischer. Herr Bütikofer ist ja fast in eine Be-
geisterungsarie ausgebrochen,


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: So? Aha!)


als deutlich wurde, dass erstmals ein EU-Mitgliedsland
entsprechende Regelungen verankert, sodass in diesem
Bereich endlich etwas passiert. Er fand das sehr positiv.





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)



(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe das anders gelesen! Sie müssen ihn auch komplett zitieren!)


– Na ja, das klingt bei Ihnen natürlich ein bisschen an-
ders.

Das Ressourceneffizienzprogramm (ProgRess) der
Bundesregierung

– so schrieb er –

verankert zum ersten Mal in einem EU-Mitglieds-
land solch ein Programm auf Kabinettsebene. Viele
vorgeschlagene Ansätze, wie die Einbeziehung von
Ressourceneffizienz beim Ökodesign, passen zu
entsprechenden Vorschlägen von EU-Kommission
und Europäischem Parlament. Dies sollte helfen,
solche Instrumente auf EU-Ebene zu verankern.

Das ist doch eigentlich eine positive Rückmeldung.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie weiter! Ab da weiterlesen!)


Bei Ihnen klingt das natürlich ganz anders. Sie verste-
hen das so, als hätte er geschrieben, dass dieses Pro-
gramm ein zahnloser Tiger ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das kommt bei Bütikofer dann doch auch!)


Ich denke aber, hier steht das Gegenteil. Ich frage mich:
Wie sahen denn Ihre konkreten Vorschläge in den letzten
Jahren aus? In welchem Bereich haben Sie etwas Ver-
nünftiges auf den Weg gebracht? Ich glaube, Sie finden
unsere Vorschläge eigentlich ganz gut. Sie dürfen das
nur nicht sagen, weil Sie in der Opposition sind.


(Lachen der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Deswegen trauen Sie sich nicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eigentlich sind Sie aber froh, dass es endlich vorwärts-
geht.

Ich glaube, dass dieses Programm kein zahnloser,
sondern ein mächtiger Tiger ist, den wir geschaffen ha-
ben. Ich gehe davon aus, dass die Forschung, die Bera-
tung und die Verzahnung verbessert werden, dass wir
Rohstoffpartnerschaften entwickeln und das Recycling
dadurch tatsächlich verbessern; die Frau Staatssekretärin
hat es angesprochen. Wir sollten diese Fortschritte aber
nicht durch eine Besteuerung abwürgen. Wir sollten
auch keine Verpflichtungen schaffen. Das sind nie die
besten Lösungen, Herr Bollmann. Denn dann wird ver-
sucht, die bestehenden Regelungen zu umgehen und an
anderen Stellen etwas herauszuholen. Das ist geistige
Ressourcenverschwendung, bringt uns aber ganz be-
stimmt nicht weiter.

Es geht darum, eine positive Grundeinstellung zur
Ressourceneffizienz und zum Ressourcengebrauch zu
schaffen. Man darf nicht die ganze Zeit immer nur die
negativen Effekte sehen. Wir dürfen nicht nur Verzicht

predigen, wie es die Grünen tun. Sie fordern ja: Verzicht,
Verzicht, Verzicht! Das mag in Deutschland zum Teil
ganz gut ankommen. Das wird aber im Rest der Welt
nicht gut ankommen. Wir müssen den Leuten zeigen,
dass es nicht darum geht, möglichst wenig zu verbrau-
chen, sondern dass es darum geht, die Dinge sinnvoll zu
gebrauchen und nichts kaputtzumachen. Man muss aber
nicht unbedingt wenig verbrauchen. Das Entscheidende
ist, dass die Menschen endlich einen positiven Eindruck
bei diesem Thema bekommen. Ich glaube, die Realität
ist schon ein bisschen weiter als Sie. In früheren Zeiten
haben Sie sich bei diesen Themen berechtigterweise gut
eingebracht; das sei Ihnen unbenommen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal über Ihr Programm!)


Die Grünen haben da wirklich einiges auf den Weg ge-
bracht. Aber mit diesem Programm verfolgen wir zum
ersten Mal einen konkreten Ansatz, der auch funktio-
niert.

Wenn man sich über Ressourceneffizienz Gedanken
macht, dann muss man das auch im Hinblick auf die bü-
rokratische Ebene tun. Man muss erst einmal überprü-
fen: Was passiert wo? Was wird in den Kommunen, in
den Kreisen, auf Länderebene und auf Bundesebene ge-
macht? So etwas gab es bisher noch nicht.

Wir haben bei den Ländern direkt nachgefragt, Herr
Bollmann. Die einzigen Länder, die nicht geantwortet
haben, waren zufälligerweise Berlin und Brandenburg.
Da gibt es nichts; da wird nichts dergleichen gemacht. In
einem Fall wurde einfach nicht geantwortet. In Branden-
burg konnte man nicht einmal Auskunft geben, wer
überhaupt dafür zuständig ist. Wenn das die Art und
Weise Ihres Handelns ist und Sie gleichzeitig Ressour-
ceneffizienz predigen, dann ist das scheinheilig und
führt bestimmt zu keinem Ergebnis.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das, was Herr Bollmann zum Thema Kreislaufwirt-
schaft gesagt hat, ist doch das beste Beispiel dafür, dass
es Ihnen wirklich nicht darum geht, Ressourcen effizien-
ter zu nutzen, sondern es geht Ihnen darum, Besitzstände
zu verteidigen. Wenn es Ihnen nämlich darum gegangen
wäre, ein besseres Recycling zu ermöglichen, wie Sie es
gerade gesagt haben, dann würden Sie sich doch dafür
einsetzen, dass derjenige, der höhere Recyclingquoten
schafft, eine Chance im Wettbewerb hat. Das haben Sie
aber im Bundesrat verhindert. Um für die Kommunen
und die Bundesländer Besitzstände zu wahren, haben Sie
verhindert, dass derjenige, der besser ist, jederzeit alle
Möglichkeiten hat, tätig zu werden. Ihnen geht es nicht
um die Frage, wer es besser macht, sondern Ihnen geht
es darum, bestimmte Interessengruppen zu unterstützen.
Sie und auch die Grünen verzichten damit darauf, ein
besseres ökologisches Ergebnis zu erreichen. Das halte
ich, ehrlich gesagt, für relativ schändlich, und das macht
Ihre Aussagen sehr unglaubwürdig.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie das einmal erklären?)






Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


Wir müssen das Recycling stärken. Das machen wir
durch die Wertstofftonne. Im kommenden Jahr recyceln
wir wahrscheinlich 600 000 Tonnen mehr, die wir dann
nicht verbrennen müssen. Wir haben übrigens die Nut-
zungskaskaden berücksichtigt. Damit ist das Problem,
das Sie infolge der Verbrennung sehen, Herr Bollmann,
überhaupt nicht mehr gegeben. Wir werden die Stoffe so
lange recyceln, wie es möglich ist. Wir werden die Mit-
arbeiter schulen, damit sie sich besser mit Effizienz aus-
kennen. Wir werden Innovationsgutscheine ausstellen
und Effizienzchecks durchführen. Wir werden also posi-
tive Anreize setzen, damit die Leute eine echte Chance
haben, hier vorwärtszukommen. Das ist gut für die Um-
welt, und das ist auch gut für Innovationen.

Vor allem der Verein Deutscher Ingenieure ist von
dem Programm sehr begeistert und spricht davon, es
seien sehr viele Anregungen aus der Praxis übernommen
worden. Auch die Schwerpunktsetzung auf den Erhalt
und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sei gut.
Das ist das Entscheidende. Denn wenn wir am Schluss
die Ressourcenverschwendung in Deutschland dadurch
eingrenzen, dass wir sie in andere Länder verlagern, in
denen viel niedrigere Standards gelten, dann ist nieman-
dem geholfen. Dann haben wir dem Wirtschaftsstandort
Deutschland geschadet. Gleichzeitig haben wir der Um-
welt einen Bärendienst erwiesen.

Das ist genau das, was wir nicht wollen. Deswegen
setzen wir nicht auf negative, sondern auf positive Im-
pulse. Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie
wollen, und dem, was wir wollen. Wir wollen nämlich
nicht, dass man ein ökologisches Putzmittel erzeugt,
während man gleichzeitig die Tropenwälder abholzt. Wir
wollen nicht, dass man die Bioenergie nutzt, ohne sich
darüber Gedanken zu machen, was mit der Fläche pas-
siert und was gespritzt wird. Dabei erzielt man nur einen
vermeintlich positiven ökologischen Effekt. In Wirklich-
keit hat man aber einen negativen Effekt erreicht.

Deswegen müssen wir mehr zu dem Gedanken des
Gebrauchs statt des Verbrauchs kommen. Wir müssen
weg von der Green Economy hin zur Blue Economy.
Wir müssen zu einem anderen Ressourcenbegriff und zu
einer anderen Verwendung der Stoffe kommen – wir
kommen heute Abend noch darauf zu sprechen –, sodass
man sie jederzeit wiederverwerten kann. Es geht also
nicht um Verzicht, sondern um positive Aspekte und um
positive Impulse. Das ist das, was wir hier unterstützen.
Ich glaube, das ist ein großer Schritt nach vorn.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716520400

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716520500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der Kostenstruktur des produzierenden Gewerbes entfal-
len im Durchschnitt 45 Prozent der Kosten auf das Mate-

rial und nur 18 Prozent der Kosten auf das Personal. Ich
kenne Betriebe in der Industrie, bei denen die Personal-
kosten noch wesentlich niedriger sind. Es gibt trotzdem
Lohndrückerei, die im Mittelpunkt von Kostensenkungs-
programmen steht, anstatt zu überlegen, wie man weni-
ger Material verbrauchen kann. Das ginge natürlich auch
so. Es gibt immer Alternativen.

Produkte müssten nicht nur effizienter hergestellt
werden, sondern auch langlebiger sein, Kollege Meierhofer.


(Horst Meierhofer [FDP]: Genau!)


Produkte müssten grundsätzlich zerstörungsfrei demon-
tierbar sein, um die Wiederverwendung intakter Teile zu
ermöglichen, ohne sie zu kaputtzumachen. Das ist eine
Frage, wie das Ganze konstruiert ist. Produkte müssten
so gestaltet werden, dass sie nach ihrer Lebensdauer
sinnvoll stofflich verwertbar sind. Viele Wegwerf-, aber
auch Luxusartikel müssen in Zeiten des Klimawandels
und der Ressourcenknappheit wenn schon nicht verbo-
ten, dann wenigstens deutlich teurer werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir das machen könnten, dann hieße das mehr
Beschäftigung in Produktion, Reparatur und Dienstleis-
tung, etwa in der Vorbereitung zur Wiederverwendung –
Stichwort Wertstoffwirtschaft. Hier gibt es noch sehr
viele weitere Jobs, die ich jetzt nicht genannt habe.

Auf der anderen Seite würden dann die Rohstoff-
preise sowohl am Produkt, aber wahrscheinlich auch ins-
gesamt sinken; denn es würden nicht mehr so viele Roh-
stoffe wie vorher benötigt. Weniger Material wäre also
notwendig. Damit könnten wir auch Konflikte vermei-
den, die weltweit bei der Rohstoffförderung existieren.
Ich brauche Ihnen das nicht näher zu erläutern. Hier gibt
es ganz viele Konflikte: Kinderarbeit, Vertreibung usw.

Der Antrag der Koalition zur Ressourcenschonung und
auch das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm,
ProgRess, gehen erst einmal in die richtige Richtung,
zum Beispiel in Richtung weniger Abfall und dahin, aus
den vorhandenen Rohstoffen mehr zu machen.


(Horst Meierhofer [FDP]: Bravo!)


Zentrales Ziel bleibt aber ressourceneffizientes Wachs-
tum. Die Frage, ob sich der Ressourcenverbrauch über-
haupt so weit abkoppeln lässt, dass wir bis 2050 auf eine
Minderung des Ressourcenverbrauchs um 60 bis 80 Pro-
zent kommen, wird nicht gestellt. Abkopplung bedeutet
doch, dass man irgendwann ein Auto bauen kann, für das
zum Beispiel 37 Prozent weniger Rohstoffe benötigt
werden. Ist das überhaupt möglich, oder muss ich hier
ganz andere Dinge tun?


(Horst Meierhofer [FDP]: Recycling!)


Es stellt sich also schon die Frage nach den Rohstof-
fen. Hier fehlt uns ein wachstumskritischer Ansatz.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Ich glaube auch nicht, dass diese Zahlen mittels Effi-
zienz- und Technologiegläubigkeit zu erreichen sind.





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


Dieser Ansatz fehlt auch im Deutschen Ressourcenef-
fizienzprogramm und im Koalitionsantrag. Sie bauen
mehr auf Rohstoffsicherung als auf Ressourcenscho-
nung. Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm be-
inhaltet viele Prüfaufträge und Ankündigungen, wie
etwa beim Top-Runner-Programm, auf das wir schon
seit der vorletzten Legislaturperiode warten. Ich sage Ih-
nen: Machen Sie es endlich!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Horst Meierhofer [FDP]: Jetzt geht es vorwärts! Jawohl!)


Bei Begriffen wie Sicherstellung des diskriminie-
rungsfreien Zugangs der Unternehmen auf dem Welt-
markt, Abbau von Handelshemmnissen oder auch Roh-
stoffpartnerschaften gehen bei mir die Alarmglocken an.
Das ist sehr gefährlich. Hierunter können wir uns sehr
viel vorstellen. Auch zu der Frage, unter welchen Bedin-
gungen in den Förderländern gearbeitet wird, gibt es
keine Aussagen. Im Zweifelsfall interessiert das nieman-
den.

Stichwort Kanadische Ölsande. Die Bundesregierung
schafft es nicht einmal hier, für ökologische Importstan-
dards einzutreten.


(Frank Schwabe [SPD]: Ja, so ist es!)


Das hätten wir alle von Ihnen erwartet.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Rohstoffpartnerschaften wie der mit Kasachstans Dik-
tator Nasarbajew sehen wir ebenfalls keinen Beitrag zu
einer nachhaltigen Weltwirtschaftsordnung.

Unter dem Strich: Es gibt positive Ansätze. Uns ge-
hen sie nicht weit genug. Ich habe unsere Kritik genannt.
Wir werden dem Antrag nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716520600

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716520700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der Tat ist es so, dass das Thema Ressourceneffizienz ei-
nes der zentralen Zukunftsthemen ist, die wir haben;
denn wir müssen immer mehr mit immer weniger Roh-
stoffen schaffen. Das muss letztendlich das Ziel sein.


(Horst Meierhofer [FDP]: Ja!)


Herr Meierhofer, wenn Sie hier schon Herrn Bütikofer
zitieren, dann zitieren Sie ihn bitte vollständig.


(Horst Meierhofer [FDP]: Ich hatte nur sechs Minuten!)


Sie hören genau an der Stelle auf, an der Herr Bütikofer
sagt: Der Ansatz, den die Bundesregierung für ein sol-
ches Programm wählt, ist zwar richtig, aber das Pro-
gramm, das sie hier vorlegt, kann man nur ablehnen. –

Das sind 112 Seiten reine Lyrik. 112 Seiten bedrucktes
Papier ohne jede konkrete Maßnahme!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD] – Horst Meierhofer [FDP]: Konkretes habt ihr doch nie zusammengebracht!)


Die Kollegen haben gerade schon eine ganze Reihe von
Punkten genannt.

Da Sie hier die EU-Ebene ins Spiel bringen, muss
man auch sagen: Die Bundesregierung stand genau beim
Thema Ressourcenschonung auf der Bremse,


(Horst Meierhofer [FDP]: Nein!)


und sie hat Herrn Kommissar Potocnik kurz vor Weih-
nachten dabei ausgebremst, konkretere Maßnahmen
durchzuführen. Das ist die Realität Ihrer Ressourcen-
politik, und diese Realität findet sich auch in anderen
Bereichen wie bei der Energieeffizienz oder bei kanadi-
schen Teersanden. Wenn Sie zulassen, dass diese impor-
tiert werden und das Klima und die Umwelt zerstört wer-
den, dann ist das die Realität Ihrer EU-Politik. Das hat
nichts mit dem zu tun, was Sie hier vortragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn man die 112 Seiten liest, dann fühlt man sich
phasenweise an Wikipedia erinnert.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?)


Da wird aufs Schönste die Welt erklärt. Das ist wunder-
bar, alles klar. Dort erfährt man, wie viel Gold in Handys
enthalten ist und wie wichtig es ist, Handys einzusam-
meln. Man denkt dann: Jetzt kommt der Hammer; jetzt
kommt die Lösung. Es kommt aber nichts. Darin heißt es
sinngemäß nur: Die Erfassung von Althandys muss opti-
miert werden. – Das ist wunderbar. Aber wie soll es
funktionieren? Fährt Herr Röttgen oder Herr Meierhofer
demnächst mit dem Auto herum und sammelt irgendwo
Handys ein, oder was kommt dabei heraus?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zur Elektronikschrottverordnung oder zu konkreten
Maßnahmen ist nichts zu lesen.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Placebopolitik!)


Ein anderes zentrales Thema in Ihrem Programm: Ihr
Handlungsansatz Nummer eins ist die Deutsche Roh-
stoffagentur DERA. Ich habe in der Fragestunde den
Minister gefragt, wie viele Mitarbeiter diese Handlungs-
informationsplattform, eines der zentralen Instrumente,
die Sie angeblich implementieren, hat. Die Antwort
zeigte, dass der Minister es nicht wusste. Ich habe be-
hauptet, es seien fünf. Ich muss mich entschuldigen.
Diese Zahl stimmt nicht. Ich bin nachher korrigiert wor-
den. Man hat mir gesagt, es seien weniger als fünf. Es
sind also null bis vier Mitarbeiter, die Ihre zentrale





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Handlungsplattform ausmachen. Es ist lächerlich, was
Sie hier vorlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Schlagkraft! Wahnsinn! Das sind Maßnahmen!)


Das zieht sich durch das ganze Programm. Sie können
es rauf- und runterzählen: Es sind 112 Seiten bedrucktes
Papier, aber letzten Endes kommt nichts Konkretes he-
raus.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade um den Regenwald!)


Ein weiteres Beispiel ist der auf EU-Ebene geforderte
Top-Runner-Ansatz. Man sucht ihn vergeblich; er fehlt.
Zur öffentlichen Beschaffung, wo Sie konkret handeln
könnten und nicht die private Wirtschaft in die Pflicht
nehmen müssten, wovor Sie immer zurückschrecken,
findet sich überhaupt nichts. Sie beziehen sich nicht ein-
mal auf die EU-Ziele. Das ist nicht in Ordnung.

Ganz schlimm ist aber – da geht die Koalition noch
weiter als die Bundesregierung –, dass Sie die Ziele, die
Helmut Kohl 1994 zu dem Thema implementiert hat,
nämlich die Verdopplung der Ressourcenproduktivität
bis 2020, offensichtlich versenken wollen. Denn anders
ist Ihre Ablehnung unseres Antrags im Umweltaus-
schuss nicht zu verstehen. Sie zerstören das, was über
mehrere Legislaturperioden hinweg zu dem Thema auf-
gebaut wurde. Sie wollen es einfach nicht mehr wahrha-
ben. Stattdessen gibt es nur Lyrik, Ankündigungen und
Texte, aber keine konkreten Maßnahmen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bitte haben Sie an der Stelle Verständnis, meine Da-
men und Herren: Trotz aller schönen Lyrik und aller Ge-
meinsamkeit, in der wir uns über die Sprache verständi-
gen können, können wir das nicht mitmachen. Das ist
aus unserer Sicht reine Politiksimulation. Wie der Rhein-
länder so schön sagt: So einen Kokolores machen wir
nicht mit.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716520800

Das Wort hat nun Thomas Gebhart für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1716520900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wir debattieren heute einen Antrag zum Thema
Ressourceneffizienz. Ich gebe gerne zu, dass dieses Wort
vielleicht ein wenig technisch klingt. Wahr ist aber: Die
Steigerung der Ressourceneffizienz ist eine der großen
Aufgaben dieser Zeit.

Warum ist das so? Weil die weltweite Nachfrage nach
bestimmten Ressourcen zugenommen hat. Dieser Trend
wird durch eine nach wie vor wachsende Weltbevölke-
rung verstärkt. Die Herausforderung ist deswegen so
groß, weil mit der Ressourcennutzung zum Teil erhebli-
che Umweltbelastungen verbunden sind. Die Herausfor-
derung ist für uns, für Deutschland als starke Industrie-
nation, die wir bleiben wollen, deswegen besonders
groß, weil wir in hohem Maße von Rohstoffimporten ab-
hängig sind.

Es ist klar: Die Rohstoffversorgung zu sichern, ist ein
sehr wichtiger Punkt. Dazu gibt es die Rohstoffstrategie.
Ein Punkt, der hier ebenfalls hineingehört, ist mindes-
tens genauso wichtig wie die anderen und wird in Zu-
kunft eher an Bedeutung gewinnen: die Steigerung der
Ressourceneffizienz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen Wohlstand und Wachstum stärker vom
Ressourceneinsatz entkoppeln. Wir wollen nachhaltiges
Wirtschaften. Deutschland ist übrigens auf diesem Weg.
Die Rohstoffproduktivität hat in den letzten Jahren deut-
lich zugenommen. Viele Unternehmen haben erhebliche
Anstrengungen unternommen. Wir wollen eine der res-
sourceneffizientesten Volkswirtschaften dieser Welt
sein. Wir wollen diesen Weg weitergehen, weil wir vor
allem darin große Chancen sehen, sowohl ökologische
als auch ökonomische. Der effiziente Umgang mit knap-
pen Ressourcen wird künftig noch mehr über die Wett-
bewerbsfähigkeit entscheiden. Effizienztechnologien ge-
hören mit Sicherheit zu den Wachstumstechnologien der
nächsten Jahre.

Wir begrüßen daher außerordentlich, dass die Bun-
desregierung ein Ressourceneffizienzprogramm aufge-
legt hat. Es ist ein Meilenstein. Ein solches Programm
gab es bislang noch nie. Die Handlungsfelder und die
Aufgaben werden umfassend beschrieben und dargelegt.
Wir begrüßen insbesondere – das ist auch Gegenstand
unseres Antrags –, dass dieses Programm auf Anreize,
freiwillige Lösungen, Information, Beratung, Forschung
und Entwicklung sowie Weiterbildung und Bildung
setzt. Es geht gerade nicht darum, die Wirtschaft in ir-
gendeiner Weise zu bevormunden, sondern darum, klas-
sische Win-win-Situationen zu erkennen und zu nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will kurz drei wichtige Punkte nennen, die wir
aufgreifen. Der erste Punkt sind Forschung und Ent-
wicklung. Wir setzen vor allem auf technologische Inno-
vationen, weil diese ein Schlüssel zu mehr Ressour-
ceneffizienz sind. Aus diesem Grund wollen wir die
Forschungsprogramme noch stärker auf diesen Aspekt
ausrichten. Wir begrüßen, dass die KfW ganz aktuell
hier einen neuen Förderschwerpunkt gesetzt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der zweite Punkt ist: Wir wollen darauf hinwirken,
dass die Ressourceneffizienz stärker als bisher bei der





Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)


Normung berücksichtigt wird. Dabei ist entscheidend,
dass wir den gesamten Produktlebenszyklus im Auge be-
halten, also nicht nur den Ressourceneinsatz bei der Her-
stellung eines Produktes, sondern auch die Nutzungs-
phase und in gleicher Weise die Entsorgungsphase.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der dritte Punkt ist: Wir stärken die einzelbetriebliche
Effizienzberatung. Sie ist vor allem für kleine und mitt-
lere Unternehmen eine Hilfe. Ich habe mir vor kurzem
hier in Berlin das Ressourcenzentrum angesehen, eine
Kooperation des Vereins Deutscher Ingenieure und des
Ministeriums. Es ist beeindruckend, zu sehen, welche
hervorragenden Projekte schon heute realisiert werden.
Mit Blick auf die Zukunft kann ich nur sagen: Das
Potenzial dort ist riesengroß.

Ich will noch etwas zur Opposition, insbesondere zu
den Grünen, sagen. Herr Krischer, zuerst fanden Sie das,
was wir gemacht haben, ganz gut, haben dann aber kriti-
siert, dass das Programm und unser Antrag nicht konkret
genug seien. Ich will Ihnen dazu nur zwei Punkte nen-
nen.

Der erste Punkt ist: Sie müssen dieses Programm
auch lesen. Es enthält viele konkrete Punkte.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wenn es konkret wird, hört es auf!)


Sie haben vorhin beispielsweise behauptet, der Top-
Runner-Ansatz werde nicht erwähnt. Ich empfehle Ih-
nen, Seite 52 des Programms zu lesen. Genau dort ist der
Top-Runner-Ansatz zu finden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht der Top-Runner-Ansatz, aber dann kommt nichts mehr!)


Das Programm enthält noch viele andere konkrete
Punkte.

Der zweite Punkt ist: Es handelt sich um ein Pro-
gramm, das noch umgesetzt und in der Umsetzung an
vielen Stellen weiter konkretisiert werden muss.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch, wie Sie konkretisieren wollen!)


Ich lade die Opposition ausdrücklich ein, sich mit klugen
Vorschlägen in diesen Umsetzungsprozess einzubringen.
Wenn Sie aber vorschlagen, eine zusätzliche Abgabe
einzuführen, die die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land zusätzlich belastet, dann
sage ich Ihnen ausdrücklich: Dies entspricht nicht unse-
rer Vorstellung. Da unterscheiden wir uns. Diesen Weg
werden wir nicht mitgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kurzum, die Steigerung der Ressourceneffizienz ist
eine große Aufgabe. Wir gehen diese Aufgabe umfas-
send und systematisch wie nie zuvor an. Damit nutzen
wir auch die gewaltigen Chancen, die in diesem Bereich

liegen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Antrag heute
zu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716521000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
mit dem Titel „Deutsches Ressourceneffizienzprogramm –
Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8875, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8575 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Steuerungsfehler bei der Hochschulzulassung
untersuchen und Zulassungsreform besser un-
terstützen

– Drucksache 17/8884 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Swen
Schulz für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1716521100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hoch-
schulzulassung, also der Weg, wie Studieninteressierte
und Hochschulen zueinanderfinden, ist in Teilen chao-
tisch organisiert. Das ist für die Hochschulen schwierig.
Das ist aber vor allem für die Studieninteressierten be-
lastend und abschreckend. Was im Resultat vielleicht das
Schlimmste ist: Im letzten Wintersemester blieben fast
20 000 Studienplätze unbesetzt. Das ist Irrsinn.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir kennen dieses Problem schon länger. Wir haben
deswegen vor Jahren eine gemeinsame Lösung erarbei-





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


tet. Wir haben gesagt, dass ein Serviceverfahren instal-
liert werden soll, um die Probleme zu lösen. Doch des-
sen Einführung ist wiederholt gescheitert. Ich will jetzt
nicht so tun, als ob wir von der SPD immer schon alles
besser gewusst haben.


(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Das ist sympathisch!)


Das ist nicht der Fall. Wir haben das ja gemeinsam be-
schlossen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren von der Koalition: Man muss im Laufe der Zeit eben
auch einmal dazulernen. Wenn ich richtig gezählt habe,
haben wir uns im Ausschuss in den vergangenen Jahren
siebenmal mit dieser Thematik befasst.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Richtig!)


Zumindest in der letzten Zeit, in den letzten paar Jahren,
war doch immer deutlicher erkennbar, was für Probleme
es gibt, wo die Schwierigkeiten liegen. Wir haben die
Probleme auch benannt.


(Beifall bei der SPD – Monika Grütters [CDU/ CSU]: Wir auch! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir alle!)


Schon Ende 2008, als es erkennbar immer noch Pro-
bleme gab, haben wir die Ministerin Schavan darauf hin-
gewiesen, dass das Zulassungsverfahren so nicht gere-
gelt werden kann. Als zum Beispiel im April 2011 zum
wiederholten Mal die Einführung des dialogorientierten
Serviceverfahrens verschoben werden musste, haben wir
hier im Bundestag einen Antrag eingebracht und ein
Konzept für einen Notfallplan und für einen Plan B vor-
gelegt.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So ist es!)


Aber wie war die Reaktion der Bundesregierung, der
Koalitionsfraktionen? Gleich null. Sie haben die Augen
fest geschlossen und sind wieder auf dieselbe Wand zu-
gerannt – und Sie sind wieder gescheitert.


(Beifall bei der SPD)


Was an dem Ganzen vielleicht am ärgerlichsten ist:
Für dieses Versagen haben Sie einen Sündenbock ge-
sucht und gefunden: die HIS, eine öffentliche Gesell-
schaft, die für die Software an vielen Hochschulen zu-
ständig ist.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das haben wir aber gemeinsam festgestellt!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, so zu tun, als
ob die HIS allein verantwortlich und man selber völlig
raus aus dem Spiel wäre, das ist stillos, das ist falsch,
und das bringt die Lösungsfindung nicht voran.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen den Sündenbock jetzt durch einen Privati-
sierungskurs zur Strecke bringen. Aber zur Problemlö-
sung müssen Sie ganz anders vorgehen. Deswegen ha-
ben wir hier heute einen Antrag vorgelegt, der ein
entsprechendes Konzept aufzeigt.

Wir wollen das dialogorientierte Serviceverfahren
zum Erfolg bringen. Wir sind bereit, dass der Bund mög-
liche Mehrkosten dafür übernimmt. Bis zum Start des
dialogorientierten Serviceverfahrens möchten wir, dass
in der Clearingphase ein koordiniertes Vergabeverfahren
durchgeführt wird. Und wir wollen einen Ersatzplan für
das Wintersemester 2013/2014 haben, bei dem ein effi-
zientes Zulassungsverfahren nach dem Typ D plus
durchgeführt wird. Ich will das jetzt nicht zu technisch
machen; aber das basiert auf dem, was wir bereits entwi-
ckelt haben. Darüber hinaus muss es natürlich eine Pro-
zessanalyse geben, die auch das politische Programm-
management mit einbezieht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, orientieren Sie sich daran,
anstatt Ablenkungsmanöver zu fahren!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Redezeit ist leider sehr begrenzt. Deswegen
will ich zum Abschluss nur noch eine Bemerkung ma-
chen. Wir haben jetzt nur noch diesen einen letzten Ver-
such. Das muss jetzt mit dem Serviceverfahren wirklich
klappen. Wenn das – aus welchen Gründen auch immer –
nicht gelingt, dann müssen wir anders und grundsätzli-
cher diskutieren. Dann müssen auch die rechtlichen Rah-
menbedingungen hier im Deutschen Bundestag themati-
siert werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Dann muss ein Bundeszulassungsgesetz auf die Tages-
ordnung, das einheitliche Standards setzt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716521200

Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1716521300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Schulz, nach einem erstaunlichen Erkenntniszu-
wachs der SPD reden wir heute zum wiederholten Mal
über das dialogorientierte Hochschulzulassungsverfah-
ren.


(Lachen bei der SPD)


– Offensichtlich ist der Antrag Ihrem Erkenntnisgewinn
geschuldet. Ich jedenfalls bin überrascht, dass wir heute
hier zum wiederholten Mal und relativ kurzfristig nach
der letzten ausführlichen Beratung im Ausschuss wieder
darüber reden müssen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist leider notwendig!)


Wir alle wollen, dass die Studierenden einen besseren
Hochschulzugang als beim bisherigen Verfahren haben.


(Klaus Hagemann [SPD]: Dann mal ran!)






Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)


Die Vorteile des DoSV liegen für jeden – auch für die
SPD, so denke ich – auf der Hand. Wer sich einmal in
der nahegelegenen Mohrenstraße bei Professor Jähnichen
im Fraunhofer-Institut kundig macht, kann das direkt er-
kennen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da war ich auch!)


Wie gesagt, gerne nehme ich den Erkenntnisgewinn
der SPD zum Anlass, hier noch einmal über die, wie Sie
es nennen, Entwicklung und Einführung des DoSV zu
reden und es weiter zu unterstützen. Ich freue mich da-
rüber, dass wir uns zumindest in dieser grundsätzlichen
Frage noch immer einig sind.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das funktioniert aber noch immer nicht!)


Dennoch habe ich mich über manche Volte in Ihrem
Antrag gewundert. Erstens. In dem Antrag taucht wie-
derholt die Forderung nach weiteren Bundesmitteln für
die Etablierung des dialogorientierten Serviceverfahrens
auf. Gleich zweimal fordern Sie in Ihrem Antrag Bun-
desmittel für die Konnektorenanschaffung. Darüber
kann ich mich nur wundern. Ein Allheilmittel sind genau
diese berühmten Bundesmittel nämlich nicht.

Am 2. November hat Staatssekretär Rachel Sie alle in
einer Drucksache darüber unterrichtet – ich zitiere –,
dass alle Länder ihren Hochschulen ausdrücklich die
Übernahme der Kosten für die Beschaffung der Konnek-
toren zugesichert haben.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Ich frage mich also, ob Sie an dieser Stelle wider besse-
res Wissen Zweifel an der Finanzierung des Projekts we-
cken wollen. Ich glaube, mit derartigen Einlassungen
tragen Sie nicht dazu bei, den Erfolg des Programms zu
unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Klaus Hagemann [SPD]: Wo ist denn der Erfolg?)


Außerdem entlasten Sie die zuständigen Länder, nach-
dem Sie die Finanzierung zugesichert haben, völlig ohne
Not von ihren Pflichten. Das halte ich für falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Machen Sie es jetzt, oder machen Sie es nicht?)


Zweitens. Fragwürdig ist, dass Sie plötzlich einen
dringenden Bedarf sehen, Umstände und Ursachen der
Probleme aufzudecken. Wir hatten doch erst am 18. Ja-
nuar – das ist erst wenige Wochen her – das große Fach-
gespräch – Sie haben es angesprochen –, in dem auch
Sie die Gelegenheit hatten, die Hintergründe zu erörtern.
Im Ausschuss gab es während des Fachgesprächs übri-
gens einen Konsens – das fand ich gut –, dass wir auf ge-
genseitige Schuldzuweisungen eher verzichten wollen.
Wenn Sie vom Sündenbock HIS sprechen, kann ich nur
sagen: In Ihrem Antrag versuchen Sie, den Sündenbock
Annette Schavan auszumachen. Das ist nun wirklich ein

Manöver, das nicht nur ein Stück weit unanständig, son-
dern auch völlig unsachgemäß ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sachgemäß ist es schon!)


Konstruktive Lösungen des Problems wären besser ge-
wesen. Das hätte auch Ihrem Antrag gutgetan. Schuldzu-
weisungen jedenfalls sind keine Lösung. Es drängt sich
der Verdacht auf, dass der Wunsch nach einer Ursachen-
suche beim DoSV für die SPD eher darin begründet ist
– ein durchsichtiges Manöver –, eine der erfolgreichsten
Ministerinnen ins Visier zu nehmen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh!)


Pauschal und, wie ich finde, sehr oberflächlich beklagen
Sie wiederholte Managementfehler, ohne ein konkretes
Versäumnis zu benennen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Also hat niemand Schuld!)


Das finde ich stillos, Swen Schulz, falsch, und es bringt
die Sache im Übrigen nicht voran.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wahr ist: Wenn eine ihre Aufgaben auch bei diesem
leidigen Thema erledigt hat, dann ist es die Bundes-
ministerin.


(Lachen des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Mit den 15 Millionen Euro aus Bundesmitteln ist jeden-
falls eine einwandfrei funktionierende Software entwi-
ckelt worden. Der Bund hat also seine Leistung erbracht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Bundestag hat das bewilligt!)


Eine dritte Überraschung. Sie beschreiben in Ihrem
Antrag zwar, wie das System D oder das System D plus
funktionieren soll, aber ich kann nicht sehen, dass es die
Probleme löst.

Erstens liegt das Hauptproblem in der Zeitschiene,
darin, dass das Ganze immer wieder verschoben wird.
Das System D zu installieren, würde mindestens 26 Mo-
nate dauern.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Falsch!)


Das Problem wäre damit nicht nur nicht zeitnah gelöst;
es würde noch länger dauern, als wenn wir jetzt hieran
weiterarbeiten.

Zweitens. Die Risiken und Hindernisse bei einem sol-
chen Paradigmenwechsel – das wäre es ja – verschwei-
gen Sie wohlweislich. Sie sagen nicht, welche Rechen-
kapazitäten dafür nötig wären. Sie sagen auch nicht, wie
das Zulassungsverfahren kurzfristig an die Stiftung für
Hochschulzulassung angebunden werden soll. Sie sagen
nichts darüber, mit welchen Personalstrukturen ein sol-
ches Zentrum arbeiten müsste und wie es zu finanzieren
wäre.





Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)


Sie sagen vor allen Dingen nichts über das heikle
Thema Datenmigration. Es geht um massenweise hoch-
sensible Daten. Wie die durch die gesamte Republik ge-
schickt werden sollen – das ist übrigens der Grund dafür,
dass alle Hochschulen dieses System nicht wollen –, ver-
schweigen Sie. Insofern ist das ein, wie ich finde, völlig
aus der Luft gegriffener Vorschlag, der offensichtlich in
erster Linie ein Ziel hat, nämlich ein bisschen Show zu
machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass wir alle uns nach wie vor Gedanken über den
Masterplan für die IT-Infrastruktur des Hochschulsys-
tems machen müssen, und zwar über die Zulassungssoft-
ware weit hinaus, haben wir alle am 18. Januar erlebt
und gelernt. Dafür müssen wir uns noch einmal zustän-
dig machen, obwohl die Länder die ersten Akteure sind.

Ich glaube, dass Ihr Antrag eher zu größerer Verunsi-
cherung beiträgt. Sie chaotisieren die ohnehin schwie-
rige Diskussion.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das haben Sie immer gesagt! Immer dann, wenn wir etwas kritisiert haben, haben Sie gesagt, wir sollten das nicht schlechtreden!)


– Aber das ist ja auch so! Das System D ist das Gegen-
teil einer Lösung. Es bringt nur noch mehr Chaos.


(Klaus Hagemann [SPD]: Wer hat das Chaos gemacht?)


Alle Beteiligten haben immer gesagt, dass sie es nicht
wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Antrag ist ein Ablenkungsmanöver. Unausgego-
rene Schnellschüsse wie dieser lösen das Problem, das
wir alle inzwischen erkannt haben, sicher nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Immer die gleiche Platte!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716521400

Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716521500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Centrum für Hochschulentwicklung sagte dieser Tage
voraus, dass es bis zum Jahr 2025 mindestens 1,1 Millio-
nen zusätzliche Studienanfängerinnen und Studienanfän-
ger geben wird. Die Kultusministerkonferenz hat gerade
zugegeben, sich bei ihren Prognosen deutlich verschätzt
zu haben, und korrigierte ihre Zahl nach oben: bis 2020
jährlich 60 000 bis 80 000 mehr Studienanfängerinnen
und Studienanfänger.

Jetzt werden diese Zahlen endlich einmal offiziell ge-
nannt. Überrascht haben sie allerdings nur die Bundesre-
gierung – den Eindruck hat man zumindest –;


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Haben Sie schon was vom Hochschulpakt gehört?)


denn die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die
Studierendenvertretungen, die Studentenwerke, auch die
Fraktion Die Linke – sie alle haben schon seit einigen
Jahren nicht mehr an die prognostizierten niedrigen Zah-
len der Bundesregierung geglaubt. Und: Wir finden es
gut, dass immer mehr junge Menschen ein Studium auf-
nehmen wollen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD] und Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Monika Grütters [CDU/CSU]: Wir auch!)


– Wenn Sie das auch so toll finden, dann handeln Sie
entsprechend!

Dass die Bundesregierung die Hochschulen nicht
nach dem Bedarf der Studierenden, sondern nach Kas-
senlage und Wunschprognosen ausstattet, zieht sich wie
ein roter Faden durch die Bildungspolitik von Schwarz-
Gelb. Im Herbst letzten Jahres fehlten genau deswegen
schon 100 000 Studienplätze.

Was diese Politik außerdem bedeutet, kann man er-
fahren, wenn man eine Hochschule besucht, die keine
Exzellenzuni ist oder die nicht irgendwelche gesponser-
ten Stiftungslehrstühle hat: Tausende von jungen Men-
schen ohne Studienplatz, zu wenig Lehrkräfte, unterbe-
zahlte Professorinnen und Professoren – das haben wir
gerade durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt be-
kommen –, zu wenig Wohnheimplätze, BAföG-Anträge,
die sechs Monate und länger nicht bearbeitet werden –
das ist die Situation an den Hochschulen, und dieser Zu-
stand muss endlich beendet werden.


(Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wer ist für die Hochschulen zuständig?)


Die Meldungen zu den steigenden Studierendenzah-
len und zu den prekären Verhältnissen an Hochschulen
überschlagen sich. Und was macht die Bundesregie-
rung? Anstatt selbst mehr Geld in die Hand zu nehmen,
übt sie sich darin, Verantwortung abzugeben, und findet,
die Länder müssten handeln.

Seit einiger Zeit hoch im Kurs als Sündenbock ist
– mein Kollege Schulz hat es schon angesprochen – die
HIS-IT, die IT-Sparte des Hochschul-Informations-Sys-
tems. Sie soll ein Internetportal zur koordinierten Ver-
gabe von Studienplätzen entwickeln, damit nicht auch
noch inmitten der ganzen Misere um mangelnde Studi-
enplätze viele Plätze unbesetzt bleiben. Der Start dieses
Portals wurde aus technischen Gründen mehrfach ver-
schoben, zuletzt auf das Wintersemester 2013/2014.

Was schlägt die Bundesregierung jetzt vor? Sie zieht
eine Privatisierung der HIS-IT in Betracht, ganz so, als
hätte es die ganzen negativen Erfahrungen der letzten
Jahre mit Privatisierungen und Deregulierungen nicht





Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)


gegeben. Ich freue mich sehr, dass von der Privatisie-
rung der HIS-IT im vorliegenden SPD-Antrag nicht die
Rede ist. Thüringens Bildungsminister Matschie von der
SPD war ja leider Mitbeförderer dieser Idee.

Für die Linke ist klar: Die Hochschulzulassung gehört
in die öffentliche Hand.


(Beifall bei der LINKEN)


Es kann nicht sein, dass irgendwann private Anbieter
zum Beispiel über die Höhe der Kosten für die Vermitt-
lung eines Studienplatzes entscheiden, die dann viel-
leicht auch noch von den Bewerberinnen und Bewerbern
oder von den Hochschulen getragen werden müssen.

Natürlich brauchen wir eine Plattform, die es den Stu-
dienbewerberinnen und Studienbewerbern ermöglicht,
einen Überblick über Studienangebote zu bekommen,
und mit der die Studienplatzvergabe koordiniert wird.
Diese Plattform kann aber – ganz egal, wie gut sie tech-
nisch ausgerüstet ist – nicht die Zehntausenden jährlich
fehlenden Studienplätze ersetzen. Das ist doch das ei-
gentliche Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen endlich eine Aufstockung des Hoch-
schulpaktes auf mindestens 500 000 Studienplätze und
ein Bundeszulassungsgesetz, das jedem Studienberech-
tigten das Recht auf ein Studium garantiert. Das Bundes-
verfassungsgericht hat in seinem NC-Urteil von 1972 in
aller Deutlichkeit gesagt:


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben 2012!)


Die Beschränkung des Hochschulzugangs ist eine
Grundrechtseinschränkung, die nur zur Regulierung ei-
nes temporären Mangels an Studienplätzen überhaupt
zulässig ist. – Dieser temporäre Mangel hat nun gerade
seinen 40. Geburtstag.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Tausenden Schülerinnen und Schüler, die in den
vergangenen Jahren empört auf die Straße gegangen
sind, brauchen nicht nur eine bessere Software, sie brau-
chen vor allem einen Studienplatz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716521600

Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Jetzt kommt Privat vor Staat!)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1716521700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahr

2008 brachten SPD und CDU/CSU das dialogorientierte
Zulassungsverfahren auf den Weg. Alle waren voll der
Hoffnung, endlich ein Instrument gefunden zu haben,
das den Hochschulen ein Höchstmaß an Autonomie zu-
billigen und gleichzeitig einen effektiven Mitteleinsatz

gewährleisten würde. Der Zuversicht des Jahres 2008
folgten Ärger und Enttäuschung. Im Jahr 2012 kann man
eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln.

Das Problem ist: Wie konnte das Parlament sich so
lange von einem staatlichen Unternehmen wie der
HIS GmbH an der Nase herumführen lassen?


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie war das mit den Sündenböcken?)


Wir alle wünschen uns eine schnelle Lösung der techni-
schen Probleme im Sinne der Hochschulen und der Stu-
dienbewerber; darüber haben wir ausführlich diskutiert.
Gerade die Hochschulen sind in diesem Prozess die
Leidtragenden der Entwicklung. Sie müssen den glückli-
cherweise ansteigenden Zustrom der Studienbewerber
managen. Gerade hier geraten sie aufgrund der knappen
Personal- und Finanzausstattung durch die zuständigen
Länder mehr und mehr an ihre Grenzen. Bislang haben
sie es aufgrund einer enormen Anstrengung geschafft
– und das verdient höchsten Respekt –, die negativen
Folgen für Studierende minimal zu halten. Der Aus-
schöpfungsgrad – dies muss man sich auf der Zunge zer-
gehen lassen – ist tatsächlich noch gestiegen. Den Hoch-
schulen muss hier höchster Respekt zuteilwerden.

Aber auch die Studienplatzbewerber brauchen das
dialogorientierte Zulassungsverfahren; darüber herrscht
Einigkeit. Es würde helfen, dass Bewerberverfahren zü-
gig durchgeführt werden können. Damit wäre auch früh-
zeitiger klar, an welcher Hochschule sie einen Studien-
platz erhalten. Bislang haben Nachvermittlungen und die
Studienplatzbörse erstaunlich gut funktioniert. Doch den
Ärger kann das kaum lindern. Glauben Sie mir, mich hat
es geärgert, dass uns die HIS GmbH – das haben wir
sehr ausführlich im Ausschuss diskutiert – in der Ver-
gangenheit nie über die tatsächlichen Probleme infor-
miert hat. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie hat im Gegenteil immer wieder verlauten lassen,
man sei voll im Zeitplan. Dann, kurz vor Erreichen des
nächsten Meilensteins, kam die Mitteilung, es gebe doch
noch Probleme und ein weiterer Zeitverzug sei unum-
gänglich. Ich erinnere mich an den April letzten Jahres:
Wenige Tage vor dem geplanten Start wurden wir noch
in dem Glauben gelassen, es könne funktionieren. Das
ist wirklich unverschämt und kann nicht länger hinge-
nommen werden. Daher wurden bereits – ich sage, zu
Recht – personelle Konsequenzen gezogen.

Meine Damen und Herren von der SPD, zu dieser Si-
tuation haben Sie kein Wort verloren. Das Problem liegt
jedoch genau darin begründet: Wir konnten nicht zeitig
genug reagieren, weil uns immer wieder etwas anderes
gesagt wurde.

In der Analyse, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD-Fraktion, kann man das, was in Ihrem Antrag steht,
im Großen und Ganzen sicherlich teilen, von dem Aus-
setzer bezüglich der HIS GmbH einmal abgesehen.
Trotzdem hilft uns dieser Antrag nicht weiter.

Ich sage Ihnen auch, warum er nicht weiterhilft: Wie
Sie richtig darstellen, hindern uns derzeit technische





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


Probleme daran, das dialogorientierte Serviceverfahren
zum Funktionieren zu bringen. Die Ursachen hierfür
sind vielschichtig; darüber ist gesprochen worden. Es
liegt vor allen Dingen daran, dass die beauftragten Un-
ternehmen an den Hochschulen nur eine stark veraltete
Software vorgefunden haben, sodass die Schnittstellen-
problematik nicht beherrscht werden konnte.

An dieser Stelle muss ich sagen: Diese Probleme
kann die Politik nicht lösen, wenngleich hier ein entspre-
chender Eindruck vermittelt wird. Es würde auch nicht
weiterhelfen – Kollegin Grütters hat es angesprochen –,
wenn der Bund, der bereits 15 Millionen Euro zur Verfü-
gung gestellt hat, weitere Kosten übernehmen würde, um
Umgehungs- oder Ersatzlösungen zu schaffen. Denn ei-
gentlich obliegt es den Ländern, ihre Verantwortung für
die Hochschulen selbst zu schultern. Wir brauchen die
gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, besonders
die der Länder. Die Länder müssen dafür Sorge tragen,
dass an ihren Hochschulen eine moderne und zeitge-
mäße Softwareausstattung zur Verfügung steht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich hatte vorhin von dem Respekt vor den Leistungen
der Hochschulen gesprochen. Die Hochschulen brau-
chen vor allen Dingen eine schnelle Entlastung im Be-
reich der Verwaltung, indem ihnen auch personell eine
angemessene Ausstattung zur Verfügung steht, um das
Bewerbermanagement ordentlich bewältigen zu kön-
nen. Wir freuen uns ja darüber, dass sich viele Studie-
rende an den Hochschulen anmelden.

Bezüglich der weiteren Projektdurchführung erwartet
meine Fraktion, dass wir als Deutscher Bundestag regel-
mäßig und vor allen Dingen in einem transparenten Ver-
fahren über den Projektfortschritt informiert werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf Probleme muss frühzeitig hingewiesen werden. Wo
es nötig ist, muss rechtzeitig gegengesteuert werden.

Wenn wir aus diesem Projekt eines gelernt haben,
dann ist es aus meiner Sicht – das ist die Erfahrung des
heutigen Tages –, dass es nicht günstig war, ein öffentli-
ches Unternehmen mit der Projektdurchführung zu be-
auftragen. Zum einen kann gerade bei einer solchen
Konstellation die Leistungserbringung nicht ausreichend
von der Kontrolle getrennt werden. Zum anderen stehen
uns als Auftraggeber kaum Sanktionsmöglichkeiten zur
Verfügung. Jedes private Unternehmen hätte man zu
Recht mit Regressforderungen konfrontieren müssen.

Insofern begrüßen wir die Überlegungen des BMBF,
den IT-Geschäftsbereich der HIS GmbH in eine private
Trägerschaft zu überführen. Meine Fraktion steht diesem
Ansinnen ausgesprochen positiv gegenüber. Damit er-
hoffen wir uns mehr Professionalität und letztendlich
auch eine bessere Steuerungsmöglichkeit für uns.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716521800

Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716521900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Studierende, die heute unsere Debatte verfolgen, werden
sich die Haare raufen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


und das nicht nur wegen des Privat-vor-Staat-Mantras
meines FDP-Vorredners. Die Studienplatzbewerber in
unserem Land erleben jedes Jahr aufs Neue dieses Stu-
dienplatzparadoxon: Einerseits gibt es immer mehr und
höhere Zulassungsbeschränkungen, andererseits gibt es
Semester für Semester Zehntausende Studienplätze, die
unbesetzt bleiben. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn man an das Nichtstun des Bundesbildungsmi-
nisteriums und das sehr ernüchternde Fachgespräch im
Bundesbildungsausschuss denkt, dann erkennt man die
Gefahr, dass sich das Ganze nicht so schnell ändert.
Lasse ich die Pleiten-Pech-und-Pannen-Serie der letzten
Monate und Jahre zu diesem Thema Revue passieren,
dann bekomme ich den Eindruck, dass die Erarbeitung
des dialogorientierten Serviceverfahrens leider eine Ne-
ver-ending Story wird.

Der Startschuss für die Erarbeitung des neuen Stu-
dienplatzvergabeverfahrens fiel bereits zu Zeiten der
Großen Koalition. Als Starttermin wurde das Winter-
semester 2011/2012 anvisiert, ein sowieso schon zu spä-
ter Zeitpunkt also, weil dann längst die ersten doppelten
Abiturjahrgänge vor den Hochschultüren standen. Seit
Jahren ist doch bekannt, dass es so viele Studienberech-
tigte wie nie zuvor gibt; aber es gibt kein funktionieren-
des Zulassungsverfahren. Über diesen Zustand kann
man einfach nur den Kopf schütteln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Angesichts dieses vermurksten Prozesses stellen wir
uns immer wieder die Frage: Wie konnte es eigentlich
passieren, dass bei der Softwareerarbeitung niemand
geprüft hat, ob das neue Softwareverfahren auch wirk-
lich mit bestehenden IT-Lösungen an den Hochschulen
kompatibel ist,


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das wäre schon sinnvoll gewesen!)


dass sie untereinander kommunizieren können, dass da
Datenfluss stattfinden kann? Offensichtlich gilt: Viele
Köchinnen und Köche haben hier den Brei verdorben.
Besonders nervt uns an dieser Stelle auch das Weg-
ducken von Bundesbildungsministerin Schavan. Auch
ihr fehlendes Projektmanagement rächt sich bei den Stu-
dienbewerberinnen und Studienbewerbern immer mehr.





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der schwarz-gelbe Vorschlag einer Privatisierung der
HIS-Softwaresparte hilft aus unserer Sicht nicht weiter.
Wir halten das für ein Ablenkungsmanöver. Das Zulas-
sungschaos wird damit nicht beendet, sondern droht
nochmals verlängert zu werden.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Richtig! Genau!)


Wenn man sich überlegt, welch ein Prozess bei solch
einer Privatisierung in Gang gesetzt wird, dann erkennt
man: Das hilft doch nicht weiter.

Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion überzeugt
uns auch noch nicht. Natürlich gibt sich hier überhaupt
niemand damit zufrieden, wenn die Softwareentwickler
sagen, es gebe zum nächsten Wintersemester wohl nur
einen Pilotbetrieb mit einigen wenigen Hochschulen.
Aber der Vorschlag, zum jetzigen Zeitpunkt ein komplett
neues Alternativverfahren zu erarbeiten, widerspricht
doch den Äußerungen der Sachverständigen aus der
Anhörung des Bundestagsbildungsausschusses, wonach
die Entwicklung von Alternativen oder eines Plans B zu
weiteren Verzögerungen führe. Das wäre – auch da sind
wir alle uns einig – das Letzte, was die Studienbewerbe-
rinnen und -bewerber jetzt brauchen können.

Wir sollten stattdessen alle Kräfte bündeln, das heißt
mehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfü-
gung stellen, Technik- und Datenschutzprobleme lösen
und den Prozess des dialogorientierten Serviceverfah-
rens doch noch zu einem Erfolg führen. Ich glaube, wir
sollten uns darauf konzentrieren, dass dieses dialog-
orientierte Serviceverfahren am Ende funktioniert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die beste Medizin gegen immer höhere Zulassungs-
beschränkungen ist es, deutlich mehr Studienplätze zu
schaffen. Die klar nach oben korrigierte KMK-Prognose
zeigt doch: Wir haben es nicht mit einem kurzzeitig vor-
handenen Studierendenberg zu tun, sondern zum Glück
mit einem dauerhaften Studierendenhochplateau. Wenn
Ministerin Schavan ihren eigenen Hochschulpakt tat-
sächlich als atmendes System ansieht und ihn ernst
nimmt, dann muss sie jetzt Gespräche mit den Ländern
aufnehmen, um den Hochschulpakt auszuweiten und
mehr Studienplätze zu schaffen.

Wir brauchen mehr Studienplätze mithilfe des Hoch-
schulpakts, eine funktionierende Hochschulsoftware für
die Studienplatzvergabe und bundeseinheitliche Regeln
zur Hochschulzulassung. Hier können wir, der Bundes-
tag, gemeinsam etwas auf den Weg bringen. Endloses
Zulassungschaos wäre jedenfalls für den Technologie-
und Wissenschaftsstandort Deutschland blamabel. Dazu
darf es nicht kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716522000

Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1716522100

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Das dialogorientierte Serviceverfahren
wurde entwickelt, um die Studienplatzvergabe sowie die
Auswahl von Studierenden im Sinne der Hochschulen
und der Studierenden zu vereinfachen. Mit dem Start des
Systems soll das europaweit modernste Hochschulzulas-
sungsverfahren an den Start gehen.

Wie wir alle wissen, gibt es nun große Probleme bei
der Anbindung zwischen den hochschuleigenen Soft-
waresystemen und dem DoSV. Zur Behebung dieser
technischen Probleme versucht die HIS nun, die notwen-
digen Konnektoren zu entwickeln. Ziel ist es, im Winter-
semester 2013/2014 das System endlich final einzu-
führen. Zur Absicherung, dass dieser Termin dann
hoffentlich auch eingehalten werden kann, ist für das
Wintersemester 2012/2013 die Implementierung eines
Pilotprojekts vorgesehen. Es gibt also keinen Grund für
die SPD, in ihrem Antrag die ohnehin gesetzten Fristen
noch einmal einzufordern.

Wir alle – nicht nur Sie von der SPD – waren ent-
täuscht und auch sehr verärgert darüber – und das sind
wir auch weiterhin –, dass allen Zusagen der Verantwort-
lichen zum Trotz der Zeitplan zum wiederholten Male
nicht eingehalten werden konnte.

Natürlich fragt man sich, wie solche Verzögerungen
und Fehleinschätzungen zustande kommen können.
Aber zur Lösung des aktuellen Problems trägt die Ant-
wortsuche allein nicht bei. Die Suche nach einem Sün-
denbock wird die technischen Probleme dieses sehr
komplexen Systems nicht lösen. Vielmehr ist es jetzt
wichtig, dass wir alle gemeinsam an diesem Projekt fest-
halten. Denn für die Zukunft unserer Hochschulen ist
dieses effiziente System von enormer Bedeutung; allein
mehr Geld reicht hier nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
das dialogorientierte Serviceverfahren an sich schon sehr
gut funktioniert. Die 15 Millionen Euro des Bundes sind
nicht einfach versickert. Es geht nun lediglich darum, die
Schnittstellenproblematik zu lösen.

Insgesamt bietet das neue Verfahren gegenüber der
derzeitigen Situation für alle Beteiligten, also sowohl für
Studienanfänger als auch für die Hochschulen, immense
Vorteile, und die Kultusministerkonferenz – das wurde
schon erwähnt – prognostiziert, dass in den kommenden
Jahren bis 2020 mit einem absoluten Anstieg der Zahl
der Studienanfänger zu rechnen ist. So werden 2013
knapp 490 000 Studienanfänger an den Hochschulen
erwartet. Im Studienjahr 2011 betrug der Zuwachs
deutschlandweit ganze 16 Prozent. In Bayern sind sogar
32 Prozent mehr als im Jahr 2010 zu verzeichnen gewe-
sen.





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Selbst wenn man die Effekte durch die doppelten
Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht
berücksichtigt, zeigen die Zahlen, dass wir mit unserer
bisherigen Hochschulpolitik mit dem Ziel, die Anzahl
der Studierenden zu erhöhen, und auch der angestrebten
Neuregelung der Studienplatzvergabe auf dem richtigen
Weg sind.

Die Politik steht vor der Aufgabe, durch einen effi-
zienten Einsatz der Ressourcen dieser steigenden Zahl
von studierwilligen jungen Menschen gerecht zu wer-
den. Das dialogorientierte Serviceverfahren kann zur
Entschärfung der Zulassungssituation in den überfüllten
Studiengängen erheblich beitragen.

Wesentliche Vorteile sollen darin bestehen, dass durch
das DoSV ein hocheffizientes und zentrales Vergabever-
fahren organisiert werden kann, ohne dass in die Auto-
nomie der Hochschulen eingegriffen werden muss. Des
Weiteren werden den Studierenden bei der Studienplatz-
wahl viele Freiheiten eingeräumt.

Genau diese positiven Änderungen für die Studieren-
den und Hochschulen hatten uns dazu veranlasst, vonsei-
ten des Bundes 15 Millionen Euro als Anschubfinanzie-
rung bereitzustellen, obwohl dies eigentlich in die
Zuständigkeit der Länder gefallen wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Länder haben sich wiederholt zur weiteren Finan-
zierung bekannt. Das schließt auch die Kosten für die
notwendigen Konnektoren ein. Deshalb sehe ich keinen
Grund für eine Änderung, und ich verstehe auch nicht,
warum die SPD nun erneut Forderungen nach weiteren
Bundesmitteln stellt. Dass es hier überhaupt kein Geran-
gel um Zuständigkeiten gibt – und schon gar keine Zwei-
fel an der Finanzierung des Projekts insgesamt –, hat
Staatssekretär Rachel schon im November 2011 klar-
gemacht.

Mir drängt sich daher eher ein bisschen der Verdacht
auf, dass mit dieser kurzsichtigen Forderung nur eines
erreicht werden soll: die Entlastung der leeren und maro-
den Kassen der SPD-geführten Bundesländer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD – Klaus Hagemann [SPD]: Ach Gott!)


– Die laute Reaktion zeigt, dass der Nerv getroffen ist.

Auch die Einführung des „Typs D“ als Notfallplan,
wie von der SPD in ihrem Antrag skizziert, ist aus mei-
ner Sicht nicht durchsetzbar; das wird auch von den
Hochschulen abgelehnt. Auch dieses System würde auf-
grund seiner technischen Komplexität nicht vor dem
Wintersemeser 2014/2015 zum Laufen gebracht werden
können,


(Zuruf des Abg. Willi Brase [SPD])


und ich möchte mir auch gar nicht ausmalen, wie sehr die
Einführung des „Typs D“ zu weiteren Unsicherheiten bei
den Universitäten führen würde. Vor allem für kleinere
Hochschulen mit einer überschaubaren IT-Abteilung
wäre die Einarbeitung in ein weiteres Zulassungsverfah-
ren mit einem erheblichen finanziellen und zeitlichen

Aufwand verbunden, ganz abgesehen von den Daten-
sicherheitsrisiken, auf die die Kollegin Prof. Rüttgers –


(Zuruf von der SPD: Der wurde in NRW schon abgewählt!)


– Grütters – schon hingewiesen hat.

Dem Antrag der SPD kann ich daher nicht zustim-
men.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716522200

Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1716522300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Ich heiße insbesondere die vielen
jungen Leute, die heute dieser Debatte folgen, herzlich
willkommen; denn bei dieser Diskussion geht es auch
um ihre Zukunft.

Ich möchte das aufgreifen, was der Kollege Gehring
bereits angesprochen hat. Die Zuständigkeitsdebatte
bringt keine Lösung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Nein!)


Herr Kollege Hahn, Sie haben auf die leeren Kassen in
den SPD-geführten Ländern verwiesen. Ich bitte Sie, zur
Kenntnis zu nehmen, was in Schleswig-Holstein und
einigen großkoalitionärgeführten Ländern los ist. Herr
Kollege Neumann, das Problem ist: Man kann nicht über
Steuersenkungen reden


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)


– doch, die FDP hat das getan – und dann den Ländern
das Geld wegnehmen, damit Sie Ihren Verpflichtungen
nachkommen können.


(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Nein, die Länder sollen einfach ihre Aufgaben machen!)


Herr Neumann, Ihr Tun passt nicht zur Situation.
Schon seit 2008 reden wir über das dialogorientierte Ser-
viceverfahren, und nun endet alles im Chaos. Wir haben
dieselbe Situation wie damals im Jahre 2008, als wir in
der Großen Koalition damit begonnen haben, etwas in
Bewegung zu setzen. Aber nichts ist geschehen. Immer
noch werden 16 000, 18 000, 20 000 Studienplätze im
Jahr nicht besetzt, und das trotz der steigenden Zahl der
Studierwilligen.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Kommen Sie doch einmal auf das Problem zurück!)


Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Hier muss angesetzt
werden.





Klaus Hagemann


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Handelsblatt hat es kürzlich sehr treffend ausge-
drückt: Das Bewerbungsverfahren ist immer noch ein
Glücksspiel. Das ist der richtige Ausdruck. Man könnte
auch sagen: Ohne Spesen nichts gewesen; denn bisher ist
dem Parlament noch nichts vorgelegt worden. Das
Schwarze-Peter-Spiel, das Sie hier betreiben, ist unange-
bracht.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie betreiben das! – Ewa Klamt [CDU/CSU]: Die Länder sind zuständig!)


Sie schieben dem HIS, dem Hochschulinformationssys-
tem, die Schuld zu. Herr Staatssekretär Braun, soweit ich
weiß, ist das Bundesministerium für Bildung und For-
schung im Aufsichtsrat der HIS vertreten,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hört! Hört!)


und trotzdem haben Sie keine Initiative ergriffen; dabei
stellen Sie sogar den Aufsichtsratsvorsitzenden. Ich
frage Sie: Wo war das Krisenmanagement von Frau
Schavan? Wo war das Krisenmanagement Ihres Ministe-
riums, Herr Staatssekretär Braun? Diese Fragen sind zu
stellen. Wir müssen uns intensiv um dieses Thema
kümmern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Süddeutsche Zeitung hat gestern von einem mise-
rablen Krisenmanagement gesprochen. Dem kann ich
mich nur anschließen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Was ist mit den Ursachen?)


Sie haben in den zurückliegenden Wochen und Monaten
immer wieder gesagt: Es ist alles in Ordnung, es läuft
alles sehr gut.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!)


Frau Grütters hat eben am Anfang der Debatte ähnlich
gesprochen.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Nein! Nein! Zuhören!)


– Hören Sie doch einmal zu. Ich habe im Dezember des
vergangenen Jahres eine Frage zum aktuellen Stand hin-
sichtlich der Einführung des dialogorientierten Service-
verfahrens gestellt. Da hieß es noch: Wir sind noch in
der „laufenden Bestellphase“. Das ist ein wörtliches
Zitat aus einer Antwort des Bundesbildungsministe-
riums. Wir haben Ende Februar dieses Jahres erneut
danach gefragt. Die Antwort macht deutlich: In der
„Braunschweiger Straße“, im Bildungsministerium, ist
man im Tal der Ahnungslosen, Herr Kollege Staatssekre-
tär Braun.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das ist die Hannoversche Straße! Macht aber nichts! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Die falsche Hausnummer!)


Wir haben gefragt: Wie viel unbesetzte Studienplätze
gibt es im Wintersemester 2011/2012? Antwort: „Das
liegt dem Bundesministerium für Bildung und For-
schung noch nicht vor.“ Wo ist denn Ihr Plan B für das
Zulassungsverfahren, damit es wenigstens im nächsten
Semester, das vor der Tür steht, einigermaßen läuft?


(Beifall bei der SPD)


Wir haben weiterhin gefragt: Wie viele Hochschulen
sind technisch angebunden oder können angebunden
werden? Antwort: „Eine Überprüfung beginnt erst am
27. Februar“, also vor 14 Tagen. Man sieht: Das Tal der
Ahnungslosen; so ist es doch! Wir haben auch nach
zusätzlich zur Verfügung gestellten Mitteln gefragt; denn
wenn der Bund für das Krisenmanagement zuständig ist,
dann müssen auch entsprechende Mittel zur Verfügung
gestellt werden, damit die Länder nicht ausgeblutet wer-
den. Hier ist Handlungsbedarf vonseiten des Bundes
gefragt, hier müssen die Maßnahmen zusammengeführt
werden.

Das Krisenmanagement – Kollege Schulz hat es die
Steuerung genannt – muss beim Bundesministerium lie-
gen; denn wir sollten auch an den volkswirtschaftlichen
Schaden denken, der dadurch entsteht, dass jedes Jahr
18 000 bis 20 000 Studienplätze nicht besetzt sind, und
zwar gerade in den Bereichen, in denen wir Fachkräfte
mit Masterabschlüssen brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist doch der entscheidende Punkt. Wir haben das
einmal hochgerechnet: In fünf bis sechs Jahren können
dadurch 600 bis 800 Millionen Euro volkswirtschaftli-
cher Schaden entstanden sein.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716522400

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1716522500

Ich komme zum Ende. – Wer von der Bildungsrepu-

blik spricht, der muss auch hier entsprechend handeln
und darf nicht schon am elektronischen Hochschulzulas-
sungsverfahren scheitern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716522600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8884 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-
reformgesetzes

– Drucksache 17/8235 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/8867 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Bernd Scheelen
Dr. Daniel Volk
Dr. Gerhard Schick

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Antje Tillmann
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1716522700

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Gäste! Der Titel des Basisgesetzes des
Gesetzentwurfs, den wir heute beraten – Gemeindefi-
nanzreformgesetz –, erweckt den Eindruck einer um-
fangreichen Reform der der Gemeinde zur Verfügung
stehenden Finanzen. Tatsächlich wird mit diesem Gesetz
weder eine neue Einnahmequelle eröffnet noch eine
Steuer in ihrer Höhe verändert. Es geht um die Vertei-
lung des rund 27,6 Milliarden Euro hohen Gemeindean-
teils an dem Einkommensteuer- bzw. Lohnsteuerauf-
kommen auf die einzelnen Gemeinden.

Nach Art. 106 unseres Grundgesetzes sind die Länder
verpflichtet, an ihre Gemeinden einen Anteil am Auf-
kommen der Einkommensteuer auf der Grundlage der
Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzu-
leiten. Diese Regelung in unserer Verfassung hat den
Sinn, einen Zusammenhang zwischen Bürger und Ge-
meinde herzustellen. Ähnlich wie bei der Gewerbesteuer,
bei der es um das Verhältnis zwischen Gewerbebetrieb
und Gemeinde geht, ist es bei der Einkommensteuer: Der
Einkommensteuerzahler soll ein Verhältnis zu seiner Ge-
meinde haben. Deshalb die Abhängigkeit von der Ein-
kommensteuerleistung.

Um das Gefälle zwischen Gemeinden mit sehr hohen
Einkommensteuerzahlungen und Gemeinden mit eher
einkommensschwachen Bürgern nicht extrem werden zu
lassen, hat man bei der Einführung des Gemeindere-
formgesetzes bestimmte Höchstbeträge hinsichtlich der
zu versteuernden Einkommen eingeführt: 30 000 Euro
für Alleinstehende und 60 000 Euro für zusammenver-
anlagte Ehegatten. Diese Grenzen sind seit 2006 nicht
mehr erhöht worden.

Die Einkommensentwicklung ist positiv. Deshalb ist
eine Anpassung dieser Höchstgrenzen erforderlich, um
der Verfassung Genüge zu tun. Der heute vorliegende
Gesetzentwurf sieht vor, diesen Höchstbetrag auf 35 000
bzw. 70 000 Euro zu erhöhen. Wir haben sehr intensiv,
sowohl im Finanzausschuss als auch in der Unterarbeits-

gruppe Kommunales, über die Auswirkungen gespro-
chen. Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und
des Finanzministeriums haben uns gegenüber dargelegt,
dass es auch bei den Gemeinden, die aufgrund des Gott
sei Dank gestiegenen Einkommensteueraufkommens ei-
nen Anteil abgeben müssen, nicht zu Mindereinnahmen
kommen wird. Probleme kann es aber durchaus bei grö-
ßeren Städten mit einkommensschwachen Bürgerinnen
und Bürgern geben. Auf diese müssen wir weiterhin un-
ser Augenmerk richten.

Mit Bundesgesetzen wie dem Bildungs- und Teilha-
bepaket und der dauerhaften Übernahme der Kosten der
Grundsicherung haben wir gerade diesen Städten eine
erhebliche Entlastung verschafft. Aber auch bei den wei-
teren Bundesgesetzen müssen wir unser Augenmerk ge-
rade auf die Städte mit einkommensschwachen Bewoh-
nern richten. Ich bin sicher, dass wir die Auswirkungen
von Bundesgesetzen weiterhin genau beachten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist der eigentliche Teil des Gesetzentwurfs.

Wir haben den Gesetzentwurf im Laufe der Zeit um
drei weitere Punkte ergänzt.

Zum einen geht es um die Aufhebung des ermäßigten
Umsatzsteuersatzes für Pferde. Das hat mit Gemeinden
nichts zu tun. Es liegt eher an dem zeitlichen Ablauf,
dass diese Änderung des Umsatzsteuergesetzes an die-
sen Entwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreform-
gesetzes angehängt wurde. Dies war erforderlich, weil
der EuGH, der Europäische Gerichtshof, uns im vergan-
genen Jahr darauf hingewiesen hat, dass das deutsche
Mehrwertsteuerrecht hinsichtlich des ermäßigten Mehr-
wertsteuersatzes auf Pferde nicht mit der Mehrwert-
steuer-Systemrichtlinie vereinbar ist.

Der EuGH ermahnt uns, unter dem ermäßigten Mehr-
wertsteuersatz nur noch Tiere zu erfassen, die zur Her-
stellung von Nahrungs- oder Futtermitteln oder zum Ein-
satz in der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmt
sind. Künftig müsse bei der Veräußerung von anders ge-
nutzten Pferden ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent
gelten.

Wir haben im Berichterstattergespräch sehr intensiv
darüber beraten, wie wir das Urteil des EuGH möglichst
eng umsetzen, um die Forst- und Landwirtschaft nicht zu
belasten. Tatsächlich gibt es aber keine einfachen Krite-
rien, nach denen man sagen kann, dass ein Pferd in der
Landwirtschaft genutzt wird. Die Zahl der Pferde, die in
Deutschland gegessen werden, ist mit 0,01 Prozent aller
Pferde sehr gering, sodass man eine Ausnahme hier
nicht rechtfertigen könnte.


(René Röspel [SPD]: Sehr lecker mit Klößen und Soße!)


Im Berichterstattergespräch haben wir eine sehr auf-
schlussreiche Debatte über die Essgewohnheiten in
Deutschland geführt. So haben wir zum Beispiel erfah-
ren, dass Esel und Maultiere so gut wie gar nicht, Brief-
tauben hingegen in manchen Gegenden in Deutschland
häufig gegessen werden.





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)



(René Röspel [SPD]: Die schmecken aber nicht!)


– Ich kann nicht beurteilen, ob die Tauben schmecken. –
Uns wurde jedenfalls dargelegt, dass, glaube ich, in Ba-
den-Württemberg durchaus ein Grund für den ermäßig-
ten Mehrwertsteuersatz bei Brieftauben gegeben ist, weil
sie dort tatsächlich als Nahrungsmittel dienen. Auch
wenn sich das ganz amüsant anhört, zeigt es einmal
mehr, dass die Liste der Dinge, die unter den ermäßigten
Mehrwertsteuersatz fallen, dringend reformbedürftig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich ist darüber diskutiert worden, ob neben
Pferden auch Esel und Maultiere demnächst nicht mehr
unter den ermäßigten Steuersatz fallen. Wir müssen
diese Liste im Umsatzsteuergesetz reformieren. Eine
umfassende Reform konnten wir jetzt aber nicht abwar-
ten, da die Europäische Kommission uns abgemahnt hat
– es gab bereits eine Fristverlängerung –, sodass wir die-
ses Urteil des EuGH zum 1. Juli 2012 umsetzen müssen.
Eine komplette Renovierung der Anlage zu § 12 des
Umsatzsteuergesetzes ist aber dringend erforderlich.

In einem weiteren Punkt folgen wir Anregungen aus
der Finanzverwaltung. Die Finanzbeamten hatten von
sich aus festgestellt und an uns herangetragen, dass die
Steuerfreiheit der Vorteile von Arbeitnehmern aus der
privaten Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlasse-
ner Software nicht mehr den Gegebenheiten entspricht.
Seit 2000 ist nach dem Einkommensteuergesetz die
Überlassung von Personal Computern steuerfrei. Jeder
von uns, der mit Computern umgeht, weiß, dass die alten
Personal Computer größtenteils längst durch moderne
Datenverarbeitungs- und Kommunikationsgeräte abge-
löst wurden. Zudem ist die Software, die vom Arbeitge-
ber zur Verfügung gestellt wird, häufig sehr viel mehr
wert als die Hardware, sodass wir uns entschieden ha-
ben, die Steuerfreiheit auf moderne Hard- und Software
auszudehnen und auch die in diesem Zusammenhang er-
brachten Dienstleistungen steuerfrei zu stellen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sehr vernünftig!)


Wir wollen damit Rechtssicherheit bei Betriebsprü-
fungen mit Blick auf die Lohnsteuer schaffen. Es ist aus-
gesprochen schwierig, die private Nutzung eines vom
Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Computers abzu-
rechnen. Kein Mensch wird verlangen, eine Art Fahrten-
buch für die Computernutzung einzurichten; der private
Anteil ist daher schwer zu schätzen. Darüber hinaus wol-
len wir fördern, dass Arbeitgeber ihren Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern ermöglichen, von zu Hause aus
zu arbeiten. Wenn sie die entsprechende Technik zur
Verfügung stellen, könnte es für beide Seiten eine Win-
win-Situation sein. Gerade im Hinblick auf die Verein-
barkeit von Beruf und Familie wollen wir, dass Arbeit-
geberinnen und Arbeitgeber Heimarbeitsplätze fördern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Willi Brase [SPD]: Dann brauchen wir mehr Breitband!)


– Dann brauchen wir mehr Breitband, einverstanden. Ich
glaube, das ist eine Gesamtstrategie; jetzt gerade geht es
um Steuerfreiheit.

Wir können auf die geänderten Bedingungen reagie-
ren, indem wir die Regelungen vereinfachen und sagen:
Alle Computertechniken einschließlich der Software, die
der Arbeitgeber zur Verfügung stellt, werden lohnsteuer-
frei gestellt. Dabei muss kein privater Anteil versteuert
werden. Ich will aber nicht verhehlen, dass es auch eine
breite Diskussion über möglichen Missbrauch gegeben
hat. Als Beispiel wurde genannt, dass man versuchen
könnte, dem Betriebsprüfer eine Spielkonsole als Be-
triebsmittel unterzujubeln. Sollte es zu Missbrauch kom-
men, werden wir diese Regelung überdenken müssen.
Von daher appelliere ich an all diejenigen, die damit zu
tun haben: Gehen Sie vernünftig damit um, damit wir
diese Vereinfachung zugunsten der Steuerbürger durch-
setzen können und Steuervereinfachung an anderer
Stelle folgen kann.

Ein weiterer Punkt in dem Gesetzentwurf befasst sich
mit der Dividendenbesteuerung, mit dem Schachtelprivi-
leg. Hier reagieren wir auf ein BFH-Urteil. Dieser hat im
letzten Jahr geurteilt, dass Dividenden, die von ausländi-
schen Kapitalgesellschaften an inländische Kapitalgesell-
schaften gezahlt werden und nach einem Doppelbesteue-
rungsabkommen steuerfrei gestellt sind, bei hybriden
Gesellschaften wie der Kommanditgesellschaft auf Ak-
tien oder der stillen Beteiligung dem persönlich haftenden
Gesellschafter selbst dann steuerfrei zufließen, wenn es
sich um eine natürliche Person handelt. Sie können sich
vorstellen, dass wir zu diesem Thema ein eigenes Fach-
gespräch durchgeführt haben; das ist nämlich eine
schwierige Materie. Wir haben es von dem anderen Teil
des Gesetzes abgekoppelt, um die Situation der Gemein-
den intensiv beraten zu können und zu vermeiden, dass sie
in der allgemeinen Diskussion untergehen.

Nach deutschem Recht ist die Dividende der natürli-
chen Person und nicht der Kapitalgesellschaft zuzurech-
nen. Das sogenannte Schachtelprivileg in den Doppelbe-
steuerungsabkommen würde dazu führen, dass es zu gar
keiner Besteuerung kommt. Das kann nicht Sinn der Sa-
che sein. Alle Sachverständigen haben in der Anhörung
bestätigt, dass Doppelbesteuerungsabkommen den Sinn
haben, doppelte Besteuerung zu verhindern, und nicht
den Sinn, Nichtbesteuerung zu erzeugen.

Alle Sachverständigen hielten diese Regelung für
nicht sachgerecht. Aber auch die heute von uns vorge-
schlagene Lösung, trotz der Doppelbesteuerungssteuer-
freiheit in § 50 d des Einkommensteuergesetzes eine Be-
steuerung vorzusehen, haben die Sachverständigen
massiv kritisiert. Auf unsere Aufforderung, uns eine an-
dere Formulierung vorzuschlagen oder andere Lösungs-
vorschläge zu machen, hat leider kein einziger Sachver-
ständiger reagiert, sodass wir zum ursprünglichen
Gesetzestext zurückgekehrt sind. Wir werden über § 50 d
des Einkommensteuergesetzes eine Besteuerung der Ka-
pitalerträge sicherstellen, weil wir verhindern wollen,
dass durch Rechtsgestaltungen am Finanzamt vorbei
Steuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe verursacht
werden. Wir glauben, Nichtbesteuerung ist keine Steuer-





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


gerechtigkeit. Außerdem können wir nicht auf jahrelange
Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen war-
ten.

Wir handeln heute und sofort, damit Bund, Länder
und Kommunen die Steuern, die ihnen zustehen, tatsäch-
lich bekommen. Gleichzeitig haben wir das Bundes-
finanzministerium beauftragt, dieses Thema in künftigen
Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen zu
problematisieren und nach Möglichkeit darauf hinzuwir-
ken, dass die Dividenden bei natürlichen Personen in
den Doppelbesteuerungsabkommen nicht der Steuerfrei-
heit unterliegen. Außerdem befasst sich – hoffentlich
noch in diesem Jahr – eine Arbeitsgruppe des Bundes-
finanzministeriums mit der Reform der Besteuerung der
Kommanditgesellschaft auf Aktien, der KGaA, bei der
es häufig zu steuerrechtlichen Problemen kommt. Wir
hoffen, dass wir es schaffen, eine einfachere und rechts-
sichere Regelung zu treffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
bin froh, dass wir uns in diesem Punkt verhältnismäßig
einig waren. Ich hoffe, heute wird auch am Abstim-
mungsverhalten abzulesen sein, dass wir uns darin einig
sind, Steuersparmodelle ausschließen zu wollen. Wir
wollen, dass Steuergerechtigkeit herrscht. An dieser
Stelle gab es eine Lücke. Diese Lücke werden wir mit
dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf schlie-
ßen. Damit stellen wir sicher, dass die Besteuerung in
Deutschland nicht von Tricksereien und rechtlichen Ge-
staltungen abhängt, sondern dass tatsächlich jeder zur
Besteuerung herangezogen wird. Ich freue mich, dass
wir diesen Gesetzgebungsprozess heute abschließen.
Damit geben wir den Gemeinden Finanzierungssicher-
heit und stellen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer im
Hinblick auf die Lohnsteuer Rechtssicherheit her. Au-
ßerdem werden wir, was hybride Gesellschaften betrifft,
eine Gestaltungslücke schließen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716522800

Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1716522900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Frau Tillmann, ich fürchte, die heutige Debatte wird
nicht besonders strittig.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist ja schön! – Antje Tillmann [CDU/CSU]: Etwa weil ich Sie überzeugt habe?)


Ich streite mich ja gern mit Ihnen; das wissen Sie. Auch
mit Frau Dr. Reinemund streite ich mich gern. Es macht
nämlich Spaß, sich mit Ihnen zu streiten. Aber über die
Punkte, um die es heute geht, brauchen wir uns nicht zu

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1716523000

Da er den ersten Teil Ihrer Rede, in dem es um den Kern
des Gemeindefinanzreformgesetzes ging, nicht hören

konnte, werde ich die wesentlichen Aspekte wiederho-
len. Sie sagen mir dann, ob das, was ich vortrage, richtig
ist oder nicht.


(Beifall bei der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Genau! Damit es alle begreifen! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ach! Darauf können Sie auch verzichten, Herr Scheelen!)


– Nein. Ich glaube, das ist angesichts der Einigkeit, die
wir am Ende feststellen werden, durchaus wichtig. Wenn
die heutige Abstimmung so ausgeht wie die Abstim-
mung im Finanzausschuss, werden drei Fraktionen zu-
stimmen. Allerdings werden sich zwei Fraktionen, ob-
wohl sie großen Teilen des Gesetzentwurfes zustimmen,
enthalten, weil sie gegen einzelne Teile Bedenken haben.
Am Ende wird große Einigkeit herrschen.

Das Erstaunliche ist: Dieses Vorhaben ist nicht strit-
tig, obwohl es um relativ viel Geld geht. In diesem Jahr
geht es um etwa 28 Milliarden Euro. Das ist der Anteil
der Kommunen am Aufkommen der Lohn- und Einkom-
mensteuer. Im Gesetz ist von 15 Prozent die Rede. Das
entspricht für dieses Jahr, wie gesagt, einem Betrag von
etwa 28 Milliarden Euro. Angesichts dieser Summe ist
es schon erstaunlich, dass dieses Vorhaben nicht streitig
ist.

Der genannte Betrag steht Städten und Gemeinden zu;
so steht es in Art. 106 Abs. 5 des Grundgesetzes. Die
Frage ist nur: Wie verteilt man diese Summe? Wie ver-
teilt man in diesem Jahr und in den Folgejahren 28 Mil-
liarden Euro auf die etwa 12 500 Gemeinden in Deutsch-
land? Die entscheidende Frage, wenn Geld zu verteilen
ist, lautet ja immer: Wie sorgt man dafür, dass es dabei
gerecht zugeht?

Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit
wäre, zu sagen: Wir verteilen das Geld nach der Kopf-
zahl. Das wäre eine relativ einfache Regelung, die aller-
dings nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entspre-
chen würde.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, nach dem tat-
sächlichen Aufkommen vor Ort zu verteilen. Auch das
wäre möglich. Das Grundgesetz – Frau Tillmann hat es
schon erwähnt – schreibt aber genau vor, dass auf der
Grundlage der Einkommensteuerleistung der Einwohner
zu verteilen ist. Eine Verteilung zu 100 Prozent könnte
man also auch als grundgesetzkonform ansehen.

Die Gesetzgeber von 1969, die das betreffende Bun-
desgesetz damals formuliert haben, waren sich aber ei-
nig, dass eine gewisse Glättung erforderlich ist, um zu
verhindern, dass Gemeinden in Speckgürteln von ein-
kommensstarken Einwohnerinnen und Einwohnern be-
sonders profitieren, während strukturschwache Gebiete
leer ausgehen.

Deswegen hat man Kappungsgrenzen bei der Berech-
nung des Verteilungsschlüssels eingeführt – Sie haben
das erwähnt –: 30 000 Euro bei Alleinverdienern und
60 000 Euro bei Doppelverdienern. Das heißt, alles, was
an Einkommen darüber erzielt wird, wird bei der Be-
rechnung des Schlüssels nicht mit berücksichtigt. Somit





Bernd Scheelen


(A) (C)



(D)(B)


fließen im Moment etwa 50 Prozent des gesamten Auf-
kommens der Lohn- und Einkommensteuer nicht in die
Berechnung des Schlüssels ein.

Das ist ein Problem. Deshalb sieht der Gesetzentwurf
vor, die Kappungsgrenzen anzuheben auf 35 000 Euro
bzw. auf 70 000 Euro. Das bedeutet, dass dann 60 Pro-
zent des gesamten Aufkommens in die Berechnung des
Schlüssels einfließen. Das ist deutlich mehr Gerechtig-
keit als vorher. Deshalb werden wir diesem Vorhaben
zustimmen. Mit den vorgesehenen Regelungen wird
auch den Vorgaben des Art. 72 des Grundgesetzes Rech-
nung getragen, der die Herstellung gleichwertiger Le-
bensverhältnisse immer noch als grundsätzliches Ziel
beschreibt.

Wenn die Kappungsgrenzen nicht aufgehoben wür-
den, wenn wir an den jetzt geltenden Kappungsgrenzen
festhalten würden, was man machen kann, würde das
auch Folgen haben, wie es das Finanzministerium be-
rechnet hat. Dann würden etwa 100 Millionen Euro aus
dem gesamten Topf umverteilt, und zwar zulasten der
großen und größeren Städte und zugunsten des ländli-
chen Raums. Das ist nicht gewollt. Deswegen ist die
Verteilung nach dem neuen Schlüssel gerechter als die
Verteilung nach dem jetzigen Schlüssel. Deswegen stim-
men wir dem zu.

Sie haben diesem Gesetzentwurf drei Regelungen an-
gehängt, die mit dem eigentlichen Gemeindefinanzre-
formgesetz nichts zu tun haben. Dem haben übrigens
fast alle Länder und die kommunalen Spitzenverbände
zugestimmt.

Die erste dieser drei Regelungen betrifft das Schach-
telprivileg. Dabei geht es darum, ein Steuerschlupfloch,
das durch ein Urteil des Bundesfinanzhofs geöffnet wor-
den ist, wieder zu schließen. Es kann durchaus sein, dass
Steuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe entstehen,
wenn wir das nicht tun. Das heißt, wir sind aufgefordert,
schnell zu handeln, um das Steuersubstrat zu erhalten.
Wenn es darum geht, Steuerschlupflöcher zu schließen,
hat die Koalition uns immer an ihrer Seite. Wir stimmen
diesem Vorhaben zu.


(Beifall bei der SPD)


Die zweite Regelung in diesem Omnibus, den Sie be-
nutzt haben, betrifft die Steuerfreiheit für vom Arbeitge-
ber an Arbeitnehmer überlassene Software. Dabei setzen
Sie auf die Regelung auf, die Rot-Grün im Jahr 2000 für
die Hardware getroffen hat. Das war damals alles noch
relativ neu. Damals war noch von Personal Computern
die Rede. Manche Firmen haben ihren Arbeitnehmern so
etwas gestellt und mit entsprechender Software ausge-
stattet. Das war steuerfrei. Mittlerweile geht die Tendenz
dahin, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-
gene PC zu Hause haben, also eigene Datenverarbei-
tungsgeräte. Die Frage ist, ob die in diesem Fall gestellte
Software besteuert werden soll oder nicht besteuert wer-
den soll. Wir halten es ebenso wie Sie für richtig, dies
steuerfrei zu stellen, weil eine Trennung zwischen priva-
ter und beruflicher Nutzung völlig unmöglich ist. Das ist
auch ein wichtiger Beitrag zur Steuervereinfachung.

Die dritte und letzte Regelung, die Sie an diesen Ge-
setzentwurf angehängt haben, betrifft die Aufhebung des
7-prozentigen Umsatzsteuersatzes für Pferde. Dabei
kommen Sie einem Urteil des Europäischen Gerichts-
hofs vom Mai 2011 nach; denn dieser Steuersatz verstößt
gegen die Richtlinie über das gemeinsame Mehrwert-
steuersystem. Ein 7-prozentiger Umsatzsteuersatz wäre
nur dann zulässig, wenn die Pferde verspeist würden.
Pferde werden in Deutschland aber meistens zum Reiten
genutzt.


(René Röspel [SPD]: Sauerbraten mit Klößen und Soße!)


– Das ist nicht ganz so meine Sache. Wir haben aber ge-
rade von Frau Tillmann gehört, dass nur 0,1 Prozent der
Nahrung dienen. Das ist somit ein zu vernachlässigender
Anteil. Deswegen soll die Besteuerung des Handels mit
Pferden auf 19 Prozent angehoben werden.

Ich finde, das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit
den Eseln gegenüber. Frau Tillmann, anders als Sie es
hier gesagt haben, lauten meine Informationen, dass der
Handel mit Eseln bisher auch schon mit 19 Prozent be-
steuert wurde. Wenn sich aber zum Beispiel ein Pferde-
hengst mit einer Eselstute kreuzt und daraus ein Maul-
esel entsteht, dann unterliegt der Handel mit diesem Tier
einer Umsatzsteuer von 7 Prozent. Genauso ist es bei
umgekehrten Vaterschafts- und Mutterschaftsverhältnis-
sen. Ich glaube, die Esel finden es ganz gut, dass der
Handel mit Pferden jetzt auch mit dem Mehrwertsteuer-
satz von 19 Prozent belegt wird. Insofern ist das also
eine Frage der Gerechtigkeit.


(Heiterkeit des Abg. René Röspel [SPD])


Letzte Anmerkung. Sie haben in Ihrem Koalitionsver-
trag niedergeschrieben – jetzt komme ich doch noch zu
einem etwas strittigen Punkt –, dass Sie sich mit der
Mehrwertsteuer auseinandersetzen wollen. Es geht um
die Frage, ob sie jeweils 7 Prozent oder 19 Prozent be-
tragen soll. Hier bestünde Reformbedarf. Das ist sicher-
lich richtig. Dazu haben Sie eine Kommission einge-
setzt, die hochkarätig besetzt ist. Sie besteht aus drei
Ministern – Herrn Schäuble, Herrn Rösler und Herrn
Pofalla – und drei Generalsekretären – Herrn Döring,
Herrn Dobrindt und Herrn Gröhe –, die das richten sol-
len.

Allerdings stellen wir fest, dass sich diese Kommis-
sion bis heute immer noch nicht wenigstens konstituiert
hat.


(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Ja, sehr bedauerlich!)


Die Begründung sind Terminprobleme. Da Sie das in
zweieinhalb Jahren nicht hinbekommen haben, frage ich
mich, wie Sie das in dem einen Jahr noch schaffen wol-
len. Tun Sie also etwas! Haben Sie Mut! Setzen Sie diese
Kommission ein!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716523100

Vielen Dank, Kollege Bernd Scheelen. Wir hätten

zwar gerne noch ein paar Beispiele gehört, aber die Re-
dezeit war zu Ende.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kolle-
gin Frau Dr. Birgit Reinemund für die Fraktion der FDP.
Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1716523200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Gemeindefinanzreformgesetzes wird von einer
breiten fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen – wir
haben es mehrfach gehört –, sowohl auf Länderebene als
auch hier im Bundestag. Auch der Deutsche Städtetag
und der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben ihre
Zustimmung signalisiert.

Einen so großen Konsens erleben wir hier nicht oft,
sodass ich dies ganz zu Beginn meiner Rede hervorhe-
ben möchte: Die Politik kann durchaus – abseits von al-
len medienwirksamen Querelen – gemeinsam Gutes auf
den Weg bringen.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Das kommt nicht in den Medien!)


Ich wünschte mir, dass dies auch bei weiteren gemeinsa-
men Herausforderungen möglich wäre: bei der Energie-
wende, bei der Bewältigung der Finanzkrise und aktuell
bei der inhaltlich genauso unstrittigen Abstimmung über
den Fiskalpakt.

Oder ist Ihnen bei der Verankerung der Schulden-
bremse in fast allen europäischen Mitgliedstaaten eine
ähnlich positive gemeinsame Haltung und Signalwir-
kung nichts wert? Wollen Sie wirklich diese historische
Chance auf mehr Stabilität und weniger Schulden partei-
politischem Geschachere opfern, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD?


(Beifall bei der FDP)


Solche Spielchen sind hier einfach fehl am Platz.


(Beifall bei der FDP)


Doch zurück zum Gemeindefinanzreformgesetz. Wir
beraten über die Anpassung des Verteilungsschlüssels
für den Gemeindeanteil an der Lohn- und Einkommen-
steuer der einzelnen Kommunen. In diesem Gesetzge-
bungsverfahren ist die Bundesregierung lediglich Mode-
rator zwischen den Ländern und Kommunen – ohne
eigenes finanzielles Interesse. Die Länder haben sich in
Abwägung aller Interessen auf einen fairen Ausgleich
geeinigt. 9 von 13 Flächenländern stimmten dem vorlie-
genden Vorschlag zu.

Warum war das Ganze notwendig? Den Gemeinden
stehen 15 Prozent des Lohn- und Einkommensteuerauf-
kommens zu. Im Jahr 2012 werden das aufgrund der gu-
ten Wirtschaftslage rund 27,6 Milliarden Euro sein. Der
Bund und auch die Länder und Kommunen erwarten

weiterhin Rekordeinnahmen. Die Verteilungsgrundlage
für den kommunalen Einkommensteueranteil wird tur-
nusmäßig auf der Basis einer neuen statistischen Grund-
lage errechnet. Genau das wird mit dieser Gesetzesände-
rung umgesetzt.

Ziel ist die faire Verteilung anhand des örtlichen Ein-
kommensteueraufkommens. Dies ist grundgesetzlich
verankert. Auch das haben beide Vorredner schon ange-
merkt. Zudem sollen die Steuerkraftunterschiede zwi-
schen den Gemeinden gleicher Funktion und Größe ver-
ringert und gleichzeitig das Steuergefälle zwischen
großen und kleinen Gemeinden gewahrt bleiben. Das ist
ein kniffliges Unterfangen. Umso notwendiger ist es,
dass hier eine Einigung zwischen allen Akteuren herbei-
geführt wurde und wird.

Durch diese Anpassung werden die meisten Kommu-
nen finanziell besser dastehen, manche – das sind eher
die Ausnahmefälle – allerdings auch schlechter, vor al-
lem strukturschwache Großstädte. Dies über den kom-
munalen Finanzausgleich abzufedern, liegt in der Ver-
antwortung der Länder.

Zusätzlich entlastet der Bund alle Städte und Gemein-
den in nie dagewesener Höhe durch die Übernahme der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit,
beginnend ab dem Jahr 2012. Besonders die struktur-
schwachen Großstädte mit schwierigen Sozialstrukturen,
die durch den neuen Verteilungsschlüssel eher mit Nach-
teilen zu rechnen haben, profitieren davon überdurch-
schnittlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie es gängige Pra-
xis ist, haben wir an diese Gesetzesänderung, die heute
in großem Konsens verabschiedet werden wird, einige
kleine steuerliche Änderungen angeflanscht.


(Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])


– Richtig, das ist nicht ideal. Es beschleunigt jedoch die
Umsetzung zum Beispiel von Vorgaben der aktuellen
Rechtsprechung, die nicht in einem eigenen Gesetz um-
gesetzt werden können.

Mit der Aufhebung des ermäßigten Umsatzsteuersat-
zes für Pferde reagieren wir auf ein Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofs. Frau Tillmann hat es ausgeführt:
Passen wir die nationalen Vorschriften nicht an das Uni-
onsrecht an, droht ein EU-Vertragsverletzungsverfahren
mit empfindlichen Strafen.

Mit einer weiteren Neuerung passen wir das Steuer-
recht an die sich verändernde gesellschaftliche und
geschäftliche Realität an. Arbeitgeber können künftig ih-
ren Angestellten nicht nur PCs, sondern auch andere
elektronische Endgeräte wie Smartphones und Tablet-
computer und vor allem Software steuerfrei zur Nutzung
überlassen. Das ist eine Steuerklarstellung und Steuer-
vereinfachung, die unzählige Gerichtsprozesse, zum
Beispiel um die steuerliche Bewertung von Home Offi-
ces, vermeidet. Flexiblen Arbeitsplätzen gehört die Zu-
kunft, gerade vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Heute ist Weltfrauentag. Dem
muss auch das Steuerrecht Rechnung tragen.





Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)


Mit der Änderung des Einkommensteuergesetzes zur
Beschränkung des steuerfreien Abzugs von Auslandsdi-
videnden schieben wir der missbräuchlichen Ausnut-
zung des Schachtelprivilegs einen Riegel vor und schlie-
ßen ein weiteres Steuerschlupfloch. Das ist ein weiterer
Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit.

Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen,
danke für die überfraktionell gute Zusammenarbeit an
diesem Gesetzentwurf und an den Zusatzpunkten.
Schön, dass Politik so konstruktiv in der Sache sein
kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716523300

Vielen Dank, Frau Kollegin Reinemund. – Nächste

Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin
Frau Dr. Barbara Höll. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Höll.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716523400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung
des Gemeindefinanzreformgesetzes ist meiner Meinung
nach nur ein weiterer Beleg für Ihre vermurkste Steuer-
politik.


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Uns geht es aber gut!)


Statt der jahrelang bewährten Tradition der Jahressteuer-
gesetze, in welchen notwendige Steuerrechtsänderungen
verschiedener Bereiche gebündelt werden, nehmen Sie
ein Thema und packen einfach noch alles Mögliche
dazu: Änderung des Verteilungsschlüssels bei der Ein-
kommen- und Lohnsteuer, Umsatzsteuerregelung für
Pferde, eine Prise steuerfreie Datenverarbeitungsgeräte
und ein bisschen Schachtelprivileg mit Doppelbesteue-
rungsabkommen. Wer vermutet das alles in einem Ge-
setzentwurf zur Gemeindefinanzreform?

Im Fokus des Gesetzentwurfs steht die Änderung des
Verteilungsschlüssels bei der Lohn- und Einkommen-
steuerstatistik. Die Kommunen erhalten 15 Prozent des
Aufkommens an der Lohnsteuer und der veranlagten
Einkommensteuer. Die Verteilung erfolgt nach einem
vereinbarten Schlüssel auf die einzelnen Gemeinden in-
nerhalb des jeweiligen Landes. Dieser Schlüssel muss
von Zeit zu Zeit angepasst werden. Das geschieht mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf nach der Einkommen-
steuerstatistik von 2007.

Allerdings bleibt eine Reihe von Fragen offen. Es
klang schon an: Was ist mit den Kommunen mit über
200 000 Einwohnern? Die Bedenken der Landkreise
konnten nicht ausgeräumt werden, und auch vier Bun-
desländer haben Bedenken angemeldet.

Ein weiterer Punkt ist der ermäßigte Umsatzsteuer-
satz für Pferde. Die Änderung ist nicht ganz freiwillig;
es geht vielmehr – Frau Tillmann sagte es bereits – um

die Umsetzung eines EuGH-Urteils. Um Strafzahlungen
zu vermeiden, müssen wir eine Gesetzesanpassung vor-
nehmen.

Es gab dazu Überlegungen, bei der Anhebung des
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auch zwischen
Schlachtpferden und Holzrückepferden zu unterschei-
den. Davon haben Sie zum Glück Abstand genommen.
Der Handel mit Pferden wie mit Eseln wird in Zukunft
dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Allerdings gilt für Maultiere – das heißt, die Mama ist
ein Pferd und der Papa ein Esel – und Maulesel – die
Mama ist ein Esel und der Papa ein Pferd – weiter der er-
mäßigte Mehrwertsteuersatz. Das ist sehr interessant.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit geht die Flickschusterei weiter. Packen Sie
endlich eine richtige Beurteilung und eine große, umfas-
sende Reform der Mehrwertsteuer an. Dann haben Sie
unsere Unterstützung. Das müssen Sie tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Bevor ich zu der Frage der Datenverarbeitungsgeräte
komme, erinnere ich noch daran, dass wir die von den
Arbeitgebern den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerin-
nen unentgeltlich oder verbilligt überlassene Software
steuerfrei stellen wollen; gut.

Außerdem erfolgt eine Definitionsänderung. Im Ge-
setz soll es jetzt nicht mehr „Personalcomputer“, son-
dern „Datenverarbeitungsgerät“ heißen. Ich unterstelle
Ihnen schon, dass Sie das als Steuervereinfachung be-
trachten, glaube aber auch, dass damit der Steuerumge-
hung bzw. der Steuergestaltung das Tor weit geöffnet
wird. Denn was ist ein Datenverarbeitungsgerät? Gehen
Sie in den MediaMarkt oder zu Saturn. Heute ist jeder
moderne Fernseher internetfähig und hat die entspre-
chenden Anschlüsse. Damit kann er selbstverständlich
so genutzt werden. Selbst die PlayStation 3 ist ganz ein-
fach als Abspielgerät für DVDs nutzbar. Das geht alles.

Dadurch werden Arbeitgeber natürlich verführt,
Lohnbestandteile nicht auszuzahlen und die Abführung
von Sozialversicherungsbeiträgen, zu der sie dann auch
als Arbeitgeber tatsächlich verpflichtet wären, einfach
durch die Überlassung solcher Geräte zu umgehen. Das
ist eine Steuergestaltung, die wir nicht wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Als letzter Punkt ist die Frage des Schachtelprivilegs
zu nennen. Hier haben Sie mit unserer Unterstützung
richtigerweise die Tatsache aufgegriffen, dass es in der
letzten Zeit dort zu Steuergestaltungen gekommen ist.
Sie versuchen jetzt, durch eine Neuregelung dieses Tor
zu schließen. Das ist richtig. Ob es wirksam ist, werden
wir erst sehen. Allerdings muss ich Ihnen Folgendes sa-
gen, liebe Koalitionäre: Bei einer Umstellung von der
angewendeten Freistellungsmethode auf die Anrech-
nungsmethode würde dieses Problem gar nicht erst ent-
stehen.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


Insgesamt muss ich feststellen: Einige Ansätze in
dem Gesetzentwurf sind gut. Das Ganze bleibt aber eine
Flickschusterei. Deshalb werden wir uns enthalten.

Ich fordere Sie auf, endlich eine seriöse Steuerpolitik
zu machen. Dann haben Sie auch unsere Unterstützung.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716523500

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll. –

Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Britta
Haßelmann. Bitte schön, Frau Kollegin Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716523600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für

diejenigen, die heute hier zu Gast sind, oder für diejeni-
gen, die vielleicht zuhören, verspricht der Titel „Ge-
meindefinanzreformgesetz“ in der Tat viel mehr, als wir
hier diskutieren. Ich bin von mehreren gefragt worden:
Was diskutiert ihr denn da heute alles? Frau Tillmann, si-
cherlich vermutet niemand, dass wir hier im Kern haupt-
sächlich über drei sachfremde Anhänge des Gesetzes
sprechen. Deshalb will ich in meinen wenigen Minuten
nur ganz kurz darauf eingehen.

Beim Gemeindefinanzreformgesetz reden wir in der
Tat über die Verteilung des Anteils der Kommunen an
der Einkommensteuer und der Lohnsteuer. Hier muss
aufgrund der gesetzlichen Vorgaben des Art. 106 Grund-
gesetz – Sie haben darauf hingewiesen – eine Verände-
rung erfolgen. Darüber ist selbstverständlich auch zwi-
schen den kommunalen Spitzenverbänden, dem Bundes-
rat und uns diskutiert worden.

Wir würden diesem Kerngesetz zustimmen, weil wir
wissen, dass wir aufgrund der Frage des Steuerkraftauf-
kommens nach Art. 106 GG hier natürlich eine Verände-
rung der Höchstgrenze vornehmen müssen. Das sehen
wir auch so, obwohl uns bekannt ist, dass insbesondere
den strukturschwachen Kommunen mit über 200 000
Einwohnern negative Folgen aus dieser Änderung der
Höchstgrenze erwachsen werden. Wir alle im Deutschen
Bundestag – darauf muss man ganz deutlich hinweisen –
haben zu dieser Veränderungsschraube aber keine Alter-
native anzubieten. Deshalb haben wir gesagt: Diesem
Kerngesetz könnten wir an dieser Stelle zustimmen, ob-
wohl wir wissen, dass wir uns dem Thema der struktu-
rellen Unterfinanzierung insbesondere der notleidenden
großen Städte weiter widmen müssen und diese Proble-
matik auch nicht durch die Grundsicherung im Alter be-
hoben ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt ist die Ausweitung der Steuerbefrei-
ung der Vorteile des Arbeitnehmers aus der privaten
Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlassener Soft-
ware. Darauf will ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen.

Der dritte Punkt ist die Frage der Auslandsdividen-
denbesteuerung und des Schachtelprivilegs. Auch hier
haben wir in der Anhörung, im Berichterstattergespräch

sowie im Finanzausschuss sehr intensiv fachlich disku-
tiert.

Wir hätten uns gewünscht, dass wir Einzelabstim-
mungen dieser sehr verschiedenen Gesetze vornehmen.
Dann hätten wir auch deutlich machen können, wie wir
uns zu den einzelnen Fragen positionieren. Das war lei-
der nicht vorgesehen.

Deshalb komme ich jetzt zum Schluss auf den vierten
Bereich zu sprechen. Das ist ein skandalöser Bereich.
Dem sind Sie ausgewichen. Sie müssen hier etwas tun,
weil Sie beim Thema Mehrwertsteuerreform überhaupt
noch nicht in die Gänge gekommen sind. 2010 haben Sie
von Schwarz-Gelb eine Mehrwertsteuerkommission ein-
gerichtet. Nichts ist seitdem geschehen. Diese Kommis-
sion hat bis heute noch nicht einmal getagt, meine Da-
men und Herren. Sie tragen diese Kommission quasi vor
sich her, nach dem Motto: Wir beseitigen die Mehrwert-
steuerungleichgewichte und kümmern uns um das Phä-
nomen der reduzierten und der vollen Mehrwertsteuer-
sätze. – Diese Unterscheidung kapiert niemand. Kein
Mensch kann sachlich erklären, warum es hier steuerli-
che Unterschiede gibt. Pferde und Maultiere wurden be-
reits als Beispiele genannt. Man kann in diesem Zusam-
menhang auch die Mehrwertsteuersätze für Sessellifte,
Mineralwasser und stillen Sprudel ansprechen. Es ist ei-
gentlich verrückt, dass hier bei der Mehrwertsteuer un-
terschieden wird.

Sie wollten liefern. Hier schaue ich insbesondere Sie
an, meine Damen und Herren von der FDP. Ihr Vorsit-
zender lässt kein Interview aus, um zu sagen: Wir lie-
fern. – Aber Sie liefern nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie mussten im Rahmen Ihres Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes den
ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Pferde aufheben,
weil Sie vom Europäischen Gerichtshof unter Druck ge-
setzt worden waren. Sie hatten ein Jahr lang nichts getan
und hätten nun mit Strafzahlungen rechnen müssen,
wenn Sie das nicht geregelt hätten. Das alles ist darauf
zurückzuführen, dass Sie in der Koalition keine Idee zur
Reform der Mehrwertsteuer haben und zerstritten sind.
Sie liefern nicht. Dabei könnten wir da, wenn wir end-
lich zu einer Lösung kämen, Steuereinnahmen generie-
ren und Ungleichgewichte beseitigen.

Wir fordern Sie auf, nicht nur Kommissionen einzu-
richten, sondern auch zu liefern. Das tun Sie seit 2010
nicht. Seitdem hat die Kommission nicht einmal getagt.
Sie sind jetzt gefragt.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716523700

Vielen Dank, Frau Kollegin Britta Haßelmann.

Wir sind am Ende dieser Aussprache; ich schließe sie
nun.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Neunten Ge-
setzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgeset-
zes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8867, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8235 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind wiederum die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Niemand. Enthaltungen? – Wieder die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Neuregelung des Rechts der Sicherungsver-
wahrung

– Drucksache 17/8760 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Einsetzung einer Expertenkommission zur
Sicherungsverwahrung

– Drucksache 17/7843 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Burkhard Lischka. Bitte schön, Kollege Burkhard
Lischka.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1716523800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Neu-

regelung der Sicherungsverwahrung, über die wir heute
Abend auf Antrag der SPD-Fraktion debattieren, ist

wahrscheinlich das wichtigste rechtspolitische Vorha-
ben in dieser Legislaturperiode; denn es geht dabei um
den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor gefähr-
lichsten Gewalt- und Sexualstraftätern. Das sagt sich so
leicht: gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Aber
welche konkreten Fälle sich dahinter verbergen, können
wir Woche für Woche in unseren Gerichten verfolgen.
So wurde vor wenigen Tagen die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung gegen einen 69-jährigen Mann durch
den Bundesgerichtshof bestätigt, der seit seiner Jugend
mehrfach Frauen vergewaltigt und Kinder sexuell miss-
braucht hatte, bevor er sich zuletzt an einem fünfjährigen
Nachbarskind vergangen hat. In der vergangenen Woche
wurde die Sicherungsverwahrung gegen einen 41-Jähri-
gen angeordnet, der als sogenannter Maskenmann drei
Jungen ermordet und ebenfalls mehrere Kinder sexuell
missbraucht hatte. Ein anderes, ebenfalls in der vergan-
genen Woche eröffnetes Verfahren beschäftigt sich mit
einem Täter, der als Tod verkleidet nach der Vorlage ei-
nes Horrorfilms ein zwölfjähriges Mädchen in ihrem El-
ternhaus erstochen hat. Das sind die Fälle, um die es
beim Thema Sicherungsverwahrung geht.

Die Menschen verlangen von der Politik, und zwar
vollkommen zu Recht, dass wir sie im Rahmen des
rechtsstaatlich Möglichen vor solchen Tätern schützen,
insbesondere dann, wenn die erhebliche Gefahr von
Wiederholungstaten besteht. Deshalb sage ich deutlich:
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
ben der Schutz und die Sicherheit unserer Mitbürgerin-
nen und Mitbürger beim Thema Sicherungsverwahrung
oberste Priorität. Das bedeutet, alles gesetzgeberisch
Notwendige zu tun, damit psychisch gestörte Täter, bei
denen die erhebliche Gefahr weiterer schwerster Gewalt-
und Sexualdelikte besteht, nicht in die Freiheit entlassen
werden.

Konkret heißt das: Wir lehnen Pläne der Bundesjus-
tizministerin ab, wonach künftig solche Täter in die Frei-
heit entlassen werden sollen, bei denen sich die Gefähr-
lichkeit erst nach der Verurteilung, also im Verlauf der
Strafhaft, herausstellt. Wer wie die Bundesjustizministe-
rin einen Gesetzentwurf vorlegen möchte, der keine Re-
gelung für solche Täter enthält, der nimmt bewusst eine
erhebliche Sicherheitslücke in Kauf. Deshalb fordere ich
Sie auf: Nehmen Sie die große Mehrzahl der Bundeslän-
der ernst und legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der in
verfassungskonformer Weise die Möglichkeit einer
nachträglichen Therapieunterbringung für solche Straf-
täter vorsieht. Alles andere wäre nur Stückwerk.


(Beifall bei der SPD)


Der Union biete ich in diesem Zusammenhang aus-
drücklich nochmals unsere Unterstützung an, hier eine
gemeinsame Regelung im Sinne unserer Bürgerinnen
und Bürger auf den Weg zu bringen; denn den Anspruch,
möglichst viel Sicherheit für die Menschen in unserem
Land zu schaffen, wollen wir nicht aufgeben. Das sind
wir nicht zuletzt auch den Opfern von Gewalt- und Se-
xualdelikten schuldig.

Ich empfehle Ihnen auch, im Rahmen einer Neurege-
lung die Sicherungsverwahrung auf den Personenkreis
zu begrenzen, bei dem eine Sicherungsverwahrung not-





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


wendig ist, nämlich bei den Gewalt- und Sexualstraftä-
tern. Straßenverkehrs- und andere Delikte taugen nicht
für eine Sicherungsverwahrung. So etwas provoziert nur
die Gefahr eines erneuten Scheiterns beim Bundesver-
fassungsgericht. Das wollen wir nicht, und das sollte
auch nicht unser gemeinsames Ziel sein.


(Beifall bei der SPD)


Schließlich sage ich Ihnen auch: Machen Sie Ihre
Hausaufgaben. Legen Sie dem Deutschen Bundestag
schnell einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Siche-
rungsverwahrung vor. Es ist schon ein Skandal, dass in-
zwischen fast ein Jahr vergangen ist, seit das Bundesver-
fassungsgericht entschieden hat, dass eine Neuregelung
notwendig ist, und Sie haben es erst gestern geschafft,
einen Gesetzentwurf in das Kabinett einzubringen.


(Zuruf des Abg. Christian Ahrendt [FDP])


Die Bundesländer, Herr Ahrendt, haben Sie bereits im
September vergangenen Jahres aufgefordert, das Gesetz-
gebungsverfahren spätestens bis Juni 2012 abzuschlie-
ßen, weil es sonst kaum möglich sein wird, dass die
Bundesländer noch innerhalb des Zeitrahmens, den das
Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich bis
Mai 2013, ihre Landesgesetze verabschieden. Die Forde-
rung der Bundesländer ist also, dass der Bund sein Ge-
setzgebungsverfahren bis Juni 2012 abschließt. Man
muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Das wird Ih-
nen wohl kaum gelingen, und zwar nur deshalb, weil
sich Schwarz und Gelb in dieser Frage wieder einmal
nicht einig sind.

Mit jedem Tag, der von nun an ins Land geht, wächst
die Gefahr, dass ab Mai 2013 höchst gefährliche Gewalt-
und Sexualstraftäter nur deshalb in die Freiheit entlassen
werden müssen, weil entsprechende gesetzliche Rege-
lungen fehlen. Deshalb: Nehmen Sie Ihre Verantwortung
wahr. Schließen Sie das Gesetzgebungsverfahren auf
Bundesebene zügig ab. Sonst tragen Sie als schwarz-
gelbe Bundesregierung die Verantwortung dafür, dass ab
dem kommenden Jahr Schwerverbrecher in diesem Land
herumlaufen. Das wäre wirklich der absolute Tiefpunkt
der Rechtspolitik dieser Bundesregierung, eine absolute
Bankrotterklärung, für die es dann auch keinerlei Ent-
schuldigung mehr geben würde.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716523900

Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. – Für die

Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ansgar Heveling.
Bitte schön, Kollege Heveling.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1716524000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beraten in dieser Woche zwei Anträge zum Thema Si-
cherungsverwahrung: erstens einen Antrag der Fraktion
Die Linke, die eine Expertenkommission einsetzen
möchte,


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ein guter Vorschlag!)


und zweitens einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion,
dessen Kernforderungen sind, zum einen eine weitere
Beschränkung der Anlasstaten für die Sicherungsver-
wahrung und zum anderen eine Regelung der nachträgli-
chen Therapieunterbringung vorzusehen.

Sicherlich wollten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der SPD-Fraktion, sich mit diesem Antrag auch
ein wenig den Anstrich des Treibers der christlich-libe-
ralen Koalition bei diesem im Detail sicherlich nicht
ganz einfachen Thema geben. Der Verlauf dieser Woche
aber zeigt, liebe SPD-Fraktion und lieber Herr Kollege
Lischka – aus Ihren Worten hatte man den Eindruck,
dass es noch nicht ganz bei Ihnen angekommen ist –:
Wir sind keine Getriebenen. Wir brauchen uns nicht an-
treiben zu lassen, von Ihnen schon gar nicht.


(Ingo Egloff [SPD]: Von wem denn sonst?)


Ein entsprechender Gesetzentwurf ist in dieser Woche
durch das Kabinett gegangen und liegt jetzt zur Beratung
vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit diesem neuen Gesetz wird dafür Sorge getragen,
dass auch zukünftig der Schutz der Bevölkerung vor
hochgradig rückfallgefährdeten Schwerststraftätern ge-
währleistet wird. Ziel muss dabei sein, den – zugegebe-
nermaßen – geringen politischen Spielraum, den uns das
Bundesverfassungsgericht und der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte noch belassen haben, best-
möglich auszuschöpfen. Wir sollten also – das betone
auch ich, ebenso wie Sie, Herr Kollege Lischka – die
nächsten Wochen vor allem darauf verwenden, miteinan-
der zu beraten, welche Schritte wir gemeinsam bei die-
sem Gesetzentwurf gehen können, so wie wir es seiner-
zeit auch schon beim Therapieunterbringungsgesetz
getan haben.

Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 stellt eine
Abkehr der bisherigen höchstrichterlichen Rechtspre-
chung dar. In diesem Urteil hat das Verfassungsgericht
die bisherigen Regelungen des Strafgesetzbuches zur
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für nicht
mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Damit hat sich
das Bundesverfassungsgericht an der Linie des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte orientiert, der in
seiner jüngsten Rechtsprechung die nachträgliche Ver-
längerung der Sicherungsverwahrung einer Strafe
gleichgestellt hat.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich dem nun erst-
mals angeschlossen und uns als Legislative mit seiner
jüngsten Entscheidung eine Reihe von Aufgaben auf den
Weg gegeben: erstens ein Gesamtkonzept der Siche-
rungsverwahrung in Bund und Ländern zu entwickeln,
zweitens dabei dem Abstandsgebot Rechnung zu tragen
und drittens die Materie spätestens bis zum 31. Mai 2013
gesetzlich zu regeln.

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung haben
wir nun eine Grundlage, zügig gemeinsam darüber zu





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


beraten, wie die Sicherungsverwahrung künftig ausge-
staltet sein soll. Selbstverständlich gehören die in dem
SPD-Antrag angesprochenen Punkte in diese Diskus-
sion. Es sind allerdings nur zwei Aspekte von vielen an-
deren, die wir in den weiteren Beratungen beachten soll-
ten. Selbstverständlich nehme ich für die CDU/CSU-
Fraktion zu den in dem SPD-Antrag angesprochenen
Punkten gerne schon heute Stellung.

Soweit es um den Katalog der Anlasstaten geht, sehen
wir keine Notwendigkeit, hier weitere Einschränkungen
vorzunehmen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!)


Zum einen wurden bereits mit der letzten Reform im
Jahr 2010 – richtigerweise – die Anlasstaten beschränkt.
Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner
jüngsten Entscheidung keine weiteren Vorgaben für die
Anlasstaten gemacht, und sie sind verfassungsrechtlich
nicht beanstandet worden. Wir sehen daher keinen
Grund, uns Gedanken über eine weitere Beschränkung
der Anlasstaten zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit Blick auf die zweite Forderung, in einem neuen
Gesetz zur Sicherungsverwahrung auch die nachträgli-
che Therapieunterbringung zu regeln, will ich nicht ver-
hehlen, dass sich diese Forderung weitgehend mit den
Überlegungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deckt.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das überrascht uns bedauerlicherweise nicht! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir nicht anders erwartet!)


Auch ich bin der Auffassung, dass mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf der durch das Bundesverfassungsgericht
eröffnete Spielraum in diesem Punkt noch nicht voll aus-
geschöpft wird


(Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


und insofern eine Schutzlücke bleibt.

Wir müssen uns meiner Auffassung nach auch da-
rüber Gedanken machen, wie mit Straftätern umzugehen
ist, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während des
Strafvollzuges herausstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Eine Regelung zu diesem Punkt ist ohne Zweifel diffizil,
aber sicherlich nicht unmöglich. Hier wird in den nächs-
ten Wochen sehr genau zu erörtern sein – zumal über den
Bundesrat natürlich auch die Länder mit in die Diskus-
sion einbezogen sind –, was zu tun ist. Ich kann an dieser
Stelle nur wiederholen: Wir sollten in den Beratungen
deshalb den gleichen Weg gehen, den wir zuletzt beim
Therapieunterbringungsgesetz gegangen sind. Wir als
CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind dazu auch bereit.

Leider verbleibt mir für den Antrag der Fraktion Die
Linke nun nicht mehr ganz so viel Zeit.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Stimmen Sie der Expertenkommission zu?)


Offen gestanden, sollte man über ihn ohnehin am besten
schweigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein, Zustimmung zur Expertenkommission!)


Mich machen jedenfalls einige Formulierungen in dem
Antrag geradezu fassungslos. Das gilt etwa für die Pas-
sage, in der die Linke die Freiheit der Person so verabso-
lutiert, dass sie davon spricht – ich darf das hier einmal
zitieren –:

Das bedeutet aber auch, dass man bestimmte gesell-
schaftsimmanente Gefahren dieser Freiheit in Kauf
nehmen muss. … Freiheit birgt Risiken. Die Frei-
heit ungerechtfertigt zu versagen, bedeutet jedoch
eine solche Abkehr von den Grundwerten unserer
Gesellschaft, dass die freiheitsimmanenten Risiken
dieser in jedem Falle vorzuziehen sind.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Satz ist doch nicht ganz falsch! Da gibt es andere Sachen, die sind schlimm!)


Als ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, was
etwa Eltern eines Kindes, das Opfer eines schwerstkri-
minellen Rückfalltäters geworden ist, dazu sagen wür-
den, wenn man ihnen mitteilte, dass sie doch nur ein be-
rechtigtes Opfer für die Freiheit der Gesellschaft
gebracht hätten. Ich kann bei diesen verqueren Gedan-
ken, ehrlich gesagt, nur den Kopf schütteln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Da spricht unsere Verfassungsordnung – gottlob! –
eine andere Sprache. Auch die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts gibt keinen Anlass dazu, dieser
eigenwilligen Auslegung des Grundgesetzes durch die
Linke auch nur einen Hauch von Berechtigung beizu-
messen. Auch der Schutz der Bevölkerung ist ein Ziel,
das verfassungsrechtlich nicht nur gerechtfertigt, son-
dern geradezu geboten ist. Wer das missachtet, missach-
tet den Schutzauftrag unserer Verfassung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christian Ahrendt [FDP])


Wir müssen deshalb eine angemessene und verfas-
sungskonforme Risikoverteilung herstellen. Der Vor-
schlag der Fraktion Die Linke hilft da jedenfalls kein
bisschen weiter. Die Einsetzung einer so breit angelegten
– in Anführungsstrichen – Expertenkommission, wie
von den Linken vorgeschlagen, würde ohnehin nur ei-
nem Ziel dienen: das Themenfeld so zu atomisieren, bis
keine vernünftige Regelung mehr eine Chance hat.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann würde vielleicht eine vernünftige Regelung herauskommen!)


So etwas lehnen wir ab.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716524100

Vielen Dank, Kollege Heveling. – Nächste Rednerin

für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Halina Wawzyniak. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716524200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Kollege Heveling hat schon darauf hingewie-
sen: Wir haben keine konkreten Wünsche in Bezug auf
den Referentenentwurf. Wir fordern die Einsetzung einer
Expertenkommission.

Diese Expertenkommission ist auch angebracht; denn
die Bundesregierung hat für das im Dezember 2010 ver-
abschiedete Gesetz zur Sicherungsverwahrung vom
Bundesverfassungsgericht eine fette Klatsche bekom-
men. Sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuches und
des Jugendstrafrechts über die Anordnung und Dauer der
Sicherungsverwahrung wurden für nicht mit dem Grund-
gesetz vereinbar erklärt. Deshalb ist es aus unserer Sicht
sinnvoll, im Rahmen einer Expertenkommission auch
über den Referentenentwurf – seit gestern gibt es wohl
auch schon einen Gesetzentwurf – zu reden.

Ich frage Sie: Was spricht eigentlich gegen eine
Expertenkommission? Was spricht dagegen, mit Justiz-
praktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswis-
senschaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern,
Straf-, Polizei- und Verfassungsrechtlerinnen und -recht-
lern, psychiatrischen und psychologischen Sachverstän-
digen, Kriminologen und Vertretern von Opferverbän-
den das Thema Sicherungsverwahrung zu erörtern?


(Beifall bei der LINKEN)


Was spricht dagegen, den Handlungsbedarf zum Thema
Sicherungsverwahrung auszuloten? Das muss doch auch
im Interesse der Bundesregierung sein; denn ansonsten
– das garantiere ich Ihnen – droht die nächste Klatsche.

Die Linke hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie
das Institut der Sicherungsverwahrung für höchst be-
denklich hält.

In einer menschlichen Gesellschaft gibt es keine voll-
kommene Sicherheit; darauf hat Herr Heveling hinge-
wiesen. Das weiß jeder und wird in jeder Debatte von je-
dem Redner wiederholt.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Hintergründe und die Zusammenhänge der Ent-
stehung von Kriminalität sind so vielfältig, dass es ein-
fach nicht möglich ist, eine sichere – ich betone das Wort
„sichere“ – Prognose darüber zu treffen, ob jemand ge-
fährlich ist oder nicht. Damit bleibt Sicherungsverwah-
rung Strafe, auch wenn man es anders nennt. Die Strafe
wird nach der Strafe, nachdem die Schuld verbüßt ist,
angeordnet. Damit handelt es sich bei der Sicherungs-
verwahrung um eine vorbeugende Entziehung der Frei-
heit, um eine präventive Sicherungshaft, und das auf-
grund einer unsicheren Prognose. Wir alle wissen, wie es
mit den Prognosen ist – es gibt diverse Studien –: Von

als gefährlich eingestuften Rückfalltätern sind maximal
20 Prozent gefährlich. Wir sagen: Die restlichen 80 Pro-
zent sperren wir sicherheitshalber ein.

Nun liegt der Referentenentwurf vor. Natürlich hätten
wir uns gewünscht, dass das Justizministerium grund-
sätzlich über das Institut der Sicherungsverwahrung
nachdenkt. Da hat ein wenig der Mut gefehlt. Ansonsten
nehmen wir zur Kenntnis, dass Anstrengungen unter-
nommen worden sind, den Prinzipien des Urteils gerecht
zu werden. Das betrifft den Anspruch, dass die Unter-
bringung einer individuellen und intensiven Betreuung
bedarf, den Sachverhalt, dass ein Rechtsanspruch auf
Therapie zumindest angedeutet wird und dass eine Ent-
lassung durch die Gerichte ansteht, wenn keine ange-
messene Betreuung stattfindet. Das finden wir gut.

Was wir schlecht finden, ist die Beibehaltung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung im Anschluss an
die für erledigt erklärte Unterbringung in einem psychia-
trischen Krankenhaus, der vorhandene breite Kreis der
Anlassstraftaten und die Ausweitung der Sicherungsver-
wahrung im Jugendstrafrecht.

Lassen Sie mich am Ende noch kurz etwas zum An-
trag der SPD sagen. Liebe Genossinnen und Genossen,


(Ingo Egloff [SPD]: Sind wir nicht! Wir nicht!)


da kommen wir nicht zusammen. Sie wollen die Anlass-
straftaten auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte be-
schränken. Das ist richtig. Dann erklären Sie mir aber
einmal, warum Sie im Dezember 2010 noch gesagt ha-
ben, dass Sie das in dem Gesetzentwurf wunderbar gere-
gelt finden. Wenn Sie eine nachträgliche Therapieunter-
bringung machen wollen – da hat Herr Heveling recht –,
dann machen Sie sich zum Vorreiter für die Wiederein-
führung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das
ist absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie ignorieren offensichtlich die kompetenzrechtli-
chen Bedenken, was das Therapieunterbringungsgesetz
angeht – hier geht es um Gefahrenabwehr, und damit ist
es Ländersache –, und die Unbestimmtheit des Begriffs
„psychische Störung“.

Ich komme zum Schluss. Der Einsetzung einer Exper-
tenkommission zuzustimmen, tut nicht weh. Ich finde,
das ist der angemessene Umgang mit dem Thema. Des-
wegen geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie un-
serem Antrag zu!


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716524300

Vielen Dank, Frau Kollegin Wawzyniak. – Nächster

Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP
unser Kollege Christian Ahrendt. Bitte schön, Kollege
Ahrendt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1716524400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Der Rechtsstaat stellt uns nicht nur vor He-
rausforderungen, sondern er ist auch eine Herausforde-
rung, insbesondere dann, wenn es um die Ränder geht,
um die schwierigen Abgrenzungsfragen, die wir uns zu
stellen haben, und um die Fragen, die zu beantworten
sind, wenn wir über ein Thema wie die Sicherungsver-
wahrung debattieren. Hier geht es um die Frage, ob je-
mand, der schwere und schwerste Straftaten begangen
hat, die Möglichkeit haben soll, noch einmal in Freiheit
zu kommen. Diese Frage muss man sich stellen. Wenn
man diese Frage falsch beantwortet, dann kommt man
auf eine schiefe Bahn. Wie schief die Bahn in Deutsch-
land war, hat uns als Erstes die Entscheidung des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2009 gezeigt,
und es hat uns auch die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichtes im Mai 2011 gezeigt. Die Folgen – des-
wegen wundert mich auch Ihr Antrag, Herr Lischka –
sind verheerend. Eine Folge ist nämlich, dass aufgrund
des Rechtes, das bei uns auf einer schiefen Bahn war,
eine nicht unerhebliche Anzahl von Schwerstkriminellen
freigelassen werden musste, dass wir plötzlich vor der
Situation standen, dass die Polizei diese Menschen rund
um die Uhr überwachen muss, weil wir im Bundestag
aus Populismus – das eine oder andere, was ich eben zu
dem Thema gehört habe, ist nichts anderes als Populis-
mus – Gesetze gemacht haben, die nicht auf dem Funda-
ment unserer Verfassung standen. Wenn wir jetzt wieder
anfangen, über nachträgliche Sicherungsverwahrung zu
diskutieren, dann sind wir ein Stück weit genau auf dem
unsicheren Terrain, das zu einer nicht unerheblichen
Zahl von Straftätern geführt hat, die sich derzeit in einer
Übergangsregelung befinden, die aber teilweise auch auf
freien Fuß gesetzt werden mussten. Das ist das eine.

Das andere ist: Um aus diesem unsicheren Gelände
herauszukommen, haben wir im Dezember 2010 mit
Zustimmung der SPD eine Reform der Sicherungsver-
wahrung beschlossen, mit der die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung abgeschafft und die vorbehaltene Si-
cherungsverwahrung ausgeweitet wird. Damit soll klar
im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils gesagt
werden können: Bei dem Täter liegt eine Gefährlichkeit
vor, die das Gericht erkennt. Kommen dann in der Haft
noch weitere Aspekte hinzu, kann überdies eine Siche-
rungsverwahrung angeordnet werden, aber eben nur
dann, wenn sie im Urteil vorbehalten ist; denn hierauf
sollen sich alle Beteiligten einstellen können.

Das war das Konzept, mit dem die Justizministerin
und der Bundestag das Recht der Sicherungsverwahrung
auf neue Füße gestellt haben. Wir sollten uns jetzt tun-
lichst davor hüten, an diesem sicheren Fundament zu
rütteln, das wir gelegt haben und das auch in der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letz-
ten Jahres nicht weiter kritisiert worden ist.

Nun liegt ein Kabinettsbeschluss zu dem Gesetzent-
wurf der Justizministerin vor. Mit diesem Entwurf wird
exakt anhand der Linie der Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts vom Mai letzten Jahres gearbeitet; da-
bei wird das Abstandsgebot eingehalten. Das bedeutet:
Haft ist etwas anderes als Sicherungsverwahrung. Ein

Täter kommt nach der Verbüßung seiner Strafhaft, wenn
er in Sicherungsverwahrung gehört und entsprechend
verurteilt ist, auch in eine andere Einrichtung. Das ist in
diesem Gesetzentwurf in wesentlichen Grundzügen ge-
regelt.

An dieser Stelle muss man auch die Länder in die
Pflicht nehmen. Bereits im Jahr 2005 hat es eine Unter-
suchung der Europäischen Kommission zu den Haftbe-
dingungen der Sicherungsverwahrten in Deutschland ge-
geben. Dabei wurde festgestellt, dass das Abstandsgebot
nicht eingehalten wird, dass die Sicherungsverwahrten
falsch behandelt werden und dass man sich das Leben
nicht einfach leicht machen kann, indem man an der Zel-
lentür lediglich das Schild „Haft“ gegen das Schild „Si-
cherungsverwahrung“ auswechselt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung gesagt: In diesem Fall hat auch der Bund die Ge-
setzgebungskompetenz, weil die Länder an dieser Stelle
versagt haben. Deswegen muss man jetzt nicht – so wie
Sie in Ihrem Antrag – unbedingt dazu kommen, jeden
Ratschlag der Länder mitzumachen, der wieder in eine
falsche Richtung geht, nämlich eine nachträgliche Siche-
rungsverwahrung im Bereich der Therapieunterbringung
zuzulassen.

Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Sie stellen in
Ihrem Antrag die Forderung nach einer „nachträglichen
Therapieunterbringung“; das ist Ihre Formulierung. Da-
mit sind wir aber aus dem Bereich des Strafrechts he-
raus.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Dann stellt sich die Frage: Sind wir überhaupt zustän-
dig? Denn die Länder haben eigene Gesetze und eine ei-
gene Zuständigkeit für den Umgang mit psychisch Kran-
ken. Damit befinden wir uns schon in der ersten
Fragestellung: Haben wir eine eigene Gesetzgebungs-
kompetenz?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Die zweite Fragestellung lautet: Wollen wir es uns in
Deutschland wirklich erlauben, mit dem Begriff des
„psychisch Kranken“ zu arbeiten? Das ist ein in seinen
Rändern und in seiner Bestimmtheit sehr schwierig zu
fassender Begriff. Wollen wir es zulassen, dass jemand
auf der Basis des unbestimmten Begriffs „psychisch
Kranker“ nachträglich in eine Therapieunterbringung
geschickt wird, womöglich für eine psychische Erkran-
kung, die wiederum gar nicht im Zusammenhang mit der
Straftat steht, für die er verurteilt worden ist?

Wer so etwas will – und schon beim ersten Blick auf
Ihren Antrag zeigen sich diese Probleme – und tatsäch-
lich meint, man müsse jetzt wieder etwas schaffen, das
der nachträglichen Sicherungsverwahrung gleichkommt,
der zerstört das Fundament, das die Bundesjustizminis-
terin und dieses Haus im Dezember 2010 gelegt haben,
und schafft damit eine Rechtsunsicherheit. Wir wollen
aber keine Rechtsunsicherheit, sondern Rechtssicherheit.
Deswegen sollten wir Ihren Antrag zwar diskutieren,





Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)


aber in keinem Fall positiv begleiten. Ich bin gespannt
auf die Debatte und insbesondere auf den Gesetzent-
wurf, der dieses Haus bald erreichen wird. Ich glaube,
mit dem, was die Ministerin vorgelegt hat, sind wir auf
dem richtigen Weg.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716524500

Vielen Dank, Kollege Christian Ahrendt. – Nächster

Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Jerzy Montag. Bitte schön, Kollege Montag.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716524600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem

Antrag der SPD stellt sich mir als Erstes die Frage: Wa-
rum haben Sie ihn überhaupt formuliert, und warum
müssen wir heute darüber diskutieren? In diesem Antrag
fordern Sie die Justizministerin auf, im Referentenent-
wurf ihres Hauses Änderungen vorzunehmen.

Dieser Antrag hat sich erledigt. Es gibt keinen Refe-
rentenentwurf mehr. Die Bundesregierung hat gestern
entschieden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
kann von der Bundesregierung überhaupt nicht mehr
verändert werden; er ist beim Bundesrat eingereicht.

In der Sache selber haben Sie, liebe Kollegen von der
SPD, und wir, die Grünen, bei der Generalreform der Si-
cherungsverwahrung in Änderungsanträgen praktisch
einstimmig die Beschränkung der Sicherungsverwah-
rung auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte gefordert.
Das werden wir, wenn es zur Neuauflage kommt – das
wird es in einigen Monaten –, wiederum in Änderungs-
anträgen fordern. Darüber brauchen wir heute überhaupt
nicht zu diskutieren.

Der zweite Punkt ist interessanter: Sie fordern die
Einführung einer nachträglichen Therapieunterbringung.
Dazu kann ich Ihnen Folgendes sagen: Dieses Haus hat
das Recht der Sicherungsverwahrung zum 1. Januar
2011 grundlegend reformiert, und zwar so, dass es keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nach-
trägliche Therapieunterbringung vorsieht. Wer hat die-
sem Gesetz zugestimmt? Die CDU/CSU, die FDP und
Sie von der SPD.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Wir haben aus anderen Gründen nicht zugestimmt, aber
haben dem Grundansatz, keine nachträgliche Siche-
rungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieun-
terbringung vorzusehen, ebenfalls zugestimmt. Jetzt stel-
len Sie, gegen Ihre eigene Haltung, die Sie noch vor
kurzer Zeit hatten, den Antrag, man möge wiederum das
einführen, was Sie gar nicht haben wollten. Das ist völlig
unverständlich und in sich widersprüchlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christian Ahrendt [FDP] und Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
setzen noch eins drauf. Bei der Diskussion dieses Re-

formvorhabens haben Sie im Rechtsausschuss einen Än-
derungsantrag gestellt. Dieser Änderungsantrag lautet:
Sie möchten gerne, dass die Wirkung des reformierten
Gesetzes, das keine nachträgliche Sicherungsverwah-
rung und keine nachträgliche Therapieunterbringung
vorsieht, bis Ende 2013 evaluiert wird, um danach zu
prüfen, ob es vielleicht Notwendigkeiten gibt, irgendet-
was zu verändern. Es ist nichts evaluiert; 2013 ist nicht
zu Ende. Warum stellen Sie jetzt solch einen Antrag, Ge-
setze zu ändern, denen Sie vorher selbst zugestimmt ha-
ben? Ihr Verhalten ist völlig unverständlich, es sei denn,
Sie wollen hier, wofür parteipolitisch etwas spricht, ei-
nen Keil in die Koalition treiben. Die Frage ist nur, ob
die Sache ein solches Spielchen verträgt.

Ich sage Ihnen: Sie wollen lediglich den Ländern, die
das wollen, nach der Pfeife tanzen


(Burkhard Lischka [SPD]: Baden-Württemberg zum Beispiel!)


– ja – und übersehen dabei, dass rechtspolitisch alles da-
gegen spricht, eine nachträgliche Therapieunterbrin-
gung, die nichts anderes als eine nachträgliche Siche-
rungsverwahrung ist, wieder ins Gesetz zu bringen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Recht hat er!)


Wer psychisch gestörten oder psychisch kranken
Menschen, die gefährlich sind, die Freiheit entziehen
will, der soll das in eigener Zuständigkeit nach Länder-
recht als Gefahrenvorsorge machen. Das gehört nicht in
ein Bundesgesetz, nicht in den Bereich des Strafrechts.
Da haben wir schon bessere Vorschläge gehabt und dis-
kutiert als diejenigen, die Sie jetzt hier einbringen.


(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist rein populistisch und taktisch bedingt,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


dass Sie Ihre eigene Position verlassen, und das kreiden
wir Ihnen wirklich an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christian Ahrendt [FDP])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716524700

Vielen Dank, Kollege Jerzy Montag. – Letzter Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege
Norbert Geis.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1716524800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Montag, ich glaube schon, dass es gar nicht
schlecht ist, dass wir heute über die Sicherungsverwah-
rung diskutieren, weil es tatsächlich ein schwieriges,
aber sehr wichtiges Gesetzgebungsvorhaben dieser Le-
gislaturperiode ist.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)



(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist doch Ihr Lieblingsthema! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! Aber es gibt heute keinen Anlass dazu!)


– Darüber brauchen wir jetzt nicht im Einzelnen zu strei-
ten.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber über den Trauschein könnten wir heute diskutieren! Das treibt mich um!)


Es ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht, wie
Ansgar Heveling es gesagt hat, mit seinem Urteil vom
4. Mai 2011 der Linie des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte gefolgt ist. Diese Linie besagt, dass
die Sicherungsverwahrung so, wie wir sie zurzeit in der
Bundesrepublik Deutschland haben, den Menschenrech-
ten nicht entspricht, und zwar deshalb, weil das Ab-
standsgebot – der Unterschied zwischen Sicherungsver-
wahrung auf der einen Seite und Strafvollzug auf der
anderen Seite – nicht gewahrt ist.

In der Tat ist das eine wichtige Aufgabe, der sich das
jetzt vorgelegte Gesetz stellen muss. Ich bin mir sicher
– ich habe das Gesetz gelesen –, dass die Regelung der
Therapieunterbringung gelungen ist, und ich hoffe, dass
sie auch in der Praxis entsprechend umgesetzt wird.

Ich will noch einmal auf den Unterschied zwischen
der Strafe auf der einen Seite und der Therapieunterbrin-
gung bzw. Sicherungsverwahrung auf der anderen Seite
eingehen.

Die Strafe hat ihren Grund in der Schuld. Die Schuld
wird in einem gerichtlichen Urteil festgestellt, das in ei-
nem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen ist. Die Siche-
rungsverwahrung hat ihren Grund in der Verpflichtung
des Staates, für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und
Bürger zu sorgen. Das ist der Grund.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Präventive Sicherungshaft!)


Beides, sowohl die Strafe als auch die Sicherungsverfah-
rung, berühren Art. 2 Grundgesetz, das Recht auf Frei-
heit.

Die Strafe hat den Zweck, eine Schuld zu sühnen und
damit die Rechtsordnung wiederherzustellen. Sie hat ei-
nen generalpräventiven Zweck. Der Staat macht nämlich
Folgendes deutlich: Ich verteidige meine Rechtsord-
nung, und wenn es sein muss, mit dem schärfsten Mittel,
das ich habe, nämlich mit dem Strafrecht. Aber sie hat
auch den Zweck, die Öffentlichkeit vor dem Täter zu
schützen – zumindest so lange, wie er im Strafvollzug
ist. Das ist der Sicherheitszweck der Strafe.

Die Sicherungsverwahrung hingegen hat ausschließ-
lich den Zweck, die Öffentlichkeit vor der Gefährlich-
keit des Täters zu schützen. Der Täter hat keine Tat be-
gangen. Er sitzt nicht wegen einer begangenen Tat in
Sicherungsverwahrung. Er ist im Grunde genommen ein
freier Mensch, weil er ja seine Strafe verbüßt hat. Es hat
sich allerdings im Laufe des Strafvollzuges herausge-
stellt, dass der Täter seine Gefährlichkeit nicht verloren
hat. Vielmehr birgt er nach wie vor die Gefahr in sich,

eine schwere Gewalttat oder ein schweres Sexualdelikt
zu begehen. Das ist der Grund, weshalb wir überhaupt
die Sicherungsverwahrung haben.

Die Sicherungsverwahrung wird zunächst einmal
durch das Urteil möglich, in dem der Richter erklärt:
Nach Verbüßung der Strafe ist Sicherungsverwahrung
angeordnet. Es gibt auch noch die vorbehaltene Siche-
rungsverwahrung. Dann erklärt der Richter nämlich: Ich
behalte mir die Sicherungsverwahrung vor, weil ich mir
nicht sicher bin, ob sie wirklich notwendig ist. – Das ist
der Hintergrund des Vorbehaltes.

Wir sagen – und da bin ich nicht Ihrer Meinung, dass
das reiner Populismus ist –, dass auch folgender Fall
vorzusehen ist: Wenn sich während des Strafvollzuges
herausstellt – ich unterstelle jetzt, dass die Sicherungs-
verwahrung nicht vorbehalten worden ist und dass kein
Ausspruch der Sicherungsverwahrung durch das Urteil
erfolgt ist –, dass es sich um einen in höchstem Maße ge-
fährlichen Täter handelt, der nach wie vor zu gefährli-
chen Taten neigt, zu Gewalttaten, zu schweren Körper-
verletzungen und zu Sexualdelikten, und der außerdem
§ 1 des Therapieunterbringungsgesetzes entspricht – das
heißt, er leidet unter einer schweren psychischen Stö-
rung –, dann meinen wir, dass es möglich sein muss, die
Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Das ist
kein Populismus, sondern das entspricht durchaus dem
Anspruch des Bürgers gegenüber dem Staat, für seine Si-
cherheit zu sorgen.

Deswegen müssen wir uns über den vorgelegten Ge-
setzentwurf, sehr geehrter Herr Staatssekretär, im Ein-
zelnen unterhalten. Wir können ihm zum großen Teil zu-
stimmen. Aber wir müssen uns Gedanken darüber
machen, ob mit dieser Regelung der nachträglichen The-
rapieunterbringung dem Interesse der Bürger Rechnung
getragen wird. Das ist eine wichtige Aufgabe, der wir
uns stellen müssen, und ich bin mir sicher, dass wir im
Gesetzgebungsverfahren im Deutschen Bundestag dazu
eine Anhörung durchführen werden. Wir werden uns
nach den Ergebnissen dieser Anhörung zu richten haben.
Wenn uns Fachleute sagen, dass wir eine Notwendigkeit
bezüglich der geplanten bzw. nicht geplanten nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung übersehen haben, dann
müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir die Si-
cherungsverwahrung auch nachträglich aussprechen
können.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716524900

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis.

Wir sind am Ende dieser Aussprache, die ich hiermit
schließe.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8760 und 17/7843 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes

– Drucksache 17/8799 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich
gehe davon aus, dass Sie einverstanden sind. – Das ist
der Fall. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen lie-
gen dem Präsidium vor.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8799 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wirksame Anreize für klimafreundlichere Fir-
menwagen

– Drucksache 17/8883 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen
dem Präsidium vor.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8883 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Albert Rupprecht (Weiden), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Forschung und Produktentwicklung für ver-
nachlässigte und armutsassoziierte Erkran-
kungen stärken

– Drucksache 17/8788 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen –
Zugang zu Medikamenten weltweit verwirk-
lichen

– Drucksache 17/8493 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben.
Sind Sie damit einverstanden? – Widerspruch erhebt
sich nicht. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen
liegen dem Präsidium vor.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8788 und 17/8493 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck

(Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Strategie zur europäischen Integra-
tion der Länder des westlichen Balkans

– Drucksachen 17/7774, 17/8396 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.

1) Anlage 2
2) Anlage 3 3) Anlage 4





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Rainer Stinner. Bitte
schön, Kollege Dr. Rainer Stinner.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1716525000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

war gestern Abend auf einer sehr interessanten Veran-
staltung der Robert-Bosch-Stiftung. Dort wurde eine
Studie vorgestellt, in der im gesamten westlichen Balkan
eine Befragung von zwei Generationen vorgenommen
wurde, und zwar derjenigen, die im Jahr 1971 geboren
sind, und derjenigen, die im Jahr 1991 geboren sind. Die
Frage war: Gibt es unterschiedliche Einstellungen und
Befindlichkeiten über die Landesgrenzen hinweg und
zwischen den Generationen?

Die Studie hat einige erstaunliche Ergebnisse
erbracht. Zunächst einmal ist festzustellen: Beide Gene-
rationen, also Jung und Alt, haben das Gefühl, dass es
sich im früheren Jugoslawien besser leben ließ. Sie
sagen: Der Vorgängergeneration – „unseren Eltern“ –
ging es besser, als es uns heute geht. Beide Generationen
haben relativ wenig das Gefühl, dass sie auf dem Balkan
in einer Region leben, in der es darauf ankommt,
gemeinsam etwas zu tun. Sie haben wenig Vertrauen in
ihre Systeme und in ihre Zukunft. Die Jüngeren haben
weniger Reisen in den Westen bzw. nach Europa unter-
nommen als ihre Vorgängergeneration: das heißt, die
heutige Jugend kann bzw. konnte weniger reisen als ihre
Vorgängergeneration. Umso wichtiger ist unsere Visa-
debatte, die wir im letzten Jahr geführt haben. In der jün-
geren Generation gibt es eine etwas größere Zustim-
mung zur EU-Integration als bei denen, die 1971
geboren sind. Das ist die Lage, die wir in den westlichen
Balkanstaaten heute zur Kenntnis nehmen.

Angesichts dieser Befindlichkeiten müsste man
eigentlich sagen: Das Glas ist maximal halb voll oder
halb leer – je nachdem, wie man das sehen möchte –,
aber mehr nicht. Wenn man die Konfliktsituation im
westlichen Balkan aber mit anderen Konfliktsituationen
in dieser Welt vergleicht, muss man zur Kenntnis neh-
men, dass wir in den letzten 10, 15 Jahren wirklich eine
ganze Menge erreicht haben: Zwei Teilstaaten des ehe-
maligen Jugoslawien sind bzw. werden Mitglieder der
Europäischen Union; mehrere andere Staaten haben den
Kandidatenstatus. Wir haben die Militärpräsenz der
NATO drastisch reduzieren können. Es gibt also einen
Entwicklungspfad. Wenn wir uns andere Konfliktregio-
nen anschauen, Somalia, Sudan oder den Norden von
Afrika, dann wird klar, dass im westlichen Balkan relativ
viel erreicht worden ist.

Unser politisches Commitment von 2003 – das sage
ich in jeder Rede zum Thema Balkan – gilt nach wie vor.
Es lautet: Jawohl, ihr seid Teil Europas; das ist geogra-
fisch völlig unbestritten. Wir wollen euch aber auch in
politischer Hinsicht Schritt für Schritt in die Europäische
Union integrieren, und dazu wollen wir beitragen. – Die
Frage lautet jetzt: Was können wir eigentlich tun?

Ich fange mit dem Thema Selbstermächtigung an. Ich
glaube, dass es ungeheuer wichtig ist, die Staaten zu
ermächtigen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu neh-
men. Liebe Marieluise Beck, an dieser Stelle spreche ich
den Konflikt an, den wir beide seit vielen Jahren in aller
Freundschaft austragen.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich wollte heute nichts dazu sagen!)


– Du wolltest vielleicht nichts dazu sagen, aber du
kommst nicht darum herum. – Es geht um die Rolle des
OHR in Bosnien-Herzegowina. Ich bin der festen Über-
zeugung, dass wir diese Länder zu lange unter ein Patro-
nat gestellt haben. Wir können mit dem, was die
UNMIK in zehn Jahren im Kosovo erreicht hat, nicht
zufrieden sein. Wir können auch mit dem, was der OHR
in Bosnien-Herzegowina erreicht hat, nicht zufrieden
sein. Da wir diesem Land mit dem Dayton-Abkommen
etwas aufgezwängt haben – ich weiß, dass du gleich mit
dem Dayton-Abkommen argumentieren wirst; wir ken-
nen uns ja gut genug –,


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Willst du nicht lieber nach mir reden?)


haben wir Verantwortung für dieses Land. Wenn ich aber
Verantwortung habe, weil ich den OHR stelle, dann
muss ich mich auch an den Erfolgen messen lassen, und
das ist einfach zu wenig. Ich sage: Die Selbstermächti-
gung ist ganz wichtig.

Zweitens. Wir müssen die EU-Strukturen verbessern.
EULEX ist noch nicht so, wie es sein sollte. Wir können
nicht zufrieden sein. Wir stehen in Bosnien-Herzego-
wina jetzt vor der Transition vom OHR zum EUHR, zum
europäischen Hohen Repräsentanten. Ich halte das für
dringend geboten. Die Bundesregierung hat in der Ant-
wort auf eine Schriftliche Frage von Frau Beck noch-
mals betont, wie wichtig es ist, die Rolle Europas zu
stärken. Ich bin voll dafür.

Drittens. Wir sollten unsere finanziellen Mittel auf die
Dinge fokussieren, die wirtschaftliches Wachstum her-
vorrufen; denn die wirtschaftliche Situation in der
Region kann insgesamt nur als katastrophal bezeichnet
werden.

Viertens. Wir sollten in Infrastruktur investieren. Ges-
tern Abend haben mir junge Leute aus der Region
gesagt, dass der Zug von Belgrad nach Zagreb im frühe-
ren Jugoslawien viereinhalb Stunden brauchte und heute
siebeneinhalb Stunden braucht. Das ist ein Beispiel für
die Lebenssituation in dieser Region. Diesbezüglich
müssen wir zu Verbesserungen kommen.

Fünftens. Wir müssen schrittweise vorgehen. Ich
halte das Regattaprinzip nach wie vor für richtig. Die
Länder sind einzeln zu beurteilen. Unter anderem des-
halb lehnen wir den Antrag der Grünen heute ab. In ihm
ist zu viel von Gemeinsamkeit die Rede. Ich glaube, es
ist nicht richtig, alle auf einmal mitzunehmen. Es hat
sich gezeigt, dass unser selektives Vorgehen richtig ist.





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)


Sechstens. Ich glaube, dass die Konditionierung rich-
tig ist. Die Konditionierungspolitik besagt: Wir gehen
den nächsten Schritt mit dem einzelnen Land, wenn es
bereit ist, Bedingungen zu erfüllen. Das hat sich im letz-
ten Jahr zweimal bewährt. Wir haben es bei Bosnien-
Herzegowina gesehen: Bosnien-Herzegowina haben wir
den Visastatus im Gegensatz zu Serbien und anderen
Ländern nicht gewährt. Daraufhin hat Bosnien-Herzego-
wina daran gearbeitet. Nach sechs, acht Monaten waren
sie so weit, dass wir Bosnien-Herzegowina die Visafrei-
heit gewähren konnten. In Serbien war es noch dramati-
scher: Am 9. Dezember hatte Serbien noch keinen Kan-
didatenstatus. Doch dann ist in Serbien viel passiert. Bis
in die letzte Nacht hinein ist bezüglich der Beziehungen
zu Kosovo verhandelt worden. Daraufhin konnte der
Kandidatenstatus vergeben werden.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich glaube,
dass die Länder dieser Region, die Mitglieder der EU
sind, also Slowenien und in Zukunft Kroatien, eine Vor-
bildfunktion haben. Slowenien hat diese Vorbildrolle zu
wenig eingenommen, vielleicht weil Slowenien schon
im früheren Jugoslawien als Außenseiter gesehen wurde;
einige verorteten es sozusagen bei den Nordlichtern.
Jedenfalls ist meiner Meinung nach zu wenig wahr-
nehmbarer Impetus von Slowenien ausgegangen. Die
Kroaten haben fest versprochen, dass sie es anders
machen werden. Sie tragen ja auch besondere Verant-
wortung für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Das
ist der Weg, den wir gehen müssen. Diesen Weg können
wir unterstützen, und das wollen wir tun.

Wir sagen nach wie vor: Das Tor zu Europa steht für
die Region offen. Den Schritt durch dieses Tor müssen
die Länder selber machen. Sie sind uns willkommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716525100

Vielen Dank, Kollege Stinner. – Nächster Redner ist

für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Josip Juratovic. Bitte schön, Herr Kollege.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1716525200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir interessieren uns viel zu wenig dafür, was
vor der Haustür der EU auf dem Westbalkan passiert.
Das war in den 90er-Jahren so, bevor dort Krieg aus-
brach, und es ist leider auch heute so. Deswegen begrüße
ich es, dass die Grünen hier eine europäische Westbal-
kan-Strategie fordern.


(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In vielen Gesprächen mit den Menschen vor Ort wird
immer wieder gesagt, dass sich ohne Druck aus der EU
auf dem Westbalkan so schnell nichts ändern wird.
Allerdings schaffen wir politische Veränderungen in den
Staaten des westlichen Balkans nur dann, wenn eine Bei-
trittsperspektive besteht. Das Beispiel Kroatien zeigt: Im
Beitrittsprozess wurde das Land moderner, eine Zivil-

gesellschaft wurde aufgebaut, und das Land bekam eine
klare Perspektive abseits des Nationalismus.

Eine europäische Westbalkan-Strategie muss diese
Perspektive für alle Länder schaffen. Das übergeordnete
Ziel muss sein, Perspektiven für junge Menschen zu
schaffen. Wir erleben derzeit auf dem gesamten Balkan
Resignation bis hin zu politischer Apathie. Die Jugend-
arbeitslosigkeit in der gesamten Region beträgt über
50 Prozent. Die wirtschaftliche Produktion liegt bei
gerade einmal 50 Prozent des Niveaus von 1989.
Obwohl die politischen Akteure stets um Investitionen
aus dem Ausland buhlen, sind sie nicht prioritär am Auf-
bau einer Zivilgesellschaft interessiert, die sich auf
demokratische Werte beruft, die wiederum eine Voraus-
setzung für eine funktionierende Wirtschaft sind.

Lassen Sie mich auf Mazedonien, Kosovo und Bos-
nien-Herzegowina näher eingehen. Die politische
Debatte in Mazedonien wird aktuell durch die Identitäts-
frage bestimmt – es geht darum, ob die Menschen dort
attisch oder slawisch sind – und ist damit fokussiert auf
die Vergangenheit statt auf Gegenwart und Zukunft.
Dies führt zu ökonomischen und sozialen Absurditäten.
Jedes Jahr verlassen zahlreiche exzellent ausgebildete
junge Menschen die Universitäten, nur um danach keine
entsprechenden Jobs zu finden und in Cafés zu arbeiten.
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Mazedonien ist
erschreckend. Schon mit dem Arbeitsvertrag wird eine
Blankokündigung unterschrieben, auch wenn dies nicht
legal ist. Selbst als Putzfrau bekommt man im öffent-
lichen Dienst nur mit Parteibuch eine Stelle. Auch das ist
nicht legal, aber gängige Praxis. Die Menschen haben
Angst, sich politisch und gesellschaftlich zu betätigen,
weil sie fürchten, selbst ihren schlecht bezahlten Job mit
100 Euro Monatslohn zu verlieren. Es ist politischer Irr-
sinn, sich vor Ort in einer solchen Situation nur mit dem
Namensstreit von Griechenland und Mazedonien zu
beschäftigen, anstatt die drängenden politischen, sozia-
len und wirtschaftlichen Probleme anzugehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ähnliches gilt für das Kosovo. In Serbien und im
Kosovo diskutieren alle politischen Kräfte nur über die
Anerkennung des Kosovo. Die wirklichen Probleme die-
ser Länder geraten dadurch in den Hintergrund. Die
Kosovo-Frage darf keine Ausrede für die Politiker vor
Ort sein, wenn sie sich zu wenig darum kümmern, wirt-
schaftliche und soziale Perspektiven für die jungen Men-
schen zu schaffen.

In Bosnien und Herzegowina beobachte ich die glei-
che Tendenz. Prioritär wird dort über die Frage der Enti-
täten und Ethnien diskutiert, und man kann sich nicht auf
eine Verfassung einigen. Gleichzeitig haben die Jugend-
lichen, egal ob in der Republika Srpska oder in der Föde-
ration, null Perspektive. Ökonomische Fragen oder die
Infrastruktur verschwinden hinter den vermeintlichen
nationalistischen Konflikten, die die politische Klasse
bestimmt. Die politische Klasse drückt auch den Jugend-
lichen das nationalistische Denken auf.





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


Die Absurdität getrennter Schulen existiert nicht nur
in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Mazedonien.
Die Jugendlichen lernen, in Parallelgesellschaften zu le-
ben, die möglichst wenig miteinander zu tun haben. Ich
bezeichne das, was aktuell an den Schulen passiert, als
eines der größten Verbrechen auf dem Balkan. Den eige-
nen Kindern wird Misstrauen gegenüber anderen Natio-
nalitäten bis hin zur Verachtung anderer Nationalitäten
beigebracht. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen zum
Thema Nationalismus nicht schweigen, sondern müssen
gegenseitiges Vertrauen in der Region fördern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir alle wissen, dass keines dieser Länder allein über-
leben kann. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist
ohne Alternative. Am Freihandelsabkommen CEFTA,
zwar von allen unterzeichnet, arbeitet niemand mehr
ernsthaft. So bekommt die Wirtschaft dieser Länder keine
Chance in der Region. Eine Diskussion nur anhand ethni-
scher Grenzen und auf Kosten der Minderheiten macht ei-
nen CEFTA-Dialog unmöglich.

Im nächsten Jahr wird Kroatien der EU beitreten.
Kroatien ist ein Beispiel dafür, dass eine Westbalkan-
Strategie Erfolg haben kann. Auch in Kroatien gab es
jahrelang Diskussionen über Identität und Nationalis-
mus. Mit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen wurden
die öffentlichen Diskussionen aber in eine andere Rich-
tung gelenkt. Durch die 35 Kapitel, die verhandelt wur-
den, haben Medien und Öffentlichkeit neue Maßstäbe
bekommen, um die Politik zu beurteilen, und sie tun dies
nicht mehr anhand nationalistischer Kriterien.

Durch die Beitrittsverhandlungen wurde deutlich,
dass die alten politischen Kräfte, die nur in ihren natio-
nalen Kategorien denken, nicht die Ideen für die Zukunft
haben. Neue politische Akteure bekamen eine Chance.
Ein Kroatien mit einem Präsidenten Josipovic wäre vor
zehn Jahren undenkbar gewesen. Nur durch die gesell-
schaftlichen Veränderungen infolge der EU-Verhandlun-
gen wurde ein so integrer Präsident wie Josipovic über-
haupt möglich. Eine solche Entwicklung sollten wir für
alle Westbalkan-Staaten anstreben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU])


– Danke.

Wir dürfen uns nicht mehr damit aufhalten, mit den
nationalistischen politischen Kräften vermeintliche
Kompromisse auszuhandeln, die dann doch wieder nur
anhand der alten nationalistischen Kriterien umgesetzt
werden, sondern wir müssen durch Beitrittsverhandlun-
gen neue politische Kriterien aufstellen und somit den
neuen politischen Kräften eine Chance geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben in diesen
Ländern Schwesterparteien. Das muss auch ein Druck-

mittel sein. Die CDU muss in Mazedonien auf die Re-
gierungspartei, die Mitglied der EVP ist, noch stärker
einwirken. Ich sage selbstkritisch: Wir Sozialdemokra-
ten müssen in der Republika Srpska auf die sogenannte
Sozialdemokratische Partei noch mehr Druck ausüben,
Politik und nicht Nationalismus zu betreiben.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja, macht mal! Gut!)


Wir müssen den Weg, den Kroatien gemeinsam mit
der EU zurückgelegt hat, auf die anderen Staaten über-
tragen. Dazu müssen wir in den Beitrittsverhandlungen
die Themen Verwaltung und Justiz vorrangig behandeln,
auch schon bevor ein Land offiziell Beitrittskandidat
wird. Nur so bieten wir neuen Kräften eine Plattform für
politische Veränderungen in ihren Ländern. Nur so
schaffen wir einen Lichtblick für die Gesellschaften auf
dem Westbalkan und bewahren die Glaubwürdigkeit un-
serer europäischen demokratischen Werte. Deshalb stim-
men wir dem Antrag der Grünen zu.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716525300

Vielen Dank, Kollege Josip Juratovic. – Nächster

Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Kiesewetter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1716525400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh,
dass wir uns dieses Themas mit Ernsthaftigkeit anneh-
men und dass es mehr Gemeinsamkeiten als Gräben
gibt. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
grünen Partei: Wir können Ihrem Antrag aus zwei Grün-
den nicht zustimmen. Ich möchte sie im Folgenden aus-
führen.

Es ist sehr gut, dass wir versuchen, das Konflikt-
potenzial in der Region zu neutralisieren, und dass wir
gemeinsam an Strukturen arbeiten, die dauerhaft den
westlichen Balkan in die Europäische Union integrieren.
Wir finden aber, dass Sie bei der inhaltlichen Ausgestal-
tung Ihres Antrags deutlich hinter diesem Anspruch zu-
rückbleiben.

Zunächst beschwören Sie Thessaloniki. Seit dem Jahr
2003 ist es fast schon Tradition bei uns im Bundestag,
das Thema der EU-Beitrittsperspektive des westlichen
Balkans anzusprechen. Dadurch reden wir sie aber nicht
herbei. Wir müssen das praktisch ausgestalten. Das Ziel
einer EU-Mitgliedschaft für die gesamte Region wurde
ein ums andere Mal bestätigt. Das ist unstrittig und muss
deshalb nicht ein weiteres Mal beantragt werden. Auch
bei der Diskussion des EU-Erweiterungspakts 2011 ging
es darum, dass wir die regionale Zusammenarbeit und
die Aussöhnung auf dem Balkan vertiefen müssen.

Wir als Unionsfraktion sehen hier nicht die Gefahr ei-
ner isolierten Betrachtung einzelner Staaten, wie Sie das





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)


in Ihrem Antrag anführen. Wir glauben, dass die EU
nicht nur über einen Gesamtansatz verfügt, sondern dass
wir das auch praktisch ausgestalten. Es geht schlichtweg
darum, wie wir die Westbalkan-Strategie in der Praxis
erlebbar machen. – Ich füge hinzu: Wir in der Union ha-
ben seit Anfang 2010 eine Westbalkan-Arbeitsgruppe.
Die jeweiligen Berichterstatter unternehmen regelmäßig
Reisen. Wir machen uns unser eigenes Bild vor Ort. Dies
bringen wir in die Debatten des Bundestages, insbeson-
dere aber auch in die Parlamentariergruppen ein. Ich
glaube, damit leisten wir dem Parlament einen hervorra-
genden Dienst und tragen zu einem fairen Informations-
austausch bei.

Uns geht es auch darum, eine Aufweichung der Ko-
penhagener Kriterien zu verhindern;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


denn diese definieren die wesentlichen Vorgaben für die
beitrittswilligen Staaten. Deshalb müssen wir an diesen
Kriterien festhalten. Warum? Es geht darum, dass wir
die Staaten des westlichen Balkans auch an den europäi-
schen Wertekanon heranführen wollen. Dazu werde ich
gleich ein paar Punkte ansprechen.

Entscheidend ist für uns, dass wir keine Paketlösung
anstreben. Das könnten Sie nachher vielleicht einmal er-
klären; denn es kommt uns so vor, als ob Sie das indirekt
fordern. Vielmehr wollen wir das Ganze von den tat-
sächlichen Leistungen einzelner Staaten und deren Fä-
higkeiten abhängig machen.

Ihr Antrag kommt uns so vor, als ob Sie eine Quadra-
tur des Kreises fordern, indem Sie uns einerseits eine
Politik möglichst naher Beitritte nahelegen und auf der
anderen Seite die strikte Einhaltung der Kriterien for-
dern. Das ist sicherlich kein Automatismus, bedarf aber
der Erklärung. Die Politik der EU-Erweiterung auf dem
Westbalkan müssen wir auch im Interesse der Menschen,
die jahrelang Krieg erlebt haben, vollziehen. Zugleich
– das ist uns als Union wichtig – geht es darum, die in-
nenpolitische Akzeptanz für die Erweiterung innerhalb
der Europäischen Union zu erreichen. Das sehen wir ge-
rade im Lichte der Euro-Diskussion. Wir dürfen nicht
zulassen, dass auf der Bank des Euro in doppeltem Sinne
die EU-Beitrittsperspektive des Balkans scheitert. Des-
halb wollen wir kein Abrücken von der leistungsbezoge-
nen Aufnahme in die EU. Dass das machbar ist, zeigt die
Aufnahme Kroatiens im nächsten Jahr.

Als Union sehen wir folgende Erfolgsfaktoren. Dies
sind Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, regionale Zu-
sammenarbeit, eine Visaliberalisierung, an der wir ge-
meinsam gearbeitet haben, insbesondere für Bosnien
und Albanien, sowie Wirtschaftsthemen. Es gibt aber
noch ungelöste Fragen.

Was wir in der vergangenen Woche bei der Abstim-
mung zwischen Serbien und dem Kosovo erlebt haben,
mag ermutigend sein. Dennoch warne ich davor, dies als
Status quo hinzunehmen. Nicht dass wir mit dem Ko-
sovo und dem kleinen Stern ein weiteres FYROM in der
Europäischen Union haben. Vielmehr müssen wir im
Rahmen des serbischen Beitrittsprozesses eindeutig for-
dern, dass am Ende dieses Prozesses auch der Austausch
von Botschaftern steht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Des Weiteren – ich glaube, wir Außen- und Europa-
politiker sind uns darin einig – geht es darum, wie wir
dem Kosovo und seiner sehr jungen Bevölkerung helfen.
Deshalb sollten wir über weitere Visaliberalisierungen
und über Liberalisierungen in den Bereichen Bildung
und Wirtschaft nachdenken. Ich glaube, dass es aller
Mühe wert ist, auf unsere Innenpolitiker einzuwirken
und den interparlamentarischen Diskussionsprozess fort-
zusetzen.

Von Serbien fordern wir die Aufklärung des Brandan-
schlags auf die deutsche Botschaft vom Februar 2008.
Offensichtlich sind die handelnden Personen bekannt.
Als Bundesrepublik Deutschland erwarten wir die Auf-
klärung; denn der Kandidatenstatus muss mehr sein als
nur ein politischer Vorschuss. Er muss auch durch tätige
Leistungen unterstrichen werden. Gleiches gilt für gut-
nachbarschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn Ser-
biens.

Außerdem haben Sie den Minderheitenschutz ange-
sprochen. Wir unterstützen das ausdrücklich. Allerdings
hätte ich mir gewünscht, dass Sie auch die Trennung in
Schulen insbesondere in Bosnien-Herzegowina ange-
sprochen hätten. Es erfüllt uns alle mit Sorge, dass hier
nach Ethnien getrennt gemeinsam Schulen genutzt wer-
den, deren Pausenhöfe teilweise sogar mit Drähten von-
einander getrennt sind.

Zum Abschluss möchte ich noch einen Blick über die
EU hinaus wagen. Wir stützen uns als Europäische
Union im Zusammenhang mit dem Balkan auch deutlich
auf die NATO. Ich möchte hier einen konkreten Vor-
schlag unterbreiten: Ich glaube, es würde Bosnien-Her-
zegowina sehr helfen, wenn wir gemeinsam daran arbei-
ten würden, dass der sogenannte Beitrittsaktionsplan, der
Membership Action Plan, für Bosnien-Herzegowina mit
Blick auf eine spätere NATO-Mitgliedschaft in Angriff
genommen wird. Das kostet nichts, aber führt zu einer
stärkeren Anstrengung innerhalb Bosnien-Herzegowinas
und festigt die gesamtstaatliche Klammer.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
heute der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses folgen. Wir unterstützen aber immer konkrete
Projekte. Zwei konkrete Projekte – den Membership Ac-
tion Plan und den Ausgleich zwischen Kosovo und Ser-
bien – habe ich angesprochen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716525500

Vielen Dank, Kollege Kiesewetter.

Die Kollegin Sevim Dağdelen gibt ihre Rede zu Pro-
tokoll.1) Deswegen steht schon Frau Kollegin Marieluise

1) Anlage 5





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Beck am Rednerpult. Ihr gebe ich für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin
Marieluise Beck.


(Beifall des Abg. Josip Juratovic [SPD])


Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Stinner, ich glaube, wir müssen
dafür sorgen, dass die FDP-Fraktion nach den Grünen
spricht – wegen größerer Kleinheit –, damit Sie mir end-
lich antworten können und nicht immer vorwegnehmen,
was ich sagen werde.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie dann noch da sind!)


Das wird vielleicht so kommen. Warten wir einmal ab.

In diesen Tagen vor 20 Jahren sind in Sarajevo Hun-
derttausende auf die Straße gegangen, weil ein Krieg in
der Luft lag, den sie auf keinen Fall wollten. Sie ahnten,
dass ein Inferno auf sie zukommen würde. Weil es ihnen
nicht gelungen ist, den Militärs und den Paramilitärs in
den Arm zu fallen, ist es dann auch tatsächlich so ge-
kommen. Drei Jahre Krieg, Belagerung, Vertreibung und
Tod – und eine Weltgemeinschaft, die hilflos und unent-
schlossen zugeschaut hat. Nicht umsonst fällt das Wort
Srebrenica, das erstaunlich schnell in Vergessenheit ge-
raten ist, angesichts der Ratlosigkeit in Bezug auf die
dramatischen Ereignisse in Syrien jetzt immer wieder.
Wir haben uns damals versprochen: Nie wieder! – Wir
sind jetzt nicht in der Situation eines drohenden Waffen-
gangs, aber Europa hat die Verpflichtung und die Auf-
gabe, den Staaten des zerfallenen Jugoslawiens den Weg
in die Europäische Union zu ebnen, und zwar auch aus
eigenem Interesse; denn wer die langen historischen Li-
nien kennt – im Jahre 2014 jährt sich das Attentat von
Sarajevo zum hundertsten Mal –, der weiß, dass sich Un-
ruhe auf dem Balkan immer auf das restliche Europa
ausgewirkt hat.

Es ist viel geschafft worden: Slowenien ist ein geach-
tetes Mitglied der EU, die Republik Kroatien wird ihr
beitreten, Montenegro und Serbien haben einen Kandi-
datenstatus. Aber es bleiben die sogenannten unvollen-
deten Staaten; sie müssen uns wirklich besorgen. Dazu
gehört Mazedonien, dessen innere Verfassung aufgrund
der albanischen Minderheit ausgesprochen fragil ist. Das
Land hat schon jetzt angekündigt, dass es, sollte es zu
Grenzverschiebungen kommen, seinerseits auf Grenz-
verschiebungen setzen wird. Wir müssen uns also da-
rüber klar sein, dass Grenzverschiebungen – ich spreche
über Nordkosovo – dramatische Konsequenzen in ande-
ren Regionen auf dem Balkan nach sich ziehen würden
und den Balkan wieder in Flammen setzen könnten.


(Josip Juratovic [SPD]: Richtig!)


Bosnien und Herzegowina, über das wir hier immer
wieder sprechen, ist durch eine vollkommen unzulängli-
che Verfassung schwer belastet. Kollege Juratovic, Sie
sprechen es zu Recht an: Es ist auch durch politische Eli-

ten belastet, die auf Grundlage des Nationalismus ihre
Süppchen kochen und auf ihre Weise davon profitieren.

Die Auseinandersetzung um das OHR betrifft die
Frage, ob die Attraktivität der Europäischen Union – da-
rauf setzt die Strategie des Auswärtigen Amtes – wirk-
lich so groß ist – Sie selber haben gesagt, dass sie bei
vielen Bevölkerungsgruppen anscheinend nicht so groß
ist –, dass die EU-Instrumentarien reichen werden, und
ob sie stark genug sein werden, um den destruktiven
Kräften, die es gerade innerhalb von Bosnien, vor allen
Dingen in der Republik Srpska, gibt, Einhalt gebieten zu
können.

Das ist eine offene Wette, Herr Kollege Stinner. Ich
hoffe, Sie haben mit Ihrem Vertrauen in die EU-Instru-
mentarien recht. Es gibt neue Kräfte, nämlich die antina-
tionalistische Initiative K 143, zu der sich 143 Kommu-
nen in Bosnien zusammengeschlossen haben.

Wir betonen in unserem Antrag noch einmal, Herr
Kollege Kiesewetter: Immer und immer wieder muss
glaubhaft versichert werden, dass wir alle diese Länder
in der EU sehen wollen und dass wir alles dafür tun wer-
den, dass der Letzte nicht irgendwann in 20 Jahren
kommt, sondern dass tatsächlich alle möglichst zeitnah
kommen. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse.
Schwarze Löcher im Westbalkan können wir nicht ge-
brauchen.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716525600

Vielen Dank, Frau Kollege Marieluise Beck. – Letzter

Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Thomas Silberhorn. Bitte
schön, Kollege Thomas Silberhorn.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1716525700

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt
haben, beschreibt im Wesentlichen die Haltung, die auch
die Bundesregierung zur Heranführung der Staaten des
westlichen Balkans an die Europäische Union vertritt.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das haben wir uns fast gedacht!)


Ich begrüße ausdrücklich, dass auch Ihre Fraktion diesen
Ansatz der Bundesregierung im Grundsatz teilt und mit-
trägt.

Der Europäische Rat hat bei seinem Gipfeltreffen in
der letzten Woche, am 1. und 2. März, Serbien den Kan-
didatenstatus verliehen. Montenegro hat bereits am
8. und 9. Dezember letzten Jahres den Beginn der Bei-
trittsverhandlungen in Aussicht genommen. Kroatien





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


wird voraussichtlich im Juli 2013 als 28. Mitglied der
Europäischen Union beitreten.

Das zeigt, dass die europäische Perspektive, die die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union dem westlichen
Balkan in der Erklärung von Thessaloniki 2003 eröffnet
haben, schrittweise in die Realität umgesetzt wird. Es
gibt eine klare europäische Perspektive, zu der wir uns
nach wie vor bekennen.

Mit Verlaub, wir brauchen auch keine neue Strategie,
wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern. Entscheidend ist,
dass die Erklärung von Thessaloniki jetzt Zug um Zug
mit Leben erfüllt wird und dass wir konkrete Ergebnisse
vorzeigen können.

In den letzten Wochen und Monaten sind im Hinblick
auf die Länder des westlichen Balkans wichtige Fort-
schritte erzielt worden. Ich denke, es ist auch wichtig, zu
betonen, dass die Bundesregierung dabei eine mitent-
scheidende Rolle gespielt hat.

Die Bundeskanzlerin war am 23. August 2011 in Ser-
bien, und Bundesaußenminister Westerwelle war am
23. Februar dieses Jahres dort, also kurz vor den ent-
scheidenden Beratungen über die Verleihung des Kandi-
datenstatus. Ohne diesen persönlichen Einsatz der Bun-
deskanzlerin und des Bundesaußenministers wären die
Verhandlungen angesichts der diffizilen Lage mit Si-
cherheit erheblich schwieriger verlaufen.

Wenn wir uns am Beispiel Serbiens die Dimensionen
dieses Beschlusses der letzten Woche vor Augen führen
wollen, dann muss man nur wenig mehr als zehn Jahre
zurückblicken, als Serbien mit seinen Nachbarvölkern
im Krieg stand und sich Luftangriffen der NATO ausge-
setzt sah. Heute stellt das Land keine militärische Bedro-
hung für seine Nachbarn mehr dar und klopft an die Tür
der Europäischen Union. Das ist eine positive Entwick-
lung, die es zu würdigen gilt.

Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung und die
Versöhnungsprozesse im westlichen Balkan hat zweifel-
los die Perspektive dieser Länder auf eine Mitgliedschaft
in der Europäischen Union. Das ist hier mehrfach ange-
klungen. Deswegen ist es wichtig, dass nach dem militä-
rischen Eingreifen und der Beendigung der Kampfhand-
lungen für die gesamte Region eine dauerhafte politische
Perspektive in der Europäischen Union eröffnet worden
ist. Es geht darum, konstruktiv an dieser Stabilisierung
mitzuwirken. Es geht aber auch darum, dass die betroffe-
nen Staaten die notwendigen, oft schmerzhaften innen-
politischen Maßnahmen dazu ergreifen.

Es ist sicherlich wichtig, dass diese Staaten – ich
denke insbesondere an Kroatien, aber auch an Serbien;
von Herrn Stinner ist zu Recht Slowenien angesprochen
worden – auch ihre regionale Verantwortung wahrneh-
men. Wir setzen darauf, dass die Entwicklung in Slowe-
nien, in Kroatien und jetzt zunehmend auch in Serbien
eine positive Auswirkung auf Bosnien-Herzegowina, auf
Montenegro, auf den gesamten westlichen Balkan hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, dass wir diesen Ländern auch diese regionale
Verantwortung abverlangen müssen.

Die Ausrichtung der Westbalkan-Staaten auf die Eu-
ropäische Union zeigt, dass die EU jenseits der Staats-
schuldenkrise ihrer Rolle als Stabilitätsanker in der Re-
gion unvermindert gerecht wird.

Bei aller Freude darüber und ungeachtet der Gültig-
keit der Erklärung von Thessaloniki dürfen wir aber
nicht die Augen davor verschließen, dass eine Reihe gro-
ßer Herausforderungen weiterhin damit verbunden ist.
Das gilt in erster Linie für die Staaten des westlichen
Balkans im Hinblick auf die Erfüllung der Beitrittskrite-
rien. Es gilt aber auch für die Europäische Union.

Die Staaten des westlichen Balkans stehen nach wie
vor vor der schwierigen Aufgabe, Versöhnung und An-
näherung zu erreichen. Aber sie müssen eben auch die
notwendigen innenpolitischen Reformen unternehmen.
Das wird auch enorme Zeit in Anspruch nehmen. Ich
weise nur auf die acht Jahre hin, die allein Kroatien ge-
braucht hat, um jetzt den Beitritt vollziehen zu können.
Das ist eine realistische Perspektive. Dies bedeutet, dass
wir den Ländern des westlichen Balkans auch in aller
Klarheit vor Augen führen müssen, welche Anstrengun-
gen mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbun-
den sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben mit der Erweiterungsrunde 2004 einschlä-
gige Erfahrungen gemacht, die uns sagen: Wir dürfen
nicht noch einmal einen Big Bang machen, sondern
müssen jedes Land nach seinen eigenen Fortschritten be-
werten. Wir wollen keine Rabatte gewähren. Vielmehr
muss jedes Land die Kriterien für sich erfüllen.

Wir sagen aber auch ganz klar Ja zur europäischen
Perspektive des westlichen Balkans. Wir sind zuver-
sichtlich, dass die junge Generation in diesen Staaten eu-
ropäisch ausgebildet und europäisch orientiert ist. Ge-
rade ihnen müssen wir eine realisierbare, von ihnen noch
erlebbare Perspektive auf eine Mitwirkung in der Euro-
päischen Union eröffnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josip Juratovic [SPD]: Das ist ganz wichtig, ja!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716525800

Vielen Dank, Kollege Thomas Silberhorn. – Ich

schließe die Aussprache.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie darauf
hinweisen, dass wir jetzt noch eine Reihe von Abstim-
mungen gemeinsam vor uns haben.

Wir kommen aber zunächst zur Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine
Strategie zur europäischen Integration der Länder des
westlichen Balkans“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8396, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/7774 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


und die Linksfraktion. Gegenprobe! – Das sind die So-
zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-
gen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Vereinfachung des Austauschs von
Informationen und Erkenntnissen zwischen
den Strafverfolgungsbehörden der Mitglied-
staaten der Europäischen Union

– Drucksache 17/5096 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/8870 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein)

Frank Hofmann (Volkach)

Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Dr. Konstantin von Notz

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1716525900

Offene Grenzen in einem vereinten Europa: das ist

eine Errungenschaft, für die zu arbeiten es sich wirklich
lohnt. Europa ist – vor allem in den letzten 20 Jahren –
in der Europäischen Union stark zusammengewachsen.
Ich denke besonders an die Abschaffung der Grenzkon-
trollen im Schengen-Raum, an die gemeinsame Wäh-
rung und an die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Gerade wir
Deutsche wissen offene Grenzen zu schätzen.

Allerdings bergen offene Grenzen Risiken; denn auch
für Straftäter sind die Grenzen offen, und das nutzen sie
aus. Vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität
wird zunehmend über Grenzen hinweg operiert. Dabei
handelt es sich beispielsweise um Menschenhandel,
Straftaten an Kindern oder Geldwäsche. Strafverfol-
gungsbehörden müssen daher auch ohne Grenzkontrol-
len in die Lage versetzt werden, diese Straftaten wir-
kungsvoll zu verfolgen bzw. abwehren zu können.

Die Europäische Kommission setzt schon länger auf
die verstärkte Zusammenarbeit der Strafverfolgungs-
behörden ihrer Mitgliedsländer. Zu nennen wären hier
beispielsweise das Schengen-Informationssystem, Euro-
dac – eine Datei zum Abgleich von Fingerabdrücken,
um Asylmissbrauch zu verhindern –, Europol – die euro-
päische Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag –, Eurojust
– die Einheit für justizielle Zusammenarbeit in der EU –
oder die grenzpolizeilichen Kontaktstellen, in denen
Beamte der jeweiligen Nachbarstaaten eng zusammen-
arbeiten.

Ein weiterer Schritt zur verstärkten Zusammenarbeit
der Strafverfolgungsbehörden ist die Schwedische Ini-
tiative. Der Rahmenbeschluss des Rates aus dem Jahr

2006 geht zurück auf eine Initiative der schwedischen
Ratspräsidentschaft und ist deshalb als „Schwedische
Initiative“ bekannt geworden. Dieser Rahmenbeschluss,
den wir heute in deutsches Recht umsetzen, besagt letzt-
lich, dass Informationen, die Behörden zu Strafverfol-
gungszwecken benötigen, leichter von einem Mitglieds-
land zu einem anderen weitergegeben werden sollen,
und zwar unter genau denselben Voraussetzungen wie
im innerstaatlichen Austausch.

Natürlich sind die Polizeibehörden seit dem Wegfall
der Grenzkontrollen gezwungen, viel stärker über die
nationalstaatlichen Grenzen hinweg zusammenzuarbei-
ten. Aber diese Zusammenarbeit soll verbessert, erleich-
tert und standardisiert werden. Verschiedene Analysen
haben gezeigt, dass das Schengener Übereinkommen,
Europol und die Einführung des Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts durch den Vertrag von Ams-
terdam im Jahr 1997 zwar die Qualität des Informati-
onsaustauschs verbessert haben, dass aber das Ausmaß
des Informationsaustauschs nach wie vor hinter dem
zurückbleibt, was für eine angemessene Zusammenar-
beit im Bereich der Strafverfolgung erforderlich wäre.
Deshalb kann ich diejenigen unter Ihnen nicht verste-
hen, die beharrlich behaupten, dass dieses Gesetz nicht
nötig ist. Das ist schlichtweg falsch.

Dort, wo personenbezogene Daten gesammelt, ge-
speichert und ausgetauscht werden, müssen wir uns
natürlich auch auf die datenschutzrechtlichen Aspekte
konzentrieren. In der parlamentarischen Beratung
haben wir uns intensiv mit Fragen des Datenschutzes
auseinandergesetzt. Wir haben dabei noch einmal aus-
drücklich betont, dass der Informationsaustausch nur
unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Daten-
schutzes erfolgen darf.

Bei allen skeptischen Einlassungen zum Datenschutz
möchte ich auf eines hinweisen: Hier geht es um den
Austausch innerhalb der Europäischen Union. Die
Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Die
Mitgliedsländer der EU folgen demokratischen Grund-
sätzen, sie achten und schützen die Grundrechte. Ihre
Ermittlungsbehörden arbeiten nach rechtsstaatlichen
Prinzipien, und Kontrolle dieses Wertekanons wird
durch die Europäische Union garantiert. Deshalb hielte
ich es für hochproblematisch, wenn jetzt einzelne Staa-
ten der Europäischen Union stigmatisiert würden in Be-
zug auf ein angeblich mangelndes Datenschutzniveau,
nach dem Motto: Denen können wir unsere Daten nicht
geben; denn sie schützen sie nicht genauso wie wir. Dass
wir Deutsche das höchste Datenschutzniveau in der EU
haben, wird dabei gerne unterschlagen. Das kann doch
aber nicht heißen, dass wir den anderen Ländern unsere
Daten vorenthalten. Ich werbe dafür, den verstärkten
und standardisierten Datenaustausch als Chance für
den Kampf gegen organisierte Kriminalität anzusehen
und nicht in erster Linie als Risiko für Daten- und Per-
sönlichkeitsschutz.

Ermittler sammeln und interpretieren Daten, sie
versuchen Zusammenhänge zu erkennen. Eine Flut von
Daten hilft auch unseren Polizeibeamten nicht, sondern
sie sind immer dankbar dafür, wenn sie genau den klei-





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)


nen Ausschnitt an Datenmaterial bekommen, der für
ihre Ermittlungen wichtig ist. Deshalb haben wir die
Schwedische Initiative so umgesetzt, dass personenbezo-
gene Daten nur dann weitergegeben werden, wenn meh-
rere Bedingungen erfüllt sind. So muss die anfragende
Behörde beispielsweise ganz klar darstellen, wie der
Zweck der Anfrage und die Person, über die Auskunft
erbeten wird, zusammenhängen.

All jenen, die darauf drängen, zunächst einmal auf
EU-Ebene den Datenschutz zu vereinheitlichen, möchte
ich etwas mehr Realismus verordnen. Die Bundesrepu-
blik ist bereits Vorreiter für ein hohes Datenschutzni-
veau in Europa, und das wird sie auch weiterhin sein.
Zudem besteht auf EU-Ebene das Grundrecht auf Schutz
der personenbezogenen Daten. Die Mitgliedstaaten sind
an das Unionsgrundrecht auf Datenschutz gebunden,
soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts
handeln. Das ist hier der Fall. Wir haben zudem in das
vorliegende Gesetz ausreichende Optionen für Strafvoll-
zugs- und Polizeibehörden eingebaut, um die Datenver-
mittlung an Staaten mit erheblich geringerem Daten-
schutzstandard zu begrenzen oder sogar auszuschließen.

Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Rahmen-
beschluss endlich umsetzen, nachdem die Frist ja schon
lange verstrichen ist. Die christlich-liberale Koalition
hat insbesondere nach der öffentlichen Anhörung von
Sachverständigen im Innenausschuss im September
2011 einige wesentliche Änderungen des Entwurfs
vorangebracht. Dazu gehört insbesondere die schon er-
wähnte Verknüpfung zwischen Zweck des Ersuchens und
der Person, um die es geht, sowie die Eingrenzung der
Spontanübermittlung und die Einbeziehung der Steuer-
fahndung. Wir verbessern damit die europäische Zusam-
menarbeit bei der Strafverfolgung. Dies ist ein wesentli-
cher Beitrag für ein freiheitliches und sicheres Europa.


Frank Hofmann (SPD):
Rede ID: ID1716526000

Der heute vorgelegte Gesetzentwurf soll die Arbeit

der Polizei einfacher machen. Es geht darum, die Über-
mittlung von Daten innerhalb der EU nicht anders zu
behandeln als die zwischen Behörden in Deutschland.
Das ist ein gutes Ziel. Es ist zu begrüßen, wenn die Straf-
verfolgungsbehörden in der EU in Zukunft enger, unbü-
rokratischer und damit effizienter zusammenarbeiten
können. Leider aber hat die Regierungskoalition dabei
den Datenschutz völlig außer Acht gelassen.

Wenn die vorliegende Gesetzesänderung in Kraft
tritt, werden unsere bestehenden Regeln durch die Hin-
tertür ausgehebelt und ad absurdum geführt. Während
wir im Inland die höchsten Kriterien an den Schutz sen-
sibler Informationen unserer Staatsbürger legen, wer-
den wir diese in Zukunft freimütig in der Welt verteilen –
ohne zu wissen, was damit passiert.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wis-
sen es doch selbst: Die Datenschutzstandards sind in der
Europäischen Union alles andere als einheitlich. Viele
liegen deutlich unter deutschem Niveau. Die Grundvo-
raussetzung aber für den Austausch von Informationen
ist, dass im Empfängerstaat zumindest ein Grundstan-
dard für den Umgang mit ihnen vorhanden sein muss.

Doch dafür haben Sie überhaupt keine Regelungen
getroffen. Liest man nur Ihren Änderungsantrag, könnte
man meinen, der Datenschutz spiele in Ihrem politischen
Wertekanon keine Rolle. Wie kommt es, dass gerade bei
der FDP der Graben zwischen den Grundüberzeugun-
gen und dem praktischen Handeln so groß ist?

Ihr Entschließungsantrag liefert eine Erklärung da-
für. Er liest sich wie eine Generalabrechnung mit ihrem
eigenen Gesetz. Der Informationsaustausch könne nur
unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Daten-
schutzes erfolgen, heißt es da. Die Bundesregierung
wird aufgefordert, sich für die Belange des Datenschut-
zes einzusetzen. Die Koalition fordert sich selbst auf, auf
EU-Ebene für ein einheitliches und hohes Datenschutz-
niveau zu sorgen.

Sie hat völlig recht damit. Schon seit Jahren gibt es
hier einen großen Bedarf. Ein gemeinsames Verständnis
vom Umgang mit Informationen ist Grundvoraussetzung
für eine gemeinsame Nutzung. Auch deshalb kann ich
Ihren Änderungsantrag nicht verstehen. Sie zäumen das
Pferd von hinten auf. Sie schaffen die Fakten vor den Re-
geln. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es zu einer
Einigung kommt, wenn die Daten längst in ganz Europa
im Umlauf sind? Ihr Entschließungsantrag liest sich wie
ein Wunschzettel – einer, der niemals in Erfüllung gehen
wird.

Der Änderungsantrag soll einen Rahmenbeschluss
des Europäischen Rates aus dem Jahr 2006 in deutsches
Recht umsetzen – eine Entscheidung aus längst vergan-
gener Zeit. Würde sie heute gefällt werden, wäre längst
das Europäische Parlament zuständig. Heute unterliegt
diese Materie bekanntlich dem ordentlichen Gesetzge-
bungsverfahren.

Sechs Jahre hat es gedauert, bis wir damit befasst
wurden. Gleichzeitig wird auf europäische Ebene über
den gemeinsamen Datenschutzstandard diskutiert. Bei-
des hätte man miteinander verbinden können und müs-
sen.

Gegen die Auslieferung der Daten werden sich die
deutschen Behörden kaum wehren können. Das haben
wir in der Anhörung bereits erörtert. Zudem gibt es
keine Regel, die verbietet, dass Empfängerländer die In-
formationen an Drittstaaten weitergeben. Ist das etwa
nicht dringend notwendig?

Sie wollen stattdessen im Schweinsgalopp einen In-
formationsaustausch amtlich machen. Viele Fragen
bleiben unbeantwortet. Was zum Beispiel passiert, wenn
die weitergegebenen Daten an Aktualität verlieren –
wenn aus einem Beschuldigten ein Unschuldiger wird?
Werden die Informationen nicht aktualisiert, wird er in
anderen Ländern einer Straftat beschuldigt werden, für
die in Deutschland möglicherweise sogar längst ein an-
derer rechtskräftig verurteilt ist.

Der Schlamassel hat begonnen mit dem Rahmenbe-
schluss, der den Datenschutz völlig außer Acht lässt. Bei
der Umsetzung des Rahmenbeschlusses werden die
Möglichkeiten, den Datenschutz mit einzubinden, nicht
ausgeschöpft. Die Vorschläge aus der Anhörung werden
nur unzureichend umgesetzt, und danach wird in einem

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Hofmann (Volkach)



(A) (C)



(D)(B)


Entschließungsantrag dargelegt, dass man ein hohes
und einheitliches Datenschutzniveau wünscht. So entste-
hen keine guten Gesetze, denen man getrost zustimmen
kann.

Es ist klar: Wir lehnen Ihren Entschließungsantrag,
Ihren Änderungsantrag und den Gesetzentwurf ab.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1716526100

Gelegentlich hört man ja in diesem Hohen Hause das

Gerücht, Anhörungen seien reine Showveranstaltungen.
Dass dem nicht so ist, zeigt dieser Gesetzentwurf, der
aufgrund der Sachverständigenanhörung Änderungen
erfahren hat, die dem Datenschutz Rechnung tragen.
Den Sachverständigen, die ihre Argumente vorgetragen
haben, sei an dieser Stelle nochmals für ihren Sachver-
stand und ihre Anregungen gedankt.

Mit dem Gesetz, das wir heute hier beschließen wol-
len, wird der Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates in
nationales Recht umgesetzt. Es ist Zufall, dass wir nun
gerade seit etwas mehr als einem Monat die Vorschläge
der Kommission auf dem Tisch liegen haben, wie der
Datenschutz in der EU harmonisiert werden kann. In der
schon erwähnten Anhörung wurde von allen Sachver-
ständigen das Auseinanderfallen von EU-rechtlichen
Verpflichtungen zum Datenaustausch auf der einen und
Datenschutz auf der anderen Seite beklagt. Während in
der EU immer neue Verpflichtungen zum Austausch
auch höchst sensibler Daten geschaffen, umgesetzt und
auch durchgesetzt würden, fehle es an einem einheitlich
hohen Datenschutzniveau. In der Entschließung der Ko-
alitionsfraktionen im Innenausschuss haben wir diesen
Punkt daher nochmals explizit aufgegriffen.

Dort heißt es: „Dabei kann dieser Informationsaus-
tausch nur unter strikter Wahrung der Grundprinzipien
des Datenschutzes erfolgen. Diese Grundprinzipien sind
ein gleichberechtigter Bestandteil eines Europas der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ In diesem Zu-
sammenhang wird die Bundesregierung aufgefordert,
sich auch weiterhin auf EU-Ebene für die Belange des
Datenschutzes einzusetzen. Ein möglichst einheitliches
und hohes Datenschutzniveau in Europa soll Ziel dieser
Bemühungen sein. Von besonderer Bedeutung sind hier
die derzeit laufenden Bemühungen der Kommission für
eine Novellierung des Datenschutzes in der Europäi-
schen Union auch im Bereich Justiz und Inneres.

Aber auch schon im vorliegenden Gesetzgebungsver-
fahren konnten wir mit den Änderungsanträgen der
Koalitionsfraktionen den Datenschutz stärken. Daten-
übermittlung innerhalb der EU zur Verfolgung grenz-
überschreitender Kriminalität und die Achtung des Da-
tenschutzes sind immer zwei Seiten derselben Medaille.
Deshalb haben wir die Datenübermittlung auf Fälle be-
grenzt, in denen ein Zusammenhang besteht zwischen
dem Zweck des Übermittlungsersuchens und der Per-
son, auf die sich das Ersuchen bezieht. Diese Kopplung
schützt vor der Übermittlung von Daten Unbeteiligter
oder nur zufällig mitbetroffener Personen.

Weiterhin werden Spontanübermittlungen auf Fälle
begrenzt, in denen die Erwartung besteht, dass die Da-

tenübermittlung zur Verhütung der Straftat beiträgt. Da-
bei haben wir mit der gesetzlichen Vorgabe, dass „kon-
krete Anhaltspunkte“ vorliegen müssen, die diese
Erwartung stützen, unmissverständlich klargemacht,
dass nur tatsachenbasierte Annahmen ausreichend sind.
Diese höheren Anforderungen sind aus unserer Sicht ge-
boten, weil gerade bei Spontanübermittlungen beson-
ders strikte Hürden eingezogen werden müssen.

In der zusammenwachsenden EU ist die Zusammen-
arbeit von Polizei und Justiz notwendig und quasi die
Kehrseite eines Europas ohne Grenzbäume. Es ist aber
dann auch unverzichtbar, in der EU ein hohes Niveau an
Datenschutz und rechtsstaatlichen Sicherungen zu wah-
ren. Das Zusammenwachsen Europas ist längst viel
mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Europa ist
auch der von gemeinsamen Werten und dem gemeinsa-
men Bekenntnis zur Grundrechtecharta getragene Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Darin liegen
Herausforderungen, aber auch viele Chancen für die eu-
ropäischen Bürgerinnen und Bürger, die sich hier wie
überall sonst in der EU sicher sein können, dass der
Rechtsstaat zu ihrem Wohle arbeitet. Dazu gehört die
richtige Balance von Freiheit und Sicherheit – überall in
Europa.

Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Aus-
tausch von Daten der Polizei und Strafverfolgungsbe-
hörden muss eingebettet sein in ein europaweit ebenso
verlässliches Datenschutzrecht. Es ist deshalb gut, dass
gerade jetzt von der EU-Kommission Vorschläge unter-
breitet wurden, die dazu beitragen werden, den Daten-
schutz in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dass in
den Entwürfen der Kommission noch nicht alles her-
vorragend ist und dass gerade der vorgestellte Entwurf
der Richtlinie für den Datenschutz im polizeilichen und
justiziellen Bereich noch deutlich Raum für Verbesse-
rung lässt, ist klar – wir stehen ja erst am Anfang der eu-
ropäischen Diskussion. Klar ist das Ziel: ein hohes
Niveau beim Datenschutz und zwar überall in Europa.

Wir setzen heute den Rahmenbeschluss zur Daten-
übermittlung um – und wir gehen damit ein Stück in Vor-
leistung, weil eben das gleichmäßig hohe Datenschutz-
niveau in der EU noch nicht erreicht ist. Aber Sie
können sicher sein, dass uns das umso mehr Ansporn ist,
aus den Vorschlägen der Kommission für den neuen Da-
tenschutzrechtsrahmen der EU zügig etwas zu machen,
das unserem Anspruch an den Grundrechtsschutz ge-
nügt.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716526200

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt darauf

ab, den Datenaustausch der Sicherheitsbehörden in der
EU weiter zu erleichtern – gleichzeitig wird der Daten-
schutz weiter ausgehöhlt. Die Linke lehnt dieses Projekt
ab.

Wie so oft bei grundrechtsrelevanten Fragen beruft
sich die Bundesregierung auf einen EU-Rahmen-
beschluss. Die Methode ist immer die gleiche: Die Bun-
desregierung drängt auf der Ebene des EU-Rates, wo es
keine demokratisch-parlamentarische Kontrolle gibt,
auf Beschlüsse, um sie dann dem Bundestag vorzulegen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


Das Parlament kann sie dann nur noch abnicken, wenn
es nicht den Konflikt mit der EU riskieren will. Das ist
Grundrechteabbau auf supranationalem Niveau, zu dem
wir keine Zustimmung erteilen.

Die geforderten Änderungen im BKA-Gesetz, dem
Bundespolizeigesetz und einer Reihe weiterer Gesetze
zielen darauf, aus der EU einen großen Datenraum zu
machen. Wenn eine ausländische Polizei bei einer deut-
schen Polizeistelle nach Daten fragt, sollen die gleichen
Regeln gelten wie bei Anfragen einer Polizeistelle aus
einem deutschen Bundesland. In der Gesetzesbegrün-
dung der Bundesregierung heißt es, dieser Rahmen-
beschluss sei „der erste vom Rat verabschiedete Rechts-
akt zur Umsetzung des sogenannten Grundsatzes der
Verfügbarkeit. Was nicht da steht, ist, dass dieser
Grundsatz hochproblematisch ist, weil er im Kern be-
sagt: Sämtliche Daten, die einmal erhoben worden sind,
sollen zu jedem Zeitpunkt von jeder Stelle in Europa
abgefragt werden können. Mit Datenschutz hat das
nichts zu tun.

Natürlich sind viele Beispiele denkbar, in denen etwa
die französische Polizei bei den deutschen Kollegen Da-
ten anfordert und diese auch kriegen soll, gerade im Be-
reich der Strafverfolgung. Aber das ist auch jetzt schon
möglich, dazu gibt es schon längst die notwendigen
Rechtsgrundlagen. Die Mitgliedstaaten sind bereits zu
gegenseitiger Hilfe verpflichtet. Aber: Bislang konnten
sie im nationalen Recht festlegen, wie diese Hilfe kon-
kret geleistet wird. Das soll jetzt aufgegeben werden, in
Zukunft wird das „harmonisiert“. Damit wird aber auch
die Möglichkeit, Hilfeersuchen zu prüfen, um sie unter
Umständen auch abzulehnen, bis auf wenige Ausnah-
men ausgeschlossen. Bisher musste man begründen,
warum Daten ausgetauscht wurden, in Zukunft muss
man begründen, wenn ein Austausch einmal nicht
durchgeführt wird. Der Austausch wird also zur Regel,
eine Prüfung ist praktisch nicht vorgesehen und in der
vorgeschriebenen Eile des Datenaustausches – acht
Stunden in sogenannten Eilfällen, wobei der Begriff Eil-
fall nicht definiert wird – auch gar nicht möglich. Wir
müssen jetzt die Daten liefern, wenn wir nicht konkrete
Zweifel daran anmelden können, dass die Partnerbehör-
den hier unverhältnismäßig vorgehen oder rechtswidrig
handeln. Die voraussehbare Folge ist, dass noch mehr
personenbezogene Daten frei durch europäische Poli-
zeidatenbanken flottieren. Und die sind keineswegs alle
gleich sicher, sodass in Zukunft noch öfter sensible per-
sönliche Daten von Unbefugten eingesehen werden kön-
nen.

Dabei geht es ja keineswegs nur um Straftäter. Die
Datenübertragung als Regelsatz umfasst auch den Be-
reich der Verhütung von Straftaten. Das ist ein weites
Feld, da ist vieles Interpretationssache und Spekulation,
und deshalb wäre gerade hier eine Einzelfallprüfung da-
tenschutzrechtliche Pflicht. Aber das wird preisgegeben.
Wir werden es erleben, dass in Zukunft noch mehr und
noch schneller die Daten beispielsweise von Aktivisten
gegen Wirtschaftsgipfel über die Grenzen ausgetauscht
werden – mit der Begründung, die Demonstranten könn-
ten ja Straftaten begehen.

Erinnern möchte ich auch daran, dass es in mindes-
tens drei Ländern der Europäischen Union in der aller-
jüngsten Vergangenheit Foltergefängnisse gegeben hat:
In Rumänien, Polen und Litauen hat die CIA vermeintli-
che Terrorverdächtige heimlich festgehalten und miss-
handelt, ganz offenbar mit Zustimmung der jeweiligen
Regierungen und mit Nutzung polizeilicher Daten über
die Festgenommenen. Solange so etwas in Europa mög-
lich ist, dürfen die Datenbanken der Polizei nicht als frei
austauschbare Ware gehandelt werden. Ich möchte au-
ßerdem daran erinnern, dass es in Europa noch längst
keinen gemeinsamen Datenschutzstandard gibt. Da soll-
ten sich solche Rahmenbeschlüsse von selbst verbieten.
Der Datenschutz, aber auch Grund- und Menschen-
rechtsstandards sprechen gegen die Umsetzung dieses
Rahmenbeschlusses.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In meiner letzten Rede zum Gesetzentwurf über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatte ich
Sie darum gebeten, dass wir uns gemeinsam und unter
Hinzuziehung externen Sachverstands mit dem komple-
xen Gesetzentwurf kritisch auseinandersetzen.

Rahmenbeschluss und Gesetzentwurf bezwecken den
möglichst ungehinderten und schnellen Datenaustausch
zwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden der
EU-Mitgliedstaaten. Der Datenaustausch ist grundsätz-
lich nicht auf bestimmte Gefahrensituationen oder
bestimmte Verdachtstaten beschränkt. Der Kreis der Be-
hörden, die untereinander – offenbar kreuz und quer –
Daten austauschen sollen, ist sehr groß. Die Übermitt-
lung von Daten von Stuttgart nach Györ oder Barcelona
soll praktisch so behandelt werden wie die Übermittlung
von Daten von Stuttgart nach Wiesbaden. Die dem
Rahmenbeschluss und dem Gesetzentwurf zugrunde lie-
gende Fiktion und Funktion ist, dass die Datenschutz-
standards in den EU-Staaten zukünftig in etwa ver-
gleichbar sind.

Dass diese Fiktion mit der Realität jedoch rein gar
nichts zu tun hat, war das erste wesentliche und klare
Ergebnis der öffentlichen Sachverständigenanhörung
des Innenausschusses im September 2011. Alle sieben
der geladenen Sachverständigen haben bestätigt, dass
das Datenschutzniveau im Bereich des Polizei- und
Strafrechts sehr unterschiedlich ist, erst recht in außer-
europäischen Staaten.

Zweites klares und wesentliches Ergebnis der Sach-
verständigenanhörung, das sämtliche Sachverständige
außer dem BKA-Vizepräsidenten Stock gestützt haben,
war, dass der vorliegende Gesetzentwurf vor diesem
Hintergrund als verfassungsrechtlich zumindest proble-
matisch, wenn nicht gar verfassungswidrig anzusehen
ist; denn das Bundesverfassungsgericht verlangt für ei-
nen solchen – praktisch ungehinderten – zwischenstaat-
lichen Datenaustausch ein wenigstens in etwa vergleich-
bares Datenschutzniveau in dem Staat, mit dem die
Daten ausgetauscht werden sollen. Ist dies nicht sicher-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


gestellt, verstößt der Datenaustausch zwischen Polizei-
und Verfassungsschutzbehörden gegen das Grundgesetz.

Drittens haben die Sachverständigen, mit Ausnahme
von Herrn Stock, es so eingeschätzt, dass die Beamten in
den verschiedensten Polizei- und Strafverfolgungsbe-
hörden, die auf der Grundlage des Gesetzentwurfs über
den Austausch von Daten mit anderen Staaten in der EU
zu entscheiden haben, in der Praxis gar nicht wissen
können, was für ein Datenschutzniveau im Empfänger-
staat herrscht; denn es gibt schlicht keine Zusammen-
stellung von verlässlichen vergleichenden Informatio-
nen über das Datenschutzniveau im Bereich des Polizei-
und Strafrechts in allen 27 EU-Mitgliedstaaten. Allein
Herr Stock konnte berichten, die Rechtstatsachensam-
melstelle des BKA verfüge über diese Informationen. Da
es sich bei dieser Informationssammlung aber offenbar
um eine handelt, die aus unerfindlichen Gründen geheim
gehalten wird, wird sich das für den Datenschutz in der
behördlichen Praxis wohl nicht niederschlagen. Auch
von den anwesenden Spezialisten, einschließlich der
Datenschutzbeauftragten, schien keiner von einer sol-
chen Informationssammlung je gehört zu haben.

So viel zu den schwerwiegenden verfassungsrechtli-
chen Problemen des Rahmenbeschlusses und des Umset-
zungsgesetzes. Einig waren sich die Sachverständigen
während der Anhörung auch weitgehend darüber, dass
der Gesetzentwurf – anders als es das Bundesverfas-
sungsgericht in solchen Fällen von uns fordert – die
Umsetzungsspielräume des Rahmenbeschlusses nicht
für eine grundrechtskonforme und grundrechtsfreundli-
che Umsetzung nützt. Zu diesem Problem habe ich Ihnen
in meiner ersten Rede im März 2011 schon einige kon-
krete Punkte genannt und möchte mich hier an dieser
Stelle nicht noch einmal wiederholen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe
mich gefreut, dass Sie dem Antrag auf Durchführung ei-
ner Sachverständigenanhörung zugestimmt haben. Nur,
lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen: Eine An-
hörung durchzuführen alleine bringt noch keine Verbes-
serung eines vorliegenden Gesetzentwurfs. Hierzu muss
man in einem zweiten Schritt auch die Ergebnisse der
Anhörung bei den weiteren Beratungen und der Formu-
lierung von Änderungsvorschlägen berücksichtigen.
Das ist von Ihrer Seite leider nur unzureichend gesche-
hen.

Die Anhörung war für uns alle erhellend, und Ihre
Fragen an die Sachverständigen waren äußerst kritisch.
Da wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob man
den alten Rahmenbeschluss angesichts der verfassungs-
rechtlichen Bedenken überhaupt umsetzen dürfe bzw. ob
und wann man das aus europarechtlichen Gründen tun
müsse. Da wurden etwas krude Lösungsansätze wie die
Aufstellung einer Liste von „Datenschutz-Schurkenstaa-
ten“ diskutiert – und wieder verworfen. Von mehreren
Seiten kam der Vorschlag, den Rahmenbeschluss zum
Informationsaustausch doch wenigstens gleichzeitig mit
dem ebenfalls noch nicht umgesetzten Rahmenbeschluss
zum Datenschutz umzusetzen. Es sei nicht legitim und
grundrechtspolitisch untragbar, den Informationsaus-
tausch auf der einen Seite zu regeln und zu fördern, den

Datenschutz auf der anderen Seite dagegen außen vor zu
lassen.

Letzterer ist ein sehr wichtiger und richtiger Ge-
danke, der seine Gültigkeit nicht verlieren wird. Leider
bleibt der Änderungsantrag der Koalition zum Gesetz-
entwurf, über den wir nun mit abzustimmen haben, weit
hinter dieser Erkenntnis zurück. Da wurden an zwei
Stellen – beim Personenbezug der Informationen und bei
Spontanübermittlungen – ganz kleine Verbesserungen
für den Datenschutz erreicht, die teilweise schon aus eu-
roparechtlichen Gründen zwingend notwendig waren.
Die verfassungsrechtliche und datenschutzrechtliche
Grundproblematik des Gesetzentwurfs – Datenaustauch
ohne Datenschutz – blieb dagegen unverändert. Kein
Aufschub der Umsetzung des Rahmenbeschlusses, keine
zeitgleiche Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum
Datenschutz, keine Konkretisierung der Übermittlungs-
verbote aus Datenschutzgründen, keine Streichung der
überschießenden Umsetzung im Hinblick auf den Daten-
austausch mit Nicht-EU-Staaten. Stattdessen wurde die
Problematik noch verschärft, indem die Steuerfahndung
in den Datenaustausch einbezogen wurde.

Es ist – und das sage ich ohne Häme – höchst bedau-
erlich, dass die FDP hier wieder einmal nur einen ganz
kleinen Bruchteil ihrer Forderungen durchsetzen konnte.
Und es ist höchst ärgerlich, dass dieser Gesetzentwurf
zulasten des Datenschutzes verabschiedet wird, obwohl
weder eine europarechtliche noch eine sicherheitspoliti-
sche Notwendigkeit dazu besteht. Der Informationsaus-
tausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
auf der Grundlage dieses Rahmenbeschlusses funktio-
niert selbst in den Staaten nicht, die ihn umgesetzt haben –
das belegen ein Bericht der Europäischen Kommission
ebenso wie Berichte von Praktikern. Dies zur sicherheits-
politischen Notwendigkeit.

Zur europarechtlichen Umsetzungspflicht möchte ich
zweierlei sagen: Ein Vertragsverletzungsverfahren
wegen Nichtumsetzung eines Rahmenbeschlusses gibt es
nicht, und das Bundesverfassungsgericht hat uns auf-
gegeben, notfalls die Umsetzung zu unterlassen, wenn
ansonsten der Grundrechtsschutz bedroht ist.

Die Umsetzung des alten Rahmenbeschlusses zum jet-
zigen Zeitpunkt ist völlig absurd und überflüssig: Das
gesamte Informationsmanagement im Raum der Frei-
heit, der Sicherheit und des Rechts wird derzeit ebenso
reformiert wie der Datenschutzrahmen der EU. So liegt
beispielsweise der offenbar von der Bundesregierung
pauschal abgelehnte Entwurf einer Richtlinie zur Schaf-
fung von Standards des Datenschutzes bei Polizei- und
Strafverfolgungsbehörden vor, der im Ansatz die einzig
richtige Fortführung der Frage verbesserten Daten-
schutzes angesichts des verstärkten Datenaustausches
sein dürfte, auch wenn wir hier derzeit dringenden Ver-
besserungsbedarf im Hinblick auf den insgesamt zu er-
reichenden Schutzstandard sehen. Wieso setzen wir ein
Relikt aus Maastrichter Zeiten um und schaffen damit
einen verfassungsrechtlich unhaltbaren Freibrief zum
Datenaustausch, wenn das noch nicht einmal sicher-
heitspolitischen Nutzen bringt? Und was soll Ihr windi-
ges und vages Bekenntnis zum Datenschutz in Europa im

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


beigefügten Entschließungsantrag, wenn Sie tatsächlich
einen Datenaustausch ohne Datenschutz mit EU-Staaten
in einer Weise fördern und legalisieren, die das Europa-
recht gar nicht verlangt?

Noch einmal möchte ich ganz ausdrücklich ein klares
Ja zu Europa formulieren, und zwar zu einem Europa, in
dem sich Freiheit, Sicherheit und Recht, in dem sich
Datenaustausch und Datenschutz die Waage halten. Um
das zu erreichen, braucht es mehr als Lippenkenntnisse.
Dafür brauchen wir einen starken politischen Einsatz
für hohe EU-Datenschutzstandards und die Wahrung
höchster Grundrechtsstandards im Umgang mit Daten
und Informationen, die unsere Bürgerinnen und Bürger
betreffen. Vor allem die Bundesregierung ist gefragt,
wenn mit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, PNR-
Abkommen und PNR-Datenrichtlinien oder dem SWIFT-
Abkommen die Vorgaben nicht nur unseres Grundgeset-
zes, sondern auch des europäischen Grundrechtsschut-
zes unterlaufen werden. Den Respekt vor den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts müssen wir als Politiker
ebenso nach Europa tragen wie unsere Kritik an der
widersprüchlichen Politik von Kommission und Rat, die
einerseits den Sicherheitsstaat ungehemmt weiter auf-
bauen und gleichzeitig beanspruchen, als glaubwürdige
Vertreter einer Datenschutzreform für die Bürgerinnen
und Bürger anerkannt zu werden. Einen Ausverkauf von
Datenschutzstandards über die europäische Hintertür
wird es mit uns Grünen nicht geben.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716526300

Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenaus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8870, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/5096 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen.
Wer stimmt dagegen? – Das sind die drei Oppositions-
fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –
Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten, die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Ent-
haltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Fe-
bruar 2007 zwischen der Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland und der Regierung
des Staates Kuwait über die Zusammenarbeit
im Sicherheitsbereich

– Drucksache 17/7601 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Fe-
bruar 2009 zwischen der Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland und der Regierung
des Staates Katar über die Zusammenarbeit
im Sicherheitsbereich

– Drucksache 17/7602 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
10. März 2009 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regie-
rung der Republik Kroatien über die Zusam-
menarbeit bei der Bekämpfung der Organi-
sierten und der schweren Kriminalität

– Drucksache 17/7603 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland und der Regierung
des Königreichs Saudi-Arabien über die Zu-
sammenarbeit im Sicherheitsbereich

– Drucksache 17/7604 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April
2010 zwischen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung der Re-
publik Kosovo über die Zusammenarbeit im
Sicherheitsbereich

– Drucksache 17/7605 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Au-
gust 2010 zwischen der Regierung der Bundes-
republik Deutschland und dem Ministerkabi-
nett der Ukraine über die Zusammenarbeit im
Bereich der Bekämpfung der Organisierten
Kriminalität, des Terrorismus und anderer
Straftaten von erheblicher Bedeutung

– Drucksache 17/7606 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/8820 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.






(A) (C)



(D)(B)



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1716526400

Terroristische und kriminelle Netzwerke agieren zu-

nehmend international, über Landesgrenzen hinweg –
ein Aspekt der Globalisierung, der vor 20 Jahren viel-
leicht so noch nicht absehbar gewesen ist. Dieser inter-
nationale, grenzüberschreitende Bezug zeigt sich auch
in Deutschland deutlich.

Deutschland ist Rückzugs- und Planungsraum für
islamistische Terroristen. Das wissen wir spätestens seit
den Anschlägen vom 11. September 2001. Deshalb
setzen unsere Sicherheitsbehörden alles daran, den Ak-
tionsradius von Terrorverdächtigen und islamistischen
Gefährdern so gering wie möglich zu halten und den in-
ternationalen Terrorismus zu bekämpfen. Deutschland
ist aber nicht nur Rückzugs- und Planungsraum, son-
dern islamistische Terrororganisationen rücken unser
Land auch immer wieder in den Fokus ihrer Anschlags-
drohungen. Deutschland ist mittlerweile auch zum Ziel-
land geworden. Welche Rolle dabei internationale Netz-
werke spielen, zeigen etwa Drohvideos in deutscher
Sprache aus dem Ausland, verdeutlichen Reisebewegun-
gen von Terrorverdächtigen aus Deutschland oder un-
terstreichen die Finanzierungswege des internationalen
Terrorismus.

Solche grenzüberschreitenden Netzwerke sind auch
in der Organisierten Kriminalität von großer Bedeu-
tung. OK-Gruppierungen haben laut aktuellem BKA-La-
gebild im Jahr 2010 mehr als 1,6 Milliarden Euro Scha-
den verursacht. Die Gewinne dieser Gruppierungen
lagen dabei bei 900 Millionen Euro, die oft sofort ins
Ausland transferiert werden. Dabei wies ein Großteil,
nämlich 511 OK-Ermittlungsverfahren, internationale
Bezüge auf; das sind fast 85 Prozent der Ermittlungsver-
fahren im Bereich Organisierter Kriminalität. Diese in-
ternationalen Bezüge erstreckten sich auf 130 Staaten.
Das verdeutlicht noch einmal die internationale Dimen-
sion, mit der wir es zu tun haben. Genau an dieser Ent-
wicklung muss sich auch unsere Sicherheitspolitik
orientieren.

Wenn wir diese Entwicklung ernst nehmen, müssen
wir erkennen, dass ein einzelner Staat allein oft nicht
mehr viel ausrichten kann. Vielmehr müssen wir gemein-
sam mit unseren Partnern wirksame Lösungen finden –
wie es auch in der Vergangenheit schon geschehen ist.
Wir müssen unsere Kooperation – davon bin ich über-
zeugt – ausbauen, um auch in Zukunft gegen den inter-
nationalen Terrorismus und grenzüberschreitende Kri-
minalität effektiv vorgehen zu können. Deutschland hat
dazu in der Vergangenheit mit zahlreichen Staaten Ab-
kommen geschlossen, die die Kooperation in Sicher-
heitsfragen verbessern und dazu beitragen, dass die
Menschen sicherer leben können. Solche internationa-
len Kooperationen gehen wir mit den vorliegenden
Abkommen auch mit Kuwait, Katar, Kroatien, Saudi-
Arabien, dem Kosovo und der Ukraine ein.

Mit den Abkommen – die weitgehend inhaltsgleich
sind – schaffen wir die Rechtsgrundlage für die Koope-
ration in allen wesentlichen Bereichen. Unter anderem
geht es um Terrorismus und Terrorismusfinanzierung,
Waffenschieberei, Drogenhandel, Geldwäsche, Falsch-

geld, Menschenhandel und Zuhälterei, Steuer- und
Zolldelikte, Urkundenfälschung – allesamt Straftaten
von erheblicher Bedeutung. Dabei bezieht sich die Zu-
sammenarbeit nicht nur auf den Austausch von Informa-
tionen über Straftaten und Netzwerkstrukturen, sondern
auch auf operative Zusammenarbeit, die Entsendung
von Verbindungsbeamten, den Austausch von Erfahrun-
gen und Forschungsergebnissen sowie Unterstützung
bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitspersonal.
Mit anderen Worten: Wir geben unseren Sicherheits-
behörden die notwendigen Instrumente an die Hand,
damit sie ihre Arbeit erfolgreich erledigen können.

Wichtig ist dabei ein weiterer Punkt: Die Zusammen-
arbeit richtet sich nach innerstaatlichem Recht. Das
heißt: Wenn wir Beamte entsenden oder Daten weiterge-
ben, dann auf Grundlage unserer Gesetze und Vorschrif-
ten. Das ist deshalb wichtig, weil in der Sicherheits-
zusammenarbeit auch die Kooperation mit Ländern ge-
boten ist, die ein anderes Rechtssystem haben. In diesem
Zusammenhang unterstreichen wir als Koalition noch
einmal mit unserem Entschließungsantrag, dass die
Abkommen klare Datenschutzklauseln sowie Bestim-
mungen zur Wahrung der Menschenrechte enthalten, die
Grundlage für jede Entscheidung zur operativen Zusam-
menarbeit oder Datenweitergabe sind.

Da weder Organisierte Kriminalität noch Terroris-
mus an Grenzen haltmachen, muss die Sicherheitszu-
sammenarbeit auch mit Drittstaaten gestärkt und fort-
entwickelt werden. Dies gilt gerade für Regionen von
herausgehobener Bedeutung wie den arabischen Raum,
den Balkan und Osteuropa. Dafür sind die vorliegenden
Abkommen eine wichtige Grundlage. Sie werden einen
maßgeblichen Beitrag zu mehr Sicherheit in allen Ver-
tragstaaten leisten. Deshalb stimmt die Union den vor-
liegenden Gesetzen zur Ratifizierung der Abkommen zu.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1716526500

Es besteht kein Zweifel: Der Kampf gegen internatio-

nalen Terrorismus und Organisierte Kriminalität kann
sich nicht nur auf die Europäische Union beschränken.
Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb der
EU ist notwendig und wesentlicher Bestandteil der deut-
schen Sicherheitspolitik.

Die hier vorliegenden Gesetzentwürfe betreffen Ab-
kommen über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe-
reich, welche von der Bundesrepublik Deutschland mit
den Regierungen des Staates Kuwait, des Staates Katar,
der Republik Kroatien, des Königreichs Saudi-Arabien,
der Republik Kosovo und dem Ministerkabinett der
Ukraine abgeschlossen wurden. Mit den Abkommen soll
die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der grenzüber-
schreitenden Organisierten Kriminalität und des Terro-
rismus verbessert werden. Dabei geht es auch um den
Austausch von Informationen und personenbezogenen
Daten. Das Abkommen mit Saudi-Arabien sieht darüber
hinaus eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Sicher-
heitstrainings vor. Auch wenn sich das auf den ersten
Blick ganz vernünftig anhört, sollte man sich die einzel-
nen Kooperationspartner doch etwas genauer an-
schauen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Gunkel


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte in diesem Zusammenhang gar keinen
Hehl daraus machen, dass vier der zur Diskussion ste-
henden Abkommen unter Beteiligung der SPD im Rah-
men der Großen Koalition geschlossen wurden, aber
– und das sage ich Ihnen hier ganz deutlich – schon da-
mals mit gravierenden Vorbehalten im Hinblick auf die
Abkommen mit Saudi-Arabien, Katar und Kuwait! Und
heute? Heute ist die politische Situation in diesen Län-
dern – auch durch die Auswirkungen des arabischen
Frühlings – eine andere. Gerade im Lichte dieser Verän-
derungen sind auch die Gesetzentwürfe der Bundesre-
gierung zu den hier vorliegenden Sicherheitsabkommen
zu sehen.

Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass der Anti-
folterausschuss der Vereinten Nationen im November
2011 Deutschland wegen der geheimdienstlichen Zu-
sammenarbeit mit Drittstaaten gerügt hat. So hat der
Ausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen
ernsthafte Bedenken geäußert, da sich die Bundesrepu-
blik nicht von der Verwendung von Informationen, wel-
che durch ausländische Geheimdienste unter Folter er-
langt wurden, distanziert hat. Zwar ist der UN-
Antifolterausschuss, dessen einzige „Waffen“ Bemerkun-
gen und Empfehlungen sind, ein zahnloser Tiger; ein
politisches Signal sendet er aber allemal. In diesem
Sinne möchte ich nun im Folgenden auf die einzelnen
Abkommen eingehen.

Gerade die Zusammenarbeit mit dem Königreich
Saudi-Arabien steht ja bereits seit längerem in der öf-
fentlichen Kritik. Auch im Innenausschuss des Deut-
schen Bundestages haben wir etwa die Ausbildungstä-
tigkeit der Bundespolizei in Saudi-Arabien diskutiert
und als SPD-Bundestagsfraktion deren sofortige Been-
digung gefordert. Es ist unverantwortlich, dass deutsche
Polizeikräfte unter dem Deckmantel der Sicherheitszu-
sammenarbeit ihren saudi-arabischen Kolleginnen und
Kollegen polizeiliche Fähigkeiten vermitteln, die etwa
der Niederschlagung der Oppositionsbewegungen die-
nen können. Dass saudi-arabische Sicherheitskräfte im-
mer wieder gewaltsam gegen Demonstrationen, vor al-
lem der schiitischen Minderheit, vorgegangen sind, und
dabei – wie etwa im März 2011 – auch gerne mal den
Nachbarstaat Bahrain unterstützen, ist hinlänglich be-
kannt. Berichte über willkürliche Festnahmen, Inhaftie-
rungen ohne Anklage sowie Folter und Misshandlungen
in saudi-arabischen Gefängnissen machen das Bild
komplett. Zudem ist Saudi-Arabien einer der wenigen
Staaten, die gegen die Resolution der UN-Generalver-
sammlung für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium
gestimmt haben. Allein die Vorstellung, dass saudi-ara-
bische Ermittler mithilfe deutscher Informationen zu
Verdächtigen geführt werden, diesen unter Folter ein
Geständnis abpressen, das dann zu einem Todesurteil
führt, ist nicht hinnehmbar. Aufgrund dieser politischen
Entwicklungen und der menschenrechtlichen Situation
im Land haben wir große Bedenken gegen das Sicher-
heitsabkommen zwischen der Bundesrepublik und dem
Königreich Saudi-Arabien.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Hinblick auf die
Staaten Katar und Kuwait. Auch in diesen beiden Län-
dern steht die Todesstrafe auf der Tagesordnung. Die

beiden Regierungen scheinen dies auch in keinster
Weise ändern zu wollen; denn auch sie reihen sich in die
unrühmliche Liste der wenigen Staaten ein, die gegen
das UN-Hinrichtungsmoratorium votiert haben. Da-
rüber hinaus sind in diesen Ländern Haft ohne Anklage
oder Gerichtsverfahren ebenso üblich wie die Ein-
schränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Einer Kooperation im Sicherheitsbereich mit den Staa-
ten Kuwait und Katar kann man daher nur mit großen
Bedenken begegnen.

Auch in der Ukraine hat sich die politische Situation
nach der Abwahl der früheren Regierungschefin Julija
Timoschenko im Jahr 2010 verschlechtert. Unter der
neuen Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch
wird Menschenrechtsfragen kein hoher Stellenwert zu-
gemessen. So wurde der ehemalige Innenminister Jurij
Luzenko ohne Anklage inhaftiert, und auch die spätere
Verurteilung von Julija Timoschenko erfolgte unter mehr
als fadenscheinigen Gründen. Diese politische Justiz ist
mit demokratischen Vorstellungen nicht vereinbar. Dies
sieht wohl auch die EU so und hält aus Protest gegen
diese politisch motivierten Verfahren ein Assoziierungs-
abkommen mit der Ukraine zurück. Das Sicherheitsab-
kommen zwischen Deutschland und der Ukraine muss
daher aufgrund der politischen Entwicklungen kritisch
gesehen werden.

Im Unterschied zu den oben genannten Verträgen
kann ich die Abkommen zwischen Deutschland und der
Republik Kosovo beziehungsweise Kroatien nur befür-
worten. Die Republik Kroatien hat ihre Hausaufgaben
gemacht und soll nun zum 1. Juli 2013 der 28. Mitglied-
staat der EU werden. Hier ist es wichtig, bereits vorab
Fachwissen und Erfahrungen auszutauschen und die
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten
und schweren Kriminalität zu intensivieren. Im Hinblick
auf die Republik Kosovo ist es nach wie vor notwendig,
die lokalen Sicherheitskräfte zu unterstützen. So ist es
auch im Interesse Deutschlands, die bestehende rechts-
staatliche Verwaltung weiter aufzubauen. Eine Koope-
ration mit diesen beiden Staaten ist erforderlich und auf-
grund der rechtsstaatlichen Bestrebungen vertretbar;
den entsprechenden Gesetzentwürfen der Bundesregie-
rung kann ich nur zustimmen.

Ich habe deutlich gemacht, dass wir bilaterale Ab-
kommen zur Bekämpfung von grenzüberschreitender
Organisierter Kriminalität und Terrorismus auch mit
Staaten außerhalb der EU brauchen. Sie sind ohne
Zweifel ein wichtiger Baustein der deutschen Sicher-
heitspolitik. Dennoch sollte man sich seine Koopera-
tionspartner etwas genauer ansehen und auch aktuelle
politische Veränderungen in diesen Staaten berücksich-
tigen. Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten in sensib-
len Bereichen wie Informations- und Datenaustausch
darf es nicht um jeden Preis geben – auch nicht im Inte-
resse der Sicherheit.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1716526600

Meine Rede zum vorigen Tagesordnungspunkt der

heutigen Plenardebatte habe ich damit geschlossen,
dass unser Ziel ist, Datenübermittlungen von Polizei

Zu Protokoll gegebene Reden





Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)


und Justiz innerhalb Europas mit einem europäischen
Datenschutzrechtsrahmen zu flankieren, der unseren
Ansprüchen an den Schutz der Grundrechte genügt.

Von einem weltweiten Rahmen dieser Art sind wir
weit entfernt. Selbst mit unseren engen Partnern, den
Vereinigten Staaten, ist es nicht immer einfach, einen ge-
meinsamen Nenner im Bereich des Datenschutzes zu fin-
den. Umso mehr gilt dies dann natürlich für Staaten, die
unseren Wert- und Rechtsvorstellungen ferner stehen.
Zugleich müssen wir aber feststellen, dass in unserer
globalisierten Welt schwere Kriminalität und Terroris-
mus die Zusammenarbeit mit anderen Staaten immer
wichtiger werden lassen. Daran ändert sich auch nichts,
wenn man zugleich feststellt, dass für einen liberalen In-
nenpolitiker derartige Abkommen nicht unbedingt ge-
eignet sind, Glücksgefühle auszulösen.

Denn es ist selbstverständlich wichtig, auch auf dem
Gebiet der Inneren Sicherheit mit Partnern in anderen
Staaten zusammenzuarbeiten. Nicht nur macht Krimina-
lität nicht an Grenzen halt, sondern es ist auch unser An-
liegen, durch diese Zusammenarbeit rechtsstaatliche
Grundlagen zu schaffen, die für beide Vertragspartner
bindend sind. Ein gemeinsamer Mindeststandard und
die gegenseitige Zusicherung, sich daran zu halten – sei
es bei der Übermittlung von Daten, sei es bei der Unter-
stützung der Polizeiausbildung oder sei es bei der Ver-
mittlung von Know-how –, dient dazu, alle Maßnahmen
mit dem Ziel, gemeinsam schwere Kriminalität und Ter-
rorismus zu bekämpfen, auf ein ordentliches rechtsstaat-
liches Fundament zu stellen. Dass weltweit betrachtet
der kleinste gemeinsame Nenner nicht das deutsche Da-
tenschutzrecht ist, erschließt sich dabei wohl von selbst –
auch wenn es natürlich, quasi in einer idealen Welt,
schön wäre, wenn der weltweite Standard dem entsprä-
che.

„Zweck von bilateralen Abkommen ist es, den Sicher-
heitsbehörden bei der Zusammenarbeit Konturen zu ver-
leihen, wie zum Beispiel Deliktfelder und den Rahmen
der Zusammenarbeit festzulegen. Es wird quasi der Bo-
den bereitet für eine gute bilaterale Zusammenarbeit.“
Das sagte der Kollege Frank Hofmann für die SPD in
der letzten Legislaturperiode zum Sicherheitsabkommen
mit Vietnam.

Er sagte weiterhin: „Die datenschutzrechtlichen Re-
gelungen dieser Abkommen sind alle … nach einem mit
dem Bundesdatenschutzbeauftragten abgestimmten Mus-
ter eingefügt. Für die Polizei werden keine neuen Befug-
nisse geschaffen. Grundlage bleibt das innerstaatliche
Recht, insbesondere die §§ 14 und 15 des BKA-Gesetzes.
Nach Abs. 7 des § 14 wird das BKA veranlasst, darauf
hinzuweisen, dass die personenbezogenen Daten nur zu
dem Zwecke genutzt werden dürfen, zu dem sie übermit-
telt worden sind. Ferner ist der beim Bundeskriminalamt
vorgesehene Löschungszeitpunkt mitzuteilen. Die Über-
mittlung personenbezogener Daten unterbleibt, wenn
Grund zu der Annahme besteht, dass mit der Übermitt-
lung gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes versto-
ßen wird. Die Übermittlung unterbleibt außerdem, wenn
durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen be-

einträchtigt werden, insbesondere wenn im Empfänger-
land ein angemessener Datenschutzstandard nicht ge-
währleistet ist.“

Interessanterweise hat die SPD jetzt aber bei den
heute zur Debatte stehenden Sicherheitsabkommen be-
hauptet, quasi datenschutzrechtliche „Bauchschmer-
zen“ zu haben. Das muss man nicht verstehen, nach die-
sen Zitaten erst recht nicht.

Zu dem eben erwähnten Sicherheitsabkommen mit
Vietnam habe ich damals für meine Fraktion gesagt:
„Aus unserer Sicht ist die internationale Zusammenar-
beit, gerade im Bereich der Inneren Sicherheit, ange-
sichts der grenzüberschreitenden Kriminalität und des
internationalen Terrorismus unabdingbar. Wir sind da-
von überzeugt, dass die Probleme in einer globalisierten
Welt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden
können. Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Bezie-
hungen mit internationalen Partnern von herausragen-
der Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Ab-
kommen dann nicht zustimmen, wenn Regelungen
enthalten sind, die wir auch auf nationaler Ebene seit je-
her ablehnen.“

Nun könnten Sie natürlich fragen, warum wir die
heute zur Beratung stehenden Abkommen nicht ableh-
nen. Die Antwort lautet: Wir haben gemeinsam mit dem
Koalitionspartner im Innenausschuss eine Entschlie-
ßung verabschiedet, die einfordert, welche Rahmenbe-
dingungen zu beachten sind.

Der Bundesregierung haben wir mit der Entschlie-
ßung aufgegeben, dafür Sorge zu tragen, dass erstens
Daten nicht übermittelt werden, wenn Menschenrechts-
verletzungen für die betroffenen Personen drohen, dass
zweitens Bedingungen für die Nutzung etwa übermittel-
ter Daten zu setzen sind, um Menschenrechtsverletzun-
gen zu verhindern, dass drittens stets strikt innerstaatli-
ches (deutsches) Recht beachtet wird, wenn Daten
übermittelt werden sollen, und dass viertens Menschen-
rechte und rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze Be-
standteil jedweder Schulungs- und Ausbildungstätigkeit
sind.

Damit haben wir flankierend zur Ratifizierung der
Abkommen noch einmal verdeutlicht, dass die notwen-
dige internationale Zusammenarbeit nicht zu einem
Schleifen rechtsstaatlicher Standards in Deutschland
führen darf. Wir werden möglicherweise nicht alle Staa-
ten auf der Welt davon überzeugen können, das deutsche
Datenschutzrecht in ihrem nationalen Recht zu imple-
mentieren. Aber wir werden jedenfalls dafür Sorge tra-
gen, dass strikte Anforderungen beachtet werden, wenn
Daten von unseren Sicherheitsbehörden an andere Län-
der übermittelt werden.

Das ist unser Beitrag zum Datenschutz und zu den
Menschenrechten in diesem Zusammenhang in dieser
Legislaturperiode. Ich kann mich nicht daran erinnern,
dass es das in den vorigen Legislaturperioden gegeben
hätte. Das zeigt: Wir nehmen unsere Aufgabe als Parla-
mentarier bei der Ratifizierung solcher Abkommen
ernst.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716526700

Die Bundesregierung beantragt die Zustimmung zu

einer Reihe von Verträgen mit anderen Staaten über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Diese beinhal-
tet umfassenden Datenaustausch. Die Linke wird diesen
Verträgen nicht zustimmen. In Ländern wie Kuwait, Ka-
tar und Saudi-Arabien werden die Menschenrechte aufs
Schwerste missachtet, wie aus Berichten von Amnesty
International und Human Rights Watch hervorgeht.

In Saudi-Arabien sind Menschenrechtsverletzungen
an der Tagesordnung. Gerichte verhängen dort grau-
same, unmenschliche und erniedrigende Strafen, die
auch ausgeführt werden, vor allem Auspeitschungen.
Zur Rettung des feudalen Regimes im Nachbarland Bah-
rain vor einer demokratischen Protestbewegung war im
Frühjahr 2011 die saudi-arabische Armee in Bahrein
einmarschiert. In Kuwait werden Kritiker des Präsiden-
ten schikaniert und verfolgt. Frauenrechte werden in al-
len diesen Ländern extrem missachtet. Migranten und
Staatenlosen werden grundlegende politische und so-
ziale Rechte wie etwa der Zugang zu Gesundheitswesen
und Bildung verweigert. Menschenrechtler und Regie-
rungskritiker werden eingeschüchtert, bedroht, einge-
sperrt und mit politisch motivierten Prozessen überzo-
gen. Mit solchen Staaten auf dem Sicherheitssektor zu
kooperieren, ohne sich zum Komplizen von Folterern zu
machen, ist eine Gratwanderung, welche die Bundesre-
gierung nicht meistert.

Die Problematik fängt schon bei der Beschreibung
der Delikte an, deretwegen die deutschen Sicherheitsbe-
hörden mit jenen der anderen Staaten kooperieren sol-
len. Sie ist nicht abgeschlossen, im Prinzip kann es also
um alles gehen, was in einem der Staaten verboten ist.
Ganz oben steht der Terrorismus. Wer ist nicht gegen
Terrorismus? Der Teufel steckt aber im Detail: Es gibt
keine Definition dieses Begriffs. Wir können davon aus-
gehen, dass diese Regime jede Freiheitsbewegung für
„terroristisch“ erklären. Zudem ist bekannt, dass in etli-
chen dieser Staaten Verhaltensweisen, die hierzulande
vollkommen legal sind, für kriminell erachtet werden.

So werden in Katar beispielsweise Personen wegen
Vergehen im Zusammenhang mit „unerlaubten sexuellen
Beziehungen“ oder Alkoholkonsum zu 30 bis 100 Peit-
schenhieben verurteilt. Dort ist eben kriminell, wer als
Schwuler oder Lesbe gleiche Rechte fordert oder einfach
nur in der Öffentlichkeit ein Bier trinken will. In der Auf-
zählung der Delikte fehlt natürlich auch nicht der Punkt
der „unerlaubten Einschleusung von Ausländern“. Das
ist ebenfalls ein weites Feld: Damit kann man berufsmä-
ßige, skrupellose Schleuser treffen, die das Schicksal
von Flüchtlingen ausbeuten und nur allzu oft deren Le-
ben gefährden, damit kann man aber auch das humani-
täre Engagement von Helfern kriminalisieren, die
Flüchtlinge retten. Dazu braucht man gar nicht die dik-
tatorischen Regime im Nahen Osten zu betrachten, auch
Italien bringt so etwas fertig. Die pauschale Kriminali-
sierung der „Einschleusung“ ist absolut unangebracht.
Das sage ich auch im Blick auf die Verträge mit der
Ukraine und Kroatien, beides Anrainerstaaten der EU.

Deswegen lehnt es die Linke auch ab, vertraglich
festzulegen, dass den ausländischen Vertragspartnern
„alle interessierenden Informationen“ zu den jeweiligen
Delikten übermittelt werden sollen. Die Sicherungsklau-
seln in den Vertragstexten sind völlig unzureichend. So
„kann“ die Bundesrepublik die Kooperation verwei-
gern, wenn ein bestimmtes Delikt in Deutschland gar
nicht strafbar ist oder wenn Grund zur Annahme be-
steht, dass der Partnerstaat mit den Informationen aus
Deutschland missbräuchlich umgeht. Aber: Die richtige
Reihenfolge wird hier umgedreht. Notwendig wäre eine
Einzelfallprüfung. Nur dann, wenn man sicherstellen
kann, dass eine Datenübermittlung angebracht und not-
wendig ist, sollte sie stattfinden. Doch stattdessen wird
hier der Datenaustausch zur Regel und die Austausch-
verweigerung zur Ausnahme. Die Beamten, die im In-
nenministerium oder im BKA Anfragen prüfen, sind im-
mer auf der sicheren Seite, wenn sie Informationen
rausrücken, aber rechtfertigungspflichtig, wenn sie das
nicht tun. Und das ist falsch; denn das bedeutet, Men-
schenrechte und Datenschutz auf den Kopf zu stellen,
und deswegen lehnt die Linke diese Abkommen ab.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716526800

Die Zusammenarbeit im Sicherheitssektor, über die

wir heute sprechen, gibt es längst, auch wenn die vorlie-
genden Verträge noch nicht ratifiziert waren. Die Ab-
kommen, die wir heute ratifizieren sollen, sind teilweise
ein halbes Jahrzehnt alt, die Mehrheit hat noch der Bun-
desinnenminister Schäuble paraphiert. Muntere Koope-
ration ohne geordnete Rechtsgrundlage – da fragt man
sich schon, was für ein Verständnis von ordnungsgemä-
ßem Vorgehen das sein soll. Und es zeigt, wie wenig
Wert diese Regierung – und auch die Große Koalition
zuvor – in manchen Fragen auf die korrekte Beteiligung
des Deutschen Bundestages legt.

Wir haben hier sogar schon heftig darüber gestritten,
im Plenum und im Innenausschuss, wie diese Zusam-
menarbeit aussieht. Bestes – oder wohl doch eher:
schlimmstes – Beispiel ist Saudi-Arabien. Da läuft seit
Jahren ein Ausbildungseinsatz der Bundespolizei, parla-
mentarisch kaum zu greifen, festgelegt in einem Vertrag
zwischen einem Rüstungskonzern und einem Regime,
das Freiheit und Menschenrechte nicht gerade hoch
schätzt. Das hat man alles ohne das heute vorliegende
Abkommen gemacht, und es kann nun keiner behaupten,
dass mit dem Abkommen nun alles besser würde; denn
das gibt der Text nicht her. Und wenn es im Interesse der
Bundesregierung gewesen wäre, den Ex-Bundespolizis-
ten Hansen – auch bekannt unter seinem Kampfnamen
Udo von Arabien – und sein fragwürdiges Ausbildungs-
projekt für saudische Polizeitruppen im Sold von EADS
durch ein Abkommen zu stoppen, dann hätte man dieses
Abkommen schon längst ratifizieren können.

Im Grunde sind solche Verträge ja der richtige Ge-
danke – die Zusammenarbeit auf einem so sensiblen
Sektor wie dem der Sicherheit bedarf der klaren rechtli-
chen Regelungen. Und, ja, wir sind beispielsweise bei
der Bekämpfung des Terrorismus auf internationale Zu-
sammenarbeit angewiesen, und diese Zusammenarbeit
muss eine feste Basis haben. Aber genau das leisten

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


diese Abkommen eben gerade nicht. Sie sind gekenn-
zeichnet von zu unklaren menschenrechtlichen und
rechtsstaatlichen Bindungen, zu diffusen Anwendungs-
bereichen und zu laxen Kontrollen und Standards.

Schon die Fundamentaldaten stimmen nicht: Men-
schenrechtliche Standards werden eher blumig und am
Rande erwähnt – und sie sind keineswegs immer ge-
wahrt, wenn Kuwait oder Saudi-Arabien nach ihrem in-
nerstaatlichen Recht verfahren. Die feste Bindung an
Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit muss man mit
der Lupe suchen, und auch dann wird man nur teilweise
fündig. Und das darf uns bei einigen der Staaten, um die
es hier geht, nicht ausreichen.

Man kann nicht annehmen, dass Katar und Kuwait,
Saudi-Arabien, aber auch die Ukraine immer Standards
anlegen, wie wir es tun – im Gegenteil, man hat genug
Belege, dass in allzu vielen Fällen eben nicht die rechts-
staatlichen Standards gelten, die wir einfordern.

Das gilt auch für die Fragen des Rechtsweges und der
Datenweitergabe. Der Austausch von Informationen ist
wichtig, das steht ja gar nicht infrage. Aber es kann
nicht sein, dass der individuelle Rechtsschutz quasi
nicht durchsetzbar ist, dass also die Kautelen und Be-
dingungen für die Datenweitergabe für die Betroffenen
überhaupt nicht durchsetzbar sind. Das ist deswegen
von so großer Bedeutung, weil das Abkommen sich ja
nicht nur auf die Strafverfolgung bezieht, sondern vor
allem auf die Gefahrenabwehr. Hier ist das Treiben von
Schindluder mit Daten und Erkenntnissen vorprogram-
miert.

Eine weitere Problematik steckt in den Katalogen der
Straftaten, zu deren Bekämpfung kooperiert werden soll;
denn es handelt sich ja eben nicht nur um Terrorismus
und um schwerste Straftaten oder Organisierte Krimina-
lität, sondern um fast die komplette Bandbreite der Kri-
minalität. Bisweilen müssen die Taten von erheblicher
Bedeutung sein, bisweilen muss es sich um schwere Kri-
minalität handeln, bisweilen werden „insbesondere“
schwere Verbrechen bekämpft, aber damit eben auch
weit weniger schwerwiegende Delikte. Eine klare Linie
ist hier nicht zu erkennen, und aus unserer Sicht ist der
Rahmen hier viel zu weit gesteckt und zu undeutlich ge-
kennzeichnet. Auch hier ist ausgerechnet das Abkommen
mit Saudi-Arabien am weitestgehenden: Danach bezieht
sich die Kooperation sogar auf Taten, die in einem Dritt-
land vorbereitet oder begangen werden.

Schließlich wird die Zusammenarbeit in der Ausbil-
dung vereinbart. Das klingt vielversprechend, da mag
man sich auch Hoffnungen machen, so rechtsstaatliche
Standards zu verbessern. Nur, die Realität ist eine
wesentlich traurigere, wie in Saudi-Arabien schon zu
besichtigen ist. Da werden reichlich Fähigkeiten vermit-
telt, die auch zur Unterdrückung der eigenen Bevölke-
rung dienen können.

Zu niedrige Standards, unklare Reichweite, zu wenig
Rechtsschutz und all das bei rechtsstaatlich unzuverläs-
sigen Partnern: diese Abkommen müssen wir ablehnen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716526900

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen mit der Regierung des Staates Kuwait.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820, den Ge-
setzentwurf auf Drucksache 17/7601 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
– Das sind die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grü-
nen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Ge-
setzentwurf ist angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des
Staates Katar auf Drucksache 17/7602 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
– Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Re-
publik Kroatien auf Drucksache 17/7603 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Das ist die
Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des Kö-
nigreichs Saudi-Arabien auf Drucksache 17/7604 anzu-
nehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
– Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen.

Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Re-
publik Kosovo auf Drucksache 17/7605 anzunehmen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltun-
gen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch-
stabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/8820, den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit dem
Ministerkabinett der Ukraine auf Drucksache 17/7606
anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
– Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltun-
gen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzent-
wurf ist angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Biobanken als Instrument von Wissenschaft
und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz
prüfen und Missbrauch genetischer Daten
und Proben wirksam verhindern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz

(Herborn), Birgitt Bender, Markus Kurth, wei-

terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz von Patientinnen und Patienten bei
der genetischen Forschung in einem Bioban-
ken-Gesetz sicherstellen

– Drucksachen 17/3868, 17/3790, 17/8873 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Feist
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1716527000

Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Hu-

manbiobanken für die Forschung“ vom Juni 2010 hat
eine Diskussion über die Weiterentwicklung der Rah-
menbedingungen für Humanbiobanken angestoßen. Hu-

manbiobanken enthalten von Menschen stammende erb-
substanzhaltige Materialien mit den dazugehörigen
Daten, welche wiederum mit personenbezogenen Anga-
ben und gesundheitsbezogenen Informationen verknüpft
sind. Diese Datenbestände werden für Zwecke der wis-
senschaftlichen Forschung gesammelt oder aufbewahrt.
Dabei handelt es sich beispielsweise um DNA-, Blut-
oder Gewebeproben, die zusammen mit Hintergrundin-
formationen der Spender verwaltet werden.

Humanbiobanken erlangen wachsende Bedeutung für
die biomedizinische Forschung. Sie eröffnen wichtige
Möglichkeiten für die Aufklärung der Ursachen von
Krankheiten und die Entwicklung von Therapien. Im
Hinblick auf die damit verbundenen ethischen und recht-
lichen Herausforderungen ist der Deutsche Ethikrat zu
dem Schluss gekommen, dass rechtlicher Reglungsbe-
darf bestehe.

Den Umgang mit genetischen Proben und Daten zu
den wesentlichen anderen Zwecken außerhalb der For-
schung, Arbeitgeber, Versicherungen etc., regelt seit Fe-
bruar 2010 das Gendiagnostikgesetz. Dort war auf ei-
nen ausdrücklichen Forschungsteil jedoch bewusst
verzichtet worden. Dies wurde im Wesentlichen damit
begründet, dass der rechtliche Rahmen, bestehend aus
Landes- und Bundesdatenschutzgesetzen, standesrecht-
lichen Bestimmungen und Ethikkommissionen sowie in-
ternationalen Empfehlungen etwa der OECD für den
Forschungsbereich ausreichend sei.

Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme
festgestellt, dass der Bereich neue Dynamik gewonnen
hat. Die Nutzung nimmt immer neue Formen an, es wer-
den immer mehr Daten mit größerem Informationsge-
halt gespeichert, eine Anonymisierung ist teilweise nicht
mehr möglich oder gewollt. Dazu kommen Trends zur
Vernetzung, Internationalisierung, Privatisierung und
Kommerzialisierung. Daher müssten neue gesetzliche
Regelungen gefunden werden. Ziel der Empfehlungen ist
es, für den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Spender
einen adäquaten Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen
und für die Forschung mehr Rechtssicherheit zu schaf-
fen. Der Deutsche Ethikrat hat daher ein Fünf-Säulen-
Modell vorgeschlagen:

Erstens die Etablierung eines Biobankgeheimnisses,
zweitens die Festlegung der zulässigen Nutzung, drittens
die Einbeziehung von Ethikkommissionen, viertens die
Qualitätssicherung beim Datenschutz und fünftens die
Transparenz der Ziele und Verfahrensweisen einer Bio-
bank.

Ich habe bereits in der ersten Beratung der vorliegen-
den Anträge dem Ethikrat ausdrücklich für seine Stellung-
nahme gedankt und möchte dies noch einmal betonen. Ne-
ben der fachlichen Expertise hat die Stellungnahme zu
einer kritischen Reflexion der bestehenden Praxis unter
Fachleuten und in der Politik geführt.

Diese Reflexion und die öffentliche Auseinanderset-
zung war nötig. Alle Beteiligten – sowohl Biomaterial-
spender als auch Forschungseinrichtungen – brauchen
Verlässlichkeit und Sicherheit. Voraussetzung für die
Nutzung von Humanbiobanken sind daher Rahmenbe-





Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)


dingungen, die es ermöglichen, das wissenschaftliche
Potenzial von Humanbiobanken auch im Rahmen ver-
netzter und internationaler Zusammenarbeit zu nutzen.
Dabei müssen gleichzeitig die Rechte des allgemeinen
Persönlichkeitsschutzes und die informationelle Selbst-
bestimmung der Spender gewährleistet werden.

Bei allen Diskussionen, die wir seitdem geführt ha-
ben, hatten alle Beteiligten stets das Ziel, einerseits den
Forschungsstandort Deutschland auf dem humanbiolo-
gischen Sektor wettbewerbsfähig zu gestalten und gleich-
zeitig die Persönlichkeitsrechte der Spender hinreichend
zu schützen.

In allen Diskussionen und persönlichen Gesprächen
wurde ein Punkt von Praktikern immer wieder betont:
Biomaterialien und Daten werden schon seit Jahrzehn-
ten für Forschungszwecke gesammelt, ohne dass in
Deutschland ein einziger Fall ernsthaften Missbrauchs
bekannt geworden wäre. Das Vertrauen der Menschen
ist hoch. Die Mehrzahl der Angesprochenen stellt ihre
Daten zur Verfügung, eine Vielzahl sogar mehrmals.
Diesen wichtigen Punkt kann ich nur bestätigen.

Die Universität Leipzig hat in meinem Wahlkreis ein
Forschungsprojekt im Kampf gegen Volkskrankheiten
begonnen, mithilfe einer Biobank. Beim Leipziger For-
schungszentrum für Zivilisationserkrankungen, LIFE,
werden mehr als 100 Ärzte und Wissenschaftler der Uni-
versität sowie der Universitätsmedizin bis 2013 rund
25 000 Leipziger klinisch und bioanalytisch untersu-
chen. Die knapp 40 Millionen Euro teure Bevölkerungs-
und Patientenstudie soll die Zusammenhänge zwischen
genetischer Anlage, Stoffwechsel und individueller Le-
bensführung in großem Umfang erforschen. Ziel ist es,
Erkenntnisse über Ursachen und die unterschiedliche
Ausprägung der wichtigsten Zivilisationserkrankungen
zu gewinnen und neue Ansätze für eine frühzeitige Prä-
vention und Therapie zu finden.

Die Resonanz ist groß. 1 200 Teilnehmer haben seit
dem Start im Februar 2011 umfangreiche Befragungen
und Untersuchungen absolviert. Bis Ende 2014 sollen es
26 000 Teilnehmer werden, und die Verantwortlichen
sind optimistisch, das zu erreichen. Das Vertrauen der
Menschen in Humanbiobanken ist also groß.

Im Gegensatz dazu besteht unter den Experten keine
Einigkeit darüber, ob eine gesetzliche Regelung von Hu-
manbiobanken nötig ist. Weder die geladenen Experten
während der Anhörung im Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung noch die Fach-
leute, die auf Einladung des Deutschen Ethikrates und
der TMF, Technologie- und Methodenplattform für die
vernetzte medizinische Forschung e.V., über den gesetz-
lichen Regelungsbedarf diskutiert haben, konnten sich
darüber einig werden. Vielmehr argumentieren die
Praktiker, dass die bestehenden Rahmenbedingungen
bereits ausreichend und international vorbildlich sind.
Der Probandenschutz wird über verschiedene Regelun-
gen im Arzneimittelgesetz, dem Datenschutzgesetz und
verschiedene Leitlinien geregelt.

Grundsätzlich gelten für alle Spender die grundge-
setzlich garantierten Grundrechte, ihre Rechte auf

Würde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie
auf Persönlichkeit und informationelle Selbstbestim-
mung. Demgegenüber besteht aber auch ein berechtig-
tes Interesse der Forscher und Forschungseinrichtun-
gen an den Materialen und den daraus zu gewinnenden
Ergebnissen, kurzum an der Freiheit der Forschung und
Berufsausübung. Diese verfassungsrechtliche Forschungs-
freiheit gibt jedem Forscher das Recht auf Abwehr jeder
staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung
und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, vorbe-
haltlich der Verfassungstreuepflicht. Diese ist vorbehalt-
los gewährleistet und kann nur durch andere geschützte
Rechtsgüter mit Verfassungsrang beschränkt werden.

Die grundsätzlichen datenschutzrechtlichen Bestim-
mungen finden sich im Bundesdatenschutzgesetz wieder.
Hier werden die Erhebung, Nutzung und Verarbeitung
geregelt. Hier einige Beispiele, die nicht abschließend
sind:

Bei Entnahme durch einen Arzt zu medizinischen
Heilzwecken fallen alle Informationen unter das Arzt-
Patienten-Verhältnis und damit unter das Standesrecht
für Ärzte und die ärztliche Schweigepflicht, eine Weiter-
nutzung durch eine Biobank ist nur nach einer ausdrück-
lichen Willenserklärung durch den Patienten möglich,
jede Entnahme rein zu Forschungszwecken ohne medizi-
nischen Heilzweck unterliegt zwingend einer Einwilli-
gung, da sie sonst eine Körperverletzung darstellt, es muss
jeweils eine datenschutzrechtliche und persönlichkeits-

(Zweck, Art und Weise der Durchführung, Gefahren, Komplikationen etc.)


§ 40 BDSG schreibt für die wissenschaftliche For-
schung vor, dass diese Daten nur für diesen Zweck ver-
wendet werden dürfen und anonymisiert werden müssen.
Bei der Verwendung zu Forschungszwecken muss sich
der Arzt von einer Ethikkommission beraten lassen. Bio-
banken unterliegen der grundsätzlichen Aufsicht eines
eigens zu bestellenden Beauftragten für Datenschutz.
Jedes Unternehmen muss die beteiligten Personen auf
das Datengeheimnis verpflichten.

Die Betreiber von Humanbiobanken werden darüber
hinaus ein glaubhaft hohes Eigeninteresse daran haben,
gesetzliche Standards und darüber hinaus allgemein ak-
zeptierte wissenschaftliche Standards und Empfehlun-
gen einzuhalten, da sie maßgeblich an dem Vertrauen
der Patienten interessiert sind. Der Erfolg der Bioban-
ken wird durch das Vertrauen der Probanden bestimmt,
da diese als aktive Partner im Forschungsprozess benö-
tigt werden.

Von vielen Experten wurden die Empfehlungen des
Ethikrates zur Festlegung der zulässigen Nutzung, zur
Einbeziehung von Ethikkommissionen, zur Qualitätssi-
cherung und Transparenz nicht nur begrüßt, sondern als
zum Teil bereits gängige Praxis beschrieben. So erklärte
Professor Dr. Wichmann vom Helmholtz-Zentrum Mün-
chen, dass die Empfehlungen des Ethikrates in vielen
Punkten den „goldenen Standard“ für Biobanken dar-
stellen. Es sei aber bereits jetzt für große bestehende und
geplante Biobanken möglich, diese Forderungen auch
ohne gesetzliche Regelung zu erfüllen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)


Herr Professor Wichmann und Expertengremien wie
die beiden lebenswissenschaftlichen Senatskommissio-
nen der Deutschen Forschungsgemeinschaften schlagen
daher vor, dass derzeit auf eine allgemeine und umfas-
sende gesetzliche Regelung in Form eines Forschungs-
Biobankgesetzes verzichtet werden sollte, da dies zu
einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand führen
würde. Der Verwaltungsmehraufwand würde insbeson-
dere kleine und projektbezogene Datensammlungen an
Universitäten überfordern. Für das Biobankgeheimnis
bestehen im Ausland keine vergleichbaren Schutzvor-
schriften, sodass hieraus negative Auswirkungen in Be-
zug auf die zunehmende Zahl internationaler Koopera-
tionen resultieren könnten.

Stattdessen sollten auf der bestehenden Rechtsgrund-
lage für große Biobanken die Einhaltung der in der
Empfehlung des Deutschen Ethikrates enthaltenen Prin-
zipien gefordert werden. Dies könnte wirkungsvoll da-
durch geschehen, dass deren Einhaltung zur Vorausset-
zung für die öffentliche Förderung von Biobanken
gemacht wird und ferner die Datenschutzbeauftragten
und Ethikkommissionen die Einhaltung der Vorgaben
fordern und überprüfen.

Ein weiteres Argument gegen eine gesetzliche Rege-
lung ist die Tatsache der Verteilung der Gesetzgebungs-
kompetenz. Besonders interessant ist in diesem Fall die
Einschätzung von Professor Dr. Jochen Taupitz, Mit-
glied des Deutschen Ethikrates und Geschäftsführender
Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und
Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und
Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim,
dass der Bund überhaupt keine Kompetenz für ein Bio-
bankgesetz hat und es damit zwangsläufig zu einer wei-
teren Rechtszersplitterung durch verschiedene Länder-
gesetze kommen muss. Diese wäre meiner Meinung nach
nicht im Interesse oder der Forschung.

Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller Argu-
mente bin ich daher zu dem Schluss gekommen, dass
eine gesetzliche Regelung von Humanbiobanken zumin-
dest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erforderlich ist
und die vorliegenden Anträge daher abzulehnen sind.

Die öffentliche Anhörung und das Expertengespräch
haben das heterogene Meinungsbild der Experten be-
züglich einer gesetzlichen Regelung aufgezeigt. Aus
meiner Sicht sind die Argumente gegen eine gesetzliche
Regelung überzeugender. Die Experten haben das hohe
Datenschutzniveau in der Praxis auf Basis der geltenden
Datenschutzgesetze von Bund und Ländern dargestellt.
Es gibt bisher keine – ich wiederhole das immer wieder,
weil es so wichtig ist – Hinweise auf Fälle missbräuchli-
cher Verwendung von Proben und Daten in Biobanken.
Insgesamt können die Empfehlungen des Ethikrates auf
der Grundlage der bestehenden allgemeinen und spe-
ziellen gesetzlichen Regelungen umgesetzt werden.

Es gibt ein hohes Interesse, das in Biobanken lie-
gende wissenschaftliche Potenzial ausschöpfen zu kön-
nen, um die medizinische Forschung voranzubringen.
Hierzu gehört es eben auch, dass die Verwendung der
Proben und Daten nicht auf spezifische Forschungsvor-

haben beschränkt bleibt und die Weitergabe im Wissen-
schaftsbereich möglich ist.

In diesem Zusammenhang ist besonders die von den
Grünen angestrebte unverzügliche Löschung der in Bio-
banken enthaltenen Daten kritisch zu betrachten. Diese
steht, wie schon der Deutsche Ethikrat in seiner Stel-
lungnahme bemerkte, oftmals in direktem Widerspruch
zur Forschungspraxis, da die zugrunde liegenden Daten
mitunter auch nach dem Erreichen des angestrebten
Forschungsziels als wichtige Informationsquelle, ge-
rade auch für die Evaluierung und Weiterführung von im
Forschungsprozess aufgetauchten Fragestellungen, von
hoher Relevanz bleiben können.

In diesem Rahmen gilt es auch zu bedenken, dass eine
zu enge Eingrenzung der Verwendung im Zuge der infor-
mierten Einwilligung der Probanden die Forschungsar-
beit erheblich beeinträchtigt. Was nutzen dem Forscher
Daten, die er nicht verwenden kann, weil sie einem zu
spezifischen Zweck zugeordnet sind? Daher ist eine qua-
lifizierte und einsichtige Information der Spender und
ein hoher Grad an Transparenz nötig, um die Interessen
sowohl der Spender als auch der Forscher zu wahren.

Professor Dr. Dabrock von der Friedrich-Alexander-
Universität Erlangen-Nürnberg hat in seiner Stellung-
nahme Folgendes zum Antrag der Grünen formuliert:
„Der Antrag scheint die eigentlichen Besonderheiten
und Ziele von Biobanken gar nicht zu berücksichtigen.“
Die erhobenen Forderungen „nach strikter Zweckbin-
dung, Anonymisierung und vor allem nach Vernichtung
der Proben und Löschung der Daten nach Erreichung
des Forschungszieles steht dem Aufbau und der Nach-
haltigkeit der Forschungsinfrastruktur von Biobanken
diametral entgegen. Wie […] dargelegt sind offene oder
erweiterbare Zweckbestimmungen, Datensammelleiden-
schaft, Pseudonymisierung und Verzicht auf Vernichtung
der Proben und Löschung der Daten Grundprinzipien
groß angelegter Biobankeninfrastrukturen. Schon die
Rede, all dies nur als Ausnahme zuzulassen, verkennt ab-
sichtlich oder unabsichtlich den Sinn dieser Forschungs-
richtungen. Wer Biobanken wirklich für sinnvoll und not-
wendig erachtet, muss mit ihren Leitideen konstruktiv
umgehen und darf sie nicht einfach umdefinieren.“

„Man kann den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
vertreten, man sollte dann aber nicht gleichzeitig be-
haupten, man halte diese Forschung für sinnvoll und not-
wendig. Eine Konsequenz dieser Haltung wäre wohl,
dass sich Deutschland nach Umsetzung dieser Forderun-
gen aus dem „Emerging Field“ Biobanken verabschie-
den müsste“, lautet das Fazit von Professor Dabrock.

Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Ich
lehne den Antrag daher ab!

Der Antrag der SPD hat eine „behutsame und ergeb-
nisoffene Debatte“ gefordert. Diese wurde meines Er-
achtens geführt. Allerdings zeigt die heterogene Mei-
nung der Experten über eine Notwendigkeit gesetzlicher
Regelungen deutlich die Gefahr, dass die Politik mit ei-
nem Gesetz möglicherweise ein funktionierendes System
der Selbstregulierung negativ beeinflussen und damit
die Forschung beeinträchtigen könnte. Dies betrifft zum

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)


einen den höheren Verwaltungsaufwand und zum ande-
ren die Erschwerung internationaler Kooperationen
deutscher Biobankenforschung.

Erste Schritte, um die seitens des Deutschen Ethikra-
tes geforderte Qualität und Transparenz von Biobanken
in Deutschland sicherzustellen, hat die Bundesregie-
rung, hat das Bundesministerium für Bildung und For-
schung bereits unternommen. Hier ist zum Beispiel die
Förderung des nationalen Biobankenregisters zu nen-
nen. Es soll Kerninformationen über alle für die medizi-
nische Forschung relevanten Biobanken in Deutschland
enthalten und dadurch einen effektiven und strukturier-
ten Zugang zu dieser Ressource gewährleisten. Darüber
hinaus wurde die Nationale Biobankenmaterial Initia-
tive gestartet, die zum Aufbau übergeordneter Strukturen
an Standorten mit bereits vorhandenen Biomaterialban-
ken führen wird.

Der Antrag der SPD ist daher ebenfalls abzulehnen.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1716527100

Vor ein paar Monaten haben in mehreren Regionen

Deutschlands Bürgerinnen und Bürger Post von einem
Netzwerk deutscher Forschungseinrichtungen bekom-
men, unter anderem der Helmholtz-Gemeinschaft. In
dem Schreiben wurden sie gebeten, an der sogenannten
Nationalen Kohorte teilzunehmen. In dieser Kohorten-
studie sollen circa 200 000 Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer medizinisch untersucht und nach Lebensge-
wohnheiten wie körperliche Aktivität, Rauchen,
Ernährung und Beruf befragt werden. Darüber hinaus
werden allen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern
Blutproben entnommen und für spätere Forschungspro-
jekte in einer zentralen Bioprobenbank gelagert. Die
beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
erhoffen sich durch diese Informationen neue Erkennt-
nisse über die Entstehung von Krankheiten. Später sol-
len aus den gewonnenen Daten und Proben Strategien
für eine bessere Vorbeugung und Behandlung der wich-
tigsten Volkskrankheiten abgeleitet werden, ein nach-
vollziehbares und gutes Ziel, das hoffentlich erreicht
werden wird. Diese Nationale Kohorte wird damit die
größte Kohorte Deutschlands sein und soll mindestens
über einen Zeitraum von 20 Jahren laufen.

Da bei dieser Kohorte Blutproben genommen und
verwahrt werden und diese bestimmten Personen anony-
misiert zugeordnet werden können, handelt es sich hier-
bei um eine sogenannte Humanbiobank – allgemein
auch als Biobank bezeichnet. Unter Biobanken werden
Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstan-
zen wie Gewebe, Blut oder DNA verstanden, die mit
personenbezogenen Daten und sonstigen Informationen
verknüpft sind und medizinischen oder wissenschaft-
lichen Zwecken dienen. Der Großteil der existierenden
Biobanken wird derzeit zu Forschungszwecken genutzt.

Würden Sie an der Nationalen Kohorte teilnehmen,
wenn Ihnen nicht klar wäre, was mit diesen sehr persön-
lichen Informationen bzw. den Blutproben genau pas-
siert? Würden Sie teilnehmen, wenn Sie nicht genau
wüssten, ob zum Beispiel Straf-verfolgungsbehörden Zu-
griff auf diese Informationen haben oder was mit den

Proben nach Ende des Projekts passiert? Genau das
sind die Themen, mit denen sich die beiden uns hier vor-
liegenden Anträge beschäftigen.

Im Mai letzten Jahres hat im Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Grund-
lage dieser Anträge eine öffentliche Anhörung statt-
gefunden. Vorangegangen waren Stellungnahmen des
Nationalen Ethikrates, des Deutschen Ethikrates und
des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deut-
schen Bundestag. Während der Anhörung wurde neben
der Bedeutung von Biobanken für die Wissenschaft auch
darüber diskutiert, ob für diese eine rechtliche Regelung
in Deutschland notwendig sei und, wenn ja, welche
Aspekte dabei reguliert werden sollten.

Am Ende wurde noch einmal deutlich, welche Bedeu-
tung Biobanken für die Wissenschaft und Medizin zur
Bekämpfung von komplexen Erkrankungen haben. Es
wurde auch darauf hingewiesen, dass die erfolgreiche
Biobankenforschung eine große freiwillige Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger benötigt. Gleichzeitig zei-
gen Umfragen, dass etwa die Hälfte der Befragten
Biobanken keine Proben und persönlichen Daten zur
Verfügung stellen wollen. Das mag am Mangel an Infor-
mationen oder der grundsätzlichen Skepsis der Deut-
schen gegenüber der Weitergabe von persönlichen
Daten liegen. Fakt bleibt aber, wie es der Sachverstän-
dige Professor Peter Dabrock für die Anhörung formu-
liert hat: Ohne freiwillige Probanden keine Biobankfor-
schung!

Aufgabe von Wissenschaft und Politik muss es also
sein, die Informationslage zu verbessern und die allge-
meine Skepsis zu verringern, aber auch Defizite oder
Unsicherheiten zu beheben. Dafür sind Transparenz und
Glaubhaftigkeit enorm wichtig. Kontraproduktiv wirken
hingegen die durch die Experten dargestellten Rege-
lungslücken bzw. Unklarheiten zum Beispiel beim Zu-
gang der Daten für Dritte. Professor Dabrock verwies in
seiner Stellungnahme darauf, dass die klassischen Prin-
zipien des Datenschutzes – die Datensparsamkeit, die
Zweckbindung und die informierte Einwilligung – auf-
grund der spezifischen Eigenschaften von Biobanken
kaum umgesetzt werden können. Daraus zieht er den
Schluss, dass gerade dann, wenn man Vertrauen in
Biobanken aufbauen will, neue rechtliche Regelungen
nicht auszuschließen sind. Genau diese Prüfung hat die
SPD-Bundestagsfraktion ebenfalls im hier vorliegenden
Antrag gefordert.

Im Ausschuss meinten die Vertreter der Bundesregie-
rung, dass die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates
nach einer spezifischen gesetzlichen Regelung von Bio-
banken bzw. zur Biobankforschung bereits heute auf
Grundlage der bestehenden gesetzlichen Regelungen
umgesetzt werden könnten. Wenn dem denn so ist, dann
frage ich Sie: Welche Empfehlungen hat denn die Bun-
desregierung seit der Veröffentlichung der Stellung-
nahme im Jahre 2010 beim Thema Biobanken umgesetzt
oder wenigstens auf den Weg gebracht? Gar keine. Inso-
fern verstehe ich nicht, warum CDU/CSU und FDP
nicht auf die vielen Expertinnen und Experten hören und

Zu Protokoll gegebene Reden





René Röspel


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(D)(B)


endlich im Sinne der Wissenschaft und der Forschung
tätig werden.

In unserem Antrag haben wir weitere Forderungen im
Bereich der Biobanken gestellt. So verlangen wir zum
Beispiel ein umfassendes Förderkonzept für den Aus-
und Aufbau von Biobanken sowie eine regelmäßige
Unterrichtung des Bundestages zur Forschungsinfra-
struktur im Bereich Biobanken. Was genau, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, ist denn
gegen diese Forderungen einzuwenden? Was hält Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, davon ab, mindestens diese Minimalforderungen
umzusetzen?

Für uns als SPD-Bundestagfraktion sind Biobanken
ein wichtiges Instrument für die Wissenschaft und For-
schung. Es besteht aber die Gefahr, dass die aktuellen
datenschutzrechtlich aufgeworfenen Fragen sowie die
ungeregelte Einbindung von Ethikkommissionen und
Verfahrensregelungen die notwendige Akzeptanz und
Teilnahme durch die Bürgerinnen und Bürger gefährdet.
Es wäre schade, wenn Projekte wie die Nationale Ko-
horte nicht die nötige Resonanz erhalten würden, nur
weil die aktuelle Bundesregierung nicht bereit ist, die
bereits auf dem Tisch liegenden Lösungen mindestens zu
prüfen, geschweige denn umzusetzen. Es wäre jetzt end-
lich an der Zeit dafür!


Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1716527200

Die Forschung an genetischen Daten und Biomate-

rialien hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt
und ist für die Wissenschaft zu einer wichtigen Res-
source geworden. Es handelt sich nicht mehr um
einzelne kleine Probensammlungen in irgendwelchen In-
stituten, die von Wissenschaftlern zu begrenzten For-
schungszwecken verwendet werden, sondern die Samm-
lungen werden immer größer, und sie werden auch
elektronisch vernetzt. Prinzipien wie Datensparsamkeit
oder Dezentralität von Datenspeicherung können im Be-
reich von Biobanken für die Forschung gar nicht auf-
rechterhalten werden, weil es darauf ankommt, mög-
lichst viele Daten zu sammeln und zu vernetzen, um neue
Erkenntnisse für den medizinischen Fortschritt zu ge-
winnen. Eine Anonymisierung der Daten und Proben ist
in diesem Zusammenhang auch nicht immer möglich
und auch nicht gewünscht!

Humanbiobanken sind zu einem unverzichtbaren
Instrument der krankheits- und patientenorientierten
Forschung geworden. Völlig zu Recht hat sich der Deut-
sche Ethikrat dieses Themas 2010 noch einmal vertie-
fend angenommen.

Ich habe großes Verständnis dafür, dass es ein gestei-
gertes Interesse gibt, das in den Biobanken liegende wis-
senschaftliche Potenzial auszuschöpfen, um die medizi-
nische Forschung voranzubringen. Ich bin mir dessen
bewusst, dass die Verwendung der Proben und Daten
nicht auf spezifische Forschungsvorhaben beschränkt
bleiben kann und die Weitergabe von Proben und Daten
im Wissenschaftsbereich möglich sein muss.

Daher muss das besondere Augenmerk bei der Be-
wertung der in Biobanken gespeicherten Informationen
auf dem Spenderschutz liegen. Ich bin mir sicher, dass
die Forschung ein vitales Eigeninteresse daran hat, ein
hohes Maß an Probandenschutz zu gewährleisten. Nur
so kann sie die Kontinuität ihrer Arbeit gewährleisten.
Die in den Anträgen von SPD und Grünen vertretene
Auffassung, dass hier zusätzliche gesetzliche Regelun-
gen erforderlich sind, kann ich nach all dem, was ich in
der Anhörung erfahren habe, nicht teilen.

Die Sachverständigenanhörung im Bundestagsaus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung am 25. Mai vergangenen Jahres zum
Thema Humanbiobanken hat mich in meiner Auffassung
bestärkt, derzeit keine gesetzgeberischen Initiativen für
die genetische Forschung und für die Forschung mit
Humanbiobanken zu starten. Seitens der Experten aus
der Biobankforschung wurde überzeugend das hohe Da-
tenschutzniveau in der Praxis auf der Basis der
geltenden Datenschutzgesetze von Bund und Ländern
dargestellt. Auch liegen keine Hinweise auf Fälle einer
missbräuchlichen Verwendung von Proben und Daten in
Biobanken vor.

Ich bin daher der Auffassung, dass die Empfehlungen
des Deutschen Ethikrates auf der Grundlage der beste-
henden allgemeinen und speziellen gesetzlichen Rege-
lungen gut umgesetzt werden. Im Übrigen wurde meine
Auffassung auch durch das vom Deutschen Ethikrat
zusammen mit der TMF – Technologie- und Methoden-
plattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V.
durchgeführte Expertengespräch mit ganz überwiegen-
der Mehrheit gestützt. Ich glaube schon, dass weitere
spezielle gesetzliche Anforderungen Hemmnisse für die
internationale Kooperationsfähigkeit deutscher Biobank-
forschung darstellen können.

Mit Bezug auf die Vertraulichkeit von Daten gegen-
über Dritten müssen wir natürlich genau hinschauen,
welches Instrumentarium uns heute bereits zur Verfü-
gung steht. Einigkeit besteht offensichtlich darüber, dass
in den zentralen Bereichen Arbeitsleben und Versiche-
rungen das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz
bereits den Schutz vor dem Zugriff durch private Dritte
hinreichend gewährleistet.

Ich kann Ihnen daher empfehlen, der Beschlussemp-
fehlung und dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zu folgen und
damit die beiden Anträge abzulehnen.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716527300

Die Sensibilität der persönlichen Daten, die in Bio-

banken gesammelt werden, erfordert einen besonderen
Schutz durch eine verbindliche gesetzliche Regelung.
Das war der Tenor der Anhörung zu Biobanken, die wir
im Ausschuss für Forschung und Technikfolgenabschät-
zung im Mai letzten Jahres durchgeführt haben.

In Biobanken werden Gewebe-, Zell- und Blutproben
gesammelt, die dann zur krankheits- wie patientenorien-
tierten klinischen Forschung zur Verfügung stehen. Im
Verlauf von Forschungsprojekten werden diese Proben





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


mit persönlichen Daten zur Krankheitsgeschichte oder
Lebensweise der Probanden verknüpft. Ein prominentes
Beispiel für eine vielschichtige Datensammlung in
Deutschland ist die Nationale Kohorte, ein auf 20 Jahre
angelegtes Forschungsprojekt eines großen Netzwerks
aus Forschungseinrichtungen und Universitäten. Im
Rahmen des Projekts wird eine Datenbank angelegt, die
für immerhin 200 000 Menschen detaillierte Angaben
über gesundheitlichen Zustand, körperliche Aktivität,
Rauchen, Ernährung und Beruf sammelt und Blutproben
aufnimmt.

Während für die Nationale Kohorte, die als Pres-
tigeobjekt der deutschen Forschung gilt, eigens ein
Datenschutz- und Qualitätskonzept entwickelt worden
ist, unterliegen bisher die an Uniklinika oder in gen-
diagnostischen Labors vorhandenen Probensammlun-
gen keiner Qualitätskontrolle und keiner Regelung des
Zugriffs auf die Daten. Das Vertrauen von Spenderinnen
und Spendern, die der Forschung ihre persönlichsten
Daten zur Verfügung stellen, kann dadurch leicht aufge-
brochen werden.

Lediglich zwei der sechs Sachverständigen erklärten
die momentane Praxis für zufriedenstellend. Darunter
war ein Vertreter des Pharmaunternehmens Bayer
Health Care, dessen Beruf es ist, eine solche Position zu
vertreten, und von dem nichts anderes zu erwarten war.
Der stets wiederkehrende Verweis auf den hervorragen-
den allgemeinen Datenschutz in Deutschland, der von
Gegnern einer Extraregelung für Biobanken angeführt
wird, macht an den Landesgrenzen halt. Dabei ist es
bekannt, dass der wissenschaftliche Austausch der in
Biobanken eingelagerten Zell- und Gewebeproben
bereits weit über Europa hinaus erfolgt.

Die Mehrheit der Sachverständigen benannte wich-
tige Regelungslücken, die geschlossen werden müssen,
und unterstützte den Vorschlag des Deutschen Ethik-
rates für ein Biobankengesetz. Vor diesem Hintergrund
ist es nicht nur enttäuschend, sondern aus meiner Sicht
auch unverantwortlich, dass die Koalitionsfraktionen
keine Konsequenzen aus der Anhörung ziehen. Sie
haben die beiden Anträge der Oppositionsfraktionen
weggestimmt ohne eine einzige Aussage dazu, ob sie die
offenen Fragen bei dem Thema weiterverfolgen wollen
bzw. eine eigene Initiative planen.

Aus der Anhörung und den Stellungnahmen vom
Ethikrat und dem Büro für Technikfolgenabschätzung
wissen wir, dass in Deutschland bis dato in der Regel
hohe Sicherheitsstandards mit Blick auf Persönlichkeits-
rechte in Biobanken vorherrschen. Allerdings haben die
ebenfalls existierenden Ausnahmen das Unabhängige
Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein,
ULD, bereits 2007 dazu veranlasst, in einem vom BMBF
geförderten Gutachten für eine gesetzliche Regelung zu
plädieren. Thilo Weichert vom ULD hat bei der An-
hörung bestätigt, dass die Sorge nach wie vor berechtigt
ist und teilweise große Defizite hinsichtlich der Pseudo-
nymisierung von Gewebeproben und Datensätzen in der
Praxis bestehen.

Gesetzliche und damit verbindliche Regelungen für
Humanbiobanken sind auch vor dem ethisch besonders

heiklen Problem der nichteinwilligungsfähigen Proban-
den notwendig. Nach heutiger Praxis vieler Biobanken
willigen Spender und Spenderinnen darin ein, zu wel-
chen Zwecken oder für welchen Zeitraum ihre Daten
verwendet werden dürfen. Doch auch Menschen, die
aufgrund von Krankheit, Behinderung oder jungem
Alter nicht über die Risiken der Abgabe von Proben auf-
geklärt werden können, müssen die Chance haben, in
Forschungs- und Therapieprojekte aufgenommen zu
werden. Spätestens für diese Fälle muss der Staat seiner
Fürsorgepflicht nachkommen und den Probandenschutz
für alle verbindlich regeln.

Ich sehe nach wie vor viele triftige Gründe für ein
Biobankengesetz und fordere die Koalitionsfraktionen
dazu auf, hier nicht untätig zu bleiben. Und ich bleibe
dabei, dass wir eine nachholende gesetzliche Regelung
genetischer Untersuchungen zu Forschungszwecken
brauchen. Denn der Bereich der Forschung ist bei der
Schaffung des Gendiagnostikgesetzes ausgespart wor-
den.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716527400

In den zurückliegenden Beratungen, insbesondere in

der Anhörung des Forschungs- und Bildungsausschus-
ses, haben wir uns ausführlich mit der Sammlung von
Bioproben in Humanbiobanken, mit Biobankforschung
und den damit verbundenen Herausforderungen be-
schäftigt. Biobanken gewinnen rasant an Bedeutung für
die Lebenswissenschaften. Auch international sind sie
ein wichtiges Thema. Umso dringlicher ist daher die
Verständigung auf hohe ethische und qualitative Stan-
dards und transparente Regelungen zum Umgang mit
dem in Humanbiobanken gesammelten Biomaterial.

Biobankforschung kann ohne Vertrauen nicht funktio-
nieren. Verlorenes Vertrauen wegen unsachgemäßen
Umgangs mit hochsensiblen Daten oder sogar deren
Missbrauch ist hingegen schwer wiederherzustellen und
mit Sicherheit mit negativen Folgen für Spendenbereit-
schaft und Akzeptanz solcher Forschung verbunden.
Spenderinnen und Spender, die Biomaterialien für For-
schungszwecke freiwillig zur Verfügung stellen oder
stellen wollen, müssen sich in jedem Fall darauf verlas-
sen können, dass hohe Standards zum Schutz ihrer per-
sönlichen, medizinischen und genetischen Daten ver-
bindlich eingehalten werden.

Eine gute Basis für Vertrauen wären übergreifende,
institutionelle Sicherungsmaßnahmen. Wir Grünen plä-
dieren daher für einen Regelungsrahmen, der die For-
schung mit diesen Proben und Daten ermöglicht, ihre
Ziele und Vorgehensweise gegenüber betroffenen Perso-
nen transparent macht und den Schutz von Daten und
Persönlichkeitsrechten in solchen Forschungsprojekten
sicherstellt.

Bislang gibt es keine spezifischen gesetzlichen Rege-
lungen über Biobankforschung oder Biobanken, die den
Herausforderungen Rechnung tragen, die sich hier stel-
len. Der Ethikrat hat 2010 vor diesem Hintergrund ein
„Fünf-Säulen-Konzept“ vorgeschlagen. Dieses enthält
als eine wesentliche Komponente die Verankerung eines

Zu Protokoll gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


Biobankengeheimnisses, das Spenderinnen und Spender
vor dem Zugriff Dritter auf Biobanken schützen soll.

Wir meinen: Es ist an der Zeit, bestehende Regelungs-
lücken zu schließen; denn Standards für den Umgang
mit Bioproben können nicht allein über die Festlegung
von Regelungen in Zuweisungsbescheiden geschehen.
Schließlich würde das nur staatlich finanzierte Bioban-
ken betreffen. Kommerzielle Biobanken werden damit
nicht erfasst. Es ist aber nicht einzusehen, warum unter-
schiedliche Maßstäbe für privatwirtschaftliche und öf-
fentlich finanzierte Biobanken gelten sollen.

Der Antrag, in dem wir uns für ein Biobankengesetz
stark machen, liegt Ihnen vor. In der Anhörung wurde
von einigen Experten auch von Regelungslücken beim
Umgang mit Bioproben von nicht einwilligungsfähigen
Menschen berichtet. Es wurde problematisiert, dass
viele der großen Arzneimittelunternehmen parallel zur
Durchführung von klinischen Studien entsprechende
Proben für hauseigene Biobanken und für vom Zweck
her nicht genau definierte medizinische Forschung nut-
zen. Weder das Gendiagnostikgesetz noch das Arznei-
mittelgesetz sind in diesen Fällen einschlägig. Auch
hierfür brauchen wir aus rechtlichen und ethischen
Gründen eindeutige Regelungen.

Abschließend ein paar Worte zur europäischen Bio-
bankforschung: Andere Länder stehen dabei vor ähnli-
chen Fragen und Herausforderungen, wie wir sie hier-
zulande diskutieren. In der Anhörung wurde gesagt,
dass eine entsprechende nationale Regelung eine Blau-
pause für eine europäische Regelung abgeben könnte.
Wir haben auch gehört, dass die internationale Vernet-
zung im Bereich der Biobankforschung zunimmt. Ich bin
überzeugt, dass Fragen hoher qualitativer und ethischer
Standards an Bedeutung gewinnen, je mehr Nationen in
internationale Forschungskooperationen involviert sind,
je intensiver solche Kooperationen werden und je mehr
sich die internationale Biobankforschung entwickelt.
Schließlich stellen uneinheitliche Verfahrensweisen
auch Hindernisse für Forschungskooperationen und den
Austausch von Ergebnissen dar. In diesem Zusammen-
hang könnte ein nationales Biobankengesetz eine wich-
tige Pilotfunktion haben.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716527500

Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
17/8873. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3868. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind alle drei
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3790. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfrak-

tion. Enthaltungen? – Sozialdemokraten. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Diplomatische Beziehungen zu Palästina auf-
werten
– Drucksache 17/8375 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.


Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1716527600

Der hier heute zu beratende Antrag der Linken ist

nicht mehr aktuell, weil der Bundesaußenminister bei
seinem Besuch im palästinensischen Ramallah am 1. Fe-
bruar 2012 bekannt gab, dass die Generaldirektion Pa-
lästinas in Berlin rückwirkend zum 1. Januar 2012 als
diplomatische Mission geführt wird. Sie untersteht dem
Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde
sowie dessen Außenministerium und übernimmt, ohne
den Status einer Botschaft in Deutschland zu haben, in
weiten Teilen die Funktionen und Aufgaben einer offi-
ziellen Gesandtschaft.

Diese Aufwertung hat aber in der Praxis einen eher
symbolischen Charakter so wie es auch in Frankreich
und Großbritannien der Fall ist, da die Entsendung ei-
nes Botschafters nur völkerrechtlich anerkannten Staa-
ten vorbehalten ist. Deutschland erkennt die palästinen-
sischen Autonomiegebiete noch nicht als eigenständigen
Staat an, da dies – auch gerade durch den Antrag auf
Mitgliedschaft Palästinas bei der UNO vom September
2011 – der Zwei-Staaten-Lösung und damit einer mögli-
chen Beendigung des Konflikts zwischen Israel und den
palästinensischen Gebieten entgegenwirken würde. Die
Gründung eines Staates Palästina kann nur ein Resultat
direkter Verhandlungen zwischen Israel und den Paläs-
tinensern sein, welches die gegenseitige Anerkennung
beider Staaten beinhaltet. Die internationale Gemein-
schaft kann hier nur als Vermittler agieren.

Die am 27. April 2012 in Kairo unterzeichnete Ver-
einbarung zwischen der im Westjordanland regierenden
Fatah und der im Gazastreifen dominierenden Hamas
stellt einen begrüßenswerten Schritt in Richtung auf Ver-
söhnung innerhalb der Führung der palästinensischen
Gebiete dar, die seit der gewaltsamen Machtübernahme
der Hamas 2007 im Gazastreifen eine tiefe Spaltung er-
fahren hat. Basis der Vereinbarung sind der seit 10. Sep-
tember 2009 vorliegende ägyptische Versöhnungsvor-
schlag, ein Protokoll der Verständigung zwischen Fatah
und Hamas und die Vorschläge von Präsident Abbas zu
einer Einheitsregierung. Aufgabe der Regierung soll die
Vorbereitung von Parlaments- und Präsidentschafts-
wahlen innerhalb eines Jahres sein, der Wiederaufbau
sowie die Zusammenführung der verschiedenen Behör-
den und Ministerien. Jedoch kommt es immer wieder zu





Joachim Hörster


(A) (C)



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Spannungen zwischen den beiden Verhandlungspart-
nern. Als Beispiel sei hier der schon erwähnte Antrag
bei der UNO auf Anerkennung und Mitgliedschaft Pa-
lästinas in den Vereinten Nationen aufgeführt. Die isla-
mistische Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, un-
terstrich ihren Widerstand gegen das Vorgehen des
Palästinenserpräsidenten Abbas. Die Palästinenser soll-
ten nicht vor den Vereinten Nationen um einen Staat bet-
teln, sondern ihr Land befreien, sagte Hamas-Führer
Ismail Hanija. Auch sind viele im Versöhnungsplan vor-
gesehene Punkte bisher noch nicht umgesetzt worden,
zum Beispiel die Vorbereitung von Parlaments- oder
Präsidentschaftswahlen. Ein Hauptstreitpunkt liegt in
dem Bekenntnis der Fatah zum Friedensprozess mit Is-
rael, den die Vertreter der Hamas grundsätzlich ableh-
nen.

Die palästinensische Führung steht aber auf der an-
deren Seite vor einem Dilemma, dass durch den israeli-
schen Siedlungsbau zunehmend Tatsachen vor Ort ge-
schaffen werden, die sich auf eine Situation hinbewegen,
die die Schaffung eines zusammenhängenden, lebensfä-
higen palästinensischen Staates zunehmend unmöglich
erscheinen lassen. Im Interesse der palästinensischen
Seite müsste an einer raschen Verhandlungslösung gear-
beitet werden. Gleichzeitig leidet das Ansehen der pa-
lästinensischen Führung bei der Bevölkerung ange-
sichts fehlender greifbarer Ergebnisse im Friedenspro-
zess unter – aus Sicht der Bevölkerung zu weitgehenden –
Zugeständnissen an Israel. Der nach dem Ende des
Siedlungsmoratoriums rasch und umfangreich wieder
aufgenommene Siedlungsbau hat die Aussichten auf
Fortsetzung der Gespräche verschlechtert – das Verhält-
nis zwischen der palästinensischen Führung und ihren
israelischen Pendants ist von tiefem gegenseitigen Miss-
trauen geprägt. Die internationale Gemeinschaft hat
den Siedlungsbau der Israelis nachhaltig kritisiert, und
auch bei den Treffen zwischen der Bundesregierung und
dem Staat Israel ist von deutscher Seite unmissverständ-
lich ein Siedlungsstopp verlangt worden.

Die palästinensische Führung hat bislang aus inhalt-
lichen Gründen ein Junktim zwischen Siedlungsbau-
stopp und Verhandlungen hergestellt: Die Einstellung
des Siedlungsbaus ist eine Forderung an Israel aus frü-
heren Abkommen, unter anderem der sogenannten
Roadmap des Nahostquartetts. Israel seinerseits fordert
die Anerkennung des Staates Israels durch die palästi-
nensische Führung, um damit die Sicherheit des Landes
gewährleisten zu können.

Seit dem letzten Besuch des Bundesaußenministers im
palästinensischen Ramallah konnte bei den Versöh-
nungsgesprächen zwischen der Fatah und der Hamas in
Katars Hauptstadt Doha ein gewisser Durchbruch auf
dem Weg zu einer palästinensischen Einheit verzeichnet
werden. In der sogenannten Doha-Deklaration haben
sich die beiden Parteien auf eine Einheitsregierung un-
ter Führung von Mahmud Abbas geeinigt, die die anste-
henden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nun
vorbereiten soll. Ob der Versöhnungsprozess weiter vo-
rankommt, hängt aber auch von der Basis der beiden
Parteien ab. Verabredete Schritte, wie die beidseitige

Freilassung inhaftierter politischer Gefangener, wurden
bisher nicht umgesetzt.

Die Liste der Vorschläge zur Lösung des Konflikts
zwischen Israel und den Palästinensern ist lang. Im Hin-
blick auf eine mögliche Lösung des Nahostkonflikts er-
scheinen aber nur zwei Abkommen bzw. Initiativen als
die praktikabelsten: zum einen die Roadmap des Nah-
ostquartetts, mit ihrer Zwei-Staaten-Lösung und zum an-
deren die im März 2002 durch den saudischen Kronprin-
zen Abdullah eingebrachte arabische Friedensinitiative,
die von einer Anerkennung Israels durch die arabischen
Staaten ausgeht, wenn es sich aus allen besetzten Gebie-
ten zurückzieht. Selbst Israel und die Palästinenser se-
hen bis heute darin eine Verhandlungsgrundlage. Seine
grob skizzierten Gedanken, wie aus der damaligen – und
auch gegenwärtigen – Spirale von Gewalt und Gegenge-
walt herauszufinden wäre, basieren auf der Grundidee,
dass Israel für die Herausgabe von besetzten Gebieten
Frieden bekommt. Das war damals nicht neu. Neu war
jedoch, dass bei einem Frieden die gesamte arabische
Welt Israel und damit die Existenz des jüdischen Staates
anerkennt. An diese Punkte gilt es weiter anzuknüpfen.

Aufgrund des Streites um die UNESCO-Mitglied-
schaft Palästinas war das aktuelle Engagement der Bun-
desregierung, die zusammen mit dem Nahostquartett
erstmals seit mehr als 15 Monaten wieder gemeinsame
Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern in Jor-
danien initiieren konnte, ein wichtiges Signal, um den
Friedensprozess wieder zu beleben und die Verhand-
lungspartner wieder an einen Tisch zu bekommen. Dass
auch diese Gespräche scheiterten, lag zum einen an der
Weigerung Israels, den von den Palästinensern gefor-
derten Baustopp jüdischer Siedlungen im besetzten
Westjordanland zu verlängern und zum anderen an der
Vorbedingung der Palästinenser, dass sie nicht verhan-
deln könnten, solange Israel Siedlungen auf Gebieten
errichtet, auf denen sie ihren eigenen Staat gründen wol-
len.

Deklarationen wie sie jedoch in dem Antrag der Lin-
ken vorhanden sind, helfen in der Sache wenig weiter
und bilden keinen Beitrag zu einer Förderung des Frie-
densprozesses. Nur durch stete Bemühungen, die Paläs-
tinenser und Israelis zu gemeinsamen Gesprächen zu
bewegen – wie es sich die Bundesregierung zur Aufgabe
gemacht hat –, können zu der von allen Seiten ge-
wünschten Zwei-Staaten-Lösung führen. Einseitige Er-
klärungen und unrealistische Forderungen helfen nicht
weiter. Daher werden wir den Antrag der Linken ableh-
nen.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1716527700

Auf Antrag der Fraktion Die Linke beschäftigen wir

uns heute mit den diplomatischen Beziehungen zu den
palästinensischen Gebieten. Wir lehnen diesen Antrag
aus folgenden Gründen ab:

Zum einen hat Deutschland bereits zum 1. Januar
dieses Jahres den Status der palästinensischen Delega-
tion in Deutschland zu einer diplomatischen Mission mit
einem Botschafter aufgewertet.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


Diese Aufwertung der palästinensischen Delegation
kündigte Außenminister Westerwelle rückwirkend bei
seinem Treffen mit dem Präsidenten der Palästinensi-
schen Autonomiebehörde, Machmud Abbas, am 1. Fe-
bruar in Ramallah an. Sie ist Teil des Bemühens der
Bundesregierung, sich auch in Zeiten der Krise in
Europa klar zum Aufbau eines palästinensischen Staates
mit lebensfähigen, effizienten Strukturen zu bekennen.
Die Aufwertung der palästinensischen Delegation ist
einerseits eine wichtige Anerkennung der in dieser Hin-
sicht bereits erfolgten Fortschritte, andererseits aber
auch eine Aufforderung an die palästinensischen Vertre-
ter, sich engagiert und aktiv in die politischen Prozesse
einzubringen.

Zum anderen lehnen wir eine von der Fraktion Die
Linke geforderte Aufwertung der deutschen Vertretung
in Ramallah zum jetzigen Zeitpunkt ab. Denn eine derar-
tige Aufwertung setzt eine Staatlichkeit Palästinas vo-
raus, die aber unserer Meinung nach derzeit noch nicht
gegeben ist.

Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen: Wir sind
und bleiben Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung, mit
einem souveränen palästinensischen Staat Seite an Seite
mit einem demokratischen Staat Israel. Denn ein eigen-
ständiger palästinensischer Staat ist auch im Interesse
Israels. Ohne einen solchen eigenständigen palästinen-
sischen Staat können die Sicherheit Israels und der Frie-
den in der Region nicht gesichert werden.

Wir sind der Meinung, dass vor dem Hintergrund der
Umwälzungen in der arabischen Welt und des seit länge-
rem stagnierenden palästinensisch-israelischen Frie-
densprozesses die Zeit jetzt reif für Fortschritte in Bezug
auf einen eigenständigen palästinensischen Staat ist.

Um signifikante Fortschritte in dieser Hinsicht zu
erreichen, ist es nötig, die laufenden direkten Gespräche
zwischen Israel und den Palästinensern unter Vermitt-
lung des Nahost-Quartetts und Jordaniens voranzutrei-
ben. Direkte Verhandlungen auf der Grundlage des
Fahrplans des Nahost-Quartetts sind der beste Weg zu
einer umfassenden und gerechten Zwei-Staaten-Lösung.

Deutschland steht bereit, um die palästinensische
Behörde bei dem Aufbau dieser staatlichen Strukturen zu
unterstützen, so zum Beispiel durch die Gründung des
deutsch-palästinensischen Lenkungsausschusses im
Jahr 2010 zur Unterstützung des palästinensischen
Regierungsprogramms zum Aufbau staatlicher Struktu-
ren oder durch finanzielle Unterstützung des Staatsauf-
baus.

So trägt Deutschland als einer der größten bilatera-
len Geber zum Aufbau von Infrastruktur, zur Verbesse-
rung der Bildung, zu Beschäftigungsprogrammen und
zum Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft in den paläs-
tinensischen Gebieten bei. In der bilateralen entwick-
lungspolitischen Zusammenarbeit liegt der Fokus auf
nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und Regierungs-
führung. Hierfür hat Deutschland allein letztes Jahr
mehr als 40 Millionen Euro veranschlagt. Ferner unter-
stützt Deutschland das UN-Hilfswerk für palästinen-
sische Flüchtlinge, UNRWA, jährlich mit mehr als

10 Millionen Euro. Auch ist Deutschland einer der
bedeutendsten Geber für die palästinensischen Gebiete
im Rahmen der Entwicklungshilfe der EU.

Darüber hinaus steht Deutschland jederzeit auf dem
diplomatischen Parkett parat, um den Parteien bei
ernsthaften Verhandlungen unter die Arme zu greifen
und diese im Rahmen der internationalen Vermittlungs-
bemühungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu füh-
ren. Die derzeitigen Anstrengungen des Nahost-Quar-
tetts sollen die Parteien bis Ende 2012 schrittweise zu
einem Abkommen verpflichten, das alle offenen Fragen,
einschließlich der Endstatusthemen „Sicherheit“ und
„Grenzen“, abschließend regelt. Diesen Bemühungen
gilt im Sinne einer dauerhaften Lösung des israelisch-
palästinensischen Konflikts unsere uneingeschränkte
Unterstützung.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1716527800

Die Ereignisse der letzten Monate haben den Kern-

konflikt des Nahen Ostens zwischen Israel und Palästina
fast in den Hintergrund treten lassen. Die israelischen
Überlegungen zu einem präventiven Luftschlag gegen
iranische Atomanlagen, die blutige Gewalt in Syrien
und die Umbrüche in vielen anderen Ländern bestimm-
ten die aktuellen Meldungen in unseren Medien mehr als
der völlig ins Stocken geratene Nahostfriedensprozess,
der diesen Namen leider schon längst nicht mehr ver-
dient.

Die einzige positive Meldung war die über die Eini-
gung zwischen Hamas und Fatah über die Bildung einer
palästinensischen Einheitsregierung. Doch auch diese
Meldung bietet Licht und Schatten: zum einen, weil die
israelische Regierung sich von Beginn an kategorisch
gegen eine solche Einheitsregierung unter Beteiligung
der Hamas stellte, zum anderen, weil seit der grundsätz-
lichen Einigung Ende April 2011 – also vor fast einem
Jahr – bis heute keine Regierung gebildet wurde. Immer-
hin konnte aber vereinbart werden, dass Mahmud Abbas
bis zu den geplanten Neuwahlen als Präsident und
Ministerpräsident in Personalunion fungieren soll.

Die Bildung einer Einheitsregierung bedarf noch
weiterer Schritte zu ihrer Umsetzung. Doch auch hier
gilt: Egal wie lange es dauert, es gibt keine Alternative
zu einer Lösung. Die demokratische Legitimation der
palästinensischen Führung bröckelt mit jedem Tag.
Neue Wahlen sind nötig, um weitere Reformen umzuset-
zen. Nur neue Wahlen könnten auch die nötige Legitima-
tion herstellen, die eine palästinensische Regierung
braucht, um wieder in ernsthafte Gespräche mit Israel
einzutreten. Wir sollten in allen Gesprächen mit Part-
nern in der Region darauf dringen, dass genau dies
geschieht: demokratische Wahlen in Gaza und im
Westjordanland, eine gemeinsame Regierung für alle
palästinensischen Gebiete und so bald wie möglich neue
Verhandlungen mit Israel.

Ich denke, es ist uns allen klar, dass die Wiederbele-
bung des Friedensprozesses nur gelingen kann, wenn
alle Teile der Regierung und der sie stützenden Parteien
der Gewalt abschwören und das Existenzrecht Israels
anerkennen. Gleichzeitig kann Israel kein Vetorecht ha-

Zu Protokoll gegebene Reden





Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)


ben, wenn möglicherweise nach solchen demokratischen
Wahlen auch Vertreter der Hamas an einer palästinensi-
schen Regierung beteiligt sein sollten.

Nun diskutieren wir heute einen Antrag der Linken,
der die Aufwertung der diplomatischen Beziehungen zu
Palästina fordert. Dies fordern wir in der SPD-Fraktion
bereits ebenfalls seit langem. Nun ist es ja so, dass die
Bundesregierung die palästinensische Generaldelega-
tion mit Wirkung vom 1. Januar zu einer palästinensi-
sche diplomatische Mission aufgewertet hat. Damit ist
eine zentrale Forderung des Antrages bereits erfüllt. Die
Aufwertung des Vertretungsbüros der Bundesrepublik
Deutschland Ramallah zu einer diplomatischen Mission
harrt dagegen noch der Umsetzung durch die Bundes-
regierung, und wir warten darauf.

Doch bedeuten Neutitulierungen von diplomatischen
Missionen für sich genommen noch nicht die Überwin-
dung des Nahostkonfliktes. Insofern schließe ich mich
zwar mit den besten Wünschen – aber auch einer gewis-
sen Skepsis – dem letzten Satz Ihres Antrages an, der da
lautet: „Der Prozess der internationalen Anerkennung
Palästinas dient dem Frieden mit den Nachbarn Israels
und damit dem Frieden im Nahen Osten.“

Vor dem Frieden in der Region steht ein erfolgreicher
innerpalästinensischer Aussöhnungsprozess, insbeson-
dere eine erfolgreiche Regierungsbildung durch Fatah
und Hamas, eine Rückkehr zu den Prinzipien der Road-
map for Peace des Nahostquartetts, deren Anerkennung
durch Israel und Palästina und vor allem eine Gewalt-
verzichtserklärung – insbesondere durch die Hamas.
Darüber hinaus ist die Festlegung einer völkerrechtlich
verbindlich vereinbarten Grenze zwischen Israel und
den palästinensischen Gebieten für eine tragende Frie-
denslösung ganz wesentlich. Diese Akzeptanz dafür,
dass diese Friedensbedingungen erfüllt werden, sind
derzeit weder auf israelischer noch auf palästinensi-
scher Seite ausreichend vorhanden. Insofern müssen wir
alle bei den Partnern vor Ort weiter beharrlich für die
Umsetzung der Roadmap werben; denn am Ende wird
ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten nur durch die
Konfliktparteien vor Ort erreichbar sein.

Zum Schluss frage ich, weshalb wir in der Vergangen-
heit nicht mehr solche vernünftigen Anträge wie diesen
von der der Linksfraktion gesehen haben? Wir können
Sie daher nur animieren, in Zukunft öfter von ideologi-
schen Prämissen der Vergangenheit abzusehen und
außenpolitisch-pragmatische Anträge wie diesen zu
formulieren und vorzulegen.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1716527900

Gerade kürzlich bei seiner letzten Reise in den Nahen

Osten hat der Bundesaußenminister die Beziehungen zu
den Palästinensern aufgewertet. Er hat die bis im letzten
Jahr unter Generaldirektion firmierende Vertretung der
Palästinenser in Berlin rückwirkend zum 1. Januar als
diplomatische Mission anerkannt. Damit hat er einen
wichtigen Schritt in der diplomatischen Aufwertung der
Palästinenser vorgenommen und ein klares politisches
Zeichen gesetzt. Dadurch hat er auch Palästinenserprä-
sident Mahmud Abbas sowie Ministerpräsident Salam

Fajjad gestärkt. So gibt Deutschland den gemäßigten
palästinensischen Kräften Rückendeckung mit dem Ziel,
möglichst bald wieder direkte Friedensverhandlungen
zwischen Israel und Palästina zu erreichen und zu einem
Erfolg zu bringen.

Die Bundesregierung hält an ihrer hinreichend be-
kannten Haltung fest, eine Zwei-Staaten-Lösung errei-
chen zu wollen. Auf diesem Weg hat Bundesaußenminis-
ter Dr. Guido Westerwelle für die Bundesregierung und
die Bundesrepublik Deutschland das nötige Signal ge-
setzt. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist überholt.
Daher wäre es folgerichtig, wenn die Kolleginnen und
Kollegen sich dazu entschließen könnten, den Antrag zu-
rückzuziehen. Andernfalls werden wir ihn im weiteren
Verfahren ablehnen.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716528000

Die Kriegsrhetorik, die wir zurzeit von israelischer

Seite bezüglich eines möglichen militärischen Angriffs
auf den Iran erleben, zeigt, wie explosiv die Situation im
Mittleren und Nahen Osten ist. Die Fraktion Die Linke
lehnt jegliche militärische Intervention gegen Iran oder
Syrien ab und fordert die Bundesregierung auf, dies auch
ganz deutlich und unmissverständlich zu formulieren.
Die Kriegsdrohungen ermöglichen der israelischen Re-
gierung, sowohl von eigenen innenpolitischen Proble-
men als auch von der menschenverachtenden Politik ge-
genüber der palästinensischen Bevölkerung abzulenken.

Die Linke setzt sich seit Jahren für eine Zweistaaten-
lösung ein, die aber immer unrealistischer wird, je mehr
Fakten die israelische Regierung in den besetzten paläs-
tinensischen Gebieten durch Landraub schafft. Deshalb
fordern wir die Bundesregierung auf, nicht länger zuzu-
sehen, wenn die israelische Militärbehörde ihre Besat-
zungspolitik jeden Tag ausweitet, palästinensische Häu-
ser und lebenswichtige Infrastruktur abreißen und
gleichzeitig neue israelische Siedlungen bauen lässt und
damit einer systematischen Vertreibung von Palästinen-
serinnen und Palästinensern Vorschub leistet.

Dazu gehört auch zum Beispiel die geplante Zerstö-
rung von Solaranlagen in den Bergen von Hebron durch
die israelische Militärbehörde. Zudem soll das interna-
tional bekannte Friedensprojekt „Tent of Nations“ der
evangelischen Palästinenserfamilie Nassar enteignet
werden. Gerade dieses Projekt zieht mit seinem Motto
„Wir weigern uns, Feinde zu sein“ jährlich viele Frei-
willige aus aller Welt an und leistet einen wichtigen Bei-
trag zur Versöhnung. Seine Zerstörung müssen Sie ver-
hindern, Herr Westerwelle! Solch ein Vorgehen der
israelischen Militärbehörde ist entwicklungsfeindlich,
zerstört gezielt Zukunftsperspektiven und produziert
weiteren Hass. Und diese Politik führt noch weiter weg
von einem kaum noch existierenden Friedensprozess im
Nahen Osten.

Genau deshalb fordern wir die Bundesregierung auf,
konkrete außenpolitische Schritte für einen ernstzuneh-
menden Friedensprozess zu unternehmen: Statt regel-
mäßig vor „einseitigen Schritten“ seitens der palästi-
nensischen Autonomiebehörde zu warnen, ist eine
Aufwertung der diplomatischen Vertretung Palästinas

Zu Protokoll gegebene Reden





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


ein überfälliges Signal für das angestrebte Ziel der zwi-
schen den Konfliktparteien auszuhandelnden Zwei-Staa-
ten-Lösung. Eine Aufwertung der diplomatischen Ver-
tretungen entspricht geltendem Völkerrecht und ist
durch internationale Verträge gedeckt.

Seit dem Jahr 2007 wurde vom Nahostquartett – USA,
EU, Russland, UNO – der Aufbau von Staatlichkeit als
zentrale Voraussetzung für eine Anerkennung des Staa-
tes Palästina gefordert, und dieser stand im Zentrum in-
ternationaler Unterstützung für die Palästinenser. Auch
die Europäische Union hat die Fortschritte der Palästi-
nenser auf dem Weg, einen eigenen Staat aufzubauen,
gewürdigt. Im Juni 2011 unterstützte die Verantwortli-
che für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, vor dem
Europaparlament den Aufbau eines palästinensischen
Staates und betonte, dass die Grundlagen, unter ande-
rem eine funktionierende Regierung, ausreichten.

Aufgrund dieser Fortschritte beim Aufbau der paläs-
tinensischen Staatlichkeit haben zahlreiche EU-Mit-

(Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Portugal, Dänemark, Griechenland, Norwegen, Großbritannien)

lästinensischen Autonomiebehörde aufgewertet, die bis-
herigen Vertretungen in den Rang von diplomatischen
Missionen erhoben und als Missionsleiter Botschafter
gesandt und anerkannt. Darüber hinaus wurden in einem
weiteren Antrag die europäischen Mitglieder des UN-
Sicherheitsrates aufgefordert, einer Vollmitgliedschaft
Palästinas in den Vereinten Nationen zuzustimmen.

Wir fordern die Bundesregierung also dazu auf, sich
den Bemühungen vieler EU-Staaten und der UNO end-
lich anzuschließen und unverzüglich mit der palästinen-
sischen Autonomiebehörde Verhandlungen über die ge-
genseitige Aufwertung des Status der Generaldelegation
Palästinas in Deutschland und der deutschen General-
delegation in Ramallah aufzunehmen, die bisherigen
diplomatischen Vertretungen beider Länder in den Stand
regulärer diplomatischer Missionen aufzuwerten und
der jetzigen Generaldelegation Palästinas in Deutsch-
land den Rang einer „Mission Palästinas“ zu verleihen,
sich dafür einzusetzen, dass der Generaldelegierte
Palästinas künftig den Rang eines „Botschafters, Leiters
der Mission Palästinas“ erhält, die Vertretung der Bun-
desrepublik Deutschland in Ramallah in eine „Diploma-
tische Mission“ sowie deren Leiter in den Rang eines
„Botschafters, Leiter der Mission“ aufzuwerten.

Dieser Schritt wäre genau jetzt ein wichtiges, hoff-
nungsvolles Zeichen für einen gerechten Frieden im
Nahen Osten.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Der Stand des israelisch-palästinensischen Konflik-
tes ist dramatisch. Nach dem Abbruch der israelisch-
palästinensischen Gespräche vom Januar dieses Jahres
finden keine Verhandlungen mehr statt. Gleichzeitig
dauert die israelische Besatzung fort, und die Besied-
lung der palästinensischen Gebiete wird fortgesetzt.
Außerdem haben die gerade in Washington stattgefunde-
nen Gespräche des israelischen Ministerpräsidenten

und vor allem seine Rede vor den Delegierten des
AIPAC-Kongresses gezeigt, dass es diesem erfolgreich
gelungen ist, den israelisch-palästinensischen Konflikt
mit dem Verweis auf das in der Tat große Problem eines
möglichen iranischen Atomwaffenprogramms völlig von
der politischen Tagesordnung zu entfernen.

Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in der
schwierigen Situation, dass eine Zwei-Staaten-Regelung
inzwischen international als die einzige mögliche
Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes
anerkannt ist, aber gleichzeitig die Chancen ihrer Reali-
sierung im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr ver-
baut werden. Es gibt im israelisch-palästinensischen
Konflikt eben keine Stagnation, sondern die asymmetri-
sche Situation wird durch die stärkere der beiden Kon-
fliktparteien bestimmt. Der Stärkere ist Israel – Israel
mit einer Regierung, die den Siedlungsbau forciert und
damit für alle sichtbar signalisiert, dass es nicht bereit
ist, die Besatzung zu beenden, Israel mit einer Gesell-
schaft, in der viele eine Regelung des Konfliktes nicht
mehr für möglich halten und die mit innenpolitischen
Konflikten befasst ist, und Israel mit einer innenpoliti-
schen Machtkonstellation, bei der jene Gruppen und
Organisationen, die die Besatzung und die damit ver-
bundenen Folgen kontinuierlich und mutig thematisie-
ren und kritisieren, parlamentarisch und außerparla-
mentarisch immer stärker unter Druck gesetzt werden.

In dieser Situation ist es richtig, nach allen mögli-
chen Wegen zu suchen, um die Zwei-Staaten-Regelung
im politischen Diskurs zu halten und zu unterstützen.
Denn welches sind die Alternativen? Eine Ein-Staaten-
Konzeption, in der Juden und Palästinenser gleich-
berechtigt sind, ist vor dem Hintergrund der Konflikt-
geschichte eine Illusion. Und ein Weiter-so wie bisher
darf es nicht geben; denn dadurch würden die Voraus-
setzungen für eine Zwei-Staaten-Regelung immer weiter
verschlechtert.

Bei dieser Suche nach Wegen zur Unterstützung des
Konzeptes der Zwei-Staaten-Regelung hat auch symbo-
lische Politik eine Rolle und Funktion, wie etwa jüngst
der Gang der palästinensischen Seite zur UNO, um dort
die Mitgliedschaft zu beantragen und damit die Aner-
kennung eines palästinensischen Staates zu fordern,
gezeigt hat. Allerdings sollte sie auch in sich stimmig
und folgerichtig sein – und das sind die in dem Antrag
der Linken erhobenen Forderungen nicht. Sie sind es
nicht, denn sie sind zum einen bereits realisiert.

Bei seinem letzten Besuch in Ramallah hat Außen-
minister Westerwelle dem palästinensischen Präsidenten
Abbas mitgeteilt, dass die Bundesregierung mit Wirkung
vom 1. Januar 2012 den Status der Generaldelegation
Palästinas zur diplomatischen Mission aufgewertet hat,
die nun von einem Botschafter geführt wird. Damit folgt
sie dem Schritt, den zahlreiche andere EU-Staaten,
darunter auch Frankreich, Großbritannien und Italien,
bereits vollzogen haben. Somit ist der eine Teil der For-
derungen des Antrages, den wir auch in der Vergangen-
heit unterstützt haben, bereits erfüllt.

Der andere Teil der Forderungen wendet sich an die
falsche Adresse. Die Bundesregierung kann weder den

Zu Protokoll gegebene Reden





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Status der deutschen Vertretung in den palästinen-
sischen Gebieten noch den Status des Vertreters bestim-
men. Das kann nur die Palästinensische Autonomie-
behörde entscheiden, und sie müsste das im Lichte der
Regelungen der Prinzipienerklärung von Oslo aus dem
Jahr 1993, auf deren Grundlage sie arbeitet, tun.

Also noch einmal: Es muss alles getan werden, um die
Zwei-Staaten-Regelung im politischen Diskurs zu halten
und weiter nachdrücklich einzufordern. Aber die Forde-
rungen müssen stimmig und umsetzbar sein, was beim
Antrag der Linken nicht der Fall ist. Ansonsten sind sie
schlicht unseriös und daher abzulehnen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716528100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/8375 an den Auswärtigen Ausschuss
vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Wider-
spruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Ver-
antwortung für die großen Herausforderun-
gen in Bildung und Wissenschaft übernehmen

– Drucksache 17/8902 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen mir hier vor.


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1716528200

In regelmäßigen Abständen lesen wir, dass beispiels-

weise ein 14-jähriger Schüler Schwierigkeiten beim
Schulwechsel von einem zum anderen Bundesland hat:
In Bremen, wo er herkommt, war man in Mathematik
noch nicht so weit im Schulstoff vorangeschritten, wie es
nun in seinem neuen Zuhause, in Bayern, der Fall ist.
Auch bei der ersten Fremdsprache oder in Deutsch wer-
den signifikante Unterschiede deutlich. Die Standards
sind nicht vergleichbar und damit letztendlich auch spä-
ter nicht die Abschlüsse. Warum ist das so?

Weil wir mittlerweile 96 verschiedene Schulformen in
Deutschland haben, weil bei jeder Wahl auf Landes-
ebene Bildung zu den Hauptthemen zählt. Nach einer
gewonnenen Wahl wird das Schulsystem daraufhin allzu
oft umgekrempelt. Hinzu kommt, dass nicht alle Länder
finanziell in der Lage sind, ausreichend in Bildung zu
investieren und junge Menschen deshalb weniger von
Bildung profitieren. Wozu führt das alles? Zu unein-
heitlichen Anforderungen, zu Verunsicherung und im
schlimmsten Falle zu eingeschränkter Mobilität von Fa-
milien.

Das alles zeigt, wie wichtig es ist, dass wir über das
Thema Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der

Bildung sprechen, aber wir müssen eine solche Zusam-
menarbeit differenziert betrachten und genauso diffe-
renziert auch darüber sprechen. Wir dürfen uns auch
nicht dem Drängen hingeben, nur ein Problem anzuge-
hen, ohne eine dauerhaft zufriedenstellende Lösung zu
finden. Wir haben erst vor sechs Jahren im Zusammen-
hang mit der Föderalismusreform II eine umfangreiche
Grundgesetzänderung vorgenommen. Die Kompetenzen
für den Bildungsbereich wurden richtigerweise auf-
grund der regionalen Unterschiede vollumfänglich den
Bundesländern zugeschrieben. Ein neuer Anlauf zur
Gestaltung des Kompetenzgefüges sollte jedoch mit dem
Ziel verbunden sein, nicht erneut Unruhe zu schaffen.
Vielmehr geht es darum, den derzeitigen Flickenteppich
der Bildungslandschaft durch einen hochwertigen
Teppich zu ersetzen – zwar einheitlich, aber doch so,
dass er jedem Bundesland gefällt.

Wenn wir über Kooperation von Bund und Ländern in
der Bildung debattieren, sind damit zwei Bereiche ge-
meint: zum einen die Kooperation im Hochschul- und
Wissenschaftsbereich, zum anderen jene im Schul-
bereich.

Für den Hochschulbereich erscheint eine Änderung
des Grundgesetzartikels 91 b mittlerweile ein gangbarer
Weg, da hier ein breiter Konsens besteht. So könnte der
Artikel in der Art geändert werden, dass der Bund die
Möglichkeit hat, nicht nur Projekte, sondern auch Ein-
richtungen zu fördern. Darüber hinaus regen wir als
Union eine Vereinbarung an, die es dem Bund ermög-
licht, sich stärker zu engagieren, und dies auch finan-
ziell. Doch jegliche Finanzierungszusage muss an ein-
deutige, transparente Konditionen geknüpft sein. Der
Bund muss die Möglichkeit haben, die Verwendung sei-
ner Finanzmittel zu überprüfen. Gleichfalls bietet dies
die Chance, gezielt zu fördern. Zuschüsse nach dem
Gießkannenprinzip sind auch hier nicht förderlich. Die
Konditionen einer Förderung müssen so ausgestaltet
werden, dass für die Länder kein Anreiz besteht, sich aus
ihrer Verantwortlichkeit zurückzuziehen. In diesem Zu-
sammenhang sollte über weitere Maßnahmen nachge-
dacht werden, die Privatwirtschaft stärker in die Finan-
zierung des Hochschulsystems einzubinden. Einige
Initiativen wurden hier bereits initiiert. Von einer För-
derkultur wie in den angelsächsischen Staaten sind wir
jedoch weit entfernt.

Nicht nur für die Hochschulen und die Wissenschaft,
sondern auch für die allgemeine Bildung an Schulen be-
steht Handlungsbedarf, sogar ein weitaus dringenderer.
Zuletzt wurden verschiedenste Ansätze öffentlich disku-
tiert. Auffällig ist, dass die Opposition vor allem darauf
drängt, den Ländern unkonditioniert mehr Geld zur Ver-
fügung zu stellen. Doch das ist der falsche Weg. Mehr
Geld allein löst keine Probleme. Die Einführung eines
Bildungszentralismus kann ebenfalls nicht unser Ziel
sein. Wichtig erscheint mir, die Kooperation zwischen
Bund, Ländern und Wissenschaft zu stärken. Ein Bil-
dungsrat oder eine Bildungskommission könnten zur
besseren Verständigung beitragen: Probleme können
vorgetragen, wissenschaftliche Erkenntnisse einge-
bracht und gemeinsam nach Lösungen gesucht werden.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


Und bitte, ich möchte das noch einmal hervorheben:
Sich der Illusion hinzugeben, mit einer Aufhebung des
Kooperationsverbots und einer starken finanziellen Be-
teiligung des Bundes wäre eine abschließende Lösung
gefunden, ist leichtgläubig.

Ein weiteres großes Problem besteht im Schulbereich.
Auch hier wird seitens der Länder über finanzielle
Probleme geklagt. Diese führen zu unterschiedlichen
Bildungsergebnissen von Bundesland zu Bundesland.
Darüber hinaus fällt es einzelnen Ländern schwer, die
Qualität der Bildung sicherzustellen und für eine ange-
messene Ausstattung zu sorgen. Es muss unser Ziel sein,
einheitliche Standards zusammen mit den Ländern und
den Experten zu definieren, die dann vor allem auch
durchgesetzt werden können. Damit würde gewährleistet
werden, dass die Bildungsabschlüsse tatsächlich gleich-
wertig wären und ein Umzug innerhalb der Bundesrepu-
blik ohne Probleme hinsichtlich des Schulunterrichts
möglich wäre.

Die Länder müssen hier die Bereitschaft zeigen, zu
kooperieren; denn auch wenn die Länder gerne auf die
Finanzmittel des Bundes zurückgreifen möchten, behar-
ren sie auf ihrer uneingeschränkten Gestaltungsmacht,
eine Sichtweise, die wohl nur in einem politischen Sys-
tem für längere Zeit sanktionsfrei durchsetzbar ist.

Als Möglichkeit erscheint hier, analog zum Wissen-
schaftsrat einen „Bildungsrat“ einzurichten, der hin-
sichtlich der Lehrerausbildung, der Lernzielkataloge
und der Abschlussprüfungen gemeinsame Standards for-
muliert. Diese Idee wird unter anderem auch von Bun-
desministerin Schavan befürwortet, die in der „Süddeut-
schen Zeitung“ äußerte: „Ich präferiere einen solchen
unabhängigen Bildungsrat, um die offenen Fragen zu be-
antworten.“ Darüber hinaus müssten dann die Länder
bereit sein, diese zu übernehmen und eine unabhängige
Evaluierung zu ermöglichen.

Zudem dürfen die Gelder, wie auch im Hochschulbe-
reich, nicht ohne Zweckbestimmung verwendet werden.
Klare Zielvereinbarungen sind hier dringend notwendig.
Dies würde ebenfalls zur Transparenz beitragen.
Gleichzeitig entsteht hier die Möglichkeit, den Wett-
bewerbsföderalismus mit Leben zu füllen. Bildungssys-
teme, die funktionieren, werden Nachahmer finden. Da-
bei verbleibt die Zuständigkeit für die strukturelle Glie-
derung bei den Ländern. Es ist also keineswegs so, dass
der Bund in die Länder hineinregieren will. Verständnis
für das Bedürfnis, über die Mittelverwendung zu ent-
scheiden, sollten dabei alle Beteiligten aufbringen.

Mit diesen Vorschlägen begeben wir uns jedoch auf
den richtigen Weg, einerseits die finanzielle Not zu lin-
dern und andererseits zur konzentrierten Verbesserung
des Systems beizutragen.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1716528300

Zur 100. bildungs- und forschungspolitischen De-

batte in dieser Legislatur hätte ich mir einen niveauvol-
leren Antrag der Grünen gewünscht, als den der ganz
offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt wurde.
Solche Papiere sollten die Grünen in ihren Mitglieder-

versammlungen im kleinen Kreis besprechen, aber nicht
im Deutschen Bundestag. Auf vier Seiten sammeln die
Grünen Einzelbeispiele, bei denen sie meinen, dass die
Kooperationskultur zwischen Bund und Ländern in
unserer Bildungsrepublik noch nicht ausgeprägt genug
ist. Die Antragsteller blicken undifferenziert in die Ver-
gangenheit und verklären rot-grüne Misswirtschaft in
den Jahren der Regierung Schröder. Immerhin haben sie
sich anscheinend vom wissenschaftlichen Dienst die ge-
genwärtige Verfassungslage erklären lassen, ziehen da-
raus aber die falschen Konsequenzen.

Die Opposition muss endlich einmal verstehen, dass
Kooperationskultur auch die Übernahme von Verant-
wortung bedeutet und nicht nur Kofinanzierung oder
gar alleinige Finanzierung durch den Bund. Reduzieren
Sie Kooperationskultur nicht immer nur auf Finanz-
ströme. Es geht vielmehr um Gestaltungswillen und
Mitverantwortung.

Zuletzt haben wir im März 2010, im Dezember 2010,
im Juni 2011 sowie zu Beginn dieses Jahres Plenarde-
batten zum kooperativen Bildungsföderalismus geführt.
Im Gegensatz zu den wiederholt wenig durchdachten
Schnellschüssen der Opposition – siehe Antrag der SPD
zur Schaffung eines Art. 104 c Grundgesetz oder den
heutigen Antrag der Grünen – hat die Union einer aus-
führlichen innerparteilichen Debatte Vorzug vor popu-
listischen Schaufensteranträgen gegeben. Nach dem
Abschluss dieser Debatte haben wir auf unserem Leipzi-
ger Parteitag einen Beschluss für eine begrenzte Grund-
gesetzänderung im Wissenschaftsbereich gefasst.

Daraufhin hat unsere Ministerin dann Anfang
Februar einen klaren Fahrplan für eine weitere Ausge-
staltung der Kooperationskultur und die damit verbun-
dene Grundgesetzänderung vorgelegt. Diesem Fahrplan
liegt die Absicht zugrunde, frühzeitig Planungssicher-
heit für unsere Hochschulen nach dem Auslaufen der
Pakte zu schaffen. Für die Wissenschaftspolitik soll eine
leichte Änderung des Art. 91 b Grundgesetz noch in die-
ser Wahlperiode sicherstellen, dass der Bund sich künf-
tig nicht mehr nur zeitlich begrenzt an der Finanzierung
von Projekten beteiligen darf, sondern auch Einrichtun-
gen dauerhaft mitfinanzieren kann.

Anders als im Wissenschaftsbereich gibt es zwischen
den beteiligten Akteuren im Bereich der Schulen keinen
Konsens zwischen A- und B-Seite. Bei uns Bundespoliti-
kern verstärkt sich der Eindruck, dass aufseiten der
SPD-geführten Länder nur über einen Finanztransfer
vom Bund hin zu den Ländern nachgedacht wird, nicht
aber über eine damit einhergehende Neuordnung der
Verantwortlichkeiten. In der Schulpolitik soll deshalb
eine Kommission unter der Mitwirkung von Kommunen,
Ländern und Bund eingerichtet werden, um so rasch wie
möglich einen Konsens zwischen den verschiedenen Ge-
bietskörperschaften zu erzielen.

Mit diesem Vorgehen reagieren wir auf die Realitäten
in unserer Bildungsrepublik, die da lauten: Einigkeit im
Wissenschaftsbereich, Uneinigkeit in der Schulpolitik.
Aufgrund dieser Fakten wäre eine Entkopplung der bei-
den Politikfelder der richtige Weg. Es wäre unverant-
wortlich, die Hochschulen aufgrund der Uneinigkeiten

Zu Protokoll gegebene Reden





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


in der Schulpolitik über ihre finanzielle Zukunft im
Unklaren zu lassen.

Die von Ministerin Schavan vorgeschlagenen Refor-
men bestätigen einmal mehr: Die Meinungsführerschaft
in Fragen des Bildungsföderalismus liegen bei Union
und FDP. Da kann die Opposition noch so oft den Kolle-
gen Steinmeier in die Debatte rufen, neue Worte wie
„Reformkonvent“ erfinden oder Begriffe wie „Koopera-
tionskultur“ von uns kopieren. Auch Sie werden eines
Tages sehen, dass wir einen Wissenschaftsrat haben und
einen Bildungsrat haben werden, wobei hoffentlich
beide bei unserem Bundespräsidenten angesiedelt sind
und somit ein Stück aus der parteipolitischen Profilie-
rung ausgeklammert werden. Im Übrigen darf ich die
Kollegen der Grünen darauf verweisen, dass die CDU
den Bildungsrat bereits auf ihrem Parteitag in Leipzig
beschlossen hat. Solche Gremien schafft man aber nicht
über Nacht. Es ist ein langer Weg, weil wir uns hier im
verfassungsrechtlichen Kernbereich der Bundesländer
befinden. Da hilft kein Alleingang des Bundestages,
nein, es bedarf kluger Verhandlungen mit dem Bundes-
rat. Mit derartigen Anträgen verprellen Sie die Bundes-
länder und gewinnen sie nicht für eine im Kern richtige
Idee.

Mir ist wichtig, zu betonen, dass mehr Engagement
des Bundes keinesfalls dazu führen darf, dass sich die
Länder aus der Hochschulfinanzierung zurückziehen.
Vielmehr wollen wir noch mehr Kooperation zwischen
Bund und Ländern und auch zwischen universitärer und
außeruniversitärer Forschung. Deshalb haben wir den
Wissenschaftsrat beauftragt, sich grundsätzliche Ge-
danken über die Zukunft unseres Wissenschaftssystems
allgemein und über die damit einhergehende Zusam-
menarbeit zwischen Bund und Ländern im Besonderen
zu machen.

Ihr Antrag geht über eine Analyse nicht hinaus.
Machen Sie doch einmal konstruktive Vorschläge, wo
der Bund unterstützen oder koordinieren kann.

Ich erkenne an und freue mich, dass nunmehr immer-
hin ein Oppositionsantrag vorliegt, der klar zwischen
der Ausgestaltung der Kooperation im Bereich der Wis-
senschaft und im Bereich der Bildung unterscheidet.
Inhaltlich kann ich hier aber auf meine Rede aus der
letzten Debatte verweisen. Leider bringt Ihr Antrag kei-
nen einzigen neuen Impuls. Auch freue ich mich, dass
Sie nun auch die Kommunen als Bildungspartner neben
Bund und Ländern erkennen – ein Fakt, den die christ-
lich-liberale Koalition bereits seit 2010 umfänglich aus-
gestaltet.

Ihr Rundumschlag bezüglich Schulabbrechern und
Fachkräftebedarf bis hin zu PISA, Ganztagsschulen,
Kieler Ifm-GEOMAR-Institut und das Bildungs- und
Teilhabepaket, was alles unsystematisch wie Gedanken-
splitter aneinandergereiht wurde, zeugt von der Kon-
zeptlosigkeit dieses Antrags. Folgerichtig lehnen wir ihn
ab. Sie sollten sich zukünftig eine andere Art der Öffent-
lichkeitsarbeit überlegen. Es wird nämlich zunehmend
ermüdend, wenn die Opposition die immer gleichen,
wenig inspirierenden Texte in neuen Anträgen hervor-
bringt.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1716528400

Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag

ist ein weiterer guter und wichtiger Beitrag in der
Debatte über den Bildungsföderalismus. Zum einen
greift er den vor kurzem eingebrachten SPD-Vorschlag
für einen neuen Art. 104 c Grundgesetz auf, zum ande-
ren macht er einen weiteren Vorschlag für eine Ände-
rung des Art. 91 b Grundgesetz. Mit diesem Antrag liegt
eine weitere Initiative für die Diskussion um eine Verfas-
sungsänderung in Bildung und Wissenschaft vor.

Aus unserer Sicht ist eines ganz besonders wichtig:
Wir alle müssen aufeinander zugehen und offen diskutie-
ren, welche Lösung im Interesse von Bildung und Wis-
senschaft die beste ist. Zu diesem Zweck haben wir im
Konsens aller Fraktionen eine Sachverständigenanhö-
rung zu diesem Thema angesetzt.

Umso bedauerlicher ist, dass die Regierungskoalition
offenkundig bereits ihren Blick verengt hat und einzig
und allein auf die Erweiterung der bestehenden Koope-
rationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich
der Wissenschaft abhebt. Während SPD, Grüne und
auch Linke den Bereich Bildung mit in ihre Überlegun-
gen einbeziehen, diese Perspektive auch von verschiede-
nen und unterschiedlich regierten Ländern wie Schles-
wig-Holstein und Hamburg geteilt wird, versteift sich
die Koalition auf Vorschlag von Bundesministerin
Schavan auf die Förderung von Einrichtungen der Wis-
senschaft mit überregionaler Bedeutung. Nach der
Methode „Friss Vogel oder stirb“ wird eine Teilmaß-
nahme, für die es zweifelsohne viel Zustimmung auch in
unserer Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre und
machbare Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkom-
men außer Acht gelassen, dass die Fixierung auf eine
solche Teillösung möglicherweise die Gesamtbalance
zerstören und alles zum Scheitern bringen kann.

Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemeinsamen
Nenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir dann“ sieht
nur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges, realpoliti-
sches Vorgehen aus. In Wahrheit wäre es der Kotau vor
dem Starrsinn einiger Länder, insbesondere vor Bayern
und dort vor der CSU. Wer sich nur um die Wissenschaft
kümmert, hilft dort, wo Hilfe bereits geleistet wird. Denn
für diesen Bereich hatte die SPD-Fraktion bereits Mög-
lichkeiten der Kooperation durchgesetzt. Auf dieser
Basis werden etwa die Exzellenzinitiative und der Hoch-
schulpakt realisiert.

Der jetzt in Rede stehende Änderungsvorschlag der
schwarz-gelben Koalition würde zwar darüber hinaus
die institutionelle Förderung von Einrichtungen der
Wissenschaft mit überregionaler Bedeutung ermög-
lichen. Gegen diese zusätzliche Handlungsoption ist so-
weit nichts einzuwenden. Aber es geht doch wohl nicht
an, dass im Endeffekt einige wenige Einrichtungen vom
Bund finanziert und Forscherstellen geschaffen werden,
während nicht einmal darüber nachgedacht wird, wie
gemeinsam von Bund und Ländern nur eine einzige
zusätzliche Ganztagsschule eingerichtet oder mehr
Pädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt wer-
den können. Auch die Bildung an den Hochschulen, die
Lehre, würde außen vor gelassen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


Mehr Kooperation ist für Wissenschaft und Hoch-
schule sinnvoll. Für die Bildung, für die Lehre an den
Hochschulen und insbesondere für die Schulen ist sie
jedoch vordringlich nötig: Wir müssen endlich über-
haupt damit anfangen! Ich kenne kein Bundesland, das
das Ganztagsschulprogramm der Regierung Schröder
heute noch für schlecht hält. Die einzige – und berech-
tigte – Kritik ist, dass es auf bauliche Investitionen
beschränkt war. Doch anders ging es damals nicht.
Darum muss ein ganz neuer Kooperationsartikel ins
Grundgesetz, der die Bildung in ihrer gesamten Breite
im Blick behält. Die von der Koalition geforderte Teil-
lösung aber würde eine solche Verbesserung für die Bil-
dung auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben.

Darum: Dank an die Grünen für diesen hilfreichen
Beitrag zur Debatte.

An die Regierungsfraktionen richten wir den Appell,
sich vom Koalitionsausschuss zu emanzipieren und den
Blickwinkel offen zu halten auch für die Bildung.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1716528500

Um es gleich vorweg zu sagen: Der von Bündnis 90/

Die Grünen eingebrachte Antrag unter der Überschrift
„Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwor-
tung für die großen Herausforderungen in Bildung und
Wissenschaft übernehmen“ ist ein sehr gründlicher, ein
weiterführender und damit hilfreicher Antrag. Er ist da-
mit auch zugleich das Gegenteil zu den mehr als windi-
gen, kleinmütigen Beschlüssen, die kürzlich vom Koali-
tionsausschuss der CDU/CSU und FDP gefasst worden
sind.

Diese Beschlüsse des CDU/CSU-FDP-Koalitions-
ausschusses sind dann ja auch in der interessierten Öf-
fentlichkeit, ganz entgegen den Fanfarenrufen, die aus
einschlägigen Quellen diesen Vorstoß als vermeintlich
großen Durchbruch kennzeichnen wollten, harsch kriti-
siert worden. Es leuchtet den Menschen in Deutschland
eben nicht ein, weshalb Bund und Länder gemeinsam
Geld bereitstellen dürfen, wenn es um Eliteunis geht,
während dieses bei den Schulen per Grundgesetz strikt
untersagt werden soll. Es leuchtet den Menschen nicht
ein, weshalb Deutschland Schulen im Ausland durch
bundespolitische Entscheidungen und Mittel fördern
darf, während dies im eigenen Land strikt verboten ist.
Es leuchtet den Menschen schlechterdings auch nicht
ein, weshalb es an den Hochschulen zum Glück eine
wachsende Zahl von Studierenden gibt, der Bund die
große Masse der Studierenden und der Hochschulen
aber nicht in nachhaltiger Weise und dauerhaft unter-
stützen darf.

Und wenn der konservativ-liberalen Seite die elemen-
taren Einsichten und Wünsche der vielen Betroffenen in
den Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftseinrich-
tungen in Deutschland nicht wichtig sind, gibt es ja auch
ausreichend Expertise von Wissenschaftlern und hoch-
rangigen Experten, wie dem von der Bundesregierung
selbst eingesetzten EFI-Gutachter-Kreis, der Experten-
kommission zu Forschung, Innovation und technischer
Leistungsfähigkeit Deutschlands, oder wie dem Präsi-
denten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die alle

zusammen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass
exzellente Wissenschaft und Forschung eben auch das
Fundament exzellenter Bildung in der Breite – von den
vorschulischen bis zu den schulischen und den hoch-
schulischen Einrichtungen – brauchen und hierfür keine
Kooperationsverbote existieren dürfen.

Dass diese Zusammenhänge seinerzeit in der Födera-
lismuskommission von 2006, die an dieser Stelle keines-
falls sachkundig und ruhmreich gearbeitet hat, nicht ge-
sehen wurden, muss ja nicht heißen, dass einmal
gemachte Fehler auf Dauer weitergeführt werden. Nicht
umsonst hat deshalb auch der SPD-Fraktionsvorsit-
zende Frank-Walter Steinmeier kürzlich in mutiger Klar-
heit davon gesprochen, welchen „Unsinn“ damals das
deutsche Parlament aus der Zwangsgemeinschaft einer
großen Koalition heraus und der ungenügenden Bewer-
tung des Kooperationsschwerpunktes Bildung beschlie-
ßen musste. Wir alle wissen, dass der unselige Roland
Koch seinerzeit als Reflex gegen das Ganztagsschulpro-
gramm von Gerhard Schröder und Edelgard Bulmahn
das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in Bil-
dungsfragen brutalstmöglich durchsetzen musste, wozu
ihm Stoiber als Sekundant dann die Hand gereicht hat.
Das war keinesfalls eine kluge, vorausschauende und
sachdienliche Politik. Auch die jetzige Bildungsministe-
rin, Frau Schavan, stand hier einmal mehr auf der fal-
schen Seite und musste sich erst langsam zu einer aufge-
klärteren, kooperationsfähigeren Position hinarbeiten.

Wie widersinnig die damalige Regelung war, sollte
sich dann ja auch schnell in der Praxis erweisen. Nicht
nur, dass die Bildungspolitiker der SPD noch in der Fö-
deralismusreform 2006 durch penetrante Intervention in
letzter Minute erreichen konnten, dass die Förderung
von Vorhaben der Wissenschaft ermöglicht wurde, wo-
von jetzt alle nachträglich noch immer zehren bis in die
Hochschulsonderprogramme I und II und den Pakt für
Lehre etc. hinein. Auch an anderen Stellen sollte die
Praxis ein schlecht gemachtes Grundgesetz an dieser
Stelle schnell widerlegen. Im Antrag der Grünen ist in
wirklich sehr sachkundiger, minutiöser Weise nachge-
zeichnet, wie diese Reformen des Grundgesetzes sich in
der Praxis sehr schnell als eine Fehlentscheidung he-
rausgestellt haben, die mit gutem Willen doch jetzt nicht
noch auf Dauer verlängert werden sollte. Oder war es
ein Ruhmesblatt der Verfassungsgesetzgebung, im lau-
fenden Konjunkturprogramm II noch schnell das Grund-
gesetz im Art. 104 anpassen zu müssen, um nicht jeweils
am einzelnen Projekt nachweisen zu müssen, ob es denn
nun an einer Schule vorrangig um energetische Sanie-
rung oder Verbesserung der schulischen Lernbedingun-
gen geht? Und wem kann man in Wirklichkeit erklären,
dass der Bund mit den Ländern zusammen die Bildung
dann fördern darf, wenn die Deutsche Bank zusammen-
brechen sollte oder ein Tsunami in der Nordsee aus-
bricht, sprich, wenn es eine außergewöhnliche Notsitua-
tion oder Naturkatastrophe geben sollte, aber der Bund
eben dieses unter normalen Umständen nicht tun darf,
obwohl Bildung doch als die Zentralaufgabe für die Zu-
kunft, als die große Verpflichtung der hoffentlich ernst-
gemeinten Bildungsrepublik Deutschland anzusehen ist?
Auch die Verrenkungen beim Bildungs- und Teilhabepa-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


ket stehen für diese Auswirkungen eines schlecht ge-
machten Grundgesetzes. Und dass Initiativen wie der
Qualitätspakt Lehre oder die Exzellenzinitiative Lehrer-
bildung, die von der Bundesregierung aktuell ins Ge-
spräch gebracht worden sind, sich letztlich nur über
eine Grauzone vor dem Fallbeil der Grundgesetzein-
schränkungen retten können, kann doch auch nicht die
Antwort auf die Zukunft sein. Gleichzeitig wissen wir
alle, dass die Verbesserung von Bildung, egal in wel-
chem deutschen Landesteil, nicht nur das Menschen-
recht auf Bildung einlösen hilft, sondern auch das Fun-
dament für ökonomische und soziale Wohlfahrt in
Deutschland darstellt. Dieses Fundament kann aber
nicht abhängig gemacht werden von der deutlicher wer-
denden Finanzschwäche der Länder einerseits, der zu-
nehmenden Disparität in der Finanzierung der Länder
andererseits und einer Konzentration des Bundes auf
ausschließlich die Spitze und eben nicht das Fundament
des Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems in
Deutschland.

Gegen alle bildungspolitische Vernunft will die
schwarz-gelbe Koalition am Kooperationsverbot im Bil-
dungsbereich festhalten. Anders als der Vorschlag der
SPD – und jetzt auch von Bündnis 90/Die Grünen –, ei-
nen neuen Bildungsartikel im Grundgesetz einzufügen,
will die Koalition im Grundgesetz nur im Hochschulbe-
reich eine institutionelle und zugleich höchst selektive
Bundesförderung zulassen, und zwar nicht für alle
Hochschulen, sondern nur für solche mit überregionaler
Bedeutung.

Das hat aber mit einer Aufhebung des Kooperations-
verbotes nichts zu tun. Am Ende bedeutet es vor allen
Dingen, dass insbesondere die Schulen trotz deren offen-
kundigen Bau- und Personalbedarfs vor Ort weiter ab-
gehängt werden.

Mit dem Schulbereich bleibt damit nach dem Willen
der Koalition weiterhin das für erfolgreiche Bildungs-
biografien entscheidende und mit Abstand die meisten
Menschen direkt betreffende Bildungsfeld außen vor.
Ohne moderne Schulen sind ein leistungsfähiges und
nachhaltiges Bildungssystem ebenso wenig denkbar wie
weitere Fortschritte bei der Chancengleichheit für alle
Kinder und Jugendlichen.

Angesichts der steigenden Anforderungen an eine
wirksame individuelle Förderung, dem weiteren Ganz-
tagsschulausbau oder auch der inklusiven Bildung ist
dies politisch höchst fahrlässig. Hinzu kommt ein erheb-
licher baulicher Modernisierungsstau an den Schulen
sowie die in den Regionen sehr unterschiedlichen Aus-
wirkungen etwa des demografischen Wandels. Nach dem
Willen der Koalition sollen dem Bund hier weiterhin die
Hände gebunden bleiben. Der Vorschlag der SPD für ei-
nen neuen Art. 104 c wird den Anforderungen gerecht,
indem er das Kooperationsverbot für alle Bereiche auf-
hebt.

Offenbar ist die Begrenzung auf wenige Spitzenhoch-
schulen dem Widerstand der B-Länder geschuldet. Die
Schulen sollen offenbar von der Union nach der Verfas-
sungsreform 2006 ein zweites Mal für den parteiinternen
Kompromiss geopfert werden. Den Schaden werden die

Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern und die Lehrkräfte
an den Schulen in Deutschland haben.

Dabei hatte es schon hoffnungsvolle Zeichen nicht
nur bei der FDP, sondern auch bei der CDU gegeben;
denn nimmt man den letzten Parteitagsbeschluss der
CDU zu ihrem bildungspolitischen Zukunftsprogramm,
so ist dort ja nicht umsonst eine bessere Kooperation
von Bund und Ländern explizit im Schulkapitel mit an-
gesprochen worden. Es bleibt rätselhaft, aus welchen
Gründen die CDU von diesen Einsichten und neuen Per-
spektiven abgerückt ist. Oder sollte hier der bayerische
CSU-Minister Spaenle das Wort für die CDU gleich mit
geführt haben, wenn er kürzlich im Bundestag trotzig
und uneinsichtig erklärte, das Kooperationsverbot sei
eben kein Fehler gewesen, sondern ausdrücklich darauf
bestand, dass dies eine wegweisende, gute Entscheidung
gewesen sei? Und wie stellen sich eigentlich CDU und
FDP zu der Initiative der CDU/FDP-Landesregierung
von Schleswig-Holstein, die erst kürzlich einen weitrei-
chenden Antrag in den Bundestag eingebracht hat, der
sicherlich als höchst konstruktiver Vorschlag zur Aufhe-
bung des unseligen Kooperationsverbotes anzusehen
ist?

Gute Einsichten sind also an vielen Stellen gewach-
sen. Wir als Sozialdemokraten gehen davon aus, dass
diese Einsichten auch noch weiter wachsen können und
werden. Es besteht jedenfalls kein Grund, sich ange-
sichts eines fundamentalen Fehlers, wie er seinerzeit in
der Föderalismusreform 2006 beschlossen worden ist,
jetzt vorschnell auf den kleinsten Nenner einzulassen, um
mit einer Als-ob-Reform wieder „halbe Sachen“ zu ma-
chen, wie man an der Küste sagen würde. Im Gegenteil:
Alle Kräfte sind jetzt aufgefordert, ohne dogmatische
Vorfestlegung in einen offenen Diskurs einzutreten, was
in der modernen Bildungs- und Wissenschaftsgesell-
schaft der Zukunft notwendig und möglich ist und welche
Hilfestellung die Verfassung hierzu liefern sollte; denn
eine Verfassung, zumal wenn es eine gute Verfassung ist,
ermöglicht politische Gestaltung und schränkt sie nicht
ein. Sie schafft einen echten Zukunftsrahmen und verlän-
gert nicht Fehler der Vergangenheit. Sie bindet die posi-
tiven Energien von Bund und Ländern zusammen und
untersagt nicht Kooperation und wechselseitige Unter-
stützung. Sie respektiert besondere Verantwortlichkeiten,
aber lässt die verantwortlichen Instanzen nicht in ihren
Aktionsmöglichkeiten allein.

Bei den gemeinsamen Beratungen, die jetzt anstehen,
kann es deshalb auch nicht um ein Diktat des kleinsten
gemeinsamen Nenners gehen. Es geht auch nicht an,
dass die Regierung von der Opposition erwartet, dass
diese einseitig-politischen Konzepte des Regierungsla-
gers, die sich vor allen Dingen auf Eliteförderung und
die Unterstützung weniger Spitzeninstitute setzen, den
Verfassungsweg bahnen und die Regierung gleichzeitig
vollkommen undemokratisch den Weg versperrt für
mögliche andere Konzepte, wie sie alternativ dazu auch
vertreten werden können und dürfen, nämlich Bildung
insgesamt in Deutschland zu stärken. Deshalb ist eine
Verfassungsreform auch kein Schachspiel, bei dem es
am Ende darum geht, welche Seite die jeweils andere
Seite matt setzt; denn dieses kann bestenfalls zu einem

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


Patt führen. Ein Reformkonvent für Bildung und Wissen-
schaft, wie er von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschla-
gen wird, ist sicherlich nicht die schlechteste Idee. Als
Bildungspolitiker können wir zusammen mit unseren
Kollegen aus anderen Fachausschüssen über eine sehr
intensive Anhörung im Bildungsausschuss, wie sie für
den 19. März vorbereitet ist, hierzu schon einen Bau-
stein setzen. Nur, das muss auch der Regierung klar
sein: Verfassungen werden auch deshalb nur mit Zwei-
drittelmehrheit geändert, damit es einseitige Diktate
nicht geben kann.


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1716528600

Derzeit liegen dem Bundesrat zwei Anträge vor.

Beide Initiativen verfolgen das Ziel, die sehr engen
Grenzen in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern
im Bildungsbereich zu weiten und die Förderung unse-
res Bildungssystems außerhalb des starren Korsetts,
welches uns seit dem Jahr 2006 einschnürt, zu ermög-
lichen.

Die Länder Schleswig-Holstein und Hamburg haben
dabei sehr unterschiedliche Wege gewählt, um das eng-
maschige Geflecht der verfassungsrechtlichen Vorgaben
aufzudröseln. Während die SPD-geführte Hamburger
Regierung einen wenig erfolgversprechenden, dafür
aber Aufmerksamkeit heischenden unterkomplexen
Ansatz des „Alles-wird-möglich-und-der-Bund-zahlt“
verfolgt, hat die christlich-liberale Regierung in Kiel
einen etwas differenzierteren, möglicherweise auch
intellektuell anspruchsvolleren Antrag eingebracht.
Dieser wird sehr wahrscheinlich die Grundlage dafür
bilden, um den so dringend benötigten Kompromiss der
bislang unvereinbaren Haltungen zu schmieden.

Während nun A- und B-Länder im Bundesrat um
besagten Kompromiss ringen, gibt sich der grüne Ober-
lehrer Kretschmann als in „Wolle gefärbter Föderalist“
wenig engagiert. Eine eigene Positionierung Baden-
Württembergs ist jedenfalls ausgeblieben. Und so
obliegt es den Grünen im Bundestag, dieses landessei-
tige Versagen mit einem – zugegeben wenig einfallsrei-
chen – Papierchen vergessen zu machen. Während die
Darstellung des Status quo und die Ausführungen zur
Genese des sogenannten Kooperationsverbotes durch-
aus als gelungen bezeichnet werden können, erscheinen
dem geneigten Leser die in puddingweicher Handschrift
formulierten Forderungen als überaus peinlich. Denn
dort, wo es tatsächlich einmal etwas konkreter wird,
kann man sich nicht des Gefühls entziehen: „Das habe
ich doch schon einmal außerhalb der grünen Gedanken-
werkstatt gelesen – Copy and Paste sei Dank!“

Die FDP-Bundestagsfraktion hat der Einführung des
Kooperationsverbotes seinerzeit wohlweislich ihre
Zustimmung verweigert. Gesamtstaatliche Herausforde-
rungen mit überregionaler Wirkung erfordern gesamt-
staatliches Handeln. Das gilt besonders für den Wissen-
schaftsbereich, in dem es nicht nur auf eine
überregionale Sichtbarkeit, sondern auf internationale
Sichtbarkeit und Exzellenz ankommt. Das ist eine Auf-
gabe, bei der man den Bund nicht ausklammern darf.
Wir benötigen einen Handlungsrahmen, der Möglichkei-

ten schafft und nicht zerstört. Wir müssen Zusammenar-
beit und einfache Lösungen befördern und die rechtlich
erzwungenen Umgehungsstraßen obsolet werden lassen.
Es geht um den effektiven Mitteleinsatz und die Maxi-
mierung von Potenzial im Wissenschaftsbereich, nicht
der Transaktionskosten. Deswegen können wir die
gegenwärtige Verfassungslage nicht einfach hinnehmen.
Wir müssen die Veränderung suchen und neue Wege
beschreiten. Beim Status quo kann es jedenfalls nicht
bleiben.

Aktuell erlaubt das Verfassungsrecht dem Bund nur
ein eingeschränktes Engagement im Hochschulbereich.
Und das ist die Förderung von gemeinschaftlichen Pro-
jekten im Rahmen des Art. 91 b Grundgesetz. Davon
wird rege Gebrauch gemacht: Exzellenzinitiative, Hoch-
schulpakt und Qualitätspakt Lehre. Gleichzeitig gene-
riert der Projektcharakter, die zeitliche Beschränkung
der Vorhaben, neue Problemlagen. Wissenschaft und
Forschung brauchen Nachhaltigkeit und lassen sich nur
schwerlich in Fünf-Jahres-Zyklen pressen. Das derzei-
tige Verbot einer institutionellen Förderung von Wissen-
schaftseinrichtungen, insbesondere Hochschulen, durch
den Bund ist problembehaftet. Das müssen wir ändern.
Es ergibt keinen Sinn, dass Bund und Länder einerseits
Hochschulforschung und außeruniversitäre Forschungs-
einrichtungen finanzieren dürfen, andererseits aber eine
gemeinschaftliche Finanzierung zum Beispiel von Hoch-
schulen nicht erlaubt ist. Diese Schieflage gilt es zu
begradigen. Mit dieser Begradigung erreichen wir, dass
die einzelnen Länder in den Genuss einer institutionel-
len Förderung ihrer Hochschulen durch den Bund kom-
men können. Dass dieses Verfahren wissenschaftsgelei-
tet sein muss, sei an dieser Stelle nochmal betont.

Der Koalitionsausschuss hat am Sonntag einen sehr
sinnvollen und zielführenden Vorschlag beschlossen. In
Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz soll eine kleine
Ergänzung mit großer Wirkung erfolgen: „Einrichtun-
gen und“ würde eingefügt. Mit dieser Ergänzung würde
die soeben geschilderte Problematik bereinigt und die
verfassungsrechtlich saubere Grundlage für ein lang-
fristig angelegtes Engagement des Bundes geschaffen.
Ein solches ist aufgrund der weitreichenden Wirkung der
Hochschulen gerechtfertigt und erforderlich – außerdem
wird es von einer großen Vielzahl an Akteuren ausdrück-
lich gewünscht. Diesem berechtigten Anliegen sollten
wir nachkommen.

Mit der nun in Rede stehenden Veränderung kehren
wir nicht zur Zeit vor der Föderalismusreform 2006
zurück. Nein, wir werden mehr Möglichkeiten zur
Kooperation haben als vor der Reform. Wir geben dem
Wissenschaftsbereich einen echten Schub nach vorn und
bekommen die Gelegenheit, die Fachhochschulen und
Universitäten erheblich zu stärken. Davon wird nicht
nur die Forschung, sondern vor allem auch die Lehre
etwas haben. Das heißt, von der Veränderung werden
gerade auch die Studenten profitieren. Natürlich brau-
chen wir Spitzenforschung – aber eben auch Spitzen-
lehre: Beides unterstützen wir nachhaltiger, wenn wir
dauerhaft Einrichtungen und nicht bloß befristet ange-
legte Projekte fördern können.

Zu Protokoll gegebene Reden





Heiner Kamp


(A) (C)



(D)(B)


Ich setze mich seit Beginn meiner Zeit im Bundestag
für ein besseres Zusammenwirken von Bund und Län-
dern im Bildungsbereich ein. Das Kooperationsverbot
steht zielgerichteten, pragmatischen Lösungen im Wege
und lässt den Bund in einem zentralen Zukunftsfeld
außen vor. Ja, sperrt ihn aus. Deshalb habe ich mich
frühzeitig für eine Aufhebung des Kooperationsverbotes
stark gemacht. Mit dem Beschluss des Koalitionsaus-
schusses vom Sonntag machen wir einen ersten wichti-
gen und richtigen Schritt hin zu einer echten Bildungs-
partnerschaft der staatlichen Ebenen in unserem Land.
Ich bin überzeugt, dass wir mit dem auf dem Tisch lie-
genden Vorschlag unsere Bildungslandschaft entschei-
dend voranbringen. Nun gilt es, diese wichtige Ände-
rung nicht aus Parteitaktik zu torpedieren. Vielmehr
müssen wir gemeinsam im Gespräch von Bund und Län-
dern eine möglichst breite Mehrheit hier im Deutschen
Bundestag und im Bundesrat organisieren.

Es freut mich sehr, dass wir mit der nun zur Dis-
kussion stehenden Kompromissformulierung für den
Wissenschaftsbereich einen Vorschlag beraten, den
unser bayerischer Wissenschaftsminister Dr. Wolfgang
Heubisch bereits im Mai 2011 unterbreitet hat. Manch-
mal dauert es etwas, bis sich gute Vorschläge durchset-
zen. Doch das Bohren dicker Bretter lohnt.

Über das Für und Wider des Kooperationsverbotes
haben wir uns in diesem Hause schon zu zahlreichen
Gelegenheiten ausgetauscht, sei es im Ausschuss oder
hier im Plenum. Die Argumente sind bekannt, und nun
kommt es darauf an, das als richtig Erkannte umzuset-
zen. Für die Ergänzung des Art. 91 b sehe ich eine breite
Mehrheit. Die grüne Bundestagsfraktion versucht mit
dem vorliegenden Antrag zu signalisieren, dass sie nicht
allein und außen vor bleiben will. Fast noch wichtiger
wäre es jedoch, wenn sich die Grünen der Unterstützung
ihrer in föderaler Wolle gewandeten „Gallionsfigur“
versichern würden.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716528700

Eigentlich weiß man gar nicht mehr, was man noch

sagen soll. Alle Oppositionsfraktionen haben seit 2010
wenigstens je zwei Anträge zur Zusammenarbeit von
Bund und Ländern auf dem Gebiet der Bildung in den
Bundestag eingebracht, drei Bundesländer haben sich
dezidiert für mehr Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern in der Bildung ausgesprochen – es werden wei-
tere folgen –, und nun hat sich der Koalitionsausschuss
tatsächlich bewegt: Die Regierung soll noch in diesem
Jahr einen Gesetzentwurf für eine Grundgesetzände-
rung vorlegen, nach der der Bund mit den Ländern in
Bildungsfragen wieder gemeinsame Sache machen
kann.

Doch halt: „In der Bildung“ ist nicht ganz richtig, le-
diglich um die Zusammenarbeit bei Vorhaben an den
Hochschulen soll es gehen. Doch auch hier steckt der
Fehler im Detail: Frau Schavan geht es hierbei leider
nicht um die flächendeckende institutionelle Förderung
der Hochschulen, sondern wieder einmal nur um ausge-
wählte exzellente Standorte oder Institute. Nicht dass
eine Förderung der Hochschulen falsch wäre und nicht

dass sie über diesen Weg besser finanziert werden könn-
ten: Aber der gesamte Bereich der schulischen Bildung
bleibt wieder außen vor. Dabei fordern inzwischen
75 Prozent der Bevölkerung, dass die Zuständigkeit für
Bildung insgesamt künftig beim Bund liegen soll. Wer
darum den Bildungsföderalismus erhalten will, der muss
sich bewegen.

Die Koalition kann sich offensichtlich nicht auf eine
Grundgesetzänderung in Sachen Schulbildung einigen.
Dabei ist seit langem klar, dass Länder und Kommunen
die anstehenden Probleme gar nicht mehr ohne Bundes-
beteiligung lösen können. Nehmen wir nur den Schul-
bau. Jede, aber auch jede Kommune greift auf alle mög-
lichen Finanzierungsprogramme aus dem Bund und der
EU zu, die es ermöglichen, Geld für die nötigen Schulsa-
nierungen zu bekommen. Ohne die Verfassungsschran-
ken könnte der Bund direkt in den Schulbau investieren.

Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregie-
rung für Kinder aus armen Familien ist zwar das falsche
Instrument, um für bessere Bildung und Teilhabe für
Kinder zu sorgen, aber selbstverständlich nehmen die
Länder das Geld gern in Anspruch.

Immer lauter wird die Kritik am Auseinanderdriften
der Qualität schulischer Bildung zwischen den Ländern
trotz der vollmundig vereinbarten gemeinsamen Bil-
dungsstandards in den Kernfächern. Sie führen aber of-
fensichtlich noch nicht dazu, dass die Bildungsab-
schlüsse ohne Wenn und Aber gegenseitig anerkannt
werden. Lehrerinnen und Lehrer werden längst in den
Ländern unterschiedlich bezahlt, obwohl sie die gleiche
Arbeit leisten. Die Studienabschlüsse für Lehrerinnen
und Lehrer werden zwischen den Bundesländern nicht
ohne Weiteres anerkannt.

Neben dem Geld und bürokratischen Hürden gibt es
eben auch derart unterschiedliche Bildungsstrukturen,
dass der Umzug von Familien in ein anderes Bundes-
land zum Wagnis für den Schulerfolg der Kinder wird.
Die Liste der Unzulänglichkeiten beim derzeit prakti-
zierten Wettbewerbsföderalismus ließe sich noch weiter
fortsetzen. „Kleinstaaterei“ nennt der Volksmund das.
Nicht, dass es innerhalb des föderalen Systems keine Lö-
sung für diese Probleme geben könnte: Aber die derzeit
Agierenden sind offensichtlich unfähig, und unwillig,
welche zu finden. Sie achten eitel darauf, dass ihnen
keine Entscheidungskompetenz abhanden kommt, und
riskieren dabei das weitere Auseinanderdriften der Le-
bensverhältnisse in der Bundesrepublik zwischen Nord
und Süd, zwischen Ost und West. Mit einem „Bund“ hat
das schon nichts mehr zu tun, eher mit einem „bunten
Strauß von Blüten“, die sich in der Vase nicht vertragen.

In Sachsen-Anhalt gab es – Zu- und Fortzüge zusam-
mengerechnet – im Jahre 2010 etwa 80 000 Menschen,
die das Bundesland gewechselt haben. Aus der Bundes-
statistik kann man entnehmen, dass im Jahr 2008 bun-
desweit mehr als 1 Million Menschen über die Grenze
des eigenen Bundeslandes umgezogen sind. Wenn nur
jeder zehnte Mensch davon ein Kind im schulpflichtigen
Alter war, dann sind mehr als 100 000 Kinder in einem
Jahr von einem Schulwechsel betroffen gewesen. Wenn
die Wanderungsbewegung so bleibt, wechseln im Laufe

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


eines Bildungsweges von zehn Jahren mindestens 1 Mil-
lion Schülerinnen und Schüler in ein anderes Bundes-
land. Wer das ignoriert, handelt verantwortungslos.

Es ist schon ein Kreuz mit den Bildungspolitikerinnen
und -politikern aller Parteien und aller Bundesländer,
dass sie sich nicht auf Lösungen verständigen können,
die die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in der
Bildung sicherstellen, ohne die Bildungshoheit der Län-
der zu gefährden.

Warum kann man nicht wie vor 48 Jahren beschlie-
ßen, dass die Bildungsabschlüsse aus anderen Bundes-
ländern anerkannt werden? Punkt. Warum kann man
nicht sichern, dass bei einem Umzug nicht noch einmal
teure Schulbücher gekauft werden müssen? – Eine
grundgesetzlich garantierte Lernmittelfreiheit könnte da
helfen. – Warum kann man in Fragen der Schülerbeför-
derung nicht für alle Kinder gleichwertige Bedingungen
schaffen, wie es für einen stark benachteiligten Kreis
von Kindern durch das Bildungs- und Teilhabepaket
jetzt geschieht? Warum kann man nicht soziale Mindest-
standards – etwa Schülerbeförderung, Lernmittel und
Schulessen – setzen, die Geleichwertigkeit garantieren,
von denen die Länder wie beim Kinder- und Jugendhil-
ferecht nur nach oben abweichen können?

Wenn man mittels Bildungsföderalismus eine Vielfalt
in der Bildungslandschaft zulässt: Warum kann man
dann nicht die eingrenzenden Regelungen und bürokra-
tischen Anerkennungsvoraussetzungen einfach fallen
lassen und Vielfalt auch anerkennen? Gäbe es eine Ge-
meinschaftsschule in allen Bundesländern, gäbe es si-
cher nicht weniger Vielfalt. Aber dann wäre ein Schul-
wechsel ein viel geringeres Problem. Denn wären diese
Schulen inklusive Schulen, wäre auch genügend Mög-
lichkeit zur individuellen Förderung vorhanden, um
eventuelle Unterschiede in den Bildungsinhalten auszu-
gleichen. Aber das braucht ja noch eine ganze Weile.

So wie die Sache jetzt läuft, müssen junge Menschen
und ihre Familien ausbaden, was die Kultusbürokratien
und die Länder nicht regeln wollen. Darum ist der Stadt
Hamburg sowie den Ländern Sachsen-Anhalt und
Schleswig-Holstein zu danken, dass sie die Debatte im
Bundesrat angestoßen haben. Frau Kraft aus Nord-
rhein-Westfalen hat auch ihre Bereitschaft signalisiert.
Wir hoffen, es kommen noch mehr Landesregierungen
und Länderparlamente zu dieser Einsicht, und wir hof-
fen, es kommt dann auch zu einer Einigung über Länder-
grenzen hinweg, die dem Bildungschaos endlich ein
Ende bereitet.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716528800

Als bildungs- und hochschulpolitischer Sprecher der

grünen Bundestagsfraktion freue ich mich, dass unser
Antrag zur Modernisierung des Bildungsföderalismus
hier und heute diskutiert wird. Damit bringen wir eine
weitere Vorlage für die Anhörung des Bildungsaus-
schusses am 19. März zur Abschaffung des Koopera-
tionsverbots in den Bundestag ein.

Unsere konkreten Vorschläge, wie das verfassungs-
rechtliche Kooperationsverbot zwischen Bund und Län-

dern im Bildungsbereich und die Kooperationshürden in
der Wissenschaft endlich überwunden werden können,
kommen dabei genau zur richtigen Zeit. Denn in den
letzten Monaten ist endlich Bewegung in die Debatte
über neue Kooperationswege gekommen. CDU, CSU
und SPD haben in der Föderalismusreform 2006 den
Bund aus der Mitverantwortung und Mitfinanzierung
des Schul- und Bildungsbereichs herausgedrängt. Wäh-
rend die SPD diesen Fehler nun dankenswerterweise
einsieht und zu korrigieren versucht, muss die Einsicht
bei der Unionsfraktion noch reifen.

Dabei gibt es zahlreiche wissenschaftliche Belege,
dass zum Beispiel das Ganztagsschulprogramm „Zu-
kunft Bildung und Betreuung“ Kindern und Jugend-
lichen – gerade aus bildungsfernen Familien – vielfältig
unterstützt: Schulfreude, Motivation und Lernleistungen
steigen in guten Ganztagsschulen. Seit der Verfassungs-
änderung 2006 sind solche wichtigen Initiativen für
Chancengleichheit nicht mehr möglich. Stattdessen wird
der Bund zu absurden Umwegen gezwungen. Wir erin-
nern uns: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund
auferlegt, die Teilhabe von Kindern aus Hartz-IV-Fami-
lien zu unterstützen.

Was dabei herauskam, ist mit „Bürokratiemonster“
leider weitaus besser beschrieben als mit „Bildungs-
und Teilhabepaket“. Weil die Bundesmittel den Schulen
nicht direkt zufließen dürfen, müssen die Eltern zum
Jobcenter und dort immer wieder die Leistungen bean-
tragen. Die Schulen wiederum bekommen nicht etwa
Mittel, um verstärkt individuelle Förderung anbieten zu
können. Im Gegenteil: Lehrerinnen und Lehrer müssen
stattdessen Bescheinigungen über die Notwendigkeit der
Förderung ausstellen. Weil zwischen Bund und Ländern
nichts geht, fließen öffentliche Bundesmittel an private
Träger – anstatt das öffentliche Schulwesen der Länder
zu stärken. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir
im Bereich der leistungsschwächeren Schülerinnen und
Schüler im PISA-Vergleich nur kleine Fortschritte
machen.

Die entscheidenden Fragen in unserer Debatte müs-
sen doch sein: Wie erhöhen wir die Bildungs- und
Teilhabechancen aller Kinder und Jugendlichen? Wie
lösen wir gemeinsam die großen bildungs- und wissen-
schaftspolitischen Herausforderungen und bauen eine
echte Bildungsrepublik? Welche verfassungsrechtlichen
Grundlagen brauchen wir, um die notwendige strategi-
sche und gesamtstaatliche Kooperation bei den großen
Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftsfragen zu er-
möglichen? Wie muss unser Grundgesetz ausgestaltet
sein, damit es weder umgangen wird noch Bildungsblo-
ckaden bewirkt?

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat müssen
endlich die Konsequenzen daraus ziehen, dass sich das
Kooperationsverbot nicht bewährt, sondern geschadet
und dazu geführt hat, dass das Grundgesetz umgangen
wurde und wird. Als Antwort auf diese Fragen fordern
wir mit unserem Antrag die Aufhebung des Koopera-
tionsverbots bei Bildung und Wissenschaft. In beiden
Bereichen sind dringend neue Kooperationswege und
eine Vertrauenskultur zwischen Bund und Ländern er-

Zu Protokoll gegebene Reden





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


forderlich. Die immensen sozialen, ökonomischen und
sozialen Herausforderungen machen doch überdeutlich,
dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und
Wirtschaft von der Leistungsfähigkeit und Qualität un-
seres Bildungs- und Wissenschaftssystems abhängt.
Denken Sie nur an Fachkräfte- und Akademikermangel,
an Schulabbruch- und Analphabetismusquoten, an Inte-
grations- und Inklusionsdefizite.

Wir brauchen eine Debatte über die Wege, wie wir
Zusammenarbeit ermöglichen wollen. Das geht einer-
seits über eine Änderung des Art. 91 b Abs. 2 Grundge-
setz, dergestalt, dass Bund und Länder zur „Sicherstel-
lung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklung
des Bildungswesens und zur Förderung der Wissen-
schaft auf der Basis von Vereinbarungen zusammenar-
beiten“ können.

Daneben, alternativ oder besser additiv, ist ein neuer
Art. 104 c sinnvoll, der Finanzhilfen ermöglicht und
zwar dergestalt, dass der Bund den Ländern „auf der
Basis von Vereinbarungen befristete oder dauerhafte
Finanzhilfen zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit
und der Weiterentwicklung des Bildungswesens sowie
der Wissenschaft gewähren“ kann. Diese Grundgesetz-
änderungen sind aus unserer Sicht so auszugestalten,
dass die auf deren Grundlage jeweils zwischen Bund
und Ländern zu treffenden Vereinbarungen der Zustim-
mung einer Dreiviertelmehrheit der Länder bedürfen.
Denn wir wollen nicht zurück zum Zustand, dass ein
Land alle anderen ausbremsen kann.

Es gibt diesbezüglich Stimmen, die warnen, dass es
der Bildung und Wissenschaft nicht nützen werde, wenn
die Verfassung wieder Vereinbarungen von Bund und
Ländern ermögliche, weil dann wieder ausufernde Ver-
handlungsrunden der Exekutive anstehen. Dem halte ich
entgegen, dass wir alle aus diesen Jahren des Verbotes
gelernt haben sollten. Der Reform- und Finanzierungs-
druck haben zugenommen. Wir haben Jahre verloren, in
denen andere Bildungssysteme sich weiterentwickelt
haben. Außerdem setzen wir Grüne ja gerade auf das
Mehrheitsprinzip bei den Vereinbarungen, sowohl auf
Bundes- wie auf Länderseite. Vetospieler, die allen ande-
ren ihren Willen aufzwingen, wollen wir nicht. Deswe-
gen kein Einstimmigkeitsprinzip auf Länderseite.

Und zu denen, die meinen, dass eine Umwidmung von
Umsatzsteuerpunkten nach Art. 106 Grundgesetz die
Lösung bringen werde: Zeigen Sie mir den Landeshaus-
halt, der auch nur für die nächsten fünf Jahre gewähr-
leisten kann, dass Umsatzsteuerpunkte, die der Bildung
zugutekommen sollen, nicht letztlich in Schlaglöchern,
Haushaltslöchern oder in Lehrerpensionen landen.

Der Vorschlag des schwarz-gelben Koalitionsaus-
schusses ist dagegen kleinmütig und reicht nicht aus.
Bundesbildungsministerin Schavan springt mit ihrem
Vorschlag, nur klitzekleinen Ergänzung des Art. 91 b le-
diglich um „Einrichtungen“ der Wissenschaft und For-
schung an Hochschulen vorzunehmen, viel zu kurz. Die
Herausforderungen der Zukunft liegen nicht nur im
Bereich der Wissenschaft, sondern gerade auch in der
Bildung. Anstatt die Bund-Länder-Zusammenarbeit auf
die Wissenschaft zu begrenzen, muss jetzt die historische

Chance auf eine neue Kooperationskultur auch im
Schul- und Bildungsbereich genutzt werden. Eine echte
„Bildungsrepublik“ braucht eine breite und gute Basis
vor allem in den Schulen, damit die Wissenschaft über-
haupt leistungsfähig sein kann.

Wir unterstreichen daher unsere jahrelange Forde-
rung: Das Grundgesetz muss so geändert werden, dass
gemeinsames Handeln von Bund und Ländern auch in
der Bildung ermöglicht wird. Es ist eine geradezu
bizarre Situation, dass wir Schulen in Jakarta und

(ko men oder Bochum. Eine Bastaoder Verweigerungshaltung der Koalition wäre politisch unvernünftig. Wer eine breite Zustimmung im Parlament und Bundesrat erreichen muss, sollte jetzt einen Prozess für eine breit getragene Verhandlungslösung in Gang setzen. Ministerin Schavan muss jetzt auf die Opposition und auf die Länder zugehen und ein transparentes Verfahren organisieren, um kluge und konsensfähige Lösungen zu erarbeiten, die im Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit finden können. Wir schlagen dafür vor, einen Reformkonvent einzuberufen, der den Bildungsund Wissenschaftsbereich gleichermaßen in den Blick nimmt. Es ist an der Zeit, einen großen Wurf für mehr Kooperation zu wagen, anstatt auf dem kleinsten gemeinsamen Koalitionsnenner zu verharren. Für uns ist klar: Ein Ergebnis, dass der Bund Milliarden in die Nachfolgefinanzierung von Eliteunis schiebt, aber weiter keinen Cent in Schulen in sozialen Brennpunkten investieren darf, überzeugt nicht. Auch die Förderung der Wissenschaft braucht mehr: Sie muss auch Studienplatzaufbau, Infrastrukturund Hochschulbau sowie Hochschulgrundfinanzierungsprobleme angehen, nicht allein internationale Leuchttürme herausputzen. Eine gesamtstaatliche Anstrengung für eine bessere individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen heute bringt uns die Bildungsgerechtigkeit und die Innovationskraft von morgen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8902 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Niemand widerspricht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des Ausweises – Drucksache 17/6586 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – Drucksache 17/8445 – Vizepräsident Eduard Oswald Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Molitor Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor. Im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke wird gefor dert, die aktuell geltenden Fristen für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft von Menschen mit einer oder mehrfachen Behinderungen, die erwerbstätig sind, auf alle Feststellungen der Schwerbehinderteneigenschaft auszudehnen. In der Tat erreichen uns immer wieder Beschwerden über zu lange Bearbeitungszeiten. Auch ich kenne Beispiele, wo die Entscheidung erst nach 14 oder 15 Wochen den Antragsteller erreicht hat. Das ist für die Betroffenen kaum akzeptabel; denn der Schwerbehindertenausweis ist als Nachweis notwendig, um Nachteilsausgleichsregelungen in Anspruch nehmen zu können. So ist zum Beispiel auch die Inanspruchnahme des besonderen Kündigungsschutzes von der Vorlage der Schwerbehindertenbestätigung kausal abhängig. Die Initiatoren des Gesetzentwurfes wollen nunmehr eine Frist von fünf Wochen für die Ausstellung des Dokuments festschreiben. Dem Bund wird dabei aufgetragen, die entsprechenden Ressourcen zu schaffen, und zwar mit der Begründung, die Gesamtverantwortung für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu haben. Aktuell sind die Fristen für die Entscheidung über Anträge erwerbstätiger Personen in § 14 SGB IX beschrieben. Danach ist die Behinderung innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang festzustellen, wenn die Situation klar ist und ein Gutachten für die Feststellung nicht erforderlich ist. Ist aber ein Gutachten eines Sachverständigen notwendig, hat das Versorgungsamt unverzüglich einen geeigneten Sachverständigen zu beauftragen. Dieser hat innerhalb von zwei Wochen nach der Beauftragung durch das Versorgungsamt das Gutachten zu erstellen. Das Versorgungsamt entscheidet dann innerhalb von zwei Wochen nach Vorlage des Gutachtens. Diese geltende Regelung ist ein Ergebnis des Vermittlungsverfahrens zum Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen aus dem Jahr 2004. Die Bundesregierung hat damals eigentlich die Fristen so vorgeschlagen, wie es jetzt die Fraktion Die Linke fordert. Aber der Bundesrat hat sich gegen diese Frist ausgesprochen, und das vor allem aus haushaltswirtschaftlichen Erwägungen. Das Argument war damals, dass die tatsächlichen Fristen weit über den geforderten liegen und eine Veränderung nur mit erheblichen Personalaufstockungen möglich sei. Wie gesagt, im Vermittlungsverfahren wurde dann also eine Einigung auf Fristen allein für erwerbstätige schwerbehinderte Menschen erzielt. So ist sichergestellt, dass schwerbehinderte Menschen in einem Arbeitsverhältnis alle erforderlichen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten können. Das ist nicht nur eine Klarstellung der Rechtsposition des Arbeitnehmers, sondern ist auch mit sicheren Vorgaben für den Arbeitgeber verbunden, der damit seine Beschäftigungspflicht kennt, klare Erkenntnisse zur Ausgleichsabgabe bzw. bei der Anrechnung auf die Zahl der Pflichtarbeitsplätze hat und den Zusatzurlaub sowie den besonderen Kündigungsschutz kennt. Aber immer wieder war diese Regelung Gegenstand von Anfragen und politischen Diskussionen. In diesem Zusammenhang fanden auch Abfragen bei den Ländern über die Bearbeitungsdauer statt. In der Summe werden rund 10 Wochen Bearbeitungszeit angegeben. Lediglich in Berlin mit 22 Wochen, in Sachsen mit 24 Wochen und in Thüringen mit 26 Wochen sind die Fristen unakzeptabel länger. Hier liegt also nicht die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung vor, sondern hier sind Vollzugsprobleme in den Ländern zu hinterfragen. Wir können dem vorliegenden Gesetzesvorschlag aus diesen ordnungspolitischen Gründen nicht zustimmen. Unabhängig davon ist es der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein großes Anliegen, in Zeiten guter wirtschaftlicher Entwicklung insbesondere auch Menschen mit einer Behinderung die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ihren Gunsten angedeihen zu lassen. Dafür sind vielfältige Förderinstrumente vorgesehen, die vor Ort entsprechend der individuellen Situation der betroffenen Menschen zum Einsatz kommen sollten. Dafür brauchen wir das Verständnis und die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen. Dafür brauchen wir aber auch eine schnell und unbürokratisch arbeitende Verwaltung in den jeweiligen Institutionen. Und deshalb werden wir vor Ort weiterhin diese Entwicklung kritisch und konstruktiv begleiten. Der ernst gemeinte Einsatz für die Belange von Behinderten ist sehr ehrenwert und zu begrüßen. Die gesellschaftliche Teilhabe von Behinderten in unserer Gesellschaft ist sehr weit fortgeschritten. Die christlichliberale Koalition will die Inklusion. Wir wollen, dass auch der Behinderte in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben und teilzunehmen. In diesem Bemühen sind wir schon weit gekommen, aber noch lange nicht am Ende. In meinem Wahlkreis kämpfen wir im Moment für die barrierefreie Sanierung des Bahnhofes in Donauwörth. Dies ist auch mit erheblichen Kosten verbunden. Die DB AG und unser Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer sind bereit, für diese Sanierungsprogramme viel Geld in die Hand zu nehmen. Dies zeigt, dass wir nicht nur die Inklusion fordern, sondern auch bereit sind, dafür die nötigen Gelder zu geben. Es gibt noch viele Punkte und Bereiche, wo es Veränderungsbedarf gibt. Aber wir verbessern aktiv die Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft. Im Zentrum steht das Ziel, die gleichberechtigten Chancen der Behinderten zur gesellschaftlichen Teilhabe in allen Zu Protokoll gegebene Reden Ulrich Lange Lebensphasen zu realisieren, bei Reisen, auf der Arbeit, in der Schule, bei Arztund Krankenhausbesuchen etc. Bei diesem Ansatz begrüßen wir jede hilfreiche Unterstützung. Der Antrag der Linken ist jedoch kontraproduktiv. Ihre Forderung nach einer endgültigen Bearbeitung der Behindertenanträge in höchstens fünf Wochen widerspricht jeder gründlichen und medizinisch begründeten Bearbeitung. Sicherlich gibt es eindeutige Fälle, in denen die Behinderung und auch der Grad der Behinderung sehr schnell festgestellt werden können. Aber das ist nicht immer der Fall. Wir müssen den Sachbearbeitern die Möglichkeit geben, die notwendigen Gutachten bei den Ärzten anzufordern und dann auch medizinisch auszuwerten. Im Zweifelsfall muss sich der Sachbearbeiter auch persönlich mit den Antragstellern unterhalten und sich vor Ort ein Bild machen. Diesen sensiblen Vorgang unnötig unter einen Zeitdruck zu stellen, ist sicherlich nicht im Sinne der Betroffenen, ist sicherlich nicht im Sinne der Behinderten. Nachprüfenswert ist in diesem Zusammenhang, warum die Bearbeitung der Behindertenanträge in den neuen Bundesländern erheblich länger dauert als in den alten Bundesländern. Hier sollte nachgeforscht und eine einheitliche Verfahrensweise mit ähnlichen Bearbeitungszeiten in ganz Deutschland herbeigeführt werden. Aber auch da hat der Bund kein Weisungsrecht. Für Vollzugsprobleme der Kommunen sind die Länder die entsprechenden Ansprechpartner. Das sollten auch die Kolleginnen und Kollegen der Linken wissen. Es handelt sich also mal wieder um einen Scheinantrag. Zur Weiterentwicklung des inklusiven Ansatzes haben wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die im Rahmen des SGB IX Veränderungsvorschläge erarbeitet, die den Behinderten die gesellschaftliche Teilhabe erleichtern. Ich fordere Sie deshalb auf: Werfen Sie Ihren Antrag in die Tonne und arbeiten Sie konstruktiv an dem inklusiven Ansatz mit. Der Gesetzentwurf der Linksfraktion, über den wir heute zu befinden haben, hat das Ziel, die Bearbeitungszeit für die Feststellung des Grades der Behinderung und die Erstellung des Ausweises zu verringern. Das Ziel begrüßen wir ausdrücklich; denn Menschen mit Behinderung warten mitunter Monate auf die Ausstellung des Ausweises, der ihnen die Nachteilsausgleiche erst gewährt. Bisher wird nur für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft erwerbstätiger Personen eine Frist im Sozialgesetzbuch IX gesetzt. Diese bestimmt aber noch nicht, bis wann der Ausweis tatsächlich ausgestellt werden muss. Daher schlagen die Autoren des Gesetzentwurfs vor, diese Frist auf alle Vorgänge zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft auszuweiten und zudem eine Frist von fünf Wochen zur Ausstellung des Ausweises einzuführen. Ob die Einführung einer starren Frist jedoch geeignet ist und auch tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen führt, sehe ich durchaus kri tisch. Was wir brauchen, ist eine umfassende Revision der Instrumente des Sozialgesetzbuches IX und eine Wirkungsforschung, die den Namen auch verdient. Letztlich hat die Regierung in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auch angekündigt, das SGB IX einer solchen Überprüfung zu unterziehen. Warum man damit aber bis zur kommenden Legislaturperiode warten will, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung. Ich kann Ihnen nur raten, keine weitere Zeit zu verlieren, sondern endlich zu handeln! Es ist nicht nur wie auch im Aktionsplan angekündigt wichtig, die Versorgungsmedizinverordnung anzupassen, die Begutachtung zu vereinheitlichen und den Schwerbehindertenausweis auf Bankkartenformat anzupassen. Es muss eben auch die Wirkung des gesamten Systems unter die Lupe der UN-Behindertenrechtskonvention gelegt werden. Es gibt weitere bekannte Missstände in der Versorgungsverwaltung, wie bundesweit unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe, geringe Honorare für Entscheidungen nach Aktenlage und für die Betroffenen intransparente Verfahren. Man sollte daher das Anliegen des Gesetzentwurfs aufnehmen und prüfen. Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Ursachen für die lange Bearbeitungsdauer, die sehr unterschiedlich sein können. Die Regierung ist hier gefordert, einen Prüfauftrag in den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK aufzunehmen und eine umgehende Umsetzung bzw. eine Beschleunigung der bereits enthaltenen Vorhaben in die Wege zu leiten. Menschen mit Behinderungen wollen ein selbstbe stimmtes und freies Leben führen. Dies zu ermöglichen, ist eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Schwerbehindertenausweis, der sich in Deutschland auf eine lange Tradition stützt, ist ein wichtiges Instrument, um Menschen mit Schwerbehinderung die Teilhabe zu erleichtern. In ihm wird der Grad der Behinderung festgehalten. Er ist Voraussetzung für die Gewährung von Nachteilsausgleichen und Rechten wie zum Beispiel dem Kündigungsschutz. Der Ausweis muss beantragt und eine Schwerbehinderung muss festgestellt werden. Zuständig für dieses Verfahren sind die Länder. Leider zieht sich die Bearbeitungsdauer in einigen Regionen in die Länge. Der Schwerbehindertenausweis wird beim zuständigen Versorgungsamt beziehungsweise Landesamt beantragt. Hier müssen in einigen Regionen Deutschlands Verbesserungen erreicht werden. Bei der Bearbeitungsdauer zeigt sich ein deutliches Ost-West-Gefälle. Während in Thüringen die Bearbeitung 26 Wochen dauert und in Sachsen 24 Wochen, erhalten im bundesweiten Durchschnitt Menschen mit Behinderung nach 10 bis 12 Wochen ihren Ausweis. Die kritisierte Bearbeitungsdauer betrifft also weder alle Bundesländer noch alle Menschen, die einen Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis stellen. Nach geltendem Recht ist über Anträge erwerbstätiger Personen innerhalb von drei Wochen zu entscheiden. Nur wenn ein Zu Protokoll gegebene Reden Gabriele Molitor Gutachten für die Feststellung der Schwerbehinderung notwendig ist, verlängert sich die Frist. Die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen ist für Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen gedacht. Diese müssen eingehend geprüft werden. Dafür werden ärztliche Gutachten und weitere Dokumente benötigt. Eine gewissenhafte Prüfung ist notwendig und im Sinne unseres Solidaritätsprinzips. Die Probleme der langen Bearbeitungsdauer gilt es also vor Ort in den Ländern zu beheben. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die „Schwerbehinderung“ rückwirkend feststellen zu lassen. So entsteht zum Beispiel auch ein rückwirkender Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Arbeitnehmer. Die Fraktion Die Linke fordert nun die Bundesregierung auf, eine Fünfwochenfrist im SGB IX einzuführen. Verantwortlich für die Ausweiserstellung sind aber einzig und allein die Bundesländer und die Kommunen. Es bestehen keine Aufsichtsoder Weisungsrechte seitens des Bundes. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist schlicht falsch adressiert. Für die FDP-Bundestagsfraktion besteht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Wir sehen auch keine Möglichkeit zur gesetzlichen Einführung einer Fünfwochenfrist durch den Bund. Es ist Aufgabe der Länder, auf die Beschleunigung des Ausstellungsverfahrens hinzuwirken. Der Antrag der Linken verfolgt lediglich das Ziel, den Ländern klare Verantwortlichkeiten abzunehmen. An den dafür anfallenden Kosten will die Fraktion Die Linke den Bund in unbekannter Höhe beteiligen und beruft sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Ein Menschenrechtsdokument sollte nicht dazu missbraucht werden, mit falsch adressierten und dazu nicht umsetzbaren Forderungen Wählerstimmen zu erhaschen. Hinzu kommt, dass die Einführung einer allgemeinen Frist im Gesetzgebungsverfahren bereits 2004 am Bundesrat mit dem Hinweis auf dadurch entstehende zusätzliche Personalkosten gescheitert ist. Diese politischen und organisatorischen Wahrheiten lässt die Linke einfach unter den Tisch fallen. Wir Liberale treten dafür ein, dass Menschen mit Behinderung schnell und unbürokratisch Hilfe erhalten. Wir sind mit dem Nationalen Aktionsplan, NAP, ein großes Stück vorangekommen. Der NAP ist mit seinen insgesamt 213 Projekten ein Motor für Veränderungen, der einen inklusiven Prozess anstößt. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland mit der Umsetzung der UN-Konvention und dem Nationalen Aktionsplan eine Vorreiterrolle ein. Selbstverständlich werden wir auch weiterhin mit großem Einsatz an der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention arbeiten, um Inklusion und eine umfassende Teilhabe zu verwirklichen. Dabei befassen wir uns im Deutschen Bundestag mit Fragen, die in unserem Verantwortungsbereich liegen. Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention braucht es jedoch die Mitwirkung aller. Eine inklusive Gesellschaft lebt von der Vielfalt der Menschen. Viele Menschen mit Behinderung wollen nicht, dass al lein ihre Behinderung wahrgenommen wird. Menschen mit Behinderung sind in erster Linie Menschen. Der Bundestag entscheidet heute über eine Frage, die jedes Jahr Hunderttausende Menschen betrifft. Wir haben in Deutschland fast 10 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Das ist im Durchschnitt jeder neunte Einwohner bzw. jede neunte Einwohnerin. Wenn diese ihren Schwerbehindertenausweis beantragen oder den Grad ihrer Behinderung neu feststellen lassen wollen, müssen sie auf einen neuen Ausweis oft sehr lange warten. Vor Jahren machten mich betroffene Bürgerinnen und Bürger auf dieses Problem aufmerksam. Vielfach gibt es für die Ausstellung von Ausweisen und Dokumenten klare Bearbeitungsfristen, nicht aber für die Ausstellung von Schwerbehindertenausweisen. Deshalb machte ich dieses Problem zum Gegenstand einer Anfrage an die Bundesregierung. Diese veranlasste daraufhin eine Umfrage bei den Ländern. Das Ergebnis war schockierend: In Sachsen warteten 2009 Menschen mit Behinderung durchschnittlich 24 Wochen, bis sie ihren Ausweis ausgestellt bekamen. Damit bildete Sachsen gemeinsam mit Thüringen den traurigen Spitzenreiter bei den Wartezeiten. Doch auch in anderen Bundesländern müssen die Betroffenen sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Bundesweit waren es nach den Ergebnissen der damaligen Länderumfrage im Schnitt knapp 14 Wochen. Und wie gesagt, es handelt sich hierbei um Durchschnittswerte. Mir wurden noch extremere Fälle überliefert, etwa der einer 80-jährigen Bürgerin aus Zwickau, die ein Jahr auf ihren Schwerbehindertenausweis warten musste. Mir ist sogar ein Fall bekannt, bei dem ein Antragsteller bereits verstarb, bevor der Ausweis nach etlichen Monaten ausgestellt wurde. Auch viele Berufstätige, die Anträge auf Neufeststellungen der Behinderung bzw. des Behinderungsgrades stellen, haben mit dem Problem zu kämpfen. Solche Zustände dürfen nicht hingenommen werden. Menschen benötigen diesen Ausweis dringend, um alltägliche Hindernisse wenigstens etwas abzumildern. Die Bundesregierung nimmt die Haltung ein, sie sei für die Lösung des Problems nicht verantwortlich, und verweist auf die Zuständigkeit der Länder. Diese wiederum sehen sich selbst nicht verantwortlich, und so wird bis heute das Problem zwischen Bund, Land und Kommunen hinund hergeschoben – zulasten der Betroffenen. Deshalb ist eine gesetzliche Regelung unabdingbar. Der heute von der Linken eingebrachte Gesetzentwurf schlägt vor, bundeseinheitlich eine Bearbeitungsfrist von fünften Wochen festzuschreiben. Die Betroffenen hätten damit einen Rechtsanspruch, den sie geltend machen könnten. Wir wollen im Neunten Sozialgesetzbuch eine Frist von fünf Wochen festschreiben, innerhalb derer der Antragsteller nach Eingang des Antrags über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. des Grades der Behinderung schriftlich informiert wird und den Schwerbehindertenausweis erhält. Ähnlich ist es derzeit schon bei der Feststellung der Pflegebedürftig Zu Protokoll gegebene Reden Sabine Zimmermann keit im Elften Sozialgesetzbuch geregelt. Dieses sieht eine Fünfwochenfrist vor, innerhalb derer der Antragsteller eine schriftliche Mitteilung der Pflegekasse erhalten muss. Mit dieser gesetzlichen Änderung entstände politischer Handlungsdruck für die verschiedenen Ebenen von Bund, Land und Kommune, obwohl sie das Problem auch sehen. Es ist traurig, dass Union und FDP in den Ausschüssen gegen unseren Gesetzentwurf gestimmt haben, und dies wahrscheinlich auch heute tun werden. Kein Verständnis habe ich auch für die angekündigte Stimmenthaltung der SPD. Hat diese dazu keine Meinung? Für mich und die Linke ist klar: Es geht hier auch um die Frage gesellschaftlicher Teilhabe. Die 2009 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention zielt in ihren Grundsätzen darauf ab, Menschen mit Behinderungen nicht zu diskriminieren und ihnen eine volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die schnelle und zügige Ausstellung von Schwerbehindertenausweisen ist ein ganz konkreter Punkt, an dem diese Forderung umgesetzt werden kann. Der Bundestag kann nun zeigen, ob er nur allgemeine Erklärungen verabschieden oder wirklich etwas ändern will. Wer aufgrund einer Beeinträchtigung Unterstützung braucht, um beispielsweise bei der Bahnfahrt in den Zug zu gelangen, kann nicht zu jeder Zeit mit der Bahn fahren. Früh morgens an einem kleinen Bahnhof stehen die Chancen schlecht, dass Mitarbeiter der Bahn vor Ort sind. Menschen mit Behinderungen müssen, weil sie immer wieder auf Barrieren stoßen, häufig einen hohen Organisationsaufwand betreiben und haben auch erhöhte finanzielle Aufwendungen. Aus diesem Grund gibt es in verschiedenen Bereichen Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen. Im Zusammenhang mit der Bahn ist das beispielsweise das Recht auf die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr. Beim Nachteilsausgleich handelt es sich weder um ungerechte Vergünstigungen noch um Subventionen oder gar Privilegien. Der Staat federt damit lediglich die erhöhten Aufwendungen von Menschen mit Behinderungen teilweise ab. Damit Menschen mit Behinderung diese Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen können, müssen sie ihre Behinderung mit einem Schwerbehindertenausweis nachweisen. Um diesen Ausweis zu bekommen, können sie auf Grundlage von § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch, SGB IX, einen Antrag auf Feststellung des Grads der Behinderung und Ausstellung eines Schwerbehindertenbzw. Behindertenausweises stellen. Die in § 14 SGB IX festgelegten Fristen müssen allerdings nur eingehalten werden, wenn eine erwerbstätige Person einen Antrag stellt. Menschen mit Behinderungen, die nicht erwerbstätig sind, müssen unter Umständen lange auf die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises warten. Es gibt Fälle, in denen die Bearbeitung ein halbes Jahr dauert. Das ist nicht überall der Fall, eine zeitnahe Bearbeitung ist im Prinzip also möglich. Die Linksfraktion möchte mit ihrem Gesetzentwurf eine Frist von fünf Wochen zur Ausstellung des Auswei ses festschreiben. Diesem Anliegen stimmen wir als Grünen-Fraktion gerne zu. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses lehnen wir dementsprechend ab. Wir kommen damit gleich zur Abstimmung. Der Aus schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8445, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6586 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste – Drucksache 17/8797 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor. Einzelne Abgeordnete der Fraktion Die Linke werden von Verfassungsschutzbehörden unter verfassungsschutzrechtlichen Gesichtspunkten offen beobachtet. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt dies zum Anlass, ein totales Zerrbild zu zeichnen und die für jede Demokratie wichtige Aufgabe des Schutzes der eigenen Verfassung zu diskreditieren und in Kernbereichen infrage zu stellen. Die Verfassungsschutzbehörden sprechen zu Recht von offener Beobachtung. Das heißt, es geht nicht um die deutschen Geheimdienste allgemein. Das heißt, es geht nicht um Überwachung, also persönliche Überwachung von Abgeordneten. Dass heißt, es geht auch nicht um das Immunitätsrecht. Ich wiederhole: Der Antrag zeichnet bewusst ein politisches Zerrbild. Warum ausgerechnet die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den öffentlichen Versuch unternimmt, sich schützend vor mehrfach durch Verfassungsschutzbehörden und Gerichte festgestellte kommunistische, marxistische und antidemokratische Bestrebungen von Teilen der SED-Nachfolgepartei Die Linke zu stellen, ist für mich in keiner Weise nachvollziehbar. Bernhard Kaster Gemäß § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist es Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, zu sammeln und auszuwerten. Dieser gesetzliche Auftrag gilt selbstverständlich auch mit Blick auf die Linkspartei und ihre Führungsspitze. Diese Aufgabe ist Ausfluss des Grundsatzes der wehrhaften Demokratie, ein tragendes Prinzip unseres Grundgesetzes. Und dieser Grundsatz richtet sich gleichermaßen gegen rechtsund linksextremistische Verfassungsfeinde. Die in die Partei PDS und danach in die Partei Die Linke umbenannte SED wird seit langem vom Verfassungsschutz beobachtet, auch schon unter der rot-grünen Bundesregierung. Es ist auch bekannt, dass zu den Beobachteten auch Abgeordnete dieser Partei gehören. Zudem ist es juristisch eindeutig geklärt, dass eine solche offene Beobachtung auch von Abgeordneten rechtens ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat folgerichtig festgestellt, dass es keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz gibt, dass Maßnahmen gegen Abgeordnete nur mit Zustimmung des Parlaments zulässig seien. Soweit Abgeordnete von der Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz betroffen seien, bedarf diese Konkretisierung keines Gesetzes, das ein Tätigwerden gerade gegenüber Abgeordneten erlaube. Mit dem Immunitätsrecht hat es zudem gar nichts zu tun. Das Immunitätsrecht erstreckt sich auch nach dem Wortlaut des Grundgesetzes auf zwei Fallgruppen: Genehmigungspflichtig durch den Deutschen Bundestag sind erstens die Verfolgung einer mit Strafe bedrohten Handlung und zweitens alle anderen Beschränkungen der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten. Aber nochmals zum eigentlichen Thema des Tätigwerdens des Verfassungsschutzes gegenüber Vertretern der Partei Die Linke. So hat zum Beispiel das OVG Münster in einer Entscheidung ausführlich und überzeugend dargelegt, dass – Zitat – „die Parteien PDS, Linkspartei.PDS und heute Die Linke Bestrebungen verfolgten und weiterhin verfolgen, die darauf gerichtet sind, die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung sowie das Recht des Volkes, die Volksvertretung in allgemeiner und gleicher Wahl zu wählen, zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen“. Weiterhin gibt es auch nach Auffassung des Gerichts Hinweise, dass einflussreiche Parteiorganisationen wie die kommunistische Plattform, das marxistische Forum und die Linksjugend, Solid, weiterhin die – verfassungswidrige – Diktatur des Proletariats im klassisch marxistisch-leninistischen Sinne anstreben. Es liegen nach wie vor zahlreiche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen in der Partei Die Linke vor, insbesondere die umfassende Akzeptanz von offen extremistischen Zusammenschlüssen in ihren Rei hen. Da ist es die legitime Aufgabe des Verfassungsschutzes, sich darüber die notwendigen Erkenntnisse zu verschaffen. Noch jüngst fabulierte die Vorsitzende der Linkspartei über die Wege zum Kommunismus und veröffentlichte ihre Vorstellungen darüber ausgerechnet in der Zeitung „Junge Welt“. Diese Zeitung versteht sich als marxistische Tageszeitung, die der Klassenkampfidee und – so der Verfassungsschutzbericht 2010 des Bundes – der Symbolik von Hammer und Sichel nicht abgeschworen hat. Sie propagiert die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, wobei die politische und moralische Rechtfertigung der DDR und die Diffamierung der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen. Nach alledem besteht weder rechtlich noch tatsächlich ein Anlass, den Immunitätsausschuss des Bundestages mit der Möglichkeit des Verfassungsschutzes zur offenen Beobachtung und Informationssammlung zu befassen. Der Antrag geht rechtlich wie auch politisch total ins Leere. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste ist überflüssig und von wenig Kenntnissen in Bezug auf unsere Rechtsordnung geprägt. Art. 38 des Grundgesetzes garantiert das freie Mandat des Abgeordneten, stellt ihn aber nicht über das Gesetz. Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist an Recht und Gesetz ebenso gebunden wie jeder andere Bürger in unserem Land auch. Gott sei Dank, möchte man sagen. Wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages Rechtsverstöße oder gar Verbrechen begeht, so ist er natürlich und zu Recht nicht vor Vorermittlungen der Polizei geschützt. Anders könnte ein Rechtsverstoß auch gar nicht entdeckt werden. Erst wenn die Staatsanwaltschaft tätig wird und zum Beispiel Hausdurchsuchungen anordnet, muss zuvor die Immunität eines Abgeordneten durch den Deutschen Bundestag und den dafür zuständigen Immunitätsausschuss aufgehoben werden. Ein Verfahren zur Aufhebung der Immunität kann aber nicht auf „blauen Dunst“ hin erfolgen, sondern muss gut begründet sein. Würde man den Weg der vorherigen Informationsbeschaffung „abschneiden“, würde es zu einem Verfahren zur Aufhebung der Immunität gar nicht erst kommen. Man würde die Abgeordneten des Deutschen Bundestages quasi über das Gesetz stellen, sie wären vor Strafverfolgung nahezu sicher. Was für die Abgeordneten in Bezug auf einfachgesetzliche Regelungen wie das Strafgesetzbuch gilt, muss erst recht für das Grundgesetz gelten. Das Grundgesetz bildet das Herz unserer Rechtsordnung. Es bildet den Kernbestand unserer verfassungsrechtlichen Ordnung; dies begründet sogar ein erhöhtes Schutzbedürfnis. Gemäß § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes hat das Bundesamt für Verfassungsschutz, gemeinsam mit den Landesbehörden für Verfassungsschutz „Auskünfte, Zu Protokoll gegebene Reden Manfred Grund Nachrichten und sonstige Unterlagen“ zu sammeln und auszuwerten, unter anderem über Bestrebungen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten. Das gilt natürlich auch dann, wenn diese Bestrebungen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages ausgehen würden. Man stelle sich vor, Abgeordnete aus dem Bundestag oder aus den Landtagen würden davon ausgenommen. Dann wäre der Staat nahezu wehrlos gegenüber Verfassungsfeinden, die aus dem Parlament heraus agierten. Notwendige Ermittlungen, wie die Sichtung öffentlich zugänglicher Quellen, die die Grundlage dafür bilden, überhaupt einen Anfangsverdacht zu begründen, könnten nicht mehr stattfinden. Das ist juristisch nicht nur absurd, auch aus unserer Geschichte heraus sollten wir wirklich schlauer sein. Betrachten wir zum Beispiel das Verbot der Sozialistischen Reichspartei, SRP, 1952; diese zutiefst verfassungsfeindliche Partei hat auch aus den Parlamenten heraus gegen die Verfassung und die demokratische Grundordnung agiert; einige ihrer wichtigsten Funktionäre waren Mitglieder des Bundestages und des Landtages von Niedersachsen. Da der Bundestag und die Landtage in Fragen der Immunität weitgehend auf gleicher Höhe sind, fragt man sich, wem eine solche Regelung nützen würde, wenn unsere Nachrichtendienste öffentlich zugängliche Quellen im Hinblick auf verfassungsfeindliche Tendenzen nicht mehr sichten, auswerten und sammeln dürften, ohne dass zuvor die Immunität des Abgeordneten aufgehoben wird. Es würde Leuten wie Holger Apfel und Udo Pastörs nutzen, die hohe Funktionäre der NPD und zugleich Abgeordnete in Landtagen sind. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es das ist, was die Grünen wollen. Im Übrigen wäre eine bloße Änderung im Bereich der Verfahrensregeln und gegebenenfalls der Geschäftsordnung des Bundestages, wie im Antrag gefordert, angesichts der gesetzlichen Legitimation der Tätigkeit der Nachrichtendienste und der Ermittlungsbehörde auch unwirksam. Wenn man den Antrag liest, dann stellt man sich schon die Frage, in welchem Interesse Bündnis 90/Die Grünen hier eigentlich handeln. Einzig Abgeordnete der Fraktion Die Linke sind in den vergangenen Jahren von nachrichtendienstlicher Beobachtung betroffen. Hierzu hat das Bundesinnenministerium erst kürzlich auf Anfrage des Parlamentarischen Kontrollgremiums einen Bericht geliefert und öffentlich erklärt, dass bei der Beobachtung von Abgeordneten der Linken durch das Bundesamt für Verfassungsschutz nur öffentlich zugängliche Quellen verwendet worden sind. Und dass die Beobachtung der Linken rechtmäßig und geboten ist, das wird in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts NordrheinWestfalen aus dem Jahr 2009 überdeutlich. In der Urteilsbegründung stellt das Gericht fest – ich zitiere –: „Diese Beobachtung bezweckt, die bestehenden tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Partei Die Linke weiter aufzuklären und mit den gewonnenen Informationen die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu verset zen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise zu begegnen.“ Ich teile diese Urteilsbegründung des Oberverwaltungsgerichts ausdrücklich. Die Beobachtung von verfassungsfeindlichen Tendenzen, von wem auch immer sie ausgehen, auch von Abgeordneten, ist ein wichtiger Bestandteil unserer wehrhaften Demokratie. Über das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde in letzter Zeit sehr viel geredet. Gerade hat der Untersuchungsausschuss „Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“ seine Arbeit aufgenommen. Er wird sich mit der Arbeitsund Vorgehensweise des Verfassungsschutzes beschäftigen. Ich bin froh, dass der Bundestag auch diese Möglichkeit wahrnimmt, um seine Kontrollfunktion gegenüber den Nachrichtendiensten des Bundes auszuüben. Denn das Bundesamt für Verfassungsschutz ist ein vom Gesetzgeber legitimiertes Organ, das der Kontrolle durch das Parlament unterliegt. Und eine der wichtigsten Aufgaben der Legislativen ist es, die Exekutive zu kontrollieren und nicht umgekehrt. Spätestens seit Ende Januar wissen wir, dass 27 der 76 Abgeordneten der Fraktion Die Linke unter Beobachtung stehen. Dass Teile bzw. Flügel der Partei Die Linke beobachtet werden, da die vertretenen Positionen teilweise als linksextremistisch eingestuft werden, wussten wir bereits. Wenn man sich aber anschaut, welche Namen sich auf der Liste der beobachteten Abgeordneten wiederfinden, gibt dies schon zu denken. Bedenklich ist es zum Beispiel, wenn ein vom Parlament gewähltes Mitglied des Vertrauensgremiums, das die Wirtschaftspläne des Bundesnachrichtendienstes, des Verfassungsschutzes und des militärischen Abschirmdienstes genehmigt, beobachtet wird. Wenn ein Mitglied, das vom Deutschen Bundestag mit der Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes betraut wurde, selbst vom Verfassungsschutz beobachtet wird, wird die parlamentarische Kontrolle ad absurdum geführt. Vor diesem Hintergrund haben die Grünen nun einen Antrag eingebracht, der die Erarbeitung von Verfahrensregelungen bei Informationssammlungs-, Beobachtungsund Überwachungsmaßnahmen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegenüber Bundestagsabgeordneten fordert. Als Erstes möchte ich hierzu sagen, dass ich es sehr begrüßen würde, wenn wir die zu diesem Thema geführten Debatten insgesamt versachlichen könnten. Den krampfhaften Versuch insbesondere der Linkspartei, aus diesen Vorgängen eigenen politischen Nutzen zu ziehen, halte ich für unangemessen. Wir sollten stattdessen als Parlamentarier konstruktiv zusammenarbeiten. Denn wir sind uns in diesem Hause doch darüber einig, dass unser wichtigstes Gut die Freiheit des Mandats ist. Dieses gilt es zu schützen. Zu Protokoll gegebene Reden Sonja Steffen Dabei macht es einen Unterschied, ob nur eine Beobachtung anhand öffentlich zugänglicher Quellen oder eine Überwachung mit geheimdienstlichen Mitteln stattfindet. Es macht meiner Meinung nach auch einen Unterschied, ob der betroffene Abgeordnete darüber informiert ist oder nicht. Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss seiner Aufgabe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, nachkommen können, allerdings muss es sich dabei an klare gesetzliche Grenzen halten und die Verhältnismäßigkeit wahren. Ich denke deshalb, dass wir uns in der Tat noch einmal das Verhältnis zwischen dem freien Mandat und der Beobachtung von Abgeordneten in der Praxis anschauen sollten, um sicherzustellen, dass eine Überwachung mit geheimdienstlichen Mitteln durch das Bundesamt für Verfassungsschutz auch in Zukunft nicht stattfindet und die vom Parlament gesetzten Grenzen tatsächlich eingehalten werden. Hartfrid Wolff Die Behauptung der Grünen, mit der Freiheit des Ab geordnetenmandats vertrage sich im Grundsatz eine geheimdienstliche Beobachtung nicht, weise ich zurück. Genausogut könnte man die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Person dann zum Anlass nehmen, geheimdienstliche Beobachtungen sämtlicher Personen für ungerechtfertigt zu erklären. Eine solche Logik würde auf eine generelle Abschaffung von Geheimdiensten hinauslaufen. Wer das politisch will, soll das dann auch so fordern. Aber so zu tun wie die Grünen, als gäbe es da ein juristisches Verbot, ist Unfug. Vielmehr gibt es zu dieser Frage seit 2010 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Damals wurde die Beobachtung von Linken-Parlamentariern erlaubt. Die Freiheit eines Abgeordneten wird keineswegs – ebensowenig wie die jeden anderen Bürgers – automatisch durch „Beobachtung“ unzulässig eingeschränkt. Da muss das Wie und Warum schon näher betrachtet werden. Eine konkrete Prüfung der aktuell diskutierten Frage findet gerade statt. Die Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz ist kein Urteil über ihre Verfassungswidrigkeit. Sie ist lediglich ein Instrument, um darüber Erkenntnisse zu erlangen. Solange Bundestagsabgeordnete – wie etwa die Linken-Chefin Gesine Lötzsch – offenbar verfassungsfeindliche Ziele propagieren, muss das Bundesamt für Verfassungsschutz leider auch hier seiner Pflicht Genüge tun und entsprechende Bestrebungen im Blick behalten. Gesine Lötzsch hat in ihrem Kreisverband mehrfach Veranstaltungen mit früheren Staatssicherheitsmitarbeitern durchgeführt. Das hat ihr sogar aus Reihen der Grünen den Vorwurf eingetragen, die Vergangenheit unter den Tisch kehren zu wollen und sich als „heilige Johanna der Alt-Tschekisten“ zu präsentieren. Und vor einem Jahr hat Frau Lötzsch sogar öffentlich über „Wege zum Kommunismus“ schwadroniert – und das ausgerechnet in der Alt-Stasi-Postille „junge welt“, die sich im vergangenen Sommer auf der Titelseite für den Bau der Berliner Mauer bedankt hat. Weshalb die Grünen ihr nun zur Seite springen zu müssen glauben, ist mir schleierhaft. Auch die Wahl in ein Parlament ändert nicht automatisch die Gesinnung des Gewählten – glücklicherweise! Schließlich wollen die Wähler, dass ihr Volksvertreter seine Botschaften vor der Wahl auch danach im Parlament nicht vergisst. Dann allerdings ist es aber auch nicht zulässig, die demokratische Wahl quasi zum Persilschein zu machen. Es scheint mir nicht angemessen, hier auf parlamentarische Privilegien zu pochen. Ich bin sicher: Hätten wir hier im Bundestag eine NPD-Fraktion wie im sächsischen Landtag, hätten die Grünen diesen Antrag kaum gestellt. Egal ob Holger Apfel oder Gesine Lötzsch: Der Verfassungsschutz muss solche Umtriebe im Auge behalten. Genau dafür ist er gegründet worden. Dass den Betroffenen das nicht gefällt, ist klar. Man mag über die eine oder andere Beobachtungsmaßnahme taktisch unterschiedlicher Auffassung sein. Doch der Verfassungsschutz ist Teil des Konzepts der wehrhaften Demokratie. Dieses Konzept hat Extremisten verständlicherweise immer gestört. Wir Liberalen dagegen bekennen uns dazu mit Nachdruck. Ich würde es begrüßen, wenn Demokraten jeglicher Couleur gemeinsam gegen Extremisten jeglicher Couleur zusammenstünden und die gleichen Maßstäbe auf alle Gegner unserer Verfassung, egal ob innerhalb oder außerhalb eines Parlaments, anwendeten. Unsere Demokratie muss und wird eine wehrhafte bleiben. Dazu steht die FDP. Für ihn sei es „kein Stein des Anstoßes“, wenn linke Abgeordnete durch den Verfassungsschutz beobachtet würden. So beschied der künftige Bundespräsident Joachim Gauck den Fragesteller während seiner Vorstellung in der Fraktion. „Kein Stein des Anstoßes“? Das sagt derjenige, dem Freiheit angeblich über alles geht! Wie ist es dann mit der Freiheit des Mandats? Immerhin im Grundgesetz, Art. 38, gesetzlich verankert. Im Januar wurde bekannt, dass nicht nur einige Mitglieder der Linken durch den Inlandsgeheimdienst überwacht werden, sondern mindestens 27 Mitglieder der Linksfraktion des Bundestages vom Bundesamt und weitere über die Landesämter. Ein ungeheuerlicher Vorgang! Mit Blick auf inzwischen vorliegende Akten bzw. Bescheide erfolgt die Beobachtung offenkundig auch nicht ausschließlich auf der Grundlage offen zugänglicher Unterlagen, Reden, Artikel etc., sondern auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Damit wird die politische Arbeit der Abgeordneten erheblich eingeschränkt. Eine freie und unabhängige Mandatsausübung ist nicht mehr gewährleistet. Das Wissen um eine Beobachtung könnte Bürgerinnen und Bürger daran hindern, Kontakt zum Abgeordne Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Dagmar Enkelmann ten aufzunehmen, bzw. sie dazu veranlassen, den Kontakt so zu gestalten, dass er möglichst unbeobachtet stattfindet. Der ungehinderte Austausch des Abgeordneten mit Wählerinnen und Wählern ist aber eine wesentliche Voraussetzung für den politischen Willensbildungsprozess, für den Abgeordnete nun einmal zuständig sind. Was vertrauen Bürger noch „ihrem“ oder „ihrer“ Abgeordneten an, wenn sie nicht sicher sein können, dass nicht noch Dritte mitlesen oder -hören? Besonders absurd erscheint die Beobachtung eines Bundestagsabgeordneten aber vor allem dann, wenn man bedenkt, dass die Kontrolle des Verfassungsschutzes gerade dem Bundestag und seinen Abgeordneten obliegt. Da verkehren sich die Verhältnisse, und das ist nicht zu akzeptieren. Bereits 2006 hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag vorgelegt, der eine „konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zu Beobachtungen von Abgeordneten durch Geheimdienste“ vorsieht. Der 1. Ausschuss sollte mit der Vorbereitung entsprechender Regelungen befasst werden. Ich kann mich allerdings nicht an herausragende Vorschläge der Fraktion im Ausschuss erinnern. Nun liegt erneut ein solcher Antrag vor. Für die Linke geht es nicht um die Frage, welches Gremium gegebenenfalls eine Beobachtung von Abgeordneten genehmigt. Die Linke ist für die Abschaffung von Geheimdiensten. Sie ist grundsätzlich gegen die Überwachung von Abgeordneten, mit welchen Mitteln auch immer. Diese ist mit der parlamentarischen Demokratie unvereinbar. Weder dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung noch dem Parlamentarischen Kontrollgremium sollte die Macht gegeben werden, mit Mehrheitsentscheidung eine Beobachtung von Abgeordneten zu legitimieren. Die Beobachtung und Überwachung von Opposi tionspolitikerinnen und -politikern kennen wir sonst vor allem aus autoritären Staaten, wo wir dies bisher immer scharf kritisiert haben. Diese Geheimdiensttätigkeit ist eine Gefahr für das freie Mandat und die parlamentarische Demokratie als Ganze. Wir fordern deshalb ein Verfahren, das Abgeordnete vor nicht gerechtfertigten Übergriffen des Verfassungsschutzes schützt. Als genehmigendes Gremium kommen hier das Parlamentspräsidium oder die Obleute des Immunitätsausschusses infrage. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind nach Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Mit diesem freien Mandat verträgt es sich nicht, dass Behörden heimlich Informationen über Abgeordnete sammeln und diese planmäßig überwachen. Derartige Maßnahmen stellen eine Kontrolle der Exekutive gegenüber der Legislative dar. Die Verfassung kennt nur den umgekehrten Fall. So schützt das Immunitätsrecht das freie Mandat der Abgeordneten vor jeder Beschränkung. Jede strafrecht liche Ermittlungsund Verfolgungsmaßnahme, aber auch jede andere Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten muss daher vom Deutschen Bundestag vorab genehmigt werden. Der Geist des Grundgesetzes in den Art. 38, 46 und 47 sagt uns doch, dass das Parlament zumindest informiert werden müsste, wenn Mitglieder des Bundestages überwacht werden. Es kann gute Gründe geben, warum ein Abgeordneter von Geheimdiensten beobachtet oder überwacht werden sollte, sei es wegen des Verdachts der Arbeit für einen ausländischen Geheimdienst oder aber auch wegen eines tatsächlichen Eintretens für die Beseitigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Verkürzte Kapitalismuskritik oder plumper Antiimperialismus aus dem Hause Dağdelen und Co. gehören zwar zu den unreflektierten Ausprägungen linker und zum Teil auch rechtsextremer Kultur, doch eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung kann ich da nicht erkennen. Schon gar nicht rechtfertigt es die Überwachung eines großen Teils einer Fraktion. Die Überwachung und Beobachtung von Abgeordneten muss ein Einzelfall bleiben und geht nicht ohne parlamentarische Kontrolle. Da es hier offenbar einen Wildwuchs der Informationssammlungs-, Beobachtungsoder Überwachungswut deutscher Geheimdienste gibt, besteht dringender Handlungsbedarf. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf, die notwendigen Veränderungen zur Ausgestaltung des Immunitätsrechts von Abgeordneten zu erarbeiten. Schon der böse Schein, dass die Regierung hier die Geheimdienste missbraucht, um den politischen Gegner öffentlich in eine vermeintliche Ecke zu stellen, schadet der Demokratie. In was für einem Land leben wir eigentlich, in dem durch das Aushorchen und Ausspionieren von Oppositionellen die Regierung womöglich an strategische Planungen einer Partei gelangt? Das klingt für mich mehr nach Watergate. Zudem verkehren wir hier grundsätzliche Prinzipien der Demokratie; denn das Parlament muss die Geheimdienste überwachen, nicht umgekehrt! Dem Verfassungsschutz gelingt selbst die Quadratur des Kreises, indem er Steffen Bockhahn beobachtet, der im Vertrauensgremium für den Verfassungsschutz sitzt. Sagen Sie einmal: Geht’s noch? Hier werden wichtige Ressourcen blockiert, die im Kampf gegen Neonazis benötigt werden. Und das Traurige ist: Manche Menschen könnten vielleicht noch am Leben sein, würde der Verfassungsschutz nicht seine Kräfte mit der Linkspartei vergeuden. Mit diesem Antrag wollen wir die Bundesrepublik demokratisch wieder zurechtrücken, dort, wo sie vom Recht abgerutscht ist. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8797 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein Vizepräsident Eduard Oswald verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermöglichung der privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare – Drucksache 17/8377 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Kultur und Medien Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind uns hier bekannt; sie liegen dem Präsidium also vor. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur privaten Wei terveräußerung unkörperlicher Werkexemplare versucht es die Linke einmal mehr mit Staatsdirigismus. Dabei hat sie doch über 40 Jahre eigentlich eindrücklich gezeigt, dass das nicht funktioniert. Leider sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wohl unverbesserlich. Ich will es trotzdem noch einmal versuchen, auch der Linken das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft näher zu bringen. Zunächst zur sozialen Marktwirtschaft und zum Urheberrecht. Die soziale Marktwirtschaft beruht auf dem freien Markt, der zugunsten sozialer Aspekte eingeschränkt wird. Entsprechend gelten auch im Urheberrecht grundsätzlich die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie der Urheber. Die sogenannten Schranken des Urheberrechts berücksichtigen die Interessen der Allgemeinheit. Es gilt also ein sorgfältiges Regel-Ausnahme-Verhältnis, das die berechtigten Interessen von Urhebern und Nutzern in einen Ausgleich bringt. Die Linke ignoriert mit ihrem Gesetzentwurf die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit der Urheber, ihre Werke zu ihren Bedingungen auf dem Markt anzubieten, und schreibt ihnen auch gleich ihr Geschäftsmodell vor. Damit beweist die Linke vor allem eines: dass sie das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft leider immer noch nicht verstanden hat. Zum Inhalt des Gesetzentwurfs. In dem ersten Satz der Problembeschreibung behauptet die Linke, es sei rechtlich nicht geklärt, ob digitale Werke weiterverkauft werden können. Ich sage Ihnen: Das ist es doch! Wer einem anderen etwas verkaufen möchte, der muss auch berechtigt dazu sein. Und wenn er das Recht dazu nicht positiv besitzt, dann darf er das auch nicht. Sie stellen ja sogar selbst fest, dass die Weiterveräußerung im Regelfall durch die AGB sogar ausdrücklich ausgeschlossen ist. Es geht hier also nicht um eine Klärung, sondern um eine Änderung. Rechtliche Begründung: Lizenz. Das geltende Recht sieht vor, dass der Rechteinhaber an einem digitalen Werkstück, also beispielsweise einer Musikdatei oder einem Softwareprogramm, einem Nutzer Rechte einräumen kann. Anders als bei einem materiellen Werkträger wie einer CD oder einem Buch, können Dateien ohne Weiteres vervielfältigt werden. Deswegen räumt der Rechteinhaber dem Nutzer in der Regel vertraglich ein einfaches Nutzungsrecht ein. Es handelt sich daher auch nicht um einen Kaufvertrag, wie bei körperlichen Werkträgern, sondern um einen Lizenzvertrag. Der Rechteinhaber gibt dem Nutzer damit eben nicht die Erlaubnis, die Datei weiterzuveräußern oder gar über den privaten Gebrauch hinaus zu vervielfältigen. Wirtschaftliche Begründung: Amortisierung. Die Lizenzierung eines immateriellen Werkstückes, also einer Musikdatei, entspricht auch den wirtschaftlichen Gegebenheiten; denn der Rechteinhaber tätigt Investitionen, die er amortisieren muss, um wiederum neue Werke schaffen zu können. Er ist darauf angewiesen, seine Werke verkaufen zu können, und er kalkuliert den Preis dafür auf der Grundlage der angenommenen Verkaufszahlen. Ein Weiterveräußerungsrecht würde eine angemessene Preiskalkulation erschweren und so möglicherweise zu deutlich höheren Preisen führen. Die Preisbildung würde damit willkürlich und intransparent. Dies aber ist weder im Sinn der Kreativen noch der Nutzer. § 34 Abs. 1 UrhG. Deswegen kann nach geltendem Recht gemäß § 34 Abs. 1 UrhG ein Nutzungsrecht auch nur mit Zustimmung des Urhebers übertragen werden. Und nach ganz herrschender Meinung kann die Übertragbarkeit des Nutzungsrechts natürlich auch ausgeschlossen werden. Dies hat nicht nur schuldrechtliche Wirkung zwischen den vertragschließenden Parteien, sondern auch eine dingliche. Es liegt entsprechend § 399 BGB eine absolute, gegenüber jedermann wirkende Verfügungsbeschränkung vor. Ein gutgläubiger Erwerb ist damit auch ausgeschlossen. Grundsätzlich kann vertraglich sogar bestimmt werden, dass die Übertragung nur an bestimmte Empfänger zulässig ist. § 34 Abs. 2 UrhG gemäß § 34 Abs. 2 UrhG darf der Urheber die Zustimmung zu einer Übertragung wider Treu und Glauben aber auch nicht verweigern. Dementsprechend ist eine Übertragung von Nutzungslizenzen grundsätzlich auch heute schon zulässig. Das setzt aber voraus, dass der Lizenzgeber gefragt wird – und in der Regel muss die Übertragung natürlich auch noch einmal vergütet werden. Urheberpersönlichkeitsrecht. Dieser Absatz macht deutlich, worum es hier eigentlich geht: Der Rechteinhaber muss gefragt werden. Er muss die Hoheit über sein Recht behalten können. Gemäß § 12 hat nämlich der Urheber das ausschließliche Recht, zu bestimmen, ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist (Urheberpersönlichkeitsrecht)

Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716528900




(A) (C)


(D)(B)

Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1716529000
Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1716529100




(A) (C)


(D)(B)

Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1716529200
Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1716529300




(A) (C)


(D)(B)

Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716529400




(A) (C)


(D)(B)

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716529500
Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716529600
Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1716529700




(A) (C)


(D)(B)

Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1716529800




(A) (C)


(D)(B)

Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1716529900




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716530000




(A) (C)


(D)(B)

Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716530100
Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716530200




(A) (C)


(D)(B)

Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1716530300
weiterverbreitet werden.

Missachtung des Urheberpersönlichkeitsrecht. Letzt-
endlich ist die Rechtslage also, anders als von der Lin-
ken behauptet, vollkommen klar. Ein pauschales Weiter-
verkaufsrecht für immaterielle Werke ist nicht mit dem
Urheberpersönlichkeitsrecht vereinbar. Demgegenüber





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


missachtet der Gesetzentwurf der Linken das Urheber-
persönlichkeitsrecht und nimmt dem Lizenzgeber die
Möglichkeit, zu bestimmen, ob und wie sein Werk ge-
nutzt wird. Allein dies ist schon ein Grund, den Gesetz-
entwurf abzulehnen.

Verwertungsrecht. Der Gesetzentwurf missachtet
aber auch das ausschließliche Verwertungsrecht des Ur-
hebers nach § 15 UrhG. Vor allem das Vervielfältigungs-
recht nach § 16 UrhG ist die wirtschaftliche Grundlage
des kommerziellen kreativen Schaffens. Dieses Verwer-
tungsrecht wird durch ein Weiterveräußerungsrecht zu-
mindest eingeschränkt, wenn nicht sogar entwertet. Im
Gegensatz zur Weiterveräußerung körperlicher Werke
ist die Weiterveräußerung ohne Vervielfältigung tech-
nisch gar nicht möglich. Der vorgeschlagene § 17 a
Abs. 1 Satz 2 UrhG geht damit an den technischen Rea-
litäten vorbei. Jede digitale Weiterveräußerung ist ein
Kopiervorgang – auch wenn das ursprüngliche Werk-
stück gelöscht wird.

Missbrauch. Technisch setzt das gesetzlich unabding-
bare Recht zur Weiterveräußerung auch voraus, dass
jedes immaterielle Werk auch vervielfältigt werden kön-
nen muss. Ansonsten ist die Weiterveräußerung tech-
nisch ja gar nicht möglich. Damit würde ein Digitales
Rechtemanagement, DRM, gesetzlich verboten und den
Rechteinhabern eine der letzten verbliebenen Möglich-
keiten genommen, ihre Werke gegen illegale Vervielfälti-
gungen im Internet zu schützen.

Vorgegebenes Geschäftsmodell. Der Gesetzentwurf
hebelt aber nicht nur das Digitale Rechtemanagement
aus, sondern legt den Rechteinhaber faktisch auch da-
rauf fest, wie er sein Werk verwerten darf. „Das Recht
zur Weiterveräußerung kann nicht vertraglich abbedun-
gen werden“. Mit diesem Passus wird dem Urheber sein
Geschäftsmodell vorgeschrieben. Er verliert dadurch
die Gestaltungsmöglichkeit bei der Verwertung seines
Werkes. Das hat nichts mehr mit Marktwirtschaft zu tun –
hier handelt es sich um Staatsdirigismus.

Das hat die CDU schon seit 63 Jahren abgelehnt und
wird dies auch heute tun.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1716530400

Die Fraktion Die Linke hat heute einen Gesetzent-

wurf eingebracht, mit dem die Weiterveräußerung digi-
taler Werkexemplare im Urheberrechtsgesetz ermöglicht
werden soll.

Um was geht es dabei? Der Vertrieb von Werken der
Literatur, Musik etc. hat sich in den letzten Jahren stark
gewandelt. Er hat sich vor allem „verlagert“. Immer
seltener gehen Bücher und CDs „über den Ladentisch“.
Die Bedürfnisse vieler Verbraucherinnen und Verbrau-
cher gehen heute dahin, einzelne Musikstücke oder
ganze Musikalben, literarische Werke in Form von
E-Books, aber auch Computerspiele und Software über
die Portale verschiedener Onlineanbieter legal herun-
terzuladen.

Die Frage, ob Werke, die nicht in körperlicher Form,
sondern als Download vertrieben werden, in gleicher
Weise weiterveräußert werden können wie beispiels-

weise gebrauchte Bücher, Musik-CDs etc. wird lebhaft
diskutiert. Die Problematik ist unter dem Stichwort
„Handel mit gebrauchter Software“ zudem bereits im
Rahmen der Beratungen zum Zweiten Korb Urheber-
recht thematisiert worden.

Zum Hintergrund: Nach geltendem Urheberrecht ist
der Weiterverkauf unkörperlicher Werkexemplare aus-
geschlossen, es sei denn, der Rechteinhaber hat entspre-
chende Nutzungsrechte eingeräumt. Der für körperliche
Werkstücke geltende sogenannte Erschöpfungsgrund-
satz findet keine Anwendung. Dieser besagt, dass ein mit
Zustimmung des Urhebers in Verkehr gebrachtes körper-
liches Werkexemplar frei handelbar ist. Dass für immate-
rielle Werke etwas anderes gelten soll, ergibt sich schon
aus Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG zur
„Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheber-
rechts und der verwandten Schutzrechte in der Informa-
tionsgesellschaft“, wo es heißt, dass sich die Frage der
Erschöpfung bei Onlinediensten nicht stellt. Folglich
finden sich in den Vertragsbedingungen kommerzieller
Downloadportale wie zum Beispiel iTunes.de, libri.de
etc. regelmäßig Klauseln, die den Weiterverkauf unkör-
perlicher Werkstücke ausschließen.

Dass der Frage eine hohe wirtschaftliche Bedeutung
zukommt, kann man am Softwarebereich erkennen. Hier
erwerben die Unternehmen – mengenmäßig gestaffelte –
Volumenlizenzen, in der Regel in größerem Umfang, als
Arbeitsplätze auszustatten sind. Das wirtschaftliche In-
teresse am Weiterverkauf der nicht benötigten, über-
schüssigen Lizenzen ist dementsprechend groß.

Das zeigt, dass es sich hier um kein neues Problem
handelt. Auch in der Rechtswissenschaft wird die Dis-
kussion an diesem Punkt kontrovers geführt. Es gibt na-
hezu ebenso viele Stimmen, die eine analoge Anwendung
des Erschöpfungsgrundsatzes ablehnen, wie solche, die
die Schaffung einer entsprechenden Regelung befürwor-
ten. Auch die Enquete-Kommission „Internet und digi-
tale Gesellschaft“ hat in ihrem Dritten Zwischenbericht
mehrheitlich empfohlen, die Möglichkeit zum Weiterver-
kauf von legal erworbenen, immateriellen Werkstücken

(Musik-, Filmund sonstige Mediendateien sowie Computerprogramme)

aber weit überwiegend eine analoge Anwendung des Er-
schöpfungsgrundsatzes auf unkörperliche Werke ab.

Auch wenn die Interessenlage der Verbraucherinnen
und Verbraucher für eine Gleichbehandlung körperli-
cher und unkörperlicher Werke spricht, sollte man die
denkbaren negativen Auswirkungen der vorgeschlage-
nen Änderung auf die kommerziellen Downloaddienste
für den Vertrieb von E-Books und Musik etc., die in be-
trächtlichem Umfang Investitionen in die Entwicklung
und den Ausbau ihrer Plattformen tätigen, nicht aus den
Augen verlieren.

Eine Differenzierung zwischen Buch und E-Book er-
scheint daher plausibel. Im Gegensatz zum körperlichen
Werk kann das immaterielle beliebig und ohne Quali-
tätseinbußen vervielfältigt werden. Der Weiterverkauf
der Datei, zum Beispiel die „Punkt-zu-Punkt“-Über-
mittlung der Datei per E-Mail, ist eine Vervielfälti-
gungshandlung, die das „Original“ unberührt lässt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


Auch wenn der Entwurf der Fraktion Die Linke vorsieht,
dass die Weiterveräußerung nur zulässig ist, wenn der
Verkäufer keine weitere Vervielfältigung des veräußer-
ten Exemplars zurückbehält, stellt sich doch die Frage,
wie dies kontrolliert werden soll. Die Missbrauchsge-
fahr ist offenkundig. Hier bliebe dem Rechteinhaber nur
die Möglichkeit, die Anzahl der zulässigen Vervielfälti-
gungen bei per Download erworbenen Dateien durch
technische Schutzmaßnahmen zu begrenzen oder gänz-
lich zu unterbinden. Im Ergebnis würde damit auch die
Möglichkeit beschränkt, für den eigenen persönlichen
Gebrauch Privatkopien herzustellen.

Daher stehen wir dem Vorschlag eher kritisch gegen-
über. Ob angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass
der Vertrieb physischer Werkexemplare am Markt zu-
nehmend durch den Vertrieb unkörperlicher Werkstücke
ersetzt wird, mittelfristig über Veränderungen nachge-
dacht werden muss, werden wir in den weiteren Aus-
schussberatungen klären müssen.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1716530500

Die Linken fordern, dass digital erworbene unkörper-

liche Werkexemplare privat weiterveräußert werden
dürfen. Zur Begründung ziehen sie einen Aspekt des
Urheberrechts aus der analogen Welt heran: den Er-
schöpfungsgrundsatz. Dieser besagt, dass sich das
Recht des Urhebers, die Weiterverbreitung eines von
ihm in Verkehr gebrachten körperlichen Werkes zu kon-
trollieren, dann erschöpft, wenn er das Werk in Verkehr
gebracht hat. Dies soll nach Vorstellung der Linken nun
auch für die digitale Welt gelten. Allerdings übersehen
sie dabei ein wesentliches praktisches Problem: Die
Linke erklärt nicht, wie sie vermeiden will, dass es da-
durch zu einer unkontrollierten und unbezahlten Verviel-
fältigung von digitalen Werken kommt. In dem Antrag
auf Drucksache 17/8377 heißt es dazu lediglich, dass
eine Weiterveräußerung nur zulässig sei, wenn der Ver-
äußernde „keine weitere Vervielfältigung des veräußer-
ten Werkexemplars zurückbehält“.

Hier scheint mir aber das größte Problem zu liegen:
Wie soll das in der Praxis kontrolliert werden? Die
Rechteinhaber haben keinerlei Handhabe zu überprü-
fen, ob der Weiterveräußernde nicht doch eine Kopie des
Werkes auf seinem Computer behält. Der Weiterveräu-
ßernde hätte in diesem Fall einen doppelten Vorteil: Er
wäre immer noch im Besitz des digitalen Werkes und
hätte sogar noch einen Teil der Kosten, die ihm beim
Erwerb des Werkes entstanden sind, wieder herein-
bekommen. In der analogen Welt stellt sich diese Frage
nicht. Hier wird spätestens der Käufer, der ein Werk
oder einen Gegenstand gebraucht kauft, auch darauf
achten, dass er diesen Gegenstand auch tatsächlich er-
hält. Folglich ist in der analogen Welt denknotwendig
ausgeschlossen, dass ein weiterverkaufter Gegenstand
gleichzeitig im Besitz des Verkäufers und des Käufers
ist.

Wir müssen uns an dieser Stelle auch die Frage stel-
len, ob analoge und digitale Welt hier eins zu eins zu
vergleichen sind. Die Linke führt in ihrem Antrag den
Verbraucher an, der dadurch verunsichert ist, dass er

eine analog erworbene CD weiterverkaufen kann, ein
digital erworbenes Musikalbum aber nicht. Der Wieder-
verkaufswert von Musik-CDs liegt durchschnittlich ir-
gendwo zwischen 50 Cent und zwei Euro. Ein besonde-
rer wirtschaftlicher Anreiz ist dadurch nicht gegeben. In
der Regel verkaufen die Menschen ihre CDs auch nicht
deswegen, weil sie Geld benötigen, sondern weil sie
Platz für andere Gegenstände gewinnen wollen. Körper-
lose Dateien nehmen jedoch keinen Platz weg, sodass
sich schon die Frage stellt, ob beim Verbraucher über-
haupt der Bedarf für eine Weiterverkaufsmöglichkeit be-
steht.

Durch den Erschöpfungsgrundsatz soll in der analo-
gen Welt erreicht werden, dass der Rechteinhaber an ein
und demselben Werk nicht mehrfach verdient. Dies lässt
sich auf digitale Dateien jedoch nicht eins zu eins über-
tragen. Hier ist die Datei ja nicht als das Werk als sol-
ches zu verstehen. Vielmehr ist die Datei das Träger-
material, das zur Vermittlung des Werkes benötigt wird.
Würde man dies anders einordnen, hätte der Urheber
nur einmal die Möglichkeit, durch den Verkauf seines
Werkes die angemessene Vergütung zu erzielen.

Zudem stehen dem Antrag der Linken auch juristische
Aspekte entgegen.

Die Linke begründet ihren Antrag damit, dass in der
Praxis Rechteinhaber den Käufern oftmals vertraglich
das Recht absprechen, digital erworbene Werke weiter-
zuveräußern. Dies entspricht aber dem Grundsatz der
Privatautonomie. Die Verbraucher haben ja das Recht
und die Möglichkeit, Verträge nicht abzuschließen, de-
ren Konditionen sie nicht tragen wollen. Gerade über
solche Mechanismen entwickelt sich ein Markt. Es kann
ja auch ein Geschäftsmodell sein, dass ein Rechteinha-
ber seinen Kunden die Möglichkeit anbietet, digital
erworbene Werke weiterveräußern zu können. Dies be-
dingt aber keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.

Die Linke erwähnt in ihrem Antrag selber Erwä-
gungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG. Darin heißt
es:

Die Frage der Erschöpfung stellt sich weder bei
Dienstleistungen allgemein noch bei Online-Diens-
ten im Besonderen. Dies gilt auch für materielle
Vervielfältigungsstücke eines Werkes oder eines
sonstigen Schutzgegenstandes, die durch den Nut-
zer eines solchen Dienstes mit Zustimmung des
Rechtsinhabers hergestellt worden sind.

Die Linke folgert daraus, dass der Erschöpfungs-
grundsatz auf urheberrechtlich geschützte Werke gar
nicht anwendbar sei, unabhängig von der Frage, ob sie
körperlich oder unkörperlich vertrieben werden. Dieser
Schluss ist jedoch verfehlt. Die Nichtanwendbarkeit des
Erschöpfungsgrundsatzes auch auf materielle Verviel-
fältigungsstücke wird in Erwägungsgrund 29 ausdrück-
lich an die Zustimmung des Rechteinhabers geknüpft.
Insofern ist hier keine unbegründete Abweichung zu er-
kennen.

Vor diesem Hintergrund lehnt die FDP-Bundestags-
fraktion den Antrag ab.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716530600

Haben Sie schon mal ein E-Book gekauft, eine MP3-

Datei heruntergeladen oder einen Film aus dem Netz
gesaugt? Legal, meine ich? Bestimmt, Sie haben ja alle
Ihre Smartphones in der Tasche stecken oder Ihre Ta-
blet-PC vor sich liegen. Dann gehören diese Dateien
jetzt Ihnen, und Sie können damit machen, was Sie wol-
len – jedenfalls, so lange Sie nicht gegen das Urheber-
recht verstoßen. Richtig? Können Sie Ihr Eigentum auch
weiterverkaufen? Nicht ohne Weiteres. Denn während es
gedruckte Bücher in Antiquariaten und gebrauchte CDs
auf dem Flohmarkt zu kaufen gibt, werden Sie nirgends
einen legalen Secondhandmarkt für Dateien finden. Die
Anbieter, die Filme, Musik oder Bücher zum Download
anbieten, schreiben ins Kleingedruckte hinein, dass ein
Weiterverkauf solcher Waren verboten ist. Sie betrach-
ten die Verträge, die sie mit den Nutzerinnen und
Nutzern schließen, nicht als Kaufverträge, sondern als
Lizenzverträge. Mithilfe des Urheberrechts wird der
Verbraucherschutz ausgehebelt. Der Kunde erwirbt kein
Eigentum, sondern ein sogenanntes Nutzungsrecht.

Das ist erstaunlich, denn um Bücher zu lesen, Musik
zu hören oder Filme anzuschauen, braucht man ein sol-
ches Nutzungsrecht überhaupt nicht. Im Urheberrecht
steht ausdrücklich: Der reine Werkgenuss ist frei. Man
muss den Urheber nicht um Erlaubnis fragen. Heute
werden Bücher, Musik oder Filme eben oft nicht mehr
als materielle, sondern als immaterielle Güter verkauft.
Nüchtern betrachtet, hat sich damit lediglich die Ver-
triebsform geändert. Statt in einen Laden zu gehen,
klickt man auf eine Schaltfläche im Internet.

Was man aber gekauft hat, sollte man auch weiterver-
kaufen dürfen. Wenn mein Musikgeschmack sich ändert,
kann ich meine alten CDs verkaufen. Die Bibliothek
meines Großvaters kann ich ins Antiquariat bringen,
wenn ich möchte. Soll es im Bereich des Digitalen
grundsätzlich keinen Gebrauchthandel geben? Ist
Secondhandhandel im Internet verboten?

Das steht nirgends. Aber es ist dringend eine gesetzli-
che Klarstellung nötig, dass der private Weiterverkauf
von Mediendateien auch tatsächlich legal ist. Das leistet
der Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln. Soweit
ich weiß, legen einige von Ihnen großen Wert darauf,
dass es in diesem Land einen freien Verkehrsfluss von
Waren gibt. Dann muss es auch einen freien Second-
handhandel geben.

Uns ist im Vorfeld dieser Debatte entgegengehalten
worden, wir wollten die Rechte der Urheber einschrän-
ken. Das stimmt nicht, im Gegenteil: Das Recht des
Urhebers, über sein Werk zu verfügen, wird von diesem
Gesetzentwurf überhaupt nicht berührt. Nach wie vor
entscheidet der Urheber allein, ob er sein Werk drucken
lässt, es auf CD veröffentlicht oder ins Internet stellt.
Uns ist außerdem vorgehalten worden, wir wollten, dass
alle ihre Privatkopien im Internet verscherbeln dürfen.
Auch das ist nicht richtig: Privatkopien dürfen sowieso
nicht weiterverkauft werden. Außerdem steht in unserem
Gesetzentwurf ausdrücklich, dass die betreffende Datei,
wenn sie verkauft wird, vom eigenen Rechner gelöscht

werden muss und nicht öffentlich zugänglich gemacht
werden darf.

Was wir fordern, gibt es in den USA längst: Auf der
Plattform ReDigi können Nutzer ihre Musik gebraucht
weiterverkaufen. Eine einstweilige Verfügung dagegen
ist erfolglos geblieben. Wir wollen erreichen, dass man
auch in Deutschland über sein persönliches Eigentum
frei verfügen kann. Das hätten Sie vielleicht von der Lin-
ken gar nicht erwartet. Nun, wir wollten Sie überra-
schen. Überraschen Sie nun auch uns und stimmen Sie
unserem Gesetzentwurf zu.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Gesetzentwurf greift ein wichtiges Einzelproblem
in der Diskussion um die dringend notwendige Moderni-
sierung des Urheberrechts auf und versucht sich an
einer griffigen Lösung. Das ist mehr als anerkennens-
wert, und alle Bestrebungen in diese Richtung verdienen
unsere ausdrückliche Unterstützung. Die Modernisie-
rung des Urheberrechts ist überfällig, weil neben den
weiter fortschreitenden technischen Wandel auch eine
weitgehend veränderte Nutzung von IT-Technologie ge-
treten ist.

Insbesondere das Internet und die damit verbundenen
Nutzungsmöglichkeiten haben geradezu revolutionäre
Veränderungen herbeigeführt, die inzwischen fast alle
Bevölkerungsschichten erreichen. Private wie kommer-
zielle Modelle des Austausches von Inhalten und Infor-
mationen, Werken und Gegenständen werden von die-
sem Wandel erfasst.

Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Veränderungen
vor dem Hintergrund der bestehenden Rechts- und
Grundrechtsordnung zu bewerten, Anpassungsbedarfe
zu ermitteln und die oft gegenläufigen und komplexen
Ziele der durch die Veränderungen berührten Gesetze
und Rechtsbereiche auf ihre Bestandsfähigkeit und
notwendige Modifikationen hin zu untersuchen.

Oft zeigt sich im Wandel auch mit besonderer Deut-
lichkeit, was als bleibender Kern einer Gesetzgebung
gelten kann. Wir Grüne meinen, dass mit dem Urheber-
recht insbesondere der gesellschaftliche Ausgleich zwi-
schen den vielfältigen und unterschiedlichen Interessen
der gesellschaftlichen Akteure in diesem Feld angestrebt
werden muss. Die Idee des Ausgleichs zwischen den
förderungswürdigen individuellen Interessen von Urhe-
berinnen und Urhebern auf der einen Seite und den
wichtigen Interessen der Allgemeinheit an der möglichst
breiten Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Inhalten, Kul-
tur und Wissen steht im Mittelpunkt und hat in vielfälti-
gen differenzierten Regelungen gesetzliche Ausprägung
erfahren.

Wir sind der Auffassung, dass leider in den vergange-
nen Jahren Gesetzesinitiativen auf den unterschiedlichs-
ten Ebenen auch in Europa und international zu einsei-
tig allein in eine Richtung gelaufen sind, nämlich in die
der Verstärkung von Möglichkeiten der Rechteverfol-
gung durch die Rechteinhaber.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


Im Hinblick auf die Digitalisierung wird weitgehend
einer zunehmend unüberschaubaren Rechtsprechung
das Feld überlassen und mit Blick auf die Nutzerinnen
und Nutzer leider ganz überwiegend auf Kriminalisie-
rung und Verfolgung gesetzt. Das hat zu einer Polarisie-
rung der Gesellschaft in Fragen des Urheberrechts ge-
führt, die die Akzeptanz der gesetzlichen Regelungen
schwächt und auch vonseiten der Wirtschaft nicht
gewollt sein kann, weil die Akzeptanz ihrer Geschäfts-
modelle leidet und alle Beteiligten Rechtssicherheit ver-
lieren.

Vor diesem Hintergrund verdient der Antrag der Lin-
ken nähere Erörterung, weil er ein dringend zur Reform
anstehendes, aus der Digitalisierung und zunehmenden
Onlineverfügbarkeit von geschützten Werken und Inhal-
ten entstehendes Teilproblem anspricht.

Es ist beklagenswert, dass die Bundesregierung ent-
gegen ihrer Ankündigung nicht selbst die notwendigen
Initiativen ergreift. Die von ihr vollmundig angekün-
digte Reform in Gestalt eines „dritten Korbes des Urhe-
berrechts“ steckt in den vielfältigen Fallstricken dieses
von mächtigen Verbands- und Lobbyinteressen gepräg-
ten Regelungsumfeldes fest.

Das deutlichste Zeichen, dass die Bundesregierung
dabei den Kompass für eine sachgerechte Herangehens-
weise und Lösung verloren hat, zeigt das jüngst im
Koalitionsausschuss verabschiedete Leistungsschutz-
recht. Denn keiner der bislang von der Bundesregierung
ohnehin nur äußerst sparsam ins Spiel gebrachten Vor-
schläge ist ausreichend konkret, geschweige denn
schlüssig. Geboten wird die Katze im Sack inklusive
Risiken und Nebenwirkungen.

Als einseitiges Geschenk an die tradierte Medienin-
dustrie bleibt dieser vage Vorschlag in seiner Rechtferti-
gung fragwürdig und fachlich neblig. Ob es deshalb je-
mals zu einem mit den Grundsätzen des Urheberrechts
zu vereinbarenden Entwurf kommen wird, ist ungewiss.

Beim Erwerb von unkörperlichen Werkexemplaren
– das hat die eingehende Studie der Verbraucherzentrale
Bundesverband vom April vergangenen Jahres gezeigt –
besteht eine einseitig zulasten der Nutzer gehende
Situation. Sei es beim Download von Musikdateien, von
E-Books oder anderen digital erfassten Inhalten, in
aller Regel erhalten die Erwerber kein dem analogen
Erwerbsgeschäft vergleichbares Verfügungsrecht.

Stattdessen werden diese im Wege der lizenzvertrag-
lichen Bedingung auf das Urheberrecht verwiesen, das
keine Weiterveräußerung des erworbenen Exemplars zu-
lässt. Das bedeutet konkret:

Die auf einer CD gekaufte Mozartarie kann ich ge-
braucht weiterveräußern, die online gekaufte, inhaltlich
völlig identische Mozartarie jedoch nicht. Das führt also
zu der grotesken Situation, dass ein und derselbe Er-
werbsvorgang via eines körperlichen Werkstückes wie
etwa einer CD den Wiederverkauf eröffnet hätte, nicht
aber der Download, ein Widerspruch, für den die sach-
liche Begründung fehlt.

Geschützt werden damit einseitig allein diejenigen
großen Onlineanbieter wie zum Beispiel iTunes, aber
auch viele bundesdeutsche Anbieter, die online vertrei-
ben und sich eine entsprechende Privilegierung auf-
grund der bestehenden Regelungsdiskrepanz ausbedin-
gen, während innovative Geschäftsmodelle behindert
werden. Dass damit eine zeitgerechte Regelung des
Onlinehandels vorliege, mag wohl niemand ernsthaft
behaupten.

Die gesamte Problematik beschäftigt bereits seit Jah-
ren die Gerichte und mittlerweile auch im Fall usedSoft
den Europäischen Gerichtshof. Ob etwa der Erschöp-
fungsgrundsatz bei immateriellen Gütern greift oder
nicht, ist umstritten. Das Urteil des EuGH zu usedSoft
wird entsprechend dringend erwartet. Gefragt ist des-
halb völlig zu Recht der Gesetzgeber.

Der vorgelegte Entwurf entscheidet sich in dieser
Frage für eine pragmatische Minimallösung. Unabhän-
gig von der Frage, ob dieser Lösungsansatz tatsächlich
den komplexen Anforderungen des Urheberrechts stand-
halten könnte, wirft er praktische Fragen auf.

Wenn lediglich die Bereitstellung in einem indivi-
dualisierten Webspace oder die Einzelversendung per
E-Mail sicherstellen kann, dass der Erwerber bei der
Weiterveräußerung vor den Nachstellungen des Rechte-
inhabers im Hinblick auf Verwertungsrechte sicher ist,
so stellt sich die Frage der Akzeptanz und Praktikabili-
tät angesichts einer sich völlig anders darstellenden
Realität. Ob auf diese Weise der nach bestehendem
Recht offenkundig urheberrechtswidrige Markt des
Handels mit Werkstücken wieder eingefangen werden
kann, ist zweifelhaft.

Ebenfalls nicht besonders praktikabel erscheint die
wohl kaum näher nachprüfbare Vorgabe, wonach der
Erwerber bei der Weiterveräußerung kein Exemplar zu-
rückbehalten darf. Weil man ersichtlich ein entspre-
chend dem Verfahren beim körperlichen Werkexemplar
nachmodelliertes Rechtsmodell verfolgt, werden Vorga-
ben gemacht, die in ihrer Anlehnung an analoge Zeiten
schief konstruiert wirken.

Es stellt sich deshalb, bei aller Anerkennung für den
Versuch einer pragmatischen Lösung, doch die Frage,
ob es nicht einer grundlegenderen Herangehensweise
des Gesetzgebers bedarf, um einen entsprechenden Aus-
gleich zwischen Urhebern, Verwertungsindustrie und
Nutzern herbeizuführen. Dabei wären die Eigenheiten
und Spezifika des netzgestützten Handels mit digitali-
sierten Werkstücken in ihrem Widerspruch zur überkom-
menen Urheberrechtsordnung umfassender zu benennen
und so zu regeln, dass anbieter- wie nutzergerechte, spe-
ziell zugeschnittene Lösungen geschaffen werden. Hier
sollte es, wie auch in der Debatte um Pauschalvergütun-
gen, keine Denkverbote geben. Diese können von sicher-
lich vielen und auf unterschiedlichen Ebenen zu schaf-
fende Lösungsansätze bieten, mit denen der Idee des
gerechten Interessenausgleichs im Urheberrecht endlich
Rechnung getragen wird.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716530700

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/8377 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea
Steiner, Oliver Krischer, Tabea Rößner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Sammlung und Recycling von Elektronik-
schrott verbessern

– Drucksache 17/8899 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt.


Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1716530800

Vieles an dem Antrag zur Wiedergewinnung wertvol-

ler Wertstoffe aus Elektro- und Elektronikschrott ist all-
gemeine Ansicht hier im Deutschen Bundestag und bei
vielen Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern.
Und völlig zu Recht begrüßt der Antrag der Grünen die
vielfältigen Initiativen der schwarz-gelben Koalition
und ihres Bundesumweltministers in der Frage des
Schutzes natürlicher und in der Tat immer wertvoller
werdender Ressourcen. Diese Aufgabe wird von der
Bundesregierung seit jeher als Querschnittsaufgabe
wahrgenommen und von kommunaler Ebene bis hin zu
EU-Ebene und globaler Ebene als eine der obersten
Prioritäten angepackt.

Die ganz überwiegende Zahl der im Antrag genann-
ten Punkte können wir als „Fleißarbeit“ loben. Hier ist
viel aus den Papieren der Bundesregierung und der EU
und von anderen Quellen abgeschrieben bzw. zusam-
mengetragen worden. Von WEEE über Ökodesign-
Richtlinie, Recyclingziele und Sammelquoten und der
allfälligen Ressourceneffizienz sind nahezu alle notwen-
digen Stichworte aufgeschrieben. Mir fielen zwar noch
ein paar mehr ein, aber es ist schon eine gute Sammlung
der einschlägigen Schlagwörter, die genannt werden
müssen.

Nun ist es leider oft ein kurzer Weg von guten Absich-
ten zu schlechter Umsetzung. Und prompt haben die
Grünen wieder einen Beweis für diese These angetreten:
Denn kaum haben die Grünen mal wieder eine Idee, von
der sie behaupten, dass sie der Umwelt nutze, da über-
fällt die Grünen der politpsychologisch zwanghafte
Druck, sofort irgendeine Zwangsmaßnahme vorzuschla-
gen; denn ohne Zwangsmaßnahmen, so das offensicht-
liche Denkmodell der Grünen, geht nichts. Freie Bürger,
freie Menschen, gar mit freiem Willen, das scheint den
Grünen ein Graus zu sein. Oder sie können sich gar
nicht vorstellen, dass es unideologische Menschen gibt,

die verantwortungsvoll mit natürlichen Ressourcen
umgehen.

Sprechen wir vom Highlight des grünen Antrags, vom
– Überraschung, Überraschung – Zwangspfand. Das
werden Sie ja nun gar nicht mehr los, dieses Zwangs-
pfand. Es hat psychologisch und politisch tiefe Spuren
bei den Grünen hinterlassen. Man könnte von einer ver-
gifteten Trittin‘schen Schenkung sprechen.

Historisch wissen wir, dass die andere Schenkung
eine Fälschung war. Politisch wissen wir, dass der
Trittin‘sche Zwangsansatz zum Zwangspfand bei Dosen
eine ganze mittelständische Branche an den Rand ge-
drückt hat, nämlich die Glas-Mehrweg-Branche. Auch
der rote Nachfolger des grünen Täters hat den
Trittin‘schen Schaden nicht reparieren können, und
heute tun wir uns schwer, die Struktur für Mehrweg zu
stärken.

Warum gehört dieser Exkurs genau hierher? Ganz
einfach: weil die Grünen nach dem Dosenpfand nun ein
Handypfand einführen wollen – zwanghaft, natürlich.
Und das, obwohl uns das Dosenpfand bitter gelehrt hat,
dass der Schaden zwanghafter Handlungen erheblich
größer sein kann als der ökoideologisch versprochene
Nutzen. Zwar ist es wichtig, wertvolle Rohstoffe aus den
zirkulierenden Mobiltelefonen nicht sprichwörtlich „im
Müll“, das heißt, in der grauen Tonne für Abfall zur
Beseitigung, landen zu lassen. Und auch ich werfe, wie
Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, ein
Handy ebenso wenig in den Müll wie einen PC, eine
Spielkonsole oder andere technische Geräte. Um das
einmal auch für Ökoideologen klar und einfach auszu-
drücken: So etwas tut man nicht; denn wir sind ja nicht
blöd.

Das ist also gar nicht der Fall. Es stimmt: Seit Jahren
beklagen wir hier, die Wirtschaft und die Umweltver-
bände, dass zig Millionen ungenutzte, alte Mobiltelefone
in den oft zitierten Schubladen herumliegen. Allerdings
ist es so, dass diese Mobiltelefone von den Käufern mit
teils sehr hohen Summen bezahlt wurden, also deren
Eigentum sind. Und so ist es auch heute: Wer ein Handy
kauft, der zahlt für dieses kleine Teil einen meist hohen
Preis. Das macht das Teil wertvoll, und wertvolle
Sachen wirft kaum einer weg. Aber selbst kleine, preis-
werte Mobiltelefone werden nicht einfach ex und hopp
weggeworfen. Große wie kleine Altteile werden, wie die
Branche und jeder privat weiß, zumeist gut aufbewahrt.

Oft, wie nicht nur in meinem Fall, werden die zumeist
ja noch sehr nutzbaren Altgeräte übrigens direkt dem
Kreislauf wieder zugeführt. Wie das geht, ganz ohne
Zwang, das kann ich den „Zwanghaften“ von der
Grünen-Fraktion erläutern: Ein altes Handy, Kabel und
anderes Altgerät habe ich auf dessen Nachfrage einem
Freund schlicht überlassen – ohne Überlassungspflicht,
stellen Sie sich vor, aus rein freiem Willen. Er nannte das
Direktrecycling, und wir beide fanden: Besser geht es
kaum. Und alles ohne Zwang, in Freiheit und in Verant-
wortung für die Umwelt.

Die Grünen sollten auch hier von ihrem und unserem
gemeinsamen zukünftigen Präsidenten Joachim Gauck





Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)


lernen: Freiheit zur Verantwortung heißt sein Leitmotiv,
nicht Zwang zur Verantwortung.

Nun könnte man sagen: Es ist richtig, wir brauchen
die Rohstoffe. Und weil wir die Rohstoffe brauchen,
müssen wir ein Verfahren haben, wie wir die zurückge-
winnen können. Und dazu wiederum braucht es Anreize.
Stimmt alles. So weit, so gut. Hier aber findet die Gabe-
lung statt, kommt der Unterschied zwischen phantasie-
los und kreativ, zwischen Zwang und Freiheit: Zwangs-
pfand ist kurzsichtig, im Lösungsansatz primitiv und im
Übrigen ordnungspolitisch repressiv.

Für die Rücknahme und Rückgabe von ausgedienten
Altgeräten mit wertvollen Wertstoffen gibt es nicht nur
bereits kommunale und private Strukturen, die auch in
Zukunft tragen und flexibel ausgebaut werden können.
Es gibt auch zahllose Rückgabestellen im Handel, auch
bei karitativen Organisationen und in Behörden und In-
stitutionen, die aus Verantwortung für die Umwelt und
aus anderen Anreizen sammeln, damit sorgfältig recycelt
werden kann. Und das alles geht ökologisch wie ökono-
misch effizient und sozusagen zwanglos.

Wer will, dass die Menschen ihrer Verantwortung für
die Umwelt nachkommen und ihren eigenen Nachkom-
men – so sie welche haben – eine bessere, gesündere
Umwelt hinterlassen, der muss großes Interesse an
Verantwortung und Freiheit haben, und dafür kämpfen.
Konkret bedeutet das im vorliegenden Fall: umsichtig
für Umwelt eintreten, Ressourcenschutz hoch ansiedeln,
Recycling, am besten direkte Wiederverwendung, beför-
dern.

Beim Thema ITK ist die Folge dieser Freiheit zur
Verantwortung, dass wir Produzenten und Abnehmer,
Handel und Mobilfunkprovider und vor allem die Millio-
nen Nutzer mit intelligenten Anreizen auf, ganz wichtig,
freiwilliger Basis zur, wiederum wichtig, nachhaltigen
Ressourcenschonung auffordern. Zwang schreckt ab,
Repression ist Mittel gegen schweren Missbrauch. Das
mag beim problematischen Export in Länder der soge-
nannten Dritten Welt mit all den Gesundheitsrisiken und
Umweltschäden sehr sinnvoll sein. Und wir sind die
Letzten, die dies nicht verhindern wollten, und nötigen-
falls mit aller Macht. Dennoch muss die Debatte über
den Kern der Ressourcenschonung geführt werden. Das
beginnt bei der Produktion, betrifft im Übrigen am Ende
die einzelne, verantwortliche Kaufentscheidung eines
jeden Konsumenten, auch derer, die Mitglied hier im
Deutschen Bundestag sind, und es betrifft nicht nur ITK-
Produkte, sondern auch Autos, viele andere Konsumgü-
ter, Einrichtungsgegenstände und vieles mehr.

Eine „Handypfand“-Debatte daraus zu machen, wie
die Grünen es uns leider vorgeführt haben, ist ein
falscher Weg. Deshalb gehört der Antrag, trotz vieler
richtiger abgeschriebener Punkte, politisch aufs Ab-
stellgleis. Wir nehmen uns als CDU/CSU die Freiheit,
aus Verantwortung diesen Antrag in dieser Form abzu-
lehnen.


Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1716530900

Als zuständiger Berichterstatter für Abfallwirtschaft

in der SPD-Bundestagsfraktion kann ich dem Antrag der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich zustim-
men. Der Antrag greift ein Problem auf, dass auch wir
Sozialdemokraten seit längerer Zeit thematisiert haben.

Wenn Sie selber genau nachdenken, werden Sie fest-
stellen, dass auch Sie ungenutzte, überholte oder defekte
Elektrogeräte im Haushalt gelagert haben. Dies trifft,
davon bin ich überzeugt, auf die meisten deutschen
Haushalte zu. Die Sammel- und Recyclingquote für
Elektroaltgeräte in Deutschland ist im europäischen
Vergleich zwar Spitze. Die Umsetzung der europäischen
WEEE-Richtlinie war zum damaligen Zeitpunkt angemes-
sen und im europäischen Vergleich beispielgebend. Trotz-
dem ist gerade im Bereich des Elektroschrotts eine Ver-
besserung der Sammlung und des Recycling vonnöten.

Gerade in diesem Bereich ist die Quote im Vergleich
zu anderen Abfallarten geringer. Wie gesagt, dies liegt
auch daran, dass viele Elektroaltgeräte vergessen in den
Haushalten herumliegen. Viele Elektrokleingeräte wer-
den auch immer noch in den Restmülltonnen entsorgt
und gehen damit größtenteils der Kreislaufwirtschaft
verloren. Angesichts dieser Realitäten ist eine Verbesse-
rung durchaus machbar. Die Sammlung muss für den
Bürger einfacher werden, dann wird auch die Samm-
lungsquote verbessert.

In dem Antrag der Grünen-Fraktion wird ausführlich
auf die Bedeutung der zurückgewonnenen Wertstoffe
hingewiesen. Ich brauche dies daher nicht zu wiederho-
len. Ich verweise aber darauf, dass von einer unsachge-
mäßen Entsorgung von Elektroaltgeräten immer noch
ökologische oder gesundheitliche Gefahren ausgehen.
Die höhere Anzahl von gebrauchten und defekten Ener-
giesparlampen im Abfall, insbesondere in Altglascontai-
nern, gefährdet nach Untersuchungen aus Skandinavien
die Mitarbeiter von Recyclingunternehmen. FCKW in
alten Kühlschränken und heute bereits verbotene giftige
Stoffe in Altgeräten gefährden immer noch die Umwelt.
Wenige alte Batterien können die stoffliche Verwertung
von Bioabfällen zu Kompost unmöglich machen. Sie
sehen, es gibt nicht nur wirtschaftliche und rohstoffpoli-
tische Gründe für eine Verbesserung des Elektroschrott-
recyclings, auch wenn diese sehr wichtig und momentan
in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehen.

Aus all diesen Gründen ist eine umgehende Verbesse-
rung des Sammelns und des Recyclings von Elektroalt-
geräten nötig. Ich begrüße daher auch, dass die Bundes-
regierung in einer Antwort auf meine Schriftliche Frage
die Neuregelungen bei der Revision der europäischen
Elektrogeräterichtlinie, WEEE, befürwortet und umset-
zen will. Um dieses Ziel zu erreichen, muss aber am
Anfang, bei der Produktion, begonnen werden.

Der Ressourcenverbrauch, sowohl der energetische
als auch der stoffliche, muss gesenkt werden. Vor allem
aber muss die Lebensfähigkeit, die Langlebigkeit und
die Wiederverwendbarkeit von Elektro-, Elektronik- und
IT-Geräten verbessert werden. Ich weiß, davon reden
alle, auch die Wirtschaft. Noch sieht die Realität aber
anders aus. Machen wir uns nichts vor: Immer noch
werden Elektrogeräte so produziert, dass sie kurz nach
Ablauf der Gewährleistungspflicht kaputtgehen. Tech-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gerd Bollmann


(A) (C)



(D)(B)


nisch könnte die Lebensdauer der Geräte, Elektroge-
räte, bereits heute viele Jahre länger sein.

Aber genau dies geschieht oftmals nicht. Es wird so
produziert, dass der Bürger nach einigen Jahren ein
neues Gerät kaufen muss. Erhöhung des Umsatzes, nicht
nachhaltiges Wirtschaften ist die Realität. Sogar in der
Forschung, und dies halte ich für einen großen Skandal,
werden Methoden erforscht, damit Produkte relativ
schnell defekt werden. Hier muss sich vieles ändern,
nicht nur wie bisher mit Worten, sondern auch mit Taten.
Die Produktion muss sich ändern in Richtung Nachhal-
tigkeit.

Aber nicht nur die Langlebigkeit muss verbessert
werden, auch die Recyclefähigkeit der Produkte muss
bei der Produktion berücksichtigt werden. Es müssen
recycelbare Materialen eingesetzt werden. Die leichte
Zerlegung und anschließende Verwertung muss von
Beginn an berücksichtigt und ermöglicht werden. Das
Verlöten, Verschweißen und Vermischen unterschiedli-
cher Materialien, mit der Konsequenz, dass sie nicht
oder nur schwer stofflich verwertet werden können,
müssen massiv verringert werden. Dazu sind auch poli-
tische Vorgaben und Anreize beim Produktdesign not-
wendig.

Der vorliegende Antrag weist hier auf konkrete
Möglichkeiten, zum Beispiel die Umsetzung eines Top-
Runner-Programms, hin. Die SPD fordert seit langem
ein solches Programm. Auch die Verlängerung der Ge-
währleistungspflicht und konsequentere Herstellerver-
antwortung sind gute Ansätze. Eine Rücknahmepflicht
des Handels für Elektrokleingeräte fordern auch wir. Ich
halte das für eine sinnvolle, verbraucherfreundliche
Möglichkeit, die Sammelquote, vor allem für Elektro-
kleingeräte, zu verbessern. Diese Rücknahmepflicht
sollte meiner Meinung nach umgehend eingeführt wer-
den. Es ist nicht nötig, auf den Zeitpunkt zu warten, bis
die EU die Umsetzung vorschreibt.

Einige ergänzende Anregungen und kritische Nach-
fragen seien mir noch gestattet. Bei der damaligen
Umsetzung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes
hat die SPD Regelungen durchgesetzt, welche den
Behindertenwerkstätten und anderen sozialen Einrich-
tungen weiterhin einen Anteil am Recyclingmarkt gesi-
chert haben. Dies hat zu meiner großen Freude auch gut
geklappt. Zahlreiche Kommunen, Entsorgungs- und
Elektrounternehmen haben Verträge mit Behinderten-
werkstätten für das Elektroschrottrecycling abgeschlos-
sen. Dort wird eine ökologisch und sozial sinnvolle
Tätigkeit geleistet. Bei allen notwendigen Reformen
muss dies erhalten bleiben.

Es wird hier vorgeschlagen, einen verpflichtenden
Mindestanteil recycelter Rohstoffe bei der Produktion zu
prüfen. Das ist sicherlich überlegens- und prüfungswert.
Ich kann mir aber noch nicht vorstellen, wie eine solche
Quote, vor allem bei Importprodukten, zu überprüfen ist.

Heute haben wir auch über das Ressourcenschutzpro-
gramm der Bundesregierung debattiert. Die Ziele und
Grundsätze sind die gleichen wie in dem vorliegenden
Antrag. Darüber hinaus hat die Bundesregierung öffent-

lich die Zustimmung zu der Novelle der WEEE deutlich
gemacht. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diesem
Antrag, der ihren Zielen entspricht, zustimmen werden.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1716531000

Die ungeregelte Ausfuhr von europäischem Elektro-

schrott in afrikanische Länder lässt mich nicht unbe-
rührt. Es ist nicht akzeptabel, dass wir unseren Dreck
einfach anderswo abladen. Gleichwohl ist ein differen-
zierter Blick erforderlich: Es gibt schadstoffbelastete
und kaputte Elektrogeräte, es gibt reparable Elektroge-
räte und es gibt funktionstüchtige Geräte, die ihren Weg
auf andere Kontinente finden. Ich sehe kein Problem
darin, wenn funktionstüchtige Altgeräte in anderen
Ländern genutzt werden.

Deutschland hat sich auf europäischer Ebene für ef-
fektivere Exportregeln eingesetzt. Es hätte auch wenig
Sinn gemacht, diese auf nationaler Ebene im Alleingang
einzuführen. Schließlich lebt unser Binnenmarkt von of-
fenen Grenzen. Es kann nicht in unserem Interesse sein,
dass Exportregeln ohne großen Aufwand umgangen
werden.

Der europäische Vorschlag der WEEE-Richtlinie ist
deshalb hinsichtlich der Exportregeln voll und ganz zu
begrüßen. Die Exporteure müssen zukünftig die Ge-
brauchsfähigkeit der Geräte nachweisen. Damit können
die negativen Umwelt- und Gesundheitseffekte in afrika-
nischen Ländern wirksam werden. Diese Regelung der
Richtlinie wollen wir zügig in nationales Recht umset-
zen. An dieser Stelle will ich dem Antrag auch ausdrück-
lich beipflichten. Wenngleich dies in meinen Augen auf-
grund der Verhandlungsführung der Bundesregierung
eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.

Dennoch: An einigen anderen Stellen ist der Antrag
der Grünen nicht zielführend bzw. spricht nicht alle rele-
vanten Probleme an.

Die Grünen fordern ein verbessertes System der
haushaltsnahen sortenreinen Sammlung von Elektroge-
räten. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich nichts
anderes als eine weitere Elektroschrotttonne. Diese ist
verbraucherunfreundlich, ohne Umweltnutzen und reali-
tätsfremd.

Wie Ihnen sicher bekannt ist, plant die Bundesregie-
rung die Einführung einer Wertstofftonne. Allerdings
soll diese die gelben Tonnen und gelben Säcke ersetzen.
Der gesammelte Inhalt soll an die heutigen Standards
der Sortierung und Verwertung angepasst werden. Bei
der Wertstofftonne lohnt sich das auch. 600 000 Tonnen
mehr werden wir jährlich an Plastik und Metallen dem
Recycling zuführen.

Aufgrund der Kontamination des restlichen Inhalts
und Schwierigkeiten beim Recycling wird Elektroschrott
voraussichtlich bei der Wertstofftonne nicht dabei sein.

Eine Tonne nur für Elektroschrott allein lohnt sich
nicht. Zwar landen in Deutschland pro Jahr 142 000 Ton-
nen an Elektrokleingeräten im Restmüll. Wir verlieren
dadurch viele Wertstoffe, die wir anderweitig gut
gebrauchen könnten. Aber wenn Sie die Zahlen hoch-

Zu Protokoll gegebene Reden





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


rechnen: Diese Tonne lässt sich niemals füllen! Ich
wette, dass leere Tonnen mit großen Abholzeiträumen
spätestens dann voll werden, wenn die sonstigen Tonnen
im Hof voll sind. Allerdings nicht mit Elektroschrott,
sondern allem möglichen anderen Mist. Damit können
Sie den Elektroschrott nicht mehr sinnvoll nutzen. Nein,
diese Tonne macht keinen Sinn.

Ein anderer Vorschlag von Ihnen zielt auf die stärkere
Einbeziehung des Effizienzgedankens beim Produkt-
design und dabei insbesondere auf verbindliche Vorga-
ben für das abfallarme Design von Neugeräten. Oder,
um es einfacher auszudrücken: Der Hersteller soll,
wenn er heute für ein Handy 25 Milligramm Gold und
500 Gramm Gummi braucht, in Zukunft nur noch
15 Milligramm Gold und 350 Gramm Gummi verbrau-
chen. Genau darin steckt ihr Denkfehler. Dadurch, dass
Sie das Einsparziel unter Zwangsandrohung in den
Vordergrund stellen wollen, üben Sie Druck auf die
Forschungsabteilungen der Unternehmen aus, Effi-
zienzeinsparungen über alle anderen Forschungspro-
jekte zu stellen.

Wir finden es reizvoller, einen Anreiz dafür zu setzen,
bei der Handykonstruktion darauf zu achten, dass die
Teile leicht auseinanderzubauen sind und wiedergenutzt
werden können. Wenn das funktioniert, ist es auch egal,
wie viel Material verwendet worden ist.

Hier setzen Sie den Schwerpunkt, „weniger zu ver-
brauchen“. Wir setzen den Schwerpunkt, „mehr zu ge-
brauchen“. Aus diesem Grund widerspricht die von uns
heute in erster Lesung zum Ressourceneffizienzpro-
gramm beschlossene Regelung auch ihrem Vorschlag:
Wir wollen bei Normungsprozessen neben dem Energie-
verbrauch auch andere geeignete Ressourcenaspekte
vermehrt berücksichtigen. Dies soll die Anreize erhö-
hen, ressourceneffiziente Produkte und Dienstleistungen
zu entwickeln und zur Marktreife zu führen.

Noch in einem dritten Punkt muss ich ihrem Antrag
widersprechen: Sie wollen einen verpflichtenden Min-
destanteil recycelter Rohstoffe bei der Herstellung von
IT- und Kommunikationsgeräten. Ist Ihnen eigentlich
klar, was das bedeutet? Sie müssen für jeden Rohstoff re-
gelmäßig die Marktsituation am Sekundärrohstoffmarkt
analysieren, ob ausreichend Sekundärrohstoffe über-
haupt verfügbar sein könnten. Für manche Stoffe sind
noch keine geeigneten Recyclingverfahren gefunden. Sie
brauchen Beamte, die Geräte kontrollieren, um
Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Wie kontrollieren
Sie das, wenn wie beim Kunststoff die Eigenschaften von
Sekundärrohstoffen und Primärrohstoffen verfließen?
Die Gerätetypen unterscheiden sich – nicht zuletzt
dabei, wie Sie jeweils für den Einbau von Recyclingma-
terialien geeignet sind. Sie brauchen dann für jeden
Gerätetyp eine unterschiedliche Quote. Hinter dieser
Forderung steckt ein bürokratisches und planwirtschaft-
liches Monstrum. In der Sache ist es sehr viel vielver-
sprechender, das System der Wiederverwendung und des
Recyclings von Elektrogeräten zu optimieren.

Insgesamt sehe ich im Antrag durchaus Ansätze, die
die FDP so mittragen könnte. An einigen Stellen finden

sich dennoch undurchdachte und auch fehlerhafte Posi-
tionierungen, die zwingend abzulehnen sind.


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716531100

Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Sammlung

und das Recycling von Elektronikschrott zu verbessern.
Zur Verbesserung der Sammlung soll die haushaltsnahe
Erfassung von Elektrogeräten ausgebaut und der Han-
del zur Rücknahme verpflichtet werden. Die Einführung
einer Pfandpflicht soll Anreize für Verbraucherinnen
und Verbraucher setzen, die zu entsorgenden Geräte zu-
rückzugeben.

Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Entschließungs-
antrag, Bundestagsdrucksache 17/7509, die Einrichtung
von Pfandsystemen für technische Geräte bereits gefor-
dert und unterstützt den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen. Die momentanen Erfassungsquoten sind längst
nicht ausreichend und außerdem von der Größe der Pro-
dukte abhängig. Während Großgeräte meistens bei den
kommunalen Sammelstellen abgegeben werden, landen
kleinere Geräte vorwiegend im Restmüll und werden
durch die Erfassung größtenteils zerstört.

Es sind gerade die kleineren Produkte, mit denen
hochwertige Rohstoffe durch die Nichterfassung einer
Kreislaufwirtschaft entzogen werden. Zum erheblichen
Teil belasten die verwendeten Stoffe wegen ihrer Toxizi-
tät aber auch massiv die Umwelt. Wegen der enormen
Zahl der im Umlauf befindlichen Geräte ist die Erfas-
sung daher kurzfristig möglichst auf 100 Prozent zu stei-
gern. Die Einführung einer Pfandpflicht hält meine
Fraktion für ein geeignetes Mittel auf dem Weg dahin.

Die Antragsteller wollen das Pfand im Rahmen eines
Pilotprojekts für Mobiltelefone und Smartphones in ei-
ner Größenordnung von 10 Euro je Gerät einführen.
Dieser Preis ist so weit angemessen.

Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wei-
tere sinnvolle Forderungen aufgestellt. Es geht beson-
ders um die Eindämmung illegaler Müllexporte, die
Weiterentwicklung der Produktverantwortung besonders
in Hinblick auf die Minimierung der verwendeten Stoff-
mengen und auf längere Haltbarkeiten, die Ausweitung
der Garantiezeiten und um höhere Forschungsmittel zur
Entwicklung innovativer Recyclingverfahren. In der
Rede meines Kollegen Ralph Lenkert zum Kreislaufwirt-
schaftsgesetz wurden diese Problematiken bereits ange-
sprochen und Lösungen vorgestellt.

Die Wiederverwendung wird im Antrag angespro-
chen. Sie reduziert sich jedoch im Wesentlichen auf die
Entwicklung eines Gebrauchsgütermarktes. Wegen der
permanenten Weiterentwicklung und der kurzen Genera-
tionszeiten von Mikroelektronik sind andere Möglichkei-
ten auch aus Sicht meiner Fraktion in der Praxis nicht
möglich. Diese Situation ist vor allen Dingen dem aus-
ufernden globalen Wettlauf um die besten Produkte ge-
schuldet. Sie verursacht systemisch den Verbrauch von
Ressourcen und Energie.

Die Medien sind weltweit auf das Anheizen des Kon-
sums ausgerichtet und erzielen einen großen Teil ihrer

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothée Menzner


(A) (C)



(D)(B)


Einnahmen durch Werbung. Die Abfallproblematik der
Elektrokleingeräte ist unbedingt auch systembedingt.

Eine Entschleunigung ist derzeit kaum möglich. Dazu
bedürfte es einer Veränderung der Werte. Damit die end-
lichen Ressourcen wirkungsvoll geschützt werden kön-
nen, bleiben momentan wenig Möglichkeiten offen. Eine
der Möglichkeiten wäre die Einführung einer Steuer auf
den primären Ressourcenverbrauch. Das fehlt aus unse-
rer Sicht im Antrag.

Da wir die gestellten Forderungen insgesamt für
richtig halten, stimmt Die Linke für den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716531200

Die diesjährige CeBIT setzt auf Wachstum im Elek-

tronikbereich. Es wird gejubelt über hohe Zuwachsraten
bei Smartphones und Tabletcomputern. Gerade anläss-
lich einer Messe wie der CeBIT wird aber auch erneut
deutlich, dass dieses Wachstum in der IT-Kommunika-
tionselektronik zu immer kürzerer Nutzungsdauer der
Geräte führt und eine immer größere Menge an Elektro-
nikschrott produziert wird.

Nach aktuellen Schätzungen werden weniger als
25 Prozent der ausgedienten Mobiltelefone einer ad-
äquaten Verwertung zugeführt. Millionen und Abermil-
lionen von Geräten jedoch vergammeln in Schubladen.
Fragen Sie sich mal, wie viele Althandys bei Ihnen ein
trostloses Dasein in Schubladen fristen? In Deutschland
sind es zwischen 60 und 120 Millionen Geräte.

Dabei sind Mobiltelefone heute wahre Schätze. Wir
alle horten zu Hause wichtige Ressourcen, insbesondere
die in den letzten Jahren in den Fokus gerückten Selte-
nen Erden. Aber Elektronikgeräte insgesamt werden
nicht ausreichend recycelt, obwohl allgemein bekannt
sein sollte, welche Rohstofflager sie sind. Fernseher und
Computer werden illegal nach Afrika oder Asien ver-
schifft und dort unter erbärmlichen Bedingungen zer-
legt. Damit exportiert Deutschland jährlich mindestens
1,6 Tonnen Silber, 300 Kilogramm Gold und 120 Kilo-
gramm Palladium, wie eine Studie des Umweltbundes-
amtes belegt. Wir könnten noch Lithium und das seltene
Coltan anführen; auch hier sind entsprechende Zahlen
zu finden.

Aber dies ist nicht alles: Wir sind über den illegalen
Export auch mitverantwortlich für schlimmste gesund-
heitliche Schäden bei Menschen in Afrika und Asien
sowie für massive Verseuchung der Böden und des Was-
sers, die Folgen der unzureichenden Zerlegung unseres
E-Schrotts sind. Die Sorge darum mag manch einer von
der FDP als Gutmenschentum abtun, aber wir Grünen
übernehmen hier Verantwortung auch für den Umwelt-
und Gesundheitsschutz in anderen Ländern der Welt.
Uns sind auch die internationalen Auswirkungen unse-
res Handelns – anders als den Liberalen – nicht egal.

Wir alle kennen die eben skizzierten Tatsachen genau.
Auch Umweltminister Röttgen betont in Sonntagsreden
immer wieder gerne, wie wichtig Recycling ist und dass
wir die Ressourcen daheim in der Schubladen erschlie-
ßen müssen. Der Anteil der in Deutschland gesammelten

und recycelten Elektronikgeräte bleibt jedoch weiterhin
gering, und konkrete Maßnahmen, um diesen zu stei-
gern, vermissen wir schmerzlich. Lieber macht die
Kanzlerin Rohstoffdeals mit Diktatoren in Zentralasien
und drückt alle Augen zu bei Menschenrechts- und
Demokratiefragen.

Halten Sie sich vor Augen, wie viele wertvolle Res-
sourcen in dem Elektronikschrott zu finden sind, der es
nicht zum Recycling schafft. Wir müssen das Problem
endlich angehen und Lösungsstrategien entwickeln;
deshalb unser Antrag zur Verbesserung der Sammlung
und des Recyclings von Elektroschrott.

Was ist der erste Schritt zu mehr Recycling? Die
Geräte müssen erst mal eingesammelt werden. Dies ist
das Hauptproblem. Wir haben das Thema lange mit ver-
schiedenen Fachleuten diskutiert, insbesondere die Fra-
gen, wie mehr Altgeräte gesammelt werden können.
Geeignet dafür ist eine Rücknahmepflicht im Handel.
Alleine von Bürgerinnen und Bürgern zu erwarten, dass
sie aktiv danach suchen, wo sie ihre Geräte abgeben
können, um zum Ressourcenreichtum des Landes beizu-
tragen, reicht hier nicht. Die Motivation für sie muss
erhöht werden, und die Sammlung muss erleichtert wer-
den.

Wir sehen deshalb die Notwendigkeit, zusätzliche Im-
pulse und konkrete finanzielle Anreize für eine bessere
Sammlung zu setzen und fangen bei den Mobiltelefonen
an. Einige werden jetzt wieder rufen: „Oh ein Pfand,
muss das sein? Reichen nicht freiwillige Vereinbarungen
mit dem Handel zur verbesserten Rücknahme?“ Die
Erfahrungen zeigen, das reicht nicht. Schon heute kön-
nen Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn sie sich
informieren und ein aktives Interesse an der Rückgabe
haben, ihr Handy vergleichsweise unkompliziert zurück-
geben. Das Sammeln ist nämlich lukrativ. Verschiedene
Unternehmer sind schon unterwegs und verbinden das
Handysammeln auch gern mit preiswerter Imagepflege
für ihr Unternehmen: hier und da ein Euro pro Handy
für die Elbe, den WWF, die Kindernothilfe oder andere.

Ob die Geräte dann aber auch wirklich einem quali-
fizierten Recycling zugeführt werden, ist nicht immer
klar, und in den letzten Jahren hat sich, trotz dieser
Angebote, die Menge der gesammelten Altgeräte nicht
gesteigert. Noch immer liegen nach Schätzungen 40 bis
120 Millionen Althandys in den Schubladen.

Wir wollen mit dem Pfand erreichen, dass das Sam-
melsystem verbessert wird. Gleichzeitig eröffnet sich für
deutsche Unternehmen dadurch die Chance, auch tat-
sächlich ins hochwertige Recycling zu investieren, weil
hier der regelmäßige Nachschub von Altgeräten gesi-
chert ist. Das ist mit Pfand und Rücknahme durch den
Handel sicher zu erreichen. Wenn man bares Geld für
sein Gerät bekommt, holt man es schnell aus der Schub-
lade und bringt es zurück. Funktioniert das Pilotprojekt
Handypfand, dann können wir es leicht ausweiten auf
die anderen Elektronikaltgeräte. Aber das Pfand ist
nicht die einzige Maßnahme, die wir vorschlagen. Wir
haben gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus
dem Gebiet ein ganzes Bündel von Maßnahmen entwi-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)


ckelt, die die Sammlung und das Recycling von Elektro-
schrott verbessern sollen.

Auch wenn sicher nicht alle hier im Haus sofort den
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen wer-
den, in einem sollten wir uns einig sein: Wir müssen jetzt
handeln und massiv die Rücknahmequote von Altelek-
tronik erhöhen. Ein Warten auf die Eigeninitiative der
Verbraucherinnen und Verbraucher allein reicht nicht.
Die Ressourcen müssen aktiv gehoben werden.

Daher fordern wir Sie auf, mit uns gemeinsam zu dis-
kutieren und energisch Maßnahmen auf den Weg zu
bringen, um dieses Ziel zu erreichen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716531300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/8899 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit

einverstanden? – Es widerspricht niemand. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es kaum
glauben: Wir sind somit am Schluss unserer heutigen Ta-
gesordnung.


(Beifall)


Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 9. März 2012, 9 Uhr,
ein.

Ich hoffe, dass wir uns alle in Frische wiedersehen.

Vielen Dank.

Die Sitzung ist geschlossen.