Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Icheröffne die 162. Sitzung des Deutschen Bundestages.Ist Frau Jochimsen schon da? – Dann möchte ich Ih-nen, Frau Kollegin Jochimsen, gleich vor Eintritt in dieTagesordnung zu Ihrem heutigen 76. Geburtstag herzlichgratulieren und alle guten Wünsche für das neue Lebens-jahr aussprechen.
In den zurückliegenden Tagen haben weitere Kolle-gen ihre Geburtstage gefeiert, darunter der KollegeDr. Peter Röhlinger seinen 73., der Kollege JerzyMontag seinen 65.
und der Kollege Hans-Joachim Fuchtel seinen 60. Ge-burtstag.
– Dass die Tagesordnung mit überparteilichem Jubel be-ginnt, ist eine schöne Motivationshilfe für die Abwick-lung derselben.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wirallerdings noch eine schwierige Wahl durchführen, weilder Kollege Dr. Johann Wadephul sein Schriftführeramtniedergelegt hat. Als neue Schriftführerin schlägt dieFraktion der CDU/CSU die Kollegin Carola Stauchevor. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensicht-lich der Fall, jedenfalls höre ich keinen Widerspruch.Dann ist die Kollegin hiermit gewählt.Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es eine inter-fraktionelle Vereinbarung gibt, die verbundene Tages-ordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführtenPunkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAuswirkungen der geplanten Kürzung der So-larvergütung von bis zu 32 Prozent auf dieEnergiewende und den Arbeitsmarkt insbe-sondere in Ostdeutschland sowie drohenderStillstand bei der EU-Energieeffizienzricht-linie
Weitere abschließende Beratung ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 32ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten DietmarNietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerleihung des Status als EU-Beitrittskandidatan Serbien aussprechen– Drucksache 17/8763 –Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 3, 19, 29sowie 31 b und 31 c abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 18wird zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 31 aufge-rufen.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 9. Februar 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Gesundheit zur Mitbera-tung überwiesen werden:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung vonSportwetten– Drucksache 17/8494 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Sportausschuss
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19204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für GesundheitIch darf auch hier fragen, ob Sie damit einverstandensind. – Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-serung der Bekämpfung des Rechtsextremis-mus– Drucksache 17/8672 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister des Innern, Dr. Hans-PeterFriedrich.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist gerade vier Monate her, dass wir mit Entset-zen feststellen mussten, dass es zwischen der Mordserie,die uns seit vielen Jahren bewegt hat, und der ZwickauerZelle einen Zusammenhang gibt. Diese Zwickauer Zellekonnte aufgedeckt werden. Eine Frage hat uns bewegtund bewegt uns immer noch: Wie konnte es passieren,dass diese Mordserie, dass diese Raubserie über zehnJahre in Deutschland stattfinden konnte und unentdecktgeblieben ist, jedenfalls die Zusammenhänge nicht her-gestellt werden konnten?Wir können das, was geschehen ist, die Morde, dieVerbrechen, nicht rückgängig machen. Was wir aberkönnen, ist, aufzuklären und dafür zu sorgen, dass dieWeichen gestellt werden, dass Ähnliches in der Zukunftnicht wieder passieren kann. Die Aufklärung schuldenwir nicht nur unserem Rechtsstaat, sondern auch denAngehörigen der Opfer. Das Zusammentreffen mit denAngehörigen im November 2011, das der damalige Bun-despräsident Christian Wulff organisiert hatte, und dasabermalige Zusammentreffen bei der Gedenkstunde ha-ben mich sehr bewegt. Diese Menschen haben vielesmitgemacht. Ihnen gegenüber haben wir unser Verspre-chen noch einmal erneuert, dass wir alle Möglichkeitenunseres Rechtsstaates nutzen werden, um die Dinge auf-zuklären.
Der Generalbundesanwalt hat bereits im Novemberletzten Jahres die Ermittlungen übernommen. Ihm zurSeite steht eine Sonderkommission des Bundeskriminal-amtes. Es sind derzeit 355 Kräfte aus Bund und Länderndabei, fast 6 000 Asservate auszuwerten. Nur um Ihneneinen Eindruck zu geben: Allein das Auslesen eines ein-zigen beschlagnahmten Handys umfasst Tausende vonAusdruckseiten, die Zeile für Zeile durchgegangen wer-den müssen. Es ist also eine sehr umfängliche Arbeit, dieda zu leisten ist.Daneben hat, um die politische Aufarbeitung zu flan-kieren, der Untersuchungsausschuss des Bundestagesseine Arbeit aufgenommen, ist eine Bund-Länder-Kom-mission eingerichtet worden und arbeitet in Thüringenein Gremium mit Hochdruck an der Aufarbeitung des-sen, was jetzt auf dem Tisch liegt, und dessen, was nochzu klären ist.Meine Damen und Herren, Weichen stellen für dieZukunft, das bedeutet zweierlei: dafür zu sorgen, dasswir erstens die sicherheitspolitisch richtigen Weichenstellen und dass wir zweitens auch gesellschaftspolitischdie richtigen Weichen stellen. Ich habe deswegen zu Be-ginn dieses Jahres mit meiner Kollegin KristinaSchröder einen runden Tisch gegen Rechtsextremismuseinberufen. Alle Teilnehmer – Gewerkschaften, Reli-gionsgemeinschaften, kommunale Vertreter, Vertreterder verschiedenen Organisationen, die sich gegen denExtremismus wenden – haben ihre Entschlossenheit zumAusdruck gebracht, zusammenzuarbeiten und diesenSumpf trockenzulegen.Wehrhafte Demokratie, das bedeutet starke demokra-tische Strukturen, das bedeutet aber auch funktionie-rende Sicherheitsstrukturen. Deswegen ist es notwendig,dass wir auch die modernen Möglichkeiten der Informa-tionstechnologie nutzen, um die Kernaufgabe des Staateszu erfüllen, nämlich die Sicherheit unserer Bürger zu ge-währleisten. Die Menschen, die in diesem Lande leben,müssen sich sicher fühlen, egal welche Hautfarbe sie ha-ben, egal aus welchem Land sie kommen.Wichtig ist, dass wir die rechtsextremistischen Struk-turen rechtzeitig erkennen, dass wir diejenigen identifi-zieren können, die Angst und Schrecken verbreiten. Diewichtigste Voraussetzung dafür ist, dass wir das Infor-mationssystem oder den Informationsaustausch zwi-schen den Behörden noch weiter verbessern. Seit MitteDezember letzten Jahres arbeitet das Gemeinsame Ab-wehrzentrum gegen Rechtsextremismus, in dem allePolizeien der Länder und die Polizei des Bundes sowiedie Nachrichtendienste zusammenarbeiten und täglich– täglich! – über Fälle, neue Erkenntnisse, Vorkomm-nisse und Personen im rechtsextremistischen Bereichsprechen. Ich denke, es ist gut und richtig, dass wir dasGemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismuseingerichtet haben, um die Zusammenarbeit der Behör-den auch auf höchster Ebene sicherzustellen.
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Was wir heute auf den Weg bringen, ist eine Verbund-datei, mit der die Zusammenarbeit effektiver gestaltetwerden soll, indem die Dateien, die die Behörden anle-gen, zusammengeführt werden. Natürlich werden Siefragen: Gibt es denn heute keinen Informationsaus-tausch? Den gibt es, und zwar in Form von sogenanntenProjektdateien im Rahmen speziell eingerichteter Pro-jekte, die aber nur vorübergehend sind. Es fehlt dieRechtsgrundlage für eine dauerhafte Sammlung von Da-ten und Informationen.Ich denke, dass wir durch die Verbunddatei bzw.durch das Zusammenführen aller Dateien Übermitt-lungsfehler vermeiden. Außerdem sind wir dann nichtmehr auf die subjektiven Beurteilungen der jeweiligenBeamten vor Ort angewiesen, die richtig oder falsch seinkönnen. Das ist momentan nämlich der Fall. Man gibteine Information dann weiter, wenn man der Auffassungist: Diese Information ist notwendig. Sie wird jetzt ge-braucht. – Man fragt eine Information bei einerbestimmten Stelle an, wenn man glaubt, dass sie dortvorliegt. Aber das ist natürlich mit subjektiven Unge-wissheiten behaftet. Deswegen, glaube ich, ist es richtig,dass wir diese Verbunddatei schaffen, in die alle Behör-den ihre Informationen automatisch einspeisen. Dasseine solche Verbunddatei effizient ist, wissen wir vonder Antiterrordatei, die seit 2007 existiert und sehr guteErgebnisse zeitigt, auch was die Aufklärung im Vorfeldmöglicher Verbrechen angeht.Wir haben in der Verbunddatei künftig alle Datenüber gewaltbezogenen Rechtsextremismus. Gewaltbezo-gener Rechtsextremismus: Das sind alle Bestrebungen,die darauf gerichtet sind, unsere Demokratie, die Men-schenrechte und die Menschenwürde anzugreifen, undbei denen vor Gewalt nicht zurückgeschreckt wird. Eswird künftig möglich sein, dass alle Behörden, die dortzusammengeschlossen sind, erstens sogenannte Grund-daten abrufen, um Personen und Objekte zu identifizie-ren, und zweitens, wenn es nötig ist, auch erweiterteGrunddaten abfragen. Das heißt, es wird möglich sein,erste Erkenntnisgewinne, die die eine oder andere Be-hörde hat, abzurufen und bei Gefahr in Verzug sofort aufdem Bildschirm zu haben.Was neu ist – man muss sich überlegen, ob man die-ses neue Instrument auf andere Dinge ausweitet, aberdas ist heute nicht unser Thema –, ist die erweiterte Da-tennutzung, mit der es möglich ist, Zusammenhängezwischen Personen, Gruppen und Objekten herzustellen.Das ist für die Arbeit der Behörden natürlich besonderswichtig. Auf diese Art und Weise ist es zum Beispielmöglich, regionale Verbindungen zu finden. Wir verbes-sern damit die Möglichkeit – das ist das Ziel dieserVerbunddatei –, die Zusammenhänge, die von den Er-mittlungsbehörden heute mühsam aufgearbeitet und he-rausgesucht werden müssen, schon im Vorfeld aufzude-cken und aufzuklären.Ich sage: Wir erhöhen die Chancen. Garantien gibt esnatürlich nie, aber mit einer solchen Verbunddatei ver-bessern wir die Möglichkeit bzw. erhöhen die Chance,die Mängel, die jetzt auftauchen, in der Zukunft abzu-stellen. Ich denke, dass diese Verbunddatei eine richtigeund zukunftsweisende Ergänzung dessen ist, was wirschon gemacht haben.Wir sind daneben dabei, auch im Bereich des Inter-nets noch weiter Strukturen aufzubauen. Wir beobach-ten, was im Bereich des Internets an rechtsextremisti-schen Tendenzen vorhanden ist; denn wir stellen fest,dass der Extremismus auch dort inzwischen sehr gezieltversucht, vor allem junge Leute für sich einzunehmenund zu gewinnen. Auch das ist ein Thema, das von denBehörden seit Dezember ganz konkret, mit Hochdruckund verstärkt angegangen wird.Ich denke, dass wir mit all dem, was wir auf den Weggebracht haben bzw. auf den Weg bringen – das Gemein-same Abwehrzentrum, die heutige erste Lesung des Ge-setzentwurfs zur Einrichtung der Verbunddatei und einekünftig stärkere Koordinierung der Behörden im Bereichdes Internets –, den Versuch starten können, in Zukunftso etwas wie das, was in der Vergangenheit passiert ist,zu verhindern. Ich denke, wenn es uns gelingt, auch nureine Tat zu verhindern, meine sehr verehrten Damen undHerren, dann hat sich alles gelohnt – auch die Einrich-tung dieser Verbunddatei. Ich bitte, das bei den Beratun-gen auch zu berücksichtigen.Vielen Dank.
Michael Hartmann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Heute vor einer Woche haben wir in einer allseitigund zu Recht als würdig anerkannten Gedenkfeier an dieOpfer der Mordserie einer ruchlosen Nazibande erinnert.Es ist und bleibt eine Schande, dass es trotz aller vorzehn und mehr Jahren bereits vorliegenden Erkenntnissedieses heillose Trio gab, das raubend und tötend durchunser Land ziehen konnte.Wir können – da bin ich mit Ihnen einer Meinung,Herr Minister – die Taten natürlich nicht mehr ungesche-hen machen, sosehr wir alle das auch verfluchen mögen.Deshalb müssen wir die Aufarbeitung umso konsequen-ter, entschlossener und entschiedener vorantreiben. Dasmuss ohne Ansehen von Personen und Parteien und ohnedie üblichen Reflexe und Schuldzuweisungen gesche-hen. Wenn uns das nicht gelingt, meine Damen und Her-ren, dann würden wir ein zweites Mal versagen.
Deshalb ist es auch unbedingt nötig, Fehler einzuge-stehen, wie es der Präsident des Bundesamts für Verfas-sungsschutz bereits in der ersten Sitzung des Innenaus-schusses zu dem Thema getan hat, indem er sagte: Diesist eine Niederlage der Sicherheitsbehörden. – Das Ein-gestehen von Fehlern ist nötig, um die Konsequenzen,
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19206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Michael Hartmann
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die wir hoffentlich möglichst einvernehmlich ziehenwollen, auch ziehen zu können. Dazu gehört über denBereich der unmittelbaren detaillierten Aufarbeitung hi-naus, dass wir uns die Frage stellen, ob wir uns alle oderzumindest viele von uns in Deutschland nicht zu sehr da-ran gewöhnt haben, mit Abstufungen, dass überall in un-serer Republik praktisch an jedem Wochenende Skin-heads in Springerstiefeln marschieren.Wir müssen uns fragen, ob wir uns nicht viel zu sehrdaran gewöhnt haben – vielleicht sind wir auch abge-stumpft –, dass Jugendzentren bedroht werden oder dassbei nahezu jedem größeren Fußballspiel irgendwo derHitlergruß gezeigt wird oder nazistische Parolen ge-schrien werden. Zu der Gesamtbetrachtung gehört auch,dass wir die NPD sehr viel schärfer als in den vergange-nen Jahren in den Blick nehmen. Denn die NPD ist derlegale Arm einer Gesamtbewegung, die sich gegen unse-ren freiheitlichen Staat richtet.
Das sind die Biedermänner, die Kreide gefressen habenund hinter denen sich die Brandstifter verbergen. Des-halb müssen entschlossen alle Anstrengungen unternom-men werden, um diese Partei endlich zu verbieten.
– Ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Unionsfraktion, dass Sie an dieser Stelle nichtklatschen; denn auf dem CDU-Bundesparteitag habenSie genau das beschlossen.
Bitte gehen Sie nicht von der Fahne, Kolleginnen undKollegen. Bleiben Sie dabei und hören Sie auf, solcheDinge zu erzählen, wie man sie jetzt wieder hört in Äu-ßerungen wie: Nun ja, ein Verbotsverfahren ist vielleichtzu überdenken. Vielleicht genügt es ja, die Finanzierungder NPD zu verbieten. – Nein, wenn eine Partei nichtverboten ist, dann stehen ihr auch die üblichen Finanzie-rungswege offen. Sonst ist sie zu verbieten, und nach un-serem Grundgesetz ist die NPD zu verbieten.
Wir müssen das zusammen machen. Wir müssen dasgründlich vorbereiten, keine Frage. Zur Vorbereitung alldieser Maßnahmen gehört auch das Gesetz, das wirheute in erster Lesung beraten. Es ist ein Teil einer erfor-derlichen Gesamtstrategie.Indem wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das eineneue Datei schafft, gestehen wir Fehler ein: Wir warenzu unaufmerksam. Wir haben vorhandene Informationennicht immer und regelmäßig in einer geeigneten Weisezusammengeführt.Wir gestehen noch etwas anderes ein. Ich sollte ge-nauer sagen: Die Bundesregierung gesteht etwas anderesein. Diese Bundesregierung hat nämlich den Fehler be-gangen, Rechtsextremismus, Linksextremismus undIslamismus in einen Topf zu werfen und alles zusam-menzurühren, ohne zu erkennen, dass jeder Extremis-musansatz mit anderen Mitteln bekämpft werden muss.Gut, dass Sie jetzt beim Verfassungsschutz wieder eineAbteilung für den Kampf gegen rechts einrichten!
Die Aufarbeitung der Mordserie und der konsequenteKampf gegen alte und junge Nazis müssen auf lange Zeitdas Thema der Innenpolitik bleiben. Die eigenständigeAbteilung für den Kampf gegen rechts beim Verfas-sungsschutz ist ein wichtiges Instrument.Ebenso sind wir der festen Überzeugung, dass dieZentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz gestärkt werden muss. Herr Minister, wirunterstützen Sie dabei, wenn Sie Schritte in diese Rich-tung unternehmen. Wir wollen auch, dass das Gott seiDank sehr schnell eingerichtete Abwehrzentrum gegenrechts gut funktioniert.Wenn wir jetzt in die Beratung eines Gesetzes zurSchaffung einer Verbunddatei eintreten, reichen wir derBundesregierung die Hand für die weitere Beratung. Ichsage allerdings zugleich: Wir werden die gleiche Sorg-falt an den Tag legen wie in jeder anderen Debatte umdie Einführung neuer Sicherheitsdateien. Wir werdendifferenziert abwägen und entschlossen vorangehen;denn es wäre ein Fehler, den Feinden der DemokratieRaum zu geben, indem wir auch nur einen Millimeter anFreiheitsrechten preisgeben. Das muss auch in dieserDiskussion der Maßstab für unser Handeln sein.
Dabei gilt außerdem, dass wir uns natürlich mit allen16 Bundesländern intensiv austauschen wollen und wer-den. Wir werden beachten, was die Innenminister be-schlossen haben und weiter beraten. Wir werden unsüber Speicherumfang und Speicherdauer genau kundigmachen und dies abwägen. Außerdem werden wir in ei-ner bereits beschlossenen Anhörung, Herr KollegeBosbach, sehr gründlich Expertenrat einholen.Ich will bei diesem Gesetz aber noch eines in Rich-tung Regierungsbank sagen – ich kann Ihnen diesen Vor-wurf auch heute leider nicht ersparen –: Es ist nicht gut,wenn auf die Vorlage eines Gesetzentwurfes reflexhaftso reagiert wird, wie es im Dezember geschehen ist. DasBundesinnenministerium hatte nach Absprache auch mitden anderen Ressorts einen Entwurf erarbeitet, der zuge-leitet wurde, und das Justizministerium sagte erst ein-mal: Njet. – Stimmen Sie sich besser ab! Ersparen Sieuns bitte diese Schmierenkomödie bei allen Sicherheits-gesetzen, aber ganz besonders in diesem Fall!
Die NPD und alle, die in ihrem Umfeld agieren, han-deln gegen die Menschenwürde. Die Datei kann helfen,das zu belegen und eine genaue Beweisführung vorzu-nehmen. Es gehört aber auch dazu, dass wir so wie in an-deren Bereichen auch – sei es bei Fußballrowdys odersonstigen Gewalttaten – null Toleranz zeigen und dassdie Polizeipräsenz überall dort gesteigert wird, wo die
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Rechten aufmarschieren und sich präsentieren. Es gehö-ren außerdem aufmerksame und gut geschulte Behör-denmitarbeiter dazu sowie starke Kommunen. Wer denKommunen den Geldhahn zudreht, der öffnet den Rech-ten die Türen.
Ich bitte darum, dass wir bei dem gemeinsamenKampf gegen rechts alle Verharmloser und Relativiererzum Schweigen bringen. Ich denke da nicht nur an denKollegen Dobrindt und dessen unselige Äußerung. Esgeht nicht an, dass wir sagen: Wir wollen die NPD ver-bieten, und wenn wir schon einmal dabei sind, verbietenwir auch gleich die Linken. – Wer so argumentiert, hatden Ernst der Stunde nicht verstanden.
Eine offene, schonungslose Aufarbeitung schuldenwir den Opfern, schulden wir unserem Rechtsstaat,schulden wir der inneren Sicherheit, schulden wir unse-rer Geschichte und schulden wir dem Ansehen Deutsch-lands in der Welt.Das „Nie wieder!“ war die Gründungsformel unseresGrundgesetzes. Wir sollten dieses „Nie wieder!“ mehrdenn je beachten. Ich habe immer noch im Ohr, wasSemiya Simsek in einer unglaublich eindrucksvollenkurzen Rede vor einer Woche sagte:In unserem Land, in meinem Land muss sich jederfrei entfalten können, unabhängig von Nationalität,Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behin-derung, Geschlecht oder sexueller Orientierung.Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun,als hätten wir dieses Ziel schon erreicht. Meine Da-men und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Ein-zelne von uns ist gefordert.Den Worten von Semiya Simsek ist nichts hinzuzufü-gen.
Das Wort hat nun der Kollege Hartfrid Wolff für dieFDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heuteliegt Ihnen das Gesetz über die Verbunddatei vor. Mitdieser gemeinsamen elektronischen Plattform gewinntunser demokratischer Rechtsstaat neue Schlagkraft inseiner legitimen Abwehr rechtsextremistischer Bestre-bungen, und wir schaffen damit in einem ersten Schrittein rechtsstaatliches, wirkungsvolles Instrument zur bes-seren Zusammenarbeit der Behörden.In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich diebraune Gewaltkriminalität in Deutschland zu einem ter-roristischen Netzwerk verdichtet, zu dem auch der NSUgehörte, der zehn entsetzliche Morde aus rassistischemGedankengut heraus begangen hat – anscheinend unbe-merkt von den Sicherheitsbehörden.Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundes-tages, der die offenkundigen Ermittlungspannen aufklä-ren und sich ein Gesamtbild verschaffen soll, hat mit sei-ner Arbeit eben erst begonnen. Doch schon jetzt zeichnetsich ab, dass die Arbeit der Sicherheitsbehörden zwi-schen den Ländern, aber auch zwischen Ländern undBund besser verzahnt werden muss.In Jena haben es in den 90er-Jahren schon die Spatzenvon den Dächern gepfiffen, dass sich eine braune Zelleüber Ländergrenzen hinweg bewegt hat. Wer hat sich da-mals darum gekümmert? Thüringen? Sachsen? Jeweilseinzeln?Wenn der BKA-Chef Ziercke zu Beginn der Ermitt-lungen zu den rechtsextremistischen Mordtaten von ei-ner Beziehungstat in Heilbronn sprach, obwohl geradedie sachnähere baden-württembergische Polizei zu einerganz anderen Bewertung gekommen ist, dann gibt es of-fensichtlich einen Mangel an Abstimmung, an Informa-tionsaustausch und an Kommunikation. Eine Neuorgani-sation der Sicherheitsbehörden und eine kompletteNeuausrichtung der gesamten Sicherheitsarchitektursind meines Erachtens dringend überfällig. Das reichtvon der Abschaffung des MAD bis zur Zahl der Landes-ämter für Verfassungsschutz. Das Nebeneinander der Si-cherheitsbehörden muss aufhören.
Zuständigkeitsdiskussionen, isoliertes Handeln undRessortegoismen sind fehl am Platz, wenn es um die Si-cherheit der Menschen und um Menschenleben geht.Durch die schlechte Organisation der Behörden dürfenkeine Schutzlücken entstehen. Doppeltätigkeiten, auchvon anderen Sicherheitsbehörden, erzeugen Effizienz-und Effektivitätsverluste.Da wir einen Paradigmenwechsel in der Sicherheits-politik brauchen, sind die neue Verbunddatei und der In-formationsaustausch über das Terrorabwehrzentrum hilf-reich; das macht aber notwendige Strukturreformen derSicherheitsbehörden nicht obsolet. Ich erwarte bei derAufklärung und auch bei der Bekämpfung der Straftatenzukünftig eine engere Verzahnung der Sicherheitsbehör-den und eine Zusammenarbeit zum Schutz der Bürgerin-nen und Bürger. Damit muss sich vor allem die Innen-ministerkonferenz in diesem Monat auseinandersetzen.Die Debatte um ein Verbot der NPD wurde durch dieAufdeckung der Mordtaten wieder entfacht. Der KollegeHartmann hat das sehr pointiert hier angesprochen. DieNPD ist aus Sicht der FDP eine verfassungsfeindlichePartei. Aber die Hürden für ein Parteiverbot sind durchdas Bundesverfassungsgericht zu Recht sehr hoch ge-setzt worden. Gleichzeitig gilt natürlich auch: Das darfnicht bedeuten, dass extremistische Parteien per se undgenerell vor einem Verbot gefeit wären. Hier ist sehr
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19208 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Hartfrid Wolff
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vorsichtiges Handeln gefragt. Plakatives und aktionisti-sches Vorgehen, lieber Kollege Hartmann, verbietet sich.
Herr Kollege Wolff, achten Sie bitte auf die Zeit.
Hartfrid Wolff (FDP):
Ich komme gleich zum Schluss. – Aber wir müssen
aufpassen, dass wir nicht einfach nur über das Beseitigen
einer Hülle reden. Das Gedankengut, die braunen Akti-
vitäten bekämpfen wir nicht durch die Beseitigung eines
parteipolitischen Gefüges. Die Werte des demokrati-
schen Rechtsstaats müssen von uns allen verteidigt wer-
den. Diese Aufgabe kann nicht ausschließlich an Polizei
und Sicherheitskräfte delegiert werden. Wer Verantwor-
tung abgibt, läuft Gefahr, sie zu verlieren. Deshalb müs-
sen wir als Demokraten unseres Landes gegen alle Ex-
tremisten jeder Couleur zusammenstehen.
Vielen Dank.
Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vonder Regierung vorgelegte Gesetzentwurf hat den An-spruch, einen Beitrag zur Verbesserung der Bekämpfungdes Rechtsextremismus zu leisten. Einem solchen Zielwürde die Linke jederzeit zustimmen, wenn es dennernst gemeint wäre. Doch handelt es sich bei diesem Ge-setz um puren Aktionismus.
Die Bundesregierung will eine weitere Verbunddateivon Polizei und Geheimdiensten. Im Klartext: Ausge-rechnet jene Sicherheitsdienste sollen jetzt zuallererstgestärkt werden, die so schmählich versagt und in eini-gen Fällen offenbar sogar mit der Naziszene gekungelthaben. Sie sollen künftig noch mehr im Geheimen arbei-ten dürfen. Das halten wir für einen Skandal. Wir brau-chen Transparenz und Öffentlichkeit in der gesamtenAufklärung.
Wir sollen mit der Verabschiedung dieses Gesetzes ei-ner Ausweitung der Kompetenzen der Sicherheitsbehör-den zustimmen, ohne dass wenigstens ansatzweise derendoch so zweifelhafte Rolle gegenüber den Naziterroris-ten des NSU aufgeklärt wurde. Richtig wäre doch als Al-lererstes Aufklärung. Dafür haben wir im Übrigen einenUntersuchungsausschuss hier im Parlament eingesetzt.Dann entscheidet das Parlament über die Konsequenzenpolitischer wie rechtlicher Art, die zu ziehen sind.
Aufzuklären wäre dringend: Wie war das mit den un-seligen Allianzen zwischen V-Leuten und Neonazis?
Inwieweit haben sich die Sicherheitsbehörden im letztenJahrzehnt mit den Neonazis auch analytisch beschäftigt?Was wurde versäumt oder gar vertuscht? Die Öffentlich-keit, die Angehörigen aller Nazimordopfer haben einenAnspruch auf Transparenz und Aufklärung.
Aber auch hier mauert die Bundesregierung. Wir ha-ben all diese Fragen kürzlich in einer Kleinen Anfragegestellt. Es gab keine einzige Antwort.
Die Bundesregierung argumentiert, das Staatswohlgebiete, dass niemand weiß, was Polizei und Geheim-dienste in der Vergangenheit in Sachen Nazimörderunternommen haben. Anders kann man die entsprechen-den Antworten bzw. Nicht-Antworten nicht interpretie-ren. Ich halte es auch für eine Verhöhnung des Parla-ments, dass wir über die Geschichte der Aufarbeitunghier vom Innenminister nichts erfahren.
Die geplante Verbunddatei folgt dem Modell derbereits bestehenden Antiterrordatei. Schon diese wurdedamals von der Linken abgelehnt;
denn sie verstößt gegen den Grundsatz der Trennung vonPolizei und Geheimdiensten.
Diese Datei und die Datei, deren Einrichtung heute vor-geschlagen wird, kranken an zu schwammig definiertenKriterien,
zum Beispiel, welches Verhalten von Personen eigent-lich zur Speicherung führt. Bei der Nutzung der Datennun auch zu Recherche- und Analysezwecken werdendie Befugnisse der Behörden weit über die bisherigenRegelungen im Zusammenhang mit der Antiterrordatei,die offiziell der Strafverfolgung und der Prävention die-nen soll, ausgedehnt. Ganz nebenbei sollen die Befug-nisse jetzt auch für die Antiterrordatei mit ausgeweitetwerden. Meine Damen und Herren, es kann nicht seinund ist auch ungeheuerlich, dass die Nazimorde jetztdafür instrumentalisiert werden sollen, alte Forderungender Union durchzusetzen.
Der Innenminister hat auch noch weiter reichendePläne; wir haben es eben schon vom Kollegen Hartmanngehört. Auf die Frage der FAZ im Interview vom 23. Ja-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19209
Ulla Jelpke
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nuar, ob man nach Dateien zu Islamisten und Nazis nichtauch eine Datei über „gewaltbereite Linksextremisten“benötige, antwortete Friedrich:Sie haben recht mit Ihrem Hinweis. Sie brauchenkeine Angst zu haben. Wir werden auch den Kampfgegen den Linksextremismus verstärken.
– Ja, das ist schön. – Das zeigt doch deutlich, wohin dieReise geht:
die Ausweitung der bisher auf den sogenannten islamis-tischen Terror beschränkten Datei zuerst auf den Rechts-extremismus, um dann weiter zu einer umfassenden Ver-dächtigen- und Gesinnungsdatei zu kommen, in derPolizei und Geheimdienste nach Belieben schnüffelnkönnen. Das geht nicht in einem Rechtsstaat, meineDamen und Herren!
Der Tendenz einer undemokratischen Zentralisierungund Verschmelzung von Polizei und Geheimdienstenwird mit einer solchen Verbunddatei weiter Vorschubgeleistet, und eine solche Aufweichung der Verfassunglehnen wir eindeutig ab.
Um es deutlich zu sagen: Im Gegensatz zu manch ande-rer Fraktion hier in diesem Haus hat die Linke schon im-mer kompromisslos gegen Nazis gekämpft. Aber unserKampf gegen den Rechtsextremismus ist ein Kampf fürund nicht gegen die Grundrechte. Deswegen lehnen wirDateien dieser Art ab.
Meine Damen und Herren, wenn die Regierung esernst meinen würde mit der Bekämpfung des Rechts-extremismus, dann müsste sie erst einmal die Öffentlich-keit darüber informieren, was die Gremien von Bundund Ländern denn in der Vergangenheit auf diesem Ge-biet geleistet haben. Es gab ja genügend Gremien, diedafür eingesetzt wurden. Die Regierung müsste zugeben,dass oft der politische Wille gefehlt hat, die bestehendengesetzlichen Instrumentarien energisch genug einzuset-zen. Und sie müsste tatsächlich Fehler zugeben, zumBeispiel hinsichtlich der V-Leute-Praxis der Verfas-sungsschutzämter auf Bundes- und Landesebene. DasNPD-Verbot wurde dadurch an die Wand gefahren, dassdie Bundesregierung nicht bereit war, diese V-Leute we-nigstens aus Führungsgremien abzuziehen. Das ist sieübrigens bis heute nicht.Deswegen ist es richtig, wenn gesagt wird: Die NPDist eine verbrecherische Partei. Sie gehört verboten, undsie vertritt hier nicht irgendwelche Meinungen. Sie müs-sen die V-Leute endlich abziehen, damit der Weg für einNPD-Verbot frei gemacht wird.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebezu: Ich habe gewisse Schwierigkeiten. Nun sind wirdurch die Gunst der Stunde heute mit dieser Debatte indie Primetime gerutscht. Wir behandeln den anspruchs-vollen Titel „Bekämpfung des Rechtsextremismus“, undzu der Zeit, zu der hier sonst Rettungspakete geschnürtwerden, liegt uns ein Gesetzentwurf zu einer Datei vor.Das kann natürlich nicht alles gewesen sein.
Das ist ein Baustein. Eigentlich brauchten auch wir soetwas wie ein Rettungspaket, so etwas wie einen Master-plan, wie wir tatsächlich Gelände zurückgewinnen, wiewir das, was Nazis in unserem Land erobert haben, auf-rollen und wie wir den Schulterschluss zwischen Repres-sion, die notwendig ist, Frau Jelpke, und Zivilgesell-schaft hinbekommen. Das steht auf der Tagesordnung.
Auch ich fand es beeindruckend, was die Kanzlerinvor einer Woche im Konzerthaus gesagt hat. Sie hat denFamilien der Opfer Folgendes versprochen: Wir klärendie Straftaten auf und führen die Täter der Bestrafungzu. – Da bin ich guter Dinge. Das BKA arbeitet gut undenergisch.
Das sage ich hier ganz deutlich. Für uns ist das imGegensatz zu Ihnen, Frau Jelpke, nicht nur irgendeinRepressionsorgan, das im Lande herumschnüffelt. Wersoll es denn sonst tun? Wer soll denn sonst Straftäterfestnehmen? Wer soll sie denn sonst vor Gericht brin-gen?
Genauso richtig ist es, dass der notwendigen Verfol-gung der Täter – inzwischen hat man einen Kreis von13 Beschuldigten im Auge – eine Kontinuität in der Be-kämpfung folgen muss. Wir haben den Bundesinnen-minister dafür gelobt,
dass er das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechts-extremismus eingerichtet hat.
Das tun wir wirklich nicht oft.
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19210 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Wolfgang Wieland
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Frau Jelpke, erst einmal soll der Untersuchungsaus-schuss untersuchen, und dann schauen wir nach andert-halb Jahren, ob man etwas ändern muss. Ich weiß schonjetzt, dass Sie, Ulla Jelpke, sagen werden: Da kommt nurSchnüffelei heraus, und da werden nur alte Wünscheerfüllt. – Ein solches Modell, erst einmal abzuwartenund dann zu erklären, sowieso nichts zu tun, das ist nichtunser Modell. Wir wollen – das sage ich klar und deut-lich – keinen weiteren Toten.
Wir sagen auch: Es geht hier nicht nur um den terroris-tischen Bereich.
– Passen Sie mal auf – –
– Oder: Passen Sie weiter auf. Ich will heute ja ganzfriedlich sein.
Passen Sie bitte weiter auf.Nach dem 11. September 2001 haben wir gesagt: Dasist eine Zäsur, und daher muss und kann alles auf denPrüfstand. Eine ähnliche Zäsur liegt jetzt auch vor.
Auch wir haben nicht gesagt: Für diese sogenanntenDöner-Morde – ein grässliches Wort –, diese Mordseriean hier eingewanderten Migranten sind Naziterroristenverantwortlich. Das haben wir uns so nicht vorstellenkönnen. Jetzt wissen wir es, und jetzt müssen wir han-deln.
Jetzt möchte ich noch kurz etwas zur Datei sagen. Dasist ein Baustein, über den wir reden wollen. Das ist einsensibles Thema. Das hat die Justizministerin richtigerkannt, und das war kein kleingeistiger Zank. LieberKollege Hartmann, über manche bürgerrechtlichen Fra-gen muss man sich auseinandersetzen.
Wenn wir einen gemeinsamen Aktenschrank für Polizeiund Nachrichtendienste schaffen – und das ist eine sol-che Datei –, dann muss man darum ringen, wessen Datendarin zu finden sind.
Bei Dateien kann man zwei Dinge grundsätzlichfalsch machen:Das Erste ist, dass man aufgrund partieller Blindheitgar nicht sieht, wen man in diese Datei aufnehmen muss.Wir hatten ja zum Teil das Problem, dass es unterschied-liche Opferzahlen gibt. Die Presse spricht von 148 Op-fern, die Sicherheitsbehörden hingegen haben geradeeinmal ein Drittel registriert. Wenn wir da keine klarenKriterien haben, dann nutzt doch die schönste Dateinichts. Wenn ich partiell blind bin, dann gebe ich indiese Datei nicht das Richtige ein.
Der zweite Fehler, den ich machen kann, ist, dass ichdas Falsche eingebe und dass ich einen Datenmolochschaffe. Es war richtig, um den Gewaltbezug zu ringen.Er ist unseres Erachtens bei den Kontaktpersonen abernicht durchgehalten worden. Es hat nicht viel Sinn, zu sa-gen, die Gewalttäter kämen sowieso in die Datei – dennsie sind ja gewaltbezogen – und der Rest komme alsKontaktperson hinein.Es ist wirklich schade, dass wir die Islamismusdateinoch nicht evaluiert und ausgewertet haben. Verfas-sungsschutzpräsident Fromm hatte vorher gesagt, erhabe die Hoffnung, dass weniger als 10 000 Personen indie Datei „Islamistischer Terrorismus“ hineinkommen.Es sind doppelt so viele geworden. Das heißt, die Frage,wie wir nur die wirklichen Gefährder und nur dieschlimmsten Finger dort hineinbekommen, muss disku-tiert und auch im Gesetzgebungsverfahren behandeltwerden.Uns allen ist es ganz klar – das sage ich abschließend –,dass Rechtsextremismus strukturell immer gewalttätigist.
Er geht immer in Richtung Gewalt. Dennoch müssen wiruns um juristische Abgrenzungskriterien bemühen. Wirdürfen dabei aber nicht vergessen, was die Zivilgesell-schaft sagt. Deswegen ist es wichtig, mit ihr zusammen-zuarbeiten. Sie darf nicht durch Extremismusklauselnund ähnliche Dinge kujoniert werden.
Deswegen dürfen Rechtsextremismus und Linksextre-mismus nicht gleichmacherisch behandelt werden. Dahaben Sie, Kollege Hartmann, recht. Das alles darf nichtgeschehen. Wir brauchen den Zusammenschluss in derGesellschaft.Naziideologie in den Köpfen kann ich nicht verbieten.Man kann auch durch Verbote nicht erreichen, dass sienicht in die Köpfe hineinkommt. Dafür zu sorgen, istvielmehr eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Verbotekönnen dennoch sehr nützlich sein; auch Repressionmuss sein. Im Ergebnis kommt es darauf an, was dieZivilgesellschaft sagt. Ich erlaube mir daher zumSchluss, einen Satz der Antifa zu zitieren, weil er den
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19211
Wolfgang Wieland
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gemeinsamen Bogen spannt: Nationalsozialismus istkeine Meinung, Nationalsozialismus ist ein Verbrechen.
Wolfgang Bosbach erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Jelpke, ohne alle Schärfe möchte ichsagen – ich kann Ihnen das jetzt nicht ersparen –: Es istvöllig unmöglich, dass Sie dem Kollegen Wieland wäh-rend seines leidenschaftlichen Plädoyers den Scheiben-wischer gezeigt haben.
Es ist nicht nur so, dass es gegen jede parlamentarischeGepflogenheit ist. Auch die geistige Haltung, die dahin-tersteht, ist unerträglich. Nicht das Plädoyer des Kolle-gen Wieland war plemplem.
Plemplem ist es, hier ständig den Eindruck zu erwecken,als sei die Bundesrepublik Deutschland ein Schnüffel-und Überwachungsstaat. Wir haben fast auf den Taggenau vor 22 Jahren einen Schnüffelstaat abgeschafft,und niemand möchte einen neuen errichten.
Lieber Michael Hartmann, weite Teile deiner Redekann ich unterschreiben. Aber in einem Punkt bin ichunterschiedlicher Auffassung. Wir müssen nicht überalles streiten; das hast du in deiner Rede dankenswerter-weise selbst gesagt. Es ist gut, dass auch bei dieser erns-ten Debatte parteipolitischer Streit – so weit, wie dasmöglich ist – außen vor bleibt. Aber es bleibt noch einRest übrig, über den man unterschiedlicher Auffassungsein kann.Hans-Peter Uhl und ich sowie einige andere in diesemHause können uns noch sehr genau daran erinnern, wiees vor zwölf Jahren beim ersten NPD-Verbotsverfahrenwar. Jeder in diesem Hause wäre froh, wenn die NPDschon vor zwölf Jahren verboten worden wäre. Aber einNPD-Verbot setzt nicht nur guten Willen voraus, son-dern auch gute juristische Argumente.
Der kraftvolle politische Wille, den wir alle äußern, wirddiese guten juristischen Argumente in Karlsruhe nichtersetzen können.Ich will noch einen Satz dazu sagen: Wenn ein erneu-tes NPD-Verbotsverfahren beschlossen werden sollte,darf dieses Verfahren unter keinen Umständen scheitern.Einen solchen Propagandaerfolg dürfen wir der NPDnicht gönnen.
Die Verbunddatei Rechtsextremismus ist ein wichti-ges Mittel beim Kampf gegen den gewaltbereitenRechtsextremismus. Sie ist kein Allheilmittel, aber einwichtiger Baustein, um eine Mauer zu errichten gegenpolitischen Fanatismus, gegen Antisemitismus, gegenRassismus, gegen eine Brutalität, wie wir sie uns nichtvorgestellt haben. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortesnotwendig, so notwendig wie gesellschaftliches Engage-ment. Hier hat Wolfgang Wieland völlig recht: DenKampf gegen politischen Extremismus und politischeGewaltbereitschaft allein den staatlichen Behörden zuübertragen, greift zu kurz. Herr Präsident, es tut mir vonvorherein leid, es ist ein unparlamentarischer Ausdruck,aber er ist richtig: Im Rheinland gab es vor gut zehn Jah-ren die Initiative „Arsch huh, Zäng ussenander“.
Aufstehen und offen antreten: Das ist das, was in dieserSituation von uns allen erwartet wird. Keine Handbreit,kein Millimeter Toleranz für diejenigen, die nichts ande-res im Sinn haben, als diese freiheitlich-demokratischeGrundordnung zu zertrümmern, und zwar völlig unab-hängig davon, aus welcher Richtung sie gegen diesenStaat marschieren.
Die Datei ist aber auch ein Ausdruck des Umstandes,dass wir in Deutschland insgesamt 36 Behörden mitSicherheitsaufgaben haben. Die große Zahl von Behör-den alleine macht es nicht. Das war auch dein Plädoyer,Hartfrid Wolff. Es ist nicht entscheidend, dass wir mög-lichst viele Behörden haben. Entscheidend ist, wie dieBehörden zusammenarbeiten, wie sie ihre Arbeit koordi-nieren, wie sie kooperieren. Jede Behörde hat eine ge-sonderte Rechtsgrundlage, besondere Zuständigkeitenund besondere Eingriffsbefugnisse. Entscheidend ist es,eine Lehre aus den bitteren Erfahrungen der jüngsten Er-mittlungserkenntnisse zu ziehen. Die Behörden dürfennicht nebeneinander arbeiten, sondern müssen miteinan-der arbeiten. Es darf nicht mehr so sein, dass Sicherheits-behörden denken: Mein Tatort, meine Zuständigkeit,mein Fall; ich weiß etwas, was du nicht weißt.
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19212 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Wolfgang Bosbach
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Entscheidend ist, dass wir die Erkenntnisse so zusam-menführen, dass wir ständig komplette Lagebilder in derganzen Bundesrepublik Deutschland erstellen können.
Jede Maßnahme der Gefahrenabwehr setzt voraus,dass ich eine Gefahr erkennen will und dass ich sie er-kennen kann. Wenn ich eine Gefahr nicht erkennenkann, dann kann ich sie auch nicht abwehren.Die Bundesministerin der Justiz hat die legitimeFrage gestellt, ob diese Organisationsstruktur, wie wirsie jetzt haben, wirklich optimal für die Aufgabenwahr-nehmung ist. Jeder Bundespolitiker, der sich diese Fragestellt, begibt sich auf ein schlüpfriges Terrain, weil manweiß, dass man aus den Ländern hört: Das ist unsereKompetenz, unsere Zuständigkeit, unsere Behörde, unddas lassen wir uns nicht nehmen. – Dennoch ist es richtigund wichtig, dass wir über dieses Thema sprechen; dennes kann sein, dass insbesondere kleinere Behörden beider Aufgabenwahrnehmung an die Grenzen ihrer Mög-lichkeiten gelangen.
Nehmen wir das Beispiel Videoobservation. Es wirdein Hauseingang observiert, um zu sehen, ob die Zielper-sonen dort tatsächlich verkehren. Es ist aber unglaublichpersonalintensiv, neben diese Kamera immer Ermittlerzu stellen: 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche. DieKamera läuft also, wie es so schön heißt, unbemannt.Dann wird Tage später der Film ausgewertet, und sieheda, sie waren da. Die Kamera war zwar da, aber keiner,der hätte zugreifen können. Also legt man sich wiederauf die Lauer und guckt, ob sie vielleicht noch einmalvorbeikommen. Das Ergebnis ist bekannt: Sie sind niemehr gekommen.Nehmen wir das Beispiel Observation. Es ist andersals im Tatort: Vorne die Zielperson, der Ermittler fährthinterher und observiert alles, und beide finden auchnoch gleichzeitig nebeneinander einen Parkplatz.
Im richtigen Leben ist es so, dass ich für eine Observa-tion zwischen 20 und 22 Mitarbeiter benötige. Was ma-chen Sie aber bei einem Amt mit 50 oder 60 Mitarbei-tern und zwei oder drei Zielpersonen, die sie über einenlängeren Zeitraum observieren müssen?Ich kenne das formale Argument – § 2 Abs. 2 Bun-desverfassungsschutzgesetz –: Jedes Land hat eine ei-gene Behörde. Daran werden wir im Übrigen auch nichtsändern. Dass die Behörden aber enger zusammenarbei-ten müssen, dass sie sich abstimmen müssen, ist imwahrsten Sinne des Wortes notwendig.
Einige Fragen sind von überragender Bedeutung – da-neben gibt es noch viele Tausend andere –, auf deren Be-antwortung die ganze Republik wartet:Erstens. Wie konnte es eigentlich sein, dass drei Per-sonen, die sich im Visier der Sicherheitsbehörden befan-den, 13 Jahre lang untertauchen und unter uns lebenkonnten, ohne dass ihr mörderisches Treiben gestopptwerden konnte? Sie sind ja nicht an einem exotischenOrt untergetaucht, sondern mitten unter uns. Das machtman nur, wenn man sich eines Unterstützerumfeldes si-cher sein kann.Zweitens. Haben sie isoliert agiert, oder waren sieTeil einer größeren Terrorzelle? Darüber wurde auchgestern im Innenausschuss des Deutschen Bundestagesleidenschaftlich diskutiert. Im Moment dreht sich allesum die wichtigsten Fragen: Wer waren die Hintermän-ner, Anstifter, Gehilfen? Gibt es noch andere Terrorzel-len bei uns in Deutschland, die mit ähnlicher Brutalitätund Mitleidlosigkeit agieren?Ich sage einmal in aller Ruhe und ohne Vorwurf an ir-gendjemanden: Zur Beantwortung dieser Frage wäre dieVorratsdatenspeicherung ein unverzichtbares Hilfsmittel.
Auch sie ist keine Wunderwaffe, und ich würde auchnicht sagen: Wenn wir sie gehabt hätten, hätte das mör-derische Treiben gestoppt werden können. Dafür gibt esim Moment gar kein Indiz. Wenn wir aber vom Bundes-kriminalamt die Beantwortung der Frage erwarten, ob essich um eine isolierte Zelle handelte oder ob sie Teil ei-nes Netzwerkes war, dann ist es doch von überragenderBedeutung, zu wissen, mit wem die drei Personen in derVergangenheit kommuniziert und mit wem sie telefo-niert haben. War es ein Telefonat, oder waren es Hun-derte Telefonate,
insbesondere in der Zeit vor und nach einem Mord, vorund nach einem Banküberfall?Natürlich gibt es auch andere Ermittlungsansätze,aber gerade die Auswertung elektronischer Spuren ist fürdie Behörde von überragender Bedeutung. Wenn wirvom Bundeskriminalamt erwarten, dass es diesen Fallaufklärt, und zwar nicht nur den Tatbeitrag der Drei, son-dern auch das Hinterfeld ausleuchtet, dann müssen wirdem Bundeskriminalamt auch das Instrument geben, umdiese Aufgabe erfüllen zu können.
Zu Recht ist in den letzten Monaten Kritik geäußertworden. Es gab Fehler, es gab Versäumnisse, es gab zumTeil Fehleinschätzungen mit dramatischen Folgen. Esgibt aber auch die enormen Anstrengungen von knapp500 Ermittlerinnen und Ermittlern, die in den letztenMonaten eine wirklich beeindruckende Arbeit geleistethaben, die den Zeitraum von 13 Jahren Tag für Tag re-konstruieren, alle Akten auswerten, allen Spuren nocheinmal nachgehen. Der Bundesinnenminister hat gesagt,dass fast 7 000 Asservate ausgewertet werden müssen,davon über 2 000 aus dem niedergebrannten Haus. AllenErmittlerinnen und Ermittlern sind wir zu Dank ver-pflichtet. Sie machen eine hervorragende Arbeit. Ich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19213
Wolfgang Bosbach
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hoffe, dass sie den gesamten Tatkomplex aufklären kön-nen. Das sind wir den Opfern und den Hinterbliebenenschuldig.Danke fürs Zuhören.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnenund Kollegen! Rechtsextreme Gewalt ist präsent in unse-rem Land. In manchen Regionen ist sie sogar sehr prä-sent. Das Wort „alltäglich“ will mir bei diesem Themaallerdings nicht über die Lippen kommen; denn rechts-extreme Gewalt darf in unserem Land nie wieder alltäg-lich werden.
Trotzdem: Jeden Tag geschehen in diesem Landrechtsextreme Straftaten. Leider hat es die schrecklichenMorde des NSU gebraucht, um das Thema auf die politi-sche Agenda dieser Bundesregierung zu heben. Dabeisind die Zeitungen voll von Meldungen – in Ostdeutsch-land und nicht nur dort, sondern im ganzen Land.Gleichwohl sollten uns die Geschehnisse Anlass ge-nug sein, dass wir als Demokratinnen und Demokratengemeinsam überlegen, was wir gegen Rechtsextremis-mus tun können und wie wir die Menschen in unseremLand wirksam vor rechter Gewalt schützen können.Denn genau das ist es, was die Menschen von uns zuRecht erwarten.Ich will zunächst sagen: Ich finde es gut, dass es heutediese Initiative der Bundesregierung gibt, auch wenn wirim Detail Fragen haben und Kritik anbringen. Ich findees auch gut, dass das Bundesamt für Verfassungsschutzwieder eine eigene Abteilung zum Thema Rechtsextre-mismus hat. Ich war irgendwie immer davon ausgegan-gen, dass das natürlich so ist.
Die Extremismusgleichmacherei hat zumindest an die-sem Punkt endlich ein Ende.Das ist gut; aber ganz ehrlich: Das ist wirklich nur einerster, kleiner Schritt. Was nützt denn eine Datei, wennStraftaten von den Verantwortlichen im Zweifel ebennicht als rechtsextrem qualifiziert werden? Was nützt dieDatei, wenn die Polizei in manchem Bundesland viel zulange braucht, um an Ort und Stelle zu sein? Was nütztsie denn, wenn viele Betroffene in manchen Landstri-chen gar nicht mehr zur Polizei gehen und sich nichttrauen, Anzeige zu erstatten, wenn sie Opfer rechter Ge-walt werden? Was nützt sie, wenn in vielen öffentlichenVerwaltungen und öffentlichen Stellen noch nicht dieSensibilität herrscht, zu wissen, dass man bei diesemProblem ganz genau hinschauen muss? Was nützt sie,wenn mancher Prozess gegen rechte Schläger und Ka-meradschaften unendlich lange dauert?Das, was Sie heute vorlegen, ist wirklich nur ein ers-ter, kleiner Schritt. Die Menschen in unserem Land ver-langen viel, viel mehr. Wir tun gut daran, das gemeinsamund schnell anzugehen; denn das Vertrauen der Men-schen in staatliche Institutionen ist gerade durch die Ge-schehnisse rings um den NSU massiv nach unten gegan-gen.Viele Schritte sind notwendig. Dazu gehört für unserst einmal die Erkenntnis, dass wir beides brauchen:Prävention und Repression; wir dürfen beides niemalsgegeneinander ausspielen. Die Polizei kann eben nursehr wenig gegen rechtes Gedankengut und gegen Ras-sismus in der Mitte der Gesellschaft tun, genauso wenig,wie eine zivilgesellschaftliche Initiative etwas gegeneine gewaltbereite Kameradschaft vor Ort tun kann.Ich spreche das Gebot, Prävention und Repressionnicht gegeneinander auszuspielen, auch deshalb an, weilin Ihrem Ministerium, Herr Friedrich, eine Instanz derPrävention zu Hause ist, die ein bisschen an die Wandgedrückt wurde. Sie wissen, wovon ich spreche: Ichspreche von der Bundeszentrale für politische Bildung.Sie haben die Mittel der Bundeszentrale gekürzt, auchnachdem die Morde des NSU bekannt geworden sind.Herr Friedrich, auch damit haben Sie Vertrauen ver-spielt.
Heute geht es aber vor allen Dingen um wirkungs-volle Repression. Sie ist wichtig; denn Neonazis sind fürsehr viele Menschen in unserem Land tatsächlich eineBedrohung. Wir von der SPD sagen: Wir brauchen einemassive Sensibilität in der gesamten Gesellschaft und inallen staatlichen Behörden für das Problem. Das tut not,damit rechtsextreme Straftaten als solche erkannt wer-den und auch als solche erkannt werden wollen. Vor die-sem Hintergrund muss ich persönlich meiner Erschütte-rung über den Kalender der DPolG in Bayern Ausdruckverleihen. Hier ist noch einiges zu tun; dieser Kalenderhat nun wirklich jede Sensibilität vermissen lassen.
Wir, die SPD, haben mit dem Ziel, die Sensibilität zustärken, einen Antrag eingebracht, dass Hate Crime, alsoHasskriminalität, strafverstärkend wirken soll. Wir er-hoffen uns davon auch, dass die Justiz so einen viel bes-seren Blick darauf hat, dass in unserem Land viele Straf-taten aus Hass, aus niederen Beweggründen begangenwerden.Wir brauchen, sehr geehrte Damen und Herren, aberauch eine Debatte über die Statistik, über die eklatanteLücke zwischen den Opferzahlen, die uns die Zivilge-sellschaft präsentiert, und denen, die uns die Polizei prä-
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19214 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Daniela Kolbe
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sentiert. Woher kommt diese Lücke, und wie kann siegeschlossen werden? Das ist eine der großen Fragen die-ser Stunde.Wir brauchen aus meiner Sicht eine höhere Präsenzder Polizei auf der Straße, gerade in den Bereichen, indenen Neonazis aktiv und präsent sind. Von den Neona-zis geht eine Gefahr aus; sie machen Menschen Angst.Wir brauchen dies als Zeichen an die Betroffenen, dasssie nicht alleine sind, und wir brauchen das Zeichen andie Neonazis, dass ihr Treiben beobachtet wird und siekeinen Platz in unserer Gesellschaft und auf unserenStraßen haben.
Wir brauchen ein Verbot der NPD, auch wenn, HerrWolff, ganz klar ist, dass man rechtsextremes Gedanken-gut natürlich nicht mit verbieten kann. Dazu braucht esdann wieder die breite Zivilgesellschaft.Sie sehen: Viele Schritte sind nötig. Ich denke eigent-lich, das sehen auch Sie so. Zudem gibt es dafür einenbreiten gesellschaftlichen Konsens. Also lassen Sie unsdas gemeinsam angehen. Das, was Sie heute vorlegen,ist ein erster Schritt, allerdings ein „Babystep“, wie manso schön sagt. Vor uns liegt aber ein Marathon.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Stefan Ruppert ist der nächste Red-
ner für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich die
Debatte heute Morgen, wie sie von SPD, CDU, Grünen
und FDP geführt wird, ausgesprochen sachlich und gut
finde, weil sich zeigt, dass nicht das reflexhafte Auf-
einandereinschlagen, sondern durchaus das Ringen um
sachliche Positionen im Vordergrund steht. Leider muss
ich die Rede von Frau Jelpke an dieser Stelle ausneh-
men, weil ich finde, dass das, was Sie hier gesagt haben,
leider viel zu wenig ist. Ihre eigene Präsidentschaftskan-
didatin hat – wenn man Zeugnisse lesen kann, weiß man
Bescheid – ein klares Urteil darüber gefällt. Ich zitiere
Beate Klarsfeld: Es ist löblich, dass die Linke sich be-
müht. – Eine schlechtere Note im Zeugnisdeutsch gibt es
aus meiner Sicht nicht. Das gilt auch für die Auseinan-
dersetzung mit dem Rechtsextremismus, die Sie heute
Morgen hier abgeliefert haben.
Nun werden die repressiven Elemente von Herrn
Hartmann in den Vordergrund gestellt und die präventi-
ven von anderen Rednern wie Herrn Wieland. Beide Ele-
mente brauchen wir. Wer allerdings zu schnell alleine
auf Repression, strafrechtliche Härte und Verfolgung ab-
stellt – diese sind sicherlich zwingend notwendig –, der
schwächt auf Dauer die Immunsysteme unserer Gesell-
schaft, weil wir uns dann zu sehr darauf verlassen, dass
allein der Staat, das Strafrecht und die Strafverfolgung
das Problem lösen werden. Das wird nicht gelingen. Wir
alle müssen jeden Tag den Kampf gegen Rechtsextre-
mismus in der Mitte der Gesellschaft aufnehmen; sonst
werden wir keinen Erfolg haben.
Das damalige NPD-Verbotsverfahren war nichts an-
deres als die Flucht in eine symbolische Politik. Die
NPD ist eine zutiefst rechtsextreme Partei. Aber wer ein
Verfahren so betreibt, wie es im Wesentlichen damals
von Herrn Schily betrieben worden ist, und es dermaßen
schlecht vorbereitet, der schadet der Sache und hilft ihr
nicht. Deswegen ist ein erneutes NPD-Verbotsverfahren
– wenn überhaupt – gründlich zu überdenken und, wenn
es nötig ist, bestens vorzubereiten.
Man muss aber auch sagen, dass es hohe Transaktions-
kosten gibt, um einen Begriff aus der Ökonomie zu ver-
wenden. Zur Vorbereitung eines solchen Verfahrens
müssen wir V-Leute abschalten und können den rechten
Terror weniger beobachten. Deswegen muss man sich
sehr gut überlegen, ob der Preis, der dafür zu zahlen ist,
im Einzelfall nicht zu hoch ist.
Deswegen werbe ich am Ende dafür: Lassen Sie uns
dem Reflex widerstehen, zu sehr auf die repressive, auf
die symbolische, auf die gesetzliche Ebene zu schauen.
Die infrage stehende Datei stellt einen guten und ausge-
wogenen Kompromiss dar. Lassen Sie uns vor allem den
Schmerz, den diese Attentate und dieser Terror ausgelöst
haben, noch etwas spüren, ihm noch etwas nachgehen
und ihn uns selbst als Anreiz dazu dienen, um jeden Tag
aufs Neue aufzustehen und gegen rechte Gewalt in
Deutschland vorzugehen, anstatt auf die Symbole der
Repression alleine zu setzen. Sie ist richtig und notwen-
dig, aber kein Allheilmittel.
Vielen Dank.
Petra Pau ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirreden über eine Verbunddatei für rechtsextreme Gewalt-täter. Zur Begründung heißt es im Gesetzentwurf – ichzitiere –: Sie soll die „bewährten Formen der Zusammen-arbeit“ zwischen den Ämtern „sinnvoll … ergänzen“.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19215
Petra Pau
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Es war heute schon die Rede davon: Auslöser für dieheutige Debatte ist eine jahrelange Nazimordserie mitzehn Toten. Danach von einer bewährten Zusammenar-beit der Sicherheitsbehörden in diesem Fall zu sprechen,finde ich allerdings dreist und würdelos, auch gegenüberden Hinterbliebenen.
Nachdem die Nazimordserie publik wurde, hat derBundesinnenminister Hans-Peter Friedrich drei Schluss-folgerungen bzw. Maßnahmen angekündigt: erstens einAbwehrzentrum gegen rechten Terror, zweitens die be-sagte Verbunddatei für rechtsextremistische Gewalttäterund drittens eine Sonderkommission, die sich mit denErmittlungspannen beschäftigen sollte.Was Sonderkommissionen sollen, dürfen oder tun, istunklar. Eine Bund-Länder-Koordinierung gegen Rechts-terrorismus gab es schon einmal. Sie stellte im Jahre2007 unverrichteter Dinge ihre Arbeit ein. Ebenso gab eseine Spezialdatei für rechtsextreme Kameradschaften.Sie wurde im Jahre 2010 gelöscht, und zwar so nachhal-tig, dass sich der zuständige Staatssekretär im Dezemberletzten Jahres auf meine Nachfrage nicht einmal mehr andie Existenz dieser Datei erinnern konnte.Kurzum: Wir erfinden heute nicht den Stein der Wei-sen. Es geht zum Teil um alte Hüte, die zuvor abgelegtwurden und nun lediglich aufpoliert werden. Die Ver-bunddatei soll vor allem Erkenntnisse der Kriminal- undVerfassungsschutzämter von Bund und Ländern bün-deln. Dazu wird es eine Anhörung im Innenausschussgeben. Dazu drei Anmerkungen von mir:Erstens. Es heißt, das sei eine Täterdatei, keine Ge-wissensdatei. Der Gesetzentwurf schließt allerdings eineGesinnungsdatei nicht aus. Einem solchen Vorstoß wirddie Linke nicht zustimmen.
Zweitens. Wenn Sie den Gesetzentwurf lesen, dannstellen Sie fest, dass die unsägliche V-Leute-Praxis imrechtsextremen Milieu durch Sonderregelungen fort-geschrieben wird. Das wäre für die Linke nicht hin-nehmbar.
Drittens. Lapidar wird im Text mitgeteilt, dass ver-briefte Grundrechte eingeschränkt werden. Auch das istso nicht akzeptabel.
Der Entwurf, um den es hier geht, trägt den Titel „Ge-setz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextre-mismus“. Ich halte das ein wenig für anmaßend – anderehaben schon darauf hingewiesen –, denn es ist nur dieseDatei, die tatsächlich Bestandteil des Gesetzes ist.
Kollege Hartmann hat es bereits gesagt: Es fehlt ein Ge-samtkonzept, gerade auch was die Prävention im Kampfgegen Rechtsextremismus angeht. Das ist das eigentli-che Problem. Nun erwarte ich nicht – das ist auch nichtIhre Aufgabe –, dass das Bundesinnenministerium einGesamtkonzept vorstellt. Allerdings erwarte ich es auchnicht vom Familienministerium, das nach der Geschäfts-verteilung der Bundesregierung eigenartigerweise zu-ständig ist. Meines Wissens gab es nach der unglaub-lichen Nazimordserie von der Bundesfamilienministerinzwei Reaktionen: Erstens sei sie für Prävention und nichtfür Morde zuständig – das ist richtig –, und zweitenswerde ein Kompetenz- und Informationszentrum ge-schaffen; dieses Zentrum solle wertvolle Erfahrungen,auch pädagogische, im Umgang mit Rechtsextremensammeln und verbreiten.
Inzwischen konnten wir lesen, was als pädagogischwertvoll gilt. So sollten in Dortmund 30 militante Neo-nazis mit 30 demokratischen Jugendlichen plaudern, umdie Nazis vom rechten Weg abzubringen. Von derselbenpädagogischen Güte waren übrigens geplante Ausflügejunger Kölner CDU-Mitglieder nach Berlin-Kreuzberg.Sie sollten sich besetzte Häuser ansehen, um der linkenGefahr ins Auge zu schauen.
Das alles wurde gefördert mit Geldern aus dem Bundes-familienministerium. Wer von diesem Thema Ahnunghat, der ist fassungslos.
Wir können weiter über das Für und Wider von Ver-bunddateien streiten und werden das auch tun. Aber daseigentliche Manko besteht darin, dass ein gesamtgesell-schaftliches Konzept für gemeinsames Handeln fehlt.Dieser Bereich liegt weiterhin brach. Überhaupt: So-lange Rechtsextremisten verharmlost und Antifaschistenmisstrauisch beäugt werden, ist etwas faul. Dieser Ange-legenheit sollten wir uns gemeinsam zuwenden.
Konstantin von Notz ist der nächste Redner für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mordtatender Zwickauer Zelle geben sehr ernsten Anlass, zu prü-fen, ob wir wirklich alles getan haben, um die schreck-lichen Taten zu verhindern bzw. rechtzeitig aufzuklären.Wir wissen bis heute nicht, was exakt in den Sicherheits-behörden schiefgelaufen ist. Deswegen haben wir ge-
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19216 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Konstantin von Notz
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meinsam einen parlamentarischen Untersuchungsaus-schuss eingesetzt. Dessen Aufklärungsarbeit ist vonganz entscheidender Bedeutung für das Zurückgewinnenvon Vertrauen in den Bevölkerungsgruppen, in denendieses Vertrauen ernsthaft erschüttert ist.
Weil wir bis heute mehr Fragen als Antworten haben,ist es schwierig, bereits jetzt, noch vor Abschluss dieserwichtigen Arbeit, ein Gesetz zu verabschieden, mit demletztlich Fakten geschaffen werden. Es gibt weitereGründe, abzuwarten: Mit dem Antiterrordateigesetz derschwarz-roten Koalition liegt die Grundkonzeption die-ses Gesetzentwurfs derzeit dem Bundesverfassungs-gericht zur Prüfung vor. Mit dem Urteil kann und mussjederzeit gerechnet werden. Außerdem findet derzeiteine Evaluation dieser Antiterrordatei statt. Es wäre alsoangezeigt, auf das Ergebnis der Evaluation und das Ur-teil zu warten, bevor man ein weiteres, ganz ähnlichesgrundrechtsrelevantes Gesetzeswerk auf den Weg bringt.
Bei dem Skandal bezüglich des Versagens der Sicher-heitsbehörden im Fall der Zwickauer Zelle stehen heutenicht deren angeblich unzulängliche Instrumente im Vor-dergrund, sondern es geht bislang vor allem um falscheEinschätzungen, um Kompetenzwirrwarr und um Infor-mationseitelkeiten. Der Fall des mutmaßlichen MittätersHolger G. wirft ein schräges Licht auf genau diese Pro-blematik. Der niedersächsische Verfassungsschutz er-hielt einen Hinweis der Kollegen aus Thüringen. Der un-ter Verdacht stehende Holger G. sollte observiert werden.Die Observation wurde nach zwei Tagen eingestellt. Alsdas Ende der Speicherprüffrist erreicht war, löschte manden Vorgang einfach, und das entgegen den gesetzlichenBestimmungen und trotz Terrorismusverdacht. Darauskann man nur lernen: Wenn die vorgeschalteten krimina-listischen Bewertungen nicht stimmen, wenn die beste-henden Möglichkeiten nicht genutzt werden, wenn sogargegen gesetzliche Regelungen verstoßen wird, dannhelfen auch alle technischen Instrumente der Welt nicht.
Reflexhaft sind wir in eine Verschärfungsdebatte ein-gestiegen. Herr Bosbach, obwohl ich Ihre Rede ins-gesamt erfreulich fand – ich meine insbesondere denSchulterschluss –, finde ich es einfach unsäglich, andieser Stelle wieder die Vorratsdatenspeicherung zufordern.
Wir diskutieren darüber in einer Situation, in der selbstGutgläubige den Eindruck haben könnten, bestehendeInstrumente würden maßlos und unverhältnismäßig ge-nutzt. Massenhafte Funkzellenabfragen in Berlin undDresden, gigantische Zahlen bei der automatischen Er-fassung von E-Mails durch die Dienste und der geradezunaive Einsatz von kommerzieller Trojanersoftwaredurch Bundesbehörden,
das ist der Hintergrund dieser Debatte, Herr Kollege, inder wir hier über die nächste Befugniserweiterung zu-gunsten der Sicherheitsbehörden diskutieren.Wir Grüne konzedieren, dass bemerkenswerteSchritte für mehr Datenschutz bei der Schaffung derDatei gemacht wurden. Vor allem die verbesserten Ver-fahrensrechte – das wurde hier bereits angesprochen –weisen in die richtige Richtung. Auf dem Verfahrenswegkönnen aber nicht die Fehler kompensiert werden, diebei der Grundkonstruktion gemacht wurden. Deshalbkritisieren wir die nicht eindeutige Aufzählung derzugriffsberechtigten Behörden als einen Verstoß gegenden Bestimmtheitsgrundsatz und die unzureichend ein-gehegte Erfassung von Kontaktpersonen. Diese Ver-bunddatei greift in das Trennungsgebot und das Grund-recht auf informationelle Selbstbestimmung ein.
Sie bewegt sich im Vorfeld eines konkreten Verdachtsund konkreter Gefahren und damit potenziell außerhalbdessen, was derzeit rechtsstaatlich solide einhegbarerscheint.Solche Dateien sind nicht grundsätzlich unzulässig,
aber sie müssen eine Ausnahme bleiben, und ihr Umfangist zu beschränken; denn sie ebnen tendenziell die ver-fassungsrechtlich abgesicherten Unterschiede zwischenoperativer Polizeiarbeit und geheimdienstlicher Informa-tionstätigkeit ein. Deswegen sage ich bei allem Problem-bewusstsein angesichts der schrecklichen Morde: DieseDateien müssen die äußerste Ausnahme sein, und wirmüssen sie aufs Strengste beschränken.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Es ist richtig: Unser vordringlichstes Ziel muss es
sein, dass es keine weiteren Toten gibt. Wir müssen uns
dabei aber – das haben Sie, Herr Innenminister, völlig zu
Recht gesagt – im Rahmen unserer Verfassung bewegen.
Deswegen fordere ich uns alle auf, diese Maßgaben zur
Grundlage unserer Diskussion zu machen.
Ganz herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Peter Uhl fürdie CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19217
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Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Zehn Jahre lang zehn Morde, von ein und der-selben Gruppe begangen, nicht aufgeklärt zu haben,macht geneigt, diesen Umstand als Skandal zu bezeich-nen. Ich möchte so weit nicht gehen. Aber ich gebe zubedenken, ob man über die föderale Struktur, die wohlUrsache der Angelegenheit ist, im Bereich der Sicher-heitsbehörden verstärkt nachdenken sollte.
Der Föderalismus, zu dem wir uns alle bekennen, hateben auch seine Schwächen. Bei diesem Sachverhaltwerden die Schwächen überdeutlich. Wir werden imLaufe der weiteren Ermittlungen darauf einzugehen ha-ben. Es ist gut, dass es einen Untersuchungsausschuss inThüringen und einen Untersuchungsausschuss in Sach-sen gibt
– wir werden ihn bald haben – und dass wir bereits einenauf Bundesebene eingesetzt haben. Ich halte es auch fürrichtig, dass die Expertenkommission von Bund undLändern ihre Arbeit aufnimmt. Dies alles trägt dazu bei,den ungeheuerlichen Vorwurf – den dürfen wir auf kei-nen Fall stehen lassen – aus der Welt zu schaffen, dassder deutsche Staat auf dem rechten Auge blind sei. Dasdarf es nicht geben.
Wir haben jetzt ein gemeinsames Terrorismusabwehr-zentrum gegen rechtsextreme gewaltbereite Kräfte ein-gerichtet. Das war richtig so. Es ist dem Bundesinnen-minister zu danken, dass so unverzüglich gehandeltwurde. Wir beraten heute in erster Lesung über den ingroßer Eile und in Abstimmung mit den Ländern erar-beiteten Gesetzentwurf, der vorsieht, für gewaltbereiteRechtsextremisten eine gemeinsame, standardisiertezentrale Datei zu schaffen, in die alle Behörden ihre Er-kenntnisse eingeben müssen. Das ist der entscheidendePunkt: Sie müssen sie eingeben. Was heißt „alle Behör-den“? Man muss sich das einmal vorstellen: 16 Landes-kriminalämter, 16 Landesämter für Verfassungsschutz,das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, das Bundes-amt für Verfassungsschutz, das sind schon 35 Behörden.Dass da enorme Zentrifugalkräfte wirken, kann man sichgut vorstellen. Dass das nicht auf Zusammenarbeit ange-legt ist, sondern dass das auseinanderstrebt, liegt in derNatur der Sache und ist der Preis des Föderalismus. Die-ses Defizit muss beseitigt werden. Deswegen ist es rich-tig, diese Datei zu schaffen.Ich halte es auch für richtig, dass die Datei bis EndeJanuar 2016 befristet ist und dass vor Ablauf dieser Fristevaluiert wird, um gegebenenfalls nachzubessern, ankleinen Schrauben zu drehen und noch einmal Erfahrun-gen zu sammeln, auch im Umgang mit der bereits beste-henden Datei gegen Linksextremismus. Das kann manso machen.Das ganze Thema ist – das zeigt auch die heutige De-batte – zwischen den Parteien eigentlich nicht strittig.Vielmehr besteht der Konflikt im Verhältnis des Bundeszu den Ländern. Wenn wir den Dingen auf den Grundgehen, werden wir möglicherweise Defizite in Thürin-gen und Sachsen aus der Zeit von vor zehn Jahren undVersäumnisse, die keinem zuzurechnen sind, in den dar-auffolgenden Jahren in anderen Bundesländern feststel-len. Das sind die Zusammenhänge. Das heißt, hier gehtes nicht um SPD- oder unionsgeführte Landesregierun-gen, sondern darum, dass das Zusammenspiel der Si-cherheitsbehörden nicht funktioniert hat. Deswegenglaube ich, dass es sehr wichtig ist, Konsens mit denLändern herzustellen. Morgen wird sich auch das Ple-num des Bundesrats mit der Schaffung dieser Datei be-fassen. Dazu gibt es eine Reihe von Änderungsvorschlä-gen. Frau Justizministerin, diese sollten wir ernsthaftprüfen, weil sie zum Teil zum Ziel haben, Korrekturen,die Sie an dieser Datei vorgenommen haben, in eine an-dere Richtung nachzubessern.
– Ich vertraue auf den Sachverstand der Praktiker beisolchen Dingen.
Ich glaube nicht, dass wir bezüglich solcher Dateien denhöchsten Sachverstand hier in diesem Hause haben. Wirmüssen die Praktiker aus den Landessicherheitsbehördensehr ernstnehmen, wenn sie sagen, dass wir dieses oderjenes Werkzeug – diese müssen dann natürlich auf ihreRechtmäßigkeit, zum Beispiel im Hinblick auf Daten-schutzgesetze, überprüft werden – brauchen. Ich möchtehier jedenfalls keinen Konflikt zwischen Bund und Län-dern.
Die Länder fordern für den Kampf gegen Rechts-extremismus eine erweiterte Datennutzung, und zwargenerell und ganzjährig, nicht nur beschränkt auf befris-tete Projekte. Die infrage stehende Datei wird vom Bun-deskriminalamt geführt. Ein großer Teil der Kosten wirdvom Bund übernommen, ein kleinerer Teil von den Län-dern. In neun Monaten wird die Datei funktionsfähigsein. Das ist gut so.Wir haben jetzt das Terrorabwehrzentrum gegenRechtsextremismus, die Rechtsextremismusdatei, einenentsprechenden Untersuchungsausschuss und die Bund-Länder-Expertenkommission. Dies sind vier sehr ernst-zunehmende und gute Reaktionen auf den Umstand,dass man über zehn Jahre zehn Morde nicht aufgeklärthat.Zu dem Ruf nach einem NPD-Verbot hat KollegeBosbach eigentlich schon das Nötige gesagt. Der Rufnach einem NPD-Verbot ist verständlich. Ein solchesVerfahren ist aber nicht – das hat bereits KollegeRuppert gesagt – der allein selig machende Weg. Ich
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19218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Hans-Peter Uhl
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glaube eher, dass wir uns – das ist eine zutiefst demokra-tische Einstellung – mit dem Gedanken anfreunden müs-sen, dass die Gedanken frei sind,
leider auch rechtsextreme Gedanken, und dass Men-schen, die solche Gedanken haben, auch in Zukunft freiherumlaufen können; das ist leider so. Ich glaube, dasses hohe Hürden zu überwinden gilt, bevor wir als Verfas-sungsorgan, aber letztlich auch als Parteipolitiker einenAntrag auf Verbot einer konkurrierenden Partei stellen.Die Hürden sind vom Gericht sehr hoch angesetzt.Ich glaube, dass der Kampf gegen rechtsextremes Ge-dankengut sehr viel wichtiger als ein NPD-Verbot ist. Inder gesamten Gesellschaft müssen wir den Kampf gegenAusländerfeindlichkeit, den Kampf gegen Antisemitis-mus, den Kampf gegen Rassismus und den Kampf gegenantidemokratisches Führerdenken ohne Unterlass sehrernsthaft führen; denn das alles ist Neonazi-Denken undmuss von der ganzen Gesellschaft geächtet werden. Die-ser Aufgabe müssen wir uns stellen. Das ist das Aller-wichtigste.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Kirsten Lühmann
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Sehr geehrte Anwesende! NADIS, INPOL,POLAS und AFIS – das sind nur einige von Dutzendenvon Dateien, die der Polizei bei ihrer Arbeit zur Verfü-gung stehen. Da stellt sich natürlich die Frage: Brauchenwir wirklich noch eine Datei, zumal wir schon Dateienhaben, in denen Daten zu Gewalttätern gespeichert wer-den, zum Beispiel die Dateien „Gewalttäter Sport“, „Ge-walttäter Links“, „Gewalttäter Rechts“, und das schonseit Jahren?Wenn eine Bande über zehn Jahre lang mordenddurch Deutschland zieht, wenn sie unerkannt Unterstüt-zergruppen hat, wenn sie Fahrzeuge und Wohnungen be-liebig wechseln kann, dann muss sich in unserer Sicher-heitsstruktur etwas ändern.
Die Probleme, die durch den fehlenden Informations-fluss bei einzelnen Behörden über Ländergrenzen hin-weg, ja sogar innerhalb einiger Länder aufgetaucht sind,werden zurzeit von einem Untersuchungsausschuss auf-gearbeitet. Eines ist aber schon jetzt klar: Um zu erken-nen, wann aus einem Rechtsextremen ein Rechtsterroristwird, brauchen wir ein neues Instrument.Ein Beispiel gibt es schon: die sogenannte Antiterror-datei. In ihr werden nicht nur Namen, sondern auch Da-ten zu Kontaktpersonen, Handys, Wohnungen und Fahr-zeugen gespeichert. Eine solche Verbunddatei soll jetztauch im Hinblick auf den Rechtsterrorismus geschaffenwerden, allerdings nicht als Kopie der Antiterrordatei– dann brauchten wir sie nur zu erweitern –, sondern alseine Datei, die auf die besonderen Verhältnisse desRechtsterrorismus zugeschnitten ist.Ein Problem haben beide Gesetze: Auch wenn dieVerbunddateien nur eine gemeinsame Infoquelle sind,weichen sie die strikte Trennung zwischen Polizei undGeheimdiensten immer weiter auf. Beide, Polizei undGeheimdienste, sollen Daten einstellen. Beide, Polizeiund Geheimdienste, können auf diese Daten zugreifen.So kann die Polizei auch Informationen erlangen, die mitgeheimdienstlichen Mitteln beschafft wurden. Genaudies wird aufgrund der Erfahrungen mit dem nationalso-zialistischen Unrechtsregime des Dritten Reiches alsproblematisch angesehen. Im Gesetzentwurf sind dazuSicherungen vorgesehen. So kann die Polizei nicht unge-hemmt auf alle Informationen zugreifen. Die einstellen-den Behörden entscheiden über die Weitergabe einzelnerDaten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob daswirklich ausreicht, wissen wir noch nicht, zumal die An-titerrordatei zurzeit gerichtlich überprüft wird. Bei dieserÜberprüfung geht es um die Frage, ob das Trennungsge-bot eingehalten wird oder ob die Regelungen gegen dasGrundgesetz verstoßen. Ich hoffe, das Urteil kommt sorechtzeitig, dass wir die Ergebnisse bei den Beratungenüber den uns vorliegenden Gesetzentwurf berücksichti-gen können. Denn es wäre ein fatales Signal, wenn unsdiese neue Waffe im Kampf gegen den Rechtsextremis-mus vom Bundesverfassungsgericht gleich wieder weg-genommen werden würde. Das darf nicht passieren.
– Danke schön, Herr Kollege.Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich habe noch einpaar praktische Fragen. Im vorliegenden Gesetzentwurfsteht, dass die beteiligten Behörden sogenannte erwei-terte Speicherungen ganz unterlassen können, wenn be-sondere Geheimhaltungsinteressen dies ausnahmsweiseerfordern. Dabei sind es genau diese erweiterten Daten– etwa Adressen für elektronische Post, genutzte Handysoder Fahrzeuge –, die für die Ermittlungsbehörden emi-nent wichtig sind. Das sind genau die Daten, die bei denErmittlungen im Hinblick auf die Rechtsterroristen hilf-reich gewesen wären. Von einigen Behörden wurden sieaber mit Hinweis auf ebendiese besonderen Geheimhal-tungsinteressen nicht weitergegeben. Das Problem, daswir mit diesem Gesetz beseitigen wollen, wird also mitdiesem Gesetz festgeschrieben. Das ist widersinnig.
Durch unbestimmte Rechtsbegriffe wie „besonderes Ge-heimhaltungsinteresse“ oder „besonders schutzwürdigeInteressen“ werden Ausschlusstatbestände geschaffen,die auf jeden Fall angewendet werden können. In derAnhörung zu diesem Gesetzentwurf sollten wir deshalbbesonderes Augenmerk darauf richten, dass hier die Ge-
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Kirsten Lühmann
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fahr droht, dass Wissenslücken entstehen, wo keine Wis-senslücken sein dürfen.Dass den berechtigten Anliegen einiger BehördenRechnung getragen wird, zeigt die Möglichkeit der ver-deckten Speicherung. Dabei muss jede verweigerte Da-tenweitergabe mit der Begründung, warum die Datennicht weitergegeben wurden, gespeichert werden. Sokann auch noch nach Monaten nachvollzogen werden,ob Daten rechtmäßig weitergegeben wurden oder auchnicht weitergegeben wurden. Bei einer nicht erfolgtenSpeicherung ist dies nicht möglich. Die Behörde, diemauert, bleibt im Dunkeln und muss sich nicht erklären.Das kann nicht unser Ziel sein.Insgesamt sehe ich nicht so sehr die Gefahr der unge-hemmten Sammelwut. Dazu sind die Kriterien zu enggefasst. Sie sind so eng gefasst, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dass sich sogar die Bundesländer uni-sono fragen, ob wirklich nur gewaltbezogene Extremis-ten oder nach den Erfahrungen der letzten Jahre nichtauch gewaltbereite Extremisten in unseren Fokus rückensollten. Ich finde, dass es sich lohnt, auch diese Frage inder Anhörung näher zu beleuchten.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir sind am An-fang der parlamentarischen Beratungen. Ausgehend vondem Expertenwissen, das wir in der Anhörung erlangenwerden, sollten wir gemeinsam darauf hinwirken, dassdas Gesetz auf einer gesicherten rechtsstaatlichenGrundlage steht und in der Praxis ein effektives und effi-zientes Instrument im Kampf gegen den Rechtsextremis-mus werden wird.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Niemand – das haben viele heute hier schon gesagt –hätte es für möglich gehalten, dass Rechtsextremisten– viele haben sie als rechtsextremistische Bande,Nazimörder oder ähnlich bezeichnet – durch Deutsch-land ziehen und zehn Morde begehen, und niemand vonuns hätte es für möglich gehalten, dass das nicht vorherbekannt wurde.Aber ganz ehrlich, liebe Kollegin Jelpke: Der Skandalist das, was passiert ist, und nicht das, was wir heute hiertun und besprechen. Ich habe während Ihrer Rede ver-sucht – ich glaube, das kann niemand wirklich schaffen –,mich in die Angehörigen der Opfer zu versetzen. Ichglaube, Sie haben an deren Interessen wirklich völligvorbeigeredet; denn es geht darum, aus dem, was pas-siert ist, Lehren zu ziehen, und es geht nicht darum, dieAngehörigen der Opfer zu verhöhnen. Es geht nicht umdie Verharmlosung von Gewalt, sondern es geht um dieBekämpfung von Gewalt. Ich glaube, hier haben Sie sichwirklich im Ton vergriffen.
Rechte Gewalt, Gewalt aufgrund widerwärtiger, men-schenverachtender Ideologien, muss selbstverständlichmit aller Kraft bekämpft werden. Es ist gut, wenn wiralle uns darüber einig sind. Nein, Herr KollegeHartmann, ich glaube, niemand von uns hier im Deut-schen Bundestag hat sich an Rechtsextremismus ge-wöhnt.Ich glaube, es ist – wenn man das so sagen darf –richtig und gut, dass niemand von der NPD hier imDeutschen Bundestag vertreten ist. Wir alle gemeinsamsollten es als Aufgabe sehen, dass das auch so bleibt –anders als in dem einen oder anderen Landtag. Herr Kol-lege Hartmann, ein NPD-Vertreter in einem Landtag istkein Biedermann, sondern bleibt offen NPD-Vertreter.Ich bin mir nicht sicher, was Max Frisch zu Ihrem Ver-gleich gesagt hätte. Für mich jedenfalls kann jemand, derder NPD angehört, auch in einem Landtag niemals alsBiedermann bezeichnet werden.
Unser Ziel als Demokraten muss sein, dafür zu sorgen,dass niemand mit rechtsextremistischem Gedankengut inden Bundestag oder in ein Landesparlament einzieht.
Wir bekämpfen Rechtsextremismus, aber auch Extre-mismus jeder Art; auch das muss hier einmal gesagt wer-den. Das ist die Aufgabe aller demokratischen Parteien.Dafür – das ist schon gesagt worden – reicht eine einfa-che Datei oder auch ein NPD-Verbotsverfahren reloaded,wie das heute heißt, nicht aus. Wir dürfen uns nichts vor-machen: Ein Verfahren, das scheitert – eines ist schongescheitert –,
kann sich diese Demokratie nicht leisten. Es darf nichtnur Verbotsverfahren geben, sondern die gesellschaftli-che Auseinandersetzung mit rechtsextremistischer Ideo-logie muss fortgeführt werden. Das ist unsere Aufgabe.Ich glaube, wir alle hier wissen: Es gibt keine einfa-chen Lösungen – nicht für die Auseinandersetzung mitrechten Parteien und auch nicht für die Verfolgungrechtsextremistischer Straftäter. Es wäre falsch, zu glau-ben, dass mit dem Gesetzentwurf, über den wir heutehier diskutieren, alles gemacht worden ist.Wir haben gelernt, dass die Ermittlungsbehördennicht in die richtige Richtung gearbeitet haben. Aus wel-chen Gründen dies nicht geschah, arbeiten der Untersu-chungsausschuss, die Regierungskommission von Bundund Ländern und nicht zuletzt auch – sehr erfolgreich –der Generalbundesanwalt gerade auf.
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19220 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Gisela Piltz
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Man muss sich aber auch die Frage stellen, ob dieseMorde der richtige Anlass dafür sind, hier noch einmalüber die Vorratsdatenspeicherung zu sprechen.
– Nicht nur zu denen, zu Ihnen genauso. Das ist dochIhre Auffassung.
Ich wäre hier einmal ganz vorsichtig, Herr KollegeHartmann. Ich glaube, Sie und nicht wir haben das ge-macht. – Dass ein Trio, das telefonisch überwachtwurde, ein Argument für die Vorratsdatenspeicherungist, kann meine Fraktion nicht zwingend erkennen.Wir können nur noch einmal appellieren: Mit dem,was wir vorgeschlagen haben und was die Justizministe-rin vorgelegt hat, dem Quick-freeze-Verfahren, hättenwir jetzt die Möglichkeit, hier mehr zu tun, als wir jetzttun können. Von daher, meine Kollegen von der Union:Wir wären weiter, wenn Sie mit uns darüber sprechenwürden.
Sie wissen – das ist kein Geheimnis –, dass meineFraktion Dateien immer kritisch beäugt. Das war bei derAntiterrordatei schon so, und das gilt auch hier.Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir das tun müs-sen, was nötig ist, um Rechtsextremismus zu bekämp-fen. Aber für Liberale kann es auch keinen Zweifel da-ran geben, dass wir unsere Demokratie und unsereGrundrechte nur dann auch gegen Neonazis verteidigenkönnen, wenn wir die Verfassung und die sich daraus er-gebenden Grenzen beachten.Deshalb ist es gut, dass tatsächliche Anhaltspunktedarüber entscheiden, wer in die neue Datei aufgenom-men wird. Eine Datei, bei der die vermutete Gesinnungausreichte, um ins Visier der Sicherheitsbehörden zu ge-raten, wäre aus unserer Sicht nicht mit unserem Rechts-staat vereinbar. Der verfehlten Ideologie der Rechten zubegegnen, ist Aufgabe der politischen und gesamtgesell-schaftlichen Auseinandersetzung. Den tatsächlichen Ge-fahren zu begegnen, ist Aufgabe der Sicherheitsbehör-den.Zudem – das ist schon von dem einen oder anderengesagt worden – gilt bei keiner Datei das Motto „Vielhilft viel“. Das ist in der letzten Zeit deutlich geworden.
Auch ist richtig, dass die Datei nicht als Volltextdatei,sondern als erweiterte Indexdatei angelegt ist. Polizeiund Nachrichtendienste haben unterschiedliche Aufga-ben. Das ist mehrfach gesagt worden und dem schließeich mich an. Es ist und bleibt ein gutes Prinzip in unse-rem Rechtsstaat, dass wer alles darf, nicht alles weiß undwer alles weiß, nicht alles darf. Dafür wird sich die FDPauch in Zukunft immer einsetzen.
So gesehen ist es spannend, Herr Kollege Hartmann,wenn Sie in Ihrer Rede die Regierung dafür kritisieren,dass wir um diese Prinzipien ringen, aber die KolleginLühmann als dritte Rednerin Ihrer Fraktion selbstver-ständlich diese Prinzipien vorträgt. Von daher danke ichIhnen, Frau Kollegin Lühmann. Vielleicht können Sieauch den Kollegen Hartmann auf den richtigen Wegbringen.
Aus unserer Sicht ist es auch zu begrüßen, dass es beiden bisherigen Speicherfristen im Verfassungsschutzge-setz bleibt. Wir haben die Verlängerung der Speicherfris-ten nach dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsge-setz nach gründlicher Prüfung nicht mehr für nötiggehalten. Es wäre widersinnig, jetzt anders zu handeln.Es ist auch gut, dass wir uns selbst den Auftrag geben,die Wirksamkeit des Gesetzes zu überprüfen. Denn auchbei einem hehren Ziel oder vielmehr gerade dann dürfenwir nicht dem Glauben verfallen, uns nicht mehr selbsthinterfragen zu müssen.Interessant ist aber auch, dass die Länder im Bundes-rat sehr viel weiter gehen wollen. Ich bin sehr gespannt,was die mitregierenden Kollegen der SPD und der Lin-ken, die noch viel weiter gehen wollen, morgen in derLänderkammer tun werden.
Ich habe die Ahnung, dass wir dort von ihnen nicht vielhören werden.Eine gemeinsame Datei kann nur so gut sein wie die,die sie gemeinsam nutzen, dies ermöglichen. Daran soll-ten wir arbeiten. Uns ist klar: Kein Gesetzentwurf ver-lässt dieses Haus so, wie er hineingeht. Wichtig ist, dassein Gesetz die rechtsstaatlichen Grundsätze widerspie-gelt. Dafür werden wir sorgen.Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das Themader heutigen Debatte. Kollege Wieland hat gesagt, dieDatei könne dazu nicht alles sein. Das ist völlig richtig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19221
Clemens Binninger
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Aber diese Datei ist ein wichtiger Schritt. Sie ist einwichtiger Baustein.Dabei dürfen wir nicht vergessen: Es bleibt unsereGesamtverantwortung, und es bleibt eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe, im Kampf gegen den Rechtsextre-mismus alles zu tun, damit sich solche Taten nicht wie-derholen und solche Strukturen nicht verfestigen könnenund wir eine wehrhafte Demokratie bleiben.
Bei dem Teilbaustein, den wir heute beraten, geht esum Fragen des Informationsaustausches. Als im Novem-ber 2011 die schreckliche Mordserie bekannt wurde– zehn Morde, zwei Sprengstoffattentate; hinzu kamenmehrere Banküberfälle –, stellte sich die Frage: Wiekonnte das sein, ohne dass es jemand gemerkt hat?Ich will uns allen den Spiegel noch etwas stärker vor-halten. Das Terrortrio wurde am 4. November 2011 ent-deckt. Am 5. November waren die Täter identifiziert.Man wusste, dass dieses Trio für den Mord an der Poli-zistin in Heilbronn verantwortlich war, weil man dieDienstwaffen gefunden hatte – mehr nicht. Niemand– nicht einmal dort – kam auf die Idee, zu fragen, ob dasnicht auch die Täter bei den neun Morden an unserenausländischen Mitbürgern gewesen sein könnten – am5. November nicht, am 6. nicht und am 7. nicht. Nie-mand von uns, niemand von den Journalisten, niemandbei den Sicherheitsbehörden – niemand hat diese Theseaufgestellt. Erst als man die Ceska gefunden hatte, warklar, dass es sich um sehr viel mehr handelt, nämlich umeine schreckliche Mordserie.Es muss uns noch viel mehr zu denken geben, was In-formationsaustausch und Informationsbewertung be-trifft, dass wir, selbst als die Täter erkannt waren, nichtvon alleine auf diese Spur gekommen sind. Deshalbglaube ich, dass dem sehr technischen Begriff des Infor-mationsaustauschs zwischen Sicherheitsbehörden eineviel größere Bedeutung beigemessen werden muss, alswir vielleicht annehmen.Es geht im Kern um folgende Frage: Wie gehen wir inunserem Rechtsstaat mit dem Wissen um, das Sicher-heitsbehörden über rechtsextremistische Gewalttäteroder gewaltbereite Personen haben? Die Antwort kannnicht sein, dass wir das Wissen voreinander abschotten,auf möglichst viele Stellen verteilen, dass keiner mitdem anderen redet, Informationen nur im Ausnahmefallausgetauscht werden und man sich hinterher wundert,wie so etwas geschehen konnte. Das wäre die falscheAntwort.
Wenn wir das als Maßstab anerkennen, dann ist dieseDatei der richtige Ansatz. Dafür müssen wir auch nichtauf die Ergebnisse der Untersuchungsarbeit unserer Aus-schüsse, die sehr viel tiefer geht, warten. Diese Dateikönnen wir schon heute auf den Weg bringen.Sie ist notwendig, weil sich in Deutschland 36 unter-schiedliche Sicherheitsbehörden in Bund und Ländernmit Rechtsextremismus befassen. Es ist ganz entschei-dend, den Informationsaustausch so zu organisieren,dass keine Information verloren geht. Diese Datei wirdeines erreichen: Sie wird der Rahmen sein, innerhalbdessen aus verschiedenen Informationsbruchstücken einaussagekräftiges Bild entsteht.Dazu werden verschiedene Dinge gespeichert, undzwar von Polizei und Verfassungsschutz. An die Adresseder Grünen: Wenn Sie es ernst meinen, wenn wir alle esernst meinen mit der Aussage, dass sich so etwas nichtwiederholen darf und wir im Kampf gegen Rechtsextre-mismus wehrhafter sein müssen, dann müssen wir andieser Stelle konkret werden. Wir als Union – in derGroßen Koalition gemeinsam mit der SPD – haben inder Vergangenheit schon immer gesagt: Der Informa-tionsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutzverstößt nicht gegen das Trennungsverbot. Er ist not-wendig, um eine Aufgabe sachgerecht zu erfüllen.
An dieser Stelle werden Sie Ihre Position korrigierenmüssen. Das wage ich vorauszusagen. Alles anderewürde nicht funktionieren.
– Der Kollege Ströbele ist verzweifelt. Ich würde dieFrage zulassen, wenn der Präsident sie zulässt.
Gut, dann sind wir uns insofern einig.
Bitte, Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Präsident. – Danke auch, Herr Kollege.Sie sprechen zutreffend an, dass in der Öffentlichkeit im-mer wieder der Eindruck erweckt wird, dass die Sicher-heitsbehörden bei uns in Deutschland so voneinander ab-geschottet sind, dass die einen Informationen zumBeispiel über Rechtsextremismus, über Gewalttaten,über Straftaten und Ähnliches haben, die sie den anderennicht mitteilen. Das sei – so wird das in der Öffentlich-keit manchmal dargestellt – verboten.Geben Sie mir recht, dass dies entgegen der Auffas-sung in der Bevölkerung und entgegen anderslautendenMedienberichten gar nicht so ist? Können Sie bestätigen,dass die Gesetzeslage so ist, dass etwa die Verfassungs-schutzämter Informationen sehr wohl weitergeben kön-nen und eigentlich auch weitergeben sollten, wenn dieszur Aufklärung oder sogar Verhinderung von Straftatendienen kann, dass sie das aber in der Vergangenheit ver-
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19222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Hans-Christian Ströbele
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mutlich – in einigen Fällen offensichtlich – nicht getanhaben?Die Verfassungsschutzämter handeln typischerweiseso, dass sie ihre Informationen für sich behalten undnicht weitergeben wollen, etwa weil sie ihre Informantenschützen wollen oder meinen, ihr Wissen sei zu wichtigfür eine Weitergabe an die Vollzugsbehörden. StimmenSie mir darin zu, dass da der Fehler liegt, dass es da einfalsches Denken gibt? Man konnte Informationen nachdem Gesetz schon immer weitergeben, hat es aber nichtgetan.
Herr Kollege Ströbele, es ist unbestritten, dass imEinzelfall ein Austausch von Informationen zwischendem Verfassungsschutz und der Polizei oder innerhalbdes Verfassungsschutzverbundes möglich war.
Aber das war – das war die Erlass- und Gesetzeslage –immer an sehr hohe Hürden gekoppelt. Es war der Lan-desbehörde überlassen, zu entscheiden, ob eine Informa-tion für den Bund oder eine der anderen 15 Landesbe-hörden relevant sein könnte. Wenn diese Behördeentschieden hat, die Information nicht weiterzugeben,weil sie als banal erachtet wurde, dann wurde sie nichtweitergegeben. Die Fristen zur Speicherung solcher In-formationen waren im Übrigen sehr kurz. Ich will daranerinnern: Die Daten des Terrortrios mussten nach fünfJahren gelöscht werden. Das Trio war ab 2003 nichtmehr auf dem amtlichen Radarschirm. Die Daten warenin keiner einzigen Datei mehr gespeichert.Es kann uns doch nicht ruhig lassen, wenn wir eineKonstruktion haben, bei der solche Informationen verlo-ren gehen. Die jetzt vorgesehene Datei hat ein verpflich-tendes, automatisiertes Element und stellt damit sicher,dass die Mosaiksteine, die vielleicht im Land X keineBedeutung haben, dafür aber im Land Y, zusammenge-führt werden. Das war bis heute nicht möglich, mit Aus-nahme des Bereichs des internationalen Terrorismus, wowir sehr erfolgreich sind. Wir brauchen eine solche Dateiauch für den Bereich Rechtsextremismus, wenn wirwehrhaft sein wollen – und wir wollen wehrhaft sein.
Ich will in aller Kürze, weil die Datei gerade einThema war, darauf eingehen, was gespeichert wird. HerrKollege von Notz hat vorhin eine Aussage getroffen, dieich für schwer durchzuhalten halte. Ich will Ihnen dasgleich begründen. In diese Datei kommen Daten überbekannte rechtsextremistische Straftäter, bekannterechtsextremistische gewaltorientierte Personen, derenKontaktpersonen sowie Vereinigungen, Sachen und Ob-jekte. Sie, Herr Kollege von Notz, haben kritisiert, dassvielleicht zu viele Kontaktpersonen aus dem rechtsextre-men Milieu erfasst werden könnten.
Ich kann das nicht nachvollziehen; denn wenn wir dierichtigen Konsequenzen ziehen wollen, dann müssen wirpräzise bleiben. Hätte man Ihren Maßstab angelegt, dannwäre mit hoher Wahrscheinlichkeit die BeschuldigteZschäpe nicht in der Datei gewesen. Das sollte Ihnen zudenken geben. Gerade Kontaktpersonen haben oftmalskeine Straftaten begangen, sind aber nah an den Straf-tätern dran. Die Erfassung solcher Personen hilft uns,Netzwerke zu erkennen. Daten solcher Personen nicht zuspeichern, würde dazu führen, dass unsere Instrumentevon vornherein zum Scheitern verurteilt wären. Deshalbmuss man schon A und B sagen.
Eine weitere Bemerkung bezieht sich auf die Punktedes Bundesrats, die der Kollege Uhl vorhin zu Recht an-gesprochen hat. Der Bundesrat möchte weitere Recher-chemöglichkeiten haben. Das werden wir uns in der An-hörung von den Praktikern erklären lassen. Es sprichteiniges dafür, zu fragen, warum man erst Projekte defi-nieren und beschreiben soll, wenn es eine Daueraufgabeist und gerade das Zusammenführen von Erkenntnissenuns einen Schritt weiter bringt. Der Bundesrat sagt aberauch, dass er ein Problem bei den Speicherfristen sieht.Das sehe auch ich.Wenn wir die richtigen Lehren aus der Analyse dieserschrecklichen Mordserie ziehen – ich komme immerwieder auf diesen Fall zurück –, dann müssen sich dieErgebnisse in unserem Handeln wiederfinden. Heutewissen wir, dass die Speicherfrist für die Daten des Ter-rortrios 2003 auslief und ab 2003 die Daten vonBöhnhardt, Mundlos und Zschäpe in allen polizeilichenund automatisierten Verfassungsschutzdateien gelöschtwerden mussten, weil die Speicherdauer so kurz war.Hinter der Speicherfrist steht ein logischer Gedanke.Der Gedanke, nach fünf Jahren die Daten zu löschen, be-ruht auf der Annahme, dass jemand, der fünf Jahre nichtin Erscheinung tritt, offensichtlich wieder den Weg indas normale bürgerliche Leben zurückgefunden hat undnicht mehr dieser Szene angehört. Aber die Tatsache,dass ein Terrortrio fünf Jahre untergetaucht ist, ist dochkein Beleg dafür, dass die Mitglieder dieses Trios wiedernormale Bürger geworden sind. Deshalb dürfen wirnicht noch einmal den Fehler begehen, die Speicherfristzu kurz zu fassen, sodass nach fünf Jahren kein Wissenmehr über die Personen vorhanden ist. Es war einGrundfehler der Sicherheitsbehörden, zuzulassen, dassdas Wissen gar nicht mehr vorhanden war, weil die Da-ten gelöscht wurden, oder nur Bruchstücke vorhandenwaren, die auch noch verteilt waren.Ich glaube, dass wir und die Bundesregierung mitdem neuen Zentrum zur Bekämpfung des Rechtsextre-mismus und mit der Antiterrordatei rechts, wie man sieauch nennen könnte, zwei wichtige Schritte gemacht ha-ben. Die Untersuchungsausschüsse werden weitereEmpfehlungen geben. Unter dem Strich muss die Bot-schaft sein: Wir werden nicht zulassen, dass sich so et-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19223
Clemens Binninger
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was wiederholt. Wir werden alles dafür tun, dass dieseschreckliche Mordserie aufgeklärt wird. Das sind wir al-len Menschen in unserem Land schuldig.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf der Drucksache 17/8672 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rentenversicherung stärken und solidarisch
ausbauen – Solidarische Mindestrente einfüh-
ren
– Drucksache 17/8481 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch
darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann kön-
nen wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Matthias Birkwald für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Sage und schreibe 112 000 Menschen gehen jenseits
ihres 75. Geburtstages einem Minijob nach. Älter als 65
sind mehr als 760 000 der Minijobberinnen und Mini-
jobber. Zwei Drittel davon sind Frauen.
Einen Augenblick, bitte! Könnten wir uns vielleicht
darauf verständigen, dass notwendige Gespräche an pas-
senderer Stelle geführt werden?
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Karin Schäfer,68 Jahre alt, aus Blankenfelde bei Berlin ist eine von ih-nen. Sie geht putzen. Dabei hat sie ihr Leben lang gear-beitet. Sie hat 35 Jahre als Verkäuferin und als Kassiere-rin Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt, und sie hatdrei Kinder erzogen. Nun bleiben ihr nur magere 599Euro gesetzliche Rente. Weitere Alterseinkünfte hat sienicht, und auch nichts auf der hohen Kante. Das reichthinten und vorne nicht. Sie sagt:Ich muss arbeiten gehen, mein ganzes Leben lang.Keine Ahnung, wovon ich leben soll, wenn das malnicht mehr geht.Für Karin Schäfer und für Hunderttausende weitererSeniorinnen und Senioren gibt es keinen Ruhestand. IhrSchicksal heißt: Malochen bis zum Tode. Dieses Schick-sal ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist politisch ge-macht. Darum kann man es auch politisch ändern. Dazuist es allerhöchste Zeit.
Meine Damen und Herren, 14 Prozent der Menschenim Rentenalter gelten heute als arm. Immer mehr Rent-nerinnen und Rentner sind auf die Grundsicherung imAlter angewiesen. Sie liegt bei 688 Euro im Monat – imSchnitt. Mehr als 400 000 Menschen über 65 Jahre müs-sen damit auskommen. Altersarmut ist also schon heuteein Problem. Genau das Problem will die Linke lösen.
Die einen spüren die Altersarmut Monat für Monat,wenn sie feststellen müssen, dass das Geld vorne undhinten nicht reicht. Die anderen spüren die Altersarmutals Furcht vor einer ungewissen Zukunft; denn sie wis-sen, dass aus einem langen Arbeitsleben mit schlechtbezahlten Jobs, mit Leiharbeit und immer wieder unter-brochenen befristeten Beschäftigungsverhältnissen oderunfreiwilliger Teilzeitarbeit kein Anspruch auf eine aus-kömmliche Rente entsteht. Diejenigen, die lange Jahrearbeitslos sind oder waren, wissen genau, dass ihnen dieAltersarmut droht, weil für Langzeiterwerbslose nurniedrige oder dank CDU/CSU und FDP nun gar keineBeiträge mehr an die Rentenversicherung überwiesenwerden.Aber auch wer lange Jahre Beiträge eingezahlt hat,macht sich Sorgen, weil die Renten der Neurentnerinnenund Neurentner von Jahr zu Jahr sinken. Selbst für Men-schen, die 35 Jahre und länger erwerbstätig waren und indie Rentenkasse eingezahlt haben, sinkt die Rente. Wervor zwölf Jahren nach langjähriger Versicherung neu inRente ging, erhielt im Durchschnitt noch 1 020 EuroRente. 2010 erhielten solche Neurentnerinnen und Neu-rentner im Durchschnitt nur noch eine Rente in Höhevon 919 Euro. Bei den Frauen waren es nur 597 Euro.Nach den geltenden Gesetzen wird das Rentenniveauweiter sinken. Das ist der falsche Weg. Wir brauchenendlich wieder ein Rentensystem, das den Menschen dieAngst vor der Zukunft nimmt.
Meine Damen und Herren, eine gute Rentenpolitikmuss an zwei Punkten gemessen werden: Die gesetzli-che Rentenversicherung muss zum einen den einmaldurch gute Arbeit erreichten Lebensstandard sichern undzum anderen die Menschen zuverlässig vor Altersarmut
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19224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Matthias W. Birkwald
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schützen. Beides schafft die gesetzliche Rente schonheute nicht – von morgen oder übermorgen ganz zuschweigen. Wir brauchen also eine grundlegende Re-form der gesetzlichen Rentenversicherung.
Deshalb schlägt die Linksfraktion vor, die gesetzlicheRentenversicherung zu einer solidarischen Rentenversi-cherung auszubauen, die den Lebensstandard sichert unddie eine solidarische Mindestrente enthält. Denn dieLinke will, dass niemand im Alter von weniger als900 Euro leben muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesetzlicheRente soll den einmal erreichten Lebensstandard wiedersichern. Das bedeutet aber, dass jede Frau und jederMann ganz realistisch auch die Möglichkeit haben muss,sich einen guten Lebensstandard erarbeiten zu können.
Nur so ist eine im Kern lohnbezogene Rente auch sozialgerecht.Viele Menschen haben diese Chance aber nicht. Siesind bereits vor dem Rentenalter arm, und wenn wirnichts ändern, werden sie es wahrscheinlich auch imRentenalter bleiben. Das gilt insbesondere für diejeni-gen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wie zumBeispiel Alleinerziehende ohne Kinderbetreuung, Be-schäftigte, die zu miesen Konditionen und niedrigenLöhnen arbeiten müssen, Hartz-IV-Betroffene, die langeZeit keinen Job finden, oder Menschen, die aus gesund-heitlichen Gründen nur eingeschränkt oder gar nichtmehr arbeiten können, die also erwerbsgemindert sind.Für sie alle müssen wir dringend etwas tun. Denn auchsie haben ein Recht darauf, in Würde alt zu werden.
Meine Damen und Herren, allen sozial denkendenMenschen muss es doch darum gehen, Armut gar nichterst entstehen zu lassen.
Armut in der Erwerbsphase zu bekämpfen, hilft, Armutim Alter zu vermeiden.Jede moderne Alterssicherungspolitik muss darumam Arbeitsmarkt ansetzen, deswegen sagt die Linke:Wer von Altersarmut spricht, darf zu prekärer Beschäfti-gung, also zu schlechter und unsicherer Arbeit, nichtschweigen. Hier müssen wir ran.
Meine Damen und Herren, das, was die Menschenbrauchen, ist gute Arbeit. Gute Arbeit ist eine Beschäfti-gung, die sicher, geregelt und sozial geschützt ist und dievor allem so gut bezahlt wird, dass man in Vollzeit auchdavon leben kann. Darum brauchen wir einen flächende-ckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Eurobrutto in der Stunde.
Darum muss der soziale Schutz auch für die Minijobsgelten, deshalb soll künftig jede Stunde Erwerbsarbeitsozialversicherungspflichtig sein und für die Rente zäh-len. Das nützt vor allem den Frauen.
Gute Arbeit bedeutet auch, dass Frauen endlich nichtnur genauso viel verdienen wie die Männer, sonderndass sie das auch bekommen, und dass Männer undFrauen Familie und Beruf wirklich miteinander verein-baren können.
Meine Damen und Herren, eine gute, den Lebensstan-dard sichernde Rente ist ohne ein vernünftiges Siche-rungsniveau nicht möglich. Die Rentenkürzungen dervergangenen Jahre müssen einmalig ausgeglichen unddie Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel gestrichenwerden. Nach mehr als 20 Jahren deutsche Einheit ist eshöchste Zeit, die Prinzipien „Gleicher Lohn für gleicheArbeit“ und „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“umzusetzen und das Rentenniveau Ost endlich auf dasWestniveau anzuheben.
Nach allem, was wir wissen, sind die Ostdeutschen inZukunft besonders von Altersarmut bedroht, und darumist die Angleichung an das Westniveau besonders wich-tig.Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück. Das wäre einechter Beitrag zur Lebensstandardsicherung und zur Ar-mutsvermeidung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer bereits heute aufein Leben voller Unsicherheit und Erwerbslosigkeit zu-rückblicken muss, sieht in einer den Lebensstandard si-chernden Rente kein Versprechen, sondern eine Drohung.4,6 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor,und für viele von ihnen ist die Sicherung des Lebensstan-dards gleichbedeutend mit Altersarmut. Deswegen wol-len wir den Solidarausgleich in der gesetzlichen Rentestärken und zum Beispiel die Rente nach Mindestentgelt-punkten für Beschäftigte mit niedrigerem Einkommenentfristen. Für Hartz-IV-Betroffene sollen wieder Renten-beiträge in anständiger Höhe gezahlt werden.
Für all diejenigen, die trotz dieser und vieler anderervon uns vorgeschlagenen Maßnahmen kein Altersein-kommen von mindestens 900 Euro erreichen, greift un-ser Vorschlag der solidarischen Mindestrente. Noch ein-mal: Die Linke will, dass niemand im Alter von wenigerals 900 Euro im Monat leben muss.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Min-destrente soll die Lebensstandardsicherung ergänzen, siesoll sie nicht ersetzen. Wir Linken fordern seit langemeinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Aberwir wollen keine Gesellschaft von Mindestlohnbezie-
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Matthias W. Birkwald
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henden, sondern wir wollen, dass möglichst viele Be-schäftigte gute Tariflöhne deutlich darüber bekommen.
Das Ziel der Linken sind gute, lohnbezogene und denLebensstandard sichernde Renten und Alterseinkom-men, die weit über der Mindestrente liegen – und das fürmöglichst viele Rentnerinnen und Rentner, am besten füralle. Wir fordern aber sehr nachdrücklich eine solidari-sche Mindestrente, damit niemand im Alter in Armut le-ben muss.
Die heutige lohnbezogene Rente ist an Vorleistungengeknüpft, die im Kern auf Beiträgen durch Lohnarbeitberuhen. Das soll auch so bleiben. Es ist so weit in Ord-nung, wie die Menschen auch die Möglichkeit haben, ei-ner guten Arbeit nachzugehen. Wenn wir aber Armut be-kämpfen wollen, sind Vorbehalte fehl am Platz. Darumsoll jede und jeder über 65 die Mindestrente erhalten,wenn ihr oder sein Einkommen 900 Euro netto unter-schreitet – ohne Vorleistungen. Vermögen unterhalbbestimmter Freibeträge wird nicht angerechnet. Bei deraktuellen Grundsicherung im Alter beträgt der Vermö-gensfreibetrag nur 2 600 Euro. Das ist eine bedürftig-keitsgeprüfte Leistung. Nur wer schon sein letztes Hemdverkauft hat, hat ein Recht auf die Grundsicherung. Daswollen wir ausdrücklich nicht.
In der linken solidarischen Mindestrente werden da-rum Vermögen unterhalb von 20 000 Euro und Erspar-nisse fürs Alter von 750 Euro pro Lebensjahr ebenso we-nig angerechnet wie die selbst genutzte Wohnung oderdas Eigenheim bis 130 Quadratmeter Wohnfläche. DieMindestrente wird als steuerfinanzierter Zuschlag imRahmen der Rentenversicherung verwaltet und als Renteausgezahlt. Mindestrentner und Mindestrentnerinnenwerden dann nicht mehr diskriminiert. Sie erhalten wieihre Nachbarn und Freunde auch eine Rente.
Das ist wichtig; denn viele Ältere schämen sich, dieGrundsicherung im Alter oder Sozialhilfe zu beantragen.Karin Schäfer, die 68-jährige Minijobberin, sieht dasauch so. Sie scheut davor zurück, Grundsicherung zu be-antragen. Sie wolle keine Almosen, sagt sie. Das kannals falscher Stolz abgetan werden. Das ist aber ver-schämte Altersarmut. Weder das eine noch das andereträfe zu, wenn auch in der Rentenpolitik endlich wiedergälte: Sozial ist, was Würde schafft.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Karl
Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Aus den Erzählungen von
Homer kennen wir die Geschichte des in der Ägäis he-
rumirrenden Odysseus, der der großen Gefahr ausgesetzt
ist, an der Insel der Sirenen, die schöne Schalmeien-
klänge aussenden, vorbeizukommen und darauf herein-
zufallen. Ist man darauf hereingefallen, kostet einen das
Leib und Leben.
Der Antrag der Linken enthält solche sozialpoliti-
schen Schalmeienklänge. Hinter diesen Klängen der
Linken steht ein Weltbild, das in den Abgrund führt – ich
sage das so deutlich –,
das verführerisch ist und das unseren Wertvorstellungen
nicht entspricht.
Ihr Antrag bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Ren-
tenversicherung von einer auf eigener Leistung beruhen-
den Alterssicherung in staatlich finanzierte Abhängig-
keit führt.
Das entspricht nicht unserem Menschenbild.
Das entspricht auch nicht den Prinzipien, nach denen die
Rentenversicherung aufgebaut worden ist. Und das ent-
spricht auch nicht den geistigen Prinzipien, aus denen
heraus wir als Union Politik gestalten. Für uns gehört es
zur Menschenwürde, dass jeder durch seiner eigenen
Hände und seines eigenen Kopfes Arbeit auch für sein
Alter vorsorgen kann. Im Gegensatz zu Ihren Positionen
ist die betriebliche und die private Vorsorge Bestandteil
der Alterssicherung und keineswegs etwas, was falsch
ist.
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Dittrich?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Danke schön, dass Sie mir die Zwischenfrage gestat-ten. – Sie haben eben von meinem Kollegen HerrnBirkwald gehört, dass es eine Bevölkerungsgruppe gibt,
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Heidrun Dittrich
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die besonders betroffen ist, nämlich Mütter. Wir wissen,dass das flächendeckende Kinderbetreuungsprogrammfür Kinder unter drei Jahren gescheitert ist. Sie habenaber eben gesagt: Jeder und jede sollte mit der eigenenHände oder des eigenen Kopfes Arbeit die Rente erar-beiten können. Wie soll ein Vater oder eine Mutter, deroder die erzieht, eine Arbeitsstelle annehmen, wennkeine Kinderbetreuung möglich ist? Können Sie mir sa-gen, wie er oder sie die Rente erarbeiten soll?
Erstens. Das Programm der Betreuung von Kindernunter drei Jahren ist nicht gescheitert. Wir erleben einengigantischen Ausbau. Das wird weiter gefördert. Dort,wo es scheitert, liegt es nicht am Bund, sondern an denLändern.
Zweitens. Auf die Frage der Alterssicherung werdeich im Rahmen meiner Rede noch eingehen.Die Rente genießt eine hohe gesellschaftliche Aner-kennung nicht als Fürsorgesystem, sondern als Solidar-system. Zurzeit sind, anders als manche Unken rufen,2,5 Prozent der Rentnerinnen und Rentner auf Grund-sicherung angewiesen. Dies ist zugegebenermaßen eineZahl, die nicht hoch ist, aber jeder einzelne Fall treibtuns um. Unser Ziel ist, dass im Alter die Gefahr der Ab-hängigkeit von der Grundsicherung nicht weiter steigt.Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag verein-bart, dass in einem Dialogprozess erörtert werden soll,wie wir dagegen angehen. Entsprechende Schritte sindeingeleitet.
Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind.Besonders betroffen von der Altersarmut sind die Er-werbsminderungsrentner. Wir wissen, dass etwa 9,5 Pro-zent der Erwerbsminderungsrentner auf Grundsicherungim Alter angewiesen sind. Das wollen wir durch höhereBewertung der Beitragszeiten abfedern. Wir wollen,dass diejenigen, die 63 Jahre alt sind und in Rente gehen,so viel hinzuverdienen dürfen, dass sie das Einkom-mensniveau der letzten Erwerbsjahre erreichen können.Ich sage Ihnen ausdrücklich die Unterstützung der ent-sprechenden Überlegungen der Bundesarbeitsministerinzu. Diejenigen, die Kinder erzogen haben, wie die vonIhnen genannte Schäferin, Frau Schäfer – sie war Schä-ferin, hatten Sie gesagt? Das passt beides –
– ach so –, ihre Eltern gepflegt haben, die zwischendurcherwerbstätig waren und deren Rente noch nicht einmaldas Niveau der Grundsicherung erreicht, müssen so vielüber staatliche finanzielle Mittel hinzubekommen, dasssie nicht auf die Grundsicherung angewiesen sind, son-dern dass ihre Rente darüber liegt. Diese Vorstellungen,die die Bundesarbeitsministerin eingebracht hat, teile ichausdrücklich. Der von Ihnen genannten Person würdedas zugutekommen.
Wir stehen zur Rente mit 67 Jahren, die ihre Wirkungerst 2031 voll erreichen wird. Wir sehen dazu keine Al-ternative. Nach den europäischen Statistiken sind heutebereits über 44 Prozent der über 60-Jährigen erwerbstä-tig. Wir wollen, dass deutlich mehr Ältere das Renten-eintrittsalter erreichen. Hier sind alle gefordert. Die Be-triebe und insbesondere die Klein- und Mittelbetriebebrauchen dabei Unterstützung und Förderung. Das istangelaufen. Das findet zurzeit statt. Das Bundesarbeits-ministerium hat zum Beispiel mit einem Programm wieINQA und anderen Programmen maßgebliche Unterstüt-zung auf den Weg gebracht.Aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmersind gefordert. Wo sie dabei Unterstützung brauchen,sollen sie sie bekommen. Wir wollen daher die Möglich-keiten der Rehabilitation erweitern, indem wir das de-mografiemäßig anpassen und den Menschen auch diegesundheitliche Unterstützung für ihre Arbeit gewähren.Aber alles ist von der wirtschaftlichen Entwicklung ab-hängig und davon, dass Arbeitsplätze entstehen und er-halten bleiben; das geschieht in der Wirtschaft. Deswe-gen ist unser Augenmerk darauf zu richten, dass diewirtschaftliche Entwicklung beibehalten bleibt, damitwir all die genannten Aufgaben erfüllen können. Hierzugehört allerdings auch die Tatsache – das entspricht derWahrheit –, dass die Wirtschaft, ebenso wie alle anderenBereiche, einer Entwicklung unterliegt, die wir die de-mografische Entwicklung nennen. Wirtschaft, Staat, Ge-sellschaft – sämtliche Bereiche in Deutschland hängen inwesentlichem Maße von der demografischen Entwick-lung ab.Aus diesem Grunde ergeben sich besondere Chancenfür die Älteren am Arbeitsmarkt, weil wir auf sie ange-wiesen sind, weil wir sie brauchen und weil auch dieBetriebe sie brauchen. Unsere Aufgabe ist es, dieMenschen in Beschäftigung zu halten oder sie in Be-schäftigung zurückzuführen. Das müssen wir staatlichunterstützen.
Wir diskutieren über Fachkräftemangel – eine Dis-kussion, die wir uns vor sechs Jahren noch gar nicht hät-ten träumen lassen. Da haben wir über 5 Millionen Ar-beitslose diskutiert. Mir ist lieber, wir diskutieren überFachkräftemangel als über Arbeitslosigkeit; das will ichIhnen deutlich sagen. Genau dieser Fachkräftemangelführt dazu, dass die Arbeitslosen wieder eine Perspek-tive haben.Dass die Rentenversicherung auf einem guten Wegist, sehen wir daran, dass wir eine Rücklage von über24 Milliarden Euro haben. Wir sind guter Hoffnung;denn der Arbeitsmarkt befindet sich in einer guten Ver-fassung. Wie die neuesten Zahlen belegen, ist jahreszeit-lich bedingt eine leichte Erhöhung der Arbeitslosenzah-len festzustellen. In der Gesamtentwicklung nimmt die
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Karl Schiewerling
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Arbeitslosigkeit jedoch deutlich ab. Die Zahl der Lang-zeitarbeitslosen ist seit 2006 um über 1 Million gesun-ken. Das sind die hoffnungsvollen Zeichen, die wir set-zen.Unser Menschenbild entspricht nicht dem Rundum-sorglos-Paket. Unserem Menschenbild entspricht viel-mehr, dass wir den stärken und fördern, der mit seinerHände Arbeit tut, was er kann. Das entspricht unserenchristlichen Wertvorstellungen von Personalität, Solida-rität, Subsidiarität und Menschenwürde. Das ist etwasanderes als Sirenenklänge von einer wohlfeilen Gesell-schaft, in der letztendlich die Menschen ihre Freiheitverlieren und ihre Verantwortung abgeben.
Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. – Nächste
Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unsere Kollegin Frau Elke Ferner. Bitte
schön, Frau Kollegin Elke Ferner.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ichmuss sagen, liebe Kollegen und Kolleginnen von denLinken: Es ist schon sehr mutig, hier einen solchen An-trag vorzulegen;
denn der Antrag folgt dem Motto, das Sie immer haben:Im Himmel ist Jahrmarkt, und gleichzeitig fällt auchnoch Ostern und Weihnachten auf denselben Tag. Überdie Finanzierung Ihrer Wohltaten reden Sie in dem An-trag überhaupt nicht, verfassungsrechtliche Restriktio-nen beachten Sie nicht, und der Antrag ist auch in sichwidersprüchlich, Herr Birkwald.
Wenn dieser Antrag Gesetz würde, würden Sie damitdie Lebensleistung vieler Arbeitnehmer und Arbeitneh-merinnen entwerten. In Ihrem Antrag steht, Sie wollenallen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt ha-ben, im Alter oder bei Erwerbsminderung Rentenansprü-che garantieren, mit denen sie den Lebensstandard ohneerhebliche Einbußen aufrechterhalten können. So weit,so gut.Wenige Zeilen später fordern Sie dann: Niemand sollim Alter von weniger als 900 Euro leben müssen. Esgeht hier also nicht um diejenigen, die lange eingezahlthaben,
sondern es geht um alle. Die Voraussetzungen, die zu er-füllen sind, finde ich schon sehr gewagt, muss ich sagen:Man muss in Deutschland leben, man muss in einerWohnung leben, die nicht größer ist als 130 Quadratme-ter, man darf nicht mehr als 20 000 Euro Geldvermögenbesitzen, man darf nicht mehr als 48 750 Euro für dieAltersvorsorge zurückgelegt haben, und man darf keinenUnterhaltsanspruch haben. Eine eigene Beitragsleistungist überhaupt nicht notwendig.
Was heißt das im Klartext? Manches wird klarer,wenn man es an einem konkreten Beispiel deutlichmacht: Ein selbstständiges Ehepaar, das nicht rentenver-sichert war und auch sonst keine Vorsorge für einemonatliche Rente betrieben hat, das aber 40 000 EuroGeldvermögen ansparen konnte, das ein Altersvorsorge-vermögen von fast 100 000 Euro besitzt und auch nochin einer 130 Quadratmeter großen Wohnung lebt, be-kommt monatlich 1 800 Euro Rente, Jahr für Jahr, unddas steuerfinanziert.
Vergleichen wir das mit der Situation des Verkäufersund der Verkäuferin, die 45 Jahre lang in dem Geschäftdieses Ehepaars gearbeitet haben, die Beiträge gezahlt,die deshalb kein Geld übrig hatten, um sich 40 000 Euroanzusparen, die auch kein Geld übrig hatten, um sich einAltersvorsorgevermögen von 100 000 Euro anzusparen.Wenn man sich anschaut, was dieses Ehepaar, abhängigvom Tarifvertrag, an Rente bekommt, stellt man fest,dass beide zusammen zwischen 1 640 und 2 120 EuroRente erhalten – gegenüber 1 800 Rente steuerfinanziert,ohne eine eigene Anstrengung. Was daran gerecht seinsoll, das erschließt sich mir überhaupt nicht.
Das ist wirklich eine Entwertung der Lebensleistung.Man kann das jetzt noch auf die Spitze treiben. Jetztnehmen wir einmal denjenigen, der im Ausland sein gro-ßes Erbe verjubelt hat, im Alter nichts mehr übrig hatund dann zurück nach Deutschland kommt. Der kriegtauch noch 900 Euro Mindestrente.
Das ist die Politik der Linken. Das wird die Arbeitneh-mer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland wirklichfreuen. Man sieht es auch schon an der heutigen Beset-zung: Hier haben offenbar diejenigen in Ihrer Fraktiongewonnen, die sich für ein bedingungsloses Grundein-kommen einsetzen,
nicht diejenigen, die eher gewerkschaftlich orientiertsind.
Wenn man sich das weiter anschaut, dann erkenntman: Es ist auch in sich widersprüchlich. Mit 10 EuroMindestlohn kommen Sie nach 40 Versicherungsjahren– Sie wollen ja auch, dass jemand nach 40 Versiche-
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19228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Elke Ferner
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rungsjahren abschlagsfrei in Rente gehen kann – auf742 Euro Rente, also auf weniger als 900 Euro. Wennman 45 Jahre zugrunde legt, kommt man auf 834 Euro;auch da hat man also noch nicht den Sprung über IhreMindestrente geschafft.Ich sage Ihnen, was Ihre sogenannte solidarischeMindestrente bewirkt: Sie privilegiert all diejenigen, dienicht, wenig, in Teilzeit oder selbstständig gearbeitethaben und sich, wenn überhaupt, nur in sehr geringemUmfang an der Finanzierung der Rentenversicherungdurch Beiträge beteiligt haben. Sie benachteiligen mitIhrem Vorschlag alle, die lange gearbeitet und wenigverdient haben. Sie verringern die Akzeptanz der gesetz-lichen Rentenversicherung bei den Beziehern und Bezie-herinnen mittlerer Einkommen. Das ist das ErgebnisIhres Vorschlages.
Das ist nicht solidarisch und schon gar nicht gerecht. ImPrinzip, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist das nichtsanderes als die sogenannte Zuschussrente von Frau vonder Leyen, nur auf höherem Niveau.
– Ich sage doch: „nur auf höherem Niveau.“
Dann komme ich zum Thema: abschlagsfreie Rentenach 40 Versicherungsjahren, und zwar ohne Mindest-alter. Die IG Metall fordert, wenn ich es richtig sehe,eine Rente ohne Abschläge nach 40 Versicherungsjahrenund ab dem 60. Lebensjahr, stellt also zwei Bedingun-gen. Ihr Vorschlag heißt im Klartext: Wer mit 15 an-fängt, zu arbeiten, kann mit 55 aufhören. Bei gleicherBeitragsleistung und gleicher Lebenserwartung beziehter oder sie zehn Jahre länger Rente als derjenige oderdiejenige, der und die mit 25 angefangen hat, zu arbei-ten. Das mag nach Ihrer Auffassung gerecht sein, aberfinanzierbar ist es mit Sicherheit nicht. Da streuen Sieden Leuten wirklich Sand in die Augen.Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze mittelfris-tig aufheben und die Renten derjenigen mit den höherenEinkommen zwar nicht mehr kappen – das war auch ein-mal im Gespräch –, aber absenken. Ich halte das verfas-sungsrechtlich zumindest für bedenklich; es gibt auchLeute, die das für verfassungswidrig halten. Es ist jeden-falls nicht gesichert, dass Ihr Vorschlag verfassungs-gemäß ist. Dabei gehen Sie an ein Grundelement dergesetzlichen Rentenversicherung heran, nämlich an dasÄquivalenzprinzip. Ich will Sie einmal fragen: Wie wol-len Sie demjenigen mit dem hohen Einkommen, den Sierichtigerweise zusätzlich in der gesetzlichen Rentenver-sicherung haben wollen, erklären, dass er trotz seinerhohen Einzahlungen einen geringeren Rentenanspruchzu erwarten hat? Wenn man umverteilen will, wogegenich nichts habe, dann macht man das besser im Steuer-recht und nicht über die Beiträge in der Rentenversiche-rung.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen – da wirdwirklich deutlich, dass im Himmel doch Jahrmarkt istund Ostern und Weihnachten zusammenfallen –: Es gehtum ihre Forderung, den Rentenwert Ost an den Renten-wert West anzugleichen, unter gleichzeitiger Beibehal-tung des Höherwertungsfaktors.
Dann muss man sich anschauen, was das in Cent undEuro bedeutet: Nehmen wir einmal zwei Beschäftigtehier in Berlin. Beide verdienen je 2 000 Euro brutto. Dereine wohnt in Ostberlin, die andere wohnt in Westberlin.Nach 45 Versicherungsjahren hat diejenige in Westberlin967 Euro Rente und derjenige in Ostberlin 981 EuroRente, also schon ein bisschen mehr. Wenn man jetztaber Ihrem Vorschlag folgt, bleibt die Rentnerin im Wes-ten bei 967 Euro Rente; der Rentner im Osten kriegt aber1 100 Euro Rente, ohne dass er mehr eingezahlt oderverdient hat; der einzige zusätzliche Verdienst ist dieGeografie, sprich: der Wohnort.
Das hat doch mit Gerechtigkeit nichts zu tun.
Ich will noch einmal deutlich machen: Auch im Wes-ten dieser Republik gibt es Regionen, in denen im Ver-gleich zum Durchschnittseinkommen in Westdeutsch-land und auch zu einigen Regionen in Ostdeutschlandunterdurchschnittlich verdient wird.
– Im Saarland beispielsweise.
Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischen-
frage von Frau Kollegin Dr. Bunge?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Flach.
Ferner, so viel Zeit muss sein.
Frau Kollegin Elke Ferner spricht.
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Ferner, Entschuldigung. Ich war jetzt bei einem ande-
ren Thema, der Organspende, deshalb habe ich gedank-
lich nur halb umgeschaltet.
Könnte bei Ihrem Beispiel – da habe ich nämlich auf-
gehorcht – nicht die Ursache darin liegen, dass die Frau
in der DDR viel länger gearbeitet hat und damit mehr
Entgeltpunkte hat, was natürlich der Frau in der alten
Bundesrepublik auch zu wünschen gewesen wäre, ihr
aber nicht möglich war? Diese hatte unter Umständen
eine ganz andere Familien- und Einkommensstruktur,
weil in den alten Bundesländern zumeist auch andere
Alterseinkünfte und Vermögen eine Rolle spielen. Man
kann hier also nicht, wie Sie es machen, Äpfel mit Bir-
nen vergleichen.
Frau Kollegin Bunge, das wird Herr Birkwald Ihnen
wahrscheinlich nachrechnen können; auch ich kann
Ihnen die Berechnung geben. Es geht hier nicht um Ver-
gleiche zurückliegender Erwerbsbiografien, sondern es
geht hier nur um die Tatsache, dass – wenn man bei null
anfängt, es auf 45 Jahre hochrechnet und die Rentenan-
wartschaften Ost und West vergleicht – Sie den Renten-
wert Ost und den Rentenwert West angleichen, also auf
das Westniveau anheben, und gleichzeitig den Höher-
wertungsfaktor hinzunehmen wollen. Es steht aber die
gleiche Arbeitsleistung dahinter. Das mögen Sie glauben
oder nicht. Das ist so. Das ist schlicht und ergreifend
Mathematik.
Aber lassen Sie mich vielleicht noch eines zu dem
Vorwurf sagen, der bei Ihnen angeklungen ist, wir achte-
ten die Erwerbsbiografien der Frauen in Ostdeutschland
nicht. Ich erinnere mich an Diskussionen, die wir kurz
nach der Wende in meinem Landesverband, im Saarland,
hatten. Da war einer Vorsitzender, der auch einmal Vor-
sitzender Ihrer Partei war. Der hat uns immer gepredigt,
es könne doch wohl nicht angehen, dass ein Ehepaar im
Osten ein so viel höheres Renteneinkommen habe als ein
Ehepaar im Westen. Wir haben immer gesagt: Es liegt
vielleicht daran, dass die Frauen im Osten im Gegensatz
zu den Frauen im Westen eine durchgängige Erwerbs-
biografie und deshalb eine höhere eigenständige Renten-
anwartschaft hatten. Dieser Mann hieß Oskar Lafontaine
und war bis vor kurzem Ihr Parteivorsitzender. Ich
glaube, Sie brauchen uns hier keinen Nachhilfeunterricht
in der Frage der Anerkennung der Lebensleistungen der
Frauen im Osten zu geben.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, erteile
ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen
Matthias Birkwald.
Frau Kollegin Ferner, Sie haben die Finanzierungangesprochen. Dazu muss man deutlich sagen: Wir müs-sen entscheiden: Wollen wir Menschenwürde an derKassenlage oder an einem menschenwürdigen Bedarfausrichten?
Die Linke hat sich klar entschieden: Ein menschenwür-diges Leben im Alter darf nicht von der Kassenlagebestimmt werden. Das ist der erste Punkt.
Dann haben Sie in Ihren Kritikpunkten vergessen zuerwähnen, dass wir in unserem Antrag vorgeschlagenhaben, eine Erwerbstätigenversicherung einzuführen,das heißt alle, die in irgendeiner Weise erwerbstätig sind,einzubeziehen. Dazu gehören nicht nur Pflegende undErziehende; dazu sollen auch Politikerinnen und Poli-tiker, wir Abgeordnete, Ministerinnen und Minister, ge-hören, außerdem Selbstständige und Beamtinnen undBeamte. Wir möchten langfristig alle in die gesetzlicheRentenversicherung einbeziehen, selbstverständlichauch die Erwerbslosen. Deswegen nennen wir sie „soli-darische Rentenversicherung“. Das war der zweitePunkt.
Drittens. Die Beitragsbemessungsgrenze haben Sieangesprochen. Selbstverständlich ist Art. 20 des Grund-gesetzes – wir sind ein Sozialstaat – die Grundlage dafür,dass wir unten und oben solidarisch sind und die Renten-ansprüche bei mehr als dem Doppelten des Durch-schnitts abflachen können. Ich bin gern bereit, mit einemsolchen Vorschlag bis vor das Bundesverfassungsgerichtzu gehen, und ich bin ziemlich sicher, dass wir da Rechtbekommen werden.
Viertens. Am 9. November 1989 ist nachmittags etwasgeschehen, das so bedeutend war, dass wir alle wissen,wo wir an diesem Tag gewesen sind. – Am Vormittagwurde im Deutschen Bundestag, damals noch in Bonn,eine Debatte über eine Rentenreform geführt. MeineVorvorgängerpartei saß da noch nicht im Bundestag.Aber alle anderen Parteien im Bundestag waren sichdamals einig, dass der Beitragssatz für die Rente bis zumJahr 2030 bis zu 28 Prozent betragen könnte. Damals sahman darin kein Problem. Der Unsinn mit dem Dogmader Beitragssatzstabilität, der von der Weltbank kam,kam erst später.Moderate Beitragssatzsteigerung bei gleichzeitigemWirtschaftswachstum und bei steigender Arbeitsproduk-tivität – das ist sehr wohl möglich. Deswegen kann mansehr wohl davon ausgehen, dass die Beiträge moderatsteigen, und kann auch Steuerzuschüsse einbeziehen,wie das die Bundesministerin bei der Zuschussrente vor-sieht. In dem Steuerkonzept, das wir vorgelegt haben, isteiniges an Ideen enthalten, was man mit Vermögen- undErbschaftsteuer und Ähnlichem machen kann.
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19230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Matthias W. Birkwald
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Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu demmachen, was Sie und auch der Kollege Schiewerling zuden drei Säulen gesagt haben. Riester ist ein Flop. Daswissen Sie alle; das steht in jeder Zeitung. Da ist sogarder Sparstrumpf besser. Sie müssen schon über 90 wer-den, in manchen Rechnungen sogar 128, damit Sie eineanständige Rendite von 5 Prozent bekommen. Ich erin-nere daran: Als Riester eingeführt wurde – ich habe eshier vorliegen –, wurden 3,25 Prozent Rendite verspro-chen. Seit 1. Januar 2012 sind gesetzlich 1,75 Prozentfestgelegt. Riester ist also Unsinn.
Zu der betrieblichen Altersvorsorge. Die haben im Ostengerade einmal 35 Prozent und im Westen 55 Prozent derBeschäftigten.
Ihr Schlusssatz, bitte.
Ich komme zum Schluss. – Man sieht: Es sind ins-
gesamt weniger als die Hälfte. Also: Die Drei-Säulen-
Theorie funktioniert nicht.
Mein letzter Satz. Was die Legitimation der Renten-
versicherung angeht, so glaube ich: Wenn jeder Beschäf-
tigte, egal, was er oder sie verdient, davon ausgehen
kann, im Alter eine anständige Rente zu bekommen, die
in der Nähe oder oberhalb der Armutsgrenze liegt, dann
stärkt das die Legitimation der gesetzlichen Rentenver-
sicherung und schwächt sie nicht. In 28 von 30 OECD-
Staaten geht das auch.
Herzlichen Dank.
Zur Antwort gebe ich der Kollegin Elke Ferner das
Wort.
Doch, darauf kann man antworten; darauf muss man
sogar antworten. Denn dadurch wird der Unterschied,
der vorhanden ist, deutlich, und ich bin froh, dass er
offenkundig wird.
Es geht ein Stück weit um Gerechtigkeit. Diejenigen,
die 30, 40 oder 45 Jahre gearbeitet haben, die keine
Möglichkeit hatten, sich der Rentenversicherungspflicht
zu entziehen, können es nicht einsehen und werden es
nicht einsehen, dass diejenigen, die im Extremfall null
an Beitragsleistung erbracht haben, 900 Euro Rente
bekommen. Das kann nicht gerecht sein, und das wird
von der Mehrheit der Bevölkerung auch nicht als gerecht
empfunden.
Der zweite Punkt ist die Finanzierung. Wofür Sie
Geld ausgeben, ist Ihre Sache. Es ist auch Ihre Sache,
welche Schwerpunkte Sie setzen. Aber Sie sollten dem
staunenden Publikum schon einmal erklären, woher das
Geld denn kommen soll. Es ist Ihnen ja völlig unbenom-
men, Milliarden für Ihr Programm auszugeben, aber
schreiben Sie in Ihrem Antrag doch auch, wie Sie das
finanzieren wollen.
– Nein, es steht in dem Antrag nicht drin, Frau Enkelmann.
Man sollte den Antrag schon gelesen haben. Es ist kein
einziger Finanzierungsvorschlag enthalten.
Allein die Tatsache, dass man die Rentenversicherung
zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln
will, hilft auch nicht weiter. In Ihrem Antrag wird vorge-
schlagen, in einem ersten Schritt die Selbstständigen, die
ja nicht in einem anderen Versorgungssystem sind, mit
einzubeziehen. Das heißt, das ist ein Prozess und wird
nicht auf Knopfdruck passieren. Aber, Leute: Die haben
doch auch Ansprüche, wenn sie in die Rentenversiche-
rung einzahlen. Diese Einbeziehung bringt vielleicht für
den Moment eine Verbesserung der Liquidität der Ren-
tenkasse,
aber à la longue entstehen auch Ansprüche. Insofern
sollte man mit der gebotenen Redlichkeit an dieses
Thema herangehen.
Man kann sich für das eine oder andere entscheiden;
das muss jede Partei und jede Fraktion für sich selber
entscheiden. Aber ich erwarte, dass dann auch jede Frak-
tion klar und deutlich die Hausnummern benennt: was es
kostet, wem es nützt und wem es schadet. Auf alle Fälle
schadet Ihr Vorschlag der Akzeptanz der deutschen Ren-
tenversicherung.
Wir setzen die Debatte in der Reihenfolge fort.
Nächster Redner für die Fraktion der FDP: unser Kol-
lege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herzlich willkommen zur sozialpolitischen Debatte amDonnerstagvormittag. Ich freue mich, dass wir heute,wie in fast jeder Sitzungswoche, Gelegenheit zumAustausch unserer Ansichten dazu haben. Heute geht esum das Thema Rente. Allerdings – das ist die Besonder-heit – richtet sich der Angriff der Linken heute nicht ge-gen die Regierung, sondern gegen Rot-Grün, also gegendie Fraktionen, die in ihrer Regierungszeit aus Sicht derLinken besonders Schreckliches getan haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19231
Dr. Heinrich L. Kolb
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Angesichts des bisherigen Verlaufs der Debatte binich etwas ratlos, was ich jetzt noch sagen soll;
denn ich muss der Kollegin Ferner zu meiner eigenenÜberraschung in vielem, fast allem beipflichten.
Deswegen will ich Sie, Herr Birkwald, mit ein paargrundsätzlichen Anmerkungen versorgen.Aus der Überschrift Ihres Antrages kann man schlie-ßen, dass es Ihnen darum geht, die Rentenversicherungzu stärken. Wenn man sich Ihren Antrag näher ansieht,muss man aber feststellen, dass Sie das Thema verfehlthaben. Ihr Antrag ist vollkommen unausgegoren; das hatschon die Kollegin Ferner zu Recht gesagt. Das, was Siehier vorgelegt haben, taugt nicht und ist in jeder Hinsichtunfinanzierbar. Sie verwechseln da etwas: Die gesetz-liche Rentenversicherung ist vom Wesen her kein sozial-politischer Reparaturbetrieb, sondern es handelt sichhierbei um eine Versicherung, die konsequent nach demÄquivalenzprinzip organisiert ist. Das heißt: Rentenwerden entsprechend den vorher erbrachten Leistungengezahlt.
Frau Ferner hat Ihren Vorschlag richtig durchgerechnet.Angesichts dessen, was Sie vorschlagen – 900 EuroGrundrente
und Wohngeld on top, auch für eine 130 Quadratmetergroße Wohnung, auch für Wohnungen in teuren Lagen –,kann man sich nur an den Kopf greifen.
Herr Kollege Birkwald, wer die Rente stärken will,der muss auf die Finanzen achten. Das tun wir. Wir hat-ten Ende letzten Jahres eine Nachhaltigkeitsrücklage inHöhe von 25 Milliarden Euro – das war ein neuerRekordstand –; das entspricht 1,5 Monatsausgaben. Werdie Rente stärken will, muss darauf achten, dass mehr,möglichst viele Beitragszahler in die gesetzliche Renten-versicherung einzahlen. Das tun wir. Wir haben einenRekordstand bei der sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigung in Deutschland. Wer die Rente stärken will,der muss die Balance zwischen den Generationen wah-ren. Deswegen sage ich Ihnen: Ihre Hetze gegen die„Rente erst ab 67“, wie Sie immer sagen, ist vor diesemHintergrund wirklich vollkommen unangemessen. Wirmüssen die Belastungen zwischen den heutigen Bei-tragszahlern, den heutigen Rentnern und vor allenDingen denen, die in den Jahren 2030 und 2035 Beiträgezahlen, ausjustieren. Dazu leistet Ihr Vorschlag keinenBeitrag.Ich glaube, die Rente ab 67, die wir stufenweise undnicht schlagartig im Jahr 2012 einführen, wird akzep-tiert, wenn sie gut adjustiert ist und wenn man deneinzelnen Versicherten Möglichkeiten für flexible Über-gänge bietet. Das wollen wir. Das hat die FDP-Bundes-tagsfraktion in diesem Hause schon sehr früh vorge-schlagen. Allerdings – auch das gehört zur Ehrlichkeit –ist in einem äquivalenzorientierten Rentenversiche-rungssystem ein vorzeitiger Renteneintritt ohneAbschläge schlicht und einfach nicht denkbar. Daswürde zu Beitragsungerechtigkeiten und Verzerrungenführen.
Das passt mit unserem heutigen Rentensystem nicht zu-sammen, Herr Kollege Birkwald.Sie sprechen die Altersarmut an. In diesem Zusam-menhang will ich eines sehr deutlich sagen: Wir habenheute etwa 3 Prozent Rentner, die von Altersarmut be-droht sind.
– 3 Prozent.
– In der Grundsicherung. Genau. Das ist die Zahl, die ichmeine. – Dieses Problem wird sich verschärfen. Ichglaube aber, dass man sagen kann, dass die gesetzlicheRente für die allermeisten auch in Zukunft einenArmutsschutz darstellen wird. Ich glaube, dass die aller-meisten Menschen auch in Zukunft aufgrund ihrer ge-setzlichen Rente in Kombination mit Bezügen aus ihrerbetrieblichen und privaten Altersvorsorge ein hohes,ausreichendes Alterseinkommen erzielen werden.
Wer hier etwas anderes erzählt, betreibt ein Geschäft mitder Angst. Vor allen Dingen arbeitet er gegen die Säulender Rentenversicherung in der Form, in der sie heute be-steht. Diese Säulen sollten aus unserer Sicht gestärkt undnicht geschwächt werden.Herr Kollege Birkwald, ich will Sie auf einen Denk-fehler hinweisen. Ich glaube, dass die Frage, ob jemandüberhaupt einen Arbeitsplatz hat, für die zu erwerbendenAltersansprüche wesentlich entscheidender ist als dieEntlohnung für diese Arbeit. Ich möchte diese Angele-genheit nicht kleinreden; Ihre radikalen arbeitsmarkt-politischen Vorschläge bergen aus unserer Sicht aber diegroße Gefahr, dass sehr, sehr viele Menschen ihrenArbeitsplatz verlieren. Dann stünden sie schlechter da,als das heute der Fall ist.Dieses System, das Rot-Grün, also die von Ihnenheute Attackierten, eingeführt hat, dass jeder privat leis-
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19232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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ten soll, was geht, und der Staat ergänzend etwas hinzu-gibt, hat sich, glaube ich, bewährt.
Das ist einer der Gründe dafür – das sage ich durchausanerkennend an die Adresse der Kollegen von SPD undGrünen –, dass wir heute ein derart hohes Beschäfti-gungsniveau in Deutschland haben. Ich bedaure nur,dass SPD und Grüne zu ihren früheren Erkenntnissenmittlerweile nicht mehr stehen und das System radikalzurückbauen wollen.
Herr Kollege Birkwald, ich will mit einem Beispieldes Kollegen Haustein enden. Er hat mir vorhin zugeru-fen, wie viel Rente seine Mutter, die in der DDR dreiKinder großgezogen hat, bekam. Das waren 312 Ost-Mark, Herr Kollege Birkwald.
Nach der Wende waren das 1 500 DM, also in heutigerWährung 750 Euro.
Wenn die zwischenzeitlich vorgenommenen Erhöhungenhinzugerechnet würden, läge das deutlich über dem Satz,den Sie fordern. Deswegen ist das nicht glaubhaft, wasSie hier vortragen. Heute, da Geld für Sie keine Rollespielt – jedenfalls solange Sie nicht regieren, und daswird auf absehbare Zeit der Fall sein –, wollen Sie unsvorschreiben, was zu tun ist. Als Ihre Vorgängerparteiregiert hat, hatten Sie hinreichend Gelegenheit, einhohes Versorgungsniveau, ein Paradies auf Erden, zuschaffen. Sie haben es nicht geschafft; Sie haben versagt.Deswegen hätten Sie heute besser geschwiegen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen unser KollegeDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, HerrKollege.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kolb sagte gerade, dass wir hier regelmäßig übersozialpolitische Themen diskutieren. Das ist richtig. DasProblem ist aber, dass das immer auf Initiative der Oppo-sition geschieht. Man hat den Eindruck, dass im Ministe-rium gar nichts mehr gemacht wird und auch von denRegierungsfraktionen in dieser Hinsicht überhauptnichts mehr kommt.
– Das letzte sozialpolitische Thema, das hier von Ihnenangegangen wurde, war die landwirtschaftliche Sozial-versicherung. Aber das war vor allen Dingen eine Initia-tive der Agrarpolitikerinnen und Agrarpolitiker.
Daran hat das Arbeitsministerium relativ wenig Anteilgehabt. Insbesondere zum Thema Altersarmut kam inden letzten Monaten nichts, aber überhaupt nichts. Es istsehr einfach, über den zugegebenermaßen nicht sehr gu-ten Antrag der Linken herzuziehen. Aber es gibt keineAlternative vonseiten der Regierungsfraktionen, undauch von der SPD kam nichts außer heißer Luft.
Herr Kolb, Sie meinten, Altersarmut sei heutzutagekein Problem. Das stimmt nicht. Es ist mittlerweilehöchste Eisenbahn, auf diesem Gebiet etwas zu tun.
Es ist lange Zeit gelungen, zu erreichen, dass das Ein-kommen der älteren Bevölkerung nicht oder kaum unterdem Einkommen der Jüngeren lag. Das hat sich mittler-weile geändert. Noch 2003, also zu rot-grüner Regie-rungszeit, hatten die über 65-Jährigen in Westdeutsch-land immerhin ein Einkommen von 98 Prozent desDurchschnittseinkommens; in Ostdeutschland waren es95 Prozent. 2008 waren es im Westen nur noch 95 Pro-zent, also schon 3 Prozentpunkte weniger. Im Osten gingder Wert sogar auf 87 Prozent zurück, was noch einmaldeutlich macht, dass insbesondere für Ostdeutschlandetwas zu tun ist. Bemerkenswert ist auch, dass der Zahl-betrag der Zugangsrenten von 2000 bis 2010 real umsage und schreibe 16,6 Prozentpunkte gesunken ist. Daszeigt, welche Entwicklung wir vor uns haben. Auch dieAltersarmut nimmt zu. Auf Basis der Einkommens- undVerbrauchsstichprobe 2008 liegt die Armutsrisikoquoteder Älteren mittlerweile wieder über dem Durchschnittder Gesamtbevölkerung. Bei anderen Studien liegt sieknapp unter dem Durchschnitt. Man kann also nichtmehr behaupten, dass Altersarmut in Deutschland keinProblem ist.
Die Altersarmutswelle rollt schon jetzt auf uns zu undwird sich in den nächsten Jahren noch erheblich be-schleunigen. Deswegen ist es dringend an der Zeit, etwasgegen Altersarmut zu tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19233
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Aber es geht nicht nur um Altersarmut. Die Menschenzahlen fast ein Fünftel ihres Einkommens an Beiträgenin die Rentenversicherung. Wenn sie das Gefühl haben,dass dann die Rente am Ende nicht einmal reicht, umden Bezug von Grundsicherung zu vermeiden, bekom-men wir ein ernsthaftes ökonomisches Problem. Wirmüssen deswegen als Politik gewährleisten, dass dieMenschen für ihre Beiträge eine Gegenleistung erhalten.Das heißt erstens: Zumindest wer lange eingezahlt hat,muss eine Rente, die über dem Grundsicherungsniveauliegt, erhalten. Das heißt zweitens: Wer mehr einzahlt,muss auch eine höhere Rente bekommen.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um dieLegitimität und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversi-cherung aus sozialpolitischen und auch aus ökonomi-schen Gründen.Und was macht die Regierung? Vor einem Jahr sollteeine Kommission zum Thema Altersarmut eingesetztwerden. Angedacht war April 2011, dies wurde dann aufden Herbst verschoben. Danach gab es den sogenanntenRegierungsdialog Rente, den manche der Beteiligtenallerdings eher als Regierungsmonolog empfundenhaben. Am Anfang standen drei Vorschläge der Bundes-regierung. Bis Ende letzten Jahres wurden – weitgehendhinter verschlossenen Türen – Gespräche geführt. SeitAnfang dieses Jahres herrscht Schweigen im Walde.Man hört nichts mehr. Wir haben im Ausschuss diverseMale nachgefragt, wie weiter diskutiert wird und wasgeplant ist. Wir haben keine Antwort bekommen. Staats-sekretär Brauksiepe hat jedes Mal gesagt, er könne sichdazu nicht äußern,
es gebe Gespräche zwischen den Regierungsfraktionen,zwischen den Ministerien, zwischen wem auch immer.Auch der Finanzminister hat wohl ein Wörtchen mitzu-reden. Dies alles findet nicht öffentlich statt. Aber wirbrauchen endlich eine öffentliche Debatte darüber, wiewir die Rente armutsfest machen.Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Sagen Sie end-lich der Öffentlichkeit, was Sie gegen Altersarmutmachen wollen! Brechen Sie Ihr Schweigen! Sagen Sieder Öffentlichkeit, was aus der Idee der Zuschussrentewird! Wird sie, wie Sie das vorgeschlagen haben, einge-führt oder nicht? Planen Sie jetzt etwas ganz anderes?Wir hören dazu nichts. Bei diesem Thema muss aberendlich etwas passieren; das ist wichtig.
Ich finde, das, was die Bundesregierung da treibt, ist einechtes Armutszeugnis.Nun zum Antrag der Linken; um diesen geht es in derDebatte heute vor allen Dingen.
Die Linken legen immerhin einen Vorschlag vor, wennauch einen schlechten. Zunächst zum Positiven: DieLinke hat erkannt, dass man an mehreren Stellen anset-zen muss. Einerseits brauchen wir präventive Maßnah-men – diese fehlen beim Regierungsdialog –,
um dafür zu sorgen, dass möglichst im Vorhinein eine ei-gene ausreichende Rente aufgebaut wird. Andererseitsbrauchen wir im Nachhinein eine Art Mindestniveau inder Rente für den Fall, dass diese präventiven Maßnah-men nicht ausreichen. Dies ist so weit ganz gut gemeint,allerdings sind die einzelnen Vorschläge sehr schlecht.Ich kann auf die Vielzahl der Kritikpunkte gar nichteingehen; denn das würde meine Redezeit sprengen.Deswegen konzentriere ich mich auf die sogenannteMindestrente, bei der es sich überhaupt nicht um eineRente handelt. Es wird eine umfassende Einkommens-und Vermögensprüfung – wie bei der jetzigen Grund-sicherung – gefordert. Auch andere Kriterien sprechendafür – Kollegin Ferner hat darauf hingewiesen –, dasses sich dabei um nichts anderes als eine zweite Grund-sicherung handelt, bei der die Rentenversicherung dieRolle des Sozialamts übernimmt. Das hat, Frau Ferner,überhaupt nichts mit einem bedingungslosen Grund-einkommen zu tun. Dies ist nichts anderes als eineGrundsicherung de luxe.
Damit wird ein wesentliches Ziel bei der Schaffung ei-nes Mindestniveaus in der Rente verfehlt, nämlich denGrundsicherungsbezug zu verhindern. Würde manIhrem Antrag folgen, würden noch viel mehr MenschenGrundsicherung beziehen und sich dadurch stigmatisiertfühlen. Es könnte auch verdeckte Armut entstehen.Sie hatten als Beispiel die Situation von Frau Schäferdargestellt. Diese müsste dann erst zur Rentenversiche-rung, um dort die solidarische Mindestrente zu beantra-gen, und dann müsste sie entweder zum Wohngeldamtoder zum Grundsicherungsamt, um Grundsicherung zubeantragen.
Nach Ihrem Konzept liegt das Niveau der Grundsiche-rung bei durchschnittlichen Wohnkosten höher als dievon Ihnen angedachte Mindestrente in Höhe von900 Euro. Das alles passt überhaupt nicht zusammen.Diese doppelte Grundsicherung ist völliger Unsinn.
Allerdings ist der Vorschlag der Linken für eine Min-destrente gar nicht so weit vom ursprünglichen Vor-schlag der Ministerin für eine Zuschussrente entfernt.Bei beiden soll eine Bedürftigkeitsprüfung durchgeführtwerden. Mir ist nicht klar: Soll diese Zuschussrente nuneine Fürsorgeleistung oder eine Leistung der Renten-
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19234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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versicherung sein? Das ist aber nicht der einzige Fehler,der auf beiden Seiten gemacht wird. Bei der Zuschuss-rente und auch bei der Mindestrente ist problematisch,dass die eigenen Ansprüche voll angerechnet werdensollen. Das ist ökonomisch falsch und auch ungerecht,weil sich eigene Beitragszahlungen dadurch nicht mehrlohnen.
Das ist auch sozialpolitisch falsch, weil es die sozialeSpaltung verstärkt. Die linke Mindestrente ist, wie ge-sagt, nichts anderes als eine Sozialhilfe de luxe. Dasreicht nicht.
Wir brauchen eine Garantierente mit einem Mindest-niveau, das über dem Grundsicherungsniveau liegt, aufdie die Menschen aufgrund ihrer Beitragszahlungen einAnrecht haben und die ohne Antrag und ohne umfas-sende Bedürftigkeitsprüfung zusammen mit der Renteausgezahlt wird. Die Garantierente muss so ausgestaltetsein, dass eigene Ansprüche und Eigenvorsorge zu ei-nem höheren Einkommen im Alter führen. Das ist not-wendig, um die Akzeptanz der Rentenversicherung zusichern.Gleichzeitig brauchen wir, um einen Bezug der Ga-rantierente möglichst zu vermeiden, präventive Maßnah-men, die dazu führen, dass die Menschen einen ausreichen-den eigenen Rentenanspruch erwerben. Dazu gehörenMindestlöhne, höhere Löhne insgesamt, unter anderemdurch Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne,und eine Eindämmung prekärer Beschäftigungsverhält-nisse.
Hier sind wir uns mit der Linken von der Tendenz herdurchaus einig, auch wenn es im Detail unterschiedlicheVorstellungen gibt. Darüber werden wir im Ausschussnoch reden.Darüber hinaus wollen wir die Rentenversicherung zueiner Bürgerversicherung weiterentwickeln, gehen hieralso weiter als die Linken mit ihrem Vorschlag einerErwerbstätigenversicherung. Als erste Schritte sollenbisher nicht abgesicherte Selbstständige in die Renten-versicherung einbezogen und Minijobs wieder renten-versicherungspflichtig werden. Für Arbeitslose müssenwieder Beiträge gezahlt werden. Last, but not least wol-len wir die eigenständige Alterssicherung von Frauenstärken; auch dies ist ein Punkt, der im Antrag der Lin-ken völlig fehlt. Durch diese Maßnahmen werden unter-brochene Versicherungsbiografien geschlossen und ei-gene Ansprüche aufgebaut, und die Finanzierung derRentenversicherung wird auf eine insgesamt nachhalti-gere Basis gestellt.Das Wort Finanzierung – das ist schon gesagt worden –taucht im Antrag der Linken überhaupt nicht auf. Eswird überhaupt nichts dazu gesagt, was das Ganze kos-tet. Letztendlich ist der Antrag ein Sammelsurium vonallen möglichen Einzelmaßnahmen, die sehr teuer sind,die zum Teil nicht zusammenpassen, die widersprüch-lich sind, die nicht zu Ende gedacht sind und für die Vor-schläge zur Gegenfinanzierung völlig fehlen.Wir werden in absehbarer Zeit ein durchgerechnetesKonzept einer grünen Garantierente vorlegen. Bis dahinwarten wir gespannt, ob die Bundesregierung noch et-was vorlegt. Vielleicht macht ja sogar einmal die SPDeinen konkreten Vorschlag.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. –
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön,
Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland, diewichtigste Säule der Altersvorsorge der Deutschen, stehtzu Beginn des Jahres 2012 besser da, als wir je gedachthaben. Wir haben zurzeit eine Rücklage, also ein Plusauf dem Rentenkonto, in Höhe von mehr als 1,4 Monats-ausgaben.
Im vergangenen Jahr hat die Rentenversicherung einPlus von 4,6 Milliarden Euro gemacht. Dies wird dazuführen, dass Rentenanpassungen, sprich Rentenerhöhun-gen für diejenigen, die bereits in Rente sind, wieder ineinem ansehnlichen Ausmaß möglich werden.Die Absenkung des Beitragssatzes zur Rentenversi-cherung zum 1. Januar dieses Jahres von 19,9 Prozentauf 19,6 Prozent ist eine deutliche finanzielle Entlastungder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie wird üb-rigens zur Folge haben, dass die Rentenanpassung fürdie Rentnerinnen und Rentner im übernächsten Jahrdeutlich höher ausfallen wird, als es ohne Absenkungdes Beitragssatzes der Fall gewesen wäre.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichfinde, in dieser Situation können wir mit Recht sagen:Wir haben die gesetzliche Rentenversicherung, die wich-tigste Säule der Alterssicherung in Deutschland, sowohldurch die Reformpolitik der vergangenen Jahre als auchinsbesondere infolge der guten wirtschaftlichen Ent-wicklung im vergangenen Jahr in einem Ausmaß stabili-siert, auf das wir stolz sein können. Zu allen Anschlägenauf die Sicherheit der deutschen Rentenversicherungmuss es ein klares Nein geben.
In der Tat gibt es eine Reihe von neuen Aufgaben. Vordiesen Herausforderungen stehen wir, weil im Rahmender Rentenreform, die in der Regierungszeit von Rot-Grün durchgeführt wurde, eine Absenkung des Renten-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19235
Peter Weiß
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niveaus beschlossen wurde – dazu ist es, wie gesagt, un-ter der Verantwortung von Rot-Grün gekommen –,
die zu einigen Problemen geführt hat. Vor diesem Hin-tergrund danke ich der Bundesministerin für Arbeit undSoziales, Ursula von der Leyen, dafür, dass sie im ver-gangenen Jahr eine Reihe von Vorschlägen vorgelegthat, wie wir die bestehenden Probleme angehen können.
– Herr Strengmann-Kuhn, weil wir es mit der Bürgerbe-teiligung, die die Grünen immer fordern, ernst meinen,hat die Ministerin zu einem Rentendialog eingeladen, andem alle interessierten Verbände und Bürgerinnen undBürger teilnehmen konnten.
Die Koalitionsfraktionen sind derzeit damit befasst, dieErgebnisse des Rentendialogs gründlich auszuwerten.Wir gestalten die Rente nicht gegen die Bevölkerung,sondern wir betreiben Rentenpolitik für die Bevölke-rung. Deswegen: Ja zum Rentendialog!
Wir haben erstens vor, ein wichtiges Prinzip in derRentenversicherung zu verankern: Wer ein Leben langgearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat,der sollte auch in Zukunft sicher sein, dass er aus der ge-setzlichen Rentenversicherung eine Leistung erhält, dieoberhalb der Grundsicherung liegt, dass er also nicht zu-sätzlich um staatliche Unterstützung bitten muss. Das istdie Idee, die der Zuschussrente zugrunde liegt.Herr Birkwald hat gerade beispielhaft das Problemvon Frau Schäfer vorgetragen. Die Lösung dieses Pro-blems wäre ganz einfach. Er müsste nur zu Frau von derLeyen gehen und sagen: Frau von der Leyen, ich trageIhr Konzept mit.
Frau Schäfer würde dann nämlich ab sofort 850 Euro anRente bekommen.
Kollege Karl Schiewerling hat schon darauf aufmerk-sam gemacht: Das größte Problem hinsichtlich der dro-henden Altersarmut ergibt sich bei den Beziehern vonErwerbsminderungsrente, also bei Menschen, die wegenKrankheit vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidenmussten. Deswegen wollen wir zweitens den Schutz fürErwerbsminderungsrentner verbessern, indem wir dieZurechnungszeit verlängern und die Jahre, in denen sieschlechter verdient haben, bei der Rentenberechnungnicht berücksichtigen. Dadurch gewährleisten wir insge-samt einen besseren Schutz für Erwerbsminderungsrent-ner.Drittens wollen wir für all diejenigen, die vor dem Er-reichen der Regelaltersgrenze aus dem Erwerbslebenausscheiden und Rente beantragen oder das Instrumentder Teilrente nutzen wollen, die Hinzuverdienstgrenzendeutlich erhöhen, um vor allen Dingen den Tarifpart-nern, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, dieMöglichkeit zu geben, betriebliche Modelle eines glei-tenden Übergangs aus der Berufstätigkeit in die Rente zuermöglichen.Mit diesen drei Reformvorhaben, die wir als Koali-tion angehen wollen, werden wir unser Rentensystemstärken und einen wirksamen Schutz gegen Altersarmuteinbauen. Das ist unser Ziel.
Was dagegen die Linke vorschlägt, ist nichts anderesals ein brutaler Anschlag auf die Prinzipien des deut-schen Rentenversicherungssystems.
Dass künftig jemand, der in die Rentenversicherung ein-gezahlt hat, die gleiche Rentenzahlung erhalten soll wiejemand, der nie eingezahlt hat, widerspricht allen Prinzi-pien der Solidarität und der Gerechtigkeit.
Wir haben in der Vergangenheit im Deutschen Bundes-tag in der Rentenpolitik oftmals – und das war gut – ge-meinsam über alle Fraktionen hinweg Beschlüsse ge-fasst. Warum haben wir das getan? Im Hintergrund standfür uns: Wir wollen die Leistungen von Menschen, diearbeiten und in die Rentenversicherung einzahlen, miteiner anständigen Rente belohnen. Die Rente ist lohn-und beitragsbezogen. Wer zu dieser Solidarität im Ren-tensystem nichts beiträgt, der kann auch nicht einegleich hohe Rente erhalten wie jemand, der sein ganzesLeben lang eingezahlt hat.
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19236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Gott sei Dank wird heute einmal deutlich, dass dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland,die ehrlich arbeiten und in die Rentenversicherung ein-zahlen,
mit einem brutalen Angriff der Linken zu rechnen ha-ben,
die ihre Ehrlichkeit, ihren Gerechtigkeitssinn und ihreBereitschaft zur Solidarität in unglaublicher Art undWeise ohrfeigt. Wir stehen dazu: Die Rentenversiche-rung muss gerecht und vor allen Dingen solidarisch sein.
Das Gleiche gilt für den Vorschlag der Linken, dassdie Arbeitnehmer, die im Osten gearbeitet haben, unddie Arbeitnehmer, die im Westen gearbeitet haben unddas Gleiche verdient haben, künftig nicht die gleicheRente bekommen sollen – die Forderung, dass sie diegleiche Rente bekommen, fände ich okay; das würde ichunterstützen –, sondern dass die Rentner im Osten mehrRente erhalten sollen als die im Westen.
Sprich: Die Linke will die deutsche Spaltung nicht been-den, sondern sie will eine neue Spaltung in Deutschlandeinführen. Das weisen wir mit aller Entschiedenheit zu-rück.
Das Gleiche gilt für das Finanzierungskonzept. Letz-ten Endes geht es nicht um einen Beitragssatz von28 Prozent für die Rentenversicherung, wie HerrBirkwald vorgetragen hat. Wenn man das durchrechnet,dann kommt man vielmehr auf einen Rentenversiche-rungsbeitrag von über 30 Prozent. Was soll ein jungerAuszubildender denken, wenn er im Job zum ersten Malseine geringe Ausbildungsvergütung ausbezahlt be-kommt und der Beitragssatz für die Rentenversicherungbei 30 Prozent liegt?
Mit Generationengerechtigkeit, mit der gleichmäßigenVerteilung der Lasten auf die einzelnen Generationen hatdas nichts zu tun. Wenn wir ein gesundes, solides undvon der Bevölkerung akzeptiertes Rentensystem habenwollen, dann muss es gleichmäßige Belastungen undEntlastungen für alle Generationen geben. Man kannnicht die Lasten einseitig auf eine Generation verteilen.Wir sind die Fraktion, die dafür steht: Generationenge-rechtigkeit ist die Grundlage unseres Rentensystems.
Das war ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.
Ich will zum Schluss noch eines sagen.
Dann aber ganz zum Schluss.
Damit unsere Rentenversicherung auch in Zukunft er-
folgreich und leistungsfähig ist, wäre es schön, wenn wir
in diesem Parlament wieder gemeinsam zu den Prinzi-
pien des deutschen Rentenversicherungssystems stehen
könnten. Dazu fordere ich Sie herzlich auf.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialde-
mokraten unser Kollege Anton Schaaf. Bitte schön, Kol-
lege Anton Schaaf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Peter Weiß, du hast gesagt, dass ihr Rentenpolitik mitden Menschen macht. Ganz im Ernst: Beim Thema Re-gierungsdialog wisst nicht einmal ihr in der Koalition,was am Ende dabei herauskommt, geschweige denn dieMenschen. An der Stelle macht ihr überhaupt nichts.
Es ist offenbar eine geheime Kommandosache, was ge-rade im Ministerium läuft. Das ist so geheim, dass selbstihr nicht wisst, was bei dieser komischen Zuschussrenteam Ende herauskommt. Von daher war das etwas über-zogen.Was die Gemeinsamkeiten angeht, haben wir bei dengroßen Leitlinien der Rentenversicherung bzw. der Al-terssicherung der Menschen immer zusammengearbei-tet. Aber wenn ihr anfangt, bei dieser Zuschussrente ei-nen individualisierten Teil zur Grundlage dafür zumachen, dass Menschen eine staatliche Förderung erhal-ten, dann werden wir das nicht gemeinsam beschließen.Dabei machen Sozialdemokraten nämlich nicht mit.
So einfach ist das.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19237
Anton Schaaf
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Im Übrigen verlasst ihr die Gemeinsamkeiten, die Paritätund Solidarität bedeuteten. Darauf haben wir immer sehrgroßen Wert gelegt. Wenn aber die individualisierteRente, also die Riester-Rente, Anspruchsvoraussetzungfür die Zuschussrente werden soll, dann werden wir dasauf keinen Fall mitmachen. Dann verlassen wir eben diegemeinsamen Linien und kämpfen ums Detail.
Dann zu Ihnen, Kollege Strengmann-Kuhn: Wir ha-ben uns zur Erwerbstätigenversicherung verhalten. Wirhaben im Plenum auch Vorschläge zur Erwerbsminde-rungsrente diskutiert. Heute Abend wird es noch um denRehadeckel gehen. Wir haben im Plenum eigene An-träge zur Rente mit 67 eingebracht und zum Thema So-loselbstständigkeit Position bezogen. Zu sagen, wir hät-ten nichts zum Thema Rente gemacht, ist absoluterUnfug.
In dieser Debatte geht es aber um einen Antrag derLinken. Wir sind übrigens einer Meinung: Er ist kata-strophal schlecht. Darum geht es in dieser Debatte. Esgeht nicht darum, ob wir vollendete Konzepte vorgelegthaben. Ein vollendetes Konzept gibt es auf Ihrer Seiteauch nicht.
Ich erinnere mich an das vollendete Konzept, das dieGrünen einst vorgelegt haben. Es war zumindest sehrüberprüfungsbedürftig.
Herr Birkwald, wenn wir Rentendebatten geführt ha-ben, insbesondere wenn die Linken sie beantragt hatten,hat oft Herr Gysi geredet, und ich habe dann immer ge-sagt: Lasst doch jemanden von eurer Fraktion reden, derAhnung von Rente hat. – Diesem Anspruch sind Sieheute nicht gerecht geworden. Ich weiß nicht, warum.
Denn Sie haben eigentlich Ahnung von Rente.Ich sage es folgendermaßen: Wie wollen Sie jeman-dem, der 35 Jahre lang gearbeitet und für jeden ver-dammten Cent, den er verdient hat, entsprechend in dieRentenversicherung eingezahlt, sodass er einen Renten-anspruch von 901 Euro hat, erklären, dass sein Nachbar,der nie irgendwo eingezahlt hat, 900 Euro bekommt?
Diese Debatte halten Sie auf keinen Fall durch. Das istauch weder eine gerechte noch eine linke Debatte.
In der Rentenversicherung spiegeln sich Lebensleis-tungen wider. Man kann zwar anderer Meinung sein,aber dann gilt das, was Sie in Ihrem eigenen Antrag aus-schließen. Sie wollen keine staatlich verordneten Almo-sen. Was ist denn eine Regelung, wie Sie sie mit den900 Euro vorsehen? Das ist eine staatlich verordnete Al-mosenrente.
Ihr Beispiel von der Rentnerin ist entlarvend. Bei ihrspiegelt sich die Lebensleistung in der Form wider, dassdie Rente circa 580 Euro beträgt. Sozialdemokraten undGrüne haben die Grundsicherung im Alter eingeführt,damit Menschen nicht zu Bittstellern werden, weil sie zuwenig Rente haben. Jetzt sagen Sie, dass die Frau in Ih-rem Beispiel keine Almosen will und deswegen dieGrundsicherung nicht beantragen würde. Ob aber je-mand von 580 Euro durch einen staatlichen Zuschussvon 100 Euro auf 680 Euro kommt oder ob man bis900 Euro alimentiert: Die Frau ist am Ende immer Bitt-stellerin; bei Ihnen ist der Zuschuss nur etwas größer.Bei Ihnen werden allerdings viel mehr Menschen zuBittstellern, da Sie einen Wert von 900 Euro zugrundelegen.
Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag beträgt imMoment 800 Euro. Alle Menschen, deren Rente im Be-reich dieses durchschnittlichen Zahlbetrags liegt, werdenbei Ihnen zu Bittstellern.
Wenn Sie die Debatte intellektuell redlich führen wür-den, dann würden Sie über das Leistungsniveau diskutie-ren, dann würden Sie sagen, dass es falsch ist, das Leis-tungsniveau weiter abzusenken.
– Ja, aber das korrespondiert in keinster Weise mit IhremVorschlag einer Grundrente.Bevor meine Redezeit ganz abgelaufen ist, will ichnoch etwas zum Thema Ost-West sagen. Sie haben na-türlich recht: Die Regierungsfraktionen hatten sich in ih-rem Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben, indieser Legislaturperiode diesbezüglich etwas zu machen.
Wir können gemeinsam feststellen, Matthias Birkwald,dass sie die den Menschen versprochene Ost-West-An-gleichung in dieser Legislaturperiode nicht umsetzenwerden. An der Stelle wird nichts geschehen. Das
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19238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Anton Schaaf
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müsste die Ministerin den Menschen eigentlich ehrlichsagen.
Sie haben ein Versprechen gebrochen, meine Damen undmeine Herren aus der Regierungskoalition.
Herr Birkwald, die Kollegin Ferner hat recht: NachIhrem Modell wird eine Person, die im Osten für diegleiche Arbeit das gleiche Geld wie eine Person im Wes-ten bekommt, bevorzugt – das müssen Sie den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern im Westen ehrlich sa-gen –; denn über den Höherwertungsfaktor haben Siekein einziges Wort verloren. Sie haben nur gesagt, dieRentenwerte sollten angeglichen werden. Sie habenzwar von gleichem Geld für gleiche Arbeit und gleicherRente für gleiche Lebensleistung gesprochen, über denHöherwertungsfaktor haben Sie aber kein Wort verloren.Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernim Westen der Republik, dass Sie die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer im Osten der Republik weiter be-vorzugen wollen.
Das wäre redlich, und dann kann man auch damit umge-hen.Der Höherwertungsfaktor ist durch unterschiedlicheEinkommenshöhen begründet; deswegen sei er gerecht.Ist das Einkommen aber gleich – und der KollegeBirkwald hat zu Beginn seiner Rede von gleichem Geldfür gleiche Arbeit gesprochen –, dann ist der Höherwer-tungsfaktor nicht mehr begründbar.
Elke Ferner hat schon gesagt, dass wir auch im Wes-ten der Republik Regionen haben, in denen man nicht sogut verdient, beispielsweise im Norden der Republikoder im Saarland. Da wird auch nichts ausgeglichen.Sie wollen den Charakter der Rentenversicherungverändern. Sie behaupten zwar, Sie wollten keine Ein-heitsrente. Aber Ihr Vorschlag ist der erste Schritt zu ei-ner Einheitsrente.
Wir sind der festen Überzeugung, dass es sehr sinn-voll ist, dass sich Lebensleistung in der Höhe der Rentewiderspiegelt. Wir wollen niemanden ins Bodenlose fal-len lassen. Deswegen gibt es die Grundsicherung im Al-ter. Wir streiten auch gerne über das Rentenniveau undüber die Frage, ob zum Beispiel die Absenkung des Ren-tenniveaus ursächlich dafür ist, dass mehr Menschen al-tersarm werden, ob man an dieser Stelle eine Grenze ein-ziehen muss. Wir streiten gerne über eine nachgelagerteHöherwertung.Aber Ihren Weg der Gleichmacherei unterschiedlicherLebensleistungen werden wir nicht mitgehen.
Vielen Dank, Herr Kollege Schaaf. – Bevor ich dem
nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich dem Kolle-
gen Matthias Birkwald das Wort zu einer Kurzinterven-
tion.
Wer den Antrag gelesen und bei meiner Rede gut zu-gehört hat, der wird festgestellt haben, dass wir Linken,erstens, deutlich fordern, dass auf dem Arbeitsmarkt et-was verändert wird, weil wir selbstverständlich mit Ih-nen einer Meinung darin sind, dass die Rente nicht dasreparieren kann, was auf dem Arbeitsmarkt schiefgegan-gen ist. Das muss man erst einmal festhalten.
Zweitens. Wenn Sie die Kürzungsfaktoren aus derRentenformel herausnehmen, wenn Sie die Rentenwertein einem Schritt um 4 Prozent anheben und all das ma-chen, was wir vorgeschlagen haben, dann werden dieje-nigen, die lange Jahre in die Rentenversicherung einge-zahlt haben, auch eine deutlich höhere Rente als900 Euro bekommen. Die werden eine Rente von1 100 Euro und mehr bekommen.Das heißt, dass wir das Grundprinzip der Äquivalenzim Bereich der Lebensstandardsicherung nicht antasten.Aber wir sagen: Wir müssen im unteren Bereich solida-risch sein und dafür sorgen, dass niemand im Alter inArmut leben muss. Eine Grundsicherung im Alter, wiees sie heute gibt, würde es dann nicht mehr geben. Es istsehr wohl richtig, dass viele Menschen die Grundsiche-rung heute nicht beantragen, weil sie sich schämen. Siemüssten dann, Kollege Schaaf, keine Bittsteller oderBittstellerinnen mehr sein; denn die Rentenversicherungfragt, ob die Rentnerin oder der Rentner über eine ge-setzliche Rente von zum Beispiel 600 Euro oder mehrverfügt und ob eine Riester-Rente oder eine betrieblicheAltersvorsorge vorhanden ist. Im Osten müssten 99 Pro-zent der Menschen antworten: Ich habe nur die gesetzli-che Rente. Dann würde gesagt: Wenn kein Vermögen ineiner bestimmten Größenordnung oder sonstiges Ein-kommen vorhanden ist, dann gibt es den Zuschlag.Je besser die Rente – das hat Kollege Weiß angespro-chen –, was die Äquivalenzseite anbetrifft, reformiertwird, umso weniger brauchen wir den Zuschlag der soli-darischen Mindestrente. Das heißt, wenn wir alle dasRentensystem armutsfest machen, dann brauchen wirnull Zuschlag und null Mindestrente. Dagegen habe ichnichts.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19239
Matthias W. Birkwald
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Ich sage noch einmal: Wir Linken fordern einen Min-destlohn, und wir fordern eine Mindestrente. Wir wollenaber keine Gesellschaft der Mindestrentebeziehendenund der Mindestlohnbeziehenden, sondern eine Gesell-schaft von Menschen, die mehr verdienen, gute Tarif-löhne erhalten und eine höhere Rente als die Min-destrente bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dassdie Gerechtigkeitsdebatte von den Menschen, die alsDurchschnittsverdienerinnen und Durchschnittsverdie-ner in Zukunft 36 Jahre werden arbeiten müssen, umüberhaupt einen Rentenanspruch oberhalb der heutigenGrundsicherung im Alter zu haben, so geführt werdenwird. Deswegen ist es wichtig, dass die Rentenversiche-rung armutsfest gemacht und gleichzeitig ein Zuschlageingeführt wird, wenn dies nicht gelingt.Ich komme zum Schluss zu den Renten im Osten. Esbesteht heute immer noch ein Lohnunterschied zwischenOst und West in Höhe von 11 Prozent. In dem Maße, wieder Abstand schmilzt, soll auch die Angleichung beimHochwertungsfaktor erfolgen. Darin sind wir uns völligeinig. Wir wollen natürlich nicht, dass in einem Landes-teil die Renten unter dem Strich höher sind als in demanderen.
Die Realität ist aber eine andere. Heute werden denOstrentnern bei der Durchschnittsrente im Schnitt140 Euro im Monat genommen.
Sie kommen jetzt bitte zum Schluss.
Diese 140 Euro im Monat brauchen die Rentnerinnen
und Rentner im Osten. Deswegen ist es wichtig, dass wir
in einem ersten Schritt die Löhne angleichen. Dann
brauchen wir auch nicht mehr den Hochwertungsfaktor.
Solange die Löhne aber nicht angeglichen sind, ist es nur
gerecht, dass ein Florist oder eine Betonbauerin nach ei-
nem langen Leben für die gleiche Lebensleistung auch
die gleiche Rente erhält. Das werden auch die Menschen
im Westen einsehen. Ich komme aus Köln. Da gibt es
den Satz: Man muss auch jönne könne. – Da bin ich mir
sicher.
Danke schön.
Das Wort zur Antwort hat Kollege Anton Schaaf.
Bei vielen Punkten kann ich mich wiederholen.
Matthias Birkwald hat hier in seiner Rede kein Wort zum
Höherwertungsfaktor gesagt. Auch im Antrag steht dazu
nichts.
Was bleibt, ist, was hier gesagt worden ist und was im
Antrag steht. Es ist gesagt worden: gleiches Geld für
gleiche Arbeit, gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.
Zum Höherwertungsfaktor ist hier kein Wort gesagt wor-
den. Ich stelle das nur noch einmal fest.
Das ist jetzt korrigiert. Das nehme ich zur Kenntnis.
Wenn wir bei gleicher Einkommensstruktur gleiche Ren-
tenwerte haben, dann ist das in Ordnung. Das ist keine
Frage. Nur, dann fällt der Höherwertungsfaktor weg.
Das muss man im Osten dann auch sagen. Entweder er
wird beibehalten – dann muss man das im Westen sagen –,
oder er fällt weg, und dann muss man das im Osten sa-
gen. Das gehört zur Redlichkeit.
Was mich am meisten bei der Form der Grundrente,
oder wie auch immer man es nennen möchte, stört, ist,
dass sie zuerst einmal bedingungslos ist. Man braucht
keine eigenen Beiträge eingezahlt zu haben. Das ist der
entscheidende Punkt. Wenn man aber sagt, man müsse
nur das Niveau der Renten anheben, dann muss man
auch dazu sagen, wer das finanzieren soll und wie viel
das kostet. Einfach die Beitragsbemessungsgrenze anzu-
heben, alle Einkommensbezieher in die Rentenversiche-
rung aufzunehmen und die Renten zu deckeln – das kann
man natürlich machen –, reicht nicht, um umzuverteilen
und die Kosten gegenzufinanzieren, die auf uns zukom-
men. Das ist unredlich.
Wenn ich so etwas will, muss ich den Menschen ehrli-
cherweise sagen, dass sie sich mit einem Rentenversi-
cherungsbeitrag von 28 Prozent abfinden müssen, um
solch ein Niveau zu erreichen. Das aber wird nicht ge-
sagt. Weil Frau von der Leyen den Betrag von 850 Euro
genannt hat, muss die Linke sie natürlich überbieten und
900 Euro fordern. Es handelt sich um einen Bieterwett-
bewerb, wobei die Kosten in keiner Weise gegenfinan-
ziert sind und die genannten Summen unrealistisch sind.
Vielen Dank. – Wir fahren nun in der Reihenfolge un-
serer Wortmeldungen fort.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön,
Kollege Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,lassen Sie mich zunächst ein Wort an den Kollegen vonBündnis 90/Die Grünen, Herrn Dr. Strengmann-Kuhn,richten.
Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben kritisiert, dass dieBundesregierung und die Koalitionsfraktionen bishernoch keinen Entwurf zur Bekämpfung der Altersarmut
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19240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Pascal Kober
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vorgelegt haben. Ich möchte Sie deshalb doch daraufhinweisen, dass es Kennzeichen dieser Bundesregierungund der sie tragenden Koalitionsfraktionen ist, dass wirsorgfältig nachdenken, den Dialog mit allen Betroffenenführen, uns gute Lösungen überlegen und dann vor allenDingen nachhaltige und belastbare Gesetze dem HohenHaus hier vorlegen – im Gegensatz zu Ihnen.
Sie erinnern sich vielleicht daran, womit wir in den ver-gangenen Monaten alles beschäftigt waren: mit der Job-centerreform, mit Hartz IV, mit der Reform der arbeits-marktpolitischen Instrumente. Mit all diesen Dingenmussten wir uns beschäftigen, weil Sie während IhrerRegierungszeit hierbei nicht die entsprechende hand-werkliche Qualität vorgelegt haben.
Deshalb: Wir arbeiten anders. Lernen Sie von uns! Dannwerden auch Sie einmal erfolgreich sein.
Aber jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken. Lieber Matthias Birkwald, es gibt einen gro-ßen Politiker; der hat einmal gesagt: Politik beginnt mitdem Betrachten der Wirklichkeit. – Es ist doch geradezuerschütternd, mit welcher unglaublichen HartnäckigkeitSie sich diesem doch guten politischen Grundsatz ver-weigern. All die Maßnahmen in der gesetzlichen Ren-tenversicherung, die Sie kritisieren, wie zum Beispiel dieStärkung der privaten Säule, die Einführung der Riester-Rente, die Rente mit 67, die Einfügung eines demografi-schen Faktors, die Einfügung eines Nachhaltigkeitsfak-tors, haben doch die Vorgängerregierungen nicht aus Juxund Tollerei ergriffen, sondern deswegen, weil sie aufeine Notwendigkeit reagieren mussten, die Sie nichtwegdiskutieren können. Diese Notwendigkeit hat einenNamen: demografischer Wandel. Demografischer Wan-del bedeutet, dass sich das Verhältnis von Beitragszah-lern zu Rentnern immer ungünstiger entwickelt. Dassage ich auch mit Blick auf die vielen jungen Zuhörerin-nen und Zuhörer, die heute hier im Saal sind. 1970 wa-ren es noch fünf Beitragszahler, die eine Rente finanzierthaben, im Jahr 2000 waren es noch drei, und im Jahr2040 soll das Verhältnis bei eins zu eins liegen.Wenn wir die gesetzliche Rentenversicherung erhal-ten wollen, müssen wir steuernd eingreifen. Das, was Sievorschlagen, ist unverantwortlich und vor allen Dingenunbezahlbar.
Zum Stichwort „bezahlbar“ – die Kollegin Ferner hatschon darauf hingewiesen –: Es ist ja schon erstaunlich,dass Sie mit keinem einzigen Wort in Ihrem Antrag er-wähnen, wie Sie das, was Sie da vorschlagen, finanzie-ren wollen. An einer Stelle gibt es die vage Andeutung;da fordern Sie eine Mehrbelastung für freie Berufe undvon Menschen mit höherem Einkommen. Sie müssenaber auch sehen, dass aus einer Mehrbelastung dannauch höhere Ansprüche entstehen, jedenfalls dann, wennwir das Äquivalenzprinzip aufrechterhalten wollen. In-sofern stellen Ihre Vorschläge nichts anderes als eineMilchmädchenrechnung dar.Das ist aber noch nicht alles. Dieser Antrag darf janicht isoliert betrachtet werden. Da wir hier munter Don-nerstag für Donnerstag über Sozialpolitik diskutieren– Kollege Kolb hat schon darauf hingewiesen –, wissenwir, welche weiteren sozialpolitischen Forderungen Sieerheben: die Anhebung des Arbeitslosengeld-II-Regel-satzes auf 500 Euro, die mittelfristige Einführung einersanktionsfreien Mindestsicherung, die deutliche Erhö-hung der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik undeinen massiven Ausbau eines öffentlich geförderten Be-schäftigungssektors.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ir-gendwann müssen Sie einmal in der Realität ankommenund uns sagen, wie Sie diese Menge an staatlichen Aus-gaben in Zukunft finanzieren wollen.
– Das Steuerkonzept, das Sie vorgelegt haben, trägt ebennicht. – Was passiert, wenn für die ganzen Ausgaben, dieSie sich vorstellen, nicht entsprechende Steuereinnah-men realisiert werden, sehen wir jetzt gerade in erschre-ckender Weise am Beispiel der europäischen Finanz-krise. Das, was Sie hier vorgeschlagen haben, ist schlichtnicht von dieser Welt. Es ist unverantwortlich.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,kommen Sie irgendwann einmal in der realen Politik an!Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Kober. – Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Johann
Wadephul. Bitte schön, Kollege Dr. Wadephul.
Herr Präsident, wer verfolgt hat, wie Sie dem Kolle-gen Birkwald eine zweite Möglichkeit gegeben haben,hier in einer Kurzintervention noch einmal den Versuch
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Dr. Johann Wadephul
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zu unternehmen, das Anliegen der Linken zu begründen,war vielleicht zunächst verärgert. Ich jedenfalls war ei-gentlich ganz zufrieden. Man hat gemerkt, Herr KollegeBirkwald – wir haben Sie als einen kompetenten Renten-fachmann im Ausschuss kennen- und schätzen gelernt –,
dass Sie eigentlich eine ganz andere Auffassung als dievertreten, die hier in diesem wirren Antrag niedergelegtworden ist. Das, was Sie in der Sache mündlich vortra-gen, passt überhaupt nicht zu dem, was seitens der Lin-ken niedergelegt worden ist,
und insofern anempfehle ich Ihnen erst einmal eine in-terne Diskussion innerhalb der Fraktion der Linken. Siewerden sich nicht nur über die Frage, wer Bundespräsi-dent dieses Landes werden sollte, nicht ganz einig, son-dern Sie werden sich auch über grundlegende Fragen derRentenpolitik nicht einig. Frau Bunge, die das Interessean dieser Diskussion mittlerweile verloren und den Saalverlassen hat, ist möglicherweise die Autorin. Denn die-ser Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, atmet nochsehr stark das Gedankengut der Wissenschaft, die FrauBunge lange Zeit betrieben hat, und deswegen sage ichIhnen: Marxismus-Leninismus führt uns in Deutschlandnicht weiter, auch nicht in der Rentenpolitik.
Vollkommen zu Recht haben Sie, Herr Birkwald, ge-sagt, der Kern der Problemlösung sei der Arbeitsmarkt.Da können wir Ihnen – das muss hier auch einmal gesagtwerden – nur recht geben. Der Arbeitsmarkt ist dasKernelement, mit dem wir Armut bekämpfen, mit demwir den sozialen Ausgleich herstellen, mit dem wir Zu-friedenheit auch im Alter schaffen.
Darüber hinaus ist der Arbeitsmarkt die Grundvorausset-zung dafür, dass eine Rentenversicherung funktionierenkann.Trotz eines harten Winters haben wir einen stabilenArbeitsmarkt, und trotz einer Finanz- und Wirtschafts-krise in ganz Europa verzeichnen wir einen Erfolg aufdem Arbeitsmarkt in Deutschland, um den uns viele be-neiden. Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dassSie keinen einzigen Satz darauf verschwendet haben,meine Damen und Herren.Sozial ist, was Arbeit schafft,
und diese Koalition hat dafür gesorgt, dass wir einenAufschwung auf dem Arbeitsmarkt erleben. Das ist einwirklicher Erfolg für die Menschen, und das sichert aucheine gute Altersvorsorge.
Herr Kollege Dr. Wadephul, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sie haben gerade gesagt: Sozial ist, was Arbeit
schafft. – Darf ich Sie einmal daran erinnern, dass es ei-
nen Gleichstellungsbericht der Bundesregierung gibt, in
dem die Vorsitzende des Sachverständigenausschusses
gesagt hat, es sei desaströs, dass es auf dem Arbeits-
markt 400-Euro-Jobs, befristete Stellen und Freiwilli-
gendienste gebe? Keine Frau könne davon eine Rente
aufbauen.
Sie haben sehr zutreffend gesagt – das hat auch mein
Kollege Birkwald gesagt –, dass wir auf dem Arbeits-
markt anfangen müssen. Aber wo sind Ihre Konzepte da-
für, dass erziehende Elternteile auf dem Arbeitsmarkt
Chancen haben?
Sie wissen ganz genau, dass die Kinderbetreuungsquote
im Westen der Republik bei unter 30 Prozent liegt. Das
kommt für Frauen und Männer, die Kinder erziehen, ei-
nem Verbot der Vollzeitarbeit gleich. Äußern Sie sich,
bitte schön, dazu.
Das mache ich sehr gerne. – Dass Sie mir nun geradein dieser Debatte in Anwesenheit der Bundesarbeits-ministerin Ursula von der Leyen die Gelegenheit geben,darauf hinzuweisen, dass es Ursula von der Leyen war,die dafür gesorgt hat, dass in der BundesrepublikDeutschland, dass im vereinten Deutschland nun dieGrundlagen dafür gelegt werden, dass die Betreuungs-quote steigen kann
und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bessermöglich sein wird, als sie dies unter einer anderen Re-gierung je war, dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. Dasist in der Tat ein entscheidendes politisches Verdienst,das sich mit dem Namen Ursula von der Leyen persön-lich verbinden lässt, und das setzen wir fort. Das ist nichtganz einfach. Denn es muss auch finanziert werden. In-sofern bedarf es einer gemeinsamen Kraftanstrengungvon Bund, Ländern und Kommunen, der wir uns auchstellen.
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Dr. Johann Wadephul
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Ich möchte Sie allerdings auf Folgendes hinweisen,Frau Kollegin: Schauen Sie sich bitte einmal in Nachbar-ländern um.
– Nein, wir verzeichnen jetzt in ganz Deutschland in ei-nem bekannten Problemmonat wie dem Februar eineVerringerung der Arbeitslosigkeit um über 6 Prozent.Das ist ein Erfolg, meine Damen und Herren, und jeder,der Arbeit gefunden hat – wir haben so viele sozialversi-cherungspflichtig Beschäftigte wie nie zuvor –, kann et-was für die Rente tun. Darüber sollten wir uns freuen,und daher sollten wir diesen Weg auch fortsetzen.
Das sage ich nicht ausweichend auf die Frage, dass esnatürlich prekäre Beschäftigung gibt. Diesem Problemweichen wir nicht aus, und auch Frau Bundesarbeits-ministerin hat sich hierzu schon öffentlich geäußert.Darüber hinaus sind wir dabei, für eine feste Lohnunter-grenze die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzun-gen zu schaffen, und hoffen, dass wir in dieser Koalitionnoch in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebniskommen. Da sind wir also auf dem richtigen Weg. Die-sen sozialpolitischen Fragen weichen wir in keinerWeise aus.Zweiter Punkt. Wir sollten die Rentenversicherung,die wirklich ein Erfolgsmodell ist, nicht schlechtreden.Die Rentenversicherung ist – darauf haben auch die Red-ner der sozialdemokratischen Fraktion dankenswerter-weise hingewiesen – an allererster Stelle eine Versiche-rung und keine staatliche Wohltätigkeitsinstitution. Sielebt davon, dass Menschen Beiträge zahlen. Als Gegen-leistung für das, was sie eingezahlt haben, bekommen siedann im Alter eine Rente.
Lieber Herr Birkwald, wenn Sie sagen, die von Ihnengeforderte Grundrente in Höhe von 900 Euro
würde nicht zu einer Demotivation der Menschen füh-ren, dann geht das an der Lebenswirklichkeit vorbei.Seien wir doch einmal ehrlich: Wer arbeitet denn40 Jahre, um am Schluss eine Rente zu bekommen, dievielleicht 100 Euro über Ihrer Garantierente liegt? Dasdemotiviert. Wir müssen doch Anreize dafür geben,morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und sozialver-sicherungspflichtig tätig zu sein. Wir dürfen die Men-schen aber nicht demotivieren, indem wir ihnen verspre-chen, dass sie am Schluss eine Leistung bekommen, fürdie sie heute noch hart arbeiten müssen. Das ist der fal-sche Weg, den wir nicht mitgehen werden.
Dritter Punkt. Das mehrsäulige Modell in Deutsch-land funktioniert. Ich stelle dabei nicht in Abrede, dassdie Riester-Rente nicht die Lösung aller Probleme ist.Das ist vollkommen klar; auch Sie haben das angedeutet.Viele Menschen haben einen entsprechenden Vertrag ab-geschlossen oder betreiben auf andere Art und Weiseprivat Altersvorsorge. Ich möchte an dieser Stelle daraufhinweisen – der Kollege Weiß hat vorhin schon darge-legt, was man da noch ergänzend reformieren kann undwelche Weiterentwicklungen es geben sollte –, dass wirin Deutschland auf unsere betriebliche Altersvorsorge,die in Europa ihresgleichen sucht, stolz sein können.
Sie sorgt für sozialen Frieden und dafür, dass in den Be-trieben ein Zusammengehörigkeitsgefühl besteht unddass unsere Betriebe erfolgreich sind,
und sie zeigt, dass Solidarität zwischen Menschen im Er-werbsleben und Menschen, die eine Rente beziehen,möglich ist. Das ist eine wesentliche Säule unserer Al-tersvorsorge, auf die wir stolz sind und die wir bewahrenund stärken sollten.
Es ist daher verkehrt, Ängste zu schüren, was Sie anvielen Stellen ihres Antrags tun. Sie verwechseln oft-mals Armutsgefährdung mit tatsächlicher Armut im Al-ter und weisen nicht darauf hin, dass in Deutschlandnach wie vor die größte Gefahr dafür, dass viele Men-schen in der Tat im Alter von Armut bedroht sind, in derArbeitslosigkeit besteht. Deswegen sage ich Ihnen: DasWichtigste ist, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und dafürzu sorgen, dass Menschen Arbeit haben.
Wir dürfen ihnen nicht weitere Sozialleistungen verspre-chen, die wir am Schluss nicht finanzieren können.Der Kollege Kober hat gerade auf die Nichtfinanzier-barkeit Ihrer Vorschläge hingewiesen. Deswegen müssenSie in jeder lauteren Debatte zur Kenntnis nehmen, dasswir im Jahre 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, ei-nen Bundeszuschuss von 20 Milliarden Euro an die Ren-tenversicherung gezahlt haben. In diesem Jahr überwei-sen wir der Rentenversicherung über 80 MilliardenEuro.Abschließend will ich zu diesem Punkt sagen: Jeder,der an dieser Stelle mehr Geld ausgeben will, muss zu-mindest ansatzweise erklären, an welcher Stelle im Bun-deshaushalt er das Geld lockermachen will. Darauf blei-ben Sie jede Antwort schuldig. Angesichts einereuropaweiten Schuldenkrise werden Sie von uns keineZustimmung zu Ihrer Schuldenpolitik bekommen.
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Dr. Johann Wadephul
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Wir müssen vielmehr unsere Haushalte konsolidierenund gleichzeitig dafür sorgen, dass Menschen im Alterund auch in anderen Lebensabschnitten frei von Armuts-ängsten leben können. Dafür sorgen diese Regierungund die Koalition mit einer erfolgreichen Arbeitsmarkt-und Wachstumspolitik. Diese Politik werden wir fortset-zen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Wadephul. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist unser Kollege Ottmar
Schreiner für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte
schön, Kollege Ottmar Schreiner.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich muss achtge-ben, wenn Kollegen der Koalition vor mir gesprochenhaben; denn das löst bei mir immer automatisch An-griffsreflexe aus.
Diesem Impuls will ich heute einmal nicht nachgeben,weil es um einen Antrag der Linksfraktion geht.
Ob Sie wirklich Glück gehabt haben, da bin ich mirnicht sicher.Einige Redner haben zu Recht darauf hingewiesen,dass es zwischen dem Antrag der Linkspartei und dem,was bislang aus dem Hause von der Leyen zu demThema Zuschussrente bekannt geworden ist, merkwür-dige Parallelen gibt. Es wäre schade, wenn ich meineZeit damit verbringen würde, diese Parallelen hier zu be-legen. Es ist aber schon erstaunlich, wenn der KollegeWeiß sagt: Der Antrag der Linkspartei ist der brutalst-mögliche Angriff auf die Rentenversicherung. Und derKollege Wadephul sagt: Bei dem Antrag der Linksparteiwar der Marxismus-Leninismus am Werk. Schlussfol-gernd bietet es sich geradezu an, die These zu vertreten:Auch im Hause von der Leyen waltet der Marxismus-Leninismus, und es finden brutalstmögliche Angriffe aufdie deutsche Rentenversicherung statt.
So weit bin ich mit meiner Argumentation noch nichtgegangen. Man sieht, es fällt einem manches in denSchoß, ohne dass man sich vorbereiten musste. DasGanze hat einen Vorteil. Es findet offenkundig ein politi-scher Wettkampf zwischen den Fraktionen und den Par-teien statt, wie man am wirksamsten gegen Altersarmutvorgehen kann. Das ist sicherlich auch im Interesse derbetroffenen Menschen in der Republik. Deshalb machtes Sinn, im Parlament diese kontroversen Debatten zuführen.Zum Antrag der Linkspartei. Auch meine Wahrneh-mung ist, dass dieser Antrag ein Mittelding zwischen derlohnbezogenen Rente und dem bedingungslosen Grund-einkommen ist, mit starker Schlagseite in Richtung be-dingungslosem Grundeinkommen. Die Einschränkungensind sehr vage und sehr zurückhaltend formuliert. HerrKollege Birkwald, Sie haben mit Ihrer zweiten Interven-tion nicht recht, dass bei der Angleichung der Renten-werte Ost und West auf die Höherwertung verzichtetworden ist. Dies steht ausdrücklich in Ihrem Antrag.
Ich zitiere:Mit Blick auf den Grundsatz „Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Le-bensleistung“ wird der Rentenwert Ost auf dasWestniveau angehoben und die Höherwertung bei-behalten.Also, nach der Anhebung beibehalten. Diese Art der Pri-vilegierung versteht wirklich kein Mensch.
Das müssen Sie begründen. Das ist überhaupt nichtnachvollziehbar.In Ihrem Antrag steht auf Seite 8 der bemerkenswerteSatz:Einen Anspruch auf die solidarische Mindestrentehaben alle Menschen, deren Alterseinkommen un-terhalb von 900 Euro netto liegt. Sie müssen nichtzuvor in der gesetzlichen Rentenversicherung versi-chert gewesen sein.Das heißt, jeglicher Bezug zur gesetzlichen Rentenversi-cherung wird gekappt. Wieso eine solche Position dazugeeignet sein soll, diese Rentenversicherung zu stärken,müssen Sie dem staunenden Publikum erklären. Das Ge-genteil wird der Fall sein.
Sie haben als zweites eine maßvolle Anhebung derRentenwerte in Ihrem Antrag vorgeschlagen. Damitwürde das Rentenniveau geringfügig erhöht werden. Dasist sicherlich ein sinnvoller Vorschlag. Im Zusammen-hang mit den anderen Vorschlägen führt auch dies in dieIrre.Von den Rentenexperten der Bremer Arbeitnehmer-kammer habe ich mir einige Berechnungen zukommenlassen. Danach würde Ihr Antrag dazu führen, dass diesogenannte Standardrente – das ist die Rente einesDurchschnittseinkommensbeziehers nach 45 Versiche-
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Ottmar Schreiner
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rungsjahren – von jetzt 1 100 Euro auf etwa 1 150 Euronetto steigt. Um eine Rente in Höhe von 900 Euro zu be-kommen, würde ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitneh-merin, auch nach dem Vorschlag Ihres Konzepts zur An-hebung des Rentenniveaus, gut 35 Versicherungsjahrebrauchen. Das – hier stimme ich allen Vorrednern zu –werden Sie keinem Arbeitnehmer und keiner Arbeitneh-merin erklären können. Wenn sich Leistung lohnen soll,dann muss hier ein völlig anderes Verfahren gewähltwerden. So kann man das nicht machen.
Sie bewerten 35 Beitragsjahre. Beitragsjahre sind in ei-nem enormen Maße Lohnverzicht. Die sind gewisserma-ßen für die Katz, weil man auch ohne jeden Beitrag anden gleichen Zahlbetrag herankommen kann.In Ihrem Antrag wimmelt es zudem vor immanentenWidersprüchen. Dazu will ich Ihnen einige vortragen.Der erste Widerspruch bezieht sich auf den Mindestlohn.Bislang habe ich Ihre Position zum Mindestlohn immerso verstanden, dass die 10 Euro Mindestlohn dazu füh-ren sollen, dass ein Einkommen generiert wird, das ober-halb der Grundsicherung, oberhalb der Sozialhilfe liegt.Das war auch so. Wenn man Ihrem geänderten Antragfolgt, dann müsste der Mindestlohn bei Ihnen mindes-tens 12 Euro betragen, um eine Rente in Höhe der neuenMindestsicherung zu erreichen. Hier ist von Abstandnoch gar keine Rede. Leistung muss sich lohnen. Das istder erste Widerspruch.Der zweite Widerspruch. Sie fordern – wie wir imÜbrigen auch – die Entfristung der Rente nach Mindest-erwerbseinkommen. Das würde bedeuten, dass niedrigeEinkommen rentenpolitisch aufgewertet werden in Rich-tung 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. Die vonIhnen geforderten 900 Euro entsprechen aber bereits78 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das heißt,auch diese Waffe ist, ähnlich dem Mindestlohn, völligstumpf, jedenfalls rentenpolitisch.Genauso verhält es sich mit den Vorschlägen zur Aus-weitung der Anrechnung von Kindererziehungszeitenund Pflegezeiten sowie mit dem Vorschlag – der jameine Zustimmung findet –, erneut einen Versicherungs-beitrag für Hartz-IV-Bezieher in Höhe der Hälfte desDurchschnittseinkommens einzuführen. Auch dieserVorschlag würde vor dem Hintergrund der von Ihnen ge-forderten 900 Euro vollständig ins Leere zielen. Das be-deutet, Sie können das gesamte Paket Ihrer rentenpoliti-schen Vorschläge auf den Misthaufen werfen, weil sieohne jede Wirkung sind.
Diese Vorschläge in Ihrem Antrag sind bestenfallsschmückendes Beiwerk.Das Kernproblem ist: Die Standardrente liegt nachIhrer Konzeption nur noch circa 250 Euro über der vonIhnen vorgeschlagenen Mindestrente. Von dem, was Sie,was wir und manche anderen immer gefordert haben– dass ein deutlicher Abstand zwischen der Höhe derMindestsicherung und dem Lohneinkommen bestehenmuss –, kann überhaupt keine Rede mehr sein. Sieschmelzen diesen Abstand eher zusammen. Das Gegen-teil von der Forderung, die Sie bisher aufgestellt haben,wäre der Fall.Die Zahlen sind völlig klar: Das Mindestsicherungs-niveau wird bei Ihnen nochmals um gut ein Drittel ange-hoben, der aktuelle Rentenwert und damit die Gesamt-heit der Renten aber gerade einmal um 4 Prozent. Hierliegt der Hund begraben. Wenn die Mindestsicherungum mehr als 30 Prozent, um mehr als ein Drittel angeho-ben wird, während der Rentenwert um ganze 4 Prozentsteigt, dann führt das tendenziell zu einem Ergebnis, dasSie gar nicht wollen können. Das begünstigt nämlich ob-jektiv die Verschmelzung von Rente und Mindestsiche-rung; das ist geradezu vorprogrammiert. Das können Sieim Ernst nicht wollen.
Das wäre der Abschied von der gesetzlichen Rentenver-sicherung.Was für die gesetzliche Rentenversicherung überJahrzehnte konstitutiv war, nämlich die Lebensstandard-sicherung, fände dann so gut wie nicht mehr statt, bes-tenfalls noch beiläufig. Sie muss aber wieder im Mittel-punkt der Diskussionen stehen. Ihr Konzept reduziert dieSozialstaatspolitik auf Armutsvermeidung. So wichtigdas auch sein mag: Das ist zu wenig und konzeptionellvöllig unzureichend. Deshalb möchte ich Sie dringendbitten, das Ganze zu überarbeiten.
– Der Vorschlag der SPD? Wir haben eine ganze Reihevon Vorschlägen unterbreitet, und wir werden weitereliefern. Wir organisieren den politischen Wettkampf, vondem ich gesprochen habe, auch in den eigenen Reihen.Das hat seinen Vorteil; manchmal hat es auch Nachteile.Sie werden von uns noch manches zu sehen bekommen.Wir haben zu den allermeisten Punkten in den vergange-nen Monaten und Jahren eigene Vorschläge gemacht. In-soweit können Sie nicht fragen: Wo ist der Vorschlag derSPD? Das meine ich gar nicht geringschätzig und hä-misch; davon bin ich völlig frei.
Herr Kollege Schreiner, Sie schauen auf die Uhr?
Herr Präsident, ich bin schon am Abflug. – Ich weiß,dass es sich um ein sehr kompliziertes Thema handelt.Gleichwohl sollte man sich der Kritik stellen und Ihrer-seits jetzt nicht in einen reinen Abwehrreflex verfallen.Das wäre weder der Sache noch Ihrem eigenen An-spruch angemessen.Herr Präsident, herzlichen Dank für die Großzügig-keit.
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Vielen Dank und guten Flug. – Nächster Redner in
unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist in der Tat eine Debatte, bei der man sich über die
Wortmeldungen der Kolleginnen und Kollegen der So-
zialdemokratie gefreut hat, insbesondere über die von
Ihnen, Frau Ferner; das muss man wirklich sagen. Ich
konnte – das ist selten der Fall, wenn wir über bestimmte
Themen streiten und diskutieren – fast jeden Satz Ihrer
Rede unterschreiben.
Toni Schaaf, ich habe mich auch sehr gefreut, dass du
den überparteilichen Konsens in der Aufgabe, das Ren-
tensystem zukunftssicher zu machen, betont hast. Ich
muss aber sagen, dass zwei Dinge nicht passen – so viel
Auseinandersetzung mit euch muss schon sein –:
Erstens. In der Auseinandersetzung eben über die
Frage, was wir gegen Altersarmut tun, wolltest du dich
ein Stück weit von dem Konsens entfernen, den es hier
zu Recht einmal gegeben hat: dass wir das Rentensystem
auf zwei Säulen – gesetzlich und privat – aufbauen müs-
sen. Die Demografie ist nämlich nun einmal so, wie sie
ist. Anders können wir das Rentensystem nicht zukunfts-
fest machen. Davon sollten wir uns nicht verabschieden,
lieber Kollege Toni Schaaf; davon rate ich dringend ab.
Zweitens – Kollege Schreiner hat eben darauf hinge-
wiesen, welche Vorschläge Sozialdemokraten hier in den
letzten Monaten eingebracht haben –: die Abkehr von
der Rente mit 67. Sie von der SPD haben die Rente mit
67 eingeführt und wollen sich nicht mehr dazu beken-
nen.
– Ja, aber Sie auch. Der damalige Arbeits- und Sozial-
minister Müntefering war der federführende Minister. –
An dieser Stelle möchte ich den Kollegen Müntefering
zitieren, der noch vor wenigen Wochen im Bayerischen
Rundfunk zur Entwicklung des Arbeitsmarktes für Äl-
tere gesagt hat, das sei „der entscheidende Aufstieg der
letzten Jahre“; die Bedingungen für die Rente mit 67
seien erfüllt.
Deshalb seien alle Vorwürfe, die Rente mit 67 bedeute
de facto eine Rentenkürzung, nur als „Unsinn“ zu be-
zeichnen. An dieser Stelle haben wir von der Regie-
rungskoalition den Worten des Kollegen Müntefering
nichts hinzuzufügen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich beantworte gerne die Frage des Kollegen
Schreiner.
Jawohl, auch ich lasse sie zu. – Bitte schön.
Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil ich Ihren
Ausführungen etwas hinzufügen möchte.
Gerne.
Sie wissen, dass in dem berühmten Rentenkompro-
miss der Großen Koalition zur Rente mit 67 vereinbart
worden ist, dass eine eventuelle Anhebung des Renten-
eintrittsalters im Lichte der Entwicklung des Arbeits-
marktes für Ältere geprüft werden soll.
Ich habe vor wenigen Tagen in der Saarbrücker Zei-
tung gelesen – man ist zurzeit etwas häufiger im Saar-
land –, dass Frau von der Leyen eine Untersuchung vor-
gestellt hat, die ergab, dass von den 55- bis 64-Jährigen
ganze 27 Prozent einem sozialversicherungspflichtigen,
also existenzsichernden Beschäftigungsverhältnis nach-
gehen.
Man kann eine einfache Frage stellen, Herr Kollege:
Wenn ein Viertel der Älteren einem existenzsichernden
Beschäftigungsverhältnis nachgeht, was ist dann eigent-
lich mit den anderen drei Vierteln?
Wo sind die anderen drei Viertel eigentlich? In der offe-
nen Arbeitslosigkeit? In der statistisch manipulierten Ar-
beitslosigkeit? Bei 400-Euro-Jobs? Sind sie krank, ge-
handicapt, in Hartz IV? Ja, was ist denn mit denen?
Sie können doch nicht im Ernst bestreiten, dass bei ei-
ner Beschäftigungsquote der Älteren von gut einem
Viertel die Rente mit 67, die Anhebung des Rentenein-
trittsalters, nichts anderes ist als blanker Rentenbeschiss.
Lieber Herr Kollege Schreiner, zwei Dinge dazu:Erstens. Richtig ist: Die Quote der Beschäftigten– Sie haben diese Quote angesprochen – beträgt 41 Pro-zent.
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19246 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Johannes Vogel
(C)
(B)
Das Wort hat jetzt der Kollege Vogel.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Zweitens. Wir wissen
natürlich, dass wir bei der Beschäftigung von Älteren in
diesem Land noch nicht am Ziel sind. Wir wollen diese
Beschäftigungsquote steigern. Das wollten auch Sie, als
Sie die Rente mit 67 eingeführt haben – die übrigens
nicht ab morgen gilt, sondern in den nächsten Jahren
schrittweise eingeführt wird. Das Entscheidende ist doch
der Trend: Ändert sich endlich die Einstellung zu den
Älteren in diesem Land in den Köpfen der Personaler, in
den Unternehmen, in den Betrieben? Da kann ich nur sa-
gen: In den letzten fünf Jahren ist der Anteil der 60- bis
65-Jährigen, die sozialversicherungspflichtig beschäf-
tigt sind, um 40 Prozent gestiegen. Das heißt, der Trend
ist besser, als Sie es je hoffen konnten.
Genau das hat Ihr sozialdemokratischer Kollege
Franz Müntefering gesagt. Er hat noch vor wenigen Ta-
gen im Bayerischen Rundfunk gesagt, die Entwicklung
der letzten Jahre zeige, der Arbeitsmarkt entwickele sich
dort, die Voraussetzungen für die schrittweise Einfüh-
rung der Rente mit 67 seien erfüllt.
Wenn Sie dazu nicht mehr stehen, dann erweisen Sie den
Älteren am Arbeitsmarkt einen Bärendienst, erst recht
den Jüngeren, die zukünftig eine sichere Rente bekom-
men wollen, Herr Kollege Schreiner.
Jetzt will ich trotz fortgeschrittener Zeit einen Satz
zum Antrag der Linken sagen.
– Lieber Herr Kollege Birkwald, leider kann ich mich
der Einschätzung, dass es ein guter Antrag ist, nicht an-
schließen. Ich schätze Sie persönlich sehr – das wissen
Sie –, aber ich finde: Dieser Antrag ist wirklich ausge-
machter Murks. An vielen Stellen wurde bereits darauf
hingewiesen, dass dieser Antrag schon inhaltlich nicht
zusammenpasst. Es gibt Widersprüche in diesem Antrag;
einen will ich zitieren. Sie schreiben in der Begründung:
Die Fraktion DIE LINKE. folgt einem einfachen
Grundsatz: „… gleiche Rente für gleiche Lebens-
leistung“.
Schon zwei Absätze später schreiben Sie:
Menschen mit höheren Einkommen sollen … weni-
ger erhalten, als sie eingezahlt haben.
Das kann man wollen – ich halte es für falsch –; aber wi-
dersprüchlich ist es in jedem Falle. Konsistent ist das
nicht, Herr Kollege Birkwald.
Ganz unabhängig davon, ob Ihr Antrag konsistent ist,
atmet er den Geist von „Wünsch dir was“, von „Alles für
alle, und am besten umsonst“, ohne jeden Hinweis, wie
die Solidargemeinschaft das finanzieren soll.
Sie haben eben mit dem Zitat „Man muss auch jönne
könne“ darauf hingewiesen, dass Sie aus Köln kommen.
In Köln gibt es leider auch den Satz: Et hätt noch immer
joot jejange. Als jemand, der das Rheinland sehr schätzt,
weil er jahrelang dort gelebt hat, muss ich sagen: Dieser
Satz, der die Ethik des Wünsch-dir-was ausdrückt, mag
im Rheinland eine schöne Lebenseinstellung sein; aber
er ist ganz sicher keine seriöse Grundlage, um Renten-
politik in diesem Land zu machen und Sozialsysteme zu-
kunftssicher auszurichten.
Es ist deshalb gut, dass Sie hier keine Verantwortung
für die Rente tragen, sondern dass wir uns darum küm-
mern können, die Rente zukunftssicher zu machen –
durch Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, durch ein Be-
kenntnis zu den Strukturreformen der letzten Jahre und
auch durch Reformen, die jetzt notwendig sind, um der
kommenden Gefahr von Altersarmut vorzubeugen und
um auf sie zu reagieren.
Lieber Herr Kollege Schreiner, an dieser Stelle kann
man versöhnlich sagen: Ich freue mich, dass Sie die
Sorge geäußert haben, dass bei der Betrachtung von An-
passungen im Rentensystem in den Köpfen nicht Mar-
xismus-Leninismus regieren sollte. Ich kann Ihnen für
meine Fraktion garantieren: Wir werden sicherstellen,
dass das nicht passiert; da können Sie ganz unbesorgt
sein.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Heike Brehmer.
Bitte schön, Frau Kollegin Heike Brehmer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken, wenn man Ihren Antrag liest, wird klar, dass es Ih-nen weder um die Bekämpfung von Altersarmut nochum Solidarität geht.Die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut, die be-reits von vielen Seiten erkannt wird und deren Ursachenwir bekämpfen, nutzen Sie zur gezielten Panikmache.Unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit fordern Sieden Ausbau der Rentenversicherung nach Ihren Wün-schen. Dabei vergessen Sie die gegenwärtige Situationder Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19247
Heike Brehmer
(C)
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Sozioökonomische Studien belegen, dass das Armuts-risiko für ältere Menschen in Deutschland in den letztenzehn Jahren etwa gleich geblieben ist.
Von rund 20 Millionen Senioren sind circa 3 Prozent aufGrundsicherung im Alter angewiesen. Diese Zahl hatsich seit über vier Jahren nicht erhöht.
Das ist die gegenwärtige Situation.Die christlich-liberale Koalition hat auch die Zukunftim Blick. Unsere Ministerin hat zur rechten Zeit einenRentendialog gestartet. Frau von der Leyen ist mit Ver-tretern der Rentenversicherung, Fachpolitikern, Wohl-fahrtsverbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebern ineinen Dialog getreten. Mit dieser Initiative sollen dieVereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umgesetztwerden. Der Rentendialog zielt außerdem auf einen ver-besserten Erwerbsminderungsschutz und die stärkereAnerkennung von Erziehungszeiten in der Alterssiche-rung.Keine Frage: Wir stehen in Zukunft vor verändertendemografischen Strukturen in unserer Gesellschaft. DiePolitik und die Vorschläge der Linken lösen das grund-sätzliche Problem nicht. Zukünftig werden immer mehrRentenempfängern immer weniger Beitragszahler ge-genüberstehen. Eine steuerfinanzierte Grundrente löstdieses Problem nicht.
Aussteiger und Schwarzarbeiter wären die Nutznießereiner solchen Grundrente. Das kann nicht ernsthaft IhrAnliegen sein, meine Damen und Herren.
Wer sein Leben lang hart gearbeitet hat, sollte im Al-ter etwas von seiner Rente haben. Wenn die Rentenichts, aber auch gar nichts mehr mit der geleisteten Ar-beit zu tun hat, dann ist das entwürdigend für diejenigen,die jahrzehntelang in die Rentenversicherungskasse ein-gezahlt haben.
Das hat in meinen Augen nichts mit Solidarität undGerechtigkeit zu tun.Die CDU/CSU will die Gefahr der Altersarmut ein-dämmen und verfolgt eine nachhaltige Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik. Wir wollen Menschen in den erstenArbeitsmarkt integrieren, anstatt ihnen die Chance aufWiedereingliederung zu verbauen. Der Etat des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales ist der größte Aus-gabenposten im Bundeshaushalt.Die Rente ist und bleibt ein Spiegel der eigenen le-benslangen Erwerbstätigkeit. Verehrte Kolleginnen undKollegen von der Linken, man kann ein Erwerbslebenim Nachhinein nicht umkehren oder etwa renovieren,wie Sie es vorhaben. Der CDU/CSU ist es besonderswichtig, diejenigen im Blick zu haben, die aus verschie-densten Gründen Lücken in ihren Erwerbsbiografienaufweisen, sich aber dennoch bemüht haben, einer Tätig-keit nachzugehen.In den neuen Bundesländern – ich glaube, ich binheute die Einzige, die aus den neuen Bundesländern zudiesem Thema spricht – waren nach der Wiedervereini-gung viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig. VieleBürger verloren ihren Arbeitsplatz. Verehrte Kollegenvon den Linken, das sind die Folgen der verfehlten Poli-tik der SED-Diktatur.
Der Normalbürger – daran möchte ich Sie gerne erin-nern – hätte im Durchschnitt vielleicht 340 OstmarkRente erhalten. Ich möchte auch daran erinnern, dass esdamals weder das Arbeitslosengeld noch eine Grund-sicherung gab. Die Mindestrente soll noch weit unterdem genannten Betrag gelegen haben.Heute bemühen sich viele Unternehmen in den neuenBundesländern, wettbewerbsfähig zu bleiben und ihreArbeitskräfte zu halten. Doch einen Bruttostundenlohnvon 10 Euro, wie Sie ihn fordern, können viele nochnicht zahlen. Damit würden wir ganze Unternehmens-zweige, zum Beispiel die Tourismusbranche oder denDienstleistungsbereich, nicht nur in den neuen Bundes-ländern kaputtmachen.Ich kann Ihnen ein Beispiel aus einer Veranstaltungnennen, die gestern Abend stattgefunden hat; viele Kol-legen waren anwesend. Ein Unternehmer aus den neuenBundesländern, der in der Reinigungsbranche tätig ist,hat mir gesagt: Wenn ich diesen Stundenlohn zahlenmüsste, dann müsste ich die höheren Kosten auf diePreise umlegen. Die Folge wäre: Er würde sofort seinenAuftrag verlieren, und die Arbeitnehmer würden abwan-dern.Die Bürgerinnen und Bürger in den alten und in denneuen Bundesländern sollen unserer Arbeitsmarkt- undSozialpolitik auch in Zukunft vertrauen können. Mit Ih-rem Antrag versprechen Sie den Bürgern etwas, wasnicht umsetzbar ist. Alles, was verteilt werden soll,
muss vorher hart erarbeitet werden.Auf unserem CDU-Parteitag in Leipzig haben wir unsmit deutlicher Mehrheit für die Einführung einer Lohn-untergrenze in den Bereichen ausgesprochen, in denenein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die-ser Lohn soll durch eine Kommission der Tarifpartnerfestgelegt werden und sich an den für allgemeinverbind-lich erklärten, tarifvertraglich vereinbarten Lohnunter-grenzen orientieren. Gerechter Lohn ist das Ergebnisvon Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern. Diese
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19248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Heike Brehmer
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Art der Lohnfindung gehört zu den Grundpfeilern dersozialen Marktwirtschaft.
Dass das Prinzip der Tarifautonomie seit seiner Ein-führung 1919 funktioniert, beweisen 67 000 bestehendeTarifverträge und der wirtschaftliche Erfolg unsererUnternehmen. Wir müssen mit unserer Politik die Rah-menbedingungen dafür schaffen, dass der Weg hin zumehr Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht wird. Fürden Eintritt ins spätere Erwerbsleben sind Bildung undQualifikation grundlegende Voraussetzungen.Bildung ist und bleibt ein zentrales Thema. Bildungdarf keine Frage der Herkunft oder des Einkommenssein. Es ist zwingend erforderlich, dass alle Schüler dieSchule mit einem Schulabschluss verlassen; denn das istdie Grundvoraussetzung für eine Ausbildung bzw. einStudium und den späteren Eintritt ins Erwerbsleben.
Mit der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketshaben wir circa 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichenaus Geringverdienerfamilien Leistungen für Bildung undTeilhabe ermöglicht. Das ist ein wichtiger Schritt; denndie Vermeidung von Altersarmut, wie wir sie hier disku-tieren, ist eine elementare Aufgabe unserer christlich-liberalen Politik, und die werden wir, wie im Koalitions-vertrag verankert, auch erfüllen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Brehmer. – Letzter Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kol-
lege Max Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! AmEnde dieser Debatte stelle ich fest: Wenn man denAntrag der Linken in puncto Rentensicherung für dieMenschen in unserem Lande bewerten soll, dann könnteman meinen, dass Weihnachten und Ostern, wie es dieFrau Kollegin Ferner formuliert hat, und alle weiterenschönen Tage zusammenfallen.Schon allein der Titel des Antrags ist verräterisch:„Rentenversicherung stärken und solidarisch ausbauen –Solidarische Mindestrente einführen“.
Es wird so getan, als ob die Bundesregierung keinenBeitrag zur Sicherung des Lebensstandards im Alter leis-ten würde bzw. keine Leistung erbringen würde, umArmut im Alter vorzubeugen. Das ist falsch. Das siehtman an den Ergebnissen, die wir durch unsere Wirt-schaftspolitik und auch durch unsere Arbeitsmarktpolitikerzielt haben. Allein die Tatsache, dass es seit 20061 Million weniger Hartz-IV-Bezieher und damit mehrBeitragszahler gibt, die in die Rentenversicherung ein-zahlen,
führt für die Menschen in unserem Lande zu einer besse-ren Sicherung im Alter.
Die Linken erzeugen hier ein Zerrbild – das machensie in fast jeder Plenarwoche; einmal geht es um dieRente, einmal um die Grundsicherung im Alter, dannwieder um Hartz IV und dergleichen mehr –, um unserenSozialstaat, um unsere sozialen Sicherungssysteme inder Öffentlichkeit zu diskreditieren und letztendlich dieLeistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssystemeherabzusetzen.
– Doch. – Das lassen wir Ihnen und den übrigen An-gehörigen Ihrer Fraktion nicht durchgehen, KollegeBirkwald.Letztendlich umweht diesen Antrag – darauf habenmehrere Kollegen schon hingewiesen – der Hauch desbedingungslosen Grundeinkommens.
– Doch. – Ich sage ganz bewusst: Sie wollen am Schlusseine Einheitsrente für die Menschen in unserem Lande.
– Doch, Herr Kollege Birkwald. – Verräterisch ist, dassSie für eine solidarische Mindestrente in Höhe von900 Euro plädieren. Sie nennen auch die Bedingungen,die damit verbunden sein sollen – die Kollegin Fernerhat darauf schon hingewiesen –: eine Einkommensprü-fung und eine Vermögensprüfung. Es ist nur noch einkleiner Schritt zu dem Gedanken, dass bei der Beantra-gung von Rentenleistungen grundsätzlich Vermögens-prüfungen stattzufinden haben.
– Natürlich. Das ist nach Ihrem Gusto. Das wollen Sie inZukunft haben.Es beginnt mit der Aufhebung der Beitragsbemes-sungsgrenze. Das planen Sie zumindest langfristig – sosteht es in Ihrem Antrag –, obwohl es selbst im DDR-Rentenrecht eine Beitragsbemessungsgrenze gab;
das möchte ich nur am Rande anführen. Darüber hinausist verniedlichend von einer Abflachung des Renten-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19249
Max Straubinger
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anspruchs die Rede. Sie wollen sich also vom Äquiva-lenzprinzip verabschieden.
Sie wollen die Rentenversicherung letztendlich zu einerSozialbehörde umbauen. Zum Schluss soll nur noch eineRente gezahlt werden, und die Zahlung soll davon ab-hängig sein, ob man Vermögen hat oder nicht oder
ob man im Alter bedürftig ist oder nicht. Herr KollegeBirkwald und verehrte Kolleginnen und Kollegen derLinken, das ist nicht unser Verständnis von Rentenversi-cherung und Altersabsicherung. Wir wollen die leis-tungsbezogene Altersabsicherung. Diese wird weiterhinBestand haben.
Ich bin sehr dankbar, dass vor allen Dingen die gro-ßen Fraktionen in diesem Hause, CDU/CSU, FDP, aberauch die SPD, mit Blick auf die Sicherung des Renten-systems heute die Gemeinsamkeiten herausgestellthaben. Natürlich hat das Altersversicherungssystemangesichts der demografischen Entwicklung Herausfor-derungen zu bewältigen. Ich bin dankbar, dass heutedeutlich wurde, dass allein das Vorlegen eines Wunsch-kataloges sinnlos ist; schließlich müssen die Maßnah-men von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlernfinanziert werden. Deshalb ist zu verurteilen, dass dieBeitragssatzstabilität nach Ihrer Meinung keine Rollespielen soll. Sie treten mit einem Vorschlag an, nach demdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer letztendlichgrenzenlos mit Beiträgen belastet werden sollen. Daskann es nicht sein. Das ist nicht in unserem Sinne. Dasist auch nicht im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer. Das ist nicht im Sinne der Menschen in un-serem Land.Es gab keine Alternative zu den Reformen, die wirdurchgeführt haben, insbesondere nicht zur Rente mit 67.Herr Kollege Schreiner, da Sie dem Kollegen Vogel inIhrer Zwischenfrage vorhin entgegengehalten haben,dass sich nur 27 Prozent der älteren Generation in sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissenbefinden, möchte ich hier darlegen – der Kollege Vogelsprach von gut 40 Prozent –: 44 Prozent der Älteren sinderwerbstätig.
Aber auch von den Erwerbsfähigen unter 55 Jahrensind nur rund 50 Prozent sozialversicherungspflichtigbeschäftigt. Die Forderung der SPD, 50 Prozent derErwerbstätigen müssten sozialversicherungspflichtig be-schäftigt sein, bedeutet eine indirekte Abkehr von derRente mit 67. Auch das sollte man hier verdeutlichen.
Man sollte den Bürgerinnen und Bürgern sagen, was dieUmsetzung dieser Forderung bedeutet, nämlich Bei-tragssatzerhöhungen. Anders kann das Ganze nicht aus-geglichen werden. Wir befinden uns heute allerdingsnicht in der Auseinandersetzung mit der SPD, sondernmit der Linken.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Schaaf?
Dem Kollegen Toni Schaaf kann ich natürlich keine
Zwischenfrage verwehren.
Sie gestatten seine Zwischenfrage also. Dann wird
sich Ihre Redezeit noch wesentlich verlängern.
Das freut mich besonders. Da bedanke ich mich.
Bitte schön, Kollege Schaaf.
Ich habe nur eine Frage, die Sie mit Sicherheit beant-
worten können, Herr Straubinger. Würden Sie mir recht
geben, dass die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Legis-
laturperiode einen Antrag zur Abstimmung gestellt hat,
in dem sie nicht die Abschaffung der Rente mit 67, son-
dern deren Verschiebung gefordert hat? Können Sie mir
das bestätigen?
Das ist richtig, Kollege Schaaf. Die Folge wäre aber,dass immer wieder verschoben werden muss; Sie habenfür die Verschiebung ja keine Grenzen gesetzt.
Sie haben Ihren Antrag auf Verschiebung mit der Bedin-gung verknüpft, dass erreicht wird, dass 50 Prozent derÄlteren sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.Wie soll das geschehen, Herr Kollege Schaaf, wenn be-reits bei den jüngeren Jahrgängen nur 50 Prozent sozial-versicherungspflichtig beschäftigt sind, weil Selbststän-dige und Beamte nicht mitgezählt werden? Wir habendiesen Antrag zu Recht abgelehnt.
Ein Letztes noch, Herr Kollege Birkwald. Sie habenauch dargelegt, dass die Riester-Rente ein Flop sei. Esgibt mittlerweile 15 Millionen Menschen, die einenRiester-Vertrag abgeschlossen haben. Darüber hinausgeht es hier in keiner Weise um grenzenlose Renditever-sprechen; denn die Riester-Rente ist konzipiert wie eineganz normale Rentenversicherung. Wenn jemand, der in
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19250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Max Straubinger
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der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist undbis zum 65. Lebensjahr gearbeitet hat, kurz nach Renten-eintritt leider Gottes verstirbt, so verbleibt keinerlei Ren-dite aus seinen Beiträgen in der gesetzlichen Rentenver-sicherung. Genauso ist das beim Riester-Rentner. Somitkann man hier nicht in Renditen rechnen und sagen, manmüsse 90 Jahre alt werden, um eine 4-prozentige Ren-dite zu erreichen.Das Entscheidende bei einem Versicherungsvertragist – so das Versicherungsprinzip –, dass eine lebens-lange Rente gewährleistet ist. Das ist mit den Riester-Verträgen gegeben. Die Riester-Rente ist eine zusätzli-che Versorgung. Eine zusätzliche Versorgung hat es auchin der ehemaligen DDR gegeben. Eine zusätzlicheVersorgung ist notwendig, damit der Lebensstandard deralten Menschen gesichert ist. Dies werden wir auchweiterhin unterstützen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. – Damitschließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8481 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a, d und esowie 18 auf:31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demVertrag vom 2. Dezember 2010 über die Er-richtung des Funktionalen Luftraumblocks„Europe Central“ zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland, dem Königreich Belgien, derFranzösischen Republik, dem Großherzog-tum Luxemburg, dem Königreich der Nieder-lande und der Schweizerischen Eidgenossen-schaft
– Drucksache 17/8726 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Tourismusd) Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenLay, Dr. Axel Troost, Dr. Kirsten Tackmann, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFinanzmärkte verbrauchergerecht regulieren –Finanzwächter und Finanz-TÜV einführen– Drucksache 17/8764 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Finanzausschusse) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht über die Höhe des steuerfrei zu stellen-den Existenzminimums von Erwachsenen und
– Drucksache 17/5550 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend18 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Übereinkommens vom 17. März 1992zum Schutz und zur Nutzung grenzüber-schreitender Wasserläufe und internationalerSeen– Drucksache 17/8725 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger AusschussSportausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis h sowieden Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Be-schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-che vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 32 a:a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Umsatzsteuergesetzes– Drucksache 17/8320 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/8798 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeSabine Bätzing-Lichtenthäler– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/8804 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthlePetra Merkel
Otto FrickeRoland ClausPriska Hinz
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/8798, den Gesetzent-wurf des Bundesrates auf Drucksache 17/8320 abzuleh-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19251
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
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nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Es stimmtniemand zu. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koali-tionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenund die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Das ist dieFraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf istsomit in zweiter Beratung abgelehnt. Sie wissen, dassdamit nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung entfällt.Tagesordnungspunkt 32 b bis h. Wir kommen zu denBeschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 32 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 390 zu Petitionen– Drucksache 17/8590 –Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten undLinksfraktion, also alle. Wer stimmt dagegen? – Nie-mand. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 390ist angenommen.Tagesordnungspunkt 32 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 391 zu Petitionen– Drucksache 17/8591 –Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Vorsichtshalberfrage ich noch: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-haltungen? – Auch niemand. Sammelübersicht 391 istangenommen.Tagesordnungspunkt 32 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 392 zu Petitionen– Drucksache 17/8592 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozialde-mokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion. Enthal-tungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 392ist angenommen.Tagesordnungspunkt 32 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 393 zu Petitionen– Drucksache 17/8593 –Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen des Hauses. Werstimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch nie-mand. Sammelübersicht 393 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 32 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 394 zu Petitionen– Drucksache 17/8594 –Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen mit Ausnahmeder Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Nie-mand. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Somit istSammelübersicht 394 angenommen.Tagesordnungspunkt 32 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 395 zu Petitionen– Drucksache 17/8595 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Bünd-nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemo-kraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Sam-melübersicht 395 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 32 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 396 zu Petitionen– Drucksache 17/8596 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-haltungen? – Keine. Sammelübersicht 396 ist angenom-men.Zusatzpunkt 2:Beratung des Antrags der Abgeordneten DietmarNietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerleihung des Status als EU-Beitrittskandidatan Serbien aussprechen– Drucksache 17/8763 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Fraktion der Sozial-demokraten. Wer stimmt dagegen? – Koalitionsfraktio-nen. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen undLinksfraktion. Der Antrag ist abgelehnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Verlangen derFraktion Die Linke unterbrechen wir wegen einer Frak-tionssitzung die Plenarsitzung für eine Stunde. Der Wie-derbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingel-signal angekündigt.Die Sitzung ist damit unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Metadaten/Kopzeile:
19252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(C)
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Hochqualifizierten-Richtlinie derEuropäischen Union– Drucksache 17/8682 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerabredet ist, hierzu eine Stunde zu debattieren. –Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-regierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. OleSchröder das Wort.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Unsere wirtschaftliche Stärke und damit derWohlstand jedes Einzelnen von uns werden in Zukunftnoch stärker von der Innovationskraft und dem Wissender Menschen abhängen. Gerade aus diesem Grund stelltder Fachkräftemangel auch eine Gefahr für unserenWohlstand dar.Fachkräfte werden rar in Deutschland. Das liegt nichtzuletzt an der Entwicklung unserer Geburtenrate. Ausdiesem Grund hat die Bundesregierung ein Konzept zurFachkräftesicherung vorgelegt, das im Wesentlichen dreiAnsätze verfolgt:Zum Ersten ist es wichtig, dass wir die Menschen inDeutschland dabei unterstützen, ihr Potenzial noch bes-ser zur Entfaltung zu bringen. Wir wollen bessere Rah-menbedingungen zur aktiven Teilnahme am Erwerbsle-ben schaffen. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir dieAnzahl der Schulabbrecher und derjenigen, die ihre Aus-bildung abbrechen, reduzieren und natürlich eine bessereVereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, undwir müssen dafür sorgen, dass gerade ältere Menschenbessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Zweitens. Neben diesen heimischen Fachkräften soll-ten wir auch nicht vergessen, dass es innerhalb Europas,also innerhalb des Binnenmarktes, viele gut ausgebildetejunge Menschen gibt, deren Potenzial wir hier inDeutschland ebenfalls nutzen können.
Denken wir nur an die hohe Arbeitslosigkeit von jungenMenschen, auch Akademikern, in den südlichen Mit-gliedstaaten! In Spanien beträgt die Jugendarbeitslosig-keit über 40 Prozent. Dort wird jetzt schon von einer ver-lorenen Generation gesprochen.Wir können zum Gewinn aller dafür sorgen, dassdiese Menschen hier in Deutschland eine Chance haben.Die Unternehmerinnen und Unternehmer sollten ihrenBlick auch darauf richten, diesen jungen Europäern inDeutschland die Möglichkeit zu bieten, eine Ausbildungzu machen.
Aufgrund der kulturellen Nähe haben wir hier natürlichauch weniger Probleme im Bereich der Integration.Als dritte Möglichkeit sollten wir schließlich auch aufdas Potenzial der Menschen zurückgreifen, deren Wis-sen auf der ganzen Welt gefragt ist.Wir wollen heute darüber sprechen, wie unser Landfür die hochqualifizierten Arbeitskräfte aus Staaten au-ßerhalb Europas attraktiver werden kann, die sich hierintegrieren möchten und hier arbeiten wollen.
Dazu ist es notwendig, dass wir uns in diese Menschenhineinversetzen, die ihr Glück woanders suchen und be-reit sind, in einem anderen Land zu arbeiten.Welche Erwartungen hat ein Hochqualifizierter? Wel-che Erwartungen hätte jeder Einzelne von uns? Wir sindja auch Hochqualifizierte, denke ich, wenn ich in dieRunde blicke. Welche Erwartungen hätte jeder Einzelnevon Ihnen an seinen künftigen Arbeitgeber und an dieLebensbedingungen vor Ort? Ginge es Ihnen um Gehalt,Vertragslaufzeiten, Aufstiegschancen und die Erlernbar-keit der Sprache oder vielleicht um das Klima? Viel-leicht ginge es Ihnen auch nur um Freizeitmöglichkeiten,was ja auch wichtig ist. Sicherlich wäre es Ihnen wich-tig, ob Ihre Familie mit nach Deutschland kommen kann,ob Ihr Ehepartner ebenfalls arbeiten darf oder ob Sie be-reits Menschen im Zielland kennen.
Welche Unterstützung würden Sie sich wünschen, wennSie in ein anderes Land gehen? „Bin ich dort willkom-men?“, würden Sie sich fragen.
Wir sprechen von einer Willkommenskultur, die für einLand notwendig ist, um attraktiv zu sein. Kurzum: Wo-von würden Sie Ihre Entscheidung abhängig machen?Unter den von mir genannten Faktoren – sie warenungeordnet – gibt es viele, die wir als Gesetzgeber be-rücksichtigen müssen, die wir aber nicht selbst beein-flussen können. Das gilt selbstverständlich für das Klimaund die geografische Lage. Andere Faktoren wie das Ge-halt oder die Arbeitsbedingungen bestimmen in ersterLinie die Unternehmen zusammen mit den Gewerk-schaften.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19253
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Wir können und müssen als Gesetzgeber aber regeln,unter welchen Voraussetzungen jemand kommen kann,und damit die Entscheidung eines Zuwanderers positivoder negativ beeinflussen. Genau deshalb führen wir diesogenannte Bluecard EU, die Blaue Karte EU, ein. Sierichtet sich an Hochqualifizierte. Zuwanderung in dieSozialsysteme wollen wir damit ausschließen.Wir verlangen ein abgeschlossenes Hochschulstu-dium. Die Gehaltsuntergrenze von knapp 45 000 Euromacht es auch für hochqualifizierte Berufseinsteiger in-teressant. In sogenannten Mangelberufen, in denen wirbesonders dringend Fachkräfte brauchen, zum BeispielÄrzte oder Ingenieure, liegt die Gehaltsuntergrenze beirund 35 000 Euro.Zu den entscheidenden Bedingungen gehören aberauch die Perspektiven für Ehepartner und Familie. Ehe-gatten von Inhabern der Blauen Karte dürfen ebenfallsvon Anfang an arbeiten. Auf den Nachweis von Sprach-kenntnissen verzichten wir. Denn wir gehen davon aus,dass diese Hochqualifizierten das selbst in die Hand neh-men werden, weil sie hier von Anfang an aktiv am Ar-beitsleben teilnehmen.Die Blaue Karte EU rundet damit unser Gesamtkon-zept der Arbeitsmigration ab. Sie bettet sich ein zwi-schen dem Aufenthaltstitel für geringer Qualifizierte, de-nen wir nur einen befristeten Aufenthaltstitel gewähren,und dem für Höchstqualifizierte, die ab dem ersten Tag,an dem sie bei uns sind, einen dauerhaften Aufenthaltsti-tel, also eine Niederlassungserlaubnis, erhalten.Außerhalb der Blauen Karte schaffen wir weitere Vo-raussetzungen, um Migranten, die bei uns ausgebildetwurden, auch hier zu halten.
Denn es macht keinen Sinn, in die Ausbildung dieserMenschen zu investieren, um sie danach gleich wiedernach Hause zu schicken. So haben Absolventen deut-scher Hochschulen ein Jahr lang Zeit für die Arbeits-platzsuche. Sie dürfen während dieser Zeit zum Beispieldurch Aushilfsjobs ihren Lebensunterhalt verdienen. Ichdenke dabei beispielsweise an einen Biologen, der seinDiplomstudium abgeschlossen hat und für den Zeitraumder Arbeitsplatzsuche, nämlich ein Jahr lang, weiter indem Job bleiben darf, in dem er als Student gearbeitethat, bis er eine adäquate Beschäftigung gefunden hat.Ein Daueraufenthaltsrecht gibt es bereits nach zweiJahren, wenn sie sich in ihrem erlernten Beruf etablierthaben.In Deutschland spielt das duale Ausbildungssystemeine besondere Rolle für unsere Wirtschaft. Wir wissen:Ein in Deutschland ausgebildeter Geselle kann häufigmehr als viele Absolventen von Hochschulen im Aus-land. Daher ist es folgerichtig, dass wir dafür sorgen,dass auch Ausländer, die hier bei uns eine Berufsausbil-dung abgeschlossen haben, bleiben dürfen, um in ihremerlernten Beruf zu arbeiten.
Damit werden gerade die Branchen und Regionen ge-stärkt, die schon jetzt Probleme haben, Ausbildungs-plätze zu besetzen. Wir senden damit klare Signale anambitionierte internationale Fachkräfte außerhalb Euro-pas. Die Botschaft lautet: Ihr werdet gebraucht, ihr seidmit euren Angehörigen willkommen, und ihr habt eineZukunft in Deutschland! Wir wollen weltoffen und at-traktiv für die klügsten Köpfe auf der Welt sein.Ich möchte mit einem Zitat der Bundeskanzlerinschließen, die anlässlich der Gedenkveranstaltung am23. Februar 2012 Folgendes zur Geschichte unseres Lan-des sagte – ich zitiere –:Denn es ist auch eine Geschichte der Auswande-rung und der Zuwanderung. So wurden Brücken inalle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdanktDeutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffen-heit und seiner Neugier auf andere.Ich finde, das fasst gut zusammen, was wir vorhaben.Ich bin dankbar für die zahlreichen konstruktiven An-regungen vieler Beteiligter, insbesondere der Länder. Ichbin davon überzeugt, dass hiervon im parlamentarischenVerfahren noch einiges bedacht und aufgenommen wer-den wird und dass wir am Ende zu einem hervorragen-den Ergebnis kommen werden, das unser Land für Men-schen, die bei uns arbeiten wollen, zwar sicherlich nichtattraktiver machen kann, mit dem aber bürokratischeHürden, die es bisher gab, abgebaut werden.
Daniela Kolbe hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Von der Bundesregierung liegt heute einGesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Bluecard-Richtli-nie vor. Das ist zunächst einmal sehr begrüßenswert; im-merhin sind wir mit der Umsetzung schon ein wenig inVerzug.Es ist natürlich sinnvoll, den Zuzug von Hochqualifi-zierten aus Drittstaaten in Europa einheitlich zu gestal-ten. Unabhängig von dieser Debatte wäre es sinnvollund, ich denke, auch notwendig, in diesem Hohen Hausenoch viel mehr darüber zu sprechen, wie qualifizierteFachkräfte nach Deutschland zuwandern können und anwelchen der verschiedenen Stellschrauben wir diesbe-züglich drehen wollen.Bei prinzipieller Übereinstimmung, dass das Zielrichtig und wichtig ist, bleiben wir bei einer ganz deutli-chen Kritik an Ihrer Umsetzung. Denn Ihr Gesetzent-wurf beinhaltet nur ein einziges Rezept. Es besteht, kurzzusammengefasst, darin, die Mindestverdiensthöhen fürqualifizierte Zuwanderer abzusenken.
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19254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Die erforderliche Höhe des Jahresgehaltes bei einem Ar-beitsplatz, den ein Zuwanderer in Deutschland antretenmöchte, soll gering sein – darüber werden wir uns nochstreiten können –; das ist auch das Mantra der Arbeitge-ber. An manchen Stellen finden wir das durchaus richtig.Bei Ihrem Gesetzentwurf haben wir aber an einer Stellepolitisch größte Bedenken.Ich habe den Gesetzentwurf gelesen. Die Mindestver-diensthöhe scheint die einzige Schraube zu sein, an derSie drehen wollen; Sie wollen sie absenken. Das gehtuns auf der einen Seite zu weit, und zwar aus formalenGründen, weil Sie aus unserer Sicht das durch die Richt-linie erlaubte Maß unterschreiten – darauf komme ichgleich noch zurück – und weil Sie die Grenze bei denMangelberufen so weit absenken, dass wir es für poli-tisch äußerst bedenklich halten. Auf der anderen Seitegeht es uns nicht weit genug, weil Sie verschiedene an-dere Stellschrauben bei der Zuwanderung außer Achtlassen und nicht nutzen.Was meine ich, wenn ich sage, dass Sie über das er-laubte Maß hinausgehen? Was steht in der Richtlinie, dieSie hier umsetzen? Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie fordertein Mindestgehalt von mindestens dem Anderthalbfa-chen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts in dembetreffenden Mitgliedstaat. Das durchschnittliche Jah-resgehalt in Deutschland beträgt offiziell 31 144 Euro.Das Anderthalbfache hiervon sind 46 716 Euro. In Ih-rem Gesetzentwurf wird das Mindestgehalt anders fest-gesetzt. Das ist legitim; das kann jede Regierungmachen, wie sie möchte. Sie setzen zwei Drittel derBeitragsbemessungsgrenze an und kommen auf44 800 Euro. Dieser Betrag liegt um fast 2 000 Euro un-ter der Grenze, die von Europa als Minimum angegebenworden ist.Noch gravierender ist diese Unterschreitung, wennwir uns den Bereich anschauen, der in Art. 5 Abs. 5 derRichtlinie behandelt wird. Dort geht es um Mangelbe-rufe. Die Richtlinie besagt, dass man die Verdienst-grenze bei Mangelberufen noch weiter senken kann,jedoch maximal bis auf das 1,2-Fache des durchschnittli-chen Jahresbruttogehalts. Für Deutschland sind das etwa37 400 Euro. In Ihrem Gesetzentwurf legen Sie alsGrenze die Hälfte der Beitragsbemessungsgrenze fest.Das sind 33 600 Euro. Das liegt um fast 4 000 Euro un-ter der von Europa festgelegten Untergrenze. Wenn mansich die Verdienstzahlen, die für 2012 vorab berechnetworden sind – darin sind die Lohnsteigerungen eingear-beitet –, anschaut, dann stellt man fest, dass Ihr Wert so-gar fast 5 000 Euro unter dem Schwellenwert liegt, dendie EU vorgibt. Ich persönlich halte das, was Sie uns hiervorlegen, für europarechtswidrig. Ich denke, dass wirdarüber im Ausschuss noch einmal sprechen sollten. Siewollen sicher nicht, dass wir Gesetzentwürfe verabschie-den, die europarechtswidrig sind.
Wir halten die Gehaltsgrenze für Mangelberufe imÜbrigen auch politisch für äußerst kritikwürdig. DieRichtlinie erlaubt die Absenkung bis auf das 1,2-Fache;sie verpflichtet aber nicht dazu. Sie schöpfen mit der Ab-senkung das Maximum aus; Sie unterschreiten das Zu-lässige sogar deutlich, wie ich eben ausgeführt habe. Ausunserer Sicht birgt das die Gefahr des Lohndumpings inhochqualifizierten Berufen. Wir reden hier über Inge-nieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler.Schauen Sie sich einmal an, wie hoch das Einstiegsge-halt eines Akademikers ist. Nach Entgeltgruppe 13Stufe 1 TVöD liegt das Gehalt eines Berufseinsteigersbei 39 200 Euro. Aus unserer Sicht besteht kein Bedarf,bei Mangelberufen die Gehaltsschraube derart nach un-ten zu drehen.Im Übrigen – das ist ein weiterer Punkt – bietet dasAufenthaltsgesetz noch ganz andere Möglichkeiten,etwa bei der Vorrangprüfung. Die Vorrangprüfung ist fürviele Unternehmen, die qualifizierte Zuwanderer nachDeutschland holen wollen – das ist schon jetzt möglich,ohne die Gehaltsschwellen, von denen hier die Rede ist –,genau das Problem. Sie ist für viele Unternehmen unkal-kulierbar und stellt ein großes Hindernis dar. Das wäreein Punkt, über den politisch ins Gespräch zu kommen,ich mir wünschen würde. Dieses Hindernis müssen wirbeseitigen.
Sie haben angesprochen, dass es Punkte gibt, die überdie Umsetzung der Richtlinie hinausgehen. Dazu werdenKollegen von mir noch etwas ausführen. Mir ist aufge-fallen, dass Sie an einer weiteren Stelle an der Gehalts-schraube drehen, und zwar im Bereich der besondershoch Qualifizierten, die sofort eine Niederlassungser-laubnis bekommen. Die Gehaltsschwelle soll jetzt auf48 000 Euro gesenkt werden. Das halten wir für poli-tisch unproblematisch. Das kann man so machen. Aller-dings ist das eigentlich eine Ausnahmeregelung für be-sonders hoch Qualifizierte gewesen. Ursprünglich waren84 000 Euro die Gehaltsgrenze; jetzt sind wir bei48 000 Euro. Die Frage ist, ob das der Hebel ist, den wiransetzen sollten, da hier die Niederlassungserlaubnis so-fort und ohne eine Vorrangprüfung erteilt wird.Wir sehen ganz viele andere Stellschrauben, an denenman drehen könnte, sei es bei der Frage der Vorrangprü-fung in § 18 des Aufenthaltsgesetzes oder sei es bei derFrage der Studierenden; auch da würden wir an anderenStellschrauben drehen. Die Frage des Punktesystemshalten wir für nicht ausdiskutiert. Das ist für uns einedurchaus überlegenswerte Idee.
Wir legen deshalb einen Antrag vor, um Ihnen zu zeigen,welche Stellschrauben es noch gibt. Ich hoffe, dass wirdarüber gemeinsam im Ausschuss beraten können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19255
Daniela Kolbe
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In diesem Sinne: Diesen Gesetzentwurf, den Sie hiervorgelegt haben, halten wir für nicht zustimmungsfähig.
Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-tion.
Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eineeffiziente und interessengeleitete Steuerung der Zuwan-derung ist das Gebot der Stunde. Statt durch bürokrati-sche Hemmnisse wollen wir die Zuwanderung sinnvollund interessengeleitet steuern. Eine bessere Zuwande-rungssteuerung ist nicht nur Bestandteil des Koalitions-vertrages; sie wird zur Sicherung der Wettbewerbsfähig-keit Deutschlands von CDU/CSU und FDP Schritt fürSchritt in die Tat umgesetzt. Die EU-Richtlinie zurHochqualifiziertenzuwanderung und zur Blauen Kartebietet jetzt einen neuen Anlass, den nächsten, weiter ge-henden Schritt zur Umsetzung dieses Konzepts der Ko-alition zu tun.Die Einstellung von ausländischen Hochqualifiziertenund Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Ar-beitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unsererUnternehmen wichtig. Deutschland braucht qualifizierteFachkräfte, Forscher und Entwickler und auch Unter-nehmer aus dem Ausland.
Dabei stehen – auch das darf man nicht vergessen –die EU-Staaten in einem starken Wettbewerb um dieklügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb nehmen wir mit ei-ner verbesserten Zuwanderungssteuerung auch an. Des-halb müssen ergänzende Zuwanderungsregelungen inden Mitgliedstaaten geschaffen werden; sie dürfen nichtnur in Brüssel erarbeitet werden. Das gewährleisten dieRichtlinie und auch die von uns vorgeschlagene Umset-zung. Die EU-Richtlinie betrifft viele Bereiche des Auf-enthaltsrechts. Den darüber hinausgehenden Anpas-sungsbedarf wollen wir konstruktiv und auch progressivnutzen.
Wir wollen die Hochqualifiziertenzuwanderung ent-bürokratisieren, beschleunigen und auch vereinfachen.Wir wollen zugleich zusätzliche Integrationsanreizeschaffen. Wir wollen über die eigentliche Richtlinienum-setzung hinaus auch das deutsche Zuwanderungsrechtmodernisieren und den Bedürfnissen einer global ver-netzten Gesellschaft besser anpassen.
Dabei werden wir darauf achten, dass die Öffnung fürHochqualifizierte nicht missbraucht wird oder die Torezu einem ruinösen Niedriglohnwettbewerb öffnet.Die Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtliniezielt auf einen gemeinsamen Aufenthaltstitel für Hoch-qualifizierte auf EU-Ebene ab, der attraktiv ausgestaltetist, um die Migration von Hochqualifizierten zu erleich-tern und zu fördern. Zu diesem Zweck wird ein neuerAufenthaltstitel „Blaue Karte EU“ für Ausländer mitakademischem oder diesem gleichwertigen Qualifika-tionsniveau und einem bestimmten Mindestgehalt in dieBestimmungen des Aufenthaltsgesetzes aufgenommen.Darüber hinaus sind Begleit- und Folgeregelungen, ins-besondere in Bezug auf den Arbeitsmarktzugang, denArbeitsplatzwechsel und den Familiennachzug, notwen-dig.Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf dientaber nicht nur der Umsetzung der Richtlinie. Zusätzlichzielt der Gesetzentwurf darauf ab, die Möglichkeiten zurBeschäftigungsaufnahme ausländischer Absolventendeutscher Hochschulen nach dem Studienabschluss zuverbessern und den dauerhaften Zuzug von hochqualifi-zierten Fachkräften, für die auf dem deutschen Arbeits-markt ein großer Bedarf besteht, zu erleichtern. Um dendauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten nachDeutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die Ge-haltsschwelle, und zwar ziemlich deutlich. Wir haben inder Koalition noch weitere Vorschläge erarbeitet, die wirim Ausschuss in den vorliegenden Gesetzentwurf ein-fließen lassen werden.Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit darge-stellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstrukti-ven und fortschrittlichen Verhandlungsprozess in der Zu-wanderungspolitik gefunden.
Diese Koalition setzt verhältnismäßig leise und unaufge-regt einen Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik um:Wir fördern und fordern, ohne ideologische Scheuklap-pen, integrations- und arbeitsmarktorientiert.
Migration und Integration stellen Deutschland vorneue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neueChancen. Die Koalition setzt Zug um Zug eine konse-quente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschlandund eine aktive Integrationspolitik um.Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, dienicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leutemacht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: fürdie, die eben nicht nur „territorial“ nach Deutschlandkommen, sondern auch in unserem Land mit seiner Kul-tur sowie unserer Gesellschaft mit ihren Grundwertenankommen wollen.Wir halten es im Gegensatz zu den Grünen oder Lin-ken nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondernwollen Anreize dafür setzen. Wir wollen fördern undfordern.
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19256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Hartfrid Wolff
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Darüber hinaus halten wir Zuwanderer nicht für bemit-leidenswerte und unfähige Menschen, sondern für Leis-tungsträger, deren Anstrengungen für ein Miteinanderauch honoriert werden.Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungenmuss Deutschland in der Integrationspolitik endlich po-sitiv denken. Unsere Gesellschaft, die ganze Nation wirddurch Zuwanderung bereichert. Wissen ist längst inter-national. Forschung und Entwicklung machen nicht vorGrenzen halt, und die deutsche Wirtschaft ist auf allenMärkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfteist schon längst international.Zuwanderung von Hochqualifizierten schafft Arbeits-plätze und erweitert den gesellschaftlichen Horizont.Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der christ-lich-liberalen Bundesregierung diese Veränderungen –ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie wirschon gehört haben, hat die Bundesregierung hier einenGesetzentwurf zur Umsetzung der Bluecard-Richtlinieder Europäischen Union vorgelegt. Geregelt werden solldamit die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeits-kräften.Diese Richtlinie ist im Übrigen seit zweieinhalb Jah-ren in Kraft und hätte seit Juni 2011 in nationales Rechtumgesetzt werden müssen. Warum das so lange gedauerthat, ist uns völlig unklar.
Denn nach der Gesetzesbegründung werden allenfalls3 500 Menschen pro Jahr einen neuen Aufenthaltstiteldurch diese Regelung erhalten. Darunter werden vieleMenschen sein, die bereits nach den geltenden Regelun-gen für Hochqualifizierte einwandern konnten. Trotzdieser geringen Erwartungen an die Zahl der Einwande-rungswilligen spricht der Gesetzentwurf von einemFachkräftemangel in Deutschland.Die Bundesregierung hat im vergangenen Bundes-haushalt die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit um900 Millionen Euro und die Beteiligung des Bundes anden Kosten der Arbeitsförderung um 800 Millionen Eurogekürzt.
Die Kürzung bei den Arbeitsmarktinstrumenten beträgtrund 25 Prozent. Sie beklagen also einerseits Fachkräfte-mangel und streichen andererseits Mittel für Qualifizie-rungsmaßnahmen. Das ist absolut absurd.
Meine Damen und Herren, seit Jahren wird von Un-ternehmen und Politikern der angeblich drohende Fach-kräftemangel beklagt. Zugleich gibt Deutschland seitJahren weniger Geld für Ausbildung aus als der Durch-schnitt der anderen OECD-Länder. Das Ergebnis spie-gelt sich in vergleichsweise geringen Absolventenzahlenwider: Nur ein Viertel eines Jahrgangs hat in den vergan-genen Jahren einen Hochschulabschluss erworben. Inden OECD-Staaten waren es fast 40 Prozent.An dieser Stelle müsste die Regierung ansetzen. DasBildungssystem in Deutschland muss für Menschen ausarmen Familien durchlässiger werden.
Statt früher Selektion in unterschiedliche Schultypenbrauchen wir eine bedarfsorientierte Bildungsförderung.Doch stattdessen setzen Union und FDP in den Ländernauf den Erhalt von Hauptschulen und auf Studiengebüh-ren an den Universitäten.
Sie selbst produzieren den Fachkräftemangel, den Sievorgeblich bekämpfen wollen.Meine Damen und Herren, die Diskussion um denFachkräftemangel ist ein durchsichtiges Manöver.
So wollen Unternehmen durch den Zugriff auf ein höhe-res Arbeitskräftepotenzial den Druck auf die inländi-schen Löhne und Gehälter verstärken. Offensichtlichsind die deutschen Unternehmer nicht gewillt, den hierausgebildeten Fachkräften ausreichende Vergütungenund Arbeitsbedingungen zu bieten.
Besonders absurd ist es,
wie Sie versuchen, Fachkräfte zu werben. Alle Fachleutesagen im Übrigen: Die Hochqualifizierten kommennicht, weil sie sich in Deutschland nicht willkommen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19257
Ulla Jelpke
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fühlen. Das ist auch kein Wunder. Schließlich machenmordende Nazis auch im Ausland Schlagzeilen.
Es sind auch die komplizierten und restriktiven auf-enthaltsrechtlichen Bestimmungen, die Ausländer vonder Einwanderung nach Deutschland abhalten. Da setztdie Koalition mit diesem Gesetzentwurf sogar noch ei-nen drauf. Selbst für gebildete Deutsche ist dieses auf-enthaltsrechtliche Kauderwelsch nur schwer nachvoll-ziehbar. Statt neuer Regelungen im Detail brauchen wireine klare Verschlankung des gesamten Aufenthalts-rechts.Die Linke sagt: Wer Fachkräfte haben will, der musssie ausbilden und sie gemäß ihrer Qualifikation bezah-len.
Wenn es wirklich einen Fachkräftemangel in Deutsch-land gibt, dann ist er hausgemacht. Was Sie mit derFachkräfteanwerbung machen, ist nichts anderes, als dieBildungs- und Ausbildungskosten auf andere Länderdieser Welt abzuwälzen. Das ist nichts anderes als neo-koloniale Ausbeutung.
– Ja, so ist es.
Daran wird auch die Bestimmung nichts ändern, wo-nach das Arbeitsministerium durch RechtsverordnungBerufe bestimmen kann – ich zitiere –,in denen für Angehörige bestimmter Staaten die Er-teilung einer Blauen Karte EU zu versagen ist, weilim Herkunftsland ein Mangel an qualifizierten Ar-beitnehmern in diesen Berufsgruppen besteht.Das ist reine Augenwischerei. Denn Fakt ist: In derRealität werden sich interessierte Unternehmen ihre Be-schäftigten dann eben auf anderer Rechtsgrundlage ho-len können.Wer für die Menschen in der Bundesrepublik etwastun will, muss endlich eine Ausbildungsplatzumlage undeinen gesetzlichen Mindestlohn einführen.
Das vorhandene Geld muss in Ausbildungs-, Bildungs-und Arbeitsmarktförderung fließen statt in milliarden-schwere Bankenrettungspakete. Wer etwas für die Men-schen in den sogenannten Entwicklungsländern tun will,muss in die soziale, ökologische und demokratische Ent-wicklung dieser Länder investieren – und darf nicht nochdie Leute, die dort qualifiziert wurden, abziehen – undnicht in Kriege und eine immer effektivere AbschottungDeutschlands.Herzlichen Dank.
Memet Kilic hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe geschätzte Frau Kollegin Jelpke, ichdachte eigentlich, dass Ihre Partei die Grenzen aufhebenmöchte. Ich stelle aber fest, dass Sie gegen die Einwan-derung von Hochqualifizierten sind. Ich weiß nicht, obSie Deutschland unter eine Glocke stellen und luftdichtverschließen wollen. Das ist sicherlich nicht im Interesseder Migranten.
Mit der Blauen Karte setzt die Bundesregierung nurhalbherzig und sehr verspätet die Vorgaben der EU um.Die Frist für ihre Umsetzung war der 19. Juni letztenJahres. Wer so lahm arbeitet wie die Bundesregierung,
der soll sich nicht wundern, wenn der Zug schon abge-fahren ist. Laut dem aktuellen Gutachten der Experten-kommission Forschung und Innovation fehlen Deutsch-land in Kürze Zehntausende Akademiker. Dabei habenSie, Frau Bundeskanzlerin, einst die Bildungsrepublikausgerufen. Was ist davon übrig geblieben? Erfolge sindausgeblieben; die Alarmglocken läuten. Wenn nicht radi-kal gegengesteuert wird,
gehen uns die Akademiker und Fachkräfte aus.Die Bundesregierung scheut aber den notwendigenSystemwechsel. Sie hat Angst vor ihrem eigenen Schat-ten. Sie sorgt nicht für ein offenes und transparentes Ver-fahren, sondern weitet unbeholfen die Ausnahmen zumAnwerbestopp immer weiter aus. Um für qualifizierteEinwanderer interessant zu werden, muss sich das politi-sche und gesellschaftliche Klima ändern.
Grundlagen dafür sind: erstens eine sichere aufenthalts-rechtliche Perspektive, zweitens ein einladendes Einbür-gerungsrecht und drittens das effektive Eintreten gegenRassismus.
– Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregierungweit mehr hinter den Anforderungen zurück, als Sie ver-muten, Herr Kollege.
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19258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Memet Kilic
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Die Richtlinie der EU sieht die Möglichkeit vor, dieBlaue Karte auch auf Personen mit qualifizierter Berufs-ausbildung und mit fünfjähriger Berufserfahrung auszu-weiten. In dem Entwurf der Bundesregierung findet sichkeine Spur davon. Der Gesetzentwurf ist ungenügend,
juristisch mangelhaft und wird selbst innerhalb der Ko-alitionsfraktionen als rechtlich unhaltbar bewertet. Darinwird vorgesehen, dass Einwanderer ihr Aufenthaltsrechtwieder verlieren, wenn sie innerhalb der ersten dreiJahre Sozialleistungen beziehen.
Eine Niederlassungserlaubnis nur unter Vorbehalt zu er-teilen, verstößt gegen eine Säule unseres Zuwanderungs-rechts.
Nach dem Grundsatz des deutschen Rechts werden dieVoraussetzungen eines Verwaltungsaktes bei der Ertei-lung geprüft. Daher darf eine Niederlassungserlaubnisaufgrund der nachträglichen Nichterfüllung der Lebens-unterhaltssicherung nicht zurückgenommen werden. Dasmuss auch der Union klar sein. So hat der Fraktionsvizeder Union Günter Krings erklärt,
dass eine unbefristete Niederlassungserlaubnis nicht miteinem Vorbehalt gewährt werden könne.Äußerungen der CSU im Sinne einer Einwanderungin die Sozialsysteme sind nichts anderes als populisti-sche Stammtischpolitik, liebe Freundinnen und Freunde.Solche Äußerungen tragen Mitschuld daran, dassDeutschland das Image einer geschlossenen Gesellschafthat. Das Signal an die ausländischen Fachkräfte ist ziem-lich negativ. Darum ist zu befürchten, dass sie weiter ei-nen großen Bogen um unser Land machen.
Deshalb verdient die Bundesregierung eindeutig eineRote Karte.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. DieBlaue Karte reicht nicht aus, um die klugen Köpfe ausdem Ausland nach Deutschland zu holen. Von der Visa-vergabe in den Konsulaten bis zu den Ausländerbehör-den brauchen wir dringend einen Wandel.
Viele an einem Studium Interessierte aus dem Auslandbekommen von deutschen Hochschulen eine Zusage, je-doch scheitert die Einwanderung an den Konsulaten.Manche Konsulate denken, dass sie die Studierfähigkeiteines Bewerbers besser bewerten können als unsere Uni-versitäten. Das ist hirnrissig.
Die restriktive Visavergabe in den Konsulaten muss ge-ändert werden.Ein großes Potenzial für uns sind die ausländischenStudienabsolventen in Deutschland, was auch Sie betonthaben, Herr Schröder. Sie können gut Deutsch und ha-ben sich hier eingelebt. Deutschland kann sie aber nichthalten. Ein Bericht der OECD legt dar, dass nur etwa je-der vierte der internationalen Studierenden nach Ab-schluss seines Studiums in Deutschland bleibt.Der erste Besuch in der Ausländerbehörde ist einegroße Herausforderung für die frisch Eingewanderten.Ich spreche hier von meinen Erlebnissen und von denErlebnissen von Menschen, denen es heute immer nochso geht. Dort erwartet sie ein Bürokratiemonster: diestrengen Regeln unseres Zuwanderungsgesetzes. Des-halb muss die Bürokratie in den Ausländerbehörden ab-gebaut und das Personal interkulturell geschult werden.
In der letzten Sitzungswoche hat die Bundesregierungerneut gezeigt, dass sie ein modernes Einbürgerungsge-setz scheut. Wir Grüne plädieren für eine einladendeEinwanderungspolitik für ausländische Fachkräfte. Da-für brauchen wir ein modernes und transparentes Aus-wahlverfahren mit einem Punktesystem. Dafür setzenwir uns schon seit Jahren ein. Selbstverständlich müssendie Möglichkeiten für eine humanitäre Einwanderungweiterhin vorhanden sein. Die Einwanderung von Fach-kräften wird für die politischen Parteien ein Lackmus-test.Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes undmodernes Deutschland in einer globalisierten Welt seinwollen. Ich wünsche mir, dass Einwanderinnen und Ein-wanderer willkommen geheißen und als gleichberech-tigte Bürger anerkannt werden. Einwanderinnen undEinwanderer müssen als Teil der Gesellschaft akzeptiertwerden. Die Union muss ihre ideologischen Scheuklap-pen endlich absetzen
und mit Vernunft das Zuwanderungsgesetz grundlegendreformieren.Vielen herzlichen Dank für Ihre Geduld.
Nachdem wir uns hier ein bisschen mit der Exegesedes Wortes „hirnrissig“ beschäftigt haben und Sie, HerrKilic, eine Sache und nicht eine Person als solche be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19259
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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zeichnet haben, waren wir gemeinsam der Meinung,dass es möglich ist, dieses Wort hier zu verwenden.
Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Hans-PeterUhl.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Wir diskutieren heute über einen Gesetzent-wurf der Bundesregierung; wir befinden uns in der ers-ten Lesung über die Umsetzung der Richtlinie für Hoch-qualifizierte aus Drittstaaten. Herr Kollege Kilic, Siemeinten, Sie müssten der Bundesregierung dieserhalbendie Rote Karte zeigen. Ich empfehle, dies besser nicht zutun,
weil wir Sie vielleicht noch überraschen werden. Mögli-cherweise können wir diesen Gesetzentwurf im Laufedes Gesetzgebungsverfahrens noch umändern.
Es gibt ja den bekannten Spruch Ihres ehemaligen Frak-tionskollegen: Kein Gesetz geht so aus dem Parlamentraus, wie es reingekommen ist. Das gilt auf jeden Fallfür dieses Gesetz.
– So ist es. – Das gilt auch für dieses Gesetz, und das istgut so. Wir kennen unser Selbstbewusstsein. Selbst derParlamentarische Staatssekretär Kampeter kann sich gutan die Zeit erinnern, in der er noch nicht in der Regie-rung war und selbstbewusst auf diesem Recht bestandenhat.
Lieber Herr Kilic, wir sollten bitte diese alten Schall-platten nicht immer wieder auflegen, dass jeder Auslän-der, wenn er eine Ausländerbehörde in irgendeiner Kom-mune Deutschlands betritt, mit irgendwelchen demüti-genden Verhaltensmustern konfrontiert wird. Erstens istdem nicht so, und zweitens könnten wir das Ganze,wenn es denn so wäre, nicht mit Paragrafen ändern. Esist vielmehr eine Frage des zwischenmenschlichen Um-gangs in einer Behörde. Das muss die dortige Behörden-leitung erledigen, wir können es von hier aus nicht än-dern.
Wir werden durch die Umsetzung der Bluecard-Richtlinie sehr viel zur Verbesserung im Bereich Ar-beitskräftemangel beitragen, wobei wir wissen, dass die-ses Problem nicht allein durch Zuwanderung zu lösenist. Uns ist bewusst, dass wir uns zunächst einmal – dahaben Sie vollkommen recht, Frau Kolbe – Gedankenum die Arbeitslosen in Deutschland machen müssen.
Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Arbeitslosen beiuns in Deutschland in Lohn und Brot bringen. Es gab– da wird auch die Opposition zustimmen müssen –noch nie so wenige Arbeitslose wie in diesem Februar;
das ist die niedrigste Zahl seit 21 Jahren. 3,1 MillionenArbeitslose – in 21 Jahren hat es so etwas nicht gegeben.Und dennoch müssen wir uns um diese 3,1 MillionenArbeitslosen kümmern.Weiterhin müssen wir das Fachkräftepotenzial stär-ken, indem wir junge Menschen gut ausbilden und dieKenntnisse bei den älteren Menschen reaktivieren. DerZugang zum Arbeitsmarkt ist für diejenigen Frauen zuerleichtern, die zugleich erziehende Funktionen haben.Außerdem sollten wir uns noch mehr um die Menschenmit Migrationshintergrund kümmern, die in Zeiten zuuns gekommen sind, als die Zuwanderung noch so gutwie nicht geregelt war.Genau das ist ja unser Problem: Jahrzehntelang wardie Zuwanderung weitgehend ungeregelt.
Damals kamen sehr viele im Grunde überwiegend un-qualifizierte Menschen zu uns, insbesondere durch denFamiliennachzug,
und wir gingen davon aus, dass sich die Integrationschon irgendwie von selbst erledigt. Wir haben also billi-gend in Kauf genommen, dass Integration zur Glückssa-che wurde. Das war ein schwerer Fehler, ausgeübt durchUnterlassung, und zwar jahrzehntelang. Dafür sind wiralle mitverantwortlich.Das müssen wir jetzt reparieren. Nachholende Inte-gration nennt man das. Das kostet Millionen. Deshalbsollte niemand erzählen, dass jede Form von Migrationfür den Staat ein Geschäft sei. Für den Staat ist das nie-mals ein Geschäft. Allenfalls der eine oder andere Ar-beitgeber kann ein Geschäft mit willigen und billigenausländischen Arbeitskräften machen. Der Staat kannniemals ein Geschäft mit Migration machen. Für denStaat ist Migration immer sündhaft teuer. Das müssenwir uns alle immer wieder bewusst machen.
– Das ist kein Käse, Frau Kollegin, sondern das ist wahr.Wir sollten uns allerdings über eine Frage Gedankenmachen, bei der das Ausländerrecht eigentlich keine
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19260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Hans-Peter Uhl
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Rolle spielt: Warum verlassen so viele Hochqualifizierte– deutsche Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler – dasLand? Das kann ja nicht am Ausländerrecht liegen. Wa-rum also? Da muss doch an den anderen Rahmenbedin-gungen der Beschäftigung etwas nicht stimmen. Dasheißt, wir müssen die Wirtschaft mehr in die Verantwor-tung nehmen, damit sie die Rahmenbedingungen für dieHochqualifizierten attraktiver macht, sodass sie hierblei-ben und nicht ihr Glück im Ausland suchen.Der Gesetzentwurf ist ein Baustein; er geht in dierichtige Richtung. Wir werden etwas für Hochschulab-solventen tun. Auch hier – Herr Kollege Kilic, ich macheSie darauf aufmerksam – tun wir etwas für die Studen-ten, die hier studieren: Sie können während des Stu-diums mehr für ihr Studium dazuverdienen, indem wirdie zulässige Arbeitszeit verdoppeln.
Wir wollen denen, die in Deutschland ein Studium abge-schlossen haben, auch die Möglichkeit geben, einen Ar-beitsplatz zu suchen; während dieser Arbeitsplatzsuchesollen sie über einen längeren Zeitraum arbeiten können.
Auch hier wollen wir einiges verbessern.Ich glaube überhaupt, dass wir auf den Bundesrat hö-ren sollten. Da gibt es eine ganze Reihe von Anregun-gen. Dieses Gesetz muss mit Zustimmung der Länder er-gehen. Der Bundesrat hat schon eine Fülle von weiterenVerbesserungsvorschlägen gemacht; wir werden sie allein dem jetzt kommenden Verfahren, vor der zweiten unddritten Lesung, auf uns wirken lassen und den einen oderanderen Vorschlag übernehmen.Ich glaube, die Analyse ist richtig, dass wir einen gro-ßen Mangel an Fachkräften haben und wir uns deswegenauch im Ausland umschauen müssen, natürlich zunächstim europäischen Ausland. In Spanien liegt die Arbeits-losenquote unter Jugendlichen bei annähernd 50 Pro-zent. Da müssen wir uns natürlich im Sinne der europäi-schen Solidarität zuerst in solchen Ländern umschauen,darüber hinaus aber auch in Drittstaaten; das ist selbst-verständlich.Wir werden bei Mangelberufen – Frau Kolbe, da la-gen Sie mit Ihren Äußerungen nicht ganz richtig – dafürsorgen, dass Lohndumping nicht möglich ist. Wir wer-den nämlich bei Mangelberufen auch bei Senkung derVerdienstgrenze eine Vergleichbarkeitsprüfung im Hin-blick auf die Arbeitsbedingungen vornehmen. Es istwichtig, dass wir dem Wunsch mancher Arbeitgebernach willigen und billigen Ausländern nicht nachgeben.Wir haben beim Umgang mit diesem Thema also schondie nötige Sensibilität.Insgesamt ist also Folgendes zu beachten:Erstens. Unsere eigenen Arbeitslosen müssen geschütztwerden und qualifiziert werden, um einer Arbeit nachge-hen zu können.Zweitens. Wir kümmern uns um die Arbeitslosen inder Europäischen Union.Drittens. Erst danach suchen wir uns Fachkräfte ausDrittstaaten, aus dem weiteren Ausland.Danke schön.
Swen Schulz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um demFachkräftemangel zu begegnen, müssen wir zweierleitun: Wir müssen als Erstes die Bildungschancen derMenschen, die hier leben, verbessern.
Selbst wenn wir das jetzt sofort tun würden und eine per-fekte Bildungspolitik machen würden, wovon die Regie-rungskoalition weit entfernt ist,
würde das allen Prognosen zufolge nicht ausreichen.Wir brauchen darüber hinaus zweitens die Zuwande-rung von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland.
Darum brauchen wir die entsprechenden Rahmenbedin-gungen. Wir müssen als Arbeitsstandort attraktiv wer-den; wir müssen eine Willkommenskultur etablieren.Nun wissen wir natürlich, dass das eine politischeHerausforderung ist; denn jahrzehntelang ist uns vonvielen Leuten erzählt worden, wie schwierig das mit derZuwanderung sei, was das für eine Belastung sei undwelche Schwierigkeiten es bei der Integration gebe. Hiergeht es um eine politische Thematik, der wir uns stellenmüssen. Wir müssen trotzdem, auch gegen diesen Trend,klar erkennen und es den Leuten auch sagen: Wir benöti-gen Zuwanderung aus dem Ausland, um unsere Wirt-schaft weiter voranzubringen und unseren Sozialstaatperspektivisch weiter finanzieren zu können.
SPD und Grüne haben sich dieser Herausforderungschon vor langer Zeit gestellt. Die Regierung Schröderwar es, die 2002 das Zuwanderungsgesetz beschlossenhat, damals hart bekämpft von CDU und CSU im Deut-schen Bundestag und im Bundesrat;
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19261
Swen Schulz
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wir erinnern uns sehr gut daran. Ich will aber jetzt nichtnoch einmal die alten Schlachten führen, sondern nur da-rauf hinweisen, dass das bis heute nachwirkt und einStück weit ein Problem ist. Denn die damalige Denkebei der CDU/CSU gibt es, jedenfalls in Teilen der Union,immer noch; sie wirkt immer noch nach. Darum ist diePolitik der Koalition in diesem Feld auch so halbherzig,so widersprüchlich und eben auch zögerlich.
Das sieht man auch in diesem Gesetzentwurf. Minis-ter Rösler hat gesagt, dieser Gesetzentwurf sei ein Quan-tensprung in der Zuwanderungspolitik.
Bei so einer Wortwahl – Sprung – denke ich unwillkür-lich an eine Raubkatze, die elegant und dynamisch nachvorne schnellt.
Aber wenn man sich das ganze Verfahren anschautund sich ansieht, was im Gesetzentwurf enthalten ist,kommt man zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierungdas Bild eines schläfrigen Bernhardiners abgibt, der an-geschoben werden muss, damit überhaupt irgendetwaspassiert.
Das fängt schon damit an, dass die Umsetzung derRichtlinie mit großem Zeitverzug passiert.
Die Richtlinie ist von 2009, wir sind heute im Jahr2012, und Sie kommen erst jetzt mit dem Gesetzentwurf.Was die Inhalte angeht, gibt es jede Menge Leerstel-len. Das hat Ihnen – der Kollege Uhl hat dankenswerter-weise darauf hingewiesen – der Bundesrat auch insStammbuch geschrieben. Ich will nur einige Beispielenennen: Es fehlt zum Beispiel die Verbesserung der Zu-verdienstmöglichkeiten für ausländische Studierende.Der Bundesrat hat gesagt: Da müssen wir etwas machen.Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme dan-kenswerterweise gesagt: Ja, okay, wir stimmen zu. – Alsohoffen wir, dass dies in den Beratungen im DeutschenBundestag von der Regierungskoalition auch aufgenom-men wird.
Es fehlt die Verlängerung der Frist für die Arbeits-platzsuche für die Absolventen. Die Bundesregierunghat gesagt: Das müssen wir prüfen. – Also ein weitererDebattenpunkt. Es fehlt die vereinfachte Definition derAngemessenheit der Arbeit. Die Bundesregierung hatgesagt: Das lehnen wir ab. – Noch ein Diskussionspunktfür die Ausschüsse. Es fehlt die Ermöglichung derSelbstständigkeit von Absolventen. Die Bundesregie-rung hat gesagt: Wir prüfen. – Also müssen wir auch dain den Beratungen im Deutschen Bundestag weiter vo-rankommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Bern-hardiner-Koalition,
es ist wirklich schwer und mühsam, mit Ihnen da Fort-schritte zu erreichen.Da sind dann auch noch richtige „Klopper“ drin. Einstarkes Stück ist das Thema „Niederlassungserlaubnis“.Die Bundesregierung schlägt mit dem Gesetzentwurfvor, dass die Niederlassungserlaubnis nachträglich ent-zogen werden kann. Was ist denn das für eine Botschaft?Sie sagen damit den Leuten: Ihr könnt hier jahrelangbrav arbeiten, Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffenund sichern, aber wenn es ein Problem gibt, dann rausmit euch. – Das ist doch das Gegenteil von Willkom-menskultur.
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Ich komme jetzt zum Ende.
Ich glaube, dass an diesem Gesetzentwurf noch eine
ganze Menge getan werden muss. Wir jedenfalls werden
in den Ausschussberatungen versuchen, diese Bernhar-
diner-Koalition noch ein ordentliches Stück weiter anzu-
schieben, damit etwas Ordentliches daraus wird.
Danke schön.
Serkan Tören hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
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19262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schulz, Sie haben zwar den Begriff „Quantensprung“
kritisiert, aber er ist richtig in diesem Zusammenhang.
Wir sorgen dafür, dass der Wettbewerb um die besten
Köpfe weltweit begonnen wird und vernünftig funktio-
niert. Das war in Ihrer Regierungszeit gar kein Thema.
Auch darauf muss man hinweisen.
Ich kann mich an eine Rede des ehemaligen Kollegen
Scholz – jetzt Erster Bürgermeister in Hamburg – erin-
nern, der gesagt hat, die bestehenden Voraussetzungen
reichten völlig aus, um den Wettbewerb um die besten
Köpfe weltweit zu bestehen. Es gebe gar keinen Hand-
lungsbedarf auf gesetzlicher Ebene. Sie sagen heute et-
was anderes. Irgendwie müssen Sie da in Ihrer Fraktion
zu einer einheitlichen Meinung kommen.
Ja, Deutschland braucht Zuwanderung. Es ist rechne-
risch abenteuerlich, wenn behauptet wird, dem demogra-
fischen Wandel und dem Fachkräftebedarf könnten wir
auch ohne eine solche begegnen. Natürlich müssen wir
auch im Inland etwas tun. Natürlich müssen wir Arbeits-
lose weiterqualifizieren, uns um Mütter kümmern und
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass einerseits die
Entscheidung für die Familie gelebt werden kann, ande-
rerseits aber eine Frau auch ihren Beruf ausüben kann.
Natürlich müssen wir auch Ältere aktivieren. Wir brau-
chen eine Bildungsoffensive auch für ältere Generatio-
nen.
Aber es ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch ge-
fährlich, die Alternativen gegeneinander auszuspielen.
Wir brauchen eben auch Zuwanderung von qualifizier-
ten und hochqualifizierten Menschen aus dem Ausland.
Das müssen wir den Bürgern auch offen sagen. Dies ist
eine besondere und wichtige Verantwortung gerade in
diesen Zeiten; denn es geht um nichts Geringeres als um
das gesellschaftliche Klima und – ein anderer Kollege
hat das auch gesagt – um die Willkommenskultur. Es ist
schlichtweg eine Illusion, zu glauben: Alle gut ausgebil-
deten Fachkräfte warten nur darauf, in Deutschland le-
ben und arbeiten zu können, hier Steuern zahlen und ihre
Kinder in die Schule schicken zu können. Das zeigen
nicht zuletzt die Zahlen, die uns über die zugewanderten
Arbeitskräfte aus Osteuropa seit dem 1. Mai 2011 vorlie-
gen.
Wir reden seit längerer Zeit von der sogenannten
Willkommenskultur. Das ist ein wunderbarer Begriff,
wie ich finde, aber jetzt muss er auch mit Leben erfüllt
werden. Die Bluecard ist ein wichtiger Schritt, die neuen
Realitäten anzuerkennen und Deutschland als modernes
und offenes Land zu präsentieren. So ermöglicht es die
Bluecard auch den Ehepartnern, direkt und ohne Vor-
rangprüfung ebenfalls in Deutschland eine Arbeit aufzu-
nehmen. Das entspricht den Ansprüchen und heutigen
Realitäten von vielen Akademikern weltweit.
Auch in Bezug auf ausländische Absolventen deut-
scher Hochschulen wollen wir im Rahmen der Bluecard-
Umsetzung etwas tun. Die Zahl der ausländischen Stu-
dierenden ist erfreulich hoch, allerdings verlassen uns
die meisten nach dem Abschluss wieder. Das sind Men-
schen, die hier studiert haben, die die Sprache beherr-
schen und gerne in Deutschland leben und arbeiten
möchten. Mit Verlaub, diese jungen Menschen wieder
ziehen zu lassen und nicht mit allen Mitteln im Land zu
halten, ist mehr als unklug. Künftig sollen diese Hoch-
schulabsolventen im ersten Jahr der Arbeitsplatzsuche
unbeschränkt arbeiten und so leichter in das Berufsleben
starten können.
Für uns Liberale geht es bei einer Willkommenskultur
um Unvoreingenommenheit gegenüber Kultur und Reli-
gion. Das ist für eine offene und intakte Gesellschaft ge-
nauso essenziell wie Verantwortungsübernahme, Leis-
tungsbereitschaft und Rechtstreue.
Die Menschen, die über die Bluecard zu uns kommen,
werden einen wichtigen wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Beitrag für Deutschland leisten.
Die wesentliche Herausforderung wird darin beste-
hen, für Deutschland als lebenswertes und weltoffenes
Land zu werben und das Wort „Willkommenskultur“ mit
Leben zu erfüllen. Nur dann werden wir im Wettbewerb
um die klügsten Köpfe erfolgreich sein.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort Tankred Schipanski für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Als Vertreter des Bildungs- und Forschungsaus-schusses in dieser Debatte gilt als Erstes mein Dank un-seren Innenpolitikern; denn wir haben gemeinsam dieseswichtige Themenfeld bearbeitet und einen guten Gesetz-entwurf auf den Weg gebracht. Die Forschungspolitikerhatten sich seinerzeit an unseren innenpolitischen Spre-cher Hans-Peter Uhl gewandt und ihm Vorschläge zurEtablierung einer Willkommenskultur für Hochqualifi-zierte unterbreitet; das ist übrigens ein Begriff, den un-sere Bundesministerin Annette Schavan geprägt hat. Ineiner gemeinsamen Arbeitsgruppe mit Innenpolitikernund Wirtschafts-, Sozial- und Forschungspolitikern ha-ben wir uns in der Koalition auf Eckpunkte geeinigt, vondenen sich zahlreiche im heute vorliegenden Gesetzent-wurf wiederfinden. Das ist ein gelungenes Beispiel da-für, wie wir in der parlamentarischen Arbeit große The-menkomplexe wie den Fachkräftebedarf in Deutschlandganz zielgerichtet bearbeiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19263
Tankred Schipanski
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Der vorliegende Gesetzentwurf gilt nicht nur der Um-setzung der EU-Richtlinien, sondern er setzt wesentlichbreiter an. Da wir einen breiteren Ansatz gewählt haben,darf man die abgelaufene Frist zur Umsetzung dieserRichtlinie auch nicht ständig überbewerten, lieber HerrSchulz und liebe Frau Kolbe; denn wir alle in diesemHaus kennen die Rechtsprechung zu nicht fristgerechtumgesetzten Richtlinien. Den Bürgern sind hier keineNachteile entstanden.Zunächst haben wir die Auswirkung der vollen Freizü-gigkeit für osteuropäische Arbeitnehmer auf den deut-schen Arbeitsmarkt, welche seit dem 1. Mai 2011 gilt, ab-gewartet, um dann zu entscheiden, in welchen Bereichenund in welchem Maß Erleichterungen bei der Zuwande-rung notwendig sind. „Qualifizierung vor Zuwanderung“und „Schaffung einer Willkommenskultur“ – das sind dieSchlüsselbereiche, von denen wir uns in dieser Debatteüber den Fachkräftebedarf in Deutschland leiten lassen.
Ziel der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie sind einerleichtertes Verfahren für die Zulassung hochqualifi-zierter Drittstaatsangehöriger sowie die Schaffung at-traktiver Aufenthaltsbedingungen für hochqualifizierteArbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Mit demGesetz wollen wir einen neuen Aufenthaltstitel schaffenund die sogenannte Bluecard einführen; die detailliertenRegelungen hat unser Staatssekretär Ole Schröder be-schrieben.Darüber hinaus senken wir die Einkommensgrenzevon 66 000 Euro auf 48 000 Euro im Jahr für die Ertei-lung einer Niederlassungserlaubnis speziell an hochqua-lifizierte Spezialisten und leitende Angestellte. Aber wirverlangen – das ist richtigerweise angesprochen worden –,dass man innerhalb der ersten drei Jahre nicht arbeitsloswerden darf. Ich finde es unverantwortlich, dass FrauKolbe wegen dieser Regelung, wegen dieser AbsenkungÄngste schürt. Ich nenne noch einmal unser Motto: Qua-lifizierung vor Zuwanderung und Schaffung einer Will-kommenskultur.Über diese Richtlinie hinaus verbessern wir die Auf-enthaltsbedingungen für ausländische Studenten an deut-schen Hochschulen. Das ist ein Herzensanliegen derForschungspolitiker der Koalition.
So haben diese Studenten während ihrer einjährigen Su-che nach einem angemessenen Arbeitsplatz einen unein-geschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Dasheißt, sie können neben der Jobsuche arbeiten. Das isteine ganz wichtige Neuerung. Die Studenten erhaltenbereits nach zwei Jahren in einer versicherungspflichti-gen Beschäftigung ihre Niederlassungserlaubnis undnicht erst nach fünf Jahren. Außerdem erhalten die Fa-milienangehörigen der ausländischen Absolventen vonAnfang an einen uneingeschränkten Arbeitsmarktzu-gang.Dieser Gesetzentwurf enthält weitere ganz entschei-dende Vereinfachungen hinsichtlich des Aufenthaltstitelsder Forscher, § 20 Aufenthaltsgesetz. Eine ganz wichtigeNeuerung nehmen wir zudem in § 27 der Beschäfti-gungsverordnung vor: Künftig können ausländischeFachkräfte, die in Deutschland eine Berufsausbildung ineinem staatlich anerkannten Beruf absolviert haben, imAnschluss daran einen Aufenthaltstitel erhalten, um indiesem Beruf zu arbeiten.
Aus Sicht der Bildungspolitiker unserer Koalition ist eswünschenswert, diesbezüglich ebenfalls eine einjährigeSuchphase nach Abschluss einer Ausbildung einzuräu-men, damit ein angemessener Arbeitsplatz gefundenwerden kann. Ich freue mich, dass der Kollege Schulzvon der SPD diesen Punkt aufgegriffen hat. In dieser Sa-che sind wir uns anscheinend einig.Wir Bildungspolitiker wünschen uns ferner, dass inden nun anstehenden Beratungen noch einmal ein Blickauf § 16 Abs. 3 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes geworfenwird. Das hat Kollege Uhl bereits angesprochen. Es gehtdabei um die Nebenerwerbsmöglichkeiten von ausländi-schen Studierenden. Wir denken, man sollte diese aus-weiten. Nach gegenwärtiger Regelung kann eine Be-schäftigung an 90 Tagen bzw. 180 halben Tagen ausgeübtwerden. Wir können uns sehr gut vorstellen, dies auf120 Tage bzw. 240 halbe Tage zu erweitern.Das so geänderte Gesetz bietet ausländischen hoch-qualifizierten Fachkräften attraktive Zuwanderungs- undAufenthaltsbedingungen und eine bessere Perspektivefür einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland.Lassen Sie mich feststellen, dass wir der Problematikdes Fachkräftebedarfs in Deutschland nicht nur mit die-sem Gesetz begegnen. Das Hohe Haus hat unter Feder-führung des Forschungsausschusses am 29. September2011 das Berufsanerkennungsgesetz beschlossen. Mitdiesem Gesetz erhalten Zugewanderte ab dem 1. Aprildieses Jahres einen Rechtsanspruch darauf, dass ihre imAusland erworbene Berufsqualifikation auf Gleichwer-tigkeit zur deutschen Referenzqualifikation überprüftwird. Dieses Gesetz ist ein Meilenstein und ein wichti-ges Signal für viele Migranten.
Da unsere föderale Ordnung es nun einmal so will, giltdieses Gesetz aber nur für Berufe, die der Bund regelndarf. Viele Berufe fallen aber in den Regelungsbereichder Länder. So darf ich an dieser Stelle nochmals an dieLänder appellieren, endlich nachzuziehen und auch imLandesrecht die Berufsanerkennung zu regeln.Das Gesetz, über dessen Entwurf wir in erster Lesungberaten, aber auch das Berufsanerkennungsgesetz sindGrundsteine dafür, dass wir die Potenziale ausländischerFachkräfte für unsere Bildungsrepublik Deutschland so-wie für unsere Volkswirtschaft besser nutzen können.Diese Gesetze sind Ausdruck der gelebten Willkom-menskultur, die die christlich-liberale Koalition inDeutschland verwirklicht.Vielen Dank.
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19264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Als letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Kollegin Aydan Özoğuz für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich befürchte, dass in dieser Debatte eine Sache nicht
verstanden worden ist – leider habe ich nur wenige Mi-
nuten, um dies zu verdeutlichen –: Wir haben es im Mo-
ment mit einer Situation zu tun – die FDP hat darauf hin-
gewiesen –, in der wir Menschen brauchen, die unser
Land attraktiv finden, die den Weg in unser Land suchen
und eine gute Ausbildung haben. Diese Menschen sollen
sagen: Von allen Ländern, die es gibt und die mir mitun-
ter tolle Angebote machen, suche ich mir Deutschland
aus. Ich gehe dorthin und will dort arbeiten.
Laut der Konsensgruppe „Fachkräftebedarf und Zu-
wanderung“ gibt es bei konstanter Erwerbsquote einen
prognostizierten demografisch bedingten Rückgang des
Erwerbspersonenpotenzials um 6,7 Millionen bis 2025.
Man kann sicherlich mit Zahlen spielen. Aber wir befin-
den uns in dieser Situation. Daher kann ich nicht verste-
hen, dass Staatssekretär Schröder sich hier hinstellt und
viele Fragen stellt, etwa die Frage, ob es einem Hoch-
qualifizierten ermöglicht werden soll, seine Frau mitzu-
bringen, oder ob es vielleicht auch wichtig wäre, dass er
hier mit seinen Kindern gut leben kann. Das ist in der
heutigen Welt für hochqualifizierte Menschen selbstver-
ständlich.
Die Konkurrenz ist riesengroß. Wir haben ein funda-
mentales Interesse. Ich glaube, diesen Perspektivwechsel
müssen wir endlich vollziehen.
– Ich kann viele Menschen zitieren, die hier Ängste
schüren.
Das ist ein gutes Stichwort, Herr Schipanski; denn ich
glaube, dass einige in der Union und insbesondere in der
CSU – die Zeit reichte nicht, um alle Zitate aufzuzählen –
tatsächlich ein Problem haben. Immer dann, wenn Sie
über die Zuwanderung qualifizierter Kräfte sprechen, sa-
gen sie ganz schnell: Wir wollen keine Menschen, die in
unsere Sozialsysteme eindringen.
Dann mischen sich sofort zwei Mythen miteinander. Es
ist wichtig, damit aufzuräumen. Es war Deutschland, das
ungelernte Arbeitskräfte als sogenannte Gastarbeiter an-
geworben und hierher geholt hat. Es war gewollt, dass
sie keine Hochschulabschlüsse haben; denn Hochschul-
absolventen hätten die Arbeit, die damals gemacht wer-
den sollte, auch nicht verrichtet.
Wir waren diejenigen, die irgendwann einmal – das hat
erst mit Rot-Grün begonnen – gesagt haben: Wir müssen
dem Ganzen Regeln geben. Wir brauchen Sprachkurse
und ein Zuwanderungsgesetz. Ich erinnere mich noch
gut, dass Sie, meine Damen und Herren von der Koali-
tion, damals Schreckensbilder an die Wand gemalt ha-
ben.
Ich finde, das gehört ein bisschen zum Geschichtsbe-
wusstsein dazu.
Wir sprechen heute über Studierende. Ich kann mich
an Debatten erinnern, in denen gesagt wurde, es stimme
doch gar nicht, dass Studierende das Land verlassen
müssten, wenn sie fertig seien. Das war Realität in die-
sem Land. Menschen durften hierher kommen, um zu
studieren oder eine Ausbildung zu machen. Aber an dem
Tag, an dem sie exmatrikuliert wurden, mussten sie ge-
hen. Es war die linke Seite des Hauses, die das geändert
hat und gesagt hat: Gebt denen doch einmal eine
Chance, bei uns zu arbeiten und einen Job zu finden.
Es ist richtig – das hat das Hamburg Welcome Center
herausgefunden –, die Zeiten auszuweiten, weil mitunter
ein Jahr nicht reicht. Die nun vorgesehenen 18 Monate
stellen einen wichtigen Schritt dar. Das hat der Bundes-
rat zu Recht unterstrichen. Wir brauchen eine richtige
Willkommenskultur in diesem Land und einen anderen
Blick auf das Thema Zuwanderung, die eine große Be-
reicherung bedeuten kann, wenn man es denn mit Herz
macht.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das bin ich jetzt.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8682 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19265
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenFranz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der SPDDer demografische Wandel in Deutschland –Handlungskonzepte für Sicherheit und Fort-schritt im Wandel– Drucksachen 17/6377, 17/8372 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Christoph Bergner das Wort.D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Vor diesem Hohen Hause istes eigentlich nicht erforderlich, noch einmal darauf hin-zuweisen, dass der demografische Wandel, dem wir unszu stellen haben, in den nächsten Jahren und Jahrzehntenwahrscheinlich eine der zentralen gesellschaftlichen undpolitischen Herausforderungen sein wird. Dabei sind ausmeiner Sicht zwei Aufgabenfelder zu unterscheiden.Zum einen müssen wir angesichts der verändertenAlterspyramide, der sinkenden Bevölkerungszahl undder damit verbundenen Auswirkungen auf die Sied-lungsstruktur die Frage beantworten, wie wir Daseins-vorsorge, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusam-menhalt ermöglichen und stabilisieren können. Zumanderen müssen wir die Frage beantworten, wie wir einenachhaltige Bevölkerungsentwicklung sicherstellen kön-nen. Das heißt, all die Fragen, die mit politischen Rah-mensetzungen und gesellschaftlichen Einstellungen zutun haben, münden in der Frage, wie wir die für einenachhaltige Bevölkerungsentwicklung erforderlichenGeburten- und Kinderzahlen in unserem Land erreichenkönnen. Beide zuvor genannten Fragen haben ihr eige-nes Gewicht. Der Fragesteller hat sich vor allem auf dieerste konzentriert.Die Bundesregierung stellt mit Blick auf den erstenAspekt fest, dass kein Anlass besteht, Katastrophenstim-mung zu verbreiten; dies wäre angesichts der demografi-schen Herausforderungen auch problematisch. DieBundesregierung möchte diesen Herausforderungen miteiner konstruktiven Haltung begegnen. Sie möchte dieanstehenden Veränderungen als einen Modernisierungs-auftrag für unsere Gesellschaft, für die politischen Struk-turen und für die politischen Rahmensetzungen verstan-den wissen. Die Bundesregierung hat bereits in diesemSinne gehandelt und verschiedene Initiativen ergriffen,gesetzliche und untergesetzliche Instrumente umgebautsowie Programme aufgelegt. Ich will hier drei Beispielenennen.Das erste Beispiel ist das Konzept zur Fachkräftesi-cherung vom Juni letzten Jahres. In diesem hat die Bun-desregierung wesentliche Ansatzpunkte und Maßnah-men zur Fachkräftesicherung – von der Erstausbildungbis hin zur Aktivierung und Integration Arbeitsloser inden Arbeitsmarkt – dargelegt und sich darüber mit Wirt-schaftsverbänden und Gewerkschaften in einer gemein-samen Erklärung verständigt.Das zweite Beispiel für die Bemühungen der Bundes-regierung ist das Handlungskonzept „Daseinsvorsorgeim demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten“, daszusammen mit den neuen Bundesländern erarbeitetwurde. Es wurde auf der MinisterpräsidentenkonferenzOst am 5. Oktober letzten Jahres verabschiedet. Fürmich als Beauftragter für die neuen Länder ist dies einBeispiel für die gute Zusammenarbeit der Bundesregie-rung mit den neuen Bundesländern.Das dritte Beispiel – dies war vor nicht allzu langerZeit auch Gegenstand der Befragung der Bundesregie-rung – ist die Forschungsagenda „Das Alter hat Zu-kunft“. Sie wurde im November 2011 verabschiedet undzielt auf Forschungsprogramme, die sich zentralen offe-nen Fragen des demografischen Wandels widmen, Er-kenntnisbedarf decken und unserer Demografiepolitikeine wissenschaftlich fundierte Basis geben wollen.Hier ist auch auf den Demografiebericht der Bundes-regierung zu verweisen, der im Oktober letzten Jahresverabschiedet wurde. In diesem werden die Aktivitätender Bundesregierung und die wissenschaftlich gesicher-ten Erkenntnisse über die relevanten demografischenDaten und Zusammenhänge umfassend dargestellt.Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,haben wir die heute auf der Tagesordnung stehendeGroße Anfrage der SPD zum demografischen Wandelgerne beantwortet. Wie Sie sich selbst überzeugen kön-nen, sind die Antworten ausführlich und detailliert aus-gefallen. Ich hoffe, Sie würdigen das in der nachfolgen-den Debatte.Nunmehr geht es der Bundesregierung um einen wei-teren wichtigen Schritt. Ende dieses Monats, also EndeMärz, werden wir eine Demografiestrategie vorlegen.
Diese Strategie legt die wichtigsten Handlungsfelderfest, auf denen sich die politische Gestaltung des demo-grafischen Wandels in den nächsten Jahren bewährensoll. Im Mittelpunkt stehen die Lebensbereiche, in denendie Menschen die Veränderungen ganz unmittelbar undam stärksten erfahren: die Familie, das Arbeitsleben, dasselbstbestimmte und unterstützte Leben im Alter, dieländlichen Räume und die integrative Stadtpolitik.Außerdem sollen in dieser Demografiestrategie dieentscheidenden Faktoren, um langfristig Wachstum,Wohlstand und Zusammenhalt in unserem Land zusichern, angesprochen werden: Bildung, Fachkräfte,qualifizierte Zuwanderung – ich verweise auf den letztenTagesordnungspunkt vor dieser Debatte –, Mittelstandund Unternehmertum, Forschung, Infrastruktur, solideFinanzen und eine leistungsfähige öffentliche Verwal-tung. In all diesen Bereichen wird die Bundesregierungihre Zielsetzungen beschreiben und die wichtigsten Ini-tiativen aufzeigen, die sie noch in dieser Legislatur-
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19266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
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periode, aber auch längerfristig für notwendig hält undumsetzen will.Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Die Ge-staltung des Wandels kann nur gelingen, wenn alle staat-lichen Ebenen und gesellschaftlichen Akteure zusam-menwirken. Eine ressort- und ebenenübergreifendePolitik, wie sie die von uns geplante Strategie anstrebt,kann also nicht verordnet, sondern muss gemeinsam ge-tragen werden. Mehr noch: Wir brauchen die Kreativitätvor Ort. Es geht um Entscheidungen, die nicht allein amgrünen Tisch getroffen werden können. Eine Demogra-fiestrategie muss auch die zentralen Felder beschreiben,auf denen die Bundesregierung mit Ländern und Kom-munen, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft ge-meinsame Antworten entwickeln und umsetzen will.Es ist klar, dass die föderale Ebene in diesem Dialog-prozess besonders gefordert ist. Deshalb bin ich sehrfroh, dass es mit dem Handlungskonzept für die neuenBundesländer im letzten Jahr gelungen ist, in dieser Hin-sicht ein erstes Beispiel zu geben. Maßnahmen und Pro-gramme können nur wirken, wenn sie auf die Bereit-schaft der Bürgerinnen und Bürger treffen, sich aufVeränderungen einzulassen. Es geht also auch um einenBewusstseinswandel. Die notwendigen Veränderungenkönnen sonst nicht gelingen.In den letzten Jahren hat dieser Bewusstseinswandelan vielen Stellen begonnen; das sollte uns ermutigen.Vor Ort werden zahlreiche neue Lösungen gefunden. Icherwähne ein Beispiel, das aus meiner Sicht bisher viel zuwenig gewürdigt wurde: den Tarifvertrag der chemi-schen Industrie in den neuen Bundesländern, in demzum Thema „lebensphasengerechte Arbeitszeitgestal-tung“ Festlegungen getroffen wurden. Als Beauftragterfür die neuen Bundesländer blicke ich mit großer Genug-tuung auf diesen Tarifvertrag, weil die besonderenHerausforderungen, die die neuen Bundesländer inpuncto Demografie zu bewältigen haben, darin beispiel-haft aufgenommen und sehr konstruktive Lösungen ge-funden wurden.Ich könnte viele weitere Beispiele nennen: JungeMenschen entscheiden sich für höhere Qualifikation undstellen sich auf veränderte Lebensläufe ein. Arbeitneh-mer beginnen, sich auf das längere Leben in Beruf undAlter vorzubereiten. Ältere Menschen wollen ihre Le-benserfahrungen über die eigene Familie hinaus einbrin-gen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.Wir sind also schon auf dem Weg, uns neu zu organi-sieren. All dies gilt es zu unterstützen und als Quelle derMotivation und des Zusammenhalts in unserer Gesell-schaft zu nutzen. Alles in allem gilt es, die Innovations-kraft und die Dynamik unseres Landes zu nutzen. Dannbrauchen wir vor den Veränderungen, die uns bevorste-hen, keine Angst zu haben. Deutschland ist als ein ent-wickeltes Land in der Lage, diese Veränderungen zumeistern. Gehen wir sie gemeinsam an! In diesem Sinnewürde ich die Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion gerne diskutiert sehen wollen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Sabine Bätzing-Lichtenthäler für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Das Ganze ist mehr als die Summe seinerTeile.“ Das wusste schon Aristoteles vor knapp2 500 Jahren. Diese Erkenntnis des berühmten Griechenhatte die Bundesregierung bei der Beantwortung unsererGroßen Anfrage zum demografischen Wandel aberoffensichtlich nicht; denn sie verfängt sich in ihrer Ant-wort in einer Projektitis und einer Menge unabgestimm-ter Einzelteile und Ideen. Oft weiß das eine Ministeriumüberhaupt nicht, was das andere tut.
Einerseits will sie mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt,mehr Zuwanderung und will die Städte umgestalten.Andererseits will sie ein Betreuungsgeld, hält sie amEhegattensplitting fest, um Frauen vom Arbeitsmarktfernzuhalten, scheut sie ein offensive Zuwanderungsge-setz wie der Teufel das Weihwasser und kürzt sie eifrigdie Mittel für die Städtebauförderung.
Das nenne ich „links blinken und rechts abbiegen“. HerrRamsauer hätte das einmal in seinen neuen Strafpunkte-katalog aufnehmen sollen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatkeine Idee und keinen ressortübergreifenden Ansatz, ausdem hervorgeht, wie sie sich Deutschland 2050 vorstellt.Diese Meinung teilt übrigens auch das Kanzleramt,wenn es sagt: Der Bundesinnenminister hat erkennbarnoch keinen Zugang zum Thema demografischerWandel gefunden. – Sie können das in der Zeit vom26. Januar 2012 nachlesen.
Besonders deutlich werden diese Ideenlosigkeit undder fehlende Zugang in der Antwort auf unsere Frage 3nach dem Gesellschaftsentwurf.
Dort schreibt die Bundesregierung,dass die freiheitliche demokratische Grundordnungsowie die im Grundgesetz festgelegten Werte undgrundlegenden Prinzipien auch im Jahr 2050 dieGrundlage der bundesdeutschen Gesellschaft bildenwerden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19267
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
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Ich frage Sie ernsthaft: Ist das Ihre Strategie für 2050?Das ist Ihr Gesellschaftsentwurf? Es soll sich an unse-rem System nichts ändern?Verstehen Sie mich bitte nicht falsch.
Ich wünsche mir auch, dass unser Grundgesetz 2050noch Bestand hat und dass wir in Deutschland in Freiheitleben können.
Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, hierkann die Planung doch nicht aufhören; da muss diePlanung doch erst beginnen.
Wo sind Ihre Ideen für mehr erfüllte Kinderwünsche,für gutes Wohnen, für mehr Bildungschancen, für denArbeitsmarkt der Zukunft und für die Gesundheitsförde-rung? Welche Vorstellungen haben Sie für mehr Mit-einander und Füreinander in Familien, zwischen denGenerationen, in der Nachbarschaft, in der Region, inDeutschland und in Europa? In der Antwort auf dieGroße Anfrage sucht man diese Ideen vergeblich. Ichfrage mich: Wollen oder können Sie diese Antwortennicht geben?
Ohne Antworten ist die Bundesregierung jedenfalls beider Gestaltung des demografischen Wandels ein Total-ausfall.
Dass ausgerechnet jetzt – wir haben es ja gerade ge-hört – das Thema Demografie den Koalitionsfrieden ret-ten und die Einigkeit der Koalitionäre dokumentierensoll, wie es heute die Rheinische Post berichtet, lässtnichts Gutes erahnen; denn eine machtpolitisch moti-vierte Demografiestrategie ist von Anfang an zum Schei-tern verurteilt.
Für uns ist klar: Wir wollen ein alle Lebensbereicheumfassendes fortschrittliches, soziales und demokrati-sches Gesellschaftsmodell. Es geht uns nicht darum, denMenschen vorzuschreiben, wie sie 2050 zu leben haben.
Wir wollen uns anhören, wie sie 2050 leben wollen, unddann die Weichenstellungen vornehmen.
Wir setzen daher mit unserem Zukunftsdialog darauf,dass wir alle gemeinsam in Deutschland die Richtungbestimmen. Wir freuen uns, dass sich die Bundesregie-rung nun auch mit ihrem Dialog auf den Weg gemachthat. Nachahmen ist hier ausdrücklich erwünscht. Immerwenn Sie das getan haben, ist etwas Gutes dabei heraus-gekommen, wie beim Atomausstieg oder auch beimElterngeld.Die Frage, die wir den Menschen stellen, ist einfach:Wie wollt ihr miteinander leben? Uns als Sozialdemo-kraten ist gutes Leben wichtig.
Wir sehen den demografischen Wandel nicht als Gefahr,der wir noch entkommen können, wenn wir alle Ein-schnitte hinnehmen. Wir wollen und wir werden errei-chen, dass es den Menschen durch den demografischenWandel nicht schlechter, sondern möglichst besser geht.Für unsere Politik bedeutet das, dass wir frühkind-liche Bildung und Betreuung nicht einschränken. Fürunsere Politik bedeutet das, dass wir gute Arbeitsbedin-gungen und Arbeitszeitmodelle schaffen und für einenMindestlohn eintreten, von dem jeder leben kann,
dass wir bezahlbare und bedarfsgerechte Wohnungenvorhalten und die Städtebauprogramme nicht kürzen,dass wir die Vielfalt von Menschen und Kulturen in derGemeinschaft integrieren,
und schließlich – damit komme ich zum Schluss –, dasswir das Miteinander organisieren: das Miteinander derGenerationen, aber auch das Miteinander von Bund,Ländern und Kommunen.Meine Damen und Herren, wir werden den demogra-fischen Wandel nur dann gestalten, wenn wir im Bunddas Notwendige tun und Ländern und Kommunen un-sere Hilfe und Koordination anbieten. Es ist an der Zeit,klarzustellen, wer bei dieser Thematik den Hosenanzuganhat und wer das Steuer in die Hand nimmt. Es ist auchhöchste Zeit, dass die Richtlinien von dort kommen, wosie herzukommen haben: Richtlinien sind Chefsache,und Regieren ist mehr als Krisenmanagement.Danke.
Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Frak-tion.
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19268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Nachdem wir beim letzten Mal aufden dringenden Wunsch der SPD-Fraktion hin ihren ei-genen Fragenkatalog diskutiert haben, freue ich mich,dass wir heute eine stärker inhaltlich fokussierte Debatteüber die Antworten der Bundesregierung zu ihrer Gro-ßen Anfrage im Zusammenhang mit dem demogra-fischen Wandel in Deutschland führen können.Der demografische Wandel ist – daran besteht, glaubeich, kein Zweifel – eine zentrale Herausforderung unse-rer Zeit. Deswegen hat sich die christlich-liberale Koali-tion für die laufende Legislaturperiode vorgenommen,dieses Thema mit besonderer Sorgfalt zu bearbeiten.Dies wurde mit dem Kabinettsbeschluss vom November2009 deutlich zum Ausdruck gebracht. Heute, gut zweiJahre später, können wir mit einiger Zufriedenheit aufdie ersten Ergebnisse der damaligen Vereinbarung zu-rückblicken.Der Bundesminister des Innern hat, wie vereinbart,im November des vergangenen Jahres einen Bericht zurdemografischen Lage und künftigen Entwicklung desLandes vorgelegt. Zudem wird das Thema im Rahmender Demografiestrategie des Bundes berücksichtigt, dienoch in diesem Frühjahr – eine Vereinbarung steht kurzbevor – vom Kabinett verabschiedet wird. Ich bin mirsicher, dass wir uns als Parlament in diesem Zusammen-hang noch einmal sehr ausführlich mit dem Thema be-schäftigen werden.
– Wir können es dann steuern, wie oft wir uns damit be-schäftigen.Neben diesen Maßnahmen hat das Bundesminis-terium des Innern in Zusammenarbeit mit den Bundes-ländern das „Handlungskonzept: Daseinsvorsorge imdemografischen Wandel zukunftsfähig gestalten“ vorge-legt. Die christlich-liberale Koalition hat damit für einesolide Datenbasis für den Umgang mit dem demografi-schen Wandel gesorgt, anhand derer wir zahlreiche Maß-nahmen angehen können und bereits angegangen sind.Wichtig ist, dass wir aufhören sollten, die durch dendemografischen Wandel bedingten Veränderungen stän-dig als Bedrohung zu sehen.
Der demografische Wandel stellt vielmehr die Verände-rung der Rahmenbedingungen dar, vor deren Hinter-grund die Gestaltung gesellschaftlicher, politischer undwirtschaftlicher Aspekte erfolgt. Wir sollten diesenWandel annehmen; denn er stellt die Summe vieler indi-vidueller Lebensentscheidungen dar. Das sollten wir re-spektieren. Kleinreden sollten wir die Herausforderun-gen, die der demografische Wandel mit sich bringt,allerdings nicht; denn – das zeigen die Antworten derBundesregierung ebenso wie der Demografiebericht – ererfordert unser Handeln.Die christlich-liberale Koalition hat auch schon ohnedie Demografiestrategie gehandelt. So beruht zum Bei-spiel unsere Daseinsvorsorge im Alter, die gesetzlicheRente, seit ihrer Einführung im 19. Jahrhundert auf derAnnahme, dass die jüngere Generation die ältere mit-finanziert. Bis dato war das nie ein Problem, da die jün-gere Generation zahlenmäßig und produktiv immer dievorherige Generation überboten hat. Heute ist das ganzoffensichtlich nicht mehr so. Immer mehr Menschen er-reichen glücklicherweise ein hohes Alter, sind auch imfortgeschrittenen Alter noch aktiv und wollen amErwerbsleben gerne teilhaben. Daher ist mit der schritt-weisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahreein erster Schritt getan, der älteren Menschen die Teil-nahme am Arbeitsmarkt ermöglicht und die Sozial-kassen entlastet.Damit allein wird es allerdings nicht getan sein; dennältere Menschen werden mit ihrer Erfahrung und ihrenFähigkeiten nicht unbedingt immer an denselben Ar-beitsstellen eingesetzt werden können. Daher möchte dieFDP-Fraktion weiterhin das Altersmanagement in Un-ternehmen sowie Umschulungsprogramme fördern undgünstige Rahmenbedingungen hierfür schaffen. Eine zu-sätzliche Flexibilisierung des Renteneintrittsalters haltenwir vor diesem Hintergrund ebenfalls für sinnvoll.Die Weiterentwicklung der Mobilität auf regionalerund kommunaler Ebene ist dabei ebenso zentral. Auchdie bevorstehenden Initiativen im Bereich E-Govern-ment zählen beispielsweise zu den Maßnahmen, mitdenen wir auf den demografischen Wandel reagieren;denn damit kann eine flächendeckende Verwaltungsichergestellt werden.Doch auch diese Anstrengungen allein werden nichtausreichen. In einer schrumpfenden Gesellschaft werdenwir uns auch stärker mit dem Thema Zuwanderungbefassen müssen. Sie ist Quell neuer Ideen, die unsereGesellschaft bereichern und voranbringen werden, undsie stellt sicher, dass der bevorstehende Mangel an Fach-kräften in der Wirtschaft und in den sozialen Dienstenabgefedert wird.Daher weise ich gerne noch einmal darauf hin, dassdie christlich-liberale Koalition sich gerade vorhin imParlament mit der Bluecard beschäftigt hat. Das ist einwichtiger Baustein der künftigen deutschen Zuwande-rungspolitik.Sie sehen, dass die christlich-liberale Koalition dieHerausforderungen des demografischen Wandels ernstnimmt.
Sie handelt auch und stellt nicht nur Fragen.Die Bundesregierung wird noch in diesem Frühjahr,also sehr bald, ihre Strategie zum demografischen Wan-del vorlegen. Die FDP-Fraktion wird diese Strategieselbstverständlich weiterhin konstruktiv, aber auch kri-tisch begleiten. Ich denke, liebe Frau Kollegin Rößner,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19269
Manuel Höferlin
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dass wir uns hier im Parlament mehr als einmal damitbeschäftigen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es gibt zwei Begriffe, die oft in einen Zusam-menhang gebracht werden: der demografische Wandelauf der einen Seite und die Generationengerechtigkeitauf der anderen Seite. Der demografische Wandel wirdimmer als Ursache beschrieben. Dabei ist auch diesernicht einfach so über uns gekommen. Er hat Ursachen,die auch politisch gemacht sind.
Generationengerechtigkeit wird als moralisches Ziel beider Bearbeitung der Folgen des demografischen Wan-dels beschrieben.Das Problem, das ich damit habe, sind die Instru-mente, die von der Politik in den letzten Jahren und Jahr-zehnten daraus abgeleitet worden sind. Denn dieseInstrumente heißen: Privatisierung, Kürzung von Leis-tungen und nicht zuletzt Schuldenbremse. Diese führenaber aus meiner Sicht zu einer weiteren Verschärfung derPolarisierung innerhalb unserer Gesellschaft. Ich möchteIhnen das an einigen Beispielen verdeutlichen.
Mein erstes Beispiel ist die Rente. Die Namen Rürupund Riester stehen für die Privatisierung der Rente. DieNamen Müntefering und von der Leyen stehen für dieKürzung der Rente durch die Anhebung des Rentenein-trittsalters. Beide Maßnahmen – Privatisierung und Kür-zung – führen aber gerade nicht zu einer dauerhaftenEntlastung der Rentenkassen und zu mehr Gerechtigkeit,sondern sie verlagern das Armutsrisiko auf die Men-schen, die sich private Vorsorge aufgrund ihrer geringenLöhne nicht leisten können, und auf diejenigen, die ausErwerbslosigkeit in Rente gehen und deshalb mit Ab-schlägen leben müssen. Beides ist für mich kein Weg zumehr Generationengerechtigkeit.
Die Linke hat hier heute Vormittag ihr Konzept füreine solidarische Rentenversicherung vorgestellt, in diealle einzahlen und bei der im Alter niemand von wenigerals 900 Euro pro Monat leben soll. Ich bin auf Ihre Vor-schläge gespannt. Zweites Beispiel: die Gesundheits-politik. Womit haben wir es hier zu tun? Mit Kürzungenim Leistungskatalog der Krankenkassen, Zuzahlungenzu medizinisch notwendigen Untersuchungen und Medi-kamenten, Eintrittsgebühren für die Praxen der Ärzte,Aushöhlung der paritätischen Finanzierung durchArbeitnehmer und Arbeitgeber, weil nun die Versicher-ten einseitig Zusatzbeiträge leisten müssen. Auch hieröffnet sich also die Schere nicht zwischen Alt und Jung,sondern zwischen Arm und Reich. Das ist eine weiterePolarisierung innerhalb unserer Gesellschaft, der wirnicht zuschauen dürfen, die aber politisch gemacht ist.
Die Linke hat auch hierzu ein Konzept vorgelegt. Wirfordern eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversi-cherung, in die mehr Menschen als jetzt einzahlen, zumBeispiel auch Bundestagsabgeordnete, und die eineZweiklassenmedizin verhindern soll. Auch hier bin ichauf Ihre Vorschläge gespannt.
Drittes Beispiel: das Elterngeld. Auch das ist schonangesprochen worden, ein breites Thema in der GroßenAnfrage. Ja, meine Fraktion hat den Grundgedanken desElterngeldes unterstützt. Junge Familien sollen gefördertwerden, und wir wollen sicherstellen, dass beide Eltern-teile sich der Betreuung ihrer Kinder widmen können,ohne allzu große Einkommensverluste hinnehmen zumüssen. Aber das Elterngeld für besserverdienende Müt-ter und Väter wird durch die Streichung der Leistungenfür einkommensschwache Eltern gegenfinanziert. DasMindestelterngeld von 300 Euro wurde nur noch fürzwölf, maximal 14 Monate eingeführt. Das Erziehungs-geld vorher wurde für zwei Jahre gezahlt. Nun aber wirddas Mindestelterngeld vollständig auf das Arbeitslosen-geld II angerechnet. Das heißt, erwerbslose Eltern be-kommen nicht einen einzigen Cent als Anerkennung derErziehungsleistung. Auch hier kommt es zu einer Polari-sierung zwischen Arm und Reich und nicht zwischen Altund Jung. Auch hierzu hat die Linke eigene Vorschlägevorgelegt.Ich möchte noch ein viertes, kurzes Beispiel anfüh-ren: die Einkommen. Eine Studie der Bertelsmann-Stif-tung, die der Linken nicht gerade nahesteht, kommt zuder Einschätzung, dass die Ungleichverteilung der Ein-kommen in Deutschland innerhalb der letzten rund zweiJahrzehnte so stark zugenommen hat wie in kaum einemanderen OECD-Mitgliedsland. Sie kommentiert diesesErgebnis, dass mit Blick auf den Zusammenhalt einerGesellschaft eine solche Polarisierungstendenz bedenk-lich sei.Ich glaube nicht, dass es das ist, was Sie, Herr Staats-sekretär, unter Modernisierung verstehen. Ich hoffe zu-mindest, dass es nicht das ist, was Sie unter Modernisie-rung der gesellschaftlichen Strukturen verstehen, um dendemografischen Wandel in den Griff zu bekommen. Daswürde uns nämlich in den Abgrund führen.
In wenigen Tagen, am 8. März, feiern wir den Inter-nationalen Frauentag. Im vergangenen Jahr wurde erzum 100. Mal begangen. Es gibt einen Verein der in derDDR geschiedenen Frauen, der vor allem in Ostdeutsch-land aktiv ist. Diese Frauen gehen jedes Jahr auf dieStraße, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Sie sagen,
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19270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Diana Golze
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dass sie bei der Rente ungerecht behandelt werden. Wirhaben dieses Thema hier im Bundestag schon mehrfachbehandelt und dazu Vorschläge gemacht. Die Vorsit-zende dieses Vereins hat im Rahmen der letztjährigenDemonstration gesagt: Wir sind zwar alt, aber wir ver-stecken uns nicht. Wir bitten nicht. Wir wollen auchkeine Armutslösung. Wir wollen Gerechtigkeit. – Darumgeht es. Es geht um die Herstellung von Generationen-gerechtigkeit, und darum muss es auch gehen, wenn wirden demografischen Wandel gestalten wollen.
Ich bin in einem Dreiweiberhaushalt groß geworden.Er bestand aus meiner Oma, meiner Mutter und mir.Meine Oma ist am Montag dieser Woche 92 Jahre alt ge-worden.
Genauso wie ich nicht möchte, dass es Menschen undsogar Abgeordnete in diesem Haus gibt, die ihr das Hüft-gelenk nicht gönnen,
genauso möchte meine Oma nicht, dass meine Kindersich nicht das Studium leisten können. Es muss alsodarum gehen, mehr Verteilung und Gerechtigkeit zwi-schen den Generationen zu erreichen. Aber es muss auchdarum gehen, mehr Verteilung und mehr Gerechtigkeitinnerhalb der Generationen zu erreichen. Wir dürfen dieeine Generation nicht gegen die andere ausspielen, son-dern wir müssen für mehr Gerechtigkeit auch innerhalbder Generationen kämpfen.
Am 20. Februar war der Welttag der sozialen Gerech-tigkeit. Das ist einigen von Ihnen vielleicht gar nicht auf-gefallen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitatvon Stefan Heym bringen. Er hat zur Eröffnung des13. Deutschen Bundestags im Jahr 1994 gesagt:Benutzen wir die Macht, die wir haben, vor allemdie finanzielle, weise und mit sensibler Hand.Diese Weisheit und Sensibilität habe ich auch an demdiesjährigen Welttag der sozialen Gerechtigkeit ver-misst. Ich hoffe, dass sich dies bald ändert.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Tabea Rößner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Inder ersten Hälfte der Legislaturperiode konnte man fastden Eindruck gewinnen, der demografische Wandel habesich in Luft aufgelöst. So wenig Aktivitäten gab es von-seiten der Bundesregierung.
Die Regierung wollte partout nicht das Mammut erle-gen, das vor der Höhle stand. Stattdessen musste die Op-position sie immer wieder zum Jagen tragen.Jetzt kommt das Thema langsam wieder in Fahrt; unddas ist auch höchste Zeit. Dieses Mal treten wir Ihnendank der Großen Anfrage der SPD auf die Füße. Dochwas sagt uns die Antwort? – Alles in Ordnung. Die Bun-desregierung singt sich selbst eine Lobeshymne, wie tollsie den demografischen Wandel gestaltet. Die Hymnestellt sich aber bei genauerem Hinsehen eher als ein Ab-gesang heraus. Und schiefe Töne gibt es zudem auchnoch.
Spielen wir etwa das Lied des Freiwilligendienstes al-ler Generationen, den die Bundesregierung vorbildlichund besonders effektiv nennt. Das war er auch. Nur lei-der hat genau diese Bundesregierung den Dienst sterbenlassen, und das, obwohl sie weiß, dass der Freiwilligen-dienst aller Generationen besonders die Menschen ange-sprochen hat, die sich nie zuvor engagiert haben. Jetztwerden Sie bestimmt den Refrain anstimmen, dass es dieMehrgenerationenhäuser richten sollen. Aber diese er-setzen den Freiwilligendienst aller Generationen nicht;denn er hat es mit seinen mobilen Kompetenzteams denLeuten leicht gemacht, anzudocken. Sieht so Ihr Kon-zept aus: in der Vergangenheit schwelgen, Fehler abernicht korrigieren?
Der Lapsus mit dem abgeschafften Freiwilligendienstist zwar bezeichnend für Ihre planlose Arbeit, aber er isteine Petitesse gegen das, was sich durch alle Antwortenzieht. Es fehlt etwas. Es fehlt das, was die Grundlage Ih-rer Pläne zur Bewältigung des demografischen Wandelssein sollte. Es fehlt eine Vision, wie unsere Gesellschaftin Zukunft aussehen soll.
Der demografische Wandel wird in den nächsten Jah-ren und Jahrzehnten unsere Gesellschaft komplett verän-dern. Da geht es nicht darum, Herr Staatssekretär, ob dieBürger mitgenommen werden oder sich darauf einlassen.Die Menschen leben doch schon mit dem Wandel. In derAntwort zeigen Sie auch Handlungsbedarf auf, nur dielogischen Schlüsse daraus ziehen sie nicht.Wir müssen jetzt in eine breite gesellschaftliche De-batte darüber eintreten, wie wir in Zukunft leben wollen.Jetzt müssen wir die Leitplanken ausrichten. Aber vor-her sollten wir doch wissen, wohin der Weg überhauptführen soll.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19271
Tabea Rößner
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Eine einzige Positionierung konnte ich in Ihrer Ant-wort finden, wie unser Land im Jahr 2050 aussehenwird. In der Antwort 3 heißt es – diesen Zusatz, liebeSabine Bätzing, hast du leider vergessen –:Besonderer Schutz gebührt dabei weiterhin Ehe undFamilie.Besonderer Schutz der Ehe: eine so rückwärtsgewandteVorstellung der Zukunft ist wirklich sensationell.
Mit Ihren altmodischen und lebensfremden Familien-vorstellungen machen Sie sich ja heute schon lächerlich,wie der Beitrag von Ihrem Sittenwächter Norbert Geiszeigt. Meinen Sie, die Menschen in diesem Land habenkeine andere Sorge als die, ob der zukünftige Bundes-präsident verheiratet ist oder nicht?
Nein, die Menschen sorgen sich eher darum, ob sie nachder Elternzeit eine Kinderbetreuung haben und ob eseine gute Schule in der Nähe gibt – und das besonders,wenn sie in Mecklenburg-Vorpommern leben – und wiesie Arbeit und Familie unter einen Hut bekommen. Dassind die wichtigen familienpolitischen Fragen, und nichtdie Frage nach irgendeinem Trauschein.
Da passt es ganz gut, dass einige Ihrer Abgeordnetenjüngst eine Strafabgabe für Kinderlose einführen woll-ten. Erst die Herdprämie, jetzt die Demografiestrafe –Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger mit aller Gewaltin das Korsett Ihres Gesellschaftsbildes hineinzwängen.Wer überhaupt noch Lust hat, in diesem Land Kinder zukriegen, dem muss sie bei solchen Ansagen wirklich ver-gehen.
Sie sind nicht bereit, die gesellschaftlichen Entwick-lungen zu akzeptieren. Also verharren Sie auch bei derGestaltung des demografischen Wandels im Gestern.Beispiel Fachkräftemangel: Alle sind sich einig, wirmüssen drei Ressourcen mobilisieren, nämlich Frauen,ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie aus-ländische Fachkräfte. Wir bräuchten dringend Zuwande-rung von qualifizierten Arbeitnehmern. Dafür müssteman aber das System reformieren. Stattdessen: klitze-kleine Miniänderungen.
Es gilt bei der Zuwanderung – zwar mit Ausnahmen –noch immer ein Anwerbestopp. Das versprüht so vielWillkommenskultur wie eine zugenagelte Haustür.
Wir brauchen mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt.Stattdessen wollen Sie Müttern etwas zahlen, wenn sielänger zu Hause bleiben. Was ist denn das für eine kurz-sichtige Politik? Investieren Sie das Geld doch endlich inden Ausbau von Kindertagesstätten. Sorgen Sie für Ent-geltgleichheit zwischen Männern und Frauen, und gebenSie den jungen Frauen ein Signal, dass sie gebrauchtwerden. Installieren Sie endlich eine echte Quote und„flexiquoten“ Sie nicht rum.
Wir brauchen auch die älteren Arbeitnehmer; das istbeileibe kein Selbstläufer. Wir brauchen eine neue Kul-tur der Arbeit. Gute Ausbildung, lebenslanges Lernen,gesunde alterns- und altersgerechte Arbeitsplätze undflexible Arbeitsplatzmodelle – das alles gehört dazu.
Darüber hinaus brauchen wir eine bessere Integration äl-terer Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt. Solch eine Poten-zialverschwendung, wie wir sie heute betreiben, werdenwir uns in Zukunft nicht mehr leisten können, meine Da-men und Herren.
In der Pflegepolitik stellen Sie zu Recht dringendenHandlungsbedarf fest. Wir brauchen mehr und besser be-zahlte Pflegekräfte, die gut ausgebildet sind und derenBeruf breite Anerkennung findet. Aber wie sieht IhreLösung aus? Es gibt den kurzen Verweis auf die Pflege-reform Ihres glücklosen Gesundheitsministers. Diese hatdas Bundesfinanzministerium mittlerweile wieder ein-kassiert. Kein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff! KeinFahrplan! Keine Vision! Auch hier gilt: Planlosigkeit,wohin man schaut.Wir benötigen eine Pflegereform aus einem Guss, dieehrlich formuliert, was für eine Pflege wir uns zukünftigleisten wollen und was diese auch kosten wird. Das Mo-dell dazu gibt es. Es ist die grüne Pflege-Bürgerversiche-rung.
Noch eine letzte Sache, bei der Erkenntnis und Kon-sequenz weit auseinanderliegen: Sie sagen, die Lösun-gen für den demografischen Wandel müssten hauptsäch-lich vor Ort gefunden werden. Doch wie, bitte schön,soll eine Kommune, die in dem Teufelskreis aus wenigerEinwohnern, weniger Einnahmen, aber nicht wenigerKosten gefangen ist, ihre Infrastruktur gestalten? Auchder Rückbau wird Geld kosten. Wir brauchen handlungs-fähige und finanzkräftige Kommunen, damit vor Ortüberhaupt erst die Möglichkeit besteht, die Zukunft zugestalten. Diesen gedanklichen Bogen zur Bundespolitikhaben Sie offensichtlich noch nicht gespannt.
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19272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Tabea Rößner
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Demnächst wird also – Sie haben es eben angekün-digt – die Bundesregierung ihre Strategie für den demo-grafischen Wandel vorstellen. Ich fürchte nur, dass wirnichts Großes erwarten können. Denn die schwarz-gelbeRegierung hat, wie sie mit ihrer Antwort beweist,
kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungspro-blem, und das ist ziemlich eklatant.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Günter Krings für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie sehen, meine Damen und Herren von der
SPD: Ein wenig Geduld lohnt sich. Wir haben über diese
Große Anfrage debattiert. Inzwischen ist nicht nur die
Große Anfrage beantwortet, sondern es gibt auch einen
Demografiebericht, und in wenigen Wochen wird es
auch eine Demografiestrategie der Bundesregierung ge-
ben. Ich wünsche mir auch trotz mancher Wortmeldun-
gen und Aussagen heute, dass wir der Versuchung wi-
derstehen, dem Thema Demografischer Wandel mit
parteipolitischen und oppositionellen Reflexen zu be-
gegnen.
Es geht hier um langfristige und nachhaltige Strate-
gien, die wir als Antwort auf den demografischen Wan-
del gemeinsam suchen müssen. Natürlich brauchen wir
Strategien, die für eine Mehrzahl von Wahlperioden und
für viele verschiedene Bundesregierungen gültig sind.
Aber wenn wir das von vornherein nur im parteipoliti-
schen Streit tun – dieser ist ansonsten manchmal ganz
gut, und ich bin eigentlich auch nicht dagegen, partei-
politisch zu streiten –, dann werden wir bei dem Thema
nicht wirklich weiterkommen. Ich appelliere also an Ihre
Bereitschaft zu konstruktiver Zusammenarbeit in den
nächsten Wochen und Monaten; das klang eben nicht in
allen Redebeiträgen durch. Manche Stimmen und Aussa-
gen hätte ich mir zumindest ein wenig weniger schrill
gewünscht, meine Damen und Herren.
Demografischer Wandel bedeutet zum einen, dass wir
eine Entwicklung – das hat der Kollege Müntefering
beim letzten Mal sehr gut dargestellt – auch langfristig
vorhersehen können. Das ist in unserem parlamentari-
schen Alltag, in dem wir oft sehr kurzfristig – ich denke
an den vergangenen Montag – Entscheidungen treffen
müssen, fast Luxus. Hier können wir endlich langfristig
abschätzen, in welche Richtung sich Entwicklungen
vollziehen.
Zum anderen verlangt der demografische Wandel,
dass wir umgekehrt vorausschauend planen müssen. Ge-
nau daran arbeiten wir zurzeit.
– Ich möchte gerne die Zwischenfrage des Kollegen
Müntefering zulassen, falls der Präsident nichts dagegen
hat.
Bitte schön, Kollege Müntefering.
Herr Kollege, ich kann Ihren Appell, dass wir dieses
Thema nicht parteipolitisch wenden, sondern eine offene
Diskussion darüber führen sollten, verstehen. Was er-
warten Sie aber von der Opposition angesichts der Tatsa-
che, dass bei dieser Debatte das Ministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, das Bau- und Verkehrs-
ministerium, das Bildungsministerium, das Gesundheits-
ministerium sowie das Finanzministerium auf der Regie-
rungsbank nicht vertreten sind?
Herr Kollege Müntefering, herzlichen Dank für IhreZwischenfrage. Auch ich vermisse bei dieser Debatte inder Tat einiges. Das sage ich ganz offen. Ich könnte mirdie Regierungsbank besser besetzt vorstellen. Allerdingsweise ich darauf hin, dass hier das Innenministerium fe-derführend ist. Das ist auch gut so, weil es das Ministe-rium des sozialen Zusammenhalts ist und eine wichtigeQuerschnittsaufgabe wahrnimmt.Ich vermisse aber noch andere Dinge. Zum Beispielbedauere ich, dass Sie nicht auf der Rednerliste IhrerFraktion stehen. Ihr Redebeitrag hätte zur Qualität derDebatte beigetragen. Aber ich versichere Ihnen, dass so-wohl der Dialog innerhalb der Regierungskoalition undder Regierung als auch der Dialog mit der Oppositionnicht ausschließlich in dieser Form stattfinden müssen.Wenn es bei Ihnen Bedarf für ein Gespräch mit mir gibt– ich leite in meiner Fraktion die Projektgruppe „Demo-grafischer Wandel“ –, dann stehe ich jederzeit gerne zurVerfügung. Wir können, wenn wir es beide wünschen,Vertreter der Ministerien hinzuziehen. Das sollten wiralsbald einmal machen, Herr Kollege Müntefering.
Wir brauchen hier die Fähigkeit und die Bereitschaftzu langfristigen Weichenstellungen. Man muss in der TatRechenschaft darüber abliefern, welche langfristigenZiele wir politisch verfolgen. Aber heißt das – das ist derUnterschied zwischen unserer Position und dem, was dieKollegin Bätzing-Lichtenthäler vorgestellt hat und wasaus der grünen Fraktion in Person von Frau Rößner an-klang –, dass wir jetzt schon sagen sollten, wie unsereVision der Gesellschaft im Jahre 2050 aussieht? Ich will
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19273
Dr. Günter Krings
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jetzt gar nicht den Satz von Helmut Schmidt, der be-kanntlich nicht aus meiner Partei kommt, bemühen, dereinmal gesagt hat: Wer Visionen hat, der soll zum Arztgehen.Der wahre Kern dahinter ist, dass wir sehr wohl be-stimmte Grundwerte erhalten wollen. Das klang auch inder Antwort auf die Frage 3 an, in der davon ausgegan-gen wird, dass die freiheitlich demokratische Grundord-nung erhalten bleibt. In dieser Antwort kommt weiterhinzum Ausdruck, dass wir die Ehe im Gegensatz zu Ihnennicht für antiquiert halten und dass wir an dem besonde-ren Schutz für Ehe und Familie festhalten wollen.Eine Fortschreibung bestehender Werte in die Zu-kunft – ja. Aber genau zu sagen, wie eine Gesellschaft2050 aussehen soll, halte ich für anmaßend. Ich möchteeine Politik der Nachhaltigkeit und als Reaktion auf dendemografischen Wandel. Dabei sollten wir zukünftigenGenerationen möglichst viele Handlungsoptionen undEntscheidungsmöglichkeiten offenhalten. Das bedeutet,dass wir unsere Ressourcen schonen müssen. Dazu ge-hört in der Tat die Schuldenbremse und auch – ich sagenachher noch einige Sätze dazu – die Nachhaltigkeit dersozialen Sicherungssysteme. Legen wir also zukünftigeGenerationen nicht auf bestimmte Visionen fest, sonderngeben wir ihnen möglichst viel Handlungsspielraum inder Zukunft. Das ist meine Vorstellung von nachhaltiger,generationengerechter Politik.
Im Übrigen weise ich darauf hin – ich habe es schongesagt –, dass die Strategie der Bundesregierung baldvorgelegt wird. Dass die Bundesregierung nicht mit ei-nem Male das gesamte Pulver verschießen will, halte ichfür nachvollziehbar.Um dieses Ziel einer gewissen Verstetigung vonGrundwerten zu erreichen, brauchen wir natürlich Ak-teure. Herr Staatssekretär Bergner hat darauf hingewie-sen, dass es diese Akteure in der Gesellschaft, in derWirtschaft und im privaten Bereich gibt. Aber auch derStaat muss als Akteur hier sehr ernst genommen werden.Ich will das an zwei Bereichen exemplifizieren.Viele erwarten vom Staat – das erkenne ich an denZuschriften –, dass er etwas gegen den demografischenWandel unternimmt. Es wird gefragt, warum dieserWandel nicht gestoppt werden kann. Eben klang es sogarbei den Linken an, der demografische Wandel sei eigent-lich ein Produkt der Politik. Es ist ein merkwürdigesMenschen- und Gesellschaftsbild, dass die Politik dendemografischen Wandel herbeigeführt hätte.
Ich glaube, das wird außer Ihnen in diesem Haus nie-mand als eine echte Erklärung ansehen.Der demografische Wandel beruht im Wesentlichenauf einer Summe von persönlichen Lebensentscheidun-gen. Es ist auch gut so, dass die Menschen individuellentscheiden können und wir ihnen keine politischen Vor-gaben machen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Golze?
Aber sehr gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,
Herr Kollege. – Ich frage Sie: Ist es keine politische
Maßnahme, wenn eine Landesregierung eine Prämie an
junge Leute, aber auch an erwerbslose ältere Menschen
dafür zahlt, dass sie das Bundesland verlassen und in
eine andere Region ziehen, nur damit die eigene Statistik
stimmt? Meinen Sie nicht auch, dass diese politische
Maßnahme zur Folge hat, dass gerade aus Regionen, die
sowieso schon durch Geburtenmangel gekennzeichnet
sind, junge Leute abwandern, die höchstwahrscheinlich
nicht mehr zurückkommen werden? Glauben Sie nicht
auch, dass eine solche Maßnahme den demografischen
Wandel zumindest verstärkt?
Ich bestreite nicht, dass es politische Maßnahmen
gibt, die sowohl stärkend als auch schwächend auf den
Effekt einwirken können. Ich habe nur die Kausalität im
Kern bezweifelt. Die Menschen wollen Arbeit. Es mag
vielleicht Anreize geben, damit sie dahin gehen, wo es
Arbeit gibt. Ich glaube, dass die Politik nicht den Ver-
such machen sollte, jegliche Wanderungsbewegungen in
Deutschland um jeden Preis zu verhindern. Ich komme
aus dem Rheinland. Das ist nicht weit entfernt vom
Ruhrgebiet. Wenn es im 19. Jahrhundert beispielsweise
keine Wanderungsbewegungen aus den damaligen östli-
chen Gebieten Deutschlands in das Ruhrgebiet gegeben
hätte, hätte es weder vor dem Zweiten Weltkrieg noch
danach einen wirtschaftlichen Aufschwung an der Ruhr
gegeben. Insofern gibt es immer Wanderungsbewegun-
gen. Wir können uns darüber unterhalten, ob die eine
oder andere staatliche Maßnahme zu weit geht oder kon-
traproduktiv ist, aber so zu tun, als ob der demografische
Wandel im Kern auf staatlichen Entscheidungen beruht
– so haben Sie es dargestellt –,
ist schlichtweg falsch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, diesmal der Kollegin Scharfenberg von den Grü-
nen?
Gern. Beim nächsten Male wäre es einfacher, die Re-dezeit zu verdoppeln, aber mit einer Zwischenfrage er-reichen wir dies auch.
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19274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Manchmal kommt es mehr auf den Inhalt an. VielenDank. – Im Hinblick auf den demografischen Wandelhaben Sie von einer Summe persönlicher Entscheidun-gen gesprochen. Ich frage Sie zum Thema Pflegebedürf-tigkeit. Dies ist nicht unbedingt eine persönliche Ent-scheidung, die getroffen wird; es ist ein Schicksal, daseinen ereilen kann. Der demografische Wandel, wie ersich im Moment vollzieht, zeigt uns ganz klar, dass wirin naher Zukunft mit einer erhöhten Zahl an Hochaltri-gen rechnen müssen, die einen erhöhten Pflegebedarfhaben können. Das ist nichts, was wir erst sehen könn-ten; das sehen wir bereits. Meine Frage, die ich Ihnen indiesem Zusammenhang stelle, ist: Warum weigert sichdiese Regierung, eine umfassende und strukturell und fi-nanziell richtige Pflegereform auf die Beine zu stellen,um dem entgegenzuwirken?
In der Tat haben wir bereits eine Pflegeversicherungs-reform auf den Weg gebracht. Hier wollen wir neueLeistungstatbestände, etwa bei Demenzkranken, schaf-fen. Insofern reagieren wir auf Veränderungen in der Ge-sellschaft, zum Beispiel beim Gesundheitszustand undbei der Pflegebedürftigkeit. Ich glaube, dies ist ein Pro-zess, der weitergehen muss. Insofern bin ich gar nicht soweit weg von Ihnen. Ich glaube aber, dass wir diesesProblem nicht nur auf der Leistungsseite angehen kön-nen. Wenn wir sagen: „Es gibt mehr Leistungsempfängerund mehr Bedarf im Bereich der Pflege“, so müssen wirebenfalls schauen: Ist die Finanzierung, wie wir sie ge-staltet haben, nachhaltig? Ich mache keinen Hehl daraus,dass wir in diesem Bereich auch das Stichwort „Demo-grafierücklage“ beachten müssen. Im Bereich der Pfle-geversicherung haben wir noch etwas zu tun. Das istaber ein schrittweiser, ein evolutiver Prozess. Wir habenerste richtige und wichtige Schritte gemacht. Aus meinerSicht wird dieser Prozess sowohl auf der Leistungsseiteals auch auf der Finanzierungsseite weitergehen müssen.Deswegen fände ich es gut, wenn die Grünen zu ihrer al-ten Beschlusslage zurückkehren und einer Demografie-rücklage, wie sie ursprünglich von ihnen gefordertwurde, wieder etwas abgewinnen könnten. Vielleichtkönnten wir an dieser Stelle Skeptiker in unseren beidenFraktionen überzeugen. – Vielen Dank.Zuwanderung, Abwanderung, Geburtenrate, Sterbe-rate – das sind die vier Faktoren, die den demografischenWandel bestimmen. Wir können nur an wenigen Punktenetwas ändern oder wesentlich verändern. Insofern warneich davor, zu meinen, man könnte das ganze Phänomenstoppen. Bei der Zuwanderung – gerade haben wir eineDebatte dazu geführt – haben wir gesetzliche Hand-lungsmöglichkeiten. Wenn wir es richtig verstehen, be-schränken sie sich auf qualitative Zuwanderung. Wennwir – das ist quantitativ – die Zahl der Arbeitnehmer undRuheständler im jetzigen Gleichgewicht halten wollen,hieße das: jährliche Zuwanderung jenseits der Millio-nengrenze. Ich glaube, niemand glaubt ernsthaft, dasswir solche Zuwanderungszahlen in der Gesellschaft inte-grativ sinnvoll verkraften können.Beim Thema Abwanderung gibt es naturgemäß keineSteuerungsmöglichkeiten. Dazu hätten allenfalls die Lin-ken etwas aus ihrer Geschichte im Angebot, aber ichverzichte, darauf einzugehen.Beim Thema Geburtenrate haben wir die Pflicht, zuschauen: Was hindert Menschen daran, einen Kinder-wunsch, den sie als Paar haben, zu realisieren? Aberauch da müssen wir bescheiden sein. Wir haben gute undsinnvolle Maßnahmen eingeführt, etwa das Elterngeld.Es hat nicht wesentlich zu einer Erhöhung der Geburten-rate geführt. Wir können ein wenig tun, aber wir könnenleider nicht allzu viel tun. Ich finde es an dieser Stellewiederum beruhigend, dass die Frage, ob man sich füroder gegen Kinder entscheidet, im Wesentlichen einepersönliche und nicht in erster Linie eine finanzielle Ent-scheidung ist. Ich fände eine Gesellschaft problematisch,in der dieses Thema nur auf eine rein finanzielle Fragereduziert wird.
Ich will den letzten Faktor für einen demografischenWandel nennen: die Lebenserwartung. Ich hoffe, dasswir an diesem Punkt gemeinsam etwas zur Verschärfungdes demografischen Wandels beitragen; denn ich möchteeine Gesundheitspolitik – die betreiben wir –, die die Le-benserwartung erhöht.Ist also der Staat als Akteur im Wesentlichen auf dieAnpassung an den demografischen Wandel reduziert?Ich will dazu nur einige Stichworte nennen.Ich glaube, dass wir in der Tat – das haben wir beimThema Pflege schon angesprochen – bei den sozialen Si-cherungssystemen agieren müssen. Die Politik muss sichinsgesamt, und zwar unabhängig von Parteigrenzen, vor-werfen lassen, dass sie vor dem demografischen Wandelim Hinblick auf die soziale Sicherung jahrzehntelangfest die Augen verschlossen hat. Wir haben die Augen inden letzten Jahren jedoch gemeinsam geöffnet und ha-ben beispielsweise die Rente mit 67 als Ziel eingeführt.Das ist wichtig, wenn wir nicht entweder Beiträge er-höhen oder Rentenzahlungen senken wollen. Ich haltealle Vorschläge – egal von welcher Fraktion in diesemHause sie kommen –, die die Rente mit 67 infrage stel-len, für ein echtes Sicherheitsrisiko im Hinblick auf dielangfristige Sicherung unserer Renten. Aus diesemGrunde müssen wir den Weg weitergehen, die Konse-quenzen aus dem demografischen Wandel zu ziehen.Das Thema Pflegeversicherung und Demografierück-lage habe ich bereits angesprochen.Ein zweiter großer Bereich, wo wir tätig werden müs-sen – das wird sicher einer der Schwerpunkte in der Stra-tegie werden –, ist die Bildung. In einer schrumpfendenGesellschaft können wir es uns immer weniger leisten,dass Talente ungenutzt bleiben. Das heißt nicht, dass wirfür jeden die Habilitation anstreben sollten. Ich glaubeaber, dass wir viel stärker mit dem Pfund der dualenAusbildung in Deutschland, worum uns die halbe Weltbeneidet, wuchern können. Vor allem müssen wir dasBildungsniveau und die Bildungschancen von Menschenmit Migrationshintergrund verbessern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19275
Dr. Günter Krings
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Schließlich: Die Chance und die Notwendigkeit zumLernen hören nicht im Alter von 30 Jahren auf. Wirbrauchen eine kulturelle Entwicklung hin zum lebens-langen Lernen, die wir vonseiten des Staates auf ver-schiedenen Ebenen anstoßen können. Ich habe das Ge-fühl – wenn ich diesen Gedanken noch äußern darf –,dass lebenslanges Lernen von vielen Menschen eher alsBedrohung denn als Chance wahrgenommen wird. Wirmüssen dahin kommen, dass alle Generationen und alleAltersgruppen wieder einen gewissen Wissensdurst, ei-nen Lernhunger verspüren. Damit können wir einen we-sentlichen Beitrag zur Anpassung an den demografi-schen Wandel leisten.Ich könnte noch eine Reihe von weiteren Punktennennen, unter anderem konkrete Beispiele aus den neuenLändern zum Thema Infrastrukturentwicklung. In dieserBeziehung können die alten Länder viel von den neuenLändern lernen. Wir brauchen hier keine Sorge zu haben.Es gibt durchaus hochentwickelte und wohlhabendeLänder mit viel geringerer Bevölkerungsdichte, die dassehr gut schaffen: Kanada ist ein Beispiel, des WeiterenFinnland oder Länder in Osteuropa.Es gibt also keinen Grund zur Sorge, aber Grund zumArbeiten. Wir müssen das Thema nicht nur über Frak-tions- und Parteigrenzen hinweg angehen, sondern esauch über die Grenzen der staatlichen Ebenen hinaus an-packen. Bund, Länder und Kommunen müssen hier ge-meinsam arbeiten. Die nationale Strategie ist der ersteSchritt. Wir werden weitere Schritte hoffentlich mit Ih-nen gemeinsam gehen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ulrike Gottschalck für die SPD-
Fraktion.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsi-dent! Ein halbes Jahr haben wir auf die Antworten derBundesregierung gewartet. Wir wollten erfahren, welcheHandlungsperspektiven und welche nachhaltigen Ant-worten die Bundesregierung gibt.Ich will Herrn Dr. Bergner, den ich jetzt nicht mehrsehe, gerne zubilligen: Danke schön, es war eine ordent-liche Fleißarbeit. Aber ansonsten muss ich sagen, dasssich das Warten leider nicht gelohnt hat. Es gibt in dieserAntwort viele warme Worte und heiße Luft, aber keineKonzepte.
Insbesondere die Antworten der Bundesregierung zurRolle der Kommunen und Regionen grenzen schon fastan Ignoranz. Allein optisch sieht man schon, dass dieKommunen bei der Bundesregierung offensichtlichkeine prioritäre Rolle genießen; denn die Kommunensind der Regierung gerade einmal einige wenige Zeilenwert. Schaut man sich dann diese wenigen Zeilen inhalt-lich an, wird es erst richtig gruselig.Meine sehr geehrten Herren auf der Regierungsbank– ich sehe nur noch Herrn Ferlemann und Herrn Fuchtel –:Haben Sie eigentlich realisiert, dass die demografischeEntwicklung insbesondere die Kommunen trifft, weil ih-nen die Gesamtverantwortung für die Daseinsvorsorgevor Ort obliegt? Haben Sie realisiert, dass die Kommu-nen für die Aufrechterhaltung einer reibungslos funktio-nierenden Infrastruktur und Mobilität zuständig sind unddass der Druck auf die Kommunen im Hinblick auf dieSicherstellung der Grundversorgung – Kindergärten, Ge-sundheitsversorgung, ÖPNV, Nahversorgung und vielesmehr – immer stärker wird? Meine sehr geehrten Damenund Herren, Herr Dr. Bergner – Sie sind jetzt wieder da –,haben Sie realisiert, dass die Kommunen dafür die Un-terstützung des Bundes brauchen? Wo sind Ihre Strate-gien und Konzepte?In den wenigen Passagen, die Ihnen die Kommunenwert sind, spielen Sie Schwarzer Peter, schieben dieVerantwortung den Ländern und Kommunen zu. AufSeite 33 führen Sie aus:Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft umdie Belange der benachteiligten Stadtteile kümmernund die Städte und Gemeinden darin unterstützen…Und wie sieht die Realität aus? Die Mittel für die Städte-bauförderung, insbesondere für das Programm „SozialeStadt“, wurden 2010 und 2011 drastisch gekürzt, 2012auf niedrigem Niveau verstetigt.Auf Seite 18 teilen Sie mit:Das Wohnen im Alter ist und bleibt ein Schwer-punkt der Wohnungs- und Stadtentwicklungspoli-tik.Wenige Sätze weiter feiern Sie sich für das gute KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“. Richtig so; dennes war wirklich ein gutes Programm. Nur wurde die Be-reitstellung der Mittel im Haushalt leider nicht verlän-gert, das Programm ist ausgelaufen. Meine sehr geehrtenDamen und Herren, die Betonung liegt auf „war“: Eswar ein gutes Programm. Altersgerechtes Umbauen isteinfach wichtig. Wie kurzsichtig ist es denn, das Pro-gramm auslaufen zu lassen?Das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat im Auftragdes Verkehrsministeriums den Bedarf an altersgerechtenWohnungen errechnet. Danach müssen bis 2020 mindes-tens 2,5 Millionen Wohnungen barrierefrei bzw. barrie-rearm sein. Und was macht die Bundesregierung? Sielässt das Programm auslaufen.Der Gipfel der Ignoranz, meine sehr geehrten Damenund Herren, ist jedoch die Aussage der Bundesregierung,dass die Kommunen durch „die Übernahme der kommu-nalen Ausgaben für die Grundsicherung … finanzielleSpielräume“ erhalten, die sie „für die Gestaltung des de-mografischen Wandels nutzen können.“
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19276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Ulrike Gottschalck
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Zudem würden „die Haushalte der Kommunen … durchden demografischen Wandel weniger belastet“, es werde„sogar Einsparpotenzial gesehen.“ Ich persönlich findedas nicht nur frech, sondern auch realitätsfern. Die Kom-munen haben angesichts der ständig zunehmendenPflichtaufgaben keinerlei Spielräume und stehen vor rie-sigen Herausforderungen: Außer dem demografischenWandel gibt es da die Umsetzung des Rechtsanspruchsauf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren sowiedie Kosten der Inklusion.Meine sehr geehrten Damen und Herren, HerrDr. Bergner, dass Sie sich in der Antwort auf unsereFrage nach der finanziellen Unterstützung der Kommu-nen ausgerechnet auf die kommunale Selbstverwaltungberufen, ist schon perfide.
– Ich würde mir wünschen, dass Sie bei vielen anderenGesetzen, zum Beispiel beim Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz, an die kommunale Selbstverwaltung ge-dacht hätten. Denn Sie schnüren den Menschen in denKommunen und den Kommunen selber, den Gemeindenund Städten, die Luft ab.
Deswegen finde ich das perfide. – Sie von der Koalitionwollen offensichtlich eher Ihre Klientel hofieren und dieKommunen belasten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sindjetzt gespannt auf Ihre Demografiestrategie und hoffen,dass wir darin bessere Antworten erhalten. Wir habenauf jeden Fall kein großes Zutrauen und arbeiten deshalbmit Hochdruck an handfesten Konzepten für ein gutesMiteinander der Generationen. Vor allen Dingen wollenwir nicht die Kommunen im Regen stehen lassen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Von der Trauerstrophe hin zum Zukunftsthema.Demografieentwicklung: Wie steht Deutschland in 30,40 oder 50 Jahren da? Die demografische Entwicklunggeht alle an. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Es istnicht angemessen, das aktuelle Wahlprogramm mit demDemografieproblem zu untersetzen. Vielmehr muss manauf die eigentlichen Herausforderungen eingehen.Die demografische Entwicklung betrifft natürlich dieKinder, die in die zukünftige Gesellschaft hineingeborenwerden, diejenigen, die im Arbeitsleben stehen, und dieältere Generation, die viel mehr an die Zukunft denkt, alswir Jüngeren manchmal glauben.Viele haben nämlich durchaus auch Sorgen oder Pro-bleme, wie es ihren Kindern eigentlich ergehen wird, obsie es besser haben werden als sie selbst oder – das istmittlerweile neu – ob es den Kindern mindestens ge-nauso gut wie ihnen selbst gehen wird. Die demografi-sche Entwicklung wirkt sich auf alle Bereiche aus. DieBevölkerung schrumpft. In 50 Jahren wird es – wennman es umrechnet – die Bevölkerung des Landes Nord-rhein-Westfalen in Deutschland nicht mehr geben. Wennman so möchte, ist die gesamte nordrhein-westfälischeBevölkerung abgewandert – wenn man den ZahlenGlauben schenken mag.Die Bevölkerung wird älter. 30 Prozent der Menschenin der Gesellschaft sind im Rentenalter. Daraus folgt na-türlich auch, dass die Erwerbstätigenzahlen zurückge-hen. Das hat Auswirkungen auf die Produktivität und da-mit natürlich auch darauf, wer die Werte in dieser Gesell-schaft schafft, die so dringend gebraucht werden.Wenn das alles eintritt, wirkt es sich auf alle Lebens-bereiche aus: auf Schule, Infrastruktur, Nachwuchs, Ar-beit, Pflege, Rente. Jedes Ressort hier und jedes Ressortin den Ländern ist betroffen. Ganz entscheidend ist: Derdemografische Wandel ist nicht nur in den Statistikenoder in der Politik, sondern im konkreten Leben derMenschen angekommen: Schulnetzplanungen, Arbeit-nehmer, die immer älter werden und sich fragen, wo dieAzubis in dem Betrieb sind, oder auch Vereine oderKreisvorstände, in denen der Altersdurchschnitt deutlichgestiegen ist und noch steigen wird. In der Politik ist die-ses Thema leider – insbesondere bei den Vorgänger-regierungen – weitgehend unterbelichtet geblieben. DieSPD hat elf Jahre regiert. 2007 hat Tiefensee eine Studiefür viel Geld in Auftrag gegeben, veröffentlicht undgleich wieder zurückgezogen. Die Projekte vonTiefensee wurden als nutzlos eingestuft.Schwarz-Gelb hat mit dieser Politik Schluss gemacht.Im Koalitionsvertrag ist die Demografieproblematik alsHerausforderung deutlich benannt worden. Die erste Ko-alitionsklausur damals in Meseberg hat die Demografie-strategie in Auftrag gegeben. Das Haus – zunächst vonde Maizière, dann von Friedrich –, also das Innenminis-terium, hat hierzu sehr wichtige Daten gesammelt. Ander Stelle sagen wir: Das Innenministerium soll dieseDaten sehr gern sammeln. Wir als Liberale finden dasDatensammeln an der Stelle richtig.
Dieses Datensammeln – das will ich eindeutig sagen – istnotwendig.Wir haben dann, nachdem diese Demografiestrategiein Auftrag gegeben worden ist, im letzten Jahr – am3. Oktober – das Handlungskonzept veröffentlicht. Nichtwir haben das gemacht, sondern die Bundeskanzlerinmit den ostdeutschen Ministerpräsidenten. Wir haben da
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19277
Patrick Kurth
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den Aufbau Ost umgestellt und auch auf die Demografieabgestellt. Wann hat es das je gegeben, dass die Bundes-kanzlerin mit den Ministerpräsidenten gemeinsam einHandlungskonzept herausgibt?Das Verkehrsministerium hat sich um die ländlichenRäume gekümmert, das Gesundheitsministerium um denLandärztemangel, das Wirtschaftsministerium um dieInnovationen in kleinen Betrieben, die vor allen Dingenin den Regionen angesiedelt sind. Im November 2011kam dann der Demografiebericht, an dem alle Ministe-rien beteiligt waren. Auch das ist etwas ganz Neues undInnovatives. Im Frühjahr 2012 wird dann die Demogra-fiestrategie mit direkten, konkreten Forderungen kom-men.
– Da gibt es Gelächter. Ihnen fiel es damals schwer, dasrote Entwicklungshilfeministerium und das rote Außen-ministerium zu gemeinsamem Handeln zu veranlassen.Jetzt arbeitet die gesamte Bundesregierung zusammenam Demografieproblem. Das muss man einmal hervor-heben.
In der Demografiestrategie, die demnächst heraus-kommen wird, werden wir darüber reden, inwieweit wirinnovative Firmen unterstützen können, Konzentrationstatt Rückbau schaffen.Das will ich zum Abschluss sagen: Da stellen Sie ins-gesamt 63 Fragen, und in keiner einzigen Frage wirdkonkret darauf eingegangen, wie wir Einwanderungwirklich gestalten und sie nutzen können.
Zur auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, dazu, wodeutsche Schulen im Ausland sind, zu deutschen Univer-sitäten, wo wir Leute im Ausland nach Deutschland ein-laden, gibt es keine einzige Frage. Diese Bundesregie-rung hat als erste Bundesregierung eine Staatsministerinim Auswärtigen Amt, die ausdrücklich nur für die aus-wärtige Kultur- und Bildungspolitik zuständig ist. Au-ßenminister Westerwelle hat die auswärtige Kultur- undBildungspolitik umgestellt. Das hat viel mehr mit Zu-kunft zu tun als Frage Nr. 20, die lautet:Ist die Bundesregierung bereit, mit praktischem An-schauungsmaterial
für alten- und behindertengerechten Umbau oderNeubau zu werben?Diese Frage zu beantworten, ist schwer; aber diese Fragezu stellen, ist noch viel schwerer.Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk-samkeit.
Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Wir wollen die Heiterkeit nicht unter-binden, um Gottes willen.
Sehr verehrte Kollegen! Zunächst einmal möchte ichdem Präsidium in Bezug auf die Gestaltung der Tages-ordnung ein Kompliment machen; denn die vorherge-hende Debatte zum Thema Hochqualifizierten-Richtliniehatte einen ähnlichen Kontext. Dadurch ergibt sich eineSchwerpunktbildung am heutigen parlamentarischenNachmittag. Das schadet sicherlich nicht.Zu Beginn will ich deutlich machen: Es handelt sichnicht etwa um einen Gesetzentwurf, den wir heute disku-tieren, es handelt sich auch nicht um einen Antrag, son-dern es handelt sich um Antworten der Regierung aufgestellte Fragen. Ich kann nur so viel sagen: Wenn Siedie Antworten auf die gestellten Fragen nicht hören wol-len, müssen Sie andere Fragen stellen. Das ist meineerste Feststellung.
Meine zweite Feststellung. Ich habe manchmal denEindruck: Es ist so etwas wie ein Hase-und-Igel-Spiel.Lassen Sie uns den ganzen Ablauf Revue passieren. DieBundesregierung arbeitet an einem Demografiebericht
– vielleicht warten Sie einmal das Ende des Satzes ab; eskann vielleicht auch ein Lerninhalt folgen –, und zweiWochen vor der Veröffentlichung hieven Sie das Themaauf die Tagesordnung, damit Sie sagen können: Ihrmüsst den Bericht vorlegen! Dabei weiß die ganze Welt,dass der Bericht in zwei Wochen veröffentlicht wird. Siewissen, dass demnächst die Demografiestrategie veröf-fentlicht wird. Nun wollen Sie schnell noch über die Be-antwortung der Großen Anfrage diskutieren – die übri-gens schon länger vorliegt –, nur um sagen zu können:Jetzt brauchen wir eine Strategie.
Das ist ein bisschen eine Haltet-den-Dieb-Manier.Aber sei es drum. Egal wer in unserem Land alsHandlungsreisender zum Thema Demografie unterwegsist, eines ist klar: Es ist ein wichtiger Themenkomplex,
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19278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Michael Frieser
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und ich glaube, wir müssen die Menschen tatsächlichnoch mehr dafür sensibilisieren. Es geht darum, dass alleBereiche ineinandergreifen müssen – das ist sicherlichwahr –, aber wenn ich mir die Heterogenität des Fragen-komplexes der SPD anschaue, dann stelle ich fest, dassdas auch für Ihre Fraktion gilt. Für zukünftige Diskus-sionen wäre es durchaus hilfreich, den Themenkomplexzu bündeln.Ich bin dem Kollegen Kurth dankbar, dass er auf Fol-gendes hingewiesen hat. Mich hat bei Ihrer Großen An-frage zum Beispiel gestört – ich habe es im Oktoberschon formuliert –, dass die Migrations- bzw. die Inte-grationspolitik bis auf die Wörter „Zuwanderung“ und„Zuwanderungssaldo“ keine Rolle spielen. Nun kannman sagen: Das ist inzidenter; darin ist bereits die volleZustimmung der SPD-Fraktion zur Integrations- und Mi-grationspolitik der Bundesregierung eingeschlossen.Ich bin gerne geneigt, das tatsächlich so zu sehen,halte aber den Komplex Migration und Integration für sowichtig, dass ich mich noch einmal kurz damit befassenmöchte. Mit der Erkenntnis „weniger und älter“ könnenwir die Zukunft beschreiben. Dadurch wissen wir, wo-rauf wir uns konzentrieren müssen. Die Entwicklung inden Großstädten zeigt einen anderen Weg. Dort ist klar,dass es nicht um weniger geht; denn es ist eindeutig,dass wir in den Metropolen und in den Großstädtendurchaus noch Wachstumspotenziale haben. Warum ha-ben wir die? Weil sich Menschen mit Migrationshinter-grund verstärkt dort ansiedeln und so verstärkt ihren Bei-trag leisten können.Erst jüngst hat der Freistaat Bayern das Ergebnis ei-ner in Auftrag gegebenen Sinus-Studie zum Thema Mi-gration veröffentlicht. In diesem Bundesland Bayern,aus dem ich zufälligerweise stamme, gibt es zum Bei-spiel Städte wie Schweinfurt, wo 53 Prozent der Men-schen einen Migrationshintergrund haben. Das zeigt uns,dass das Thema auch im Zusammenhang mit der Fragedes demografischen Wandels von immer größerer Be-deutung sein wird. Daher gilt es, die Menschen mit einergewissen Sensibilität auf diese Entwicklung vorzuberei-ten. Aber wir dürfen nicht glauben – ich bin dem Kolle-gen Krings dankbar, dass er darauf hingewiesen hat –,dass wir das alleine durch Zuwanderung werden lösenkönnen; manchmal hat das den Anschein. Es braucht einmodernes, zeitgemäßes und steuerndes Zuwanderungs-recht. Aber klar ist, dass wir die Probleme damit alleinnicht lösen können. Wir müssten theoretisch einen Zu-wanderungssaldo von gigantischen Ausmaßen haben,um alles im Lot zu halten. Da befinden wir uns tatsäch-lich am Rand unserer Belastbarkeit.Worum geht es also? Es geht um das Heben derPotenziale, die es in unserem Land gibt. Es geht darum,dass das, was bereits in unserem Land an Potenzial vor-handen ist, einen optimalen Beitrag leisten kann. DieseDinge sind zum größten Teil auch schon angesprochenworden. Es geht letztendlich um die Menschen, die drau-ßen sind. Ich habe manchmal den Eindruck, manchedenken, vor unseren Türen stünden Schlangen von hoch-qualifizierten Arbeitnehmern. Aber dem ist nicht mehrso. Aufgrund der Sprache haben wir ohnehin einen wirt-schaftlichen Standortnachteil; denn mittlerweile ist dieangelsächsische Sprache international der Normalfall.Letztendlich müssen wir sagen: Wer nach Deutschlandkommen möchte, ist herzlich willkommen, wenn erhochqualifiziert ist. Aber es muss klar sein, dass wir unswirklich auf die Qualifikation stützen können.Worum geht es? Die Aufgabe, die sich für uns ausdem demografischen Wandel ergibt, ist, unsere Systemezu stabilisieren. Es geht darum, dass wir Menschen inunserem Land haben, die einen Beitrag leisten können,und zwar sowohl einen persönlichen Beitrag zur Gesell-schaft als auch einen stabilisierenden finanziellen Bei-trag, dass sie also Steuern und Beiträge zu den Sozial-versicherungen zahlen. Deshalb kann eine unkontrol-lierte Zuwanderung in Sozialsysteme sicherlich nicht dieZukunft sein.Letztendlich muss es uns um Teilhabe und Teilnahmean dieser Gesellschaft gehen. Ich glaube, dass es darumgeht, den Menschen Folgendes deutlich zu machen: Esgeht um die Qualifizierten, die sich schon im Land be-finden. Das heißt: Wer da ist, soll – Stichwort „Anerken-nungsgesetz“ – optimal vorbereitet werden. Dazu lädtman ein. Lassen wir bitte jenen marktschreierischen Par-lamentarismus und jene Parteiendiskussion heraus. Die-ses Thema wird uns in der Tat noch sehr lange beschäfti-gen.Als nächsten Akt freue ich mich sehr auf die Strategieder Bundesregierung.Vielen Dank.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Wir reden über die Große Anfrage derSPD-Fraktion zum demografischen Wandel in Deutsch-land. Nach Lektüre der 63 Fragen und 63 Antwortenkann man eines festhalten: Es wurde viel von dem be-schrieben, was bisher getan wurde, auch von den voran-gegangenen Regierungen. Es ist aber nicht einmal einSpurenelement von Perspektive und Strategie in dieserAntwort zu finden.
Um auch dem Publikum die Komplexität dieser Ant-worten zu verdeutlichen und um zu zeigen, welch schöneWorte gefunden wurden, denen aber leider keine Tatenfolgen, will ich etwas vorlesen. Das steht auf Seite 10 un-ter der Frage „Welche Konsequenzen und Handlungsbe-darfe ergeben sich aus der sinkenden Zahl von Men-schen im Erwerbsalter bis 2030 und bis 2050/60?“ Ichzitiere:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19279
Katja Mast
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Die mit der künftig regional unterschiedlich sinken-den Zahl von Menschen im Erwerbsalter verbunde-nen Herausforderungen für die wirtschaftliche Ent-wicklung, insbesondere die Sicherung der Fach-kräftebasis und eines hohen Produktivitätswachs-tums, erfordern es, diesen Prozess zu gestalten.
Wer diesen Satz auf Anhieb versteht, der weiß, wa-rum wir schnell über diese Antwort diskutieren müssen.Alle Sätze sind von dieser Qualität. Ich bin der festenÜberzeugung: Wer Sätze wählt, die man nicht auf An-hieb versteht, der will etwas verschleiern.
Genau das ist bei der Antwort auf unsere Große Anfrageder Fall.Wir werden im Jahr 2020 und erst recht im Jahr 2050– das ist jetzt schon mehrfach erwähnt worden – einenFachkräftebedarf in Deutschland haben; das ist klar.Nach Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-forschung werden wir bis 2025 aufgrund des demografi-schen Wandels in Deutschland 6,5 Millionen Erwerbsfä-hige verlieren. Bis 2025 sind entsprechend der gleichenStudie – je nachdem, welche Maßnahmen erfolgen –1,85 Millionen, maximal 5,2 Millionen mobilisierbar.Das heißt, wir werden durch Mobilisierung des inländi-schen Potenzials nicht genug Erwerbspersonen bekom-men.Weil ich so viele junge Leute auf der Tribüne sehe,will ich sagen, was zur Mobilisierung des inländischenPotenzials gehört: dass alle Jugendlichen gut ausgebildetwerden können.
Dazu gehört, dass alle Frauen – meistens sind es jaFrauen, die Teilzeit arbeiten oder Minijobs haben – Voll-zeit erwerbstätig sein können. Dazu gehört, dass auchMenschen mit Migrationshintergrund, die heute amstärksten unter der Spaltung am Arbeitsmarkt leiden,ihre Chance und ihr Recht auf gute Arbeit bekommen.Und dazu gehört, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer nicht mit 55 aus dem Arbeitsmarkt ausge-steuert werden, sondern mit 55, sogar mit 60 noch ein-mal neu anfangen können.
Allein in Baden-Württemberg fehlen bis 2020250 000 Arbeitskräfte. Da stellt sich die Frage: Wie kön-nen wir für ein Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräf-ten sorgen, das wir brauchen, um wirtschaftlich stark zusein? Dazu schreibt die Regierung wirklich viel, sowohlzur Situation als auch zur Analyse. Aber es fehlt derHauch einer Antwort auf die Frage: Wie gehen wir damitin den kommenden Jahren um? Es ist wichtig, dass die-sen schönen warmen Worten Taten folgen. Die sind abernicht ersichtlich.Wenn ich durch das Brennglas schaue, stelle ich fest:Wir haben im Haushalt der Arbeitsministerin im Bil-dungsbereich Kürzungen von 26,5 Milliarden Euro.Diese Mittel können nicht mehr verwendet werden, umlebenslanges und lebensbegleitendes Lernen zu organi-sieren. Für Jugendliche, die ein bisschen schwächer sind,gibt es das Programm „Jugend stärken“, das es ihnen er-möglicht, im Anschluss an die Schule einen Ausbil-dungsplatz zu bekommen oder die Ausbildungsreife zuerwerben. Die Mittel dafür haben Sie um 28 Prozent ge-kürzt. Das heißt, Sie nehmen Perspektiven. Wenn ich mirdie Berufseinstiegsbegleitung ansehe, dann stelle ichfest, dass Sie für 1 000 Schulen in Deutschland die Si-tuation verschlechtert haben; denn diese müssen jetzt50 Prozent kofinanzieren. Da fehlt mir die Perspektivenach vorne. Da fehlt mir die Strategie für lebenslangesLernen.
Da fehlt mir die Strategie für die Gestaltung des demo-grafischen Wandels.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Deshalb diskutieren wir heute diese Große Anfrage
der SPD-Fraktion mit so viel Leidenschaft. Das gilt
zumindest für die Rednerinnen und Redner meiner
Fraktion. Auf der Seite der Regierungskoalition und ins-
besondere beim Staatssekretär ist diese Leidenschaft je-
doch etwas geringer. Ich glaube, wir brauchen Leiden-
schaft in der Debatte. Wir müssen den demografischen
Wandel gestalten; denn wir müssen den Menschen Per-
spektiven eröffnen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2010/73/EU und zur Ände-
rung des Börsengesetzes
– Drucksache 17/8684 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu gibt
es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Peter
Aumer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachstum und
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19280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Peter Aumer
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Beschäftigung sind ein großes Ziel der christlich-libera-len Koalition. Dieses Ziel zu erreichen, ist uns trotz dergroßen Krisen in Europa durch harte und zuverlässigeArbeit für die Bürger und Bürgerinnen unseres Landesund für Europa gelungen.Die Strategie für Wachstum und Beschäftigung derEuropäischen Union ist Anlass unserer heutigen De-batte. Mit dieser Strategie setzt sich die EuropäischeKommission mit dem Thema der besseren Rechtsetzungund vor allem dem Bürokratieabbau auseinander. DerEuropäische Rat hat sich im März 2007 darauf geeinigt,bis zum Jahr 2012 25 Prozent der Verwaltungslasten inden Mitgliedsländern der Europäischen Union zu senkenund damit die Wettbewerbsfähigkeit in der EU zustärken.Die von der EU-Kommission eingesetzte hochrangigeGruppe unabhängiger Interessenträger im Bereich Ver-waltungslasten hat bis heute Maßnahmen vorgeschlagen,die von der Kommission umgesetzt worden sind und einBürokratieabbaupotenzial von 22 Prozent in sich bergen.Der Vorsitzende dieser Gruppe, der ehemalige bayeri-sche Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber, leistet hierhervorragende Arbeit
und hat dabei das Ziel „mehr Wachstum und Beschäf-tigung in Europa“ im Auge. Durch seine Arbeit trägt erwesentlich zu einer effektiveren und effizienteren Euro-päischen Union bei und gestaltet damit eine nachhaltigeZukunft Europas.Die Kommission hat die Prospektrichtlinie, über de-ren Umsetzung wir heute reden, als „für Unternehmenmit übermäßigem Aufwand verbunden“ eingestuft. Des-wegen und auch, weil die Evaluierungsvereinbarung inder Richtlinie selber niedergelegt war, musste sie überar-beitet werden. Die Richtlinie zur Änderung der Pros-pektrichtlinie vom 24. November 2010, über die wirheute sprechen, setzen wir in dem Gesetzentwurf um,der heute eingebracht wird.Im Wesentlichen werden mit diesem Gesetzentwurfzwei grundlegende Punkte verbessert:Erstens sollen die Verwaltungslasten für Emittentenund Finanzintermediäre gesenkt und damit Bürokratieabgebaut werden. So kommt es beispielsweise durch dieRichtlinie zu einer rechtlichen Gleichstellung und zu ei-ner Anpassung der Definitionen der Begriffe „qualifi-zierter Anleger“ in der Prospektrichtlinie und „professio-neller Kunde“ in der MiFID. Mit den neuen Vorschriftenmachen wir Wertpapieremissionen effizienter, da dieVorschriften verständlicher sind und mehr rechtlicheKlarheit besitzen. Der Gesetzentwurf birgt insgesamteine erhebliche Vereinfachung in sich. Laut Schätzungender Kommission können jährlich bis zu 302 MillionenEuro an Verwaltungs- und Bürokratiekosten in der EUeingespart werden.Zweitens soll durch das Gesetz mehr Klarheit ge-schaffen und die Effizienz bestimmter Regelungen ver-bessert werden. Vor allem der Anlegerschutz ist einwichtiges Anliegen dieser Richtlinie bzw. des Gesetzent-wurfs, den wir heute einbringen.Trotz der positiven Auswirkungen auf die Qualitätund Angemessenheit der Informationen für Anlegerdurch die Prospektrichtlinie hat die Finanz- und Wirt-schaftskrise bei vielen Anlegern aufgrund nicht ange-messener Informationen zu finanziellen Verlusten ge-führt. Durch die Richtlinie sollen die Informationen fürdie Anlegerinnen und Anleger und der Schutz ihres Ver-mögens verbessert werden. Die Umsetzung der Richt-linie stellt einen wesentlichen Teil des Gesetzentwurfsdar; wir tragen dem Anlegerschutz dadurch verstärktRechnung.Außerdem ist in diesem Gesetzentwurf vorgesehen,das Börsengesetz zu ändern. Die Förderkredite der För-dereinrichtungen des Bundes und der Länder sowie derEuropäischen Investitionsbank werden vollständig vonder Bemessungsgrundlage für die Bankenangabe ausge-nommen. Gemeinsam mit den Bundesländern wurdehier eine gute Lösung gefunden, um dem wirtschafts-politischen Zweck der Förderkreditgeschäfte, zum Bei-spiel Innovationsförderung oder Gründungsförderung,gerecht zu werden. Durch diese Entscheidung kann dasHausbankprinzip, eine Säule unseres dreigliedrigenBankensystems, beibehalten werden.Der Gesetzentwurf, den wir einbringen, ist der Zu-stimmung wert. Durch ihn werden drei wesentlicheBeiträge geleistet: zum Bürokratieabbau, zum Anleger-schutz und zur Sicherstellung der Förderkreditgeschäftedes Bundes, der Länder und der Europäischen Investi-tionsbank. Ich denke, dass man diesem Gesetzentwurfzustimmen kann;
denn er führt zu mehr Finanzstabilität in Europa, indemwir dem Anlegerschutz Rechnung tragen und das För-derkreditgeschäft untermauern. Deswegen bitte ich Sieum Ihre Zustimmung.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Anfang Januar dieses Jahres haben wir als SPD-Fraktion einen Antrag zur Honorarberatung im Plenumdes Deutschen Bundestages eingebracht. Wir wolltenund wollen damit erreichen, dass der Vertrieb von Wert-papieren und Geldanlagen auf eine neue Grundlage ge-stellt wird, um den Verbraucherschutz zu stärken und dieTransparenz zu erhöhen. Die Koalition hatte sich in derDebatte verhalten gezeigt. Jetzt aber müssen Sie reagie-
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ren – mein Vorredner hat es gesagt –, weil Ihnen die EU-Kommission mit ihrem Vorschlag zur europäischen Pro-spektrichtlinie Dampf macht. Das ist auch notwendig.
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung der Richtlinie in Deutschland steht der Anle-gerschutz wieder einmal auf der Tagesordnung. Das istauch notwendig, weil in der Vergangenheit zu wenig ge-tan worden ist und es zu wenige Fortschritte gegebenhat. Jetzt kommt es zu Verbesserungen, insbesonderedahin gehend, dass es nicht nur um die Qualität derProdukte, sondern insbesondere um die Aufklärung derAnlegerinnen und Anleger geht. Dabei ist Informationein zentraler Punkt. Hierum geht es bei den Verkaufspro-spekten, die Inhalt dieses Umsetzungsgesetzes sind.Dazu kam es auf Druck der Europäischen Union.Ich muss an dieser Stelle deutlich sagen, dass in denAnlegerschutzregelungen, die die schwarz-gelbe Koali-tion getroffen hat, Prospekte vorgesehen sind, die teil-weise Hunderte von Seiten umfassen. Seien wir docheinmal ganz ehrlich: Welcher Anleger liest denn dieseKonvolute,
erst recht angesichts der Tatsache, dass sie mit Fach-begriffen gespickt sind? Es ist notwendig, die Prospektetransparenter zu gestalten und sie verständlicher zuformulieren. Schließlich geht es dabei um teilweisekomplizierte Angelegenheiten und komplizierte Pro-dukte. Die Gratwanderung zwischen größtmöglicherTransparenz und notwendigem Inhalt ist durchausschwierig.Die EU-Kommission überprüft und evaluiert die Pro-spektrichtlinie regelmäßig. Ich finde das gut. DiesemBeispiel müssen wir folgen. Ich habe die bisherige Situa-tion immer bedauert, und die SPD hat ihre Auffassungzu diesem Thema mehrfach deutlich gemacht. Als SieIhre Anlegerschutzgesetze eingebracht haben, haben wirgesagt: Wir brauchen eine verpflichtende regelmäßigeEvaluierung, auch eine Evaluierung der gesetzlichenRegelungen in Deutschland, und zwar durch externeExperten.
– Das ist nicht in hinreichendem Maße drin. Wir habendazu weitergehende Vorschläge gemacht.
Ich hoffe, dass die Evaluierung und die Überprüfungdurch dieses Gesetz deutlich verbessert werden.
Im vorliegenden Gesetzentwurf setzen Sie im Bereichdes Prospektrechts an. Ich will zwei wesentliche Punktenennen, an denen aus unserer Sicht Entwicklungen ange-schoben worden sind und mit denen wir uns in den wei-teren Beratungen – wir führen heute ja die erste Lesungdurch – werden befassen müssen. Der erste Aspekt be-trifft die Prospektzusammenfassungen, in denen zukünf-tig Schlüsselinformationen enthalten sein müssen undeine stärkere Konzentration auf das Wesentliche erfol-gen muss. Der zweite Punkt betrifft die Gültigkeit vonProspekten. Es ist richtig, dass Prospekte weiterhinzwölf Monate gültig sein sollen, allerdings nicht mehr abdem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, sondern erst abihrer Billigung durch die Aufsicht. Dieses Mehr anKontrolle und Überprüfung ist wichtig. Auch die Verän-derung der Frist geht in die richtige Richtung.
Es werden weitere Themen angegangen. Ich will aufdie Erhöhung der Bußgelder bei öffentlichen Angebotenohne Prospekt hinweisen. Bisher betragen diese Bußgel-der 50 000 Euro. Nach den vorliegenden Vorschlägensollen sie auf 500 000 Euro erhöht werden. Das ist einedrastische Erhöhung. Sie geht aber in die richtige Rich-tung, auch in dieser Größenordnung.Etwas skeptisch bin ich, was die Schwellenwerte be-trifft. Diese sollen erhöht werden. Wir müssen aufpas-sen, dass es hier nicht zu Deregulierungen – mein Vor-redner hat sie als Entbürokratisierung bezeichnet –zugunsten der Wirtschaft und zulasten der Anlegerkommt. Hier werden wir Sozialdemokraten sehr sensibelsein und sehr genau hinsehen, meine Damen und Herren.
In den Diskussionen über den Anlegerschutz gibt esweitere wichtige Baustellen. Diese sind zu thematisie-ren, da manche Bereiche nach wie vor unzureichend ge-regelt sind. Ich will nur die Produktinformationsblätteransprechen. Ich stelle fest – auch vor dem Hintergrunddessen, was die BaFin dazu an verschiedenen Stellendeutlich gemacht hat –: Sie sind nicht hinreichend stan-dardisiert. Sie müssen einheitlicher werden. Vor allemmüssen sie übersichtlicher werden, um wirklich Schutzund Hilfe bieten zu können.Angesprochen worden ist ein weiteres Thema, wel-ches allerdings nichts mit dieser EU-Richtlinie zu tun hatund in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit derÄnderung des Börsengesetzes steht: die Bankenabgabe.Dieses Thema nimmt die Koalition im Gesetzentwurfauf, packt es quasi mit in den Omnibus und sorgt so füreine Änderung des vor geraumer Zeit beschlossenen Re-strukturierungsfondsgesetzes.Man muss an dieser Stelle einmal festhalten, dass dievon Ihnen beschlossene Bankenabgabe eine viel zu ge-ringe Wirkung hat. Die Kanzlerin hat uns hier im Hauseversprochen, dass durch die Bankenabgabe bei zukünfti-gen Krisen nicht die Steuerzahler, sondern die Verursa-cher der Krisen herangezogen werden.
Das ist mit dieser Bankenabgabe nicht gegeben. Daswissen Sie auch; denn schon das angesetzte Zielvolumenvon 1,2 Milliarden Euro ist lächerlich. Ich darf einmalauf die Wirklichkeit zu sprechen kommen: Nur 600 Mil-lionen Euro, also gerade einmal die Hälfte des ursprüng-lich anvisierten Aufkommens, werden durch die Abgabeerreicht. Das, was Sie als schwarz-gelbe Koalition der
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deutschen Öffentlichkeit gegenüber prognostiziert undim Gesetzbuch verankert haben, ist nicht hinreichend; eswird gerade einmal die Hälfte erreicht.
Sie wissen auch, dass gerade die Großen der Brancheverschont werden. Ich darf zwei Zahlen nennen: DieDeutsche Bank hat im letzten Jahr einen Gewinn von4,3 Milliarden Euro gemacht.
Die Bankenabgabe beträgt 124 Millionen Euro. Das sindgerade einmal 3 Prozent dieses gewaltigen Gewinns.Das ist zu wenig für ein solch systemrelevantes und be-deutendes Unternehmen. Hier hätte man mehr machenmüssen.
Allerdings ist es hochinteressant, dass Sie eine wich-tige Korrektur vornehmen, und zwar im Bereich der In-stitute für wirtschaftliche Entwicklung. Endlich folgenSie dem, was wir als Sozialdemokraten schon in dieseDebatte eingebracht haben und was auch die Länderüber den Bundesrat gefordert haben.
Dort ist nämlich gefordert worden, die Förderbankenvon der Bankenabgabe auszunehmen. So weit gehen Sienicht; aber Sie nehmen die Förderkredite aus der Berech-nung für die Bankenabgabe heraus. Das ist zwar nur einkleiner Schritt, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Das hätten Sie aber schon lange haben können. Damalshaben Sie gezögert und gezaudert und nicht beachtet,dass die Förderbanken in den Ländern, im Bund undauch in Europa davon ausgenommen werden müssen,weil sie strukturpolitisch eine wichtige Funktion haben.
Ich darf zusammenfassen: Sie machen mit diesemGesetzentwurf eine Reihe von Vorschlägen und korrigie-ren – teils auf Druck der Europäischen Kommission,teils offensichtlich aus verspäteter Einsicht – einen TeilIhrer eigenen Gesetze.
– Das scheint bei der Bankenabgabe ja so zu sein. – Ichsage Ihnen aber: Sie ziehen den Finanzsektor nach wievor nicht wirksam und nachhaltig zur Bewältigung derKrisenlasten heran.
Man kann nur sagen: CDU/CSU und FDP halten anihrer Politik fest, mit der die wirklichen Verursacher ver-schont werden, die hier zugunsten der Steuerzahler indie Verantwortung genommen werden müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Björn Sänger für FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist gut. Dievorliegende Richtlinie kann man allerdings als gut be-zeichnen; denn sie ist in der Tat ein wichtiger und wert-voller Beitrag zum Bürokratieabbau.Es werden zwei ganz wesentliche Ziele erreicht: Zumeinen gibt es Vereinfachungen für die Emittenten vonWertpapieren, zum anderen wird der Anlegerschutz ver-bessert. Es ist im Übrigen gut und richtig, dass das euro-paweit geschieht und dass man sich, wenn man weiß,dass bestimmte Dinge in Brüssel in der Pipeline sind,nicht durch nationales Vorauspreschen in der Diskussionisoliert.Mit den Regelungen haben wir für den deutschenMittelstand Positives zu vermelden. Der deutsche Mit-telstand beschafft sich sein Kapital ja noch sehr oft inForm von Krediten. Wenn man sich überlegt, welcheEntwicklungen es im Bereich der Finanzmarktregulie-rung gibt, dann kann man davon ausgehen, dass sich dieKosten der Kreditfinanzierung nach oben entwickelnwerden. So gesehen ist es außerordentlich günstig, dasskleineren und mittleren Unternehmen durch die Ausnah-metatbestände, die durch die Anpassung der Schwellen-werte geschaffen werden, ein direkter Zugang zum Kapi-talmarkt ermöglicht wird. Es gibt einige Börsenplätze,die damit schon gute Erfahrungen machen und die imÜbrigen auch sehr auf die Qualität der Anleihen achten.Insofern findet auch dort ein gewisser Anlegerschutzstatt. Das ist eine weitere gute Maßnahme, um kleinerenund mittleren Unternehmen direkten Zugang zum Kapi-talmarkt zu ermöglichen.Es gibt des Weiteren Verbesserungen bei den Mitar-beiterbeteiligungsprogrammen. Das ist ebenfalls einwichtiger Punkt auch für die kleinen und mittleren Un-ternehmen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter amUnternehmenserfolg und damit auch ein Stück weit ander Verantwortung für das Unternehmen zu beteiligenund sie zu motivieren. Hierzu sind in der Richtlinie sehrwichtige und segensreiche Änderungen enthalten.Ein zweites großes Ziel ist der Anlegerschutz. Auchhierzu sind wichtige Neuerungen eingeführt worden.Wenn beispielsweise ein bestimmter Nachtrag in denProspekt aufgenommen wird, der sich auf einen Sach-verhalt vor der Zeichnung des entsprechenden Wertpa-piers durch einen Anleger bezieht, dann kann der Anle-ger seine Zeichnung entsprechend widerrufen, weil sichquasi die Geschäftsgrundlage geändert hat. Das ist neu.Auch das ist wichtig.Als wichtigster Punkt erscheint mir, dass die Schlüs-selinformationen und insbesondere die haftenden Perso-nen in die Zusammenfassung der Prospekte aufgenom-men werden. Das ist meines Erachtens eine Anpassungan die Lebenswirklichkeit. Der Kollege Sieling hat zuRecht darauf hingewiesen: Man bekommt Hunderte von
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Björn Sänger
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Seiten an Papier. Wer liest das letzten Endes? – Das kannman sich übrigens bei allem fragen, was wir in Bezugauf Anleger- und Verbraucherschutz machen.
Das endet in einem Wust von Papier. Wenn man mit denMitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den Bankenspricht, dann besagt die Lebenswirklichkeit: Der Anle-ger heftet das ab. Die Bank hat ihre Schuldigkeit getanund ist damit aus der Haftung heraus. Deswegen ist esumso wichtiger, dass die Informationen in der Zusam-menfassung herausgestellt werden. Der Anleger weißdann gleich, was für ihn wichtig ist. Er weiß auch, mitwelchen Haftungsbeschränkungen er zu rechnen hat undwer am Ende des Tages für das haftet, was im Prospektaufgeführt ist. Ich halte das für einen sehr wichtigen Teil.Der zweite Teil des Gesetzentwurfs beschäftigt sichmit der Bankenabgabe. Die Förderkredite werden bei derBerechnung ausgenommen. Das kann man machen; manmuss es nicht unbedingt machen.
– Das hätte man in der Tat schon lange machen können;
dann hätte man aber möglicherweise die Bankenabgabeanders strukturieren müssen. Denn faktisch bedeutet daseine weitere Förderung der beiden Säulen am Kapital-markt, der Volksbanken und Sparkassen.Letztens fand das Fachgespräch zu Basel III statt.Frau Professor Buch, Mitglied des Sachverständigenra-tes, der sogenannten Wirtschaftsweisen, sagte in diesemZusammenhang, dass sich ein systemisches Risiko indiesen beiden Säulen nicht ausschließen lässt. Diese bei-den Säulen tragen nunmehr nahezu keine Last mehr ander Bankenabgabe, würden aber logischerweise im Falledes Falles von ihr profitieren. Angesichts der Landes-bankenproblematik ist das möglicherweise gar nicht soabwegig.Verantwortung dafür trägt – das hat der KollegeSieling zu Recht gesagt – der Bundesrat. Man muss denentsprechenden Verbänden zu ihrer Lobbyarbeit gratu-lieren. Das erinnert mich ein bisschen an Probleme, diemöglicherweise in der Kindererziehung auftreten. Esgibt Elternteile – ich formuliere das geschlechtsneutral –,die möglicherweise etwas näher am Kind sind.
Andere Elternteile sind beispielsweise beruflich bedingtnicht ganz so nah am Kind. Wenn das Kind eine Süßig-keit haben möchte, und der Elternteil, der näher am Kindist, sagt: „Nein, du hast heute schon genug Süßigkeitengehabt“, dann fragt das Kind den Elternteil, der nichtganz so nah am Kind ist, und schon bekommt es die Sü-ßigkeit.Unter dem Strich gibt es in diesem GesetzentwurfLicht und Schatten. Er ist gleichwohl zustimmungsfähig.
Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Liebe Zuhörer! Mit diesem Gesetzentwurf soll der,wie es heißt, „bürokratische Aufwand für Emittentenund Finanzintermediäre verringert werden“. Danebensollen „Klarheit und Effizienz bestimmter Regelungenerhöht“ werden. Der Anlegerschutz taucht wieder ein-mal nur an letzter Stelle auf. Ich wünsche mir eine an-dere Prioritätensetzung. Der Anlegerschutz muss ganzklar vor Bürokratieabbau kommen und darf nicht demKostenargument geopfert werden.
Es ist gleichfalls aberwitzig, dass in Zeiten der Fi-nanzkrise Kapazitäten in Brüssel und Berlin eingesetztwerden, um Wertpapierunternehmen die Arbeit zu er-leichtern. Wenn überhaupt, dann wäre es ratsam, die be-stehenden Richtlinien gründlich auf Mängel hinsichtlichdes Verbraucherschutzes, der Transparenz und Informa-tions- und Beratungsdefiziten zu durchforsten.Insgesamt gibt es durchaus einige sinnvolle Regelun-gen in dem Gesetzentwurf. Zum Beispiel ist die Auf-nahme der Schlüsselinformationen in die Prospektzu-sammenfassung richtig. Auch wird eine unmittelbareAktualisierung des Registrierungsformulars durch Nach-trag erleichtert. Außerdem begrüßen wir, dass nach die-sem Gesetzentwurf grundsätzlich auch Anleger im Bör-senrat vertreten sein müssen.Jedoch sehe ich auch einiges kritisch. In den Schlüs-selinformationen sollen die Kosten geschätzt werden,die dem Anleger vom Emittenten in Rechnung gestelltwerden. Das ist zu unpräzise und lässt einen zu großenverbraucherfeindlichen Spielraum.Es gilt gleichfalls zu prüfen, ob mit der Vereinheitli-chung der Definition des „qualifizierten Anlegers“ unddes „professionellen Kunden“ nicht doch eine wenigerstrenge Auslegung im Sinne des Verbraucherschutzesetabliert wird. Schließlich besteht durchaus ein Unter-schied darin, ob jemand professionell oder nur qualifi-ziert und ob jemand Kunde oder gleich Anleger ist.Ferner stoßen mir die erweiterten Ausnahmen von derProspektpflicht bei Belegschaftsaktienprogrammen übelauf. Sie unterstellen damit indirekt, dass eine Prospekt-pflicht keinen zusätzlichen Anlegerschutz gewähr-leistet. Niemand kann aber davon ausgehen, dass Be-legschaftsmitglieder per se besser informiert sind alsaußenstehende Anleger. Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter müssen ausnahmslos geschützt werden.
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Harald Koch
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So ganz nebenbei wird mit diesem Gesetzentwurfauch das Restrukturierungsfondsgesetz, also die Ban-kenabgabe, geändert. Es wird bei ihrer Bemessungs-grundlage ein zusätzlicher Abzugsposten für Verbind-lichkeiten eingeführt. Das mag für sich betrachtetsinnvoll sein. Das von den Banken zu zahlende Geldfließt aber nach wie vor nicht in den Bundeshaushalt, ob-wohl die Banken mit Steuergeldern gerettet wurden.Auch ist die Abgabenhöhe der einzelnen Banken lächer-lich niedrig; das wurde schon angesprochen. Selbstwenn der Fonds seine Zielgröße erreicht, wäre die ange-sammelte Summe viel zu gering, um eine systemrele-vante Bank aufzufangen.Ich komme zum Schluss.
Wirksamer Verbraucherschutz darf sich nicht auf Pro-spekte und Infoblätter beschränken, und Verbraucher-schutz kommt vor Emittentenschutz. Wir fordern daherunter anderem eine eigenständige staatliche Verbrau-cherschutzbehörde, die Einführung eines Finanz-TÜVsowie die Stärkung der Verbraucherzentralen als Finanz-marktwächter.Danke schön.
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill aus der Vielzahl der Aspekte, die in diesem Entwurfeines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie und zurÄnderung des Börsengesetzes enthalten sind, drei he-rausgreifen, die für unsere Fraktion in der Beratungwichtig sind.Der erste Aspekt betrifft die Frage, welche Informa-tionen der Kunde eigentlich bekommt. Informations-unterlagen für Finanzprodukte haben nur dann einenSinn, wenn sie kundengerecht ausgestaltet sind, wennalso Anlegerinnen und Anleger auf den ersten Blick er-fassen können, ob eine Kapitalanlage den persönlichenAnlagezielen entspricht oder nicht. Da die Verkaufspro-spekte oft mehrere Hundert Seiten umfassen, ist es gut,dass es jetzt eine Zusammenfassung in einem einheitli-chen, standardisierten Format geben soll, die kürzer istund Schlüsselinformationen enthalten soll.Das Problem ist allerdings, dass wir jetzt in den unter-schiedlichen Produktbereichen sehr unterschiedliche In-formationsvorgaben haben und daraus eine neue Un-übersichtlichkeit entsteht. So haben wir etwa imFondsbereich die wesentliche Anlegerinformation, alsodas sogenannte Key Investor Information Document, imWertpapierbereich wird nun die neue Prospektzusam-menfassung samt Schlüsselinformation kommen, imVersicherungsbereich haben wir das Produktinforma-tionsblatt bei Versicherungsverträgen und die Informa-tionspflicht der Vermittler über ihren Status, und seitdem 1. Juli 2011 müssen Wertpapierdienstleistungsun-ternehmen Kundinnen und Kunden bei der Anlagebera-tung ein Produktinformationsblatt zu den Finanzinstru-menten zur Verfügung stellen, die Gegenstand einerKaufempfehlung sind. Im Bereich der geschlossenenFonds und anderer Vermögensanlagen wurde kürzlichdas Vermögensanlageninformationsblatt eingeführt.Genau diese Vielfalt ist unübersichtlich; denn die ein-zelnen Informationsblätter unterscheiden sich hinsicht-lich Transparenz, Umfang und Reihenfolge derPflichtangaben. Das ist nicht nur unbefriedigend, das istauch vermeidbar, natürlich nicht in Bezug auf die Sa-chen, die abschließend in Brüssel geregelt sind, aber inBezug auf die Sachen, bei denen wir nationale Hand-lungsspielräume haben. Ich muss sagen: Es ist schon einProblem, dass hier keine Anstrengungen unternommenwerden, vorvertragliche Informationsgrundlagen so zugestalten, dass sie optischen und inhaltlichen Standardsfolgen.Ich frage mich, warum die Bundesregierung wederbei der Umsetzung des Anlegerschutz- und Funktions-verbesserungsgesetzes noch bei den Beratungen zumGesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler-und Vermögensanlagenrechts unserem Vorschlag gefolgtist, die wesentlichen Vorgaben für ein jederzeit zugängli-ches Kurzinformationsblatt hinsichtlich Inhalt undStruktur als standardisiertes Muster gesetzlich vorzu-schreiben. Sie überlassen die Umsetzung der Finanz-branche und setzen auf Selbstverpflichtungserklärungen.Wir meinen, dass die konkrete Ausgestaltung nicht demVerordnungsgeber überlassen werden darf, sondern dassman konkretere gesetzliche Vorgaben machen muss, umeine Vereinheitlichung hinzubekommen. Das wäre wirk-lich effizient im Sinne der Verbraucher.Mein zweiter Punkt. Wenn man sich anschaut, wasdiese Informationen bringen, dann muss man sagen, dassman damit den Eigenheiten des Zertifikatemarktes nichtHerr werden wird. Häufig stellen die Informationsblätterzu diesen Produkten nur die Intransparenz dieser Pro-dukte noch einmal dar, schaffen aber keine wirklicheTransparenz. Hinzu kommt – Sie haben es vielleicht mit-bekommen –: Die Prüfung der endgültigen Bedingungendauert offensichtlich sehr kurz. Sie kostet 1,55 Euro,weil die Dauer so kurz ist. Es entstehen nur ganz geringeKosten, um neue Produkte auf den Markt zu bringen.Das führt zu einer Riesenvielfalt. Es wird geschätzt, dasswir bis 2013 in Deutschland 1 Million Anlagezertifikatehaben werden. Das ist keine gesunde Entwicklung.Diese Vielfalt nutzt niemandem. Ich glaube, wir werdenmit der alleinigen Prospektpflicht, über die wir jetzt dis-kutieren, dem nicht Herr werden. Wir brauchen vielmehreine Produktregulierung bei den Anlegerzertifikaten.
Abschließend möchte ich in aller Kürze noch einendritten Punkt nennen. Kollege Sieling hat die Bankenab-gabe schon angesprochen. Man muss sich fragen, woherder Sinneswandel bei den Förderkrediten kommt. Es
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Dr. Gerhard Schick
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wird zu einem Minderaufkommen kommen. Das wirddazu führen, dass es noch länger dauert, mit der Banken-abgabe den Fonds so aufzubauen, dass er ein notwendi-ges Volumen erreicht. Also werden wir uns über dasAufkommen unterhalten müssen; denn eines darf nichtsein, nämlich dass durch das Entgegenkommen bei derBemessungsgrundlage letztlich die Sicherheit, die mitder Bankenabgabe und dem Fonds erreicht werden soll,nicht erzielt wird.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist einsperriges Thema, und das ist eine sperrige Debatte. Wirsetzen eine EU-Richtlinie auf einem Feld um, das nichtganz einfach ist. Die Kollegen haben es vorgestellt. Esgeht um Bürokratieabbau und um mehr Transparenz. DieBundesregierung hat das Ganze zusammen mit den Ko-alitionsfraktionen zum Anlass genommen, auch im na-tionalen Bereich einige Änderungen, beispielsweise imBörsengesetz, vorzunehmen. Der Kompromiss, der mitdem Bundesrat im Rahmen der Bankenrestrukturierungund der Bankenabgabe gefunden worden ist, wirdgleichzeitig mit abgearbeitet.Das alles ist nicht sonderlich spektakulär. Ich möchtemeine Ausführungen in zwei Teile teilen und zwei Dingebetonen. Zuerst zu der Kritik, die geäußert worden ist;das war ja recht interessant. Da ist von Herrn Koch vonder Linken gesagt worden: Uns ist Anlegerschutz wichti-ger als Bürokratieabbau. Das habe ich, ehrlich gesagt,nicht ganz verstanden, weil Bürokratieabbau, wie ichglaube, ein ganz toller Anlegerschutz ist.
Wenn ich heute bei einer Beratung 130 Seiten oder,wie Herr Sieling gesagt hat, einen Prospekt vorgelegt be-komme, werde ich mir den sinnigerweise nicht durchle-sen. Die Prospektpflicht ist übrigens 2005 umgesetztworden; da war die SPD ja noch federführend. Nichts-destotrotz, wenn ich solche Monsterpapiere bekomme,lese ich sie mir nicht mehr durch. Wenn also solche Pro-spekte nun nicht mehr durchgelesen werden, wird derAnlegerschutz konterkariert. Deswegen hängen Büro-kratieabbau und Anlegerschutz ganz genuin zusammen.An dieser Stelle müssen wir also etwas machen. Das istauch ganz gut so.
Ich nehme auch gerne die Botschaft auf, die sowohlvon der SPD wie auch von den Grünen gekommen ist,dass wir uns dabei noch ein bisschen mehr bemühenmüssen. Sie, Herr Sieling, haben gesagt, solche Pro-spekte seien unübersichtlich. Herr Schick hat das Wirr-warr bei den Produktinformationsblättern angespro-chen. Wir sind da sofort bei Ihnen. Aber lassen Sie unszum Beispiel auch das Beratungsprotokoll dazunehmenund auch in Ihrem Sinne evaluieren. Auch hier habenwir nämlich ein bürokratisches Monstrum geschaffen,wodurch in vielen Fällen Anleger nicht geschützt, son-dern verärgert werden. Wenn wir uns hier und heute da-rauf einigen könnten, dass wir einmal schauen, wie wirden Anlegerschutz so gestalten können, dass er soschlank ausgestaltet wird, dass die Menschen in diesemLand auch etwas davon haben, wäre das schon ein tollesErgebnis dieser Debatte.
Des Weiteren haben Sie die Bankenabgabe kritisiert.Wir können uns trefflich darüber unterhalten, ob man beider Einführung gewisse Dinge hätte besser machen kön-nen. Eines muss man aber berücksichtigen, meine Da-men und Herren: Wir waren die Ersten in Europa, die soetwas überhaupt auf den Weg gebracht haben.
Dass es da das eine oder andere Abstimmungsproblemgibt, im Übrigen auch mit dem Bundesrat, ist doch ganzklar. Ich bin immer noch der Meinung, dass das, was wirauf den Weg gebracht haben, dann, wenn wir es erwei-tern, dazu führen wird, dass zumindest ein Teil, wennauch nicht alle Risiken aus einem Default bzw. einemScheitern von Banken vom Steuerzahler ferngehaltenwerden können. Daran sollten wir arbeiten.Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle der Finanz-marktstabilisierungsanstalt ein dickes Lob aussprechen.Sie hat in vorbildlicher Weise innerhalb weniger Monateein sehr kompliziertes Erhebungsverfahren aus dem Bo-den gestampft, ohne dass es große Probleme gegebenhat. Daran sollte sich vielleicht die eine oder andere eu-ropäische Behörde durchaus ein Beispiel nehmen. So gutund so schlank kann das gehen.
Das war der erste Teil meiner Rede. Dieses Thema ist,wie gerade schon gesagt, für die Schülergruppen, diehier heute auf der Tribüne sitzen, und für den einen oderanderen, der vor dem Fernseher sitzt, nicht sehr dankbar.Man fragt sich: Muss man denn eigentlich darüber re-den, wenn man eine europäische Richtlinie umsetzt? Ichsage: Ja, man muss darüber reden. Überlegen Sie sicheinfach einmal: Die christlich-liberale Koalition hat mitdiesem Gesetz in den letzten 24 Monaten 13 Gesetze zurBankenregulierung auf den Weg gebracht.
Jetzt kommt traditionell von der einen Seite des Hausesimmer der Einwand: Ja, aber das ist nicht genug – oderwie auch immer. Das sagen Sie deswegen, weil Sie na-türlich versuchen, die Legende aufzubauen, dass wir garnichts gemacht hätten. Das fängt bei Steinbrück an und
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Ralph Brinkhaus
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hört bei Sieling auf. Das ist nicht wahr. Wir haben ziem-lich viel auf den Weg gebracht.In einem Punkt haben Sie aber recht, nämlich wennSie sagen, ein erheblicher Teil dieser Maßnahmen stellteine Umsetzung von europäischem Recht dar. Mehr alsdie Hälfte der Gesetze betraf die Umsetzung von euro-päischem Recht. Das trifft ja auch auf das Projekt, daswir heute beraten, zu. Wenn Sie sich die anderen Ge-setze, die wir national umgesetzt haben, anschauen, wer-den Sie feststellen, dass wir uns ganz oft strecken muss-ten, damit wir nicht irgendwo an europäisches Rechtangestoßen sind.Schauen Sie sich auch einmal an, welche Projekte wirin diesem Jahr vor der Brust haben: Ob das die Eigenka-pital- bzw. Liquiditätsregeln für Banken sind, ob das dieHedgefonds-Regulierung ist, ob das das Vorhaben derRegulierung der OTC-Derivate ist, ob das die Schaffungeines Versicherungsaufsichtsgesetzes ist oder die Neu-ordnung der nationalen Finanzaufsicht, all diese Berei-che sind oftmals stark europäisch bestimmt. Auch beider genuinen Neuordnung der nationalen Finanz-marktaufsicht, die wir jetzt anpacken werden, lassen wiruns auf europäische Mechanismen ein.Deshalb müssen wir ganz klar feststellen, meine Da-men und Herren: Finanzmarktpolitik ist nicht längerdeutsche nationale Politik, sondern Finanzmarktpolitikist europäische Politik. Darüber wird zuvorderst nicht inBerlin oder London entschieden, sondern in Brüssel undStraßburg. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns als Parla-ment darauf entsprechend eingestellt haben. Viele Leute,nicht nur in diesem Haus, sondern auch in den Medienund in der Öffentlichkeit glauben immer noch, mankönne hier in Deutschland alles regeln. Sie glauben im-mer noch, dass wir hier den Stein der Weisen haben unddass der Deutsche Bundestag das zentrale Gremium sei,in dem Politik gemacht wird. Das ist – ich sage es einmaletwas pathetisch – die Lebenslüge dieses Parlaments.Wir müssen akzeptieren, dass ganz, ganz viel auf eu-ropäischer Ebene geregelt wird. Darauf müssen wir re-agieren. Das tun wir nicht in angemessener Weise.
Wir geben viel zu wenig Impulse nach Brüssel, was dortgeregelt werden soll und was die Kommission aufarbei-ten soll. Wir gestalten nur bei den wirklich großen Din-gen wie zum Beispiel Eigenkapitalregeln für Bankenoder Einlagensicherungen den Prozess in Brüssel aktivmit. Wir geben der Regierung viel zu wenig mit auf denWeg. Wir positionieren uns als Deutscher Bundestag inviel zu wenigen Feldern.Insofern glaube ich, dass wir eine Menge Nachholbe-darf haben. Wir sollten uns wirklich überlegen, wie wiruns aktiver in diese europäischen Prozesse einbringenkönnen, und dazu gehört es, dass wir uns auch mit so ei-nem Gesetz, das – das tut mir auch leid – leider etwaslangweilig ist, ausführlich beschäftigen. Wir tun diesheute in der ersten Lesung. Wir werden die Ausschuss-beratung und die zweite und dritte Lesung nachfolgenlassen. Lassen Sie uns daran arbeiten. Lassen Sie uns dieeuropäischen Angelegenheiten ernst nehmen; denn siesind es wert.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8684 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinMüller , Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln),weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENJuristische Aufarbeitung der Gewalt und poli-tischer Neuanfang für den Jemen– Drucksache 17/8587 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ersterRednerin der Kollegin Kerstin Müller von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitder Wahl von Mansur Hadi zum neuen Präsidenten desJemen am Dienstag der letzten Woche wurde die33 Jahre dauernde Herrschaft von Ali Abdullah Salihendlich beendet. Das Land zieht damit einen erstenSchlussstrich nach einem Jahr wirklich schwerer Unru-hen. Präsident Salih hatte am 23. November – man musswieder „endlich“ sagen – nach Monaten blutiger Kämpfeauf Vermittlung der UN schließlich dem Abkommen desGolfkooperationsrates zugestimmt, die Macht abzuge-ben.Sicherlich, von einer echten Wahl Hadis kann man ei-gentlich nicht sprechen. Nur ein Name stand auf demWahlzettel, und ein Nein war nicht vorgesehen. Aber esist eben so, dass die Mehrheit der politischen Akteuremit dem Kompromisskandidaten Hadi einverstandenwar. Auch die Friedensnobelpreisträgerin TawakkulKarman rief zur Teilnahme auf und sprach gar von ei-nem historischen Tag für das Land, weil es endlich ge-lungen sei, Salih zu vertreiben.Trotz des Aufrufes der Separatisten im Süden sowieschiitischer Rebellengruppen im Norden, die Wahl zuboykottieren, haben immerhin etwa – das waren weit
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Kerstin Müller
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mehr als erwartet – 65 Prozent der Bevölkerung teilge-nommen. Auch wenn die Zukunft in vielerlei Hinsichtunklar ist, kann man meiner Meinung nach schon sagen:Die hohe Wahlbeteiligung zeigt, dass große Teile der Be-völkerung das Signal setzen wollten: Die Ära Salih istvorbei. Dazu kann man dem jemenitischen Volk von hieraus wirklich nur gratulieren.
Obwohl die Wahl Hadis keine echte Wahl war, könntesie der Beginn einer neuen Ära sein. Sie könnte der Be-ginn dringend notwendiger Reformen, für die die Pro-testbewegung seit über einem Jahr auf die Straße gegan-gen ist, sein.Hadi hat nun zwei Jahre Zeit dafür. Er muss eine Re-gierung der nationalen Einheit bilden, eine Verfassungs-reform durchführen und eine Armee neu strukturieren.Nach dieser Übergangszeit soll dann in einer richtigenWahl ein neues Parlament gewählt werden.Es wird nun darauf ankommen, dass dieser politischeNeuanfang auch gelingt. Dafür muss Hadi zum einen– das ist ganz wichtig – den Dialog mit allen politischenund gesellschaftlichen Akteuren, der Jugendbewegung,der Demokratiebewegung, den Huthi-Rebellen im Nor-den sowie der Sezessionsbewegung im Süden, führen.Denn nur so kann vermutlich langfristig ein Bürgerkriegoder gar eine Spaltung des Landes verhindert werden,und das wird sicherlich die schwierigste Aufgabe sein.Zum anderen muss die internationale Staatengemein-schaft die Übergangsregierung bei diesen Reformen mitallen Kräften unterstützen. Denn wir haben beispiels-weise in Afghanistan bitter erfahren, was passiert, wennwir solche Staaten alleinlassen und sie dann zerfallen.Deshalb ist neben der Demokratie die wirtschaftlicheEntwicklung die zentrale Frage. Das Land war schon im-mer das Armenhaus der Region. Die humanitäre Lagehat sich im letzten Jahr noch einmal dramatisch ver-schärft. Die Forderung der Opposition, ausländischeKonten Salihs und seiner Familie einzufrieren und demStaat für den Aufbau des Landes zur Verfügung zu stel-len, ist meiner Meinung nach nicht nur aus moralischenGründen gerechtfertigt. Noch entscheidender wird sein,dass wir die humanitäre Hilfe ausweiten und den Jemenbeim Wirtschaftsaufbau unterstützen.
Entscheidend ist, dass die Ära Salih auch tatsächlichbeendet wird. Allerdings ist zu befürchten, dass sichSalih wieder einmischt. Nachdem er am Freitag aus denUSA zurückkam, hat er sogleich mit einem öffentlichenAuftritt bei der Machtübergabe Öl ins Feuer gegossen.Hinzu kommt, dass die Familie Salih beispielsweise beiden Sicherheitskräften die Fäden noch fest in der Handhält. Das heißt, die Umstrukturierung der Armee ist sehrwichtig. Salih muss klargemacht werden, dass es für ihnim Jemen keine politische Zukunft mehr gibt.Ich möchte zum Schluss auf eine weitere Forderungder Opposition eingehen. Sie fordert, dass sich Salih fürseine Verbrechen, die er während seiner Amtszeit undwährend des Aufstandes begangen hat, vor dem Interna-tionalen Strafgerichtshof verantworten muss. Das isteine schwierige Frage; denn durch die Einigung derUNO mit dem Golfkooperationsrat ist Salih Immunitätgewährt worden. Damit ist der Transformationsprozesseingeleitet worden. Ich finde aber, wir können nicht ein-fach ignorieren, dass die jemenitische Gesellschaft mitdiesem Deal nicht einverstanden ist und ein Strafverfah-ren fordert.Es zeigt sich immer wieder: Nach großen Kriegenund schweren Menschenrechtsverbrechen ist Gerechtig-keit für einen nachhaltigen Frieden in der Gesellschaftvon zentraler Bedeutung. Gerade wir, der Westen, diewir den Internationalen Strafgerichtshof aus der Taufegehoben haben, dürfen das nicht ignorieren.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Philipp
Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte zunächst einmal mit Blick aufden arabischen Frühling kurz eine Einteilung der betrof-fenen Länder vornehmen und daraus dann zu Ableitun-gen kommen. Man kann grob vier Gruppen von Ländernunterscheiden, die verschiedene Wege einschlagen.Erstens. Länder wie Marokko und Jordanien habensich anscheinend für die friedliche Transformation ent-schieden. Zweitens. In Tunesien und teilweise auch inÄgypten können wir eine Konsolidierung nach denEreignissen im Zusammenhang mit dem arabischenFrühling feststellen. Drittens. Länder wie Saudi-Ara-bien, Katar und Oman haben sich von Anfang an dafürentschieden – das sage ich jetzt ohne Wertung –, denStatus quo zu erhalten. Viertens. Es gibt Länder, dieeiner Fragmentierung anheimfallen und die kurz vor ei-nem Bürgerkrieg stehen bzw. schon mittendrin sind.Dazu zählen Länder wie Libyen, der Iran, Sudan, Syrienund eben der Jemen, über den wir heute sprechen.Wir sehen im Jemen eine humanitäre Notlage, einFlüchtlingsproblem und eine dramatische Verschlechte-rung der Versorgungslage der Bevölkerung. Die Zahlensind erschreckend. Mit einem katastrophalen Wert vonunter 0,462 liegt der Jemen beim Human DevelopmentIndex auf Platz 154. Vor diesem Hintergrund müssen wiruns mit der Notlage, die die gesamte Bevölkerung be-trifft, ernsthaft auseinandersetzen, auch wenn dies keinThema ist, welches die Menschen in Deutschland elek-trisiert bzw. dazu bringt, auf die Straße zu gehen.Es ist tatsächlich so: Der Jemen ist in viele Teile frag-mentiert. Es gibt Sezessionsbewegungen, die zum Teilvon al-Qaida und zum Teil durch andere Länder unter-
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Philipp Mißfelder
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stützt werden. Die Familie Salih – meine Vorrednerin hates bereits erwähnt – spielt dort eine sehr ungute Rolle.Wer glaubt, die Problematik sei dadurch behoben, dassSalih nicht mehr im Amt des Staatspräsidenten ist, derirrt. Denn die wichtigsten Schlüsselfunktionen in diesemLand, auch über weite Teile der öffentlichen Verwaltunghinaus, befinden sich in den Händen der Familie Salih.Deshalb wird sie dieses Land nicht aus ihrem Würgegriffherauslassen.Wir Außenpolitiker haben kürzlich Gelegenheit ge-habt, uns ausführlich mit diesen Fragen auseinanderzu-setzen. Mit der Tatsache, dass das Oberhaupt der Familiekeine politische Rolle mehr spielen wird, ist es alleineinfach nicht getan. Man muss den Prozess zur Moderni-sierung des Landes breit unterstützen und vor allem da-für sorgen, dass sich die humanitäre Situation verbessert.
Frau Müller, ich teile in weiten Teilen Ihre Analyse.An einer Stelle haben Sie unrecht bzw. überschätzen denEinfluss und die Motive Saudi-Arabiens. Darüber kannman sich natürlich streiten. Bei Saudi-Arabien sind wiruns meistens relativ einig. Ich glaube aber nicht, dassSaudi-Arabien der Hauptakteur in Bezug auf Bestrebun-gen ist, im Jemen eine Demokratie zu verhindern. Die-sen Punkt Ihres Antrags sehe ich kritisch. Zu erwähnenbleibt, dass wir mit einem instabilen Jemen nicht lebensollten; denn ein instabiler Jemen ist nicht nur eine Ge-fahr für Saudi-Arabien und für die Region, sondern eininstabiler Jemen ist eine Gefahr für die Welt. Erinnernwir uns an das Jahr 2010. Im Oktober 2010 gingen Pa-ketbomben aus dem Jemen nach Köln, die wiederumweiter in die USA geschickt werden sollten, um gezieltMenschen zu töten. Vor diesem Hintergrund sage ich:Was für ein Glück, dass diese Paketbomben in Kölnnicht explodiert sind! Eines steht fest: Der Jemen istSchutzort für Terroristen und daher auch eine Bedrohungfür den Weltfrieden. Deshalb müssen wir dieses Problemernster nehmen und ihm mehr Aufmerksamkeit schen-ken.
Die Nachbarn Jemens reagieren auch. Saudi-Arabienbaut ein Grenzsicherungssystem auf, um sich zu schüt-zen. Die saudischen Probleme sind an anderer Stelle aus-führlicher zu diskutieren.Was kann die Bundesregierung tun? Was tut die Bun-desregierung bisher? Ich glaube, die Bundesregierungleistet erstens zu Recht mit 29,6 Millionen Euro einenwichtigen Beitrag zur humanitären Hilfe. Zweitens.Deutschland hat sich 2011 gemeinsam mit anderen inter-nationalen Partnern für eine politische Lösung derJemen-Krise eingesetzt und vor allem mit dem Golfko-operationsrat die Verhandlungen in Schwung gebracht.Ich glaube, dass die Vereinten Nationen ihrer Verantwor-tung an dieser Stelle gerecht werden müssen. Das giltsowieso für Syrien. Wenn die UNO als Weltpolizeiernstgenommen werden will, muss sie die Fragen desJemen und die Fragen von Syrien lösen können. Wenndie Lösungskompetenz nicht gegeben ist, wird sie aufDauer obsolet und damit viel Vertrauen verlieren.Wir haben die Bewegung „Friends of Yemen“ unter-stützt. Wir sind der Meinung, dass der festgelegte Über-gangsfahrplan weiter politisch begleitet werden sollte,auch über die ersten Initiativen und Anstöße hinaus.In einem dritten Punkt komme ich zur Entwicklungs-zusammenarbeit. Deutschland ist seit über 40 Jahren imJemen engagiert. Wir sollten uns überlegen, ob wir beider Evaluierung der Aktivitäten der Entwicklungszu-sammenarbeit den Fokus nicht stärker darauf richten,wie zielgerichtet, wirkungsvoll und effizient dieses En-gagement war, wenn es über einen so langen Zeitraumläuft. Gerade habe ich den Development Index zitiert.Jemen hat alles Zeug, ein gescheiterter Staat zu sein,dauerhaft gegen die Menschenrechte zu verstoßen unddamit Demokratisierungsbewegungen im Ansatz zu ver-hindern. Vor diesem Hintergrund steht dem Jemen nochein langer Weg bevor. Wir wollen die vernünftigenKräfte unterstützen. Allein die Identifizierung der ver-nünftigen Kräfte dürfte uns schon sehr, sehr schwer-fallen, sodass wir genau überlegen müssen, welche poli-tischen Maßnahmen wir ergreifen, um das nicht nur inWorthülsen zu kleiden. Wir müssen genau überlegen,was wir mit dem Geld machen wollen, das wir zur Ver-fügung stellen, und welche weiteren außenpolitischenAktivitäten wir ergreifen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Günter Gloser von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Situation im Jemen ist meines Erachtensnicht mit der in anderen arabischen Ländern vergleich-bar. Aus meiner Sicht wird der Protest im Jemen zuschnell in die Reihe der arabischen Rebellionen einge-reiht. Hat es in den letzten Jahrzehnten im Jemen jemalsRuhe gegeben? Die Antwort ist leider: nein. Die meistenKonflikte sind sehr alt.Da ist zum einen die nie gelungene Vereinigung derbeiden Landesteile zu nennen, die schon vor und wäh-rend des Kalten Krieges getrennt waren. Dann dominie-ren Volksgruppen und Clans weiterhin das politischeDenken und Handeln. Schlimmer noch, es droht dasAuseinanderdriften des Landes in tribale Strukturen undder Zerfall der zentralen Fassadenstaatlichkeit, wie iches einmal bezeichnen will.Wir sehen im Jemen also einige historische Vorbedin-gungen, die es in anderen arabischen Ländern so nichtgegeben hat. Ich will aber auch nicht zu pessimistischsein und die neuen positiven Entwicklungen im Jemenerwähnen. Inspiriert durch die Ereignisse des arabischenFrühlings hat der langjährige Machtkampf im Jemen imletzten Jahr tatsächlich eine neue Dynamik gewonnen. InSanaa und anderen Städten des Landes standen weite
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Günter Gloser
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Teile der Bevölkerung gegen das korrupte Regime Salihsauf, und dabei sind auch – das möchte ich betonen –Tausende von Frauen auf die Straße gegangen, um dieHerrschaft des Regimes Salih zu beenden.Nach langem Hin und Her war es, auch auf Initiativedes Golfkooperationsrats, zu einem Abkommen für dieGestaltung des Machtübergangs gekommen. Der Preisfür den damit vereinbarten Abtritt des bisherigen Präsi-denten war allerdings hoch. Viele Menschen verloren ihrLeben. Weder die demokratische Opposition auf denStraßen noch die zum Teil separatistische Opposition imSüden des Landes noch die schiitischen Huthi-Rebellen,die Teile des Landes kontrollieren, erkennen die jetzt ge-fundene Lösung an. Dabei könnte sie doch zumindestden Boden für einen geregelten Übergang und eine künf-tige Stabilität bereiten.Wie schwierig die Situation ist, zeigt ja auch dasFernbleiben der Abgeordneten der Opposition bei derZeremonie zur Amtseinführung des neugewählten Präsi-denten Hadi. Mit der Wahl des Präsidenten ist die erstePhase der Vereinbarung an ihr Ende gekommen. Nunsoll eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, Parla-ments- und Präsidentenwahlen sollen innerhalb von zweiJahren stattfinden – so der Plan, der hoffentlich einge-halten werden kann.Unmittelbar nach dem Amtseid gab es vor dem Präsi-dentenpalast einen Selbstmordanschlag, bei dem26 Menschen starben. Al-Qaida hat sich zu diesem An-schlag bekannt. Es gibt leider noch mehr Gründe, diemomentan Zweifel daran aufkommen lassen, ob dasÜbergangsabkommen wirklich umgesetzt werden kann.Der Auftritt des bisherigen Präsidenten Salih bei derAmtseinführung seines Nachfolgers wirft ein Schlaglichtauf die aktuelle Situation. In einem provozierenden Auf-tritt spielte Salih denjenigen, der die Macht übergibt –als hätte es nie einen blutigen Aufstand gegen ihn unddie Wahlen gegeben. Dabei spricht er noch den Satz:Ich gebe das Banner der Revolution, der Freiheit,der Sicherheit und der Stabilität in zuverlässigeHände.Nichts ist wahr in diesem Satz. Er ist allein zynisch.Denn wo war die Sicherheit, wo war die Freiheit, wo wardie Stabilität im Jemen?
Dieser Auftritt erst vor wenigen Tagen war auf jedenFall für viele im Jemen eine Farce und ein Schlag in dasGesicht der Menschen, die für ein Ende des bisherigenSystems gekämpft haben. Dabei wäre dem Jemen undseiner leidgeprüften Bevölkerung ein echter politischerNeuanfang nur zu wünschen. Um die Basis dafür geht esin dem hier debattierten Antrag von Bündnis 90/DieGrünen.Ich betone es ausdrücklich noch einmal: Die Bundes-regierung hat sich seit Jahrzehnten in der Entwicklungs-zusammenarbeit dafür eingesetzt, dass sich die Situationim Jemen verbessert. Ich danke ausdrücklich den vielenOrganisationen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternsowie den Ministerien, die dafür verantwortlich waren,dass dort unter schwierigen Bedingungen eine Entwick-lungszusammenarbeit ausgeführt worden ist, die projekt-orientiert war und bei der das Geld nicht in verschiede-nen staatlichen Kanälen versickert ist, sondern wo inBereichen der Infrastruktur etwas erreicht worden ist.Daran müssen wir anknüpfen, wohl wissend, dass dieSicherheitslage in dem Land noch nicht so ist, wie es fürdiese Arbeit erforderlich wäre.Noch ein Wort an die Adresse der Bundesregierung– das hat sich in verschiedenen Aussagen bereits gezeigt,und hier gibt es eine Übereinstimmung hinsichtlich derForderungen, die im Antrag stehen und die ich nur unter-streichen kann –: Es braucht eine juristische Aufarbei-tung der Gewalt und des Machtmissbrauchs beim Sys-tem Salih. Ich weiß, wie heikel es ist, das aus einergeschützten Situation heraus zu fordern, auch vor demHintergrund – Frau Müller, Sie haben das erwähnt – die-ses Abkommens.Eines sage ich aber ganz bewusst: Ich habe noch inErinnerung, dass im Jahr 2007 – damals durch das Aus-wärtige Amt organisiert – eine große Konferenz mitFinnland, mit Jordanien, mit NGOs aus allen Ländernstattfand, bei der es um die alte spannende Frage ging:„Frieden oder Gerechtigkeit?“ oder „Frieden und Ge-rechtigkeit?“. Das eindeutige Zeichen muss lauten: Frie-den und Gerechtigkeit. Es kann nicht sein, dass diejeni-gen, die als Machthaber oder an verantwortlichen Stellenin Militär und Verwaltung tätig waren, die Menschen alsOpfer auserkoren und Befehle gegeben haben, dieseMenschen zu töten, in einer neuen Gesellschaft frei he-rumlaufen können und nicht bestraft werden.
Es geht aber auch – das war schon mehrfach die Ad-resse an die Bundesregierung; das sage ich jetzt gar nichtvorwurfsvoll – um das Fluchtkapital der jemenitischenMachthaber, das sich auch in Deutschland befindet. Ichbin mir bewusst, dass ein Rechtshilfeersuchen aus demJemen vorliegen muss, um die Gelder einzufrieren. Inso-fern richtet sich mein Appell an die jemenitische Regie-rung, so schnell wie möglich um diese Hilfe zu ersuchen.Das entwendete Eigentum muss nämlich, jedenfalls nachmeiner Überzeugung, an das jemenitische Volk zurück-übertragen werden; denn diesem ist es entwendet wor-den.
Meine Damen und Herren, wir unterstützen die For-derung dieses Antrages. Vielleicht darf ich einen Bereichansprechen, in dem ich eine Wertung vornehme, die an-ders als die im Antrag ist. Ich will schon zum Ausdruckbringen, dass die Mitgliedsländer des Golfkooperations-rates – bei allen innenpolitischen Spannungen in diesenLändern – eine wesentliche Rolle dabei gespielt haben,dass es zur ersten und zweiten Phase dieses Übergangsgekommen ist. Ich glaube, wir werden im Jemen ohne
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19290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Günter Gloser
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die Mitgliedsländer des Golfkooperationsrates, allein alsEU oder bilateral, nichts bewegen können. Deshalb ist eswichtig, dass wir die Initiative aufgreifen, die es schonAnfang des Jahres 2011 gegeben hat – Herr Mißfelder,Sie haben es erwähnt –, dass die Friends of Yemen wie-der aktiv werden und entsprechende Beiträge zu einemwirklichen Neuanfang im Jemen leisten können.Es geht um einen Neuanfang in der politischen Kul-tur. Es geht also um mehr als nur Verteilungsfragen. Esgeht darum, dass auch der wirtschaftliche Neuanfang indiesem Land gelingt. Ich denke, dass Deutschland unddie Europäische Union einen wesentlichen Anteil an die-sem Neuanfang haben können. Deshalb unterstützen wirden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Stinner von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImFall Jemen erleben wir Abgeordnete ein klassisches Di-lemma, nämlich das Dilemma zwischen dem eigentlichSinnvollen, politisch Korrekten und Guten, das der poli-tischen Ästhetik folgt sowie wünschenswert und richtigist, und der Not, pragmatische Politik zu betreiben.Natürlich enthält das Transitionsabkommen, das ge-schlossen worden ist, eine ganze Reihe problematischerPositionen. Aber die Frage ist, wie wir den Abwägungs-prozess vornehmen.Es wird völlig zu Recht kritisiert, dass Herrn Salih indiesem Transitionsabkommen eine Immunität gewährtwird. Das heißt, dass er vor zukünftiger Bestrafung si-cher ist. Das kann jedem, der an Recht und Billigkeitglaubt, natürlich nicht recht sein. Aber die Frage ist: Washaben wir ausgehandelt? Ich möchte dieses Dilemma,das wir täglich haben und mit dem wir zurechtkommenmüssen, sehr deutlich vor uns ausbreiten. Beim Transi-tionsabkommen ist eine entsprechende Abwägung ge-troffen worden. Natürlich kann uns die Immunität vonHerrn Salih nicht recht sein. Wir alle wissen, welcheVerbrechen begangen worden sind. Wir alle wissenauch, welche wirtschaftliche Bereicherung stattgefundenhat. Damit müssen wir entsprechend umgehen.Ein zweiter Punkt der Kritik am Transitionsabkom-men bezieht sich auf die zweijährige Übergangsphase.An der Dauer der Übergangsphase übe ich, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wiederum keine Kritik. Denn beider Abwägung, ob man für einen schnellen Übergang,schnelle Neuwahlen und die möglichst schnelle Verab-schiedung einer neuen Verfassung, meinetwegen inner-halb von sechs Wochen, sein sollte oder man sich ange-sichts der Erfahrungen, die wir anderswo gemachthaben, dafür mehr Zeit nehmen sollte, komme ich zudem Schluss: Ich persönlich kann sehr gut mit der Über-gangsfrist von zwei Jahren leben, wenn der Übergang ei-nigermaßen vernünftig abläuft.Der dritte Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass mitHerrn Hadi der ehemalige Vizepräsident – er war überJahrzehnte hinweg mit Salih verbunden – jetzt Präsidentgeworden ist. Das kann man mit Fug und Recht kritisie-ren. Es wird auch kritisiert, dass sich die Parteien aufeinen Kandidaten und auf keinen Gegenkandidaten ver-ständigt haben. Es soll ja auch in manchen westeuropäi-schen Ländern vorkommen, dass sich die Parteien vorgroßen Wahlentscheidungen vorher auf einen Kandida-ten einigen; das würde ich auch im Falle Jemen nicht un-bedingt kritisch beurteilen.Natürlich sind das Kröten, die man hier schluckenmuss. Die Abwägung lautet: Ist uns die Vereinbarung,die getroffen worden ist, diesen Preis wert? Ich sagenach Abwägung von Pros und Cons: Für mich undmeine Fraktion ist es diesen Preis wert. Denn wir habenmit dieser Vereinbarung wirklich die Chance, dass wirohne einen Bürgerkrieg eine Veränderung der politi-schen Situation im Jemen erreichen. Wir haben täglichvor Augen, was gegenwärtig in Syrien passiert. Wenn esmit dieser Vereinbarung gelingt, ähnliche Verhältnisseim Jemen zu verhindern, dann haben wir, glaube ich, denrichtigen Weg eingeschlagen.Diese Vereinbarung ist, wie wir alle wissen, zumGlück auf Druck eines Teils der Opposition im Jemen,der Vereinten Nationen und des Golfkooperationsratesim Konsens mit uns Europäern getroffen worden. Ichhalte es für ein sehr gutes Zeichen, dass diese vier zu-sammenhalten. Das sollte auch in Zukunft wichtig undrichtig sein. Ich betone hier wieder, wie wichtig es füruns ist, dass der Golfkooperationsrat als regionale Orga-nisation selber Verantwortung übernimmt und einbezo-gen wird. Wir alle kennen die Historie des Verhältnisseszwischen Golfkooperationsrat und dem Jemen. KeineFrage: Der Jemen war in der Vergangenheit aufgrund ei-nes anderen Systems der Outcast. Es ist wichtig, dasssich der Golfkooperationsrat hier einmischt und Verant-wortung übernimmt.Wir alle wissen – die Kolleginnen und Kollegen ha-ben es gesagt –: Die Sicherheitslage ist nach wie vor kri-tisch. Es gibt die Huthi-Miliz; außerdem kämpfen dortSalafisten. Das ist alles andere als berauschend und allesandere als ermunternd. Es führt kein Weg daran vorbei,dass wir schrittweise eine Stabilisierung dieses Landesvornehmen.Jedenfalls bisher hat dieses Abkommen funktioniert.Die bislang vorgeschriebenen Schritte sind alle so, wiees in dem Abkommen vom letzten Jahr beschrieben wor-den ist, unternommen worden. Das gibt uns Hoffnung,dass es auch in den kommenden Jahren so ist. In zweiJahren sollen – so ist es in der Verfassung festgeschrie-ben worden – ein neues Parlament gewählt werden undein neuer Präsident ins Amt kommen.Ich glaube, dass es bis dahin wichtig ist, dass wir– Golfkooperationsrat, Vereinte Nationen, Europa unddamit Deutschland – zusammenhalten und versuchen,
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Dr. Rainer Stinner
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die Entwicklung im Jemen in die richtige Richtung zulenken; das tut Deutschland ja auch schon. Herr Gloser,ich erinnere mich an unsere legendäre gemeinsameReise im Jahr 2005 in den Jemen, wo uns etwas passiertist, was jedenfalls mir zuvor noch nie passiert war, näm-lich dass die Bevölkerung einem Abgeordneten zugeju-belt hat. Das kann nicht nur an mir gelegen haben, HerrGloser; es hat vielmehr daran gelegen, dass im Jementraditionell eine intensive Verbindung zu Deutschlandbesteht. Die Jemeniten wussten, wie stark sich Deutsch-land in ihrem Land engagiert hat, auch durch Entwick-lungshilfe, durch archäologische Ausgrabungen etc. In-sofern können wir davon ausgehen, Herr Gloser, dassdieser Beifall Ausdruck des Erinnerns im Jemen war unddass wir Deutsche tatsächlich bestimmte Einfluss-möglichkeiten – die wir allerdings nicht überschätzensollten – haben.Nach Abwägung aller Pros und Cons sage ich: Wirstehen zum Transitionsabkommen. Liebe Frau Müller,da ist Ihr Antrag und da war Ihre Rede meiner Ansichtnach nicht ganz klar. Einerseits sagen Sie, es sei richtig,was dort gemacht worden ist, andererseits schreiben Siein Ihrem Antrag unter Punkt 5, es müsse dafür gesorgtwerden, dass Herr Salih vor Gericht kommt. Das ist einWiderspruch. Entweder akzeptieren wir dieses Abkom-men – was wir tun; wir schlucken die Kröte –, oder wirtun es nicht. Ich glaube, dazu müssen wir Stellung neh-men.Ich komme zum Schluss. Ich persönlich sage Ihnenhier und heute ganz offen: Wenn es uns gelingen würde,einen ähnlichen Deal in Syrien mit Herrn Assad zu-stande zu bringen, wäre ich bereit, ihn einzugehen. Wennes dadurch gelingen würde, das tausendfache Sterben,das in Syrien täglich vor unseren Augen stattfindet, zuverhindern, wäre ich bereit, auf das politisch nichtschöne, politisch nicht korrekte, politisch unästhetischeund ganz üble Machwerk einzugehen und diesenTrade-off hinzunehmen, das heißt, die Kröte zu schlu-cken. So könnte das Töten tatsächlich verhindert wer-den. Diese Abwägung müssen wir treffen. Ich treffe sieund sage Ihnen, dass ich dafür wäre, einen solchen Dealeinzugehen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einemJahr demonstrieren im Jemen Hunderttausende für Frei-heit, für Demokratie und für ein Ende des Regimes. Dassder alte Präsident Salih jetzt gegangen ist, ist ein Anfang.Aber machen wir uns nichts vor: Das System des altenPräsidenten lebt fort. Seine Söhne kontrollieren den Mi-litär- und Polizeiapparat, seine Partei ist auch in derÜbergangsregierung vertreten. Der Übergangspräsidentist sein früherer Stellvertreter.Nur zur Erinnerung: Jemen ist das ärmste Land derArabischen Halbinsel. 45 Prozent der Menschen, fast dieHälfte, leben unter der Armutsgrenze, und über dieHälfte der Menschen ist arbeitslos. Schon in wenigenJahren werden die letzten Ölquellen im Jemen versiegen,und dann fallen noch einmal 70 Prozent des Staatshaus-haltes weg. Dieses Land wird dann endgültig im Chaosversinken, wenn jetzt nicht die richtigen Weichen ge-stellt werden.
Gleichzeitig ist die Menschenrechtssituation katastro-phal. Im Norden kommt es mit den Huthi immer wiederzu ganz schweren Kämpfen, genauso wie im Süden, woimmer mehr Menschen eine Abspaltung anstreben. Biszu freien und fairen Wahlen – ich denke, da sind wir unsalle einig – ist es noch ein langer, steiniger Weg. Wersich am Ende durchsetzt und welches System dannkommt, das hängt maßgeblich von der internationalenPolitik ab.An diesem Punkt möchte ich gerne konkret fragen:Was tut die Bundesregierung im Moment, und was solltesie eigentlich tun? Es nützt doch relativ wenig, immerwieder mit vielen schönen Worten die friedlichen Pro-teste in Sanaa und anderswo zu unterstützen und gleich-zeitig den wichtigsten Unterstützern des alten RegimesPanzer und eine Waffenfabrik zu liefern. – Ja, ich spre-che von Saudi-Arabien. Was glauben Sie denn, wasSaudi-Arabien macht, sobald die von Deutschland gelie-ferte Waffenfabrik in die Produktion geht? Man wird inZukunft, wie in den letzten Jahren, die unterdrückeri-schen Teile des Regimes mit deutscher Waffentechnolo-gie unterstützen. Das finde ich einfach falsch.
Die Antwort auf die Frage, warum die Bundesregie-rung so etwas liefert, ist relativ einfach: weil Saudi-Ara-bien ein geschätzter Wirtschaftspartner ist. Jedes Jahrverkauft Deutschland dorthin Waren im Wert von rund5 Milliarden Euro. Das nimmt man in Kauf, obwohlSaudi-Arabien nicht nur die eigene Bevölkerung unter-drückt, sondern in den letzten Jahren immer wieder auchmassiv in den Nachbarländern, auch im Jemen, einge-griffen hat und die unterdrückerischen Regime dort un-terstützt hat. Damit muss Schluss sein.
Wenn Sie wirklich eine friedliche Entwicklung im Je-men unterstützen wollen, dann tun Sie vor allem eines:Sorgen Sie dafür, dass der Dialog im Jemen innerhalbJemens bleibt! Sorgen Sie dafür, dass die Eigeninteres-sen anderer Länder herausgehalten werden! Sorgen Siedafür, dass die Interessen des Golfkooperationsrates, derhier so gelobt wird, dass die Eigeninteressen Saudi-Ara-biens, der Amerikaner und auch der deutschen Wirt-schaft aus der Region und aus der jemenitischen Politik
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19292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Jan van Aken
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herausgehalten werden! Das bedeutet ganz konkret, dieGewalt im Jemen nicht noch dadurch zu befeuern, dassman weiterhin Waffen in die Region liefert. Damit kön-nen Sie aufhören.
Das heißt auch, dass die Bundesregierung endlich ihreStimme dagegen erhebt, dass die USA ihren Terrorkriegauch in den Jemen tragen und dort Menschen durchDrohnen gezielt töten. Auch das befeuert die Gewalt;auch das verhindert einen friedlichen Dialog im Jemen.Das bedeutet, auf Saudi-Arabien dahin gehend einzuwir-ken, dass es mit der Einmischung im Jemen endlich auf-hört.Ich kann die lobenden Worte, die von allen Seiten fürden Golfkooperationsrat zu hören sind, nicht verstehen.
– Ja. Sie kommen nicht von allen Seiten, etwa nicht vonden Grünen. – Dahinter stehen massive Interessen – dieFührung dabei hat Saudi-Arabien –, durch die gerade dasalte Regime stabilisiert worden ist. Mich würde wirklichinteressieren, wie das Abkommen ausgesehen hätte,wenn der Golfkooperationsrat nicht mitgewirkt hätte.Vielleicht wären wir dann ein ganzes Stück weiterge-kommen.Die Menschen im Jemen wollen den gesellschaftli-chen Wandel; aber den können sie nur selber herbeifüh-ren. Ich finde es völlig richtig, alles zu unterstützen, wasden Dialog unterstützen kann. Man kann zum Beispieldie Wahlen finanziell oder organisatorisch unterstützen,insbesondere dort, wo es Sinn macht und wo es gewolltist, Friedensfachkräfte einzusetzen oder vor Ort auszu-bilden. Das alles sind Dinge, die Sie von hier aus ma-chen können, solange Sie die Eigeninteressen ausblen-den.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen mehr exportieren sollte, nicht in den Je-men, nicht nach Saudi-Arabien und auch in kein anderesLand der Welt.Ich bedanke mich bei Ihnen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Thomas Silberhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSicherheitslage im Jemen ist nach wie vor ausgespro-chen angespannt. Das war sie bereits vor den Demon-strationen für Demokratie und gegen Salih im April2010. Auch nach der Umsetzung des Übergangsabkom-mens vom November 2011 bleibt die Sicherheitslage ex-trem schwierig. Weite Teile des Landes sind nicht unterstaatlicher Kontrolle. Al-Qaida hat im Jemen Fuß ge-fasst. Im Süden droht eine Rezession, und im Nordenkämpfen schiitische Rebellen gegen sunnitische Radi-kale. Die Luftwaffe meutert. Mitarbeiter der VereintenNationen werden verschleppt. Das Land kommt nichtwirklich zur Ruhe. Nur wenige Stunden nachdem Präsi-dent Hadi am 25. Februar seinen Amtseid abgelegt hat,kam es zu dem bisher schwersten Selbstmordanschlagseit Monaten, zu dem sich al-Qaida mittlerweile bekannthat. Es gab 26 Tote und 30 Verletzte.Trotz dieser ernüchternden Bilanz muss man feststel-len, dass es im Jemen durch Druck der internationalenGemeinschaft immerhin gelungen ist – anders als bei-spielsweise in Libyen –, den Autokraten, in diesem FalleSalih, durch Verhandlungen zu einer geordneten Über-gabe seiner Macht zu bewegen. Dabei spielt in der Tatauch der Golfkooperationsrat eine wichtige Rolle. Siesollten die regionale Verantwortung nicht unterschätzen.Auch die Vereinten Nationen, die USA und der interna-tionale Druck insgesamt haben dazu beigetragen, dassdiese Entwicklung überhaupt möglich geworden ist.Nach dem Übergangsabkommen ist der von derOpposition benannte Vorsitzende des Nationalrats fürdie friedliche Revolution zum Ministerpräsidenten derÜbergangsregierung ernannt worden. Die Übergangsre-gierung ist paritätisch besetzt – 17 Mitglieder der ParteiSalihs und 17 Mitglieder des Oppositionsbündnisses –,und es gibt eine Vereinbarung über den Abzug der regu-lären und der oppositionellen bewaffneten Kräfte. Alldas sind wichtige Voraussetzungen, um Gewalt zu ver-meiden.Das jemenitische Parlament hat im Januar den Wegfür die formale Ablösung Salihs freigemacht. Die Prä-sidentschaftswahlen am 21. Februar 2012 sind ord-nungsgemäß abgelaufen. Nun muss Präsident Hadi alsKompromisskandidat die zweite Phase des Transforma-tionsprozesses einleiten. Sicherlich muss die internatio-nale Gemeinschaft mit hoher Aufmerksamkeit weiter aufdie Entwicklung im Jemen achten. Wir brauchen denDruck, den beispielsweise die Hochkommissarin fürMenschenrechte einbringt. Auch der InternationaleStrafgerichtshof kann von sich aus tätig werden, wenn erVerbrechen gegen die Menschlichkeit feststellt.Es wird wichtig sein, dass tatsächlich alle Armeeteileunter ein zentrales Kommando gestellt werden. Dannwird man zusehen, dass der Verfassungsprozess in Gangkommt. Er soll ja innerhalb von zwei Jahren zu Parla-ments- und Präsidentschaftswahlen führen; das ist auchfür die tief gespaltene Opposition Zeit, sich zu sortieren.Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass dieseWahlen frei und fair stattfinden können. Darauf solltenwir unsere Aufmerksamkeit richten. Deswegen wird derJemen weiter im Fokus der Bemühungen der internatio-nalen Gemeinschaft stehen.Der Friends-of-Yemen-Prozess ist angesprochen wor-den. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationenwird sich immer wieder damit beschäftigen müssen.Außerdem wird der Golfkooperationsrat weiterhin einekonstruktive Rolle spielen müssen, genauso wie dieEuropäische Union ihre Rolle als politischer Akteur undals Geber von humanitärer und rechtsstaatlicher Hilfewahrnehmen muss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19293
Thomas Silberhorn
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Der Beginn des arabischen Frühlings ist jetzt mehr alsein Jahr her. Man könnte versucht sein, die weitere Ent-wicklung mit Skepsis zu betrachten. Wir sehen, dass imJemen die Familie von Salih weiterhin einflussreichePosten besetzt. In Syrien richtet das Regime Assadgerade ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung an. InTunesien und Ägypten haben die Islamisten die Wahlengewonnen. Insbesondere in Ägypten stagniert die Ent-wicklung: Die Arbeitslosigkeit ist unverändert hoch, undder Oberste Militärrat macht keine Anstalten, die Zügelaus der Hand zu geben.So unbefriedigend diese Lage im Einzelnen auch seinmag: Sie ist dennoch kein Grund, die Hoffnung fahrenzu lassen, ganz im Gegenteil. Die Länder haben natür-lich noch eine weite Wegstrecke vor sich, um ein funk-tionierendes Staatswesen aufzubauen. Wir sollten diesenhistorischen Umbruch nutzen und sie dabei unterstützen.In Tunesien, Ägypten und in Libyen hat die Bevölkerungihre Autokraten zum Rücktritt gedrängt. Im Jemen hatSalih nach mehr als 30 Jahren Alleinherrschaft dieMacht weitgehend friedlich übergeben, und auch dasRegime in Syrien ist gehörig unter Druck.Meines Erachtens dürfen wir in diesem Prozess nurzwei Fehler nicht begehen: Wir dürfen die Menschen vorOrt nicht mit unseren Erwartungen überfrachten – wirsollten im Blick haben, wie lange solche Umwälzungs-prozesse in Europa gedauert haben –, und wir solltennicht der Versuchung erliegen, diese Entwicklung anwestlichen Maßstäben zu messen. Die Länder des arabi-schen Raums haben ein Recht auf eine eigene Entwick-lung. Wir müssen darauf achten, dass rechtsstaatlicheund menschenrechtliche Standards eingehalten werden.Wir sollten die Menschen nach unseren Kräften unter-stützen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8587 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a bis c auf:
a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a GO-BT
Technikfolgenabschätzung
TA-Projekt: Gefährdung und Verletzbarkeit
moderner Gesellschaften – am Beispiel eines
großräumigen und langandauernden Ausfalls
der Stromversorgung
– Drucksache 17/5672 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungs-
schutz 2011
– Drucksache 17/8250 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht über die Methode zur Risikoanalyse
im Bevölkerungsschutz 2010
– Drucksache 17/4178 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehrgeehrte Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, dasauf den ersten Blick relativ unattraktiv, wenig bewegendklingt.
Es geht um die beiden Berichte der Bundesregierung zurRisikoanalyse im Bevölkerungsschutz für die Jahre 2010und 2011 und um einen Technikfolgenabschätzungsbe-richt des Ausschusses für Bildung und Forschung, deram Beispiel eines langandauernden und flächendecken-den Stromausfalls die Frage behandelt, wie gefährdetund verletzbar moderne Gesellschaften sind.Es geht aus meiner Sicht bei dieser Debatte um einzentrales Thema – vielleicht gibt es sogar nur wenigeAufgaben, die für einen Staat essenzieller sind –, es gehtnämlich um die simple Frage: Wie kann der Staat einebedarfs- und risikoorientierte Vorsorge- und Abwehrpla-nung im Zivil- und Katastrophenschutz gewährleisten?Um diese Frage wirklich ausreichend beantworten zukönnen, ist als Grundlage zunächst einmal eine detail-lierte und substanziierte Risikoanalyse erforderlich.Dafür gibt es im Bereich der Bundesregierung zwei Gre-mien: den Lenkungsausschuss und den Arbeitskreis „Ri-sikoanalyse im Bevölkerungsschutz Bund“. Ich bin den
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19294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Stephan Mayer
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Mitarbeitern und den Vertretern in beiden Gremien sehrdankbar dafür, dass sie in steter Regelmäßigkeit einemeines Erachtens außerordentlich wichtige und wert-volle Arbeit ausüben, indem sie sehr detailliert und sub-stanziiert die unterschiedlichen Risiken, die der deut-schen Bevölkerung und der deutschen Gesellschaftdrohen, analysieren, bestimmte Eintrittswahrscheinlich-keiten unter die Lupe nehmen und, darauf aufbauend,konkrete potenzielle Schadensberechnungen vorneh-men.Ich möchte auch den Mitarbeitern des Bundesamtesfür Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe für diesesehr wichtige Arbeit ganz herzlich danken. Ich bin derfesten Überzeugung, meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen, dass wir es unserer Bevölkerung schuldigsind, dass wir uns vorausschauend mit möglichen Gefah-ren und einem damit verbundenen potenziellen bundes-relevanten Schadensausmaß beschäftigen. Die Natur-katastrophen bleiben nicht aus. Schneekatastrophen,Sturmschäden, Hochwassersituationen gibt es fast jedesJahr. Uns bedrohen leider nach wie vor Gefahren durchchemische, biologische, radioaktive und nukleare Stoffe.Ausfälle kritischer Infrastrukturen oder von Einrich-tungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind keine Hor-rorszenarien, sondern können, wie andere Länder leid-voll erfahren mussten, durchaus blanke Realität werden.Auch vor terroristischen Angriffen bleibt Deutschlandnicht verschont. Wir haben das im letzten Jahr erstmalserlebt, als ein islamistischer Terrorist am FrankfurterFlughafen zwei US-Soldaten ermordet hat. Es bedarfalso angepasster Konzepte für eine effektive und effi-ziente Gefahrenabwehr. Ich bin sehr dankbar, dass derAusschuss für Bildung und Forschung ein Szenario auf-gegriffen hat, das das Grünbuch des Zukunftsforums Öf-fentliche Sicherheit bereits im Jahr 2008 behandelt hat,nämlich: Welche Auswirkungen hätte ein großflächigerund langandauernder Stromausfall in Deutschland?Ich möchte ebenfalls in aller Deutlichkeit sagen:Durch die sogenannte Energiewende, durch den schnel-leren Fortschritt in das Zeitalter der erneuerbarenEnergien, verbunden mit einer dezentraleren Energiever-sorgung, ist dieses Szenario mit Sicherheit nicht unwahr-scheinlicher geworden.
Das zeigt sehr deutlich, wie verwundbar unsere moderneGesellschaft und wie verwundbar auch unsere deutscheVolkswirtschaft ist.Man kann in dem erwähnten Bericht sehr detailliertnachlesen, welche ganz konkreten Auswirkungen einderartiger langandauernder Stromausfall für unsereKommunikation, für das Transportwesen, für den Ver-kehr, aber vor allem auch für die Versorgung mit Wasserund mit lebenswichtigen Lebensmitteln hätte. Aber auchder Zugang zum Gesundheitswesen wäre deutlich beein-trächtigt, wenn über mehrere Stunden, vielleicht sogarüber Tage kein Strom in Deutschland verfügbar wäre.Angesichts dessen ist es wichtig, sich frühzeitig undernsthaft mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Esdrohen durchaus Schäden in Milliardenhöhe, ganz zuschweigen von den Auswirkungen auf die deutscheGesellschaft. Meine vorsichtige Prognose ist, dass diedeutsche Bevölkerung, unsere Bundesbürger in diesemFall nicht sehr belastbar wären. Ich glaube, es ist umsowichtiger, dass wir uns frühzeitig mit diesem Themaauseinandersetzen und – ich sage das hier in aller Ernst-haftigkeit – auch die deutsche Bevölkerung damit kon-frontieren.Ich persönlich habe den Eindruck, dass insbesonderenach dem Fall des Eisernen Vorhangs für viele Bundes-bürger das Bedrohungsszenario weggefallen ist.
Die innere Sicherheit war gewährleistet, und von außendrohte kein Feind mehr. Dies wurde an dem massenhaf-ten Abbau von Sirenen zur Warnung der Bevölkerungsichtbar. Umso wichtiger ist es, die Diskrepanz zwischenden objektiv drohenden Schäden und den Bedrohungs-szenarien auf der einen Seite und der meines Erachtensdurchaus etwas bedächtigen und naiven Haltung derBevölkerung zu diesem Thema auf der anderen Seite ab-zubauen.Ich glaube, Deutschland ist hinsichtlich des Bevölke-rungsschutzes gut aufgestellt. Wir haben sehr gut ausge-stattete, sehr motivierte Bevölkerungsschutz- und Kata-strophenschutzorganisationen. Diese werden durch einewissenschaftlich hochstehende Expertise beim Bundes-amt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe be-gleitet. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen,dass wir insbesondere in Form des Technischen Hilfs-werks eine dezentrale Bevölkerungsschutzorganisationhaben, die hervorragend ausgestattet – natürlich kannman immer noch mehr machen – und jeden Euro wertist, der in sie investiert wird. Ich möchte das gesamteHaus im Hinblick auf zukünftige Haushaltsberatungenermuntern, hier nicht zu sparen. Es mag auf den erstenBlick einfach erscheinen, im Bereich des Bevölkerungs-und Katastrophenschutzes Einsparungen vorzunehmen;im Endeffekt könnte sich so etwas aber als sehr kostspie-lig und gefährlich herausstellen.Das THW ist eine sehr günstige Einheit. Jeder aktiveTHW-Helfer kostet den deutschen Steuerzahler pro Jahrim Durchschnitt 4 500 Euro; da sind alle Kosten einbe-rechnet. Insoweit kann Deutschland froh darüber sein,dass es 80 000 Helferinnen und Helfer hat, die jedenTag, die jede Stunde bereit sind, ihr Leben, ihre Gesund-heit aufs Spiel zu setzen.
Sie haben es verdient, dass sie mit entsprechenden Mit-teln ausgestattet werden. Daher lautet mein Appell anuns alle, hier nicht nachzulassen und das TechnischeHilfswerk bei zukünftigen Haushaltsberatungen sehrwohlwollend zu behandeln.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19295
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Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir erleben gerade ein kleines historisches Ereignis– ich habe nachgeschaut –: Es ist das erste Mal, dass sichder Deutsche Bundestag zu einem Tagesordnungspunktausschließlich mit Fragen der zivilen Sicherheit in die-sem Lande beschäftigt; bisher geschah dies meist imZusammenhang mit Polizei, Militär und Aspekten deräußeren Sicherheit. Das halte ich für einen ganz wichti-gen Schritt. Dies ist übrigens auch im Interesse der vie-len Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des TechnischenHilfswerks – einer Bundesanstalt –, des BBK, des Bun-desamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophen-hilfe, aber auch der vielen Feuerwehren in diesemLande, die wir bei den Haushaltsberatungen – daraufmöchte ich hinweisen – auch nicht vergessen dürfen. Eskann nicht sein, dass wir auf der einen Seite dem THWhelfen – das ist völlig richtig; das haben wir gemeinsambeschlossen –, aber auf der anderen Seite das BBK unddie Feuerwehren als Sparbüchse betrachten.Ich glaube, bezüglich des Bevölkerungsschutzes undder dafür notwendigen Anstrengungen liegen unsereMeinungen als Berichterstatter gar nicht so weit aus-einander. Vieles, was wir auf den Weg gebracht habenund worüber wir jetzt auch im Parlament debattieren,kam zustande, weil alle, CDU/CSU, SPD, FDP, Grüneund Linksfraktion, im Interesse der zivilen Sicherheitunseres Landes fraktionsübergreifend zusammengear-beitet haben. Das ist bei diesem Thema auch angemes-sen.
Der Technikfolgenabschätzungsbericht, das Grün-buch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, aberauch die vielen länderübergreifenden Katastrophen-schutzübungen, kurz LÜKEX genannt, die seit Jahrenvom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastro-phenhilfe durchgeführt werden, wurden angesprochen.Übrigens, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz undKatastrophenhilfe, das unter einer rot-grünen Regierunggegründet wurde, hat diese Übungen angestoßen. Diesgeschah aufgrund der Erfahrungen des 11. Septemberund der Elbe- und Oderflut. Es ist eine sinnvolle Einrich-tung, führt uns aber auch jeden Tag vor Augen, wie ver-wundbar unsere moderne Industriegesellschaft gewor-den ist, nämlich in einem Ausmaß, wie wir es uns frühernur im Kriegsfall hätten vorstellen können.Ich sage in Gesprächen immer etwas flapsig: Wennman abends nicht einschlafen kann, dann zählt man jaüblicherweise Schäfchen. Man kann sich einmal Gedan-ken darüber machen, was in unserem Lande alles nichtmehr funktioniert – einige Beispiele sind genannt wor-den –, wenn der Strom ausfällt. Ich gebe Ihnen die Ga-rantie: Danach können Sie nicht mehr einschlafen. Weildas so ist, ist es wichtig, dass sich das Parlament, derDeutsche Bundestag, mit diesen Themen beschäftigt.Die Ursachen von Katastrophen sind, wie wir wissen,vielfältig. Das können Naturereignisse sein, wie wir sieim Münsterland erlebt haben. Das kann technisches Ver-sagen sein, wie wir es damals bei dem Abschaltfehler ander Ems erlebt haben. Das können auch Terroranschlägesein. In den letzten Wochen und Monaten haben wir er-fahren, dass es auch menschliche Absichten geben kann,die im wahrsten Sinne katastrophenauslösend werdenkönnen. Bei den Vorgängen an der Strombörse Leipzig,die fast dazu geführt hätten, dass das bundesdeutscheStromnetz kollabiert wäre, war der Auslöser die Profit-gier.
Auch sie ist in einer komplexen, modernen Industriege-sellschaft inzwischen durchaus zu einer möglichen Kata-strophenursache geworden.
Umso wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass nichts an-brennt – das gilt übrigens nicht nur für diesen Bereich –,und sich auf mögliche Katastrophen vorzubereiten.
Weil Katastrophen nicht vor Ländergrenzen haltma-chen, ist es wichtig, im europäischen Konzert zu han-deln. Dabei müssen wir zwar den Rahmen unseres Föde-ralismus beachten, aber so vorgehen, dass es zu einemmöglichst hohen Grad an länderübergreifender Zusam-menarbeit und Kooperation zwischen Bund und Ländernkommt.Hier haben wir einige Schritte nach vorne gemacht,etwa im letzten Zivilschutzgesetzänderungsgesetz. Auchwenn die Länder nicht bereit waren, mehr zu geben, er-kennen sie jetzt zumindest an, dass dem Bundesamt fürBevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und demBund bei entsprechenden Lagen eine koordinierende undstärker organisierende Funktion zukommen kann; dasgilt übrigens nicht nur in einer Lage, sondern auch in derVorbereitung. Das halte ich für extrem wichtig.Vielleicht am Rande: Dass dem Bundestag über dieRisikoanalysen, die erst am Anfang stehen, zu berichtenist – momentan geht es ja erst einmal darum, dass ge-meinsam mit den Ländern die Methode vereinbart wurde –,haben wir diesem Gesetz zu verdanken. Darüber möchteich zwar nicht unbedingt stolz berichten – das war näm-lich eine gemeinsame Leistung der Großen Koalition,meine lieben Kolleginnen und Kollegen –, aber doch da-rauf hinweisen, dass diese Berichtspflicht gegen den er-heblichen Widerstand der damaligen Berichterstatterinder Union ins Gesetz geschrieben worden ist. Dem ha-ben wir es zu verdanken, dass wir heute im Bundestagüber dieses Thema diskutieren. Auch das muss man indieser Stunde, in der wir diese Debatte führen, einmalstolz sagen können.
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19296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Gerold Reichenbach
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Ich glaube, es ist wichtig, dass wir gemeinsam an ei-nem Strang ziehen. Weil das Bundesamt für Bevölke-rungsschutz und Katastrophenhilfe inzwischen eine sozentrale Funktion übernommen hat, ist es ganz wichtig– Herr Kollege Mayer, ich nehme Ihr Angebot gerne an –,interfraktionell dafür zu streiten, dass für den Bevölke-rungsschutz in Zukunft Geld in die Hand genommen undan dieser Stelle nicht gespart wird. Aber ich sage ganzoffen: Das darf nicht nur für das THW gelten – ich weiß,dass wir beide dort sehr stark engagiert sind –, sondernmuss auch für das BBK gelten, das beim letzten Mal lei-der ein bisschen bluten musste und nicht, wie das THW,in die Reihe der Sicherheitsbehörden aufgenommenwurde. Leider ist beim letzten Mal auch bei der Ausstat-tung der Feuerwehren und der Hilfsorganisationen, diewir den Ländern zur Verfügung stellen, gespart worden.Ich glaube, ein Teil unserer gemeinsamen Anstren-gung muss sein, dass wir uns auf künftige Herausforde-rungen und Gefährdungen vorbereiten. Dabei geht esnicht mehr nur um die klassischen Hilfsorganisationen.Ich möchte zitieren, was Major General MichaelCharlton-Weedy vom britischen EPC anlässlich einergroßen internationalen Katastrophenschutzkonferenz inChina zum Katastrophenschutz der Zukunft und zu denHerausforderungen, die zu bewältigen sind, gesagt hat:We need new guys with new skills. – Wir brauchen ne-ben den klassischen Katastrophenschutzorganisationenalso auch neue Kräfte mit neuen und anderen Fähigkei-ten. Ich glaube, er hat den Nagel auf den Kopf getroffen.Teile und integrale Bestandteile unseres Katastro-phenschutzes sind nicht nur Feuerwehren, Sanitätsorga-nisationen, das THW und andere, sondern auch solcheOrganisationen wie der Deutsche Wetterdienst und dieDeutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, die zumBeispiel bei dem Einsatz in Japan, dessen Beginn sichjetzt jährt, erhebliche Unterstützungsleistungen für dasTHW erbringen konnten, Organisationen, die stärker inden Bereichen Wissenschaft und Vorbereitung tätig sind,und Organisationen wie das Deutsche GeoForschungs-Zentrum. Das alles sind inzwischen Teile unseres Bevöl-kerungsschutzes. Ich glaube, wir müssen sie auch als in-tegrale Bestandteile dessen verstehen.Ich bin ganz froh, dass es uns gelungen ist – ichglaube, der Kollege Notz als jetzt amtierender Vorsitzen-der des Beirates wird auch darauf eingehen –, aus demParlament heraus eine ganze Reihe von Einrichtungen zuschaffen, mit denen wir uns überparteilich und über dieFraktionen hinweg zum Ziel gesetzt haben, die Vorberei-tung auf schwierige Lagen und auf die zunehmende Ver-wundbarkeit unserer Gesellschaft voranzutreiben. In die-sem Sinne begreife ich die heutige Debatte als einen sehrguten Auftakt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von derFDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsereglobalisierte Welt bietet viele Chancen, birgt aber gleich-zeitig durchaus auch Risiken. Deshalb gilt es, nicht mitAngst Politik zu machen, sondern mit kühlem Kopf dieHerausforderungen zu analysieren.Bedrohungen sind ständigen Wandlungen unterwor-fen. Regionale Katastrophen können globale Wirkungenhaben, wie sie zum Beispiel Pandemien, Extremwetter-lagen und Großschadensereignisse wie Hochwasserflu-ten und Erdbeben zeigen. Entsprechend steigen die An-forderungen an eine weitsichtige Politik und an eineneffektiven Bevölkerungsschutz. Unsere Gesellschaft istvielfältig vernetzt. Gesellschaftspolitische Änderungenund neue Techniken führen zu einem zunehmendenDruck auf Sicherheitsstandards und die Verlässlichkeitder Systeme. Das Krisenmanagement steht vor neuenHerausforderungen.Durch die Veränderungen unterliegen wir weiterenVerwundbarkeiten, insbesondere im Bereich der kriti-schen Infrastrukturen. Unternehmen mit Versorgungs-netzwerken aus der Energie-, IT- und Telekommunika-tionsbranche als Lebensnerven unserer heutigenmodernen Gesellschaft können durch kleinste Störungenausfallen.Der TAB-Bericht zum Projekt „Gefährdung und Ver-letzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel einesgroßräumigen und langandauernden Ausfalls der Strom-versorgung“, der von meiner Fraktion angeregt wurde,legt erstmals wissenschaftlich fundiert die möglichenFolgen eines solchen Ereignisses im heutigen Deutsch-land dar. Er schafft eine Diskussionsgrundlage, um sichneue Gedanken zur Sicherheit unserer Bevölkerung zumachen – in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.Gerold Reichenbach sprach es schon an: Gerade in die-sem Zusammenhang gab es hier einige Initiativen. Herrvon Notz wird sicherlich auch noch darauf eingehen.Der mehrtägige regionale Stromausfall im Münster-land im Jahr 2005 hat uns zwar in etwa die Folgen erah-nen lassen, jedoch hatten die wenigsten die Vorstellungdavon, dass aus einem großräumigen Stromausfall einenationale Katastrophe erwachsen kann. Andere Groß-schadenslagen im In- und Ausland zeigen Ähnliches.Die Analysen des TAB zeigen, dass der Stromausfallein besonders wichtiges Beispiel für kaskadierendeSchadenswirkungen sein kann. Auch aufgrund aktuellerEntwicklungen im Bereich der Energieversorgung er-scheint das Risiko von massiven Versorgungsstörungender Haushalte, Beeinträchtigungen der Industrieproduk-tion sowie Gefährdungen der öffentlichen Sicherheitnicht gänzlich unwahrscheinlich.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19297
Hartfrid Wolff
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Die verschiedenen Sektoren kritischer Infrastrukturensind umfassend von einer kontinuierlichen Stromversor-gung abhängig. Es bedürfte einer Mobilisierung aller in-ternen und externen Kräfte des Bevölkerungsschutzes,um die Auswirkungen zumindest zu mildern. Vollstän-dig beherrschbar sind sie laut TAB-Bericht nicht.Meine Damen und Herren, der TAB-Bericht ist des-halb so wichtig, weil er uns zeigt, wie verletzlich unsereGesellschaft aufgrund unserer Vernetzung und derStromabhängigkeit sein kann. Er stellt wichtige Folgen-analysen vor und gibt Hinweise zur Stärkung der Resi-lienz kritischer Infrastrukturen und zur Optimierung desKatastrophenmanagements.Politisch heißt dies, dass wir auch die Präventions-strategien und die Reaktionsmöglichkeiten deutlich denneuen Herausforderungen anpassen müssen. So sind wirdazu aufgerufen, stets neue sicherheitsrelevante Berei-che zu identifizieren und uns immer wieder die Fragenach einem gesellschaftlich akzeptierten Verhältnis vonFreiheit und Sicherheit zu stellen.
Es war deshalb richtig, dass der Bund in seinem Zu-ständigkeitsbereich bereits erste Weichenstellungen un-ternommen hat; der Kollege Stephan Mayer hat schondarauf hingewiesen. So hat diese Koalition dafür ge-sorgt, dass zum Beispiel das Technische Hilfswerk alsSicherheitsbehörde anerkannt wurde und dass in Zukunftgerade der Einsatz von einer Vielzahl von ehrenamtli-chen Kräften eine bessere Unterstützung erhält.
Das Engagement aller Ehrenamtlichen im Bevölke-rungsschutz für unser aller Sicherheit ist beispielhaft inDeutschland.Für den Katastrophenschutz sind grundsätzlich alleindie Länder zuständig; nur für den Zivilschutz im Vertei-digungsfall hat der Bund eine Kompetenz. Großscha-denslagen wie ein flächendeckender Stromausfall ma-chen aber nicht vor Ländergrenzen halt. Zuständigkeitenund Ressortdenken helfen nicht, wenn es um schnelleEntscheidungen im Notfall und um den Aufbau moder-ner Reaktionskräfte geht.Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion mit dem In-spekteur für den Bevölkerungsschutz eine Koordina-tionsinstanz der Länder vorgeschlagen. Der Idee liegtzugrunde, dass wir – gegebenenfalls über einen Staats-vertrag zwischen Ländern und Bund – zum Beispiel inder Ausstattung oder Ausbildung auch für die vielen eh-renamtlichen Kräfte im Bevölkerungsschutz bessere Vo-raussetzungen schaffen können.
Bessere Koordination statt Ressortegoismen, schnellereReaktionen statt langes Warten auf Entscheidungen, ver-netztes Denken über Ländergrenzen hinweg statt Ein-dimensionalität in einer vernetzten Welt, das ist meinesErachtens die Zukunft im Bevölkerungsschutz.
Die Bevorratung mit Medikamenten, die Aufklärungder Bevölkerung, die Katastrophenschutzforschung, einegezielte Alarmierung der Bevölkerung oder die einheitli-che Beschaffung sowie auch die Ausbildung und Fortbil-dung vielfach ehrenamtlicher Kräfte brauchen effektiveund effiziente Strukturen. Kommunen, Länder und Bundmüssen enger zusammenarbeiten, um den Menschen imErnstfall mehr Sicherheit geben zu können. Wir habenheute Morgen in einem anderen Zusammenhang über Si-cherheit diskutiert. Aber auch hier brauchen wir eineneue Sicherheitsarchitektur.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel von der Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Auch ich möchte mich zunächst bei den Au-toren der vorliegenden Studie wie auch bei den Prakti-kern bedanken, die uns ständig beraten. Spätestens jetztwissen wir, dass wir für Großschadenslagen wie einemgroßflächigen Ausfall der Stromversorgung noch nichtausreichend vorbereitet sind. Das gilt es zu ändern, undzwar, wie wir gehört haben, gemeinsam.
Fakt ist, dass ein langanhaltender Stromausfall für dieBundesrepublik eine menschliche und wirtschaftlicheKatastrophe wäre. Denn die Stromversorgung ist Vo-raussetzung für Internet, Wirtschaft, Handel, Bankwesenusw. Fällt die Stromversorgung aus, hat das – darübermuss man sich im Klaren sein – gravierende Folgen un-ter anderem für die Wasserversorgung und -entsorgung,die Lebensmittelversorgung und die gesamte elektroni-sche Kommunikation. Manches fällt innerhalb wenigerStunden aus, anderes spätestens nach wenigen Tagen.Auch der Katastrophenschutz selbst – das ist sehr wich-tig – wäre von einem Stromausfall direkt betroffen.Diesen hohen Vernetzungsgrad gab es vor 20 Jahrennoch nicht. Darauf müssen wir nun – das haben wir er-kannt – schnellstmöglich reagieren. Nicht zuletzt durchdie Studie wissen wir, dass es aktuell erhebliche Defizitebei der Bewältigung einer solchen Katastrophe gibt.Ein Beispiel sind die ungeklärten Zuständigkeiten.Herr Wolff von der FDP hat recht: Die 16 Ländergesetz-gebungen bilden einen Flickenteppich, den es zu koordi-nieren gilt.Ein zweites Beispiel sind die Rettungskräfte. Es mussgeklärt werden, wie Rettungskräfte in der Zeit einesStromausfalls kommunizieren sollen, wenn Handys und
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19298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Frank Tempel
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Funk ausgefallen sind. Sehr wichtig sind auch die Aus-rüstung und Einsatzbereitschaft des Katastrophenschut-zes.Es ist richtig: Aktuell ist der Katastrophenschutz aufklassische Unglücke wie Überschwemmungen gut vor-bereitet. Aber die Vorsorge für eine atomare Katastro-phe, ein großes Chemieunglück oder eben für einenlanganhaltenden, großflächigen Stromausfall ist absolutunzureichend. Lange hat die Regierung komplexe Sze-narien als unwahrscheinlich vom Tisch gewischt. Spä-testens seit Fukushima ist aber offensichtlich, dass sol-che Unglücke auch in Deutschland möglich sind.Bei uns und unseren Nachbarn gibt es weiter Atom-kraftwerke. Sie dürfen daher das Bedrohungspotenzial,das auch darin liegt, nicht ignorieren.
Katastrophenschutzpläne und technische Ausrüstungmüssen schnellstmöglich dieser Bedrohungslage ange-passt werden. Alles andere wäre fahrlässig.Ein weiteres Problem: Der Katastrophenschutz in derBundesrepublik ist richtigerweise auf Ehrenamtlichkeitund ziviles Engagement aufgebaut. Auf 100 Ehrenamt-liche kommt zum Beispiel bei der Bundesanstalt Techni-sches Hilfswerk, also dem THW, ein hauptamtlicherMitarbeiter. Aber das Ehrenamt ist jetzt zunehmend ge-fährdet. Gründe sind zum Beispiel hohe berufliche Inan-spruchnahme, zu geringe gesellschaftliche Anerkennungund die Überalterung der Bevölkerung. Das stellt dasEhrenamt infrage und führt zu Nachwuchssorgen. Auchdas sind Probleme, derer wir uns annehmen müssen.Durch die Abschaffung der Wehrpflicht zum Beispielwurde dem THW eine wichtige Möglichkeit genommen,junge Menschen langfristig für den Katastrophenschutzzu begeistern. Denn früher konnten sich junge Men-schen, statt Wehrdienst zu leisten, beim THW verpflich-ten, und viele blieben dann aus Verbundenheit auchdabei. Das heißt, wir brauchen heute dringender denn jeein langfristiges Konzept, um den Nachwuchs für denKatastrophenschutz zu sichern.
Die Selbsthilfe ist ein ganz entscheidender Faktor imKatastrophenschutz. Zusammenhalt und gegenseitigeHilfe der Menschen sind von entscheidender Bedeutung.Zunehmende soziale Unterschiede und vorhandene Aus-grenzung können im Krisenfall Folgen haben. Statt-dessen brauchen wir eine hohe soziale Mobilität, dasWissen über das richtige Verhalten im Katastrophenfallauch beim Einzelnen, das man durch das Ehrenamt er-langt, und ein Mindestmaß an materiellen Reserven imHaushalt. Man muss sich genügend Wasser- und Lebens-mittelvorräte im Haus auch leisten können.Gerade im Katastrophenfall zeigt sich der Zusam-menhalt der Gesellschaft. Entsolidarisierung und Egois-mus müssen überwunden werden, damit alle Menscheneine Chance haben. Dabei machen wir gerne mit.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konstantin vonNotz von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es hier imHause um Katastrophen- und Bevölkerungsschutz geht,gibt es – das merkt man auch dieser Debatte an – immerwieder einen sehr bemerkenswerten Konsens zwischenden Fraktionen, und das ist gut so.Deswegen treffen wir uns auch mit allen Fraktionenregelmäßig in dem gemeinsam geschaffenen Zukunfts-forum Öffentliche Sicherheit, dem ZOES, um zusammenmit Verbänden, Behörden, Wissenschaft und Wirtschaftgenau das zu tun, was auf diesem Feld so wichtig ist,nämlich mit externem Sachverstand mögliche Risikenfür die Bevölkerung zu identifizieren, Strategien fürGegenmaßnahmen zu entwerfen oder, am besten, Kata-strophen präventiv zu verhindern oder zumindest ihreAuswirkungen zu minimieren.
Zugleich geht von FOES und ZOES auch ein Signalan Millionen von Freiwilligen und Ehrenamtlichen aus,nämlich das Signal, dass der Bundestag ihnen und ihrerArbeit den Rücken stärkt und sich der Bedeutung ihresEinsatzes für unsere Gesellschaft sehr bewusst ist.
Gerade beim Bevölkerungsschutz stehen wir als Frak-tionen dieses Parlaments gemeinsam in der Verantwor-tung, laufend kritisch zu hinterfragen, ob wir die richti-gen Konzepte verfolgen, ob unsere Behörden optimalaufgestellt sind und an welchen Stellen nachgebessertwerden muss. Denn es geht unmittelbar um den Schutzvon Menschenleben.Weil es oft um die Frage von Leben und Tod geht,werden Gefahren, Defizite, bestimmte Szenarien undproblematische Entwicklungen gerne verdrängt. Deswe-gen müssen wir als Parlamentarier auch Stachel gegendiese Verdrängungsmechanismen sein. Bestehende Wi-derstände gegen beängstigende Szenarien und Ignoranzaufgrund einer tendenziellen Nichtvorhersagbarkeit vonEreignissen müssen identifiziert, angesprochen undüberwunden werden.Das gilt auch und gerade, wenn eine Bundesregierungallzu bereitwillig den Satz verbreitet: Wir sind im Bevöl-kerungsschutz gut aufgestellt.
Das ist grundsätzlich nicht verkehrt,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19299
Dr. Konstantin von Notz
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aber die Analyse muss darüber hinausgehen. Denn istein solch selbstzufriedenes Zurücklehnen im Politischenschon generell gefährlich: Im Katastrophenschutz ist eshöchstgefährlich.Eine schwarz-gelbe Koalition, die nicht eingreift,sondern auch noch Flankenschutz gewährt, wenn dieLänder mit Zähnen und Klauen ihre Zuständigkeitenverteidigen, verweigert sich sträflich.
Wir befinden uns in einem epochalen Wandel, derauch die Risikobewertung des Bevölkerungsschutzeserfasst. Das ist hier angesprochen worden. Wir lebenheute in vielerlei Infrastrukturen, weltweit vernetzt, undwerden direkt von dem betroffen, was anderswo ge-schieht. Katastrophen orientieren sich eben weder anBundes- noch an Landesgrenzen. Wir brauchen deshalbweitere Anstrengungen zu einer sinnvollen Vereinheitli-chung und Koordination.
Ein weiteres grünes Credo im Umgang mit dem Kata-strophenschutz wird stets die Frage nach den Ursachensein. Die richtige Prävention setzt dann in ganz anderenPolitikfeldern an, zum Beispiel beim Klimaschutz. Hierbei uns wird glücklicherweise nicht ernsthaft bestritten,dass ein von Menschen verursachter Klimawandel einereale Bedrohung darstellt, auch für Europa und Deutsch-land. Hier gilt es, sowohl vorzusorgen als auch die Ur-sachen noch entschiedener zu bekämpfen.
Das eindringliche Stromausfallszenario des Büros fürTechnikfolgenabschätzung stellt in dieser Hinsicht einenMeilenstein dar. Es stützt die grüne Forderung nach ei-ner Dezentralisierung in der Energiewende. Herr Mayer,es geht nicht in die Richtung, die von Ihnen angespro-chen worden ist, sondern genau in die andere Richtung.Ich zitiere aus der Studie:Energieautarkie durch Eigenenergieproduktion so-wie Inselnetztauglichkeit der dezentralen Stromer-zeuger würden im Katastrophenfall einen Beitrag– einen Beitrag! –zur Versorgung nach einem Stromausfall leisten.Deswegen ist die Energiewende gut für die Versorgungs-sicherheit.
Nachhaltigkeitskonzepte in den unterschiedlichstenBereichen bringen viel mehr für den Bevölkerungs-schutz, als unser immer noch primär auf Nachsorge an-gelegter Schutzapparat tatsächlich leisten kann.
Denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme zum Schluss. – Unser Handeln systema-
tisch von den möglichen katastrophalen Folgen her zu be-
denken – auch das zählt zu den zentralen Aufgaben des
Bevölkerungsschutzes, wie wir Grünen ihn verstehen.
Ganz herzlichen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. Thomas Feist von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Haben Sie eine Taschenlampe,
Einweckgläser, Konserven im Keller
oder ein batteriebetriebenes Radio?
Wenn ja, dann sind Sie die Glücklichen; denn wenn eszu einem langanhaltenden und großflächigen Stromaus-fall kommt – das steht in dem Bericht, über den wirheute reden –, dann wäre es gut, wenn man so etwas hat,um miteinander kommunizieren zu können.Dieser Bericht macht auf jeden Fall deutlich – nach-dem er auch öffentlich zur Kenntnis genommen wordenist –, dass wir hier in Deutschland leben, im sicherenSchoße Europas und nicht in Amerika; denn in Amerika– da bin ich mir hundertprozentig sicher – hätte die Ver-öffentlichung eines solchen Berichts dazu geführt, dassBaumärkte leergekauft und Batterien und Transistorra-dios aufgekauft worden wären. Einweckgläser hätte manwoanders hergenommen.Die elektrifizierte Gesellschaft – in der bewegen wiruns – stellt die Voraussetzungen für alles andere. Freiheitdurch Technik – das hat der Bericht sehr deutlich gezeigt –heißt aber auch Abhängigkeit von Technik. Ich finde ge-rade an diesem Bericht sehr gut, dass Technikfolgenab-schätzung, wie sie sein sollte, hier zum Ausdruckkommt. Es ist keine Technikfeindlichkeit, aber auchkeine Technikgläubigkeit zu finden. Es wird vielmehr
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19300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Thomas Feist
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genau geschaut, wo die Risiken unserer Freiheit und wodie Verantwortung, die wir haben, liegen.
Die Klimaverträglichkeit ist ein wichtiges Kriteriumbei der Stromerzeugung.
Allerdings muss ich sagen: Wir sollten die Bezahlbarkeitnicht vergessen. Grundlage von allem ist die Versor-gungssicherheit. Die Versorgungssicherheit – das zeigtdieser Bericht – ist etwas, was wir in dieser Trias nichtgleichwertig behandeln sollten, sondern was darüberste-hen müsste. Zumindest ist das meine Meinung.
– Sie haben mir etwas vorgelesen. Der Bericht ist aberetwas umfangreicher.
Die Insellösung ist – da haben Sie völlig recht – imKatastrophenfall wichtig. Aber normalerweise leben wirnicht im Katastrophenfall.
Es gibt Städte in Deutschland, die auf diesen Katastro-phenfall hervorragend vorbereitet sind,
zum Beispiel Willich – von dort kommt mein KollegeSchummer –
mit Geothermie und einem hervorragenden Stadtwerke-konzept. Das muss man durchaus einmal erwähnen;denn so etwas hilft uns.
Die Abhängigkeit der Gesellschaft von kritischen In-frastrukturen hat sich anhand verschiedener Katastro-phen und technischer Störungen in den letzten Jahrenimmer wieder gezeigt. Das ist deutlich geworden; Vor-redner sind darauf eingegangen. Die erhöhte Gefahr vonStromausfällen wurde – und das ist zu bedenken – in denletzten Wochen und Monaten nicht nur von den Medienthematisiert, sondern vor allen Dingen auch von denNetzbetreibern, die uns eindringlich davor gewarnt ha-ben, dass wir es nicht dazu kommen lassen dürfen, dassdie Netze durch Spannungsspitzen überlastet werdenund dadurch großflächige und eventuell langanhaltendeStromausfälle resultieren.Von daher – da bin ich als Mitglied des Bildungs- undForschungsausschusses ganz uneitel – lobe ich an dieserStelle die Weitsicht des Innenausschusses. Er hat näm-lich diesen Bericht in Auftrag gegeben. Das ist einen be-sonderen Applaus wert für den Innenausschuss und seineWeisheit.
Der Bericht hat deutlich gemacht, dass noch erhebli-cher Forschungsbedarf besteht, aber eben nicht nur intechnischer Hinsicht, sondern vor allen Dingen auch inden Geistes- und Sozialwissenschaften. Wir müssennämlich nicht nur sagen, was technisch möglich ist, son-dern auch, was für die Bevölkerung akzeptabel ist. Hierbrauchen wir mehr Sozialforschung. Wir müssen mehrdarüber lernen, wie unsere Leute ticken.Aber eines – das fand ich sehr beruhigend in diesemBericht – steht auch fest: Die Leute reagieren im Kata-strophenfall doch nicht so unüberlegt, wie man es sichvorstellen würde. Der Bericht stellt nämlich auch fest:Menschen sind in Katastrophen eben nicht nur Opfer,sondern sie sind auch Helfer. Genau darin zeigt sichauch die gesellschaftliche Solidarität in unserem Land.Auch das ist ein sehr hohes und beklatschenswertes Gut.
Weil ich hier vorne gerade unseren ParlamentarischenStaatssekretär Thomas Rachel sehe, möchte ich es nichtversäumen, darauf hinzuweisen, dass unter anderem ge-nau solche Fragestellungen, wie sie im Bericht formu-liert worden sind, in das Rahmenprogramm „Forschungfür die zivile Sicherheit“ aufgenommen worden sind.Um einfach einmal eine Zahl zu nennen: In den letztenfünf Jahren – so lange gibt es das Programm ja schon –wurden immerhin 250 Millionen Euro in diesen Bereichinvestiert.Wir haben diesen Bericht nicht nur gelesen, sondernnehmen ihn ernst. Wir beschäftigen uns mit einer ganzenReihe von Sicherheitsszenarien, in denen es um Versor-gungssicherheit geht. In der zweiten Programmphasewerden wir uns vor allem mit den Fragen von Präventionund Reaktion beschäftigen.Abschließend möchte ich noch hinzufügen: Für vieleBürger des Landes, aus dem unter anderem auch ichkomme, wäre angesichts der elektrisch gesichertenGrenze und der Selbstschussanlagen ein langanhaltenderund großflächiger Stromausfall ein Segen gewesen. Ichbin froh, dass wir heute darüber anders diskutieren.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/5672, 17/8250 und 17/4178 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten EdelgardBulmahn, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDeutsches Engagement beim Einsatz von Poli-zistinnen und Polizisten in internationalenFriedensmissionen stärken und ausbauen– Drucksache 17/8603 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEMehr Mitsprache des Parlaments bei Aus-landseinsätzen der Bundespolizei– Drucksache 17/8381 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Edelgard Bulmahn von derSPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenHerren und Damen! Vor wenigen Minuten haben wirhier im Deutschen Bundestag über den Neuanfang im Je-men nach einer wirklich furchtbaren Zeit der Unterdrü-ckung und blutiger Auseinandersetzungen diskutiert.Wie gefährdet der Friede ist, haben wir nicht nur in die-ser Debatte wieder miteinander erörtert und diskutiert,sondern das wird auch im aktuellen Conflict Barometer2011 des Heidelberger Instituts für Internationale Kon-fliktforschung unterstrichen, in dem darauf hingewiesenwird, dass es im letzten Jahr 388 gewaltsame Konflikteweltweit gegeben hat. Davon kann man 20 sogar alskriegerische Auseinandersetzungen bezeichnen.Dieses Konfliktbarometer zeigt noch ein Zweites,nämlich die Vielfalt der gewaltsamen Konflikte. Ethni-sche und religiöse Spannungen, Hunger und Armut, einMangel an Freiheit, Verteilungsgerechtigkeit und Demo-kratie sowie das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit sind ge-nauso Ursachen für diese Konflikte wie zum Beispiel derRaubbau an Ressourcen oder die Zerstörung der natürli-chen Lebensgrundlagen. All das zeigt, wie gefährdet derFriede in vielen Regionen unserer Welt ist.Deshalb ist das Thema, das wir heute diskutieren,nämlich der Einsatz von Polizistinnen und Polizisten ininternationalen Friedensmissionen, sehr wichtig. Denneine Vielzahl dieser Konflikte kann gar nicht anders ge-löst werden. Hier sind Polizeieinsätze sehr wichtig, umwieder friedensähnliche Verhältnisse und friedensähnlicheZustände herzustellen.Die globale und regionale Sicherheitslage wird heuteeben nicht mehr durch den Antagonismus zweier sichfeindlich gegenüberstehender Blöcke bedroht, wie wirdas noch in den 70er- und 80er- und teilweise sogar nochin den 90er-Jahren erlebt haben, sondern durch Antago-nismen innerhalb von Staaten und Regionen. Vor diesemHintergrund spielt der Dienst von Polizistinnen und Poli-zisten in internationalen Friedensmissionen eine großeRolle.Gerade in den Krisenländern werden nämlich immerwieder die Menschenrechte verletzt. Rechtsstaatlichkeitwiederherzustellen, ist eine große Herausforderung. Wirbrauchen also gut ausgebildete Polizisten, um den Staats-aufbau zu unterstützen, den Schutz der Menschenrechtezu gewährleisten und Rechtsstaatlichkeit wiederherzu-stellen.Beim Einsatz der Polizei – das sage ich gerade inRichtung der Linken – geht es nicht darum, dass von denPolizisten militärische Aufgaben übernommen werden.Das ist nicht das Ziel, und das darf auch nicht gesche-hen. Vielmehr geht es darum, Sicherheit für die Zivilbe-völkerung zu schaffen
und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.Die deutsche Polizei genießt international eine sehrhohe Anerkennung. Die Kolleginnen und Kollegen vonder Polizei sind – das erfahren wir immer wieder – bes-tens vorbereitet und hervorragend ausgebildet. Das sindStärken, die sowohl von den internationalen Organisatio-nen als auch von den Ländern, in die die Polizisten ent-sandt werden, außerordentlich geschätzt werden. Da-rüber hinaus – das ist mir wichtig, und das ist auch fürdie internationale Anerkennung sehr wichtig – ist diedeutsche Polizei aufgrund ihres Selbstverständnisses undihrer gesellschaftlichen Einbindung in einer besonderenWeise geeignet, wichtige Unterstützung für eine demo-kratische Entwicklung in Krisenländern zu geben. Dasist uns ein sehr wichtiges Anliegen.
Es gibt einen weiteren Aspekt, warum es so wichtigist, dass wir genügend Polizisten zur Verfügung stellen.Die Nachfrage nach Experten wie Forensikern und Spe-zialisten für Datensicherheit oder für die Bekämpfungder organisierten Kriminalität ist gerade in diesen Kri-senländern besonders groß.Deutschland beteiligt sich seit 1989 an internationa-len Friedensmissionen und hat seitdem 5 000 Polizistin-nen und Polizisten entsandt. Wenn wir uns die Daten ge-nauer anschauen, müssen wir feststellen, dass die Zahlder entsandten Polizistinnen und Polizisten über dieJahre kontinuierlich abgenommen und nicht zugenom-men hat, was eigentlich dem Bedarf entsprechen würde.
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19302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Edelgard Bulmahn
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Sie hat kontinuierlich abgenommen. Wenn man es sichdann noch einmal genauer anschaut, stellt man fest, dassDeutschland zurzeit gerade einmal 11 der 14 495 Poli-zistinnen und Polizisten in den Einsätzen der UN stellt.Die anderen europäischen Länder sind da im Übrigennicht viel besser. Großbritannien stellt nur 2, Frankreichstellt 35 Beamte. Die europäischen Länder sind alsonicht wirklich ein Vorbild. Die meisten Polizistinnen undPolizisten kommen aus Ländern wie Bangladesch undJordanien.Das macht eines deutlich: Deutschland tritt zwar in-ternational als Geldgeber auf. Es wird aber seiner kon-kreten Verantwortung in den Missionen nur unzurei-chend gerecht.Wenn man nach den Gründen fragt, dann zeigt sicheines sehr deutlich: Das Prinzip, sich freiwillig für einenEinsatz im Ausland zu entscheiden, ist richtig und mussauch beibehalten werden. Darin sind wir uns – das istganz wichtig – mit den Innenpolitikern einig. Die Ursa-che liegt auch nicht, wie viele vielleicht glauben, darin,dass zu wenig Interesse und zu wenig Bereitschaft auf-seiten der Polizei vorhanden sind. Auch das ist nicht derFall. Deshalb will ich den Polizistinnen und Polizistenausdrücklich für die Erfüllung ihrer wichtigen Aufgabendanken.
Es liegt auch nicht daran, wie vielleicht einige denken,dass es an finanziellen Anreizen mangelt und dass nichtgenug Geld gezahlt wird. Das ist für die Polizistinnenund Polizisten kein Grund.Was fehlt, sind verlässliche Karriereperspektivennach ihrer Rückkehr. Dieser wesentliche Punkt wird im-mer wieder genannt. Was fehlt, ist die fachliche und vorallen Dingen auch die öffentliche Anerkennung ihrer Ar-beit. Was fehlt, ist eine bessere Vereinbarkeit von Berufund Familie unter den besonderen Bedingungen einesAuslandseinsatzes. Das sind die Punkte, bei denen esProbleme gibt und wo wir zu Verbesserungen bzw. zuVeränderungen kommen müssen.Es gibt einen zweiten großen Problembereich, näm-lich die strukturellen Hürden in der Zusammenarbeitzwischen Bund und Ländern. Für Polizeieinsätze imAusland werden kaum zusätzliche Ressourcen bereitge-stellt. Das müssen wir ändern, wenn wir unseren interna-tionalen Verpflichtungen wirklich ernsthaft nachkom-men wollen.
Solange Auslandseinsätze immer nur eine Zusatzbelas-tung darstellen und mit einer vermehrten Belastung derKolleginnen und Kollegen einhergehen, die hier vor Ortihren Dienst tun, wird es keine zufriedenstellenden Lö-sungen geben.Die Bundesregierung ist daher aufgefordert – genaudiese Forderung erheben wir in unserem Antrag –, aufdie Länder zuzugehen und in einer umfassenden Bund-Länder-Vereinbarung geeignete finanzielle wie organisa-torische Strukturen zu schaffen, die sicherstellen, dassdie Bundesrepublik ihren internationalen Verpflichtun-gen im ausreichenden Maße gerecht werden kann. Sol-che Bund-Länder-Vereinbarungen sind im Übrigen imWissenschaftsbereich gang und gäbe. Genau so etwasbrauchen wir auch an dieser Stelle. Das ist eine Möglich-keit, in unserem föderalen System einen vernünftigenund richtigen Weg einzuschlagen, ohne die unterschied-lichen Verantwortlichkeiten des Bundes und der Länderinfrage zu stellen und trotzdem zu guten gesamtstaatli-chen Lösungen zu kommen.Wir haben in unserem Antrag beschrieben, was einesolche Vereinbarung enthalten soll, damit sie den beste-henden Problemen gerecht wird. Dazu gehören die Be-reitstellung ausreichender finanzieller Mittel, aber auchzum Beispiel die Schaffung eines Pools von virtuellenPlanstellen, die Entwicklung gemeinsamer Ausbildungs-formate und -inhalte und entsprechende Änderungen imDienstrecht, um Karriereperspektiven zu verbessern, wieich es eben beschrieben habe.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-schließend feststellen: Ich hoffe sehr, dass die Gemein-samkeit im Deutschen Bundestag hinsichtlich internatio-naler Polizeieinsätze auch dann vorhanden ist, wenn esdarum geht, die konkreten Grundlagen zu verbessern,damit wir nicht nur Vereinbarungen unterzeichnen, son-dern sie auch ausfüllen können. Damit können wir denberechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnenund Polizisten, die für uns im Ausland diese wichtigeAufgabe erfüllen, auch endlich gerecht werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Vor drei Wochen haben wir hier über einenAntrag der Linken debattiert, in dem der Abzug deut-scher Polizisten aus Afghanistan gefordert wurde.
Ich habe diesen Antrag nicht nur abgelehnt, sondern ichhabe schon damals das Gegenteil gefordert. Ich tretenämlich für eine Ausweitung des deutschen Engage-ments bei internationalen Friedensmissionen ein. Derheute zu beratende Antrag der SPD ist daher nichts ful-minant Neues, weist aber gedanklich in die richtigeRichtung. Das möchte ich deutlich sagen.Ein verstärktes deutsches Engagement wäre aller-dings eine politisch nicht unerheblich neue Weichenstel-lung. Immerhin wären wir dann bereit, mehr zivile deut-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19303
Armin Schuster
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sche Experten auch in Krisengebiete wie zum Beispielden Jemen – Frau Bulmahn hat es angesprochen – oderauch nach Afghanistan oder Libyen zu entsenden. Nachden Erfahrungen der letzten Jahre sehe ich dafür nochkeine stabile parlamentarische Zustimmung bei der Op-position und auch nicht in allen Ländern.Deshalb sollten wir aus meiner Sicht zwei zentraleFragen beantworten: Wohin wollen wir sicherheitspoli-tisch und warum? Es geht mir also vor den operativenUmsetzungsdetails, die Frau Bulmahn genannt hat, zu-nächst einmal um das Ziel und den politischen Auftrag.Hier sehe ich sogar weiter reichende Perspektiven alsdie, die im Antrag der SPD stehen.Verteidigungsminister Thomas de Maizière betonte inder vergangenen Woche in einer Grundsatzrede an derHarvard-Universität, dass ein ökonomisch starkes, je-doch sicherheitspolitisch schwaches Deutschland nur bis1990 von seinen Partnern gewünscht war. Viel nehmenund wenig geben, das war gestern. Auf der Münchner Si-cherheitskonferenz wurde die zunehmende Selbstbe-schäftigung der wichtigsten Mitgliedsländer Europas,vor allem auch Deutschlands, international kritisiert. Wirsind längst zum gleichberechtigten Bündnispartner ge-worden, ob uns das gefällt oder nicht. In einem Bündnisheißt „gleichberechtigt“ auch „gleichverpflichtet“. Unsmuss bewusst sein, dass die USA ihr sicherheitspoliti-sches Engagement aus politischen, vor allem aber auswirtschaftlichen Gründen neu ausrichten und konzentrie-ren werden. Auch deshalb wird Deutschland als stärksteVolkswirtschaft in Europa höhere Erwartungen derNATO erfüllen und mehr Verantwortung übernehmenmüssen. Zusammengefasst heißt das für mich: Entwedergestalten wir unsere künftige Sicherheitspolitik selbst,oder wir werden zunehmend gestaltet.
– Herr Wieland, das ist jetzt zu viel der Ehre für mich.Beim Thema Friedensmissionen bieten sich aus mei-ner Sicht dafür drei Aufgabenbereiche: erstens der mili-tärische, zweitens der zivil-militärische, drittens der zi-vile Aufgabenbereich. Die militärischen Perspektivensind heute nicht unser Thema. Beim zivil-militärischenBereich sehe ich erhebliche deutsche Potenziale. Das istaber ein Thema für eine eigene Debatte, die ich sehr in-teressant finden würde. Wir bleiben beim zivilen Auf-bau.Friedensmissionen sollten meines Erachtens von An-fang an strategisch dreistufig geplant werden: militärischFrieden schaffen, zivil-militärisch stabilisieren und inder zivilen Phase demokratische Strukturen aufbauen.An dieser Schnittstelle sehe ich die große ChanceDeutschlands. Hier gehe ich über Ihren Antrag hinaus.Natürlich ist die Aufbauhilfe durch deutsche Polizisten,also die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen und inne-rer Sicherheit, ein Löwenanteil bei einer Mission. Aber– Sie haben es selbst genannt – Infrastrukturunterstüt-zung, Good Governance und der Aufbau moderner Ver-waltungs- und Rechtsstrukturen in einem Land gehörenfür mich systematisch zu einem Gesamtpaket. Nach denErfahrungen, die wir sammeln, betrifft dies nicht nur diePolizei.Auf diese dritte Phase muss man bei einem Einsatzvon vornherein strategisch vorbereitet sein. In der Ver-gangenheit waren wir es für diese dritte Phase fast nieund schon gar nicht so integrativ, wie ich es gerade be-schrieben habe. Das ist für mich die große ChanceDeutschlands – es geht dabei nicht nur um die Polizei –:Mit unserer Kompetenz und unserem international ho-hen Renommee sollten wir der NATO, den VereintenNationen oder der EU integrative Lösungskonzepte fürdiese dritte Phase anbieten sowie ständig rekrutierbareExpertenpools, einheitlich geführt und interdisziplinäraus allen Ressorts zusammengestellt. Das muss das An-gebot sein, das wir unseren Bündnispartnern – die Poli-zei hat dabei den Löwenanteil zu leisten – bieten. Ichglaube, damit hätten wir ein Alleinstellungsmerkmal inEuropa, vielleicht sogar weltweit, und könnten damiteine Art Bündnisverpflichtung erfüllen, die zu unsererhistorischen Verantwortung sehr gut passt.Ich habe bei meiner letzten Rede – das ist jetzt nichtThomas de Maizière, Herr Wieland; das bin ich –
von „German Quick Stabilisation Force“ gesprochen.Ich will mich nicht selbst überhöhen, sondern Ihnen ein-fach nur einen Slogan bieten. Er lässt sich leicht einprä-gen. Im Militärischen kennen wir solche Begriffe. Aberwas ist mit der zivilen Komponente? Sollten wir nicht inder Lage sein, mit Ministern wie Herrn Niebel, Herrnde Maizière, Herrn Westerwelle oder Herrn Friedrich imRahmen deren Strategie und Einstellung ein solches sys-tematisches Gesamtpaket zu schnüren?
Die Regierung bietet dafür die richtigen Leute.Wer diese Vision hat, dem geht der Antrag der SPDnicht weit genug. Frau Bulmahn, ich möchte Ihnen sa-gen: Sie haben vieles beschrieben, mit dessen Umset-zung wir in der Großen Koalition – Ihr Antrag klingt daein bisschen alt – schon begonnen haben.
Ich dekliniere Ihnen jetzt nicht sämtliche Punkte durch,wo wir schon etwas getan haben. In dieser Legislatur-periode haben wir in unserer Koalition unter anderemden Personalgewinnungszuschlag und die Auslandsver-pflichtungsprämie eingeführt. Wir arbeiten an einer gan-zen Reihe ähnlicher Ideen.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Nehmen Sie sich Zeit,und besprechen Sie sich mit den Kollegen der SPD ausdem Innenausschuss.
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19304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Armin Schuster
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Dort höre ich teilweise sehr zweifelhafte Kommentareüber den Afghanistan-Einsatz. Ich glaube, Sie habendiesbezüglich noch genügend in der eigenen Fraktion zutun. Wir wollen solche Ziele durchsetzen. Wenn Sie da-bei sind – gut.Frau Jelpke, zu Ihrem Antrag: Sie wollen im Parla-ment über Polizeimissionen sprechen. Sie wollen einenParlamentsvorbehalt. Das haben Sie zum wiederholtenMale vorgetragen. Wir aber bleiben bei unserer Mei-nung: Nein, wir werden Ihrem Antrag wieder nicht zu-stimmen. Das Parlament kann seine Kontrollfunktionauch heute schon ausüben. Wir werden über jeden Ein-satz unterrichtet. Wir können jeden Einsatz von hier ausbeenden. Was soll das Ganze also?Ich werte in allem immer das Positive. Dass Sie heuteüber diese Einsätze reden wollen, ist ein deutlicher Fort-schritt zur letzten Debatte. Da wollten Sie nicht einmal,dass wir über solche Einsätze reden.Jetzt schließe ich –
Ja, bitte.
– mit einem Zitat des Verteidigungsministers, Herr
Wieland:
Angst vor der eigenen Stärke zu haben, ist keine
Leitlinie deutscher Politik. … Verantwortung … im
Bündnis, ohne unsere Geschichte zu vergessen, das
eignet sich eher als Leitlinie.
Genau dafür habe ich Ihnen einen Konzeptvorschlag ge-
macht.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frak-tion Die Linke will mit ihrem Antrag mehr Mitspracheim Parlament bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei.
Notwendig ist das aus zwei Gründen – das haben wirheute schon von den Vorrednern gehört –: zum einen,weil die Bedeutung solcher Einsätze der Bundespolizeiimmer mehr zunimmt – das ist übrigens eine Tatsache,die wir politisch und verfassungsrechtlich höchst proble-matisch finden –,
zum anderen, weil der Bundestag kaum Kontrollbefug-nisse über diese Polizeieinsätze hat. So wie ich das imSPD-Antrag gelesen habe, will die SPD das auch garnicht ändern. Die Linke aber sagt: Parlament und Öffent-lichkeit müssen über diese Einsätze informiert werden.Vor allen Dingen muss das Parlament eine Möglichkeithaben, einzugreifen, wenn es meint, die Polizei zurück-holen zu müssen.
Im Moment kann die Bundesregierung nach BeliebenPolizisten hinschicken, wohin sie will. Nur bei Missio-nen im Zusammenhang mit der UNO oder der OSZEmuss sie das Parlament informieren, und nur dann habenwir ein Rückholrecht. Das gilt aber schon nicht mehr fürbilaterale Missionen, wenn etwa die Bundespolizei inStraßburg mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor-geht oder wenn deutsche Polizisten für menschenrechts-feindliche Regime Ausbildungsbeihilfe leisten.Beispielsweise haben wir im Parlament nur zufälligerfahren, dass die Bundespolizei seit 2008 Ausbildungs-beihilfe für das diktatorische Regime von Saudi-Arabienan den dortigen Grenzen leistet. Das Parlament wurdeaber erst 2011 darüber informiert, und zwar über die Me-dien und nicht über das Ministerium. Das kann einfachnicht sein. Solche Einsätze müssen einer klaren parla-mentarischen Kontrolle unterliegen. Denn sonst wirdmeiner Meinung nach das Regierungshandeln zu einemreinen Papiertiger degradiert.Die Gewerkschaft der Polizei fordert – das ist auchfür die SPD sehr interessant; denn ich denke, Sie fallenmit Ihrem Antrag weit dahinter zurück –:Für alle Polizeimissionen und -einsätze, seien siebilateral oder international, muss der DeutscheBundestag ein Rückholrecht … und … jederzeit dasRecht zur Beendigung … haben.In diesem Zusammenhang finde ich es schon interes-sant, dass die SPD in ihrem Antrag weit dahinter zurück-bleibt und sich nur mit einer besseren Einbindung desParlaments begnügt. Wir dagegen, meine Damen undHerren von der SPD, wollen Entscheidungsbefugnissedes Parlamentes, und das ist ein wesentlicher Unter-schied.
Die Linke lehnt die Zunahme deutscher Polizeiein-sätze bzw. deutscher Ausbildungs- und Ausrüstungshilfeab. Auch darin unterscheiden wir uns von der SPD, dieoffenbar eine Expansion solcher Einsätze anstrebt; daswerden wir im Ausschuss weiter diskutieren.Unsere Skepsis gründet sich auf der Erfahrung, dassPolizeieinsätze häufig nach Kriegseinsätzen zur Siche-rung prowestlicher Regime erfolgen. Deshalb sind Poli-zisten zum Beispiel in Afghanistan. Deshalb sind Poli-zisten zum Beispiel nach dem Irak-Krieg in den Irak
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19305
Ulla Jelpke
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geschickt worden. Sie werden wohl in der nächsten Zeitauch nach Libyen geschickt.Ich will darauf hinweisen, dass gerade die beratendeStiftung Wissenschaft und Politik, also eine halbstaatli-che Denkfabrik, immer wieder einfordert, dass dieÜbungen der Bundespolizei auch zusammen mit auslän-dischen Paramilitärs stattfinden dürfen.Frau Bulmahn, in Bezug auf das von Ihnen angeführteArgument, diese Einsätze dienten gleichsam dem Exportvon Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, möchte ich Siedarauf hinweisen, dass die Bundespolizei beispielsweisebeim Einsatz in Saudi-Arabien – ich kann Ihnen gern dasentsprechende Papier zukommen lassen – die ThemenDemokratie und Frauenrechte explizit aus dem Schu-lungsprogramm herausgenommen hat, um keine Kon-frontation mit dem dortigen Regime herauszufordern.Ich halte es schon für einen Skandal,
wenn dann davon geredet wird, dass diese Einsätze derFörderung von Demokratie und Menschenrechten die-nen.Wer sich unserem Antrag entgegenstellt, hat wahr-scheinlich Angst, dass solche Einsätze, wenn sie publikwerden, auf Widerstand bzw. Ablehnung in der Bevölke-rung stoßen. Wir sind der Meinung: Die Geheimniskrä-merei um Auslandseinsätze der Polizei muss endlich be-endet werden. Deswegen freuen wir uns auf eine Debatteim Ausschuss, vielleicht auch auf eine Anhörung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Spatz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir, die wir im Unterausschuss „Zivile Krisen-prävention und vernetzte Sicherheit“ schon lange überdieses Thema nachdenken, haben die Erkenntnis ge-meinsam, dass sich der Charakter der Konflikte maßgeb-lich geändert hat – Frau Bulmahn hat das schon ange-sprochen – und sich diese Andersartigkeit mit einemnicht verträgt: mit einer ideologischen Herangehens-weise. Deshalb ist die Position der Linken an dieserStelle intellektuell schlicht nicht satisfaktionsfähig. Ge-nauso wenig, wie es zutrifft, dass man Konflikte mit mi-litärischen Mitteln lösen kann, genauso falsch ist es, dassSie die Polizeieinsätze, die wir mit der klaren Zielstel-lung, der Rule of Law zur Geltung zu verhelfen, im Aus-land durchführen, als Konservierung von Regimen inden entsprechenden Zielländern diffamieren. Das istschlicht nicht angemessen. Es entspricht nicht der Wahr-heit.
Ihr letzter Afghanistan-Antrag hat Ihre diesbezüglichePosition wieder einmal deutlich gemacht.Meine Damen und Herren, wir stehen vor der Heraus-forderung, dass wir angesichts der Erfordernisse im Zu-sammenhang mit den neuen Konflikten – Herr Schuster,Sie haben recht damit, dass mehr Herausforderungen aufuns zukommen – entsprechende Ressourcen bereitstellenmüssen. Wir halten es allerdings für nicht sehr sinnvoll,eine stehende Kapazität bei der Bundespolizei einzurich-ten, sondern halten es auch hier für sinnvoll, einen Per-sonalpool zu organisieren, so wie er, Herr KollegeSchuster, mit dem beim Außenamt angesiedelten Zen-trum für Internationale Friedenseinsätze schon längstexistiert. Dort wird nämlich Zivilpersonal verschiedens-ter Ausbildungsrichtungen identifiziert und vorgehalten;im Falle eines Einsatzes ist es zügig abrufbar.Eine solche Konstruktion können wir uns auch im Be-reich der Polizei vorstellen und, wenn Sie den Weg mituns gehen, natürlich auch in anderen Fachbereichen. DieMenschen, die sich dafür identifizieren lassen, sind na-türlich freiwillig dabei. Sie können in einem allgemeinenAnsatz gut vorausgebildet werden und können dann rela-tiv zügig für ein spezielles Einsatzland trainiert werden.Man kann für eine entsendende Dienststelle, zum Bei-spiel bei der Polizei, entsprechende Ersatzregelungenvorsehen.
Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Quali-tät des Personals sichergestellt werden kann, gleichzeitigaber die entsendenden Dienststellen auch die Möglich-keit haben, zu reagieren.Das ist natürlich noch ein langer Weg, bis das im Be-reich der Polizei verwirklicht werden kann. Auch hierstimmt, was Kollegin Bulmahn schon gesagt hat: Esmangelt nicht an Freiwilligen. Aber wenn Sie dann mitden Dienststellenleitern oder deren Vorgesetzten reden,sagen die, dass es immer Missmut erzeugt, wenn dieKollegen hier dann mehr Arbeit leisten müssen undÄhnliches. Wenn Sie das Gleiche dann auch von den In-nenministern der Länder hören, ahnen Sie schon, dasswir mit den Ländern einen schwierigen Verhandlungs-weg vor uns haben,
bei dem natürlich im Endeffekt auch klar sein muss, werbezahlt. Da kann man schon ahnen, dass am Bund ent-sprechend hohe Kosten hängen bleiben werden. Aberauch hier gilt: Wer in der zivilen Krisenprävention, Kri-senbegleitung und auch in der Nachsorge Schwerpunktesetzen will, der wird auch die Mittel dafür bereitstellenmüssen. Das ist völlig klar.Wir erachten es aber trotzdem als gute Lösung, einePoollösung anzustreben, auch wenn das auf schwierigemVerhandlungswege erfolgt. Gegen eine zentrale Bundes-polizeilösung spricht,
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19306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Joachim Spatz
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dass alle Experten sagen, dass die Kräfte, die man vorOrt braucht, die Expertise aus ihrer täglichen Arbeit imPolizeidienst, egal welcher Fachbereich gemeint ist,auch einbringen müssen. Deshalb sind wir für einen ent-sprechenden Polizeipool.Ich finde die Diskussion an dieser Stelle symptoma-tisch für eine neue Zeit in der Sicherheitspolitik.
Herr Kollege Spatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bulmahn?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Spatz, stimmen Sie mir zu, dass unser
Vorschlag, einen virtuellen Stellenpool zu schaffen, der
Polizeikräfte aus den Ländern umfassen soll und der
nicht allein ein Stellenpool bei der Bundespolizei ist,
sondern ein virtueller Stellenpool, über den man genau
das schaffen könnte, was Sie beschrieben haben, näm-
lich dass man die Situation beendet, dass die Länder zu
wenig Polizeikräfte haben und nicht bereit sind, Polizei-
kräfte zur Verfügung zu stellen, obwohl die Polizistinnen
und Polizisten selbst zu einem Einsatz bereit wären, ein
Weg wäre, um Polizisten einsetzen zu können, die wir
dringend für die zivilen Krisenpräventionseinsätze brau-
chen?
Ja, ich stimme Ihnen zu, dass das ein Weg wäre. Nur,
ich finde, es ist eine vielleicht etwas voreilige Festle-
gung, wenn man die Lösung, wie man den Ersatz
schafft, schon jetzt in einem Modell festschreibt. Ich
glaube, in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
wird es eine Lösung geben müssen. Ob es dann eine
Poollösung ist, wie Sie es vorschlagen, oder ob dies über
Geldleistungen gelöst wird, würde ich schlicht und er-
greifend nicht vorgeben wollen. Das Problem ist aber er-
kannt. Ich denke, es wird einen adäquaten Ansatz dafür
geben.
Ich will nur noch auf das eingehen, was Kollege
Schuster angesprochen hat, nämlich dass sich unser An-
satz und die verschiedenen Wirkmittel der Außen- und
Sicherheitspolitik – die reichen vom militärischen über
den polizeilichen bis hin zum zivilen und diplomatischen
Bereich –, dieser ganze Instrumentenkasten, bei dem wir
vielleicht eher die zivilen, polizeilichen und entwick-
lungsbasierten Methoden betonen, ein Stück weit von
dem unterscheiden, was bisher in der NATO dominant
gewesen ist. Ja, wir als Europäer haben da etwas beizu-
tragen – vielleicht auch als Alleinstellungsmerkmal –,
und ja, wir als Bundesrepublik Deutschland sind hier be-
reits jetzt Vorbild. Alles das, was dazu dient, diesen
Ansatz zu stärken und um innerhalb des Bündnisses ent-
sprechende Schwerpunkte zu setzen, die unserer Ge-
schichte angemessen sind, werden wir unterstützen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! AmDienstag haben wir uns noch darüber gestritten, welcherAusschuss hierfür die Federführung erhalten soll: Aus-wärtiger Ausschuss oder Innenausschuss. Da ich nun dieunverhoffte Ehre habe, den erkrankten Kollegen OmidNouripour vertreten zu dürfen, wird es um innenpoliti-sche Aspekte gehen. Die gute Nachricht ist: Ich kannhier nicht wie Professor Schuster eine Harvard-Bewer-bungsrede halten,
sondern nur einige Schlaglichter werfen.Das Problem ist erörtert, Herr Kollege Spatz. Es gibteinen Unterschied zum Militär. Ich will nicht bösartigwerden, aber die Bundeswehr hat in Friedenszeiten imInland nur Abschreckungsfunktion und ist ansonsten inKasernen und auf dem Übungsgelände anzutreffen. DerPolizist bzw. die Polizistin hat im Grunde täglich etwaszu tun. Wir haben im Inland keinen einzigen Polizistenzu viel, gerade in den Ländern nicht. Jeder Polizist, dersich zu einer Auslandsverwendung bereit erklärt, fehltim Inland.
Das ist der Istzustand. Das gilt für die Landespolizeienin noch sehr viel stärkerem Maße als für die Bundespoli-zei. Wir brauchen eine gute Lösung; das haben Sie rich-tig gesagt, Frau Bulmahn. Das darf man nicht vergessenfür den Fall, dass man wieder regieren sollte.
Dann geht es um das Umsetzen.So wie wir es bisher gemacht haben, muss man sagen– das sage ich als Alt-68er gar nicht gerne –: Die Weltmit Ausnahme von Ulla Jelpke ruft nach deutscher Poli-zei,
weil sie – auch das hat Frau Bulmahn richtig gesagt –viel zu bieten hat.
– Ja, Sie auch nicht, Frau Wawzyniak, das haben wirheute Morgen gehört. Nach Ihrer Meinung wird ge-schnüffelt, mit Rechtsextremisten gekungelt und mit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19307
Wolfgang Wieland
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Wasserwerfern nach Frankreich gegangen. Sie nehmeich da aus. Aber der Rest sieht es anders und schätzt dieVerbindung von Professionalität und demokratischer,rechtsstaatlicher Ausbildungskapazität.
Das sollten wir als Kompliment verstehen. Wir soll-ten organisatorische Vorbereitungen treffen. Aber dieAuslandseinheit in Gifhorn zum Beispiel ist gescheitert.Viele Polizistinnen und Polizisten müssen sich nach ei-ner Auslandsverwendung oft die Begrüßung anhören:Schönen Urlaub gehabt? – Das ist immer noch gang undgäbe.
Die Kollegen, die zu Hause geblieben sind, mussten fürdie Betreffenden mitarbeiten und akzeptieren das nicht.Es gibt zwar materielle Verbesserungen, aber die Aner-kennung fehlt noch. Nun gibt es ein großes Problem. Na-türlich könnte man eine Auslandsverwendung bei derBeförderung berücksichtigen. Nur das Gros wird nie be-fördert werden, Frau Bulmahn. Wir sind hier leider nichtim Wissenschaftsbereich.
Die Beförderungsstellen bei der Polizei können Sie mitder Lupe suchen. Derjenige, der zurückkommt, wirdauch die nächsten zehn Jahre seinen Dienstrang behal-ten. Wir können nicht alle hinter den Schreibtisch setzen.Es gibt also eine Menge Dinge, die geklärt werden müs-sen. Ein virtueller Pool ist eine richtige Idee. Man musses aber auf den Weg bringen und finanziell ausstatten.Eine Bemerkung zur Parlamentsbeteiligung. Diesemuss verbessert werden; das ist gar keine Frage. An die-ser Stelle hat Frau Jelpke sogar recht.
Was bei Saudi-Arabien hinter dem Rücken des Parla-mentes geschehen ist, ist unglaublich. Wir wurden ab-sichtlich falsch informiert. Das kann man nicht anderssagen. Staatssekretär Ole Schröder wird sich daran erin-nern, wie die Information des Parlaments erfolgt ist. Nunwird man nicht für jeden Verbindungsbeamten, den wirirgendwohin entsenden, eine Parlamentsbeteiligung wiebei Auslandsmissionen des Militärs bemühen können.Wir müssen in den Ausschussberatungen einen Weg fin-den, der die vorherige Zustimmung des Parlaments beientscheidenden Dingen sicherstellt; das ist notwendig.Wenn wir beides machen, kommen wir einen Schrittweiter.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich komme auf die beiden Anträge zurück, überdie wir heute eigentlich diskutieren wollten. Ich möchtenoch einmal auf das Engagement der deutschen Polizeieingehen. Zurzeit sind 339 deutsche Polizisten von Bundund Ländern im Auslandseinsatz. Es handelt sich dabeium elf verschiedene internationale Friedenseinsätze derEU oder der Vereinten Nationen oder um das bilateralePolizeiprojekt in Afghanistan. Ich möchte eindeutig sa-gen: Damit leistet Deutschland einen aktiven und vonvielen anerkannten Beitrag zum Krisenmanagementweltweit.
Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leistenihr Bestes in gefährlichen Regionen unter schwierigenBedingungen und Einflüssen; das ist eindeutig festzu-stellen. Sie helfen mit ihrer Arbeit, Regionen zu stabili-sieren und demokratische Werte zu vermitteln. Das Zielist eindeutig: Es geht darum, Freiheit und Sicherheit fürdie Menschen vor Ort sicherzustellen und den Menschenin den Regionen ganz konkret zu helfen. Ich möchte andieser Stelle ganz herzlich allen Polizistinnen und Poli-zisten danken, die sich dieser Aufgabe weltweit stellen.
In der Öffentlichkeit steht immer Afghanistan im Mit-telpunkt, vielleicht noch der Südsudan. Deswegen habeich betont, dass unsere Polizisten in elf verschiedenenRegionen im Einsatz sind. Wir sprechen oft gar nichtmehr über Bosnien-Herzegowina oder Georgien, wo un-sere Polizei ebenfalls Arbeit leistet. Alle Einsätze stehenunter dem Mandat der Vereinten Nationen oder der EU.Sie bedürfen natürlich eines starken Durchhaltewillens.Vor Ort ist ein langer Atem notwendig. Es dauert lange,bis man Erfolge erzielt. Ein Beispiel ist der Kosovo, wowir uns seit über zehn Jahren im Rahmen von UNMIK-oder EULEX-Missionen engagieren. Zurzeit helfenmehr als 70 Polizisten, davon 18 Bundespolizisten,durch intensive Beratung der Ministerien, bei der Siche-rung der Grenzen – sie leisten also grenzpolizeiliche Ar-beit – oder bei der Bekämpfung der organisierten Krimi-nalität.Wir helfen Staaten auf dem Weg in die Selbstständig-keit. Frau Jelpke, was die Linken hier verlangen, ist ein-fach skandalös. Wir helfen in den Ländern, damit dieMenschen selbstständig werden und sich auf demokrati-sche Werte besinnen. Das müsste eigentlich anerkanntwerden.
Zu dem Antrag der SPD hat der Kollege Schusterschon einiges gesagt. Ich glaube, für ein nationales Füh-rungs- und Einsatzzentrum, das gefordert wurde, habenwir keinen fachlichen Bedarf. Die Bund-Länder-Arbeits-
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Günter Baumann
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gruppe wird in zunehmendem Maße aktiv, und die Ge-schäftsstelle „Internationale Polizeimissionen“ koordi-niert die Einzelaufgaben. Also haben wir das, was Siefordern, eigentlich schon umgesetzt. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat sich auch mit dem Thema Beurteilungund Beförderung nach Auslandsverwendungen beschäf-tigt. Wir sind also auf einem guten Weg, die Tätigkeitder Kollegen im Ausland angemessen zu berücksichti-gen.Ich möchte auf das Thema Auslandsverwendung nä-her eingehen. Im Bundeskriminalamt wird derzeit einLeitfaden „Aufwertung von Auslandsverwendungen“ er-arbeitet, der auch Themen, die Sie angesprochen haben,enthält. Ich denke, diesbezüglich stimmen wir überein.Wir sind auf einem guten Weg. Auslandsverwendungenohne Statusverlust, das ist entscheidend. Die Kollegin-nen und Kollegen dürfen dadurch, dass sie im Auslandwaren, keine Nachteile haben.Gewiss gibt es an vielen Punkten noch einiges zu ver-bessern. Das machen wir gegenwärtig. Ich will nicht sa-gen, dass schon alles optimal läuft; das hat auch der Kol-lege Schuster angesprochen. Einige Punkte im SPD-Antrag, Frau Bulmahn, kann man durchaus positiv sehenund einbeziehen.Zur Forderung der Linksfraktion, einen Parlaments-vorbehalt einzuführen, haben wir eine eindeutige Posi-tion.
Dies ist nicht erforderlich. Es gibt die Möglichkeit, dasParlament zu informieren,
genauso wie die Möglichkeit, jederzeit Polizisten ausdem Ausland zurückzuholen.Zum Parlamentsvorbehalt gibt es eine Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts von 1994.
– Frau Jelpke, Sie können sich ja melden. Dann antworteich Ihnen.Im Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994 stehtdeutlich, Gegenstand einer Parlamentsbeteiligung seiendie Einsätze bewaffneter Streitkräfte. Somit ist der Ein-satz unserer Polizisten im Ausland als Ausbilder undMentoren beim Staatsaufbau nicht Gegenstand einerParlamentsbeteiligung. Ich denke, wir sind hier auf demrichtigen Weg. Wir halten die Vorgaben des Verfassungs-gerichtsurteils ein und brauchen hier nicht nachzubes-sern.Die Bundespolizei kann zur Mitwirkung an polizeili-chen und anderen nicht militärischen Aufgaben im Rah-men von internationalen Maßnahmen auf Ersuchen undunter Verantwortung der Vereinten Nationen, der EUund der Westeuropäischen Union im Ausland verwendetwerden; da gibt es keine Beeinträchtigungen. Demnachmüssen wir den Antrag der Linken kategorisch ableh-nen, den der SPD leider auch; aber einige Punkte darinsind durchaus überdenkenswert.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8603 und 17/8381 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/8603 soll federführend
beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Tourismus als Chance für die Einhaltung
der Menschenrechte nutzen
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Menschenrechte in der Tourismuswirt-
schaft achten, schützen und gewährleisten
– Drucksachen 17/8347, 17/6458, 17/8736 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Christoph Strässer
Serkan Tören
Annette Groth
Tom Koenigs
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Kornelia Möller, Katrin Werner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte in der Tourismuspolitik kon-
sequent durchsetzen
– Drucksache 17/8762 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Serkan Tören für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auf der weltgrößten Reisemesse, der Internatio-nalen Tourismus-Börse in Berlin, präsentieren sich ab
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Serkan Tören
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dem 7. März 2012 über 10 000 Aussteller aus etwa180 Ländern. Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wiruns sehr, kurz vor Beginn der ITB einen so überzeugen-den und gelungenen Antrag zur Schlussberatung vorle-gen zu können. Grundsätzlich haben sowohl unser An-trag als auch der der SPD das gleiche Ziel, nämlich dasThema Unternehmensverantwortung stärker auf die Tou-rismuswirtschaft zu übertragen. Wir als FDP setzen al-lerdings mehr auf die Freiwilligkeit und Sensibilisierungsowie die Stärkung positiver Ansätze. Außerdem möch-ten wir vor allem mehr Aktivitäten hinsichtlich der Un-ternehmensverantwortung auf internationaler Ebene,unter anderem durch die WelttourismusorganisationUNWTO.Ziel des Koalitionsantrages ist es: Die Tourismus-branche soll sich stärker mit ihrer sozialen und men-schenrechtlichen Verantwortung auseinandersetzen.Dazu bieten die sogenannten Corporate-Social-Respon-sibility-Aktivitäten einen guten Ansatzpunkt. Auch dieÜbernahme der UN- sowie der OECD-Leitlinien durchdie Tourismuswirtschaft sind aus unserer Sicht der rich-tige Weg. Insgesamt sehen wir als FDP-Bundestagsfrak-tion grundlegende Fragen der Unternehmensverantwor-tung als ausschlaggebend für die Tourismusbranche an.Der Antrag der SPD enthält ebenfalls eine Fülle vonzielführenden Forderungen, so etwa die Forderungen andie Regierungen der Zielländer oder auch die Förderungvon nachhaltigem Tourismus durch entwicklungspoliti-sche Maßnahmen, die wir auch in unseren Antrag aufge-nommen haben. Einen Teil der SPD-Forderungen sehenwir allerdings als problematisch an und lehnen den An-trag der SPD daher ab. Die Sorgfaltspflicht von Unter-nehmen in Deutschland gesetzlich zu verankern, wie un-ter Punkt II. 8 im SPD-Antrag gefordert wird, entsprichtnicht unserem Ansatz. Wir wollen vielmehr: Verstößegegen Menschenrechte sollen in den Reiseländern ge-ahndet werden. Die Kontrolle eines solchen Gesetzeskönnte sowieso nur von den Regierungen der Reiselän-der geleistet werden.Auch die Forderung unter II. 9 des SPD-Antrages zurUnternehmensstrafbarkeit ist wenig sinnvoll. Verstößesollen vor Ort geahndet werden. Wir wollen aber nichtdie Rechtsgrundsätze umkehren.Die Forderung unter II. 10 ist ebenfalls problema-tisch. Es kann nicht unser Ziel sein, dass Opfer vonMenschenrechtsverletzungen im Ausland ein Verfahrenin Deutschland herbeiführen. Es gilt vielmehr, Entwick-lungsländer im Sinne guter Regierungsführung und derStärkung der Justiz zu unterstützen. Opfer sollen dort zuihrem Recht kommen.Die Forderung unter Punkt II. 15, Armutsbekämpfungin Tourismuszielländern zu unterstützen, macht eben-falls keinen Sinn. Armutsbekämpfung sollte dort geleis-tet werden, wo die Not am größten ist.
Länder mit einer entwickelten Tourismuswirtschaft ge-hören eher selten dazu. Zudem trägt der Tourismusselbst zur Reduzierung der Armut bei. Hier plädieren wirfür mehr Wertschöpfung im Land durch entsprechendeMaßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit.Als FDP sehen wir es nicht als unsere Aufgabe an– dies fordern Sie unter Punkt II. 18 Ihres Antrages –,Gewerkschaften für Beschäftigte im Tourismusbereichim Ausland zu fördern, also letztlich auch finanziell zuunterstützen. Bei der Tourismusentwicklung sollte viel-mehr die Einbeziehung von NGOs und Akteuren der Zi-vilgesellschaft durch deutsche Unternehmen angeregtwerden.Insgesamt überträgt der SPD-Antrag die Verantwor-tung zu sehr auf die Unternehmen und entlastet damit dieRegierungen der Zielländer. Deren Hauptaufgabe ist dieSicherung der Menschenrechte im eigenen Land. DieMöglichkeiten, vor deutschen Gerichten zu klagen, undweitere Alleingänge auf nationaler Ebene würden deut-sche Unternehmen im Wettbewerb benachteiligen. Zu-sätzlich würden die Bürokratiekosten für die Wirtschaftdeutlich erhöht.Es ist wirklich sehr schade: Während der sieben Jahreunter Rot-Grün kamen selten solche Initiativen von Ih-nen. Sie hatten damals die parlamentarische Mehrheitund hätten all diese Forderungen durchsetzen können.Erst unsere christlich-liberale Koalition hat es geschafft,einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung zumachen.
Es ist aus Sicht der FDP nun einmal Fakt: Während dersieben Jahre unter Rot-Grün haben sich der damaligeAußenminister Joschka Fischer und die damalige Ent-wicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeulpermanent gegenseitig in der Außen-, Entwicklungs-und Menschenrechtspolitik blockiert.
Dieses Trauerspiel wurde in der Großen Koalition zwi-schen dem damaligen Außenminister Steinmeier undEntwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul fortge-setzt. Erst unter dieser schwarz-gelben Koalition ist esgelungen, eine beeindruckende Kohärenz zwischenBMZ und Auswärtigem Amt herzustellen und Synergie-effekte zu erzielen.
Hier gilt mein besonderer Dank Entwicklungshilfeminis-ter Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle.Beide ziehen an einem Strang und haben die lähmendeBlockade der Vergangenheit sowie die Kompetenzstrei-tigkeiten zwischen den Ressorts überwunden.
Gerade in dem heute abschließend zu beratendenKoalitionsantrag haben wir erneut gezeigt: Wir alschristlich-liberale Koalition wollen einen menschen-rechtlich verantwortungsvollen und nachhaltigen Touris-mus weltweit stärken. Ich danke ausdrücklich unsererBundesregierung, welche auf internationaler und bilate-
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Serkan Tören
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raler Ebene die Einhaltung von Menschenrechten insbe-sondere im Tourismussektor einfordert. Gerade dasBMZ koppelt die Einhaltung menschenrechtlicher Stan-dards eng an Entwicklungshilfe. Dementsprechend wer-den bei Verletzungen von Menschenrechten Mittel ge-kürzt.Ebenfalls hervorheben möchte ich in diesem Zusam-menhang die vom Studienkreis für Tourismus und Ent-wicklung herausgegebenen Sympathie Magazine; dieswird durch das BMZ gefördert. Auf informative Weisewird in diesen Magazinen über den Alltag in den Reise-ländern, über die politische Lage dort, aber auch überMenschenrechtsverletzungen sowie über die problemati-schen Folgen für den Tourismus berichtet. Vor kurzemist das Sympathie Magazin zum Reiseland Sri Lanka er-schienen. Ich denke, dies ist ein sehr guter Weg, um Ver-braucher für ihr Reiseziel zu sensibilisieren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Tören, ichbin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die fundamentalen Un-terschiede zwischen unseren Anträgen auf den Punkt ge-bracht haben. Diese ergeben sich aus meiner Sicht schonaus den Überschriften der beiden Anträge. Bei Ihnen istTourismus eine Chance für die Einhaltung der Men-schenrechte. Wir wollen Menschenrechte gewährleisten.Ich denke, das zeigt, dass unsere Politikansätze komplettunterschiedlich sind.
Ich möchte nur ganz kurz Vergangenheitsbewältigungbetreiben und dann lieber auf die Gegenwart eingehen.Dass sich im Moment das Auswärtige Amt und dasBMZ nicht wirklich über die Ausrichtung der Politikfel-der streiten, hat damit zu tun, dass beide im wesentlichendas Ziel verfolgen, die Außenwirtschaftsförderung zustärken. Dass ausgerechnet das seit einigen Jahren imBMZ Vorrang vor allem anderen hat, ist der eigentlicheSkandal dieser Bundesregierung in den letzten Jahren.
Aus meiner Sicht ist wichtig – darüber sollten wir inder Sache streiten und keinen Popanz aufbauen –: Wieschaffen wir es, den Menschen in den Zielländern desTourismus – es geht nicht um die Unternehmen inDeutschland, die zu Recht profitieren – zum Beispieleine angemessene Arbeit und eine angemessene Entloh-nung zu geben? Wie können wir verhindern, dass in denZielländern, um die es geht, ein Golfplatz gebaut wird,der jeden Tag mit Wasser berieselt wird, während dasWasser für die Menschen in den betreffenden Regionenrationiert wird? Ich habe von Ihrer Regierung noch keinWort dazu gehört. Sie haben bisher nicht gesagt: Wir un-terstützen solche Projekte, die einen solchen Tourismusfördern, nicht mehr.Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Es gibt auchpositive Entwicklungen in der Tourismuspolitik. Aberdiese Entwicklungen haben nicht Sie zu verantworten,sondern – ihr danke ich dafür ganz ausdrücklich – eineNichtregierungsorganisation wie Tourism Watch. Sie ha-ben zu Recht die ITB angesprochen. Ich frage Sie: Werist auf die Idee gekommen, auf der ITB das Thema„Menschenrechte und Tourismus“ zu problematisieren?Nicht Sie, auch nicht wir, sondern diese Nichtregie-rungsorganisation, die vor Ort ihre Arbeit macht undProjekte durchführt. Frau Kollegin Schuster und FrauKollegin Granold waren dabei, als wir uns das in Kam-bodscha angesehen haben. Nichtregierungsorganisatio-nen machen genau die Arbeit, für die wir gesetzliche Re-gelungen und Rahmenbedingungen schaffen müssen,damit die Menschenrechte für die Betroffenen nicht nureine Chance darstellen, sondern auch durchgesetzt wer-den.Ich möchte zwei weitere Punkte ansprechen, weil ichglaube, dass Sie hier einen fundamentalen Denkfehlermachen. Ich gehe noch einmal auf die Situation in Kam-bodscha ein. Wer in Kambodscha Tourismusprojekte insLeben ruft, dafür Menschen, die nach kambodschani-schem Recht Landtitel haben, enteignet und ihnen dannden Vorschlag macht: „Geht doch bitte zu einem kambo-dschanischen Gericht und klagt eure Rechte ein“, lieberKollege Tören, der ist mehr als zynisch.
Das ist eine weitere Menschenrechtsverletzung. Das istnämlich Verweigerung des Rechtsschutzes; das kannman aufgrund der Erfahrung aus vielen Delegationsrei-sen, die wir gemeinsam gemacht haben, sagen. Das gehtaus meiner Sicht überhaupt nicht.Wir haben im letzten Jahr sehr intensiv über die Ent-wicklungen im Bereich der Entwicklungszusammenar-beit und über die menschenrechtliche Verantwortungvon Unternehmen diskutiert. Es gibt Fortschritte im Be-reich der OECD. In den OECD-Leitlinien wird zum ers-ten Mal ein menschenrechtlicher Ansatz verfolgt. Au-ßerdem gibt es den Bericht von John Ruggie, der im Juniletzten Jahres im Menschenrechtsrat der Vereinten Na-tionen verabschiedet worden ist. Er formuliert darin mit-nichten unverbindliche Richtlinien – nach dem Motto,man möge sich bitte überall auf der Welt daran halten,keine Menschenrechtsverletzungen zu begehen, nicht inder Wirtschaft und nicht im Tourismus –, sondern erstellt Forderungen auf.Diese Forderungen betreffen unterschiedliche Berei-che. Er fordert die Politik auf, die Menschenrechte zuschützen, im Zweifel auch durch Normen, die die Unter-nehmen binden. Außerdem sagt er ganz deutlich: Wirbrauchen, auch mit Blick auf die Unternehmen, Respektvor den Menschenrechten. – Den Respekt vor den Men-schenrechten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte
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Christoph Strässer
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man aus meiner Sicht nicht nur formulieren, sonderndem muss man auch einen eindeutigen gesetzlichen Rah-men geben, damit Sanktionen verhängt werden können;dazu stehe ich. Ich will, dass Unternehmen, die die Men-schenrechte missachten und in den jeweiligen Her-kunftsländern massive Menschenrechtsverletzungen be-gehen, zur Rechenschaft gezogen werden.
Wenn diese Unternehmen ihren Hauptsitz in Deutsch-land haben, dann muss das in Deutschland geschehen.Ich sage noch einmal: Ich verweise keinen Menschenan ein Zielland des Tourismus mit nicht vorhandenerRechtsstaatlichkeit und nicht vorhandenem Justizwesen.Hier brauchen wir klare Regeln. Ich glaube, die Unter-nehmen wären gut beraten, sich daran zu halten. Ein Sie-gel oder Zertifikat, das man – entgegen Ihrer Meinung –ohne großen bürokratischen Aufwand einführen könnte,kann für deutsche bzw. europäische Touristikunterneh-men ein Wettbewerbsvorteil sein. Darauf sollten wir ge-meinsam hinarbeiten. Das würde den Unternehmen, denMenschen und insbesondere den Menschenrechten nut-zen und wäre für die Betroffenen nicht nur eine Chance.Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Professor Dr. Egon Jüttner für
die Unionsfraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Tourismus kann verbinden, den interkulturellenDialog fördern und die Wirtschaft weniger entwickelterStaaten ankurbeln. Tourismus hat aber auch Auswirkun-gen auf die Zielgebiete, die Menschen und die Gesell-schaften vor Ort. Diese Auswirkungen betreffen nichtnur die Ökologie, sondern sind auch menschenrechtsre-levant. Ein Aspekt sind die Arbeitsbedingungen der Be-schäftigten vor Ort, sowohl in den Hotels als auch in denUnternehmen im Umfeld. Ein weiterer Punkt sind dieFolgen des Tourismus für die einheimischen Bewohner.Diese Folgen können von einer schlichten Überforde-rung durch den Massentourismus über das Fehlen vonTrinkwasser aufgrund des hohen touristischen Ver-brauchs bis hin zu gesellschaftlichen Folgen reichen. DieMenschenrechte sind auch bei der Realisierung touristi-scher Projekte von Belang. Themen sind hier Zwangs-umsiedlungen und auch die Frage, ob durch touristischeVorhaben in Staaten mit einem Mangel an Good Gover-nance korrupte Eliten mitfinanziert werden.Grundsätzlich ist die Einhaltung der Menschenrechteeine staatliche Aufgabe. Die Regierungen der Zielländervon Tourismus müssen dafür sorgen, dass die Menschen-rechte eingehalten werden und dass der Tourismus keinenegativen Auswirkungen auf die Menschenrechte hat.Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, dass wirRegierungen immer wieder auf die Einhaltung der Men-schenrechte hinweisen und dass wir auch mit unsererEntwicklungspolitik zu Good Governance und zur Ein-haltung der Menschenrechte beitragen.
Das Menschenrechtskonzept des Bundesministeriumsfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungstellt dafür eine neue Qualität dar, auch weil es für alleDurchführungsorganisationen der Entwicklungszusam-menarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring und Eva-luierung werden jetzt Menschenrechte einbezogen.Ziel unseres Antrags ist unter anderem, die Verant-wortung der Unternehmen der Tourismusbranche her-vorzuheben und sie für die bekannten internationalenStandards wie die UN-Leitlinien oder die Leitlinien derOECD zu sensibilisieren. Uns geht es auch darum, dieWelttourismusorganisation UNWTO verstärkt in bran-chenspezifische internationale Regelungen einzubezie-hen. Aber auch die stärkere Aufklärung der Reisendenliegt uns am Herzen. Es gibt in diesem Bereich gute An-sätze, etwa die Aktivitäten der Branche bei der Bekämp-fung von Kinderprostitution.Positiv ist auch die Arbeit des Studienkreises für Tou-rismus, der sich für ein nachhaltigeres Reisen und fürmehr Beschäftigung mit Land und Leuten sowie mit denKulturen der Reiseländer einsetzt und die hervorragen-den Sympathie Magazine entwickelt, die mit ihren Infor-mationen zur Sensibilisierung der Reisenden und zumVerständnis fremder Gesellschaften beitragen. Deshalbwollen wir, dass die Förderung des Entwicklungsminis-teriums für die Magazine fortgeführt wird. Wir würdenuns freuen, wenn die Veranstalter diese Magazine innoch größerem Umfang an die Reisenden verteilen wür-den.
Meine Damen und Herren, bei allen Eigenheiten desTourismus lässt sich das Ziel unseres Antrags unter demAspekt der Stärkung der Unternehmensverantwortungsubsumieren. Hier ist im vergangenen Jahr viel gesche-hen. So wurden die Leitlinien der Vereinten Nationen fürmenschenrechtlich verantwortliches unternehmerischesHandeln als Global Compact durch den UN-Sonderbe-auftragten John Ruggie weiterentwickelt. Sie beinhaltenzehn Gebote zu Menschenrechten, Arbeit, Umwelt undKorruptionsbekämpfung. Inzwischen verpflichten sichrund 5 300 Unternehmen aus 130 Ländern zur Umset-zung dieser Prinzipien.Fast gleichzeitig wurden auch die OECD-Leitsätzefür multinationale Unternehmen überarbeitet und EndeMai vergangenen Jahres vorgestellt. Hier hat es deutli-che Verbesserungen gegeben, weil jetzt auch der Finanz-sektor einbezogen wurde. Außerdem ist der Aspekt derMenschenrechte hier mit einem eigenen Artikel aufge-wertet worden. Darin werden wichtige Kriterien ge-nannt, mit denen Unternehmen ihrer menschenrechtli-chen Verantwortung nachkommen können.
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Dr. Egon Jüttner
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Ferner sind die Vorschläge der EU-Kommission zuTransparenzpflichten von Rohstoffunternehmen sowiedie Neudefinition von Corporate Social Responsibilityzu erwähnen. Hier erwarten wir in den nächsten Jahrenstrengere Vorgaben für die Unternehmen – von der Frei-willigkeit hin zur Pflicht.
Diese neuen Entwicklungen werden nicht an der Tou-rismuswirtschaft vorbeigehen. Deshalb ist es wichtig,dass sich die Branche bereits jetzt ihrer menschenrechtli-chen Verantwortung stärker bewusst und in dieser Hin-sicht aktiver wird. Das kann sowohl durch die Selbstver-pflichtung zur Einhaltung internationaler Standards alsauch durch konkrete Corporate-Social-Responsibility-Maßnahmen geschehen.
Meine Damen und Herren, wir wollen, dass Verstößegegen die Menschenrechte in den Reiseländern, vor al-lem in den Entwicklungsländern, vor Ort geahndet wer-den. Dafür ist eine international verbindliche Lösung an-zustreben. Dies betrifft vor allem den Rechtsschutz derOpfer. Es gilt dabei, die Entwicklungsländer im Sinnevon guter Regierungsführung und Stärkung der Justiz zuunterstützen, damit Opfer dort zu ihrem Recht kommen.
Wir wollen, dass die Unternehmen der Tourismus-branche künftig für die menschenrechtlichen Auswir-kungen ihrer Aktivitäten in den touristischen Zielländernverstärkt in die Verantwortung genommen werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Annette Groth für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Tourismusindustrie ist einer der weltweit größtenWirtschaftszweige. Während es 1950 nur 25 MillionenTouristinnen und Touristen gab, lag die Zahl 2010 beimehr als 935 Millionen. Ganze Regionen wie die Küstenin Spanien, Portugal und der Türkei sind durch Betten-burgen verschandelt. Wasser wird knapp und auf einigenKanareninseln bereits vom Festland angeliefert.Etwa 240 Millionen Menschen sind im Tourismus be-schäftigt. Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer werden schlecht bezahlt und müssen lange, teil-weise unter entsetzlichen Bedingungen, arbeiten. AuchKinderarbeit ist häufig anzutreffen. Weltweit sind zwi-schen 13 Millionen und 19 Millionen Kinder und Ju-gendliche unter 18 Jahren in der Tourismusindustrie be-schäftigt.Ich selbst habe in den 90er-Jahren für eine internatio-nale kirchliche Organisation auf der Karibikinsel Barba-dos gearbeitet und die Auswirkungen des Golf- undKreuzfahrttourismus erlebt: Durch Golfplätze wird dasMenschenrecht auf Nahrung und Wasser in vielen Re-gionen verletzt, weil sie oft auf fruchtbarem Ackerlandgebaut werden, große Mengen an Wasser verbrauchenund somit der lokalen Bevölkerung Anbaufläche fürNahrungsmittel und Wasser entziehen. Der täglicheWasserbedarf eines einzigen Golfplatzes beträgt bis zu2 000 Kubikmeter Wasser. Das ist der Tagesverbraucheines deutschen Ortes mit 8 000 Einwohnern. Damit derRasen schön grün bleibt, werden ebenfalls große Men-gen an Pestiziden verbraucht, die Land und Grundwasserverseuchen.
Ein tunesischer Manager, der ein Hotel auf der Fe-rieninsel Djerba betreibt, kommentierte kürzlich, dassviele Angebote im Internet sich für niemanden mehr ren-tieren. Eine Woche Urlaub auf Djerba all-inclusive für199 Euro inklusive Flug kann nicht kostendeckend sein.Das ist pure Ausbeutung von Mensch und Natur und si-cherlich keine Hilfe für den arabischen Frühling in Tu-nesien.
Die All-inclusive-Anlagen sind für kleine Restaurantsund lokale Tourismusunternehmen eine Katastrophe.Dramatisch ist auch die Situation in Marokko. Pro Tagund pro Kopf werden dort 685 Liter Wasser verbraucht.Riesenpools in den Hotelanlagen, der Wäsche- undHandtücherverbrauch und das exzessive Duschen derTouristen sind dafür verantwortlich, nicht zu vergessenauch die berühmten Golfplätze. In Deutschland dagegenbeträgt der Verbrauch pro Tag und pro Kopf nur 128 Li-ter Wasser.Beispiele für die Verletzung der Menschenrechtedurch den Tourismus sind die Vertreibung von Men-schen für den Bau von Hotels, die Schaffung von Natio-nalparks und sportliche Großveranstaltungen. Die Kom-merzialisierung von Mensch und Natur für die Interessender Tourismusindustrie ist oft mit den Menschenrechtennicht vereinbar.
In Tansania wurden in den letzten Jahren über130 Jagdkonzessionen für ein Gebiet von mehr als250 000 Quadratkilometer vergeben. Dies ist ein höchstprofitables Geschäft, weil ein Großwildjäger für einezehntägige Büffeljagd 25 000 US-Dollar und für einedreiwöchige Elefanten- oder Löwenjagd immerhin49 000 US-Dollar zahlen muss. Dieses große Gebietwurde aber traditionell von den Massai genutzt, die fürden Jagdtourismus vertrieben wurden. Ihre Lebens-grundlage ist damit zerstört.Es wurde schon darauf hingewiesen: Wir müssen diegroßen Tourismuskonzerne auf die Einhaltung der Men-schenrechte verpflichten, um zu einem menschenwürdi-gen Tourismus zu gelangen, von dem die Touristen und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19313
Annette Groth
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die lokale Bevölkerung profitieren können. Deswegenbrauchen wir klare und verbindliche Regeln für die Un-ternehmen in der Tourismusbranche.Danke schön.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Markus Tressel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Tourismusausschuss hat sich bereits im Zuge des
arabischen Frühlings mit dem Spannungsfeld von Tou-
rismus und Menschenrechten beschäftigt, und es ist gut,
dass dieses Thema auf unserer Agenda oben bleibt und
dass wir heute darüber diskutieren.
Die Debatte war viele Jahre in der öffentlichen Wahr-
nehmung auf das Thema des Sextourismus verengt. Das
ist ein wichtiges Thema, aber dennoch nur eine Dimen-
sion des Problems. Wir als Tourismuspolitiker wissen
alle, dass Tourismuspolitik ein Querschnittsthema ist,
und deshalb ist klar, dass es auch andere Probleme gibt.
Land Grabbing – die großflächige Aneignung von
Land zur touristischen Nutzung – ist eines davon; Kol-
lege Strässer hat das schon angesprochen. Es hat gravie-
rende Auswirkungen auf die heimische Bevölkerung,
aber auch auf die Ökosysteme; denn ein verantwortungs-
voller Umgang mit den ursprünglichen Bewohnern und
Nutzern sowie den Ressourcen steht nicht immer im
Vordergrund.
Das Spannungsfeld von Tourismus und Menschen-
rechten betrifft aber insbesondere die Arbeitsbedingun-
gen. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, fehlende so-
ziale Absicherung und mangelnde Perspektiven sind
kein Aushängeschild für die Tourismusindustrie, und das
wollen auch die Kunden nicht. Die Unternehmen wären
gut beraten, das zu beherzigen.
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Verschwen-
dung von Ressourcen – auch das haben die Kollegen
Strässer und Groth bereits angesprochen –, insbesondere
was das Wasser angeht. Wasserknappheit und der Zu-
gang zu Wasser sind ein großes Problem. Nicht nur eige-
ner Wasserverbrauch, sondern auch die zunehmende
Vertrocknung von Böden sowie die Wüstenbildung be-
deuten Eingriffe in die Menschenrechte anderer. Auch
dazu trägt der Tourismus leider bei. Weltweit ist der Tou-
rismus außerdem für 12,5 Prozent des Klimagasaussto-
ßes verantwortlich.
Das bedeutet für uns: Über die Themen Menschen-
rechte, Ressourcenverbrauch, Klimawandel und Touris-
mus muss gemeinsam debattiert werden. Das ist ein
weiterer Beweis dafür, dass der Tourismus ein einfluss-
reiches Querschnittsthema ist.
Was können wir also tun? Menschenrechte und Nach-
haltigkeit gehören zusammen. Wir müssen Ökologie,
Ökonomie und Soziales in Einklang bringen. Es kann
aber nicht darum gehen, Reisen in bestimmte Regionen
zu verbieten. Ebenso wenig wird es gelingen, Reisen im-
mer unter einen menschenrechtlichen Vorbehalt zu stel-
len. Aber wir müssen sensibilisieren, und zwar nicht nur
die Reisenden. Auch die Industrie und die Politik haben
Hausaufgaben zu erledigen.
Informationen bei Reiseveranstaltern und dem Aus-
wärtigen Amt zur Einhaltung der Menschenrechte im
Zielland müssen leichter zugänglich sein. Da fehlt mir
beim Auswärtigen Amt, aber auch bei den Veranstaltern
immer noch die Konsequenz. Außerdem brauchen wir
Regelungen und Sanktionen, die den Menschenrechten
einen höheren Stellenwert einräumen.
Die Tourismusverbände müssen selber Anreize und
Sanktionen schaffen, damit ihre Mitglieder menschen-
rechtliche Standards erfüllen und weiterentwickeln.
Aber auch Investoren müssen sicherstellen, dass beim
Bau von Hotelanlagen oder anderen touristischen Ein-
richtungen keine Zwangsvertreibungen oder Umsiedlun-
gen stattfinden. Fördermaßnahmen müssen umfassend
und unabhängig hinsichtlich Umwelt-, Menschenrechts-
und Sozialverträglichkeit geprüft werden.
Kurz zu den Anträgen: Der Koalitionsantrag ist wirk-
lich schön geschrieben. Die Prosa liest sich gut, blendet
Kritisches aber aus. Außerdem passen Ziel und Forde-
rungen, wie so häufig bei Ihren Anträgen, leider nicht
zusammen. Deswegen werden wir uns bei diesem An-
trag enthalten, ebenso wie bei dem Antrag der Linken,
der viele gute Forderungen enthält, aber im Feststel-
lungsteil Mängel aufweist. Dem Antrag der SPD werden
wir zustimmen.
Vielen Dank.
Die Kollegin Marlene Mortler hat nun für die Unions-
fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der 14. Januar 2011 markierte für uns alle einwichtiges Datum in der Geschichte. Der damaligeStaatspräsident von Tunesien, Ben Ali, dankte nach23 Jahren ab und verließ fluchtartig sein Land. ZehnTage später standen die Menschen in Ägypten auf. Wir
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19314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Marlene Mortler
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alle haben noch die Bilder der Protestwellen im Maghrebvor Augen.Diese Entwicklung war für uns der Auslöser dafür,uns mit dem Thema Menschenrechte und Tourismus vielintensiver zu beschäftigen und dieses Thema ganz obenauf die Agenda zu setzen. Ich danke an dieser Stelleganz herzlich unserem momentanen Schriftführer KlausBrähmig,
der zu dieser Zeit unbequeme Fragen gestellt hat: Kön-nen wir überhaupt noch in diese Länder reisen? Sollenwir diese Regime überhaupt unterstützen? Er ist dafürkritisiert worden. Aber ich glaube, dass er unter demStrich dazu beigetragen hat, dass wir heute über unserenAntrag „Tourismus als Chance für die Einhaltung derMenschenrechte nutzen“ reden.Unser Antrag ist auch das Ergebnis von vielfältigenAnhörungen und Gesprächen mit Experten auf den ver-schiedensten Ebenen. Wir sind überzeugt: Hier geht esnicht nur um eine positive wirtschaftliche Entwicklungin den jeweiligen Ländern, hier geht es nicht nur ummehr Völkerverständigung, sondern gerade der Touris-mus kann dazu beitragen, Menschenrechte zu stärken.
Ich mache an dieser Stelle klar und deutlich: Wir hel-fen diesen Ländern nicht, wenn wir ihnen als Urlauberden Rücken kehren. Vielmehr können persönliche Kon-takte dazu beitragen, relativ geschlossene Gesellschaftenaufzubrechen. Wo der Zugang zu Informationen be-grenzt ist, können vor allem die Beschäftigten in derTourismusbranche wichtige Multiplikatoren sein. Wennsie ihre persönlichen positiven Erfahrungen weitergeben,helfen sie, falsche Vorstellungen zu entkräften. Natürlichsind wir nicht so blauäugig, zu glauben, der Tourismussei ein Allheilmittel, das, kräftig genug dosiert, allein dieWelt verbessern kann. Deshalb haben wir uns gesagt:Wir legen einen Antrag vor, der sich an der Realitätorientiert und nicht an Wünschen, die aus meiner Sichtnicht erfüllbar sind.Ägyptens Wirtschaftsminister wurde vor kurzem imHandelsblatt mit den Worten zitiert: Keine Regierungkann in Ägypten ohne die Haupteinnahmen aus demTourismus regieren. – Fakt ist: In vielen Schwellen- undEntwicklungsländern ist der Tourismus ein wichtigerWirtschaftsfaktor. Er schafft und erhält nicht nur Ar-beitsplätze, sondern er gibt auch Menschen mit geringerSchulbildung eine Chance, ihren Lebensstandard zu er-höhen.
Durch den Tourismus selber gibt es auch Verbesse-rungen in der Infrastruktur, von denen nicht nur der Tou-rist, sondern auch der Einheimische profitiert. Vielen istauch nicht bewusst, dass erst durch Einnahmen aus demTourismus der Erhalt von Nationalparks und Natur-schutzgebieten finanzierbar wird.Touristen wollen keinen Einheitsbrei. Sie wollen Au-thentizität, das heißt, sie wollen mit bestimmten Ländernbestimmte Traditionen und Kulturen verbinden. Ich erin-nere an ein ganz tolles Beispiel. Wer weiß schon, dassTunis ganz in der Nähe des früheren Karthago erbaut ist.Das ist eine wunderbare Attraktion.Leider gibt es auch genügend negative Beispiele. Kol-legen haben die Themen Menschenrechte und Umweltschon angesprochen. Ich nenne noch Umsiedlungen fürBauprojekte, die Missachtung der Rechte indigener Völ-ker, den Raubbau zulasten der Natur und Umwelt in Ho-telanlagen, etwa durch einen häufig viel zu hohen Was-serverbrauch, Sextourismus und Kinderprostitution. Einasiatisches Sprichwort bringt das auf den Punkt. Es lau-tet: „Tourismus ist wie Feuer. Man kann damit seineSuppe kochen, aber auch sein Haus abbrennen.“ Dasheißt, die zentrale Verantwortung für die Einhaltung vonMenschenrechten liegt zuallererst bei den Regierungender Zielländer. Ich möchte an dieser Stelle ganz aus-drücklich die Bundesregierung loben, die vor allem beider Vergabe von Mitteln in Entwicklungsländer Konse-quenzen zieht und sagt: Stopp, so geht das nicht. – Des-halb dürfen wir nicht nachlassen, unbequeme Fragen zustellen und immer wieder auf die Einhaltung der Men-schenrechte zu pochen.Wir haben in der gestrigen Anhörung zum ThemaTourismus und Entwicklungsländer gehört, dass sich dieTourismusbranche sehr wohl ihrer Verantwortung be-wusst ist und weiß, dass das eine Daueraufgabe ist undbleiben wird.Letztendlich sind wir Reisende, jeder Einzelne vonuns, selber gefragt, Verantwortung zu übernehmen, sichbewusst zu machen, dass nicht nur in den Zielländern eingewisser – so möchte ich es einmal bezeichnen – „kultu-reller Analphabetismus“ herrscht, sondern dieser auchbei uns vorhanden ist.
Kollegin Mortler, achten Sie bitte auf die Zeit.
Deswegen verweise ich immer wieder darauf, wie
wichtig es ist, dass wir auf Religion, auf Kultur, auf Sit-
ten und auf Gebräuche Rücksicht nehmen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Stich-
punktartig möchte ich noch einmal erwähnen: –
Das geht jetzt wirklich nicht mehr. Das Minuszeichen
zeigt an, wie weit Sie schon über Ihre Zeit sind.
– die Länderinformationen des Auswärtigen Amtes,die SympathieMagazine. Ich appelliere am Schluss nocheinmal an alle: Wir wollen und wir können heute dasRad nicht noch einmal neu erfinden. Die UNWTO hatbereits 1999 einen globalen Ethikkodex verabschiedet.Wenn wir uns alle, die Branche, die Regierungen und die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19315
Marlene Mortler
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Reisenden selber, an diesen Kodex halten, dann ist schonviel erreicht.Ich danke Ihnen.
Kollegin Mortler, wir mögen uns trotzdem an die Ver-
abredungen halten. Wir haben das gerade heute Mittag
im Ältestenrat noch einmal bekräftigt. Nach einer zwei-
ten Aufforderung könnte man dann doch einmal einen
Punkt setzen.
– Das müssen Sie jeweils beurteilen. Ich bin hier vorne
dafür zuständig, dass es gerecht zugeht.
Jetzt hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin, vielleicht darf ich auch ein bisschen
überziehen. Dann ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt.
Nein, so fangen wir heute Abend gar nicht mehr an.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich, dass wir heute hier das so wichtige Thema
„Tourismus und Menschenrechte“ debattieren. Wir soll-
ten das viel öfter tun. Fast alle Fraktionen haben dazu
Anträge vorgelegt. Auch das finde ich gut. Das wäre
eine gute Grundlage, um parlamentarische Schlagkraft
zu entfalten. Schade nur, dass der Antrag der Koalitions-
fraktionen nichts weiter als ein zahnloser Tiger ist.
Schade, denn Schlagkraft, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, brauchen wir, wenn wir uns weltweit wirksam für
Menschenrechte einsetzen wollen. Der Tourismus ist
hierfür ein sehr guter Hebel. Denn Reisen verbindet.
Nie war es so einfach für uns, auch größte Entfernun-
gen zu überwinden, neue Länder und Kulturen kennen-
zulernen. Unsere Neugier und Reiselust eröffnen vielen
Menschen in Entwicklungsländern Chancen, freier zu le-
ben und sich lebenswichtige Einnahmequellen zu er-
schließen.
Es könnte alles so schön sein, wären da nicht die zer-
störerischen Kräfte, mit denen wir uns schon vor
6 000 Jahren selbst aus dem Paradies herauskatapultiert
haben. Umweltzerstörung, Vertreibung und brutalste
Ausbeutung von Menschen – das sind die Schattenseiten
des Tourismus.
Wie, liebe Kolleginnen und Kollegen, vertreiben wir die
Schatten und schaffen mehr Licht? Alle haben sich in ih-
ren Anträgen mehr oder weniger überzeugend bemüht,
Antworten zu finden. Aber wie zu erwarten war, fallen
unsere Forderungen je nach Fraktion unterschiedlich
aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es an die-
ser Stelle noch einmal ganz deutlich: Uns reichen Ap-
pelle und bloße Rufe nach Freiwilligkeit, wie sie in Ih-
rem Antrag zu finden sind, nicht aus.
Ja, wir wollen mit Ihnen eine enge freiwillige länder-
übergreifende Zusammenarbeit mit allen Akteuren der
Tourismusbranchen. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen
aber auch ganz klare Regeln, die Sanktionen beinhalten,
damit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstö-
rung durch den Tourismus verhindert werden.
Deshalb kämpfen wir für starke verbindliche interna-
tionale Normen. Unternehmen, die Menschenrechte und
soziale Standards verletzten, müssen bestraft werden
können.
Menschenrechte müssen immer Vorrang vor Unterneh-
mensinteressen haben. Wir wollen auch, dass sich Rei-
sende besser informieren können. Deshalb fordern wir
eine verbindliche Zertifizierung der Angebote.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die
Chance, gemeinsam gegen Ausbeutung und Umweltzer-
störung und für Menschenrechte zu kämpfen. Wir müs-
sen dafür an einem Strang und in die gleiche Richtung
ziehen. Ich lade Sie ein: Machen Sie das mit uns. Wir ha-
ben einen guten Antrag vorgelegt, dem Sie gerne Ihre
Unterstützung geben können. Wir würden uns sehr
freuen. Falls Sie das nicht machen, haben wir spätestens
2013 die Chance, unsere Vorstellungen dann ohne Sie
umzusetzen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe auf Drucksache 17/8736.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Annahme des Antrags derFraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache17/8347 mit dem Titel „Tourismus als Chance für dieEinhaltung der Menschenrechte nutzen“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/6458 mit dem Titel „Menschenrechte in der Tou-rismuswirtschaft achten, schützen und gewährleisten“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion undder FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktionund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/8762 mit dem Titel „Menschenrechtein der Tourismuspolitik konsequent durchsetzen“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen derUnionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion ge-gen die Stimmen der antragstellenden Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten AntonSchaaf, Silvia Schmidt , AnetteKramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDen demographischen Wandel bei den Auf-wendungen für Leistungen zur Teilhabe in dergesetzlichen Rentenversicherung besser be-rücksichtigen– Drucksache 17/8602 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mein Kollege Anton Schaaf hat bereits im Septemberzum Rehaantrag der Linken richtigerweise Folgendesfestgestellt:Wir müssen daher einen neuen Anpassungsmecha-nismus finden, der Bedarf und Leistung besser inEinklang bringen kann.Er hat die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert.Dem kann ich mich nur anschließen.Ich kann auch Herrn Kollegen Weiß zustimmen, derzum gleichen Punkt dargelegt hat:Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentralesPrinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Esentspricht dem Grundsatz der Humanität, alles zutun, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerdurch Berufstätigkeit verursachte gesundheitlicheBeeinträchtigungen wieder überwinden können.Ich frage mich aber, was in der Zeit von Septemberbis heute geschehen ist. In Ihrem Koalitionsvertrag undauch in Ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Be-hindertenrechtskonvention steht, dass die Rehabilitationwichtig ist und gefördert werden muss und dass auch derRehadeckel überprüft werden muss.
Ich frage mich: Wo sind Ihre Vorschläge im Rahmendes Rentendialogs? Wahrscheinlich handelt es sich eherum einen Monolog hinter verschlossenen Türen. Bishergilt: Fehlanzeige, obwohl es einen Beschluss des Bun-desrates auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommernund die Empfehlungen der Rentenversicherung gibt. Eswar die rot-grüne Koalition, die seit 2001 mit demSGB IX die Rehabilitation weiterentwickelt hat. Sie,meine sehr verehrten Damen und Herren, haben zuge-stimmt. Wir wollen Erwerbsfähigkeit und nicht Erwerbs-minderung fördern. Wir haben dies in unseren Positions-papieren und Anträgen deutlich gemacht.Heute geht es um den sogenannten Rehadeckel, der in§ 220 des SGB VI geregelt ist. Mit ihm wird die Höheder Ausgaben für Rehabilitation der Rentenversicherungbegrenzt. Das wissen wir. Die Anpassung des Budgetsrichtet sich seither nach der Entwicklung der Brutto-löhne und -gehälter. Der Rehabilitationsbedarf steigt,aber aus verschiedenen Gründen. Nicht nur die verhal-tene Entwicklung der Bruttolöhne lässt die notwendigeAnpassung des Budgets nicht zu. Deshalb muss der Me-chanismus so angepasst werden, dass die demografischeStruktur der Versicherten in die Bemessung des Budgetseinfließen kann.Lassen Sie mich noch näher auf die Hintergründe ein-gehen, warum die Entwicklung der Bruttolöhne so ver-halten ist. Prekäre Beschäftigung im Niedriglohnbereich,Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung und der geringfü-gigen Beschäftigung bremsen die Entwicklung derLöhne. Hier fehlt uns einfach der Mindestlohn. Im Nie-driglohnbereich arbeiten mittlerweile 22 Prozent der Be-schäftigten. Das sind mehr als 6,5 Millionen Menschen.In Ostdeutschland arbeiten immer noch 40 Prozent derBeschäftigten im Niedriglohnbereich, viele davon ohneTarifbindung.Die Rentenkasse weist zwar Überschüsse auf, aberdiese könnten noch höher sein. Im Jahr 2011 betrug derÜberschuss 4,4 Milliarden Euro, und die Rücklagen be-laufen sich auf insgesamt 24 Milliarden Euro. Das istgut. Aber dieser Betrag könnte, wie gesagt, noch höherliegen, wenn wir Mindestlöhne hätten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19317
Silvia Schmidt
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Gleichzeitig steigen die Ausgaben für Rehabilitationund sprengen mittlerweile das Budget. Das wissen wir.Die Deutsche Rentenversicherung hat im Jahr 2010Leistungen der medizinischen Rehabilitation und zurTeilhabe am Arbeitsleben sowie sonstige Leistungen inHöhe von 5,5 Milliarden Euro erbracht. Das sind gut800 Millionen Euro mehr als 2005 und 1 Milliarde Euromehr als im Jahre 2000.Obwohl die Rentenversicherung ihre Hausaufgabengemacht hat – ich nenne die ambulante Reha und die Ver-ringerung der Verwaltungsausgaben –, gehen viele An-tragsteller leer aus. Wir wissen das; denn betroffeneBürgerinnen und Bürger beschweren sich in unserenSprechstunden über Ablehnungen von Rehaleistungen,die dringend nötig wären. Nach Ansicht der Rentenversi-cherung ist es nicht mehr länger möglich, die Kosten derRehabilitation mit den verfügbaren Mitteln zu bestreiten.Dr. Axel Reimann, ein Direktor der Deutschen Renten-versicherung, erklärte, dass die angespannte Situation imRehabilitationsbereich auf die demografischen Verände-rungen im Versicherungsbestand zurückzuführen ist, diebisher bei der Anpassung nicht berücksichtigt wurden.Wir fordern deshalb die Überprüfung des Rehadeckels.Das hatten Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU und der FDP, bereits ange-kündigt. Der Aktionsplan der UN-Behindertenrechtskon-vention liegt bereits ein Jahr vor. Der Bundesrat hat seineEntschließung verabschiedet, die Rentenversicherungenhaben ihre Modelle eingebracht und Vorschläge unter-breitet. Doch Sie tun nichts.Franz Müntefering hat einmal gesagt: Wenn die Be-völkerung älter wird, kann die Belegschaft nicht jüngerwerden. – Die demografische Entwicklung führt dazu,dass wir mehr Arbeitnehmer mit einem Alter von über55 Jahren haben werden. Der Rehabilitationsbedarf wirdsteigen. Die Unternehmen haben erkannt, dass medizini-sche Rehabilitation einen wesentlichen Beitrag zur Fach-kräftesicherung leisten kann. Vonseiten der Unterneh-men wird auf Sie auch noch mehr Druck ausgeübt. Siewerden Ihr Konzept zur Fachkräftesicherung in diesemZusammenhang nicht umsetzen können. Das Prognos-Gutachten geht davon aus, dass mindestens 150 000 zu-sätzliche Rehabilitationsmaßnahmen bis 2025 benötigtwerden und dass auch ihre Komplexität zunehmen wird.Nicht nur die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt,sondern auch die Zahl der chronischen und multiplen Er-krankungen nimmt ständig zu. Die Inanspruchnahme immedizinischen Bereich wächst, nicht nur weil wir seit1991 eine Absenkung der Verweildauer im Krankenhausvon durchschnittlich 14 Tagen auf 8 Tage feststellenkonnten. Gleichzeitig hat sich die Zahl der rehabili-tativen Anschlussheilbehandlungen von 85 000 auf290 000 mehr als verdreifacht. Somit wächst der Druckauf die Rehabilitation stetig, der Akutversorgung zu ent-sprechen. Das ist gut so; denn die Rehabilitation ist einErfolgsmodell. Sie kostet im Vergleich zur Erwerbsmin-derung und zur Frühberentung relativ wenig. Die durch-schnittlichen Fallkosten von circa 4 000 Euro rechnensich schon nach vier Monaten, wenn eine Wiederauf-nahme in eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung mündet. Das ist bei mindestens 70 Prozent der Fall.Die Menschen brauchen die Rehabilitation; denn in Zu-kunft wird jeder Einzelne so lange wie möglich im Ar-beitsleben gebraucht. Wenn wir von der Rente mit 67sprechen, dürfen wir das nicht aus dem Auge verlieren.Wir haben ebenso wie die Selbstverwaltung der Deut-schen Rentenversicherung Bund vorgeschlagen, diedemografische Entwicklung und die Verlängerung derLebensarbeitszeit zukünftig bei der Bemessung desRehadeckels mit zu berücksichtigen – und nicht mehr al-lein die Bruttolöhne. Dies ist eine moderate Forderungund verfolgt nicht das Ziel, durch überhöhte Anpassun-gen des Budgets den Beitragssatz zu belasten, im Gegen-teil: Die Rentenversicherung hat uns bestätigt, dass dieseLösung beitragsneutral erfolgen kann. Wir fordern Sieauf, hier zu handeln, endlich etwas zu tun; denn es ist be-reits fünf Minuten nach zwölf.Danke schön.
Der Kollege Peter Weiß spricht nun für die Unions-
fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen!Qualifizierte medizinische Rehabilitation ist einewichtige Voraussetzung zur Integration von Kran-ken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Ge-sundheitswesen einen immer höheren Stellenwertein.So heißt es in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP. An diesem Anspruch wollen wir unserHandeln messen lassen.
Die Leistungen zur Rehabilitation in der gesetzlichenRentenversicherung in Deutschland sind wichtige Bei-träge, die oftmals gar nicht richtig gewürdigt und wahr-genommen werden. Der Grundsatz „Reha vor Rente“ istein zentrales Prinzip unserer Rentenversicherung; denndieser Grundsatz gewährleistet, dass trotz drohenderoder bestehender Einschränkungen eine Teilhabe am Er-werbs- und Arbeitsleben und damit eine Unabhängigkeitvon Sozialleistungen möglich wird. Nach dem jüngstenRehabericht der Deutschen Rentenversicherung sind fürRehabilitationsmaßnahmen im Jahr 2010 insgesamt5,38 Milliarden Euro aus Mitteln der Rentenversiche-rung zur Verfügung gestellt worden. Das ist eine beacht-liche Summe. Damit konnten 996 154 Leistungen zurRehabilitation durchgeführt werden.Richtig ist: Rehabilitation lohnt sich für die Renten-versicherung. 86 Prozent der betroffenen Rehabilitandensind im Verlauf von zwei Jahren nach einer Rehamaß-nahme wieder voll erwerbsfähig. Deswegen wundert es
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19318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Peter Weiß
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auch nicht, dass in der schon erwähnten Prognos-Studiefestgestellt wurde, dass wir für 1 in die medizinischeRehabilitation investierten Euro 5 Euro an neuen Ein-nahmen in Steuer- und Sozialversicherungskassen zu-rückerhalten.
Was man ebenfalls festhalten sollte: Deutschland ge-hört zusammen mit gerade noch vier weiteren OECD-Ländern zu denjenigen Staaten, die die höchsten Aus-gaben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf-weisen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichenRentenversicherung für Leistungen zur Teilhabe zurVerfügung stehen – das sind insbesondere medizinischeRehabilitationen und berufsfördernde Maßnahmen –werden gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung je-des Jahr prozentual um den Beitrag erhöht, um den auchdie Bruttolöhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer steigen.Das ist eigentlich keine dumme Regelung; denn auchdie Einnahmen der Rentenversicherung entwickeln sichja gemäß den steigenden Löhnen. Deswegen ist diese imGesetz vorgesehene Koppelung an und für sich eine sehrkluge Regelung. Dennoch – das müssen wir heute fest-stellen – stößt die Rentenversicherung bei ihren Bemü-hungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabilita-tionsleistungen auszukommen, allmählich an dieGrenzen des Machbaren.Das sieht man sehr deutlich zum Beispiel daran, dassdie Zahl der Anträge bis 2010 um knapp 30 Prozent ge-stiegen ist, die der Rentenversicherung für Rehamaßnah-men zur Verfügung stehenden Mittel aber nur um22 Prozent angehoben wurden. In der Tat ist es so, dassgerade die Entwicklung im Altersaufbau unserer Gesell-schaft mehr Rehaleistungen notwendig macht. Etwa dreiViertel der Rehaleistungen werden für die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer ausgegeben, die bereitsüber 45 Jahre alt sind. Das ist logisch; die Jüngeren sindgesund und munter und brauchen noch keine Rehamaß-nahmen.Wenn man sieht, dass die geburtenstarken Jahrgängevor allem der 60er-Jahre sich jetzt im Alter über 45 be-finden, dass also die Zahl derer, die, wie man so schönsagt, in der zweiten Lebenshälfte stehen, deutlich stärkerwird, dann erkennt man, dass natürlich auch der Bedarfan Rehamaßnahmen steigt. Denn diese Menschen müs-sen, insbesondere wenn sie länger arbeiten sollen, wei-terhin gesund arbeiten können und deshalb, wenn es not-wendig ist, auf eine Rehamaßnahme der gesetzlichenRentenversicherung zurückgreifen können. Allein in dennächsten zehn Jahren – mit einer Spitze im Jahr 2016, sowird prognostiziert – wird deswegen ein finanziellerMehrbedarf von rund 200 Millionen Euro bestehen.Die Deutsche Rentenversicherung, der Deutsche Ge-werkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deut-schen Arbeitgeberverbände haben gemeinsam – dasfinde ich durchaus bemerkenswert – einen Vorschlagvorgelegt. Dieser sieht vor, dass in Anlehnung daran,wie sich die Altersstruktur bei den Beschäftigten inDeutschland verändert, der Rehadeckel nicht nur um dieprozentuale Steigerung nach den Löhnen, sondern ebenauch nach der Entwicklung im Altersaufbau der Gesell-schaft angehoben werden soll.Es war ein Anliegen meiner Fraktion, diese Idee einesdemografischen Faktors in der Rehaleistung der Renten-versicherung mit in den von Frau BundesministerinUrsula von der Leyen initiierten Rentendialog aufzuneh-men. Ich habe bereits heute Morgen in meiner Rede ge-sagt: Die Koalitionsfraktionen sind derzeit dabei, diesenRentendialog auszuwerten, und wollen möglichst bald indie konkrete Gesetzgebung einsteigen. Dieser gemein-same Vorschlag von Deutscher Rentenversicherung,BDA und DGB zur Anhebung des sogenannten Rehade-ckels wird dabei ein wichtiger Bestandteil sein, weil wirdie Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung fürdie Rehabilitation stärken wollen. Gerade in Zeiten dro-henden Fachkräftemangels sollten wir, meine Damenund Herren, alle Möglichkeiten ausschöpfen, um einekonsequente und funktionierende Rehabilitation zu er-möglichen. Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effi-ziente Rehabilitation und berufliche Integration bereitsjetzt schon bringen, zeigen uns, dass wir mit diesem Vor-schlag auf dem richtigen Weg sind.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Matthias W. Birkwald das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Menschen, die aufgrund einer Krankheit für ihreArbeit spezielle Computerbildschirme und Tastaturenoder einen orthopädischen Bürostuhl brauchen, die nacheinem Bandscheibenvorfall oder nach Depressionenwieder in ihren Beruf zurückkehren wollen, all dieseMenschen können sich auf die gesetzliche Rentenversi-cherung verlassen. Die Rentenversicherung bietet ihnendie notwendige Hilfe, finanziell, medizinisch und bera-tend. An diesem einen Punkt sind sich alle hier im Hauseeinig: Rehabilitation geht vor Rente, und das ist auchrichtig so.
Meine Damen und Herren, wer die Voraussetzungenerfüllt und eine Rehamaßnahme braucht, der oder diesoll sie auch erhalten. Daraus folgt eigentlich logisch,dass sich auch die Menge des Geldes, das für Rehamaß-nahmen ausgegeben werden kann, am tatsächlichen Be-darf orientieren muss: Wenn mehr Menschen Reha-leistungen brauchen, um wieder arbeiten zu können, na,dann muss auch mehr Geld ausgegeben werden.
Das findet aber nicht statt. Denn vor gut 15 Jahren hatdie damalige schwarz-gelbe Regierung festgelegt, dassdie gesetzliche Rentenversicherung nur einen politisch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19319
Matthias W. Birkwald
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willkürlich festgesetzten Betrag für Rehaleistungen aus-geben darf. Das ist der sogenannte Rehadeckel: Das ver-fügbare Rehabudget orientiert sich nicht am vorhande-nen Bedarf derer, die wieder gesund werden oder auchmit Behinderung arbeiten wollen, sondern – das istschon gesagt worden – an der durchschnittlichen Ent-wicklung der Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer. Das ist doch nun wirklichabsurd.
Werden die Menschen etwa gesünder, wenn dieLöhne und Gehälter sinken? Nein, ganz im Gegenteil.Deswegen will die Linke keine Reha nach Kassenlage,sondern eine Reha nach Bedarf.
Danach muss sich die Finanzierung richten. Leistungenzur Teilhabe dürfen sich im Interesse der Betroffenennur am medizinisch Notwendigen ausrichten. Das istauch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Deshalb mussder Rehadeckel komplett abgeschafft werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zuRecht und völlig richtig schreiben Sie in Ihrem Antrag,dass sich die Situation in der Reha immer mehr zuspitzt.Der finanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Im Jahr2005 sind knapp 92 Prozent des Rehabudgets ausge-schöpft worden. Fünf Jahre später, also im Jahr 2010,waren es bereits 99,4 Prozent. Sie stellen in Ihrem An-trag ebenfalls sehr richtig fest, dass es nicht sachgerechtist, die Rehamittel an die Entwicklung der Bruttolöhneund -gehälter zu koppeln. Sie kritisieren diesen Deckel,fordern aber gleichzeitig die Regierung auf, sich übereinen neuen Deckel Gedanken zu machen. Da sage ichIhnen: Das ist der falsche Weg.
Die Alternative lautet: entweder Deckel oder Bedarf. Daist die Position der Linken eindeutig. Wir sagen: WerRehaleistungen braucht, soll sie auch erhalten. Rehamuss nach dem Bedarf geleistet werden. Alle anderenMaßstäbe haben hier nichts zu suchen.
Ich sehe einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag kri-tisch: Sie nutzen die Diskussion um den Rehadeckel aus,um Ihr Bekenntnis zur Rente erst ab 67 aufzufrischen. Istdenn der Rehadeckel nicht auch schon ohne die Renteerst ab 67 falsch? Auch hier ist die Linke eindeutig. Wirsagen: Wer kann und will, darf länger als bis 65 arbeiten,und wer nicht mehr kann, muss auch nicht bis 65 arbei-ten. So muss der Grundsatz lauten.
Damit die, die arbeiten wollen, trotz gesundheitlicherEinschränkungen oder Behinderung tatsächlich weiterarbeiten können, brauchen wir die Reha nach Bedarf undnicht nach Kassenlage. Darum muss der Rehadeckelweg.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Kolb für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Beste ist natürlich, wenn Beeinträchtigungen derGesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernüberhaupt nicht erst entstehen. Prävention ist der Kö-nigsweg, da sind wir uns einig.
Es ist insbesondere in den Unternehmen die Aufgabe,durch Arbeitsbedingungen dafür zu sorgen, dass die Ge-sundheit der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt wird. Wodies nicht gelingt, ist Rehabilitation angesagt. „Reha vorRente“ – das ist richtig, wir bekennen uns dazu. Rehabi-litation ist ein zentrales Ziel unserer Sozialpolitik. Reha-bilitation hilft den betroffenen Menschen, aber sie hilfteben auch, Kosten für das Sozialsystem zu vermeiden.Dabei ist – das unterscheidet uns mit Sicherheit, HerrKollege Birkwald – eine ständige Abwägung notwendigzwischen den Interessen der Betroffenen, der Beitrags-zahler und der Leistungsanbieter. Insgesamt geben wir indiesem Bereich erhebliche Beträge aus, das muss manfeststellen: 5,56 Milliarden Euro im Jahr 2010 – das istkein Pappenstiel, das ist eine ordentliche Summe Geld –4 Milliarden Euro für medizinische Reha, 1,4 MilliardenEuro für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Also:Wir lassen uns das Prinzip „Reha vor Rente“ schon et-was kosten. Immerhin fallen für eine stationäre Reha-maßnahme durchschnittlich knapp 2 450 Euro Kostenan, die jeweils abgewogen werden müssen – so will ichdas sagen, Herr Kollege Birkwald.Ich glaube, der Rehadeckel macht Sinn. Wir sind be-reit – das hat der Kollege Weiß schon gesagt –, im Rah-men der Rentengespräche über eine Anhebung des De-ckels nachzudenken. Dabei will ich nicht verhehlen, dassfür uns die Beitragsentwicklung und insbesondere dieEinhaltung der Beitragsziele, die gesetzlich festgeschrie-ben sind, eine wichtige Rolle spielen. Aber ich glaubezudem, dass ein Deckel eine gewisse Funktion hat, weiler auch für einen wirtschaftlichen Einsatz der Mittelsorgt und die Beteiligten zwingt, darüber nachzudenken,wie man neue Wege in der Rehabilitation gehen kann.So stelle ich fest, dass es mittlerweile auch einen klarenTrend zu ambulanten Rehaleistungen gibt. Deren Anteilist 2010 auf 12 Prozent der Rehaaufwendungen gestie-gen und hat sich damit innerhalb von acht Jahren ver-vierfacht. Ich gehe auch davon aus, dass sich dieserTrend weiter fortsetzen wird. Das ist gut so, das begrenztdie Ausgaben. Ich will an diesem Beispiel nur deutlichmachen, Herr Kollege Birkwald: Der Deckel machtSinn. Wenn Sie keinen Deckel haben, wenn Sie die Aus-gaben einfach so laufen lassen, werden solche Innova-tionsimpulse eben nicht gesetzt.Also: Wir prüfen im Rahmen unserer Rentengesprä-che, wie wir diesen Deckel verändern können. Wir ha-
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19320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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ben – der Kollege Weiß hat es gesagt – den Vorschlagvon BDA und anderen zur Kenntnis genommen. Das istetwas, worüber wir sehr ernsthaft nachdenken. Deswe-gen kann ich hier ankündigen, dass wir nach dem Endeder Rentengespräche, wenn die Koalition ihre Beratun-gen abgeschlossen hat, sicherlich im Gesamtpaket auchan dieser Stelle etwas tun werden. Bis dahin bitte ichnoch um Ihre Geduld. Aber ich glaube, Warten kann sichin diesem Fall tatsächlich auch lohnen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Markus Kurth das Wort.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsi-
dentin! Selten haben wir hier im Plenum eine solche
Einigkeit wie bei diesem Tagesordnungspunkt des heuti-
gen Abends. Praktisch alle Redner betonen die Wichtig-
keit des Grundsatzes „Reha vor Rente“. Alle haben ihre
Rechenbeispiele dabei – auch ich –, wie viel jeder inves-
tierte Euro nachher an eingesparten Erwerbsminderungs-
rentenzahlungen und zusätzlichen Beitragseinnahmen
bringt. Bei so viel Einigkeit frage ich mich nur – und ich
richte die Frage an die Regierungsfraktionen –: Warum
haben Sie nicht schon gehandelt, oder warum legen Sie
keinen Vorschlag vor?
Man hätte doch gern einen Zeitpunkt genannt bekom-
men, wann Sie etwas machen. Stattdessen verweisen Sie
wieder einmal – wie schon heute Morgen in der Renten-
debatte – auf den Rentendialog. Sie denken nach und
diskutieren. Ihr Rentendialog kommt mir im Prinzip wie
ein schwarzes Loch vor, in dem alle Vorschläge nicht nur
zur Alterssicherung, sondern auch zum Thema Rehabili-
tation verschwinden.
Wenn sich eine durchschnittliche medizinische Reha-
maßnahme schon nach vier Monaten einer Vermeidung
der Zahlung von Erwerbsminderungsrente rechnet, dann
sollte man an dieser Stelle wahrlich keine Zeit verlieren.
Die entsprechenden Einrichtungen, zum Beispiel die Be-
rufsförderungswerke, berichten, dass die Zahl der Bele-
gungen durch die Deutsche Rentenversicherung in den
zurückliegenden Monaten und im letzten Jahr erheblich
zurückgegangen ist.
Nachdem die besonderen Einrichtungen der berufli-
chen Rehabilitation durch die sinkende Zahl von Bewil-
ligungen durch die Bundesagentur für Arbeit ge-
schwächt worden sind, wird auch noch das zweite
Standbein, die Rentenversicherung, geschwächt, sodass
wir uns ernsthaft die Frage stellen müssen, ob in unserer
Netzplanstruktur die Berufsförderungswerke überhaupt
noch eine Zukunft haben.
Hier zu sparen, ist volkswirtschaftlich widersinnig.
Insbesondere Rehaausgaben sind investive Sozialausga-
ben. Wir investieren in die Fähigkeiten und Möglichkei-
ten von Menschen, länger zu arbeiten. In einer älter wer-
denden Gesellschaft wird der Rehabedarf eindeutig
weiter steigen. Ganz offensichtlich steht hier die Renten-
versicherung vor einem Problem. Deshalb müssen wir
entsprechende Anpassungen vornehmen. Der Vorschlag
von Deutscher Rentenversicherung, BDA und Gewerk-
schaften liegt ja vor und wird in dem SPD-Antrag, den
wir unterstützen, aufgegriffen.
Herr Birkwald, ich muss noch einige Sätze dazu sa-
gen, dass Sie den Rehadeckel komplett abschaffen wol-
len. Ohne eine gewisse Rahmensteuerung der Kosten
setzt man keine Anreize, innovative und wirtschaftliche
Mittelverwendungsmöglichkeiten zu suchen; zum Bei-
spiel kann man hier die ambulante Reha nennen. Die be-
rufliche Reha hat sich bisher sehr stark am stationären
Bereich orientiert – ich finde das in bestimmten Berei-
chen sinnvoll; die Berufsförderungswerke habe ich ge-
nannt –, aber die ambulante Reha bzw. andere Formen
der medizinischen Rehabilitation können durch einen
gewissen Kostenrahmen, den man im Extremfall anpas-
sen muss, Anreize für wirtschaftliches Verhalten und für
neue Formen der Leistungserbringungen schaffen.
Wir brauchen zusätzlich neue Verfahren zur Ermitt-
lung und zur Klassifizierung des Rehabedarfes. Wir dür-
fen uns nicht nur auf den Rehadeckel und die Kosten-
steuerung konzentrieren; denn wir müssen es – auch das
ist ein Anliegen, das wir hier im Hause weitestgehend
teilen – angesichts der demografischen Herausforderung
schaffen, den notwendigen Rehabilitationsbedarf zielge-
richtet und effizient zu organisieren.
Vielen Dank.
Der Kollege Paul Lehrieder spricht nun für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Gegenstand der heutigen Debatte ist derAntrag der SPD-Fraktion „Den demographischen Wan-del bei den Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe
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Paul Lehrieder
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in der gesetzlichen Rentenversicherung besser berück-sichtigen“, in dem Sie neben einer Ausrichtung der Aus-gaben der Rentenversicherung für die medizinischeRehabilitation am tatsächlichen Bedarf auch die Weiter-entwicklung von Präventionsleistungen fordern. KollegeKolb hat auf die Bedeutung von Präventionsleistungenin diesem Bereich mit zutreffenden Worten hingewiesen;er ist ein guter Mann.
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die Re-habilitation neben der Prävention eines der zentralen An-liegen unserer Sozialpolitik ist; denn von einer raschenReintegration in Arbeit bzw. einer frühzeitigen undnachhaltigen Sicherung der Beschäftigungsfähigkeitdurch Präventionsleistungen profitieren nicht nur die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern das ge-samte Sozialsystem. Gerade in Zeiten eines beginnendenFachkräftemangels ist dieser Weg essenziell wichtig.
Fakt ist auch: Das Rehabilitationsbudget der Renten-versicherung wird aufgrund des demografischen Wan-dels und der Erhöhung des Renteneintrittsalters zuneh-mend stärker ausgeschöpft. Für das Jahr 2011 stand derRentenversicherung ein Betrag in Höhe von 5,528 Mil-liarden Euro für Leistungen zur Teilhabe zur Verfügung,der aller Voraussicht nach auch ausgeschöpft worden ist.Im Jahr 2012 wird das Rehabilitationbudget auf Basisder geltenden Regelung vorläufig 5,678 Milliarden Eurobetragen. Dies bedeutet aber auch – ich sage dies, um dieSchwarzmalerei der Opposition ein wenig zu bremsen –,dass der sogenannte Rehadeckel vor allem unter Berück-sichtigung der aktuell zu verzeichnenden Lohnsteigerun-gen noch nicht ganz erreicht bzw. überschritten ist.Im Rahmen des sogenannten Rentendialogs sind wirderzeit dabei – darauf haben meine Vorredner bereitshingewiesen –, die Fortentwicklung des Rehadeckels zugestalten. Lieber Kollege Kurth, bei uns gilt das Prinzip„Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. Wir haben in dieserLegislaturperiode schon genug Sozialgesetze aus der rot-grünen Zeit nachbessern müssen, was uns das Verfas-sungsgericht aufgegeben hat.
Sicherlich ist eine strukturelle Anpassung des Reha-budgets aufgrund der demografischen Entwicklung so-wie aufgrund der Regelaltersgrenze aus fachpolitischerSicht zu befürworten, da gerade in den nächsten Jahrendie geburtenstarken 1960er-Jahrgänge in das rehainten-sive Alter von 45 bis 65 bzw. 67 Jahren kommen – Kol-lege Weiß hat darauf bereits hingewiesen – und dieRegelaltersgrenze schrittweise richtigerweise auf 67 an-gehoben wird. Diese beiden Faktoren waren bei der Ein-führung und Festlegung des Rehabudgets Ende der 90er-Jahre noch nicht gegeben. Sie wurden daher nicht expli-zit berücksichtigt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seienSie beruhigt. Wir von der christlich-liberalen Koalitionwerden eine zufriedenstellende Regelung zur Deckungeines möglichen temporären Mehrbedarfs selbstver-ständlich unter Sicherung der Leistungsfähigkeit der ge-setzlichen Rentenversicherung und vor allem – dasmöchte ich besonders hervorheben – mit Blick auf diegesetzlichen Beitragsziele im gemeinsamen Rentendia-log erörtern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hin-sichtlich der von Ihnen geforderten Weiterentwicklungder Präventionsmaßnahmen möchte ich Sie gerne aus-drücklich auf die Norm des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2SGB VI hinweisen. Demnach können seit dem 1. Januar2009 „medizinische Leistungen … für Versicherte, dieeine besonders gesundheitsgefährdende, ihre Erwerbs-fähigkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigungausüben“, zur Sicherung ihrer Erwerbsfähigkeit auchambulant durchgeführt werden. Die Deutsche Renten-versicherung Bund, die Deutsche RentenversicherungWestfalen und die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg haben diese gesetzliche Änderung bereitszum Anlass genommen, das Rahmenkonzept „Betsi“ –übersetzt heißt das: Beschäftigungsfähigkeit teilhabe-orientiert sichern – zur Erprobung von Präventionsleis-tungen zu entwickeln. Zielgruppe dieser Präventions-leistungen sind Beschäftigte, bei denen erste, dieErwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende gesundheitli-che Beeinträchtigungen vorliegen, ohne dass bereits einBedarf für medizinische Rehabilitationsleistungen be-steht. Mit den Präventionsleistungen wird dabei das Zielverfolgt, die Beschäftigungsfähigkeit der Teilnehmerfrühzeitig und nachhaltig zu sichern. Die in diesem Rah-men entwickelten Präventionsleistungen werden dem-nächst von den beteiligten Rentenversicherungsträgernin den Katalog der Regelleistungen aufgenommen. DesWeiteren entwickeln viele andere Rentenversicherungs-träger Konzepte für Präventionsleistungen für ihre Ver-sicherten.Sie sehen: Wir haben bereits gehandelt. Ihr dahin ge-hender Antrag ist zwar gut gemeint, aber leider unnötig;denn eine über § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI hinaus-gehende gesetzgeberische Regelung für Präventionsleis-tungen der gesetzlichen Rentenversicherung ist nichtnotwendig. Dennoch lade ich Sie, meinen Damen undHerren von der SPD und von den übrigen Fraktionen indiesem Hohen Hause, ganz herzlich ein, mit uns gemein-sam im Ausschuss konstruktiv zu diskutieren
und mit dafür Sorge zu tragen, dass ein Konzept zur Si-cherung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Renten-versicherung, das die veränderten Bedingungen berück-sichtigt, auf den Weg gebracht wird.Herr Kollege Kurth, die Notwendigkeit, den Rehade-ckel fortzuentwickeln – in diesem Punkt kann ich Ihnenrecht geben –, ist hier von fast allen Parteien, Herr
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19322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Paul Lehrieder
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Birkwald, anerkannt worden. Wir werden gemeinsamdaran arbeiten. Der Applaus fast des ganzen Hauses fürden Kollegen Kurth hat gezeigt, dass wir uns gemeinsamauf den Weg machen können.Ich bedanke mich und lade Sie ein, mitzudiskutieren.
Kollege Lehrieder, ich würdige ausdrücklich, dass Sie
die Redezeit eingehalten haben.
Der Kollege Pascal Kober hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist in der Tat eine besondere Situation, wenn sich in
einer sozialpolitischen Debatte alle Fraktionen hier im
Bundestag einig sind. Wir sind uns alle darin einig, dass
Reha vor Rente geht. Wahrscheinlich sind wir uns auch
alle darin einig, dass Prävention noch besser als Rehabi-
litation ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, schon nicht mehr einig sind wir uns bei der Frage,
ob es einen Rehadeckel geben darf oder muss oder nicht.
Wir haben da eine ganz klare Position. Alle Rednerinnen
und Redner, die bisher zu diesem Thema gesprochen ha-
ben, haben betont: Aufgrund der Wirtschaftlichkeit, zu
der wir verpflichtet sind, wird es ohne einen Rehadeckel
nicht gehen. Auch der Bundesrechnungshof hat sich ent-
sprechend geäußert, dass wir im Bereich der Rehabilita-
tion auf Effizienz schauen müssen. Aber das sind ja The-
men, die Sie nicht so sehr interessieren.
Heute Morgen haben wir mit Ihnen über die Rente
diskutiert. Da haben Sie die Einführung einer solidari-
schen Mindestrente von 900 Euro gefordert. Sie haben
allerdings offen gelassen, wie Sie das finanzieren wol-
len. Genauso lassen Sie heute Abend offen, wie Sie es fi-
nanzieren wollen, bei der Reha keinen Deckel vorzuse-
hen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich habe
heute Morgen schon gesagt: Politik beginnt mit der Be-
trachtung der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört eben
auch, dass die finanziellen Ressourcen eines Sozialstaats
begrenzt sind. Sie müssen zunächst erwirtschaftet wer-
den. Wir schießen schon heute im Bereich der gesetzli-
chen Rentenversicherung 81 Milliarden Euro zu.
Jetzt können Sie sagen: Einige Millionen hin oder her,
das kann doch keine Rolle spielen. – Aber so einfach
dürfen wir es uns nicht machen. Wenn wir beim Thema
Haushaltskonsolidierung weiter voranschreiten wollen,
dann müssen wir jeden einzelnen Euro zweimal umdre-
hen. Deshalb ist es gut, dass wir uns als Regierungsko-
alition Zeit nehmen, hier eine Gesetzgebung auf den
Weg zu bringen, die nachhaltig ist und Bestand hat.
Peter Weiß hat darauf hingewiesen, dass wir im Be-
reich des Rentendialogs auch die Thematik der Rehabili-
tation angehen werden. Ich glaube, wir können alle zu-
versichtlich sein, dass wir, wie es auch in den vergangenen
zwei Jahren Kennzeichen dieser Regierungskoalition
war, ein sehr ordentliches Ergebnis werden präsentieren
können.
Darauf sollten Sie gespannt sein. Wir sind zuversicht-
lich, dass wir zumindest die Bürgerinnen und Bürger von
unserem Gesetz werden überzeugen können, wenn auch
vielleicht nicht Sie; aber die Menschen in unserem Land
gehen in dieser Frage immer vor.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8602 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines FünftenGesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisen-bahngesetzes– Drucksache 17/8364 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/8787 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie WilmsWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
– Ich wäre dankbar, wenn auf der Seite der FDP-Frak-tion etwas Ruhe einkehren könnte, damit wir nach demVerlesen der Namen der Redner, die ihre Rede zu Proto-koll geben, die Abstimmung durchführen können. – Eshandelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19323
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ulrich Lange und Thomas Jarzombek für die Unions-fraktion, Martin Burkert für die SPD-Fraktion, PatrickDöring für die FDP-Fraktion, Sabine Leidig für dieFraktion Die Linke und Dr. Valerie Wilms für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Der Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung
des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG, enthält
grundlegende Neuerungen im Eisenbahngesetz. In ihm
werden sowohl EU-rechtliche Veränderungen eingear-
beitet als auch dessen zentrales Anliegen, die Sicherheit
und die Kontrolle der Sicherheit zu verbessern. Im Zen-
trum steht die Einführung der Herstellerverantwortung.
In der bisherigen Praxis wurden Fahrzeuge nur auf
Bestellung der Eisenbahnverkehrsunternehmen oder
Halter auf der Grundlage von Lasten und Pflichten der
Besteller, also der Betreiber, gebaut. Anschließend
wurde von den Betreibern die Zulassung bzw. Abnahme
des Fahrzeugs beantragt. Zwar können die Hersteller
auch heute schon die Genehmigung zur Inbetriebnahme
eines Fahrzeuges beantragen, im AEG sind aber die Si-
cherheitspflichten eindeutig den Eisenbahnverkehrs-
unternehmen und Haltern von Eisenbahnfahrzeugen zu-
gewiesen. Das ändern wir jetzt.
Wir geben den Herstellern von Bahnfahrzeugen im
Rahmen der Liberalisierung des europäischen Eisen-
bahnmarktes die Möglichkeit, eigenverantwortlich ohne
Beteiligung eines Betreibers Fahrzeuge zu erstellen und
die Genehmigung zur Inbetriebnahme zu beantragen.
Damit geben wir den Herstellern mehr Möglichkeiten
für eine bessere Positionierung am Markt. Auf der an-
deren Seite müssen die Produzenten aber auch mehr
Verantwortung für ihre Fahrzeuge übernehmen. Dies
entspricht den Regeln unserer Marktwirtschaft.
Mit der Gesetzesnovelle werden wir aber auch die
Grundlagen dafür schaffen, dass Genehmigungen für
Bahnfahrzeuge schneller als bisher erteilt werden
können. Die DB AG hat große Probleme, genügend
Fahrzeuge für den Personennah- und -fernverkehr zu
erhalten. Eine Ursache ist auch die lange Dauer von Ge-
nehmigungen und das Gezerre um Verantwortlichkeiten.
Diesem Umstand werden wir Rechnung tragen, in-
dem wir eine Ermächtigungsgrundlage schaffen werden,
durch die dem Eisenbahn-Bundesamt die Festlegung
von technischen Einzelheiten für Planung, Bemessung
und Konstruktion von Betriebsanlagen der Eisenbahnen
des Bundes übertragen werden kann.
Im Rahmen dieser Gesetzesänderung werden aber
auch EU-rechtliche Korrekturen vorgenommen, die auf-
grund des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Ver-
trags über die Europäische Union und des Vertrags zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft notwendig
wurden.
Der Entwurf des Fünften Gesetzes zum AEG ist insge-
samt ein sehr gutes und dringend benötigtes Gesetz. Un-
nötig finde ich die Verknüpfung des AEG in Bezug auf
den Schienenlärm mit dem Bundes-Immissionsschutzge-
setz, BImSchG, die aufgrund von Einwänden des Bun-
desrates eingefügt wurde. In der Novelle des 5. AEG
geht es primär um Sicherheitsaspekte. Aus meiner Sicht
ist das Thema Schienenlärm heute so wichtig, insbeson-
dere für die Akzeptanz des Güterschienenverkehrs durch
die Bevölkerung, dass wir ein gesondertes „Schienen-
lärmpaket“ im BImSchG schnüren sollten. Bundesver-
kehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat mit Bahnchef
Dr. Rüdiger Grube die Einführung eines lärmabhängi-
gen Trassenpreissystems mit dem Fahrplanwechsel
2012 vereinbart. Dies ist richtungsweisend für die Redu-
zierung des Schienenlärms in Deutschland.
Bei der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Ver-kehr, Bau und Stadtentwicklung gab es ein seltenes Bildder Geschlossenheit: Einstimmig haben sich die Mitglie-der dafür ausgesprochen, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung zur Änderung des Allgemeinen Eisen-bahngesetzes anzunehmen. Auch der dazugehörigeÄnderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurde ein-stimmig angenommen.Dies zeigt: Die Novellierung des Allgemeinen Eisen-bahngesetzes ist fachlich unumstritten; denn sie ist einweiterer wichtiger Schritt, um für mehr Qualität und Si-cherheit im Bahnverkehr zu sorgen. Daher gilt der Bun-desregierung unser Dank für die Vorlage dieser gelun-genen Gesetzesänderung.Uns allen sind sicher noch die technischen Problemebei den ICE-Zügen der DB AG und auch bei der Flotteder Berliner S-Bahn in Erinnerung. Die Beseitigung die-ser Mängel hat vor allem aufgrund des erheblichen Aus-maßes einen enormen Arbeits- und damit Zeitaufwandbedeutet. An mehreren hundert Fahrzeugen musstenBremsen repariert oder gar komplette Achsen ausge-tauscht werden. Teilweise waren die zeitlichen Verzöge-rungen bei der Beseitigung jedoch auch dem Umstandgeschuldet, dass die Haftungsfrage bei Zugmängeln imGesetz – wie sich gezeigt hat – leider nicht eindeutig ge-nug geregelt war. So haben sich Bahn und Herstellermonatelang gegenseitig die Zuständigkeit für die Pro-bleme zugeschoben.Nach der bisherigen Rechtslage ist es so: Die Sicher-heitspflichten liegen aufseiten der Eisenbahnen undHalter von Eisenbahnfahrzeugen. Die Hersteller könnenallerdings die Genehmigung zur Inbetriebnahme einesFahrzeuges beantragen. Diese Aufteilung rührt nochaus den früheren Abläufen her, die vor der Bahnprivati-sierung und der damit einhergehenden Öffnung desWettbewerbes üblich waren. Damals wurden Fahrzeugenur auf Bestellung der Eisenbahnen oder Halter und aufder Grundlage von Lasten- und Pflichtenheften der Be-treiber gefertigt. Lediglich der Betreiber konnte die Zu-lassung bzw. Abnahme eines Fahrzeuges beantragen.Inzwischen dürfen allerdings Hersteller eigenverant-wortlich, also ohne Beteiligung eines Betreibers, Fahr-zeuge herstellen. Dies ist eine Folge der Liberalisierungdes europäischen Eisenbahnmarktes. Dadurch habendie Hersteller mehr Möglichkeiten für eine bessere Posi-tionierung am Markt erhalten. Insbesondere ist es ihnen
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19324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Thomas Jarzombek
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nunmehr möglich, eine Genehmigung zur Inbetrieb-nahme zu beantragen.An diese veränderte Situation soll das Allgemeine Ei-senbahngesetz jetzt angepasst werden. Wesentlicher In-halt der Novellierung ist die Einführung der Hersteller-verantwortung. So soll neben den Eisenbahnen und denHaltern von Eisenbahnfahrzeugen nun auch den Her-stellern die Verantwortung dafür zugewiesen werden,dass Fahrzeuge den Anforderungen der öffentlichen Si-cherheit an den Bau genügen. Maßgeblich ist dabei derZeitpunkt der Inbetriebnahme. Die Verantwortung be-zieht sich somit nicht auf den Ablauf des Bauprozessesan sich. Entscheidend ist vielmehr das fertiggestellteBauprodukt. Durch die Novellierung wird die Verant-wortung eindeutig demjenigen zugewiesen, der den An-trag auf Genehmigung stellt.Zweiter Kernpunkt der Gesetzesänderung ist eineStärkung der Position des Eisenbahn-Bundesamtes. Sowird die Ermächtigungsgrundlage dafür geschaffen,dem Eisenbahn-Bundesamt durch Rechtsverordnung dieKompetenz für die Festlegung von technischen Einzel-heiten für Planung, Bemessung und Konstruktion vonBetriebsanlagen zu übertragen.Darüber hinaus sind in dem Gesetzentwurf einige re-daktionelle Änderungen, insbesondere vor dem Hinter-grund des Vertrages von Lissabon, sowie unstrittigeKlarstellungen enthalten. Mit dem Änderungsantrag derKoalitionsfraktionen werden zudem Empfehlungen auf-genommen, die der Bundesrat im Rahmen seiner Befas-sung mit dem Gesetzentwurf beschlossen hat. Hierbeigeht es vor allem um eine Klarstellung, dass die Bahn-unternehmen bei der Erstellung von Lärmkarten undLärmaktionsplänen mitzuwirken haben. Auch hinsicht-lich dieses Änderungsantrages bestand im Verkehrsaus-schuss – wie erwähnt – gestern Einvernehmen.Die Gesetzesänderung ist also ein richtiger und wich-tiger Schritt. Die Anpassung wird zu einer Verbesserungvon Sicherheit und Qualität im Bahnverkehr beitragen.Im Interesse aller Bahnreisenden wünschen wir uns,dass neues Zugmaterial künftig rascher zugelassen wer-den kann und technische Probleme – die natürlich im-mer auftreten können – ohne Streit über die Zuständig-keitsfrage schneller behoben werden können.
Wir brauchen im Schienenverkehr leistungsstarkeZüge; denn störanfällige Züge, die aus dem Verkehr ge-zogen werden müssen, führen zu Verspätungen und Är-ger bei den Bahnkunden. Außerdem gilt es, die Herstel-lungsprozesse zu beschleunigen. In Nürnberg wartenwir bei der S-Bahn beispielsweise seit eineinviertel Jah-ren auf neue Triebwagen von Bombardier, die immernoch nicht komplett ausgeliefert wurden.Wir brauchen also mehr Sicherheit beim Betrieb derFahrzeuge und eine schnellere Beschaffung!Die Voraussetzung dafür schafft eine Neuerung imAllgemeinen Eisenbahngesetz: Zentrale und wesentlicheÄnderung wird hier sein, dass eine Verantwortung derHersteller für Eisenbahnmaterial eingeführt werdensoll. Wenn man im juristischen Sinne von Verantwortungspricht, dann geht es ganz konkret um Fragen der Haf-tung. Wer muss also dafür geradestehen, wenn Materia-lien im Eisenbahnverkehr mangelhaft sind und es da-durch beispielsweise zu einem Unfall kommt?Bei Verantwortung und Haftung geht es aber vor al-lem auch um Sicherheit sowie die Kontrolle der Sicher-heit.Bisher war es so: Die Eisenbahnen waren verpflich-tet, nicht nur den Betrieb sicher zu führen, sondern auchFahrzeuge und das Zubehör sicher zu bauen. Die DBAG trug im Falle eines Falles die volle alleinige – öf-fentlich-rechtliche – Sicherheitsverantwortung, da dereigentliche Eisenbahnhersteller im juristischen Sinne le-diglich ein sogenannter – privatrechtlicher – Erfül-lungsgehilfe war. Die Krux dabei ist: Eine öffentlich-rechtliche Sicherheitsverantwortung kann nicht vertrag-lich auf den Hersteller verlagert werden.Diese Regelung im AEG wird nun in Anpassung aneine EU-Sicherheitsrichtlinie geändert: Das Eisenbahn-unternehmen wird aus der Pflicht entlassen, vor der In-betriebnahme eines Fahrzeugs eine Genehmigung bean-tragen zu müssen und somit alleine die Haftung fürdieses Fahrzeug zu übernehmen.Schwierigkeiten mit neuen Zügen gab es in der Ver-gangenheit leider immer wieder, ob mit ausgefallenenKlimaanlagen im Hochsommer oder nicht funktionie-render Neigetechnik, zum Beispiel zwischen Berlin undNürnberg. Viele Konstruktionsmängel zeigen sich erstim Betrieb.Die Bundesregierung wollte aber bei der Bearbeitungund Modifizierung des Gesetzes noch einen Schritt wei-ter gehen und den Herstellern allein die Haftung über-tragen. Diesen groben Unfug konnte die SPD zusammenmit der Bahnindustrie zum Glück noch verhindern!Denn die Folge wäre schlichtweg, dass kein Unterneh-men in Deutschland mehr ein Angebot für den Bau einesZuges abgeben würde.Die – im Übrigen einzig gangbare – Lösung, die ge-funden wurde, sieht vor, dass die Eisenbahnen von deralleinigen Verpflichtung befreit werden, Fahrzeuge undZubehör sicher zu bauen. Der entscheidende § 4 regeltnun, dass es Eisenbahnen oder Halter sind, die dieFahrzeuge und deren Zubehör in einem betriebssicherenZustand zu halten haben. Und so ist es auch richtig!Denn so lange ein Fahrzeug auf der Schiene in Betriebist, muss die Sicherheitsverantwortung dafür jederzeitgenau zugeordnet werden können.Die Änderung im Allgemeinen Eisenbahngesetz waraber nicht nur deshalb längst überfällig. Sie mussteauch angepasst werden, weil die Bahn schlichtweg keinEisenbahnmaterial mehr selbst herstellt. Die Regelungstammt aus einer Zeit, als die Bahn noch nicht im Wett-bewerb stand und somit am Markt automatisch selbst fürdie Kontrolle verantwortlich war. Dies hat sich, wie wirwissen, geändert. Wenn man sich also die Historie desGesetzes anschaut, ist eine Änderung des AEG grund-sätzlich zu begrüßen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19325
Martin Burkert
(C)
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Zu begrüßen ist dies auch aus Gründen eines fairenWettbewerbes: Denn bislang war die DB AG bei der Be-stellung eines Fahrzeuges auch für die Genehmigungbeim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, verantwortlich. Mitt-lerweile kann sie aber bei einem Hersteller ein Fahr-zeug in Auftrag geben mit der Maßgabe, dass dieserauch die Genehmigung einholen muss. Das heißt: Erstdurch die Entlassung der Eisenbahnunternehmen ausder Genehmigungspflicht entsteht zum ersten Mal einfairer Wettbewerb zwischen Eisenbahnbesteller und -her-steller. Denn nun können Hersteller in eigener Verant-wortung und ohne Beteiligung der Betreiber Fahrzeugeproduzieren.Allerdings sind im AEG noch einige Punkte offen, fürdie vernünftige Lösungen gefunden werden müssen!Das EBA soll mit der Änderung des AEG gestärktwerden, um besser kontrollieren zu können, wer eine Ge-nehmigung bekommt. Dann muss das EBA aber auch ge-stärkt werden. Das heißt im Klartext: Es muss mehr Per-sonal bewilligt werden.Die Änderung des AEG bietet eine wichtige undlängst überfällige Regelung, um für eine schnellere Be-schaffung von Zügen und einen sicheren Betrieb zu sor-gen. Wichtig ist nur, dass die Rahmenbedingungen, wiedie personelle Ausstattung der Genehmigungsbehörden,stimmen.
In den vergangenen Jahren kam es im Bereich des
Eisenbahnverkehrs immer wieder zu gravierenden Qua-
litätsproblemen, häufig hervorgerufen durch technische
Mängel an den Fahrzeugen. In den daran anschließen-
den Diskussionen zeigte sich, dass die Frage der Verant-
wortlichkeitsbereiche von Fahrzeugherstellern einer-
seits und Eisenbahnverkehrsunternehmen andererseits
nicht befriedigend geklärt ist. Kern des uns vorliegen-
den Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG, ist somit die
Einführung der Herstellerverantwortung für den Be-
reich des Schienenverkehrs; ein Vorhaben, bei dem wir
als FDP-Fraktion die Bundesregierung ausdrücklich
unterstützen.
Bislang ist es so, dass die Hersteller zwar eine
Genehmigung zur Inbetriebnahme ihrer Eisenbahnfahr-
zeuge beantragen können, das Allgemeine Eisenbahn-
gesetz Sicherheitspflichten aber nur den Eisenbahnen
und den Haltern von Eisenbahnfahrzeugen zuweist. Mit
den angestrebten Änderungen des Gesetzes soll zukünf-
tig nun auch den Herstellern die Verantwortung dafür
zugewiesen werden, dass die von ihnen gelieferten Fahr-
zeuge den angegebenen Anforderungen und Einsatz-
bedingungen entsprechen, sodass sie von den Verkehrs-
unternehmen im Betrieb sicher eingesetzt werden
können. Diese Änderung sorgt zudem dafür, dass das
Allgemeine Eisenbahngesetz die bereits seit 2004 im
Eisenbahnsektor gültige Verantwortungsverteilung der
Europäischen Union widerspiegelt.
Darüber hinaus schafft der Gesetzentwurf eine
Ermächtigungsgrundlage, durch die dem Eisenbahn-
Bundesamt die Festlegung von technischen Einzelheiten
für Planung, Bemessung und Konstruktion von Betriebs-
anlagen der Eisenbahn des Bundes übertragen werden
kann.
Der vom Verkehrsausschuss des Deutschen Bundes-
tages einstimmig angenommene Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen greift die Stellungnahme des Bun-
desrates vom Oktober des vergangenen Jahres auf und
fügt sinnvolle Ergänzungen insbesondere bezüglich der
Lärmkartierung ein.
Zusammenfassend begrüßt die FDP-Bundestagsfrak-
tion die angestrebten Änderungen, speziell die Klarstel-
lung der Verantwortlichkeiten im Verhältnis zwischen
Hersteller und Bahnunternehmen. Zu versuchen, in
diese Novelle weitere gesetzliche Regelungen zu pres-
sen, wie etwa die von SPD geforderten Bestimmungen zu
Lenk- und Ruhezeiten, lehnen wir allerdings ab. Weder
sollten wir das AEG mit Einzelregelungen überfrachten,
noch ist es rechtssystematisch der richtige Regelungs-
kreis.
Vor gut einem Jahr hatten VerkehrsministerRamsauer und die Deutsche Bahn AG getönt, die Fahr-zeugindustrie habe der Bahn „Schrott“ geliefert. Sie al-lein oder zumindest sie in erster Linie sei haftbar fürnicht dauerfeste Achsen und für eine S-Bahn-Baureihein Berlin, die das zweimalige Winterchaos und einenDauer-Notfahrplan herbeigeführt hätten. Als sich dannim April 2010 noch eine ICE-Tür bei hoher Geschwin-digkeit löste, durch die Luft flog und sechs Menschenverletzte, hieß es erneut wie bei einem Pawlowschen Re-flex: Es handle sich hier um einen Konstruktionsfehler.Inzwischen ist bei diesem Thema Besinnung einge-kehrt. Wir wissen:Bei der ICE-Tür gab es einen Wartungsfehler, den dieBahn und nicht der Hersteller zu verantworten hat.Die nicht dauerfesten Achsen wurden auch aufgrundder Vorgaben der Deutschen Bahn AG, Gewicht zu spa-ren, eingebaut. Gleichzeitig wurden die Ultraschallprü-fungen bei diesen Radsatzwellen massiv „gespreizt“,also reduziert.Die S-Bahn in Berlin geriet nachweislich in die Kriseaufgrund der massiv reduzierten Wartungsintervalle,wegen ausgebliebener Instandhaltung und weil dreiWerkstätten komplett geschlossen und das Wartungs-und Instandhaltungspersonal mehr als halbiert wurde.Die entscheidende S-Bahnbaureihe 481/482 funktio-nierte seit ihrer ersten Auslieferung 1995 und bis 2005weitgehend tadellos – was ja bei neuen Bahnfahrzeugenheute nicht mehr die Regel ist. Zu den massiven Ausfäl-len kam es genau dann, als das Programm OSB – „Op-timierung S-Bahn“ – zu greifen begann, als also die In-standhaltung derart massiv zurückgefahren wurde.Damit soll die Bahnindustrie nicht komplett freige-sprochen werden. Sie ist jedoch Bestandteil in einemGesamtsystem, das falschen Vorgaben folgt: niedrigePreise, schnellere Entwicklung und hohe Gewinne beiZu Protokoll gegebene Reden
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19326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Sabine Leidig
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Herstellern und Deutsche Bahn AG. Richtig wären aberstattdessen die Ziele Solidität, Zuverlässigkeit und Kun-denkomfort!Jetzt haben wir also den Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG,vorliegen, der weitgehend einvernehmlich von Regie-rung, Bundesrat, Deutscher Bahn AG und den Schienen-fahrzeugherstellern getragen wird. Es liegt sogar einebenfalls gemeinsam entwickeltes „Handbuch Eisen-bahnfahrzeuge“, ein Leitfaden zur Herstellung undZulassung vor.Mit alldem sind wir einverstanden und stimmen die-sem Gesetzentwurf zu.Wir würden es allerdings auch für eine angemesseneGeste halten, wenn der Bundesverkehrsminister in dergleichen Öffentlichkeit, in der er die Bahnindustrie– und damit ja auch die Kolleginnen und Kollegen indieser Branche – herabgesetzt hat, diesen falschen Ein-druck geraderücken würde!Nun möchte ich aber noch auf drei Probleme hinwei-sen, die ich in diesem Zusammenhang sehe:Erstens ein paar Worte zum „Ausweg“, wonach– nach der Gesetzesnovellierung – die Bahnindustrieselbst als Hersteller die Zulassung beantragen und so-gar – ich zitiere – „als Halter in das Fahrzeugeinstel-lungsregister eingetragen werden , wenn zumZeitpunkt der Zulassung noch kein Abnehmer gefundenwurde“; so die entsprechende Passage aus der Begrün-dung der AEG-Änderung. Das heißt ja eigentlich, dassdie Schienenfahrzeugindustrie selbst als Eisenbahnver-kehrsunternehmen auftreten kann. Ich wurde darauf auf-merksam, weil in Italien der Autohersteller Ferrari imBündnis mit anderen privaten Unternehmern ersteHochgeschwindigkeitsstrecken betreiben will.Wir haben es ja in Deutschland bereits mit einer zu-nehmend zerklüfteten Landschaft der Schienenverkehrs-unternehmen zu tun. Im Fernverkehr soll im nächstenJahr mit locomore rail ein erster privater Anbieter aktivwerden. Künftig könnten auch Siemens, Bombardieroder Alstom selbst als Eisenbahnbetreiber auf den Planund ins Netz treten.Wir sehen diese Entwicklung bekanntlich kritisch.Wir treten für ein möglichst einheitliches Schienen-verkehrsangebot mit durchgängigem integralem Takt-fahrplan ein, bei dem Nah-, Regional- und Fernverkehrvernetzt werden. Die Liberalisierungs- und Konkurrenz-modelle stehen allerdings einer solchen Perspektive ent-gegen.Zweitens wird zwar dem Thema Sicherheit im Schie-nenverkehr jetzt vom Gesetzgeber größere Beachtunggeschenkt. Das ist gut so. Doch wie sieht es in der Praxisaus? Vor zwei Jahren war das Thema der nicht dauerfes-ten ICE-Achsen in aller Munde. Nachdem die DeutscheBahn AG eineinhalb Jahre lang – nach dem Achsbruchim Juli 2008 in Köln – geleugnet hatte, dass es da einProblem geben würde, gestand sie schließlich kleinlautein, dass alle ICE-3-Achsen und die Achsen der ICE-Dieseltriebfahrzeuge ausgetauscht werden müssten. Esdauerte dann aber nochmals gut eineinhalb Jahre, bisab Herbst 2011 mit dem Austausch der Achsen begonnenwurde. Dieser Austausch soll sich, so wird uns mit-geteilt, noch bis ins Jahr 2014 hinziehen! Dass esauch schneller gehen kann, zeigt das Beispiel der Berli-ner S-Bahn, wo ein weitgehend kompletter Achsenaus-tausch bei einem Großteil der S-Bahn-Fahrzeuge binneneines Jahres vollzogen wurde. Hier stellt sich die Frage,ob es erst mehrere Unfälle und massiven Druck gebenmuss, bis die Deutsche Bahn AG diesen elementarenSicherheitsanforderungen entspricht?Drittens ist mit der Novellierung des AEG das ThemaEisenbahnsicherheit auch für den Bundestag noch nichterledigt. Die wichtigste Frage bleibt, wie wir zu einerüberzeugenden und effizienten Überwachung des Schie-nenverkehrs kommen können: In den vergangenen zehnJahren wurden beim Eisenbahn-Bundesamt 20 ProzentPersonal abgebaut, aber die Aufgaben sind ausgeweitetworden. Dazu kommt, dass das EBA offenbar weit-gehend den Weisungen aus dem Hause Ramsauer folgt.Das jüngste und eklatanteste Beispiel dafür ist die Ge-nehmigung des Tiefbahnhofes Stuttgart 21, wo dieGleise ein Gefälle haben werden, das fünfmal größer ist,als in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung zuge-lassen. Kurz: Wir fordern, dass das EBA personell ge-stärkt und zu einer wirklich unabhängigen Institutionwird, die diesbezüglich dem Bundesrechnungshof ver-gleichbar sein könnte.
Zum vorliegenden Gesetzentwurf herrscht breitesEinvernehmen im Bundestag, nachdem die Koalition be-reit war, die Änderungsvorschläge des Bundesrates auf-zugreifen. Darüber freuen wir uns und stimmen deswe-gen dem Gesetzentwurf zu. Das Gesetz schafft mehrKlarheit und schreibt die Verantwortung der Herstellervon Bahnfahrzeugen stärker fest. Es ist richtig, diejeni-gen stärker in die Verantwortung zu ziehen, die dieFahrzeuge konstruieren; denn die Hersteller kennensich am besten damit aus. Es ist vollkommen konse-quent, den Herstellern eine stärkere Verantwortung fürdie Sicherheit und Funktionstüchtigkeit zuzuweisen. Wirkönnen uns vor allem die Frage stellen, warum das bis-her anders war. Mit dieser stärkeren Klarheit des Geset-zes sollte es insgesamt zu Verbesserungen kommen, dazivilrechtliche Auseinandersetzungen zwischen Herstel-lern und Käufern von Bahnfahrzeugen zukünftig eher ver-mieden werden. Fälle wie beim Talent 2, als etwa 100 neueZüge über zwei Jahre nicht fahren durften und stummvor sich hin rosteten, können wir so hoffentlich stärkerausschließen. Das ist im Interesse von Herstellern undEisenbahnbetreibern, aber natürlich auch von Kunden,die so schneller neue Wagen nutzen können.Wir begrüßen, dass die Koalition die Vorschläge desBundesrates übernommen hat. Im Bundesrat sah das janoch anders aus: Hier hatte Staatssekretär Ferlemannnoch die Aufnahme des Lärmschutzes zurückgewiesen.Wenn die Lärmschutzkartierung und die kostenfreie Da-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19327
Dr. Valerie Wilms
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tenlieferung jetzt im Bundes-Immissionsschutzgesetzverankert werden, können wir Grüne damit gut leben.Einmütigkeit ist in diesem Haus ja eher ungewöhn-lich. Beim Eisenbahngesetz war die Problematik sehr of-fensichtlich, und deswegen müssen wir uns hierübernicht streiten. Streiten werden wir uns sicher bei anderenProblemen, die noch ungelöst sind. Die heutige Geset-zesänderung geht ja auf die gebrochenen Radachsen anICEs zurück. Wir alle kennen den Bericht, der noch vielweiter gehende Vorschläge macht als der heutige Ge-setzentwurf. Ich will nur an das Thema Fahrgastrechteerinnern. Hier warte ich weiter auf einen von der Ver-kehrsministerkonferenz geforderten Bericht. Der sollteschon im Herbst vorliegen, und ich frage mich langsam,welchen Stellenwert das Bundesverkehrsministeriumden Rechten der Fahrgäste eigentlich einräumt. Ichhoffe, hier wird jetzt zügig nachgearbeitet.Neben den Sicherheitsproblemen fragen viele Men-schen aber auch, was wir Bundespolitiker tun, um denBahnverkehr leiser zu machen. Wir sind uns einig, dassdiese Problematik nicht unbedingt ins Eisenbahngesetzgehört. Ich erwarte jetzt von der Bundesregierung kon-krete Vorschläge, wann und wie der Schienenbonus fal-len soll oder ob die Koalitionsfraktionen einen Antragdazu machen, weil ihre eigene Regierung nicht voran-kommt. Wir können nicht auf den neuen Bundesver-kehrswegeplan warten und bis dahin mit alten Grenz-werten planen und den Leuten die Sachen vor die Nasesetzen. Wenn es so kommt, werden wir in 15 Jahren nochnach alten Regeln spielen!Auch bei der Konkretisierung lärmabhängiger Tras-senpreise sollte die Bundesregierung jetzt mal voran-kommen. Wann wird hier die Ressortabstimmung end-lich beendet sein? Die zwischen Bundesregierung undBahn beschlossene Eckpunktevereinbarung zur Einfüh-rung lärmabhängiger Trassenpreise vom Juli 2011 greiftzu kurz, da die leise Bremse – die LL-Sohle – noch nichtzugelassen ist und die Umrüstkosten höher liegen. Zwarsollen schon in diesem Jahr lärmabhängige Trassen-preise eingeführt werden, aber erst 2021/2022 sollen diePreise dann endlich auch spürbar steigen. Damit wirdein zu geringer Anreiz gesetzt, und wir fordern die Bun-desregierung auf, hier deutlich ambitionierter zu sein.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/8787, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8364 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschen-
rechte in Deutschland schützen, respektieren
und gewährleisten
– Drucksachen 17/5390, 17/6929 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Volker Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir debattieren heute über einen Antrag der Linken, derein Bild der Menschenrechtslage zeichnet, das mit derRealität wenig zu tun hat. Insofern kann ich Ihnen dieKritik an Ihrem Antrag nicht ersparen.Zu Beginn: Menschenrechtspolitik ist eine Quer-schnittsaufgabe. Das heißt, sie spielt in allen Politikfel-dern eine Rolle. Menschenrechte haben für uns eineganz besondere Bedeutung; denn sie haben in Deutsch-land Verfassungsrang. Wir sind durch internationaleKonventionen und Verträge auch völkerrechtlich an dieEinhaltung der Menschenrechte gebunden. Ich möchteganz besonders das Engagement der Bundesregierunghervorheben und vor allem Markus Löning, den Men-schenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, für dieAkzente, die er bei seiner Arbeit setzt, loben. Er war ge-rade erst in Guantánamo. Er hat sich also eines Themasangenommen, das nach wie vor auf der Agenda steht.Ich möchte ihm für sein Engagement ganz herzlich Danksagen.
Jetzt zum Antrag der Linken. Ich habe bereits gesagt,dass in ihm ein verzerrtes und verfälschendes Bild derMenschenrechtssituation gezeichnet wird. Er enthält zu-dem handwerkliche Fehler. Ich kann Ihnen nicht erspa-ren, darauf hinzuweisen. Auf Seite 4 Ihres Antrags neh-men Sie Bezug auf den Staatenbericht aus dem Jahre2001. Dieser ist mittlerweile über zehn Jahre alt. Zu demZeitpunkt, als Sie den Antrag geschrieben haben, lag be-reits der Staatenbericht aus 2008 vor. Warum Sie ihn
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19328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Marina Schuster
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nicht erwähnt haben, weiß niemand. Wahrscheinlich ha-ben Sie ihn übersehen, oder der neue Bericht passte nichtzu Ihrer Argumentation. Ich plädiere dafür, dass Sie zu-künftig Anträge vorlegen, die auf aktuellen Informatio-nen basieren; das wäre dann ein konstruktiver Diskus-sionsbeitrag.Da Sie den alten Bericht bevorzugt haben, stimmt IhrReferenzrahmen nicht. Sie weisen in Ihrem Antrag aufMassenarbeitslosigkeit hin, obwohl wir heute glückli-cherweise die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wie-dervereinigung haben. Ich finde, das sollte man anerken-nen.
Manchmal frage ich mich, ob Sie aus Berlin nicht he-rauskommen. Zumindest kommen Sie nicht oft nachBayern. Dort gibt es eine Arbeitslosenquote von 3,4 Pro-zent. Insofern geht Ihr Antrag an der Wirklichkeit vor-bei. Ich frage mich: Wie fühlt sich ein junger Spanier,der einen Ausbildungsplatz sucht? Dort gibt es eine Ar-beitslosenquote von fast 50 Prozent. Ich glaube, manmuss die Dimensionen zurechtrücken.
Natürlich gibt es in Deutschland Bereiche, um die wiruns besonders kümmern müssen. Ich denke an die Inte-grationspolitik. Ich denke daran, dass es nach wie vorUnterschiede bei den Einkommen von Männern undFrauen gibt und dass Kinder in armen, auch bildungs-armen Verhältnissen groß werden. Es gibt auch großenUmsetzungsbedarf bei der UN-Behindertenrechtskon-vention.
Dazu gibt es in den Landtagen erste Beschlüsse. Sie aberblenden die Realität aus und greifen einzelne Punkte ausverschiedenen Themenbereichen auf. Das ergibt ein sehrverzerrtes Bild. Sie vergessen dabei auch, dass vieleAufgaben nicht allein in der Hand der Politik bzw. desGesetzgebers liegen, sondern dass wir alle gefordertsind. Auch das gehört zur Debatte.Ich komme zum Forderungsteil. In Ihrem Antrag sindForderungen aufgeführt, die keine finanzielle Hinterle-gung haben und keine Gesetzentwürfe implizieren. Da-her frage ich mich: Wie ernst meinen Sie es mit IhremAntrag, wenn Sie die Mittel, die Sie fordern, nicht klarbenennen? Man sollte die Realität zur Kenntnis nehmen.Im Titel Ihres Antrags ist von Anspruch und Wirklich-keit der Menschenrechtspolitik die Rede. Ich muss sa-gen: Sie sind zumindest meinem Anspruch nicht gerechtgeworden und der Wirklichkeit auch nicht.
Ganz zum Schluss möchte ich einige Bereiche exem-plarisch herausgreifen; denn wir können in dieser De-batte natürlich nicht alle Politikfelder behandeln. Sie kri-tisieren in Ihrem Antrag, dass wir die Yogyakarta-Prinzipien nicht umsetzen. Dabei hat die schwarz-gelbeRegierung in diesem Bereich sehr viel erreicht.Erstens. Wir haben die homosexuellen Lebenspartner-schaften bei der Erbschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer,beim BAföG und beim Beamten-, Richter- und Solda-tenrecht mit der Ehe gleichgestellt.Zweitens. Im Jahr 2011 haben wir endlich dieMagnus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg gebracht, umdurch Bildung und Forschung der Diskriminierung vonHomosexuellen entgegenzuwirken.Drittens. Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeiterstmals ein verbindliches Menschenrechtskonzept. Dieaktuelle Meldung aus Uganda, dass der Gesetzentwurf,der die Todesstrafe für Homosexuelle vorsieht, erneuteingebracht worden ist, belegt, dass dieses Konzept not-wendig war und richtig ist.Es gibt Bereiche, um die wir uns besonders kümmernmüssen. Man sollte aber auf der Grundlage von Berich-ten arbeiten, die der Bedeutung der Debatte gerecht wer-den. Davon gibt es eine ganze Reihe. Auch verschiedeneNGOs haben umfassende Berichte zur Menschenrechts-lage in Deutschland vorgelegt. Diese sind für uns einewichtige Informationsquelle. Unsere Aufgabe ist, die Si-tuation ständig zu überprüfen und zu verbessern. Daranarbeitet die Bundesregierung, und diesen Weg werdenwir konsequent weitergehen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! „Zur Arbeit für die Menschenrechte gehört dasFegen vor der eigenen Tür“, hat Willy Brandt imJahre 1987 gesagt. Ich denke, er hatte recht, als er das soformuliert hat. Die Menschenrechte sind in der Verfas-sung der Bundesrepublik Deutschland fest verankert.Doch wie sauber haben wir vor unserer Tür gefegt, undwie erfolgreich sind die Menschenrechte in der Bundes-republik Deutschland umgesetzt? Diese Frage zu beant-worten, ist unter anderem Aufgabe des Ausschusses fürMenschenrechte in diesem Parlament, der sich nicht nurmit den Menschenrechten in den auswärtigen Beziehun-gen beschäftigt, sondern auch die Situation in der Bun-desrepublik Deutschland im Fokus hat.Der Antrag der Linksfraktion, über den wir heuteAbend diskutieren, enthält ein Sammelsurium von The-men, die eher die WSK-Rechte betreffen. Die Bundesre-gierung wird darin aufgefordert, die Menschenrechte zuschützen. Daran ist an sich nichts Schlechtes. Aber ichdenke, der Antrag ist irreführend. Er ist definitiv nichtder große Wurf.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19329
Angelika Graf
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Ich muss sagen: Ich empfinde ihn als ziemlich liebloszusammengeschustert.
Ich habe das Gefühl, hier wurden Texte verwertet, dieschon in anderen Anträgen zu lesen waren.
Ich habe zwar keine Textexegese betrieben, aber es liestsich so.Sie beschreiben Deutschland in Ihrem Antrag als eindüsteres, ganz hinterwäldlerisches Entwicklungsland inSachen Umsetzung der Menschenrechte, vergleichbarmit den Ländern, in die wir hin und wieder reisen, um imDialog mit den dortigen Regierungen die Einhaltung derMenschenrechte einzufordern. Ohne überheblich wir-ken zu wollen – und bei aller Sympathie für einen enga-gierten Kampf für menschenrechtliche Belange –, mussich feststellen: Der Antrag atmet eine falsche, sehr sub-jektive Betrachtungs- und Herangehensweise. Er be-schreibt die Realität in Deutschland nur unter pessimisti-schen Vorzeichen, und – Frau Schuster hat es schongesagt – er bezieht sich definitiv auf den Staatenberichtaus dem Jahre 2001, obwohl der entsprechende Berichtaus dem Jahre 2008 vorliegt. Wer so arbeitet, arbeitetnicht reell.
In den Berichten internationaler Organisationen wird diegegenwärtige Situation in Deutschland jedenfalls nichtgenerell so negativ eingeschätzt, wie Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen, es in Ihrem Antrag tun.Natürlich brauchen wir eine menschenwürdige Exis-tenzgrundlage für sozial Schwache. Es gibt zu vieleMenschen, die – verschuldet oder unverschuldet – untermenschenunwürdigen Bedingungen leben. Ich gebe Ih-nen recht: Altersarmut ist ein ernsthaftes Problem. DieAnmerkung sei aber erlaubt: Das Nichtvorhandensein ei-nes bedingungslosen Grundeinkommens ist beileibenoch keine Menschenrechtsverletzung.
Auf der anderen Seite ist richtig: Es gibt Defizite beiden Menschenrechten – auch in Deutschland. Ein ganz-heitlicher Ansatz bedeutet, besonders diejenigen zuschützen, die am häufigsten von Benachteiligungen be-troffen sind. Das sind Frauen, Menschen mit Migrations-hintergrund, Alte, Jugendliche und vor allem Menschenmit Handicap. Hier geht es zum Beispiel um Gewalt ge-gen Frauen, Lohndiskriminierung, das fehlende kommu-nale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer und die Aus-grenzung Älterer vom Arbeitsmarkt. Auch Transgender,worüber wir in diesem Hohen Hause vor Kurzem eineDebatte geführt haben, in der ich die Position der SPDdazu dargelegt habe, ist ein solcher Punkt. In vielen Be-reichen sind zudem Behinderte nicht genügend inklu-diert.Auch im Bereich der Flüchtlingspolitik gibt es defini-tiv noch Verbesserungsbedarf. Die Abschiebung vonFlüchtlingen, die zum Beispiel aus Syrien kommen undbei denen die Gefahr besteht, dass sie von dort aus wie-der nach Syrien abgeschoben werden, ist nicht hinnehm-bar.
Unsere Aufgabe ist es, benachteiligten Menschen dieMöglichkeit zu geben, ihre legitimen Ansprüche einzu-fordern.Ich bin völlig bei Ihnen, wenn Sie einen aktivenKampf gegen den latenten und sichtbaren Rassismuseinfordern. Initiativen gegen Rechtsextremismus fehlt esseit dieser schwarz-gelben Regierung an der Finanzie-rung. Das haben wir heute früh ausführlich besprochen.
Ich hoffe, dass die Erkenntnis über die Täterschaft beiden grausamen Morden an türkischstämmigen Mitbürge-rinnen und Mitbürgern bei Ihnen, liebe Kolleginnen undKollegen von der Union, einen nachhaltigen Umden-kungsprozess in Gang gesetzt hat.
Kommen wir zum Thema „Konventionen und Proto-kolle“. Das für die Antidiskriminierungspolitik zentrale12. Protokoll der EMRK sollte schnellstens vonDeutschland ratifiziert werden; da gebe ich Ihnen recht.Das gilt ebenso für das ILO-Übereinkommen 169, dasdie Rechte indigener Völker betrifft. Darüber haben wiruns erst gestern im Ausschuss unterhalten. Ich denke,hier gibt es eine ganze Reihe von Punkten, die man indiesem Zusammenhang erwähnen könnte, zum Beispieldie vollkommen unzureichende Umsetzung der Behin-dertenrechtskonvention – das erkenne ich, wenn ichmich mit behinderten Menschen unterhalte – und denviel zu spät vorgelegten Nationalen Aktionsplan der Re-gierung dazu. Ich denke, um behinderten Menschen einegleichberechtigte Teilhabe am Leben zu ermöglichen,wäre hier mehr nötig gewesen.
Erfreulich ist aber, dass die Bundesfamilienministerinin diesen Tagen endlich das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat. Auf die Not-wendigkeit hat die SPD bereits im vergangenen Jahr hin-gewiesen. Im Flüchtlingsbereich besteht aber noch im-
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19330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Angelika Graf
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mer dringender Handlungsbedarf. Wenn ich auf diePolitik schaue, dann habe ich noch immer das Gefühl,dass das Ausländerrecht über der UN-Kinderrechtskon-vention steht.Ich denke, auch auf formaler Ebene muss die Bundes-regierung noch weitere dringende Schritte unternehmen.Wie lange muss denn noch über die Ratifizierung desFakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt über ein Indivi-dualbeschwerdeverfahren beraten werden? Wenn je-mand nicht selbst die notwendigen weiteren Schritte ein-leitet, also vor der eigenen Haustür ordentlich fegt, dannfehlt es ihm an Glaubwürdigkeit. Ich denke, an dieserGlaubwürdigkeit sollten wir alle arbeiten.
Fest steht: Wir müssen an einer bestmöglichen Um-setzung der Einhaltung der Menschenrechte für die inunserem Land lebenden Menschen festhalten, also vorder eigenen Türe gründlich fegen. Das müssen wir tun,auch wenn wir uns über einen Antrag wie den, den wirheute behandeln, ein bisschen ärgern, weil er den Tatsa-chen nicht gerecht wird und die falschen Schwerpunktesetzt. Aber so ist das Leben.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorlie-gende fünfseitige Antrag leitet mit einem wunderbarenZitat ein:Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung al-ler staatlichen Gewalt.Völlig richtig: Das ist in Art. 1 des Grundgesetzes fest-gehalten.Aber damit endet das Positive dieses Antrages auchschon. Denn anschließend zeichnen Sie ein Bild vonDeutschland, das von Menschenrechtsverletzungen ge-genüber Migranten, Behinderten, Kindern, Alten undaufgrund sexueller Orientierung und von fehlenden so-zialen Rechten geprägt ist. So war es vielleicht in derDDR, aber so ist es in der Bundesrepublik Deutschlandvon Anfang an nicht gewesen.
Der Antrag ist meine sechs Minuten Redezeit nichtwert. Ich werde sie nicht ausschöpfen.
Das Stichwort „Massenarbeitslosigkeit“ ist schon an-gesprochen worden. In welchem Land leben Sie? GehenSie mit verbundenen Augen durchs Land? Sehen Sie,dass sich Arbeitslosenströme zu den Suppenküchen wäl-zen? Ich sehe das nicht.
Wir haben eine so niedrige Arbeitslosenquote wie seitJahrzehnten nicht mehr.
Mit Sicherheit gibt es auch in unserem Lande Dinge,die wir verbessern können und sollten. Aber das allesfällt nicht unter den Begriff „Menschenrechtsverletzun-gen“; es sind Punkte, die den sozialen und menschlichenBereich betreffen. Wir sind sicherlich kein perfektesLand – die eine oder andere Verbesserung wünschte ichmir auch –, aber man kann nicht sagen, dass in diesemLand Menschenrechte verletzt werden.
Ein Blick auf den Globus zeigt, dass Deutschland zu denwenigen Ländern gehört, in denen die Menschen ihreWürde bewahren können und Menschenrechte einenStellenwert haben. Hier sind die Menschenrechte nichtnur ein Lippenbekenntnis.Frau Kollegin Graf, Sie haben vieles angemerkt, waswir als Regierungskoalition noch machen könnten. Aberauch die rot-grüne Regierungskoalition hätte einiges ma-chen können.
Dennoch sage ich: Alle Regierungen, auch die Ihrige,hat Menschenrechtspolitik betrieben.
Die jetzige schwarz-gelbe Koalition macht eine hervor-ragende Menschenrechtspolitik.
Das ist uns ein Anliegen. Wir machen das nicht halbher-zig.Aber alles hat seine guten Seiten. Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen von den Linken, auch Ihr An-trag muss nicht im Papierkorb landen.
Er kann eine segensreiche Wirkung entfalten. Fahren Sienach Kuba! Bringen Sie ihn Fidel Castro, und sagen Sieihm, er solle all das umsetzen!Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19331
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Das Wort hat die Kollegin Katrin Werner für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir reden heute über die Menschenrechte inDeutschland zwischen Anspruch und Wirklichkeit, auchwenn es einigen von Ihnen nicht passt, weil Sie meinen,es gehe uns prächtig und wir hätten keinen Grund zumJammern,
unsere Wirtschaft brumme, der Aufschwung sei da, dieArbeitslosigkeit sinke und Deutschland sei eine Wohl-standsinsel mitten im krisengeschüttelten Europa.
Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Etwa 12 Millio-nen Menschen gelten als armutsgefährdet.
Das entspricht etwa jedem siebten Menschen. Dies gehtaus dem Armutsbericht 2011 hervor, den der ParitätischeWohlfahrtsverband in Berlin vorstellte.
Laut Bertelsmann-Stiftung wachsen in Deutschland fast20 Prozent aller Kinder in Armut auf und gelten als ar-mutsgefährdet. Das ist jedes fünfte Kind. Allein in mei-ner Heimatstadt Trier leben 21 Prozent der Kinder unterdrei Jahren in Armut.
In Pirmasens, 130 Kilometer von Trier entfernt, sind es37 Prozent.Die Ursache von Kinderarmut ist meist die Einkom-mensarmut der Eltern. Besonders schwer trifft es Allein-erziehende und Frauen. Wer von seiner Hände Arbeit dieeigene Familie nicht ernähren kann, wer von Hartz IVleben muss, dem bleibt kein Geld für Bildung oder Frei-zeit. Obwohl sich die meisten aller Eltern mit all ihrerKraft und Liebe um ihre Kinder kümmern, müssen sieihnen oft – und zwar sehr oft – sagen: Das können wiruns nicht leisten. Sie können ihren Kindern nur ge-brauchte Kleider kaufen. An der Klassenfahrt kann derSohn nicht teilnehmen. An Musikunterricht für dieTochter ist nicht zu denken, und Urlaub kommt schongar nicht infrage.
Verstehen Sie das unter einem würdevollen Leben fürKinder? Was tun Sie damit den Eltern dieser Kinder an?Kinder aus Hartz-IV-Familien – das weiß inzwischenjeder – sind schlechter ernährt. Fest steht auch, dass ihreBildungschancen deutlich schlechter sind. Oft wird Kin-derarmut in Deutschland in Familien von Generation zuGeneration weitergereicht. Auf Kinderarmut folgt meistJugendarmut, und dann kommt, wenn überhaupt, eineprekäre Beschäftigung. Damit ist dann auch Armut imAlter vorprogrammiert. Das alles widerspricht derWürde von Kindern zutiefst.
Für Linke gehören Kinderrechte ins Grundgesetz. Siemüssen unantastbar sein.Viele Menschen sind trotz Arbeit arm. Es gibt Kü-chenhilfen in Trier, die knapp 5 Euro pro Stunde bekom-men. Überstunden werden mit einer Gratispizza undBier entgolten. Wie soll man damit eine Familie ernäh-ren?
Über 1 000 Menschen müssen in Trier pro Woche zurTafel gehen. Gehen Sie einfach einmal zu einer Tafelund sehen Sie sich die Menschen an, die oft unverschul-det in die Armutsfalle geraten sind und sich für vier Äp-fel, drei Bananen und vielleicht eine Zitrone in einer lan-gen Schlange anstellen müssen. Alle Achtung vor denfreiwilligen Helfern der Tafel! Aber dass wir Tafeln inDeutschland überhaupt brauchen, das ist ein Skandal.
Ist das ein würdevolles Leben? Die Linke sagt: Leih-arbeit, unsichere Beschäftigung und Armutslöhne verlet-zen die Würde von Millionen Menschen in Deutschland.
Die Linke sagt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von10 Euro pro Stunde ist nötig.
Wir brauchen den Mindestlohn, um die Würde der Men-schen durchzusetzen. Ohne Mindestlohn gibt es keinesozial gerechte Teilhabe in der Gesellschaft.
Was ist außerdem mit der Würde von Migrantinnenund Migranten?
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19332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Katrin Werner
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Über 7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrundhaben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Nicht-EU-Ausländer dürfen selbst auf kommunaler Ebene nichtwählen, obwohl sie ihre Steuern hier zahlen. Das ist einSchlag gegen unsere Demokratie. Die Linke fordert: Er-leichtern Sie endlich die Einbürgerung, und lassen Siedabei mehrfache Staatsangehörigkeiten zu! Demokratiebraucht politische Mitbestimmung. Menschenrechte sindunteilbar.
Die Linke fordert: Soziale Grundrechte gehören insGrundgesetz.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Tom Koenigs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Werner, ein solcher Rundumschlag nützt
nichts. Man könnte viel präziser sein. Die internationa-
len Gremien und Vertragsorgane geben Deutschland
nämlich sehr präzise Ratschläge, wie man den Men-
schenrechtsschutz verbessern kann. Das Problem ist nur,
dass sich die Bundesregierung beratungsresistent zeigt.
Zugleich gibt man sich betroffen, wenn andere Regie-
rungen ebenso stur auf Kritik in Menschenrechtsbelan-
gen nicht reagieren.
Da, wo es starke Menschenrechtsinstitutionen gibt,
verbessert sich in der Regel die Menschenrechtslage.
Das hat auch die Bundesregierung in ihrem letzten Men-
schenrechtsbericht festgestellt. Trotzdem haben solche
Institutionen des Menschenrechtsschutzes in Deutsch-
land einen schweren Stand. Ich erinnere an die Bun-
desstelle zur Verhütung von Folter, die nach Vorgabe der
internationalen Anti-Folter-Konvention, CAT, mehr als
300 Gefängnisse und Haftanstalten überprüfen soll.
Diese Aufgabe soll sie allerdings mit drei Mitarbeitern
erfüllen. Das kann nicht funktionieren.
Zugleich hat der Anti-Folter-Ausschuss des UN-Men-
schenrechtsrates im November 2011 kritisiert, dass die
Bundesregierung ihren Bericht zur Einhaltung der Anti-
Folter-Konvention zwei Jahre zu spät eingereicht hat.
Das muss auch nicht sein. Wie soll das ein Beobachter
zum Beispiel aus China anders interpretieren, als dass
die Umsetzung des Folterverbots die Deutschen nicht in-
teressiert?
Ein anderes Beispiel ist die schleppende Umsetzung
der internationalen Menschenrechtsabkommen in
Deutschland. Dabei geht es nicht nur um das Fakultativ-
protokoll zum Sozialpakt, über das wir im Plenum und
im Ausschuss schon einige Male diskutiert haben. Auch
das Zusatzprotokoll des UN-Kinderrechtsprotokolls zur
Individualbeschwerde – endlich unterzeichnet –
ist noch nicht ratifiziert. Ebenfalls nicht umgesetzt oder
unterzeichnet – Frau Graf hat das schon gesagt – sind die
ILO-Konvention 169 zur Stärkung der Rechte indigener
Völker in aller Welt, die UN-Konvention gegen Korrup-
tion, die Internationale Konvention zum Schutz der
Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehöri-
gen und das Internationale Übereinkommen zum Schutz
aller Personen vor dem Verschwindenlassen.
Seit 30 Jahren wird geprüft, ob das Protokoll Nr. 7 zur
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten des Europarats nun endlich unterzeich-
net werden kann oder vielleicht doch nicht. In diesem
Protokoll geht es um das Recht, wegen derselben Sache
nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu wer-
den, und andere Grundsätze eines fairen Verfahrens. Was
hindert eigentlich Deutschland seit Jahrzehnten an der
Ratifizierung? Warum diese unwürdige Zurückhaltung?
Deutschland muss diese Abkommen und Protokolle
nicht nur deswegen unterzeichnen, weil sie Missstände
hier beheben sollen, wir müssen vielmehr in unserer
Menschenrechtspolitik vorbildlich sein – das sagen Sie
immer wieder –, um gegenüber anderen Regierungen
glaubwürdig zu sein. Wenn wir unsere eigenen Men-
schenrechtsinstitutionen schwach halten, ohne Not,
wenn wir internationale Abkommen aus opportunisti-
schen Gründen nicht unterzeichnen, ohne Not, dann
wenden wir eben Double Standards, doppelte Standards,
an und entwerten damit Deutschlands Engagement für
die Menschenrechte, auf das wir so stolz sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was ist dem noch hinzuzufügen? Es ist vonverschiedenen Seiten sehr deutlich gemacht worden, umwas es eigentlich in dem Antrag der Linken geht. An-spruch und Wirklichkeit klaffen hier auseinander. Wennman die Wirklichkeit darstellen will, dann muss man sieauch realistisch darstellen. Überhöhungen, Verzerrungender menschenrechtlichen Lage in Deutschland oder ver-nichtende Kritik sind fehl am Platz. Einer meiner Vor-redner hat gesagt, Deutschland werde wie ein kleinerStaat irgendwo am Rande behandelt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19333
Frank Heinrich
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Das trifft die Situation nicht. Ihr Antrag beginnt miteinigen Zeilen – Frau Steinbach, Sie hatten darauf ver-wiesen –, die wir alle unterschreiben würden; sie stehenaber im Gegensatz zu Ihrer folgenden Darstellung derWirklichkeit. Durch Ihre Einleitung wird deutlich, dassdie Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist. Das Grundgesetzist die Grundlage, und zwar eine gute Grundlage, unse-res Staates. Dann aber reden Sie davon, als würden wirin Sachen Menschenrechte, um einen Vergleich mit demFußball herzustellen, in der Kreisklasse spielen. Wirspielen aber zumindest in der Bundesliga oder sogar inder Champions League. So bewerten es zumindest an-dere Staaten.Wir sind vielleicht nicht auf Platz 1, 2 oder 3, unddeshalb lassen wir uns gerne kritisieren. Ich danke Ih-nen, Herr Koenigs, dass Sie das klargestellt haben.Letztlich ist dieser Antrag in sich selbst nicht schlüssig,weil er ein vernichtendes Urteil fällt, das nicht zutref-fend ist.
Sie suggerieren, dass Deutschland einen bestimmtenStatus habe, der so aber weder innerhalb des Landesnoch außerhalb des Landes wahrgenommen wird.Heute Morgen gab es eine kleine Konferenz im Aus-wärtigen Amt. Auf dieser Konferenz wurde sehr deut-lich, wie die Bewertung der Menschenrechtslage inDeutschland ausfällt. Sie aber listen wahllos – Kollegenhaben das als Sammelsurium bezeichnet – Menschen-rechtsverletzungen auf. Wir wissen um diese Dinge, weilwir die entsprechenden Berichte gelesen haben. Wir be-greifen sie als Aufforderung, die Menschenrechtslage zuverbessern, so wie ein Fußballverein, um im Bild zubleiben, der auf Platz 5 der Bundesliga steht, sich natür-lich verbessern will. Das, was Sie kritisiert haben, neh-men wir als Auftrag.Ich leugne nicht, dass es diese Fälle gibt. Ich frageaber erneut: Wo bleibt das Maß – Frau Schuster hat ge-fragt: Wo bleibt die Dimension? – bei der Diskussion,die wir heute führen. Sie malen ein Bild, das nichts, aberauch gar nichts mit den Realitäten in der BundesrepublikDeutschland im Jahr 2012 zu tun hat.
Ich sage noch einmal: Ich weiß um die Dinge. Wir ha-ben die Berichte gelesen. Sie offensichtlich nicht, weilSie einige der Situationen in Ihrem Antrag gar nicht auf-gegriffen haben. Uns erscheint die Forderung absurd,das Grundgesetz mit der Einfügung einer Reihe von Ein-zelrechten künstlich aufzublähen. Das Grundgesetz isteben die Grundlage auch für die Ratifizierung des Paktsüber die WSK-Rechte, die ja bereits 1973 erfolgt ist.
Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Alpers?
Bitte.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Sie haben ge-
rade gesagt, das, was wir gemacht haben, habe keinen
Bezug zur Realität.
Werder Bremen steht auf Platz 5 der Bundesligatabelle.
Sie haben recht: Auch wir Bremer und Bremerinnen
möchten besser werden. Wir haben sehr genau hinge-
schaut, wo wir stehen. Als Bildungspolitikerin sage ich,
und dabei bleibe ich: Bildung ist ein Menschenrecht.
Gemäß UN-Konvention soll die Rate der Analphabeten
weltweit halbiert werden. Wir haben in Deutschland
7,5 Millionen strukturelle Analphabeten. Wir haben
1,5 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und
29 ohne Berufsausbildung.
Wir könnten morgen früh über 2 Millionen jungen Men-
schen eine Ausbildung ermöglichen. Das ist eines von
vielen Beispielen.
Ich möchte uns jetzt nicht mit der Dritten Welt ver-
gleichen. Wir sind hier in der ersten Welt.
Ich finde, wir sollten uns genau anschauen, wo wir sel-
ber stehen.
Deshalb frage ich Sie: Stimmen Sie mit mir überein,
dass wir ganz genau hinschauen müssen, unsere Bedin-
gungen realistisch einschätzen müssen und uns der
Schwierigkeiten und Probleme, die wir noch haben, an-
nehmen müssen?
Sie können es nicht damit abtun, zu sagen, wir sähen die
Realität nicht. Wir alle sehen die Menschen, und wir se-
hen alle, welche Bildungsanstrengungen noch nötig sind,
Herr Kollege.
Liebe Frau Kollegin, meine Kritik – ich habe daszwei- oder dreimal in meiner Rede gerade gesagt – gehtnicht dahin, dass wir die Einzelfakten, die in den Berich-ten dargestellt werden, leugnen. Wir haben im Übrigenmehr Berichte gelesen als Sie. Das Maß und die Art und
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19334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Frank Heinrich
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Weise allerdings, wie Sie Elemente aus diesen Berichtenin Ihrem Antrag zusammengefügt haben, disqualifiziertdie Aussage Ihres Antrags. Damit kommen wir nichtklar.Ich habe gerade ebenfalls gesagt, dass wir bereit sind,zu arbeiten, um von dem Platz, auf dem wir stehen, wei-ter nach vorne zu rücken. Das ist uns wichtig. Es gehtnicht darum, dass wir Einzelne benachteiligen; Sie ha-ben Beispiele in Ihrem Antrag aufgezählt.Ich finde auch die Art und Weise, in welch vermesse-ner Form Sie das degradieren, was unseren Staat aus-macht, nicht angemessen.
Gerade weil die Menschenrechte, hier insbesondere dieWSK-Rechte, also die wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Menschenrechte, so eine wichtige Rolle inunserem Land spielen, hat sich die Bundesregierung zueiner regelmäßigen Berichterstattung verpflichtet.Wenn man nun in der Bundesliga und möglichst auchin der Champions League spielen will, um noch einmaldieses Bild zu benutzen, dann muss man auf hohem Ni-veau überprüfbar sein. Die Prüfberichte belegen, dassman sehr genau hinschaut. Evaluation trägt dazu bei,dass die Einhaltung der Menschenrechte in unseremLand gesichert ist. Dieser setzen wir uns aus. Der5. Staatenbericht, auf den Sie sich unter anderem bezie-hen und der 2008 erstellt und 2011 ergänzt wurde, redetvon der hohen Qualität entsprechender Bemühungen inunserem Land.
Unter anderem wird den Arbeitsmarktreformen in un-serem Land hohe Qualität zuerkannt. Gerade zu dem,was Sie als Menschenrechtsverletzung beschreiben,nämlich die hohe Massenarbeitslosigkeit in unseremLand, wird geschrieben, dass die Arbeitslosigkeit aufdem niedrigsten Stand seit 20 Jahren ist.
– Entschuldigen Sie, aber diese Aussage steht den Stan-dards und den Tatsachen, die Sie beschreiben, diametralgegenüber.
Das gilt auch für die Annahme von Zielen, um die wirk-same Umsetzung des Nationalen Integrationsplans si-cherzustellen.Das waren nur zwei Beispiele. Darüber hinaus – dassteht nicht in dem Bericht – müsste man weitere Maß-nahmen hinzufügen, wie das Bildungs- und Teilhabepa-ket von 2011 und die mittlerweile eingeführten Bran-chenmindestlöhne. Bitte halten Sie mit uns auchFolgendes fest: Es gibt Defizite, auf die der Bericht hin-weist; die räumen wir auch ein. Aber wir wollen sienicht überhöhen. Wir wollen sie in einem vernünftigenMaß betrachten.Die Verwirklichung der Menschenrechte ist nichtseinfach Gegebenes, das man hinnimmt, sondern etwas,das man anstrebt und wofür man kämpft. In diesemSinne wird die Bundesregierung für eine Umsetzung derForderungen des Staatenberichtes bis zum nächstenStaatenbericht 2016 weiter arbeiten. Denn wir wollenbesser werden als bis dato. Ich weise diese maßlose Ver-zerrung des Bildes unseres Landes allerdings entschie-den zurück.
International bescheinigt man Deutschland, wie zuBeginn erwähnt, einen hohen Stellenwert. Sie werdenverstehen, dass wir den Worten und dem Wesen einessolchen Antrags nicht zustimmen können.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, wünscheuns eine gute Abstimmung und einen schönen Feier-abend.Danke schön.
Bis zu Letzterem haben wir hier noch ein kleines Pen-sum zu bewältigen, allerdings ohne weitere Debatten.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zudem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „VomAnspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutsch-land schützen, respektieren und gewährleisten“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/6929, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/5390 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, derFDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ge-gen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die geodätischen Referenzsysteme, -netzeund geotopographischen Referenzdaten des
– Drucksache 17/7375 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/8634 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael FrieserGerold ReichenbachManuel HöferlinUlla JelpkeDr. Konstantin von NotzWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19335
Vizepräsidentin Petra Pau
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Frieser für die Unionsfraktion, Gerold Reichenbach fürdie SPD-Fraktion, Manuel Höferlin für die FDP-Frak-tion, Jan Korte für die Fraktion Die Linke undDr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Bis vor 20 Jahren war es notwendig, eine gedruckte
Landkarte in die Hand zu nehmen, um geografische,
topografische, klimatische oder politische Sachverhalte
eines Gebietes auf der Erde zu veranschaulichen und zu
dokumentieren. Im Vergleich dazu haben wir eine Revo-
lution der Nutzung von Geodaten hinter uns: Es gehört
mittlerweile zu unserem Alltag, dass Menschen mit ih-
rem Smartphone auf der Suche nach Restaurants, Ge-
schäften, Kinos, Museen oder anderen Treffpunkten
durch die Straßen eilen. Viele Autofahrer können sich Ih-
ren Wochenendausflug ohne Navigationsgerät schon
nicht mehr vorstellen.
Geodaten spielen heute aber auch beispielsweise in
den Bereichen Raumplanung, Verkehrslenkung, Um-
welt- und Naturschutz, Landesverteidigung, Innere
Sicherheit, Zivilschutz, bei Versicherungen, in der Ge-
sundheitsvorsorge sowie Land- und Forstwirtschaft eine
bedeutende Rolle.
Geoinformationen sind durch die digitale Revolution
der Kommunikationstechnologie zu einem kostbaren
Wirtschaftsgut geworden. Sie sind in ihrer digitalen
Form einfach und schnell zu transportieren, sie lassen
sich schnell verarbeiten. Unzählige Unternehmen sind
gegründet worden, um Geodaten zu erheben, zu verar-
beiten und zu veredeln.
Die Digitalisierung der Geodaten bietet nicht nur
neue Formen der Nutzung, sondern fordert in erster Li-
nie vom Gesetzgeber tätig zu werden und neue Regelun-
gen zu schaffen. Eine vielfältige und effiziente Nutzung
von Georeferenzdaten setzt voraus, dass sie in einheit-
licher und bedarfsgerechter Qualität bereitgestellt
werden. Bisher bestehen für die von Bundesbehörden
erhobenen, verarbeiteten und genutzten Geodaten un-
terschiedliche Standards. Dies hat zur Folge, dass die
nichtharmonisierten Daten mit unterschiedlichen Quali-
tätsstandards für eine fachübergreifende Nutzung mit
hohem technischem Aufwand und in personalintensiven
Verfahren harmonisiert werden müssen. Dies würde ent-
fallen, wenn für alle Stellen einheitliche qualitative und
technische Standards gelten würden.
Mit dem von der Bundesregierung dem Bundestag
vorgelegten Bundesgeoreferenzdatengesetz unterstüt-
zen wir den Zukunftsmarkt der Geoinformationen. Da-
mit wird die Rolle verdeutlicht, die verlässliche und ak-
tuelle Geodaten für unsere Gesellschaft spielen.
Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie neue Ge-
schäftsfelder erschließen können und so bessere Infor-
mationen für Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung ge-
stellt werden. Durch die Vernetzung von Geodaten
können zudem Entscheidungsprozesse innerhalb von öf-
fentlichen Verwaltungen effizienter und effektiver wer-
den.
Die Bundesregierung will deshalb ein Qualitätszei-
chen setzen. Sie will die flächendeckende Bereitstellung
standardisierter, qualitativ hochwertiger Georeferenz-
daten für den Bund sicherstellen. Der Gesetzentwurf
dient dazu, den rechtlichen Vorgaben, die sich in erster
Linie aus der Umsetzung der INSPIRE-Richtlinie der
Europäischen Union ergeben, und den Anforderungen
der Nutzer hinsichtlich der Versorgung mit Geoinforma-
tionen gerecht zu werden. Bund, Länder und Kommunen
werden angehalten, amtliche Geoinformationen in ein-
heitlichen Datenstandards aufzubereiten und nutzer-
freundlich im Internet anzubieten.
Der Gesetzentwurf gibt den betroffenen Behörden des
Bundes, die Geodaten erheben und verarbeiten, die Ein-
haltung bestimmter qualitativer und technischer Stan-
dards vor. Die Qualitätsstandards sollen insbesondere
Aktualität, Vollständigkeit und Homogenität sicherstel-
len, sodass eine breite Nutzung nachhaltig, aktuell und
bedarfsgerecht sichergestellt ist.
Der Bund will sich bei der Festlegung der Standards
eng mit den Ländern abstimmen. Eine erfolgreiche Geo-
informationspolitik ist nur auf der Grundlage einer en-
gen, konstruktiven Zusammenarbeit von Bund und Bun-
desländern möglich. Mit den Änderungsvorschlägen des
Innenausschusses – sie dienen in erster Linie der Klar-
stellung – soll die bisherige gute Zusammenarbeit zwi-
schen Bund und Ländern auf dem Gebiet des Geoinfor-
mationswesens weiter gefördert werden. Beide Seiten
– Bund und Länder – haben ein gemeinsames Interesse,
einheitliche und qualitativ hochwertige Datenstandards
anzubieten.
Die Bundesregierung unterstützt diese Änderungs-
vorschläge, und auch die Bundesländer haben bereits
signalisiert, dass mit den Änderungen letzte Miss-
verständnisse ausgeräumt wurden und nun dem Gesetz-
entwurf zugestimmt werden kann.
Eine bessere und bedarfsgerechtere Versorgung des
Bundes mit raumbezogenen Grundinformationen wird
zudem mit dem Ausbau des Bundesamtes für Kartogra-
phie und Geodäsie zu einem zentralen Dienstleister des
Bundes für Geoinformationen unterstützt. Das Bundes-
amt stellt den Bedarf an Geodaten für den Bund fest und
stellt diese über ein Geoportal im Internet zur Verfü-
gung. Es wird die Bundesbehörden bei der standardkon-
formen Entwicklung und Nutzung ihrer Geodatendienste
unterstützen.
Die verbesserte Standardisierung und Koordinierung
der Georeferenzdaten wird dazu beitragen, dass Geo-
informationen zu einem Motor für die Internetwirtschaft
und für unsere Wissens- und Informationsgesellschaft
werden. So sichern wir die führende Rolle Deutschlands
auf diesem Gebiet. Ich lade Sie daher ein, mit uns den
Zukunftsmarkt Geoinformationen durch die Verabschie-
dung des Geodatenreferenzgesetzes zu fördern und bitte
um Zustimmung für den Gesetzentwurf.
Derzeit bestehen für die Erfassung von Geodaten inder Bundesverwaltung unterschiedliche und in den Bun-
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19336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Gerold Reichenbach
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desländern unverbindliche Standards. Geotopogra-fische Referenzdaten werden aber überall benötigt. Siesind wichtig für die Raumplanung, für die Verkehrslen-kung, für die Versorgung und Entsorgung bis hin zumBevölkerungs- und Katastrophenschutz. Leider gibt esbislang aufgrund der föderalen Struktur keine einheitli-che Standardisierung zur Erfassung und Darstellunggeotopografischer Referenzdaten des Bundes und desamtlichen Vermessungswesens. Das kann Konsequenzenhaben, wenn beispielsweise in meiner Region die Ver-sorgungswerke Mainz sowohl für Gebiete in Rheinland-Pfalz als auch in Hessen zuständig und dabei auf Datender Landesvermessungsämter sowohl aus Rheinland-Pfalz als auch aus Hessen angewiesen sind, diese abermit unterschiedlichen Standards geliefert werden. Sokann es zu Abweichungen und Fehlerquellen kommen,jedenfalls führt es aber zu Mehraufwand.Die verschiedenen Bundes- und Landesbehörden er-stellen die Geodaten unter Verwendung unterschied-licher Technik und verwenden dabei unterschiedlicheLeistungsmerkmale und Standards. Um diese dann über-haupt in Zusammenhang bringen zu können, müssen sieim Bundesamt für Kartographie und Geodäsie mit vielAufwand vereinheitlicht werden. Erhebliche Abweichun-gen sind dabei vorprogrammiert.Bund und Länder benötigen für ihre Aufgabenerfül-lung viele aktuelle und qualitativ hochwertige Informa-tionen. Das Potenzial aller gesammelten Daten kannerst dann ausgeschöpft werden, wenn diese von homo-gener Qualität sind und mithilfe standardisierter Metho-den und Verfahren zu einem leistungsfähigen Geodaten-management zusammengeführt werden können. Diegleiche Forderung gibt es bei den Vereinten Nationenund auf europäischer Ebene. Unwirtschaftliche Doppel-arbeit soll und kann so vermieden werden.Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt das Anlie-gen der Bundesregierung, zumindest für den Bereich desBundes für eine effektivere Verfahrensweise zu sorgen.Wir haben dazu auch einen internationalen und unions-rechtlichen Auftrag. Bisher gibt es auf Bundesebeneinsbesondere das Geodatenzugangsgesetz, mit dem dieINSPIRE-Richtlinie auf Bundesebene umgesetzt wurde.Die INSPIRE-Richtlinie hat zum Ziel, eine Geodatenin-frastruktur in der Europäischen Gemeinschaft zu schaf-fen. Durch die im Geodatenzugangsgesetz festgelegtenStandards sollen der Austausch und die gemeinsameNutzung von Geodaten, also damit auch von geoto-pografischen Referenzdaten und Daten des amtlichenVermessungswesens, ermöglicht werden. Das Geodaten-zugangsgesetz regelt die Standardisierung geotopogra-fischer Referenzdaten, aber nicht in gleicher Weise wiedas Georeferenzdatengesetz. Es gibt im Geodaten-zugangsgesetz keine Regelungen, um die Qualität, alsoAktualität, Einheitlichkeit und Vollständigkeit, der geo-topografischen Referenzdaten zu verbessern. Mit demheute hier vorliegenden Gesetzentwurf zu den Georefe-renzdaten soll es eine verbesserte Nutzungsmöglichkeitder allen Geodaten zugrunde liegenden geodätischenReferenzsysteme, -netze und geotopografischen Refe-renzdaten geben. Das heißt, zum einen sollen auf Bun-desebene verbindliche Qualitätsstandards sichergestelltwerden. Die Datenerfassung orientiert sich dabei insbe-sondere am eigenen Bedarf und den dem Bund imGrundgesetz zugewiesenen Kompetenzen und Aufgaben.Zum anderen wird das Bundesamt für Kartographie undGeodäsie zu einem Dienstleistungszentrum des Bundesfür Geoinformationen ausgebaut und erhält für dieseAufgabenstellung eine gesetzliche Grundlage.Zusätzlich werden mit den im Innenausschuss be-schlossenen Änderungen letzte Unsicherheiten beseitigt.Die Länder haben während des gesamten Abstimmungs-verfahrens Bedenken geäußert, ob der Bund in diesemBereich überhaupt eine Zuständigkeit hat. Der Gesetz-entwurf beziehe sich auf Daten, die definitions- und in-haltsgleich mit denen des amtlichen Vermessungswesenseinschließlich der Geobasisinformationen seien, wofüreine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Län-der bestehe. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfwerden letzte Unklarheiten beseitigt. § 1 des Bundesgeo-referenzdatengesetzentwurfs stellt nun deutlich daraufab, dass Länderdaten nur im Rahmen ihrer Nutzungs-rechte einbezogen sind. § 6 des Gesetzentwurfs sieht dieFestlegung der Standards so weit wie möglich im Ein-vernehmen mit den Ländern vor.Wir haben heute die Gelegenheit, ein Gesetz zu ver-abschieden, das eine längere Vorgeschichte hat. Die ein-heitliche Nutzung von Geodaten wurde schon zu Zeitender rot-grünen Koalition von den Sozialdemokratenbefürwortet und unter Otto Schily vorangetrieben. Dieeinheitliche Nutzung von Geodaten ist wichtig und not-wendig, um nationale, europäische und internationaleVerpflichtungen zu erfüllen. Ich hoffe, dass wir mitdiesem Gesetz einen Schritt weiter kommen und denBedenken der Länder Rechnung getragen haben. Darumwird die SPD-Bundestagsfraktion der Regierungsvor-lage zustimmen, nicht zuletzt, weil es die Fortsetzungeiner von Sozialdemokraten eingeleiteten Politik ist, dieGeoreferenzdaten unseres Landes besser und einheit-licher nutzen zu können.
Mit dem Bundesgeoreferenzdatengesetz schließen wireine wichtige Lücke bei der Handhabung von Geodatendurch Bundesbehörden.Bisher waren Bundesbehörden nahezu ausschließlichauf die Daten von Ländern und deren Referenzsystemebei der Handhabung von Geodaten angewiesen. Auchim Hinblick auf harmonische, bundesweit einheitlicheDatenstrukturen und Qualitätskontrolle waren nichtausreichend Grundlagen gegeben. Dies hat in der Ver-gangenheit immer wieder auf Bundesebene dazu ge-führt, dass Unklarheiten bezüglich der Kompetenzen beiBundesbehörden für die Aufbereitung bzw. Bereit-stellung von Georeferenzdaten herrschten – insbeson-dere da diese durch die europäische INSPIRE-Richtliniedem Subsidiaritätsprinzip unterworfen waren und damitvorrangig in die Zuständigkeit der Länder fielen.Das Georeferenzdatengesetz schließt diese Lücke undmacht den Weg frei für eine gute, wohlgeordnete undsubsidiäre Geodateninfrastruktur in Deutschland. Es er-möglicht dem Bund, fachübergreifend im Rahmen seinerZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19337
Manuel Höferlin
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Zuständigkeit erhaltene Geodaten zu harmonisieren undzu standardisieren. Wir erhoffen uns hierdurch einenQualitätsgewinn bei der Verwaltung der amtlichen Geo-daten.Auch werden durch dieses Gesetz etwaige bestehendeUnklarheiten bei den Kompetenzen der verschiedenenBehörden ausgeräumt. Das Bundesamt für Kartogra-phie und Geodäsie ist zentraler Ansprechpartner für alleFragen der Standardisierung amtlicher Geodaten imRahmen der Zuständigkeit des Bundes. Das können wirals Erfolg für die christlich-liberale Koalition in demimmer wichtiger werdenden Feld der Geoinformations-wirtschaft, aber auch für die Wissenschaft, die Raum-planung und die öffentliche Verwaltung festhalten.Und nicht zuletzt profitieren auch in immer stärkeremMaße die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland durchdie hochwertigen Geodaten, durch zügigere Bereitstel-lung von Diensten, durch schnellere Bauvorhaben undPlanungen und durch eine verbesserte Datenbasis. Überdas Internet abrufbare Geodatenfachportale bietenihnen zusätzlich unmittelbar selbst Zugang zu den Geo-daten und den damit verknüpften Diensten.Gleichzeitig unterstreichen wir mit dem Georeferenz-datengesetz und vor allem mit unserem Ergänzungsan-trag hierzu noch einmal, dass die Generierung von Geo-referenzdaten und -systemen eine Aufgabe ist, die vonden Ländern in ihrem Zuständigkeitsbereich erfüllt wirdund deren Position wir hier als eine wichtige Leistungfür die föderale Kooperation respektieren.Insgesamt möchte ich festhalten, dass das Georefe-renzdatengesetz ein richtiger und notwendiger Schrittwar. Daher freue ich mich auch sehr darüber, dass Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD, im Innen-ausschuss dem Gesetzentwurf der christlich-liberalenKoalition zugestimmt haben.
Der uns heute zur Beratung vorliegende Gesetzent-wurf soll die Verfügbarkeit und den Austausch der beimBund erhobenen, verarbeiteten und genutzten Geodatendurch Anwendung einheitlicher Standards verbessern.Gleichzeitig soll damit das Bundesamt für Kartographieund Geodäsie zum zentralen Dienstleister in SachenBereitstellung solcher Daten gemacht und dem Bundes-amt als selbstständiger Bundesoberbehörde die gesetz-liche Grundlage gegeben werden.Die Betonung auf „beim Bund“ verarbeitete und ge-nutzte Daten ist der Versuch einer Antwort der Bundes-regierung auf die Kritik, die der Bundesrat und seineAusschüsse an dem Gesetzentwurf geäußert haben.Offenbar wurde mit heißer Nadel gestrickt und halbher-zig versucht, durch Änderungsanträge der Kritik ausden Ländern wenigstens formal die Grundlage zu entzie-hen und die gröbsten Bedenken verfassungsrechtlicher,fachlicher und finanzieller Art auszuräumen. Dies istIhnen jedoch nicht wirklich gelungen.Der zentrale Vorwurf der Länder, dass dieses Gesetzdie Gefahr berge, Parallelstrukturen zu schaffen und diebisher im Großen und Ganzen fachlich und finanziell be-währten funktionierenden Strukturen zuungunsten derLänder aufzulösen, wurde von der Bundesregierungnicht überzeugend widerlegt.Die Befürchtung der Länder, angesichts des wachsen-den Marktes für Geodaten aller Art und des Ausbaus desBundesamtes für Kartographie und Geodäsie sehrschnell ins Hintertreffen zu geraten, ist nur zu sehr ver-ständlich. Da mag der Gesetzentwurf noch so sehr beto-nen, dass der Bund ja nur im Rahmen seiner bisherschon geltenden Nutzungsrechte die Länderdaten ver-wenden werde. Es ist doch so: Die Länder liefern, wieandere Behörden des Bundes auch, Daten. Der Bunderwirbt daraufhin die Nutzungsrechte an den Länder-daten und „harmonisiert“ sie erst dann, wie es in derGegenäußerung der Bundesregierung zur Stellung-nahme des Bundesrates heißt. Dafür, so vermutet unse-res Erachtens die Länderkammer zu Recht, reicht derRahmen der bisherigen Nutzungsvereinbarungen undihrer finanziellen Regelungen jedoch nicht mehr aus.Alle weiteren Geschäfte werden vom Bund gemacht,der sich ja auch ausdrücklich auf den Druck kommer-zieller Fachanwender beruft, um die neuen Aufgaben zubegründen. Die Sorge ist kaum von der Hand zu weisen,dass die Konkurrenz zwischen Standards, die der Bundjetzt entwickelt, und denen, die bisher zwischen derArbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen derLänder, AdV, und dem Bund gegolten haben, bewusst an-gestrebt wird. Das Ziel dabei ist, durch die vor-geschlagenen Regelungen dieses Gesetzes Druck auf dieLänder auszuüben. Durch diese Strategie der vollende-ten Tatsachen sollen die Länder veranlasst werden, dieneuen vom Bund geforderten Standards vorweg zu über-nehmen, und das, obwohl die bisherigen Standards nachAnsicht der Länder funktionieren.Weil die Frage des Geodatenzugangsgesetzes schonim Interesse der Bundesregierung gelöst ist, glaubt siewohl, auf die enge Zusammenarbeit mit den Ländern imvorliegenden Fall verzichten zu können. Logischerweisesieht das im Gesetz selbst formulierte „Benehmen“ mitden Ländern, das dieser Harmonisierung vorausgehensoll, ja auch nur die schwächste Form der Kooperationzwischen Bund und Ländern vor. Eine vertrauensvolleund problemorientierte Kooperation zwischen Bund undLändern sieht nach Auffassung meiner Fraktion jeden-falls anders aus.Zwei Anmerkungen zum Schluss:Erstens bedeutet das vorliegende Gesetz einen weite-ren großen Schritt zur Kommerzialisierung aller Geo-daten. Diese Entwicklung entspricht keineswegs denGrundsätzen von Open Data und Open Government.Zweitens hätten angesichts der ja umfassend geplan-ten Nutzung der Daten auch für Zivil- und Katastro-phenschutz datenschutzrechtliche Grundsätze auf-genommen werden können. Selbstverständlich bin ichmir dessen bewusst, dass das eigentliche Problem hin-sichtlich des Datenschutzes das Geodatenzugangsgesetzund die ihr zugrunde liegende EU-INSPIRE-Richtlinieist. Aber: auf Letztere bezieht sich die BundesregierungZu Protokoll gegebene Reden
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Jan Korte
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ja ausdrücklich in den ersten Sätzen der allgemeinenBegründung des Gesetzentwurfs.Das BMI hat, warum auch immer, im Gesetzentwurfauf die Formulierung datenschutzrechtlicher Rahmen-bestimmungen verzichtet. Einige klarstellende Sätze undBezüge zu den grundsätzlich mit der ausuferndenKommerzialisierung der Geodaten verbundenen Daten-schutzfragen – der Personenbeziehbarkeit bestimmterGeodaten also – hätten diesem Gesetzentwurf aus mei-ner Sicht gutgetan. Stattdessen werden auch hier in derPraxis wieder unendliche Umwege über die Regelungendes Bundesdatenschutzgesetzes notwendig werden. Aberdas sind wir von Gesetzentwürfen der Bundesregierungja auch nicht anders gewohnt.Aus all diesen Gründen ist der Fraktion Die Linkeeine Zustimmung zu diesem Entwurf nicht möglich. Wirwerden deshalb mit Enthaltung stimmen.
Die Ziele des Entwurfes für ein Bundesgeoreferenz-datengesetz unterstützen wir ausdrücklich. Die ange-strebte stärkere Standardisierung der Erfassung undDarstellung von Georeferenzdaten ist Voraussetzung fürdie sinnvolle Nutzung dieser Daten durch die Behörden,die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft.Geodaten sind von großem Wert für die Erfüllung derAufgaben der Verwaltung, etwa für die Planung von mo-dernen Transport- und Kommunikationssystemen. DieÖffentlichkeit und Zugänglichkeit von Geodaten istzudem ein wichtiges Element der notwendigen Transpa-renz im demokratischen Rechtsstaat, in dem Bürgerin-nen und Bürger mitdiskutieren und mitentscheiden wol-len und sollen – zum Beispiel über die Verwirklichungvon Infrastrukturprojekten. Geodaten sind außerdem einwichtiges Wirtschaftsgut, aus dem neue, innovative Pro-dukte entwickelt werden können.Voraussetzung für eine effiziente Verwertung istneben der öffentlichen Zugänglichkeit dieser Datenauch eine Standardisierung von Erfassung und Darstel-lung und eine größere Interoperabilität der technischenFormate, in denen die Daten zur Verfügung gestelltwerden.Natürlich ist eine solche Standardisierung auch fürden europäischen und internationalen Austausch nötig.Da haben wir vor allem auch im Hinblick auf die EU-Anforderungen aus der INSPIRE-Richtlinie noch eini-gen Aufholbedarf, sowohl was die Zugänglichkeit alsauch was die Standardisierung der Veröffentlichung unddie Downloadbarkeit dieser Daten angeht.Insofern begrüße ich das Vorhaben der Bundesregie-rung, sich da weiterzuentwickeln. Was uns die Bundes-regierung mit diesem Gesetzentwurf vorlegt, ist nachdem Geodatenzugangsgesetz 2009 aber leider nur einweiterer Fetzen im Flickenteppich der gesetzlichenRegelungen zu Geodaten, der die wesentlichen Fragenund Probleme – das muss man leider an dieser Stellesagen – auch weiterhin offenlässt.Dabei ist mir klar, dass die Standardisierung vonGeodaten im Gefüge unseres Bundesstaates keine ein-fache Sache ist. Was aber nun nach jahrelangerVerhandlung des Gesetzentwurfs herausgekommen ist,kann aus meiner Sicht vor allem in zwei Bereichen nichtbefriedigen:Erstens reichen die getroffenen Regelungen, die zu ei-ner größeren Standardisierung führen sollen, in keinerWeise aus, um eine stärkere Standardisierung und dieWeiterentwicklung zu einem modernen, offenen Staatwirksam zu fördern. Es ist zu wenig, wie der vorliegendeGesetzentwurf das tut, einem interministeriellen Aus-schuss für Geoinformationswesen die Befugnis zu über-tragen, technische Richtlinien festzulegen und dasBundesamt für Kartographie und Geodäsie zur selbst-ständigen Bundesoberbehörde aufzuwerten. Da müsstesich der Gesetzgeber schon etwas weiter vorwagen undselbst Grundprinzipien des modernen offenen Staates imSinne von Open-Data-Prinzipien festlegen.Zweitens. Völlig unbefriedigend und unangemessenist an dem Gesetzentwurf außerdem, dass die zentralenInteressenskonfliktpunkte, die sich bei der Bereitstellungvon Geodaten immer ergeben, in dem Gesetzentwurfeinfach ausgeklammert werden. Der schwierige Konfliktzwischen verschiedenen öffentlichen und privaten Inte-ressen, zwischen dem berechtigten Transparenzinteresseder Öffentlichkeit, den wirtschaftlichen Interessen anGeodaten und den Datenschutzinteressen der Betroffe-nen löst sich aber nicht dadurch in Wohlgefallen auf,dass man ihn totschweigt. Wie man den Konflikt zwi-schen Transparenzanforderungen auf der einen Seiteund Datenschutzinteressen auf der anderen Seite löst, istzweifellos eine schwierige Frage in einer modernenDemokratie. Darauf gibt es gewiss keine einfachenAntworten, auch wir haben diese nicht. Dennoch hatsich meine Fraktion auf den Weg gemacht, diese Fragenanzugehen. Sie hingegen klammern diese Fragen ein-fach aus. Ich bin sicher, dass uns diese Fragen in dennächsten Jahren hier noch öfter beschäftigen werden,zum Beispiel bei der Reform des Informationsfreiheits-gesetzes.Zwei Dinge aber liegen auf der Hand, und sie machenden vorliegenden Gesetzentwurf ohne jegliche Behand-lung von Datenschutzfragen so unzureichend: Geodatenkönnen von persönlichkeitsrechtlicher und datenschutz-rechtlicher Relevanz sein. Das bestreitet meines Wissensauch niemand. Diese Persönlichkeitsrechts- und Daten-schutzrelevanz potenziert sich mit einer Standardisie-rung der Erfassung, Darstellung und Bereitstellung, siepotenziert sich mit der Interoperabilität und der Verein-heitlichung technischer Richtlinien für die Bereitstel-lung von Daten. Denn dadurch wird es viel einfacher,Informationen mit Personenbezug zu sammeln, zu bün-deln und weiterzuverarbeiten. Damit muss man umge-hen, das muss datenschutzrechtlich aufgefangen werden.Der vorliegende Gesetzentwurf verliert darüber jedochkein Wort. Meine Fraktion und ich können dem Entwurfdeshalb leider nicht zustimmen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Wir kommen zur Abstimmung.Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/8634, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7375 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit denStimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und derSPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsergebnis wiebei der zweiten Lesung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBildungsarmut durch Alphabetisierung undGrundbildung entgegenwirken– Drucksache 17/8765 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, NicoleGohlke, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKENiemanden abschreiben – Analphabetismuswirksam entgegentreten, Grundbildung füralle sichern– Drucksache 17/8766 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung war einehalbe Stunde für die Debatte vorgesehen. Wir haben al-lerdings gerade zwischen den Fraktionen vereinbart,dass wir die Beiträge des Kollegen Gehring für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen, des Kollegen Weinbergfür die Unionsfraktion, des Kollegen Rossmann für dieSPD-Fraktion, des Kollegen Meinhardt für die FDP-Fraktion,
der Kollegin Hein für die Fraktion Die Linke, des Kolle-gen Knoerig für die Unionsfraktion sowie des KollegenSchulz für die SPD-Fraktion zu Protokoll nehmen.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/8765 und 17/8766 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDzu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-päischen Parlaments und des Rates über dieKonzessionsvergabeKOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro-tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon
Ausschreibungspflicht bei Dienstleistungskon-zessionen ablehnen – Kommunale Daseinsvor-sorge sichern– Drucksache 17/8761 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinAndreae, Fritz Kuhn, Britta Haßelmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-päischen Parlaments und des Rates über dieKonzessionsvergabeKOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro-tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon
Klares Signal zum Schutz der kommunalenDaseinsvorsorge setzen– Drucksache 17/8768 –Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Kol-lege Dr. Nüßlein für die Unionsfraktion, Kollege Ninkfür die SPD-Fraktion, Kollegin Dr. Reinemund für dieFDP-Fraktion, Kollegin Kunert für die Fraktion Die Linkeund Kollegin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.1) Anlage 2
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19340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Dass SPD und Grüne heute einmal Anträge auf denTisch legen, die ich fast 1 : 1 unterschreiben könnte, hatwirklich Seltenheitswert. Aber wo Rot-Grün in der Sa-che ausnahmsweise einmal recht hat, da hat sie ebenmal recht. Besonders der Antrag der SPD bezüglich derSubsidiaritätsrüge ist in seiner Begründung wirklich le-senswert.Was sich übereifrige EU-Beamte aus dem HauseBarnier da mit dem Richtlinienvorschlag über die Kon-zessionsvergabe wieder haben einfallen lassen, zeigt,wie weltfremd, ja wie für die EU-Bürger gar schädlichso manche Ergüsse aus der EU-Kommission sind. Odersind sie gar nur lobbygeführt? Cui bono?, heißt dieFrage, die sich hier echt aufdrängt.An dieser Stelle darf ich auch an die Ministerialbe-amten unseres Bundeswirtschaftsministeriums und anseine politische Spitze, aber auch an unsere lieben Kol-legen von der FDP-Fraktion appellieren, nicht alles invoreiligem Gehorsam mitzumachen, was da aus Brüsselkommt. Nur die Rücksicht auf den Koalitionspartnerhält mich persönlich davon ab, der Opposition zuzustim-men; dies, obwohl ich weiß, dass die Rücksicht eine Ein-bahnstraße ist.Der jetzt vorliegende Richtlinienvorschlag ist unnötigund falsch: Mit einem solchen Rechtsakt würde nämlichder Gestaltungsspielraum unserer Kommunen geradebei der so existenziell wichtigen Wasserversorgung er-heblich eingeschränkt. Dienstleistungskonzessionen imBesonderen haben – wie die Grünen richtig schreiben –lange Laufzeiten. Das liegt in der Natur der Sache. DieLaufzeiten können die Kommunen mit dem Konzessions-nehmer nach heutigem Recht vertraglich frei bestimmen.Mit der vorgelegten Richtlinie würden bestimmte Lauf-zeiten EU-rechtlich festgelegt. Dazu kommt: In einemsolchen EU-weiten Vergabeverfahren könnten alle Mit-bewerber aus dem EU-Raum gegen die Vergabe dieseroder jener Konzession klagen. Damit käme eine Flut vonmöglichen Klagefällen vor den Vergabekammern auf un-sere Städte und Gemeinden zu. Die Dienstleistungskon-zessionen wären faktisch vollständig dem Vergaberechtunterworfen. Unsere Kommunen wären also an engeKetten gelegt – und das bei so fundamentalen Aufgabenwie der Wasserversorgung oder Abwasserentsorgung.Das halte ich für völlig daneben.Unser Subsidiaritätsprinzip, das nicht nur in Art. 28unseres Grundgesetzes, sondern auch in Art. 5 des EU-Vertrages zu Recht verankert ist, wird hier mit Füßen ge-treten. Die herausragend gute Wasserversorgung beiuns ist ein Beispiel dafür, dass hier subsidiär auf kom-munaler Ebene Großartiges geleistet wird – ohne Brüs-sel. Natürlich argumentiert die Kommission vordergrün-dig, mehr Transparenz und Wettbewerb auf denöffentlichen Beschaffungsmärkten herstellen, den Bin-nenmarkt vorantreiben und mehr Rechtssicherheitschaffen zu wollen. Aber nehmen wir nur die geplanteVerschärfung des Vergaberechts im Bereich der Trink-wasserversorgung her: Eine EU-weite Ausschreibungs-pflicht sorgt eben nicht für mehr Transparenz, sonderndurch höheren Verwaltungsaufwand für mehr Bürokra-tie und damit für höhere Kosten für die Verbraucher.Schlimmer noch: Die europaweit führende Trinkwas-serqualität in Deutschland wird doch nicht gerade da-durch gesichert, dass ein rumänisches Wasserunterneh-men den Zuschlag für die Wasserversorgung zumBeispiel in Neu-Ulm, in Görlitz, in Recklinghausen oderin Flensburg erhält und dann von Bukarest aus dieTrinkwasserqualitätskriterien überwachen soll. Wer willdas denn? Gerade bei der Wasserversorgung kann mandoch nicht von grenzüberschreitendem Dienstleistungs-verkehr sprechen! Gerade weil unsere Kommunen dieGestaltungshoheit über die Trinkwasserversorgung fürihre Einwohner vor Ort haben und damit im Sinne einerbesonderen Fürsorgepflicht für „ihre“ Bürger beson-ders auf ein Topniveau des Trinkwassers achten, habenwir in Deutschland einen europaweit führenden Quali-tätsstandard des Trinkwassers. Wollen wir dieses überJahrzehnte erarbeitete Topniveau wegen dieser faden-scheinigen Argumente der EU-Kommission wieder auf-geben?Völlig zu Recht erkennt die SPD in der Begründungzu der von ihr vorgelegten Subsidiaritätsrüge „das Be-streben der Kommunen an, effiziente, kundenorientierteund wettbewerbsfähige kommunale Unternehmen undEinrichtungen zu betreiben“. Da kommunale Unterneh-men an das Örtlichkeitsprinzip gebunden sind, sind sietatsächlich in ihrer Existenz gefährdet, wenn finanz-starke Unternehmen oder Investoren aus dem EU-Aus-land die ausschreibungspflichtigen Konzessionen über-nehmen und das örtliche Unternehmen die Konzessionverlieren würden. Das kann uns doch nicht egal sein!Hier der EU-Kommission mal mit einer Subsidiari-tätsrüge einen Schuss vor den Bug zu setzen, wie dieSPD das mit ihrem Antrag für eine Subsidiaritätsrügevorhat, hat durchaus seinen Reiz. Art. 6 des ProtokollsNr. 2 des Vertrags von Lissabon sieht diese Möglichkeitja auf den ersten Blick durchaus vor. Leider ist aber eineSubsidiaritätsrüge ein stumpfes Schwert, das uns hiersymbolisch in die Hand gegeben ist – ein Schwert ausGlas.Doch zurück zur Sache: Zu Recht hat der Gemein-schaftsgesetzgeber bislang auf sekundärrechtliche Re-gelungen der Vergabe von Dienstleistungskonzessionenverzichtet. Schauen wir doch einmal auf die bisherigeRechtsprechung des EuGH: Danach gelten im Vergabe-recht schon jetzt die aus den Grundfreiheiten des Ver-trags über die Arbeitsweise der EU abzuleitenden pri-märrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung, derNichtdiskriminierung und der Transparenz. Ein beson-derer Regelungsbedarf für Dienstleistungskonzessionenist somit nicht erforderlich, so der EuGH. Dazu darf ichaus dem Urteil des Gerichts vom 10. März 2011 zitieren.Hier heißt es: „Es ist hinzuzufügen, dass Verträge überDienstleistungskonzessionen beim gegenwärtigen Standdes Unionsrechts zwar von keiner der Richtlinien erfasstwerden, mit denen der Unionsgesetzgeber das öffentli-che Auftragswesen geregelt hat, die öffentlichen Stellen,die solche Verträge schließen, aber gleichwohl ver-pflichtet sind, die Grundregeln des AEU-Vertrags, ins-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19341
Dr. Georg Nüßlein
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besondere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV, sowie die da-raus fließende Transparenzpflicht zu beachten, wenn[…] an dem betreffenden Vertrag ein eindeutiges grenz-überschreitendes Interesse besteht.“Die Einschätzung, dass ein solcher Rechtsakt nichtnotwendig ist, vertritt auch das Europäische Parlamentin seinem am 18. Mai 2010 beschlossenen Initiativbe-richt zum Vergaberecht, dem sogenannten Rühle-Be-richt. Das EP spricht sich in diesem Bericht vielmehr fürdie Zusammenarbeit zwischen den Kommunen nachMaßgabe der aktuellen Rechtsprechung des EuGH aus.Auch der Bundesrat teilt diese Auffassung und appel-liert in seinem Beschluss vom 12. Februar 2010 – ich zi-tiere – „an die Kommission, den Gestaltungsspielraumder Mitgliedstaaten, Regionen und lokalen Gebiets-einheiten nicht durch legislative Eingriffe einzuschrän-ken“, was „insbesondere auf Dienstleistungskonzes-sionen gerichtete Regulierungsbestrebungen derKommission“ gemünzt ist. Diese Haltung hat der Bun-desrat in seinem Beschluss vom 11. Februar 2011 be-kräftigt. Hier hat der Bundesrat mit Blick auf Art. 14 desVertrags über die Arbeitsweise der EU besonders aufdas Selbstverwaltungsrecht der Kommunen verwiesen.Ich zitiere: „Im Vertrag von Lissabon wird das Selbst-verwaltungsrecht der Kommunen anerkannt. Vor allemim Interesse der Kommunen ist daher darauf zu achten,dass die EU ihre Regelungskompetenz betreffendDienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Inte-resse nicht zu Steuerungszwecken einsetzt und versucht,für den sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge eigeneQualitäts- und Sozialstandards einzuführen. Die Da-seinsvorsorge muss im Entscheidungsbereich der Mit-gliedstaaten und dort insbesondere der Kommunen ver-bleiben. Nur so kann auch dem SubsidiaritätsgedankenRechnung getragen werden.“Diesen und den Beschluss des Bundesrates von 2010haben auch die Länder mitgetragen, in denen die Libe-ralen an der Regierung beteiligt sind. In ihren Antwor-ten auf meine schon im vergangenen Jahr verfasstenSchreiben an den früheren BundeswirtschaftsministerRainer Brüderle, an seinen Nachfolger Dr. PhilippRösler und an den zuständigen StaatssekretärDr. Bernhard Heitzer wurde mir immer wieder versi-chert, dass der Gestaltungsspielraum der Kommunenauch mit einer solchen Richtlinie erhalten bliebe, denndie Kommunen könnten ja weiterhin selbst darüber ent-scheiden, ob sie Leistungen der Daseinsvorsorge wie dieWasserversorgung selbst erbringen oder Dritte – natür-lich unter Beachtung des Vergaberechts – damit beauf-tragen. So übrigens versuchte auch EU-KommissarMichel Barnier mich in seinen Antworten auf meineschriftlichen Appelle, von diesen Plänen abzulassen, zubeschwichtigen.Spätestens bei meiner Initiative, im Rahmen einesEntschließungsantrags der Koalition die Bundesregie-rung aufzufordern, bei ihren Verhandlungen im Ratdiese unsägliche Richtlinie gänzlich zu kippen oder we-nigstens für den hochsensiblen Bereich der Wasserver-sorgung eine Ausnahmeregelung zu schaffen, wie es sei-nerzeit in der EU-Dienstleistungsrichtlinie verankertworden war, bin ich auf den Widerstand unseres Koali-tionspartners gestoßen, der noch schnell Rücksprachemit dem Bundeswirtschaftsministeriums gehalten hatte.Die FDP-Vertreter in der Bundestagsfraktion wurdenerwartungsgemäß zurückgepfiffen. Als Ergebnis habenwir dann im Wirtschaftsausschuss einen Entschlie-ßungsantrag vorgelegt, der die Bundesregierung „er-sucht“, dass in der Richtlinie „den besonderen Belan-gen der Wasserversorgung angemessen Rechnunggetragen wird“. Hier wird also offenkundig nicht imSinne der breiten Mehrheit von Bundestag, Bundesratund EP verhandelt. Das ist nicht akzeptabel. Wettbewerbnicht allein um des Wettbewerbs willen! Im Zentrum al-ler Wettbewerbspolitik muss letztlich immer noch derVerbraucher stehen.
Es ist nicht alltäglich, dass der Bundestag über denAntrag beschließen soll, eine Subsidiaritätsrüge gegeneinen Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommis-sion zu erheben. Die SPD-Fraktion ist der Ansicht, dassder von der Kommission vorgelegte Richtlinienentwurfzur Konzessionsvergabe nicht mit den Grundsätzen derSubsidiarität und Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.Dies betrifft vor allem die vorgesehenen Regelungen zurAusschreibungspflicht für Dienstleistungskonzessionen.Die Kommission versucht hier, Recht zu schaffen, wovon der Sache her gar keine neuen Regelungen notwen-dig sind. Ja, es ist richtig, dass die Vergabe von Dienst-leistungskonzessionen von den Vergaberichtlinien aus-genommen ist. Aber das heißt doch nicht, dass dieVergabe überhaupt keinen Regeln unterliegt. Die allge-meinen Prinzipien Transparenz, Gleichbehandlung undNichtdiskriminierung gelten selbstverständlich auchhier. Das hat der Europäische Gerichtshof erkannt. Dashat das Europäische Parlament erkannt. Das hat derdeutsche Bundesrat erkannt und das hat der Wirtschafts-ausschuss des Deutschen Bundestages erkannt.Warum sieht die Kommission das anders, sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen? Der Bereich derDienstleistungskonzessionen ist lukrativ. Die Kommis-sion will einen Markt für Konzessionen schaffen. Beson-ders betroffen wäre unter anderem der gesamte Bereichder Wasserwirtschaft. Die Europäische Kommissionstrebt schon lange an, die Wasserwirtschaft europaweitzu liberalisieren. Es geht dabei aber um unsere gut funk-tionierenden Strukturen auf kommunaler Ebene. Diesewollen wir erhalten.Wir Sozialdemokraten sind gegen eine weitere Libe-ralisierung. Und das aus guten Gründen: Die Trinkwas-serversorgung ist für uns elementarer Bestandteil der öf-fentlichen Daseinsvorsorge. Eine qualitativ hochwertigeVersorgungssicherheit für alle hat für uns Priorität. Mitunserem wichtigsten Lebensmittel kann, ja darf mannicht handeln wie mit jeder anderen Ware. Niemandkann abstreiten, dass die Wasserversorger in Deutsch-land eine sehr gute Arbeit leisten. Vor allem auch diekommunalen Versorger bieten hervorragende Wasser-qualität in einem flächendeckenden Versorgungsnetz zufairen Preisen an, die auch Nachhaltigkeits- und Um-Zu Protokoll gegebene Reden
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19342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Manfred Nink
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weltkosten widerspiegeln. Wir als SPD sehen keinenGrund, daran zu rütteln.Ähnlich verhält es sich bei den kommunalen Rettungs-diensten. Auch diese wären massiv von einer Ausschrei-bungspflicht für Dienstleistungskonzessionen betroffen;und mit ihnen der Katastrophenschutz der Länder. Soließen sich noch einige Beispiele finden, in denen die Er-bringung wichtiger Leistungen der Daseinsvorsorgedurch die öffentliche Hand und durch kommunale Un-ternehmen mit der vorgeschlagenen Richtlinie infragegestellt würde.Erst der Vertrag von Lissabon hat das Selbstverwal-tungsrecht der Kommunen gestärkt. Mit diesem Vor-schlag jetzt würde der garantierte Ermessensspielraumder Kommunen ausgehebelt und direkt wieder einkas-siert.Was soll so eine Richtlinie also den Verbraucherinnenund Verbrauchern, den Bürgerinnen und Bürgern brin-gen? Ich sehe keine Vorteile. Aber was noch viel schlim-mer ist: Die Kommission scheint es selbst nicht zuwissen, sonst hätte sie es doch in ihren Vorschlag rein-schreiben können. Aber sie schweigt sich aus. Kein Wortzu den Vorteilen für die Verbraucherinnen und Verbrau-cher und keine Erklärung, wo die Kommission Markt-verzerrungen und Wettbewerbsstörungen sieht. Ohnesachliche Gründe aber kann und darf man kein neuesRecht schaffen.Die SPD hat diese Ansicht gemeinsam mit den ande-ren Oppositionsfraktionen im Ausschuss für Wirtschaftund Technologie vertreten. Wir haben in einem Ent-schließungsantrag gemeinsam mit den anderen Fraktio-nen der Opposition die Ablehnung des Richtlinienvor-schlags durch die Bundesregierung im Rat gefordert.Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, wennich mich richtig erinnere, waren es doch die Kolleginnenund Kollegen von der FDP und ihre Koalitionsräson, diebei Ihnen damals die Zustimmung zu unserem Antragverhindert haben. Sie hatten dann selbst einen Ent-schließungsantrag gestrickt. Aber dieser hatte keineSubstanz mehr. Es war ein Entschließungsantrag nachdem Motto: „Nur keinem – insbesondere den Koalitions-parteien – weh tun“. Ergebnis: Ja, so eine Richtliniewäre irgendwie schon gut, aber vielleicht könnte man javersuchen, irgendwie eine Ausnahme für die Wasser-wirtschaft zu erreichen. – Das war nichts!Stellen Sie sich das doch einmal vor: Jede Kommunemuss zukünftig in regelmäßigen Abständen europaweitausschreiben und Konzessionen vergeben. Viele Kom-munen bei uns haben zehn- oder fünfzehntausend Ein-wohner. Der Bürgermeister macht vieles selbst. Soll erin Zukunft ein Team von Mitarbeitern einstellen, desseneinzige Aufgabe es ist, die Vergabe von Dienstleistungs-konzessionen zu überwachen? Was für ein Aufwand –gerade für unsere kleinen Kommunen!Sehr geehrte Damen und Herren von der Unionsfrak-tion, geben Sie sich einen Ruck und bringen Sie mit unsgemeinsam heute diese Subsidiaritätsrüge auf den Weg.Lassen Sie sich doch nicht schon wieder von der FDPwie ein Ochse am Nasenring durch die Manege führen.Nach meinem Wissensstand werden die CDU-geführtenBundesländer morgen im Bundesrat ebenfalls für einesolche Rüge votieren. Dieser Antrag, eingebracht vomBundesland Bayern, sieht die Problematik ähnlich wiewir.In einer Frage, bei der es um die öffentliche Daseins-vorsorge, das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, dasWohl unserer Kommunen und ihrer kommunalen Unter-nehmen geht, müssen Sie Verantwortung übernehmen.Die FDP denkt auch in dieser Frage nur in alten neoli-beralen Mustern, an die Prinzipien der Ordnungspolitikund an ihre eigene Klientel. Denken Sie von der Unionmit uns gemeinsam im Gegensatz dazu an den Schutz derkommunalen Daseinsvorsorge und das Wohl der Bürge-rinnen und Bürger! Stimmen Sie für unseren Antrag!
Als kommunalpolitische Sprecherin meiner Fraktionund vor allem als Stadträtin meiner Heimatstadt Mann-heim weiß ich nur zu gut, welche negativen Folgen man-che Entscheidung oder Vorgabe aus Brüssel für dieKommunen in Deutschland haben können. Unter diesemGesichtspunkt ist auch die Diskussion über einzelne As-pekte des Gesetzesvorhabens zur Modernisierung desVergaberechts zu betrachten. Die EU-Kommission hatam 20. Dezember 2011 im Rahmen der Binnenmarktakte
ein Legislativpaket zur Modernisie-
rung des Vergaberechts vorgelegt, darunter einen Vor-schlag für eine Richtlinie zur Vergabe von Konzessio-nen. Die FDP unterstützt das grundlegende Anliegender Kommission, bestehende rechtliche und verfahrens-technische Unsicherheiten bei der Konzessionsvergabezu beseitigen. Wir waren immer für eine Öffnung desBinnenmarktes und die Schaffung gleicher Spielregelnfür alle Marktteilnehmer in Europa. So auch in diesemFall.Aber ich sage auch ganz klar: Das Subsidiaritäts-prinzip ist ein hohes Gut. Subsidiarität bedeutet in die-sem Fall, dass die Kommunen ihre Aufgaben in Eigen-verantwortung wahrnehmen. Die Bundesregierung hatsich bei ihren Verhandlungen im Europäischen Rat stetsdafür eingesetzt, dass das Prinzip der Subsidiarität beiallen EU-Rechtsetzungsakten gewahrt bleibt. Ich weisean dieser Stelle auf eine Antwort der Bundesregierungauf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenvom 19. April 2011 zu den Plänen der EuropäischenKommission zur Vergabe von Dienstleistungskonzessio-nen hin. Dort heißt es wörtlich: „Die Bundesregierunghält eine Einbeziehung der Dienstleistungskonzessionenins Vergaberecht im Sinne der uneingeschränkten An-wendbarkeit der vergaberechtlichen Regelungen nichtfür erforderlich oder sinnvoll“. Und weiter heißt esdort: „Die Entscheidungshoheit, ob eine Aufgabe derDaseinsvorsorge durch die Kommune selbst oder durchDritte erledigt wird, muss auch weiterhin der öffentli-chen Hand überlassen bleiben.“ Da sind wir uns alle ei-nig.Wenn sich eine Kommune jedoch dafür entscheidet,einen externen Anbieter mit der Wahrnehmung solcherAufgaben zu betrauen, so setzt die FDP sich dafür ein,Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19343
Dr. Birgit Reinemund
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die entsprechenden Konzessionen in einem transparen-ten und von Wettbewerb geprägten Markt auszuschrei-ben. Hier müssen gleiche Spielregeln für alle Teilnehmeran der Ausschreibung gelten. Im Mittelpunkt steht nicht:Wer macht Gewinn, Kommune oder Private? Im Mittel-punkt muss der Nutzen für die Bürger stehen, im Sinnevon „beste Qualität zum bestmöglichen Preis“.Die öffentliche Daseinsvorsorge ist unbestritten einhöchst sensibler Bereich, in dem wir eine Qualitätsmin-derung zulasten der Bürgerinnen und Bürger nicht hin-nehmen. Das gilt insbesondere für die Trinkwasserver-sorgung: Die Qualität unseres Trinkwassers ist führendin Europa. Und das ist ein Verdienst der kommunalenWasserversorgung und Abwasserentsorgung.Die Bundesregierung hat dies im Blick. Das ergibtsich eindeutig aus der Antwort auf die Anfrage der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen, die ich gerade zitiert habe.Auch die Koalitionsfraktionen unterstützen die Bundes-regierung durch ihren Entschließungsantrag, der am8. Februar 2012 vom Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie angenommen wurde.Die europäische Gesetzgebung im Sinne unsererdeutschen Interessen zu beeinflussen, ist allemal sinn-voller als eine Subsidiaritätsrüge zu fordern – wie dieSPD es in ihrem Antrag tut – oder die gesamte Gesetzes-vorlage abzulehnen, wie die Grünen es fordern. Damitwürden wir das Kind mit dem Bade ausschütten.Die Kommunen mussten in der Vergangenheit man-che Brüsseler Kröte schlucken. Basis aller Entscheidun-gen muss das Subsidiaritätsprinzip und die Erhaltungdes Handlungsspielraumes für die Kommunen sein. Au-ßerdem ist eine frühzeitige Einbeziehung der kommuna-len Ebene bei europäischen Gesetzesvorhaben sicherzu-stellen. Da gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten.
Wir beschäftigen uns heute mit dem Vorschlag füreine Richtlinie des Europäischen Parlaments und desRates über die Konzessionsvergabe. Der Richtlinienvor-schlag ist gemeinsam mit zwei Richtlinien zum Vergabe-recht Bestandteil eines Gesetzespakets. Konkret geht esdarum, dass die Regelungen zur Vergabe von Bau- undDienstleistungskonzessionen durch die öffentliche Handin Europa vereinheitlicht werden sollen. Das Ziel be-steht darin, ein vermeintlich höheres Maß an Rechts-sicherheit herzustellen.Dieses Vorhaben bringt mich als kommunale Man-datsträgerin natürlich besonders zum Aufhorchen, undich denke, dass es einer ganzen Reihe von Kolleginnenund Kollegen in diesem Haus genauso geht. Zumindesthabe ich gehört, dass die Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU-Fraktion im Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie eine äußerst kritische Haltung gegenüberdem Richtlinienvorschlag eingenommen haben.Der Kommissionsvorschlag greift in Rechte der Kom-munen ein, die nicht nur durch Art. 28 des Grundgeset-zes, sondern auch durch den Vertag von Lissabon garan-tiert werden. Dienstleistungskonzessionen betreffen dieunterschiedlichsten Bereiche kommunaler Aufgaben undwerden unter anderem im Bereich der Abfallentsorgung,des öffentlichen Personennahverkehrs sowie der Woh-nungswirtschaft vergeben. Die kommunale Gestaltungs-freiheit an dieser Stelle muss unbedingt erhalten bleiben.Eine zunehmende Verrechtlichung in diesem Bereichdurch die europäische Ebene würde die kommunalenHandlungsspielräume deutlich einschränken.Besonders negative Auswirkungen wären durch denRichtlinienvorschlag bei der Wasserver- und Abwasser-entsorgung zu erwarten. Diese gehört zu den kommuna-len Aufgaben und wird in der Regel auch durch die Kom-mune selbst oder durch kommunale Unternehmenerfüllt. Selbst die Koalition erkennt in ihrem Entschlie-ßungsantrag im Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-gie vom 3. Februar 2012 an, dass die in Deutschlandvon den Kommunen verantwortete Trinkwasserversor-gung qualitativ in Europa führend ist und dass bei euro-paweiten Ausschreibungen in diesem Bereich eher dieGefahr einer Verschlechterung des Qualitätsstandardsbestünde.Soweit der Richtlinienvorschlag mit mangelnderRechtssicherheit bei der Vergabe von Konzessionen be-gründet wird, ist dies schlicht nicht nachvollziehbar.Kommunen und andere öffentliche Stellen müssen bei derVergabe von Dienstleistungskonzessionen die Grundre-geln des EG-Vertrages und insbesondere das Verbot derDiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeiteinhalten. Was das im konkreten Einzelfall bedeutet, hatder Europäische Gerichtshof durch eine Reihe von Ent-scheidungen ausreichend präzisiert. Im Übrigen vertritter in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass fürDienstleistungskonzessionen kein besonderer Regelungs-bedarf seitens der EU besteht.Tatsächlich dürfte die Absicht, durch eine Richtlinieein höheres Maß an Rechtssicherheit herzustellen, nurvorgeschoben sein. Die Begründung des Vorschlagsmacht noch eine andere Intention deutlich. Es wird er-klärt, dass eine europäische Gesetzgebungsinitiative imBereich der Konzessionen zur Schaffung eines EU-Rah-mens zur Förderung öffentlich-privater Partnerschaftenbeitragen könnte. Spätestens hier wird deutlich, dass esin Wirklichkeit darum geht, weitere Privatisierungen vo-ranzutreiben und die Kommunen und ihre Unternehmenin den rechtlichen Auseinandersetzungen mit Privatenzu schwächen.Gegen den Richtlinienvorschlag spricht auch derSubsidiaritätsgedanke, der zu den zentralen PrinzipienEuropas zählt. Die EU darf in Bereichen, die nicht inihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wer-den, soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maß-nahme weder auf staatlicher noch auf regionaler oderlokaler Ebene erreicht werden können. Für etwaigeWettbewerbsverzerrungen oder Marktabschottungen be-stehen aber gerade keine Anhaltspunkte. Mit dem Subsi-diaritätsprinzip lässt sich auch erklären, warum Dienst-leistungskonzessionen bisher von den europäischenRichtlinien zum Vergaberecht ausdrücklich nicht erfasstwurden.Die soeben von mir vorgetragenen Argumente lassenfür meine Fraktion nur einen Schluss zu: den VorschlagZu Protokoll gegebene Reden
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19344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Katrin Kunert
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(B)
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und desRates über die Konzessionsvergabe abzulehnen.
Die EU-Kommission hat am 20. Dezember 2011 ihre
Vorschläge zur Modernisierung des öffentlichen Verga-
berechts vorgelegt. Diese enthalten zukunftsweisende
Elemente, wie einen verbesserten Zugang und weniger
Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen bei Ver-
gabeverfahren oder auch breitere Möglichkeiten für eine
Vergabe nach sozialen Kriterien in den Kommunen. Al-
lerdings unterbreitet die Kommission in diesem Zusam-
menhang auch einen umfänglichen Richtlinienvorschlag
zur Vergabe von Konzessionen, der in das Selbstverwal-
tungsrecht und die Gestaltungsfreiheit der Kommunen
eingreift und nicht verhältnismäßig ist.
Dienstleistungskonzessionen haben in der Regel
lange Laufzeiten und brauchen demgemäß eine gewisse
Flexibilität. Die Gestaltungsspielräume der Kommunen
bei der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen müs-
sen deshalb erhalten bleiben. Diese Haltung hatte der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Deut-
schen Bundestages bereits am 1. Dezember 2010 in ei-
nem gemeinsamen Schreiben an den Kommissar für Bin-
nenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, zum
Ausdruck gebracht und sich dafür ausgesprochen, dass
die Rechtsetzungsinitiative zur Vergabe von Dienstleis-
tungskonzessionen kein Regelungstatbestand der Euro-
päischen Union sein sollte. An dieser Forderung halten
wir Grünen auch weiterhin fest und fordern die Bundes-
regierung daher auf, im Europäischen Rat darauf hinzu-
wirken, dass der vorgelegte Richtlinienvorschlag zur
Konzessionsvergabe abgelehnt wird. In diesem Sinne
werden wir auch dem parallel vorgelegten Antrag der
SPD-Fraktion zustimmen.
Die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen ist der-
zeit bewusst vom Anwendungsbereich des Vergaberech-
tes ausgenommen. Sie sind, im Gegensatz zu der öffent-
lichen Beschaffung, auch nicht in den internationalen
Verträgen fixiert. Durch das bestehende Primärrecht der
Europäischen Union, also Gleichbehandlung, Nichtdis-
kriminierung und Transparenz, und die ständige Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofes hierzu, sind
Dienstleistungskonzessionsvergaben hinreichend rechts-
sicher geregelt. So sieht es auch der Europäische Ge-
richtshof selbst.
Die Kommission begründet ihren Rechtsetzungsvor-
schlag damit, dass die bisherige Regelungslücke
schwerwiegende Verzerrungen des EU-Binnenmarkts
zur Folge habe. Allerdings sind in den Bereichen Infra-
struktur und Daseinsvorsorge, auf die der Vorschlag
zielt, schwerwiegende Wettbewerbsverzerrungen oder
eine Marktabschottung, die eine solche Regulierung ge-
gebenenfalls erfordern würden, bislang nicht erkennbar
und von der EU-Kommission auch nicht nachgewiesen
worden. Im Bereich der Dienstleistungskonzessionsver-
gabe besteht deshalb keine Notwendigkeit einer weite-
ren Verrechtlichung mit den entsprechenden bürokrati-
schen Belastungen für öffentliche Auftraggeber und
Unternehmen. Ähnliche Bewertungen haben der Bun-
desrat und das Europäische Parlament sogar mehrmals,
so zum Beispiel im Bericht „Neue Entwicklungen im öf-
fentlichen Auftragswesen“ vom 18. Mai 2010 sowie im
Bericht „Über die Modernisierung im Bereich des öf-
fentlichen Auftragswesens“ vom 5. Oktober 2011, abge-
geben und einen Richtlinienvorschlag zur Dienstleis-
tungskonzessionsvergabe daher abgelehnt.
Der Bundesrat wird sich in seiner Sitzung am kom-
menden Freitag nochmals mit der Problematik beschäf-
tigen. Der Innen- und Wirtschaftsausschuss und auch
der Ausschuss für Städtebau und Wohnungswesen emp-
fehlen, zu dem Vorschlag eine Subsidiaritätsrüge zu er-
heben. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich der Bundes-
rat insgesamt dieser Ausschussmeinung anschließt. Die
Bundesratsausschüsse kritisieren darüber hinaus, dass
die vorgeschlagenen Regelungen zu einem unverhältnis-
mäßigen Aufwand führen würden. Das ist ein sehr
schwerwiegender Einwand. Der vorgelegte Vorschlag
der Kommission begrenzt sich gerade nicht auf die Ko-
difizierung der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofes, sondern geht weit darüber hinaus. Wir mei-
nen, dass die vorgesehenen Schwellenwerte angesichts
der langen Laufzeiten von Dienstleistungskonzessionen
deutlich zu niedrig liegen. Darüber hinaus sollen sie
auch die voraussichtlichen Einnahmen und die vom
Konzessionsgeber zu zahlenden Beiträge erfassen.
Diese Definition beschwört Rechtsunsicherheiten herauf
und öffnet Rechtsstreitigkeiten Tür und Tor. Das gilt
auch für die Definition der Laufzeit. Insgesamt würde
die Verwendung von Dienstleistungskonzessionen deut-
lich erschwert.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/8761. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak-tion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beiEnthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 17/8768. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieser An-trag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und derFDP-Fraktion abgelehnt, gegen die Stimmen der übrigenFraktionen des Hauses.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Sabine Zimmermann, Dr. Kirsten Tackmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBundesmittel zur Finanzierung der Grund-sicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung 1 : 1 an Kommunen weiterreichen– Drucksache 17/8606 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussHaushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19345
Vizepräsidentin Petra Pau
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Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wirauch hier die Reden zu Protokoll. Es handelt sich umdie Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: KollegeLange von der Unionsfraktion, Kollegin Hiller-Ohm fürdie SPD-Fraktion, Kollege Kober für die FDP-Fraktion,Kollegin Kunert für die Fraktion Die Linke und KolleginHaßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Sollte uns rechtzeitig vor Drucklegung des Protokollsder Beitrag des Kollegen Tauber von der Unionsfraktionerreichen, nehmen wir diesen ebenfalls zu Protokoll.
Heute führen wir wieder eine der typischen Debatten,
weil die Linken verzweifelt nach einem Thema suchen
und dabei Gesetze kritisieren, die von allen, Bund, Län-
dern und Kommunen, positiv gewertet werden. Ich spre-
che vom Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kom-
munen, das seit dem 1. Januar 2012 in Kraft ist.
Worum geht es? Im Jahr 2003 hat Rot-Grün die
Grundsicherung eingeführt; wie so häufig aber nicht auf
Kosten des Bundes, sondern auf Kosten der Kommunen,
ohne einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Dies
hat sich aufgrund der steigenden Kosten zu einem der
größten Posten in den kommunalen Haushalten entwi-
ckelt, die Kommunen waren finanziell völlig überlastet.
Dennoch hat Rot-Grün in keiner Weise reagiert.
Um die Finanznot der Kommunen zu verringern, hat
die christlich-liberale Bundesregierung im Jahr 2010
die Gemeindefinanzkommission eingesetzt, zu deren
Aufgaben es gehörte, Möglichkeiten zur finanziellen
Entlastung der Kommunen bei den Ausgaben zu prüfen
und Lösungsvorschläge zu den drängenden Problemen
des kommunalen Finanzsystems zu erarbeiten. Der Vor-
schlag, die Kommunen bei den Aufwendungen zur
Grundsicherung finanziell zu entlasten, indem die Bun-
desbeteiligung bei der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung schrittweise angehoben wird, wurde
von allen Seiten begrüßt.
Wir haben ein gigantisches Paket geschnürt, und
diese Debatte gibt mir die Gelegenheit aufzuzeigen, dass
die christlich-liberale Regierungskoalition ein Maßnah-
menpaket für die Kommunen verabschiedet hat, das al-
lein bis 2015 die Kommunen um nahezu 13 Milliarden
Euro entlastet. Zusammen mit dem beschlossenen Bil-
dungspaket hat der Bund von den Kommunen bis zum
Jahr 2020 Kosten in einer Größenordnung von mehr als
50 Milliarden Euro übernommen. Dies ist die größte
Entlastung der Städte, Gemeinden und Kreise seit Beste-
hen der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben damit ein Versprechen aus der Koalitions-
vereinbarung erfüllt, in der es unter anderem heißt: Wir
wollen in Deutschland starke Kommunen. Zusammen
mit den kommunalen Spitzenverbänden werden wir nach
Wegen suchen, Entlastungen für die Kommunen zu iden-
tifizieren. – Wir haben nicht nur gesucht, sondern wir
haben in der Gemeindefinanzkommission auch einver-
nehmlich mit allen kommunalen Spitzenverbänden einen
sehr guten Weg gefunden. Jetzt haben die Kommunen
wieder mehr Geld zur Verfügung, um ihren zahlreichen
Aufgaben nachzukommen.
Und was macht die Linke? Sie kritisieren, dass die
Abrechnung vom Vorvorjahr erfolgt. Dabei wissen Sie
ganz genau, dass die Nettoausgaben nach geltendem
Recht auf der Grundlage der Bundes-
statistik für das Vierte Kapitel SGB XII erstattet werden.
Die im Jahr der Zahlung der heutigen Bundesbeteili-
gung am aktuellsten verfügbaren Daten beziehen sich
auf das Vorvorjahr. Ich möchte zur Verdeutlichung ein
Beispiel anführen: Die Bundesstatistik für das Jahr
2010 lag im November 2011 vor und bildete die Grund-
lage für die Höhe der Bundesbeteiligung 2012 bei Haus-
haltsaufstellung 2012 und damit für die Zahlung der
Bundesbeteiligung im Jahr 2012. Zusätzlich werden die
Korrekturmeldungen zum Stand 1. April 2012 für das
Jahr 2010 berücksichtigt.
Generell gilt, dass der Anteil des Bundes nur auf Ba-
sis statistischer Daten eines zurückliegenden Zeitraums
gezahlt werden kann. Zwangsläufige Folge ist ein „time
lag“ zwischen dem Zeitraum, der als Berechnungs-
grundlage gilt, und dem oder den Auszahlungszeitpunk-
ten.
Aufgrund der Sachargumente fordere ich die Linke
auf: Ziehen Sie Ihren populistischen Antrag zurück und
arbeiten Sie zur Abwechslung einmal konstruktiv an der
Beseitigung der zahlreichen Probleme unserer Gesell-
schaft, anstatt dem Bundestag mit solch unnötigen An-
trägen die Zeit zu stehlen.
Wir debattieren heute erneut über die Kostenüber-nahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung durch den Bund und die damit verbundene fi-nanzielle Entlastung der Kommunen. Ich wundere michdarüber, denn der Gesetzentwurf der Bundesregierungist bereits nach intensiven Debatten im Ausschuss undhier im Plenum am 27. Oktober 2011 beschlossen wor-den.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-ben dem Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kom-munen zugestimmt, allerdings mit Bauchschmerzen, diewir, wie Sie auch, meine Kolleginnen und Kollegen vonder Linken, in entsprechenden Anträgen zum Ausdruckgebracht haben.Im Vermittlungssauschuss zu den Hartz-VI-Regelsät-zen war den Städten und Gemeinden die Übernahme derKosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung zugesagt worden. Bislang mussten die Kom-munen diese Kosten fast allein tragen – eine Last, dieviele nicht mehr stemmen konnten.Auf einen Schlag war die 100-prozentige Übernahmedurch den Bund nicht möglich, deshalb hat man sich aufein Stufenverfahren geeinigt. Nach langer Wartezeit lagdas Gesetz dann endlich auf dem Tisch. Doch darinwurde lediglich die erste Entlastungsstufe gesetzlich ge-regelt. Ab 2012 werden Städte und Gemeinden um 45 Pro-zent entlastet. Für das weitere Vorgehen wurde ein Ver-fahrensvorschlag in der Begründung des Gesetzes dar-gelegt. Dieses Gesetz hat unsere Erwartungen nicht er-
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19346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Gabriele Hiller-Ohm
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füllt. Auch die Kommunen fühlten sich über den Löffelbarbiert.Ich fasse noch einmal zusammen: Im Gesetz wurdenur die Steigerung der Kostenübernahme der Grund-sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für dasJahr 2012 mit einer Bundesbeteiligung von 45 Prozentabgesichert. Zu den weiteren Entlastungsstufen derJahre 2013 und 2014, in denen die Bundesbeteiligungauf 75 Prozent bzw. 100 Prozent ansteigen soll, liegt bisheute nichts vor. Das haben wir bereits im Oktober letz-ten Jahres kritisiert. Die Bundesregierung ist mit ihremGesetz zu spät in die Puschen gekommen. Die Kommu-nen und Landkreise müssen nun unter der schwarz-gel-ben Bummelei leiden! Sie können zwar mit der für diesesJahr geplanten Entlastung von 1,2 Milliarden Eurorechnen, jedoch fehlt ihnen für die nachfolgenden Jahreschlicht die Planungssicherheit. In der kommunalenPraxis bedeutet dies, dass keine Doppelhaushalte verab-schiedet werden können und auch keine seriöse mittel-fristige Finanzplanung möglich ist. So steht Schwarz-Gelb zu den Kommunen!Ich rufe allen noch einmal in Erinnerung, über wel-che erheblichen Größenordnungen wir sprechen: Beiden geplanten weiteren Entlastungsstufen handelt essich um ein Volumen von 2,7 Milliarden Euro im Jahr2013, 4,1 Milliarden Euro für das Jahr 2014 und4,4 Milliarden Euro im Jahr 2015.Warum, Frau Ministerin von der Leyen, haben Sienicht frühzeitiger mit der Arbeit begonnen und IhreHausaufgaben rechtzeitig gemacht? Sie hätten uns allendiesen unbefriedigenden langwierigen Prozess ersparenkönnen!Dass der Bund überhaupt schrittweise die vollen Kos-ten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung übernimmt, haben wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten im Rahmen der Verhandlungen überdas Hartz-IV-Paket im Februar letzten Jahres durchge-setzt. Das ist ein großer politischer Erfolg, den wir imVermittlungsausschuss für die klammen Kommunen aus-gehandelt haben. Wir haben – im Gegensatz zu Ihnen,meine Damen und Herren aus der Linksfraktion – unsereVerantwortung wahrgenommen und dem Gesetzentwurfzugestimmt, damit wenigstens die erste Entlastungsstufefür dieses Jahr erreicht werden konnte. Denn die Kom-munen und Landkreise dürfen und sollen nicht unter derschlechten Arbeit der Bundesregierung leiden.Deshalb haben wir auch in unserem Entschließungs-antrag zur Verabschiedung des Gesetzes als einzigeFraktion ergebnisorientiert im Sinne der Planungssicher-heit der Landkreise und Kommunen eine verbindlicheFrist bis zum 1. April dieses Jahres zur Vorlage einesweiteren Gesetzentwurfes gefordert. Nur durch einerechtzeitige Vorlage kann eine Wiederholung der Situa-tion wie im vergangenen Jahr verhindert werden. Leiderscheint Ministerin von der Leyen solche Fristen zu brau-chen.Bis zum 1. April ist es heute nun noch genau einenMonat hin. Ich appelliere an die Bundesregierung, dieseZeit zu nutzen und dem Deutschen Bundestag bis Aprileinen Gesetzentwurf vorzulegen, der die zweite unddritte Entlastungsstufe der Jahre 2013 und 2014 rechts-verbindlich und vernünftig umsetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs-fraktionen, ich erinnere mich noch sehr genau an diegroßspurigen Worte von Peter Götz aus der CDU-Frak-tion hier im Plenum. Er sprach im September letztenJahres von der größten Entlastung der Kommunen seitBestehen der Bundesrepublik. Wenn Sie es wirklich ernstmeinen, sollte auch der Abrechnungsmodus noch einmalüberdacht werden und eine zeitnähere Abrechnung alsdie bisherige eingeführt werden.Jetzt werden die Aufwendungen der Kommunen desVorvorjahres für die Rückerstattung des Bundesanteilszugrunde gelegt. Da die Kosten der Grundsicherung imAlter und bei Erwerbsminderung ständig ansteigen, ver-lieren die Kommunen so viele Millionen Euro.Auch dies hatten wir in unserem Entschließungs-antrag zu dem Gesetzentwurf deutlich gemacht. UnserEntschließungsantrag war und ist daher ein klares Si-gnal an die Kommunen, dass die SPD zu ihrem Verhand-lungserfolg steht und die Entlastung wie verabredetdurchsetzen will.Genau wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen derLinksfraktion, bin auch ich ungeduldig und will wissen,wann denn nun der nächste Gesetzentwurf kommt. Ichhabe deshalb bei der Bundesregierung nachgefragt,wann sie beabsichtigt, den neuen Gesetzentwurf zur Um-setzung der Entlastungsstufen für die Jahre 2013 und2014 mit einer Bundesbeteiligung von 75 bzw. 100 Pro-zent an den Kosten der Grundsicherung im Alter und beiErwerbsminderung vorzulegen. Ich hoffe, dass ich damitFrau Ministerin von der Leyen und das Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales aus ihrem Winterschlaf ge-weckt habe.Solche Wege hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen aus der Linksfraktion, auch gehen können. Dieswäre zweckmäßiger gewesen, als jetzt einen Antragohne neuen Inhalt einzubringen und alten Wein in neueSchläuche zu gießen.Die Bundesregierung ist nun in der Bringschuld. WirSozialdemokratinnen und Sozialdemokarten werden derschwarz-gelben „Bummelregierung“ Beine machen undihr ganz genau auf die Finger schauen. Wir sind sehr ge-spannt, was die Bundesregierung vorlegen wird. DieStädte und Landkreise brauchen endlich Planungssi-cherheit.
Am 27. Oktober 2011 haben wir hier im DeutschenBundestag das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft derKommunen beschlossen. Wir kamen damit einer imRahmen des Vermittlungsverfahrens zur Neuberechnungder Arbeitslosengeld-II-Regelsätze getroffenen Verein-barung nach und haben damit die Voraussetzungen füreine Entlastung der Kommunen geschaffen, wie es sie indieser Höhe in der Geschichte der Bundesrepublik nochnie gegeben hat.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19347
Pascal Kober
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Diese christlich-liberale Koalition hat dafür gesorgt,dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 MilliardenEuro entlastet werden. Hätten wir keine gesetzlichenÄnderungen herbeigeführt, läge die Kostenübernahmedurch den Bund im kommenden Jahr nicht bei 45 Pro-zent, sondern nur bei 16 Prozent.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in IhremAntrag kritisieren Sie vor allem drei Punkte, mit denenich mich jetzt im Einzelnen befassen möchte.Sie beschreiben, dass es Signale gäbe, dass einigeLänder die Mittel nicht in vollem Umfang an die Kom-munen weiterleiten. Ich kann Ihnen sagen, ich habe sol-che Signale auch vernommen. Ich zitiere einmal aus derSchweriner Volkszeitung vom 8. Februar dieses Jahres:„Zwischen den neuen Großkreisen und dem Land ist einerster handfester Streit entbrannt: Während das Sozial-ministerium Mittel des Bundes in zweistelliger Höhe fürdie Grundsicherung im Alter – also Gelder für arme undärmere Senioren – einbehalten will, fordern sie die Kom-munen für sich. Allein 2012 könnte die Summe rund20 Millionen Euro betragen, für das Jahr 2015 schätztsie der Landkreistag auf 77 Millionen Euro, sagte Ge-schäftsführer Jan Peter Schröder auf Nachfrage.“ Wei-ter heißt es dort: „Den Stein ins Rollen gebracht hattedie Landes-FDP.“Am Nachmittag des gleichen Tages hat Frau Schwesig,die sich ja gerne als die wahre Kämpferin für die Kom-munen und Schwächsten darstellt, dann dargelegt, dassdas Land nun doch die Mittel vollständig an die Kommu-nen weitergibt. Ein Erfolg für die Kommunen bewirktdurch die FDP in Mecklenburg-Vorpommern.Wir sollten uns hier alle einig sein, dass die Länderunseren gesetzgeberischen Willen umsetzen und nicht zu-lasten der Kommunen tricksen sollten, um ihre eigenenEinnahmen zu erhöhen. Daher kann ich diesem Punkt imAntrag der Linken voll zustimmen.Den anderen beiden Punkten jedoch nicht: Sie zwei-feln an, dass der Bund die rechtlichen Grundlagen fürdie Kostenübernahme ab 2013 legen wird. Hier muss ichIhnen entschieden widersprechen. Schon in den Debat-ten zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kom-munen haben andere Redner der Koalitionsfraktionenund auch ich klar gemacht, weshalb bisher nur die Kos-tenübernahme für das Jahr 2012 gesetzlich geregeltwurde. Ich erläutere es Ihnen aber gerne noch einmal.Sie sollten wissen, dass mit der Kostenübernahme dieEinrichtung einer Behörde im Rahmen der Bundesauf-tragsverwaltung zusammenhängt. Die Einrichtung die-ser Behörde bedarf einiger Regelungen und Änderun-gen. Sie bedarf der Verankerung von Prüf- undWeisungsrechten des Bundes und der Einführung undUmsetzung einer ganzen Reihe von Regelungen, wasseine Zeit braucht. Wir werden aber in diesem Jahr dieVoraussetzungen für die Kostenübernahme in den kom-menden Jahren schaffen.Zudem fordern Sie, dass die Abrechnung und Erstat-tung auf Basis der laufenden Nettokosten erfolgen sollte.Sie sollten jedoch auch wissen, dass die Zahlen über dieHöhe der Kosten der Grundsicherung im Alter nicht so-fort zur Verfügung stehen, sondern erst mit einiger Ver-zögerung. So ist es auch bei den Kosten der Unterkunftoder den Kosten für das Bildungs- und Teilhabepaket.Daher könnte eine sofortige Abrechnung nur eineSchätzung sein und müsste dann im Nachhinein nachjus-tiert werden. Dieser Aufwand ist an dieser Stelle nichtgerechtfertigt, zumal die Kommunen ja die entstandenKosten vom Bund vollständig erstattet bekommen.
Ende Oktober beschloss der Deutsche Bundestag dasGesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen.Der Bund soll die Kosten für die Grundsicherung im Al-ter und bei Erwerbsminderung schrittweise bis 2014vollständig übernehmen. In der Begründung des Geset-zes wird ausdrücklich erklärt, dass mit der erhöhten Be-teiligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherungdie Kommunalfinanzen gestärkt werden sollen. Als maß-gebliche Höhe der Gesamtkosten der Grundsicherungwerden die Nettoausgaben der Kommunen aus dem Vor-jahr herangezogen.Eine tatsächliche Entlastung der Kommunen bei die-sen Kosten wird aber nur dann erreicht, wenn die Mittelvollständig an die Kommunen gehen und ihnen die lau-fenden Nettokosten erstattet werden.Für die Linke ist das Gesetz in dieser Form eine Mo-gelpackung; denn die Umsetzung dieses Gesetzes ver-hindert eine komplette Kostenübernahme durch denBund. In einer Antwort bestätigt die Bundesregierungerneut, dass sie bei den Kosten für die Grundsicherungim Alter und bei Erwerbsminderung in den nächstenJahren von einer kontinuierlichen Steigerung ausgeht.Gleichzeitig soll sich die Höhe der Bundesbeteiligungan diesen Kosten nicht an der aktuellen Entwicklung,sondern an den Werten des jeweiligen Vorjahres orien-tieren. Bei der von der Bundesregierung prognostizier-ten steigenden Kostenentwicklung in diesem Bereichkann also nie der Zustand erreicht werden, der die kom-plette Kostenübernahme durch den Bund sicherstellt.Ein wie auch immer auszusehender Ausgleich hierfür istlaut Antwort der Bundesregierung ausdrücklich nichtvorgesehen.Es liegt auf der Hand: Die hierdurch entstehendenFehlbeträge müssen weiterhin durch die Kommunen ge-tragen werden.Legt man die Zahlen zugrunde, auf die die Bundes-regierung in ihrer Antwort verweist, steigen die Kostenfür die Grundsicherung im Jahr 2013 um über 860 Mil-lionen Euro, im Jahr 2014 um knapp 510 Millionen Euround im Jahr 2015 um weitere 284 Millionen Euro. In Be-zug auf die Vorvorjahre müssen dann die Kostensteige-rungen von zwei Jahren durch die Kommunen aufgefan-gen werden.Das ist aus Sicht der Linken keine kommunalfreundli-che Politik, auch wenn dies der Kollege Götz gern vorsich herträgt. Die vielfach abgegebenen Pressemittei-lungen hierzu ersetzen mitnichten eine kommunal-freundliche Politik.Zu Protokoll gegebene Reden
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19348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Katrin Kunert
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Die Linke will, dass der Finanzierungsmodus für dieKosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung so klar gesetzlich geregelt wird, dass Ab-rechnung und Erstattung der Kosten auf Basis der ak-tuellen Nettokosten erfolgen. Es müssen die rechtlichenGrundlagen für eine Kostenübernahme des Bundes inHöhe von 75 Prozent ab 2013 und in Höhe von 100 Pro-zent ab 2014 geschaffen werden.Nun will ich etwas zu den angepriesenen Einsparun-gen für die Kommunen sagen. Bereits jetzt gibt es nachAussagen des Deutschen Städtetages Signale aus eini-gen Ländern, dass sie die Mittel nicht in vollem Umfangan ihre Kommunen weitergeben werden. Zum Teil sollendiese Mittel für die Finanzausgleichsmasse innerhalbdes Landes mit Verweis auf die erhöhte Bundesbeteili-gung gekürzt werden. Die Länder haben sich mit der Zu-stimmung zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft derKommunen und dessen Gesetzesbegründung zu einertatsächlichen Entlastung der Kommunen bekannt. Kür-zungen oder eine Nichtweiterleitung von entsprechen-den Bundesmitteln stehen in einem eklatanten Wider-spruch zu diesem Bekenntnis.Die Linke will, dass die Bundesmittel zur Finanzie-rung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin-derung in vollem Umfang an die Kommunen weiter-gereicht werden. In einem Gesetzentwurf mussinsbesondere im Rahmen der Aufsicht nach Art. 84Abs. 3 Grundgesetz dafür Sorge getragen werden, dassdie Länder die Mittel für die Grundsicherung im Alterund bei Erwerbsminderung vollständig an ihre Kommu-nen weiterzureichen haben.Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu-nen suggeriert den Willen des Bundes, die Kommunenbeim Aufgabenvollzug von Kosten zu entlasten. Dies be-tonte die Arbeitsministerin mehrfach. Wird es aber kon-kret, zieht sich die Bundesregierung gern dahinterzurück, dass es laut Grundgesetz keine direkten Finanz-beziehungen zwischen Bund und Kommunen gibt.Das ist zwar korrekt, aber dann tun Sie doch bittenicht so!Abschließend fordere ich im Namen meiner Fraktion– so haben wir es in unserem Antrag auch formuliert –,dem Deutschen Bundestag ab dem Jahr 2012 jährlichdarüber Bericht zu erstatten, inwieweit die beabsichtigteEntlastung der Kommunen tatsächlich eingetreten ist.
Die Fraktion Die Linke greift mit ihrem heute zurDebatte stehenden Antrag ein Problem auf, das wir be-reits im Oktober letzten Jahres beim Gesetz zur Stärkungder Finanzkraft der Kommunen
verhandelt haben. Dieses Gesetz regelt – entgegen allerVereinbarungen in der Gemeindefinanzkommission derBundesregierung – nicht die vollständige Übernahmeder Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Er-werbsminderung durch den Bund. Bereits damals kriti-sierte meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihremAntrag „Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetztfinanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nach-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nichtvollständig an die Kommunen weitergegeben werden.Die Fraktion Die Linke kritisiert dies nun ebenfalls zuRecht.Ich möchte heute die mangelnde Spitzabrechnung sei-tens der Bundesregierung gegenüber den Kommunen inden Fokus rücken, die Sie, verehrte Kolleginnen undKollegen von Union und FDP, gerne unter den Tisch fal-len lassen, wenn Sie mit Ihrer Botschaft, was Sie allesfür die Kommunen tun, durch die Lande ziehen. Auchwir Grüne begrüßen, dass der Bund die Kosten derGrundsicherung im Alter ab 2014 übernimmt. Aller-dings dürfen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonUnion und FDP, bei der gesetzlichen Umsetzung dieStädte, Gemeinden und Landkreise nicht gleich wiederüber den Tisch ziehen. Ohne Not wollen Sie den Kommu-nen die Kosten der Grundsicherung im Alter nur auf derBasis der Ausgaben des Vorvorjahres erstatten. Beijährlichen Ausgabensteigerungen bei der Grundsiche-rung von 7 Prozent, wie es das Bundesministerium fürArbeit und Soziales für den Bundeshaushalt zugrundelegt, werden den Kommunen 14 Prozent und mehr dertatsächlichen Ausgaben nicht zugewiesen. Der DeutscheStädtetag hat ausgerechnet, dass von den 4 MilliardenEuro für die Grundsicherung im Alter ab 2014 bundes-weit den Kommunen eine halbe Milliarde Euro vorent-halten wird. Für die Stadt Bielefeld, die heute rund19 Millionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, be-deutet dies zum Beispiel eine vorenthaltene Erstattungvon 2,7 Millionen Euro! Von einer hundertprozentigenErstattung der Grundsicherungsleistungen kann alsokeine Rede sein. Deshalb verbreiten Sie, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte nichtweiter die Mär von der vollständigen Übernahme derKosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund.Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie die fehlendeSpitzabrechnung auf das Verhandlungsergebnis zwi-schen Bund und Ländern im Vermittlungsausschuss zurHartz-IV-Reform im Februar letzten Jahres zurückfüh-ren. Dort ist nicht festgehalten, dass auf der Basis desVorvorjahres abzurechnen ist, auch wenn das dort zu-grunde gelegte Zahlentableau Zahlen des StatistischenBundesamtes aus dem Vorvorjahr als Basis nimmt, umfür die Folgejahre eine Projektion vorzunehmen. DerGrund war schlichtweg, dass damals keine aktuellerenDaten vorlagen. Das heißt aber nicht, dass dies für alleZeit so fortgeschrieben werden muss. Halten wir fest:Der Bund verwehrt den Kommunen durch den Vorvor-jahresbezug die vollständige Erstattung der Kosten derGrundsicherung und hält sich nicht an die Vereinbarun-gen mit den Ländern; denn keine vier Monate nachAbschluss des Vermittlungsverfahrens zur Reform desSGB II beschloss die Gemeindefinanzkommission zumThemenkomplex „Standards“ in ihrer abschließendenSitzung am 15. Juni 2011: „Ab dem Jahr 2014 wird derBund den Kommunen die Ausgaben für die Grundsiche-rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständigerstatten zu 100 Prozent. Dabei soll durch eine zeitnaheErstattung sichergestellt werden, dass eine möglichstZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19349
Britta Haßelmann
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geringe Vorfinanzierung durch Länder und Kommunenangestrebt wird.“Diesem Beschluss hat der Bund bei der Umsetzungdes ersten Schrittes zur Übernahme der Kosten derGrundsicherung im Alter durch das „Gesetz zur Stär-
rung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage zuDrucksache 17/8669 vom 13. Februar 2012 bereitsdeutlich gemacht, dass sie beim weiteren Umsetzungs-schritt wiederum keine vollständige Kostenerstattung andie Kommunen vornehmen und von ihrer bisherigenPraxis nicht abweichen wird.Dabei besteht kein sachlicher Grund, den Kommuneneine vollständige Kostenerstattung auf der Basis der tat-sächlichen Ausgaben zu verwehren. Wir Grüne haben inunserem genannten Antrag vorgeschlagen, zunächst aufder Basis der Daten des Vorvorjahres vorschussweiseabzurechnen und den Restbetrag den Kommunen auf derBasis einer Spitzabrechnung zukommen zu lassen, so-bald die tatsächlichen Ausgaben vom StatistischenBundesamt ermittelt sind. Dieser Weg würde den Be-schlüssen der Gemeindefinanzkommission Rechnungtragen und würde eine hundertprozentige Entlastung derKommunen von den Ausgaben für die Grundsicherungim Alter und bei Erwerbsminderung sicherstellen. Sie,verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDPsind jetzt gefordert. Noch ist Zeit. Die Bundesregierunghat angekündigt, den Gesetzentwurf für die weiterenEntlastungsschritte im Sommer vorzulegen. Setzen Siesich für unsere Kommunen ein und sorgen Sie mit unsgemeinsam dafür, dass diese die Kosten der Grundsiche-rung im Alter vollständig vom Bund erstattet bekommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8606 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer,
Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraftstof-
fen aus Teersanden bei der Umsetzung der
Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigen
– Drucksachen 17/7956, 17/8759 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Oliver Krischer
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege
Dr. Paul für die Unionsfraktion, Kollege Schwabe für
die SPD-Fraktion, Kollege Kauch für die FDP-Fraktion,
Kollegin Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke
und Kollege Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen, in welchem gefordertwird, dass die Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen ausTeersanden bei der Umsetzung der Kraftstoffqualitäts-richtlinie berücksichtigt werden soll. Um es gleich vor-weg zu sagen: Das ist für uns nicht ausreichend.Im Jahr 2009 wurde in Art. 7 a der EU-Kraftstoffqua-litätsrichtlinie ein Treibhausgasminderungsziel fürKraftstoffe eingeführt. Diese Fuel Quality Directive derEU soll dazu führen, dass die Treibhausgasemissionendes Verkehrssektors sinken. Das ist aus Umweltsichtdringend erforderlich. Im Gegensatz zu den Sektoren In-dustrie, private Haushalte sowie Handel und Gewerbeist der Verkehr der einzige Sektor, in dem der CO2-Aus-stoß nach wie vor steigt. Hier muss angesetzt werden.Die EU legte in der Kraftstoffqualitätsrichtlinie fest,dass die Mineralölwirtschaft bis zum Jahr 2020 dieTreibhausgasemissionen der fossilen Kraftstoffe ummindestens 6 Prozent im Vergleich zu 2010 reduzierenmuss.Dieses Minderungsziel kann mit verschiedenen Maß-nahmen erreicht werden, zum Beispiel durch den Einsatzvon Biokraftstoffen. Aber auch die differenzierte Be-trachtung der Lebenszyklustreibhausgasemissionen derunterschiedlichen Kraftstoffe ist sinnvoll. Dabei ist eswünschenswert, langfristig die CO2-Emissionen, die beiFörderung, Verarbeitung und Transport entstehen – alsovom Förderturm bis zum Tank –, zu betrachten. Derdamit verbundene bürokratische Aufwand der Nachver-folgung einzelner Chargen in immer wieder unter-schiedlich gemischt gefüllten Transport- und Lager-behältern ist dem gegenüberzustellen. Insofern ist esvöllig richtig, wenn in der Kraftstoffqualitätsrichtliniefür Mineralölprodukte festgelegt wird, dass der gesamteLebenszyklus in den Blick genommen wird und in durch-schnittlichen Werten für die CO2-Emissionen, den soge-nannten Defaultwerten in Kilogramm CO2-Äquivalentpro Gigajoule, abgebildet wird.Die Europäische Kommission hat im Oktober 2011einen Vorschlag für eine Methodik vorgelegt, wie dieCO2-Emissionen berechnet werden sollen. Vorgeschla-gen wurde, Öl aus verschiedenen Quellen grundsätzlichunterschiedliche Treibhausgasemissionswerte im gesam-ten Lebenszyklus zuzuweisen. Dabei soll Kraftstoffen aufBasis von Ölsanden ein höherer CO2-Emissionswert an-gelastet werden als Kraftstoffen aus konventionellemRohöl. Das ist auch gerechtfertigt.Ölschiefer- und Teersandlagerstätten sind auf derErde weit verbreitet. Mit steigenden Ölpreisen wird der
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19350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Michael Paul
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energieintensive Abbau dieser Rohstoffe wirtschaftlich.Für die Verarbeitung des stückigen oder feinkörnigenölhaltigen Schiefers beziehungsweise zur Extraktion desBitumens aus Teersanden zum Beispiel durch großtech-nische Heißwasserextraktion wird viel Energie ver-braucht. Dies verschlechtert die Treibhausgasbilanz vonKraftstoffen aus Teersanden signifikant. Daneben führtder Teersandabbau zu zahlreichen weiteren Umwelt-problemen, unter anderem im Wasser- und Naturschutz-bereich.Der Import von aus Teersanden hergestellten Mine-ralölprodukten hat zurzeit in Deutschland keine und inder Europäischen Union nahezu keine Bedeutung. Trotz-dem ist die Festlegung einheitlicher Kriterien innerhalbder Europäischen Union richtig.Aber nicht nur Teersande verursachen einen größe-ren „Klima-Fußabdruck“. Auch bei der Ölförderungaus konventionellen Quellen können und müssen Pro-zesse optimiert werden. So gibt es Länder, in denen beiÖlbohrungen mitgefördertes Gas abfackelt wird oderGas beim Pipelinetransport von Erdöl abgeblasen oderauch abgefackelt wird. Eine Nutzung des Gases unter-bleibt allein aus wirtschaftlichen Gründen. Die ökolo-gischen Folgen dieser Art der Förderung sind gravie-rend! So hat in die Atmosphäre gelangendes Methaneine 21-mal höhere Klimaschädlichkeit als CO2. Auchfür diese Erdölprodukte muss der Druck erhöht werden,die Treibhausgasbilanz zu verbessern.Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen un-terscheidet zwischen konventionellen und unkonventio-nellen Quellen. Das ist einseitig und geht in der Sachefehl. Wir wollen nicht einzelne Länder benachteiligen,sondern die Erdölprodukte sollen nach ihrer spezifi-schen Treibhausgasbilanz differenziert werden. Nur dasist sachgerecht. Uns geht es schließlich nicht um billigeEffekthascherei, indem ein Land wie Kanada an den„Ökö-Pranger“ gestellt wird, wie dies teilweise von denGrünen gemacht wird. Uns geht es vielmehr um dieSache. Das erfordert eine ehrliche Betrachtung der öko-logischen Auswirkungen bei allen fossilen Kraftstoffen.Für den Nachweis der Lebenszyklustreibhausgas-emissionen ihrer Mineralölprodukte sollten die betroffe-nen Unternehmen nicht mit unverhältnismäßigen Be-richtspflichten und bürokratischen Anforderungenüberzogen werden. Anzustreben ist ein möglichst un-bürokratisches Verfahren. Der Vorschlag der Europäi-schen Kommission lässt an dieser Stelle eine Reihe vonFragen offen. Ein einfaches Berichtssystem, welches dievielfach vorhandenen Daten und Informationen nutzt,die bereits heute von der Ölindustrie geliefert werden,ist kompatibel mit den Vorgaben der Richtlinie. Ich for-dere die Bundesregierung auf, sich in den Verhandlun-gen auf europäischer Ebene für solche unbürokratischenVerfahren einzusetzen.Zu prüfen ist aus meiner Sicht auch der Vorschlag,EU-weite Standardwerte jeweils für Benzin und fürDiesel, die die Lebenszyklustreibhausgasemissionennach Herkunftsländern widerspiegeln, einzuführen.Ziel ist und muss sein, CO2-Fußabdrücke verschiede-ner Kraftstoffe vergleichbar zu machen und im Zeitab-lauf beobachten zu können. Die Festlegung gesonderterDefaultwerte für besonders schlechte Treibhausgas-bilanzen sind sinnvoll, da dadurch Anreize geschaffenwerden, andere, umweltfreundlichere Ausgangsbrenn-stoffe zu verwenden und Transport- und Produktionspro-zesse zu optimieren. Dazu müssen die Werte regelmäßigüberprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt werden.Das belohnt Anstrengungen der Liefer- und Transport-länder, die Treibhausgasbilanz der Produkte zu verbes-sern.Nur auf diese Weise lassen sich unsere Klimaziele fürdie EU erreichen: bis 2020 den CO2-Ausstoß insgesamtum 20 Prozent gegenüber 1990 zu senken und den Ver-kehrssektor hieran angemessen zu beteiligen.Die Grünen springen zu kurz. Deshalb lehnen wirihren Antrag ab.
Ich fange mit der Frage an, die im Mittelpunkt derDebatte steht: „Lassen wir es zu, dass unsere Klima-schutzpolitik durch massive Lobbyarbeit ausgehöhltwird?“ Bei dieser Frage steht die Bundesregierung imMittelpunkt der Debatte. Denn bei der Abstimmung inBrüssel werden wir nur dann eine Mehrheit für den Kli-maschutz bekommen, wenn die Bundesregierung denKlimaschutz unterstützt. Sollte sie mal wieder keineMeinung haben, so lässt sie den zerstörerischen Kräftenfreien Lauf. Bei der Abstimmung im Umweltausschuss inder letzten Sitzungswoche wurde klar, dass es einigeUmweltpolitiker bei den Regierungsfraktionen gibt, diegegen eine Verwässerung der Kraftstoffqualitätsrichtli-nie sind. Fast hätten wir sogar eine Mehrheit im Aus-schuss für einen Antrag der Opposition bekommen. Ichkann den Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelbnur zurufen: Machen Sie sich noch einmal klar, dass diePosition Deutschlands das Zünglein an der Waage ist.Die nächste Abstimmung in Brüssel ist entscheidend.Machen Sie Ihren Kollegen aus dem Wirtschaftsaus-schuss klar, dass Europa nackt im Wind stehen würde,wenn Kanada erst aus dem Kioto-Protokoll aussteigtund dann auch noch den europäischen Klimaschutz tor-pedieren könnte. Das darf nicht passieren!Der Vorschlag der Kommission muss auf dem Um-weltministertreffen im Juni eine Mehrheit finden. DieKommission hat eine wissenschaftlich fundierte Berech-nungsmethode vorgeschlagen. Länder wie Großbritan-nien oder die Niederlande sind nur dagegen, weil sieihre Ölkonzerne schützen wollen, die in den Abbau vonTeersand investieren wollen. Bei aller Sympathie für dieIndustrie – und als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiethabe ich viel Sympathie für die Industrie – muss ich ganzklar sagen: Der Abbau von Teersanden hinterlässt einetrostlose Mondlandschaft, zerstört das Klima und isteine Art der Ölgewinnung, die so schmutzig ist, dass wirsie nicht unterstützen können.Der Vorschlag der Kommission setzt um, was wirschon 2009 beschlossen haben. Auch der Verkehrsbe-reich soll seinen Beitrag leisten, um das Klimaziel derZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19351
Frank Schwabe
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EU zu erreichen. Dieses Klimaziel wurde im Jahre 2008beschlossen und war damals auch für die Kanzlerin vonhöchster Bedeutung. Heute müssten wir eher diskutie-ren, dass dieses Ziel zu niedrig ist. Stattdessen haben wirdie absurde Situation und müssen Angriffe abwehren,damit dieses niedrige Ziel nicht auch noch verwässertwird.Diese Angriffe sind gut organisiert. In Brüssel findeteine wahre Lobbyschlacht statt. In den letzten zwei Jahrenzählte Friends of the Earth Europe über 110 LobbyingEvents kanadischer Vertreter zur Richtlinie und demThema Teersande. Ich finde es erstaunlich, wie eine aus-ländische Regierung unsere Politik zu beeinflussen ver-sucht und wie massiv die kanadische Regierung gegendie Kraftstoffqualitätsrichtlinie kämpft. Dabei exportiertKanada kaum Öl aus Teersanden nach Europa. Esscheint nur darum zu gehen, dass eine Entscheidung inEuropa eine hohe symbolische Bedeutung hat, und soll-ten Teersande in Europa ein schlechtes Image bekom-men, könnten andere Absatzmärkte deswegen auch aufdie Idee kommen, ähnliche Gesetze zu erlassen undTeersande ebenfalls von ihren Märkten fernhalten zuwollen.Diese Diskussion wird nicht erst seit gestern geführt.Schon am 23. April 2009 wurde die EU-Kraftstoffquali-tätsrichtlinie verabschiedet, in der EU-weite Standardsfür Kraftstoffe festgelegt wurden. Bei dieser Novellewurde in Art. 7 a festgelegt, dass Kraftstofflieferantendie Emissionen ihrer Kraftstoffe um 6 Prozent bis 2020gegenüber 2010 senken müssen. Dieses Minderungszielim Treibstoffsektor soll mithelfen, das europäische Kli-maschutzziel von minus 20 Prozent gegenüber 1990 zuerreichen. Der Verkehrsbereich muss seinen Beitrag zurZielerreichung leisten. Neben effizienteren Fahrzeugenbieten auch die verwendeten Kraftstoffe Möglichkeitenzur Einsparung von Treibhausgasen.Nach Verabschiedung der Richtlinie mussten nochwichtige Details geregelt werden. In der Kraftstoffquali-tätsrichtlinie wird die EU-Kommission aufgefordert, Re-gelungen für technische Details vorzulegen. Dies ge-schieht in einem sogenannten Komitologieverfahren. ImOktober 2011 hat die EU-Kommission ihren Vorschlagvorgelegt, wie die Treibhausgasemissionen fossilerTreibstoffe berechnet werden sollen. Dabei soll die Öko-bilanz von der Förderung bis zur Verbrennung berück-sichtigt werden. Da die Herstellung von Kraftstoffen ausTeersanden und Ölschiefer zu den klimaschädlichstenVarianten der Kraftstoffherstellung gehört, entstehenbei dieser Art der Förderung höhere CO2-Emissionenals bei der konventionellen Ölförderung. Nach Berech-nungen der Stanford University für die EU-Kommissionliegt der Standardwert für Kraftstoffe aus Teersandenbei 107 Gramm CO2-Äquivalente je Megajoule, fürKraftstoffe aus konventioneller Ölförderung bei87,5 Gramm CO2-Äquivalente je Megajoule. Der Wertfür Teersande basiert auf dem Industriedurchschnitt fürdie Produktion von Teersanden, die in Raffinieren in derEU verarbeitet werden können.Kraftstoffe aus unkonventioneller Förderung wie ausTeersanden oder Ölschiefer haben nicht nur eineschlechte Klimabilanz, sondern führen auch zur großflä-chigen Entwaldung in den Fördergebieten. In Kanadabefinden sich die größten Reserven für Teersande. Derdortige Abbau zerstört große Flächen von borealem Pri-märwald. Die Förderung ist auch sehr wasserintensivund geht mit einer großflächigen Wasser- und Luftver-schmutzung einher. Bei Abbau und Verarbeitung vonTeersanden werden durchschnittlich viermal so vieleTreibhausgase freigesetzt wie bei konventionellemRohöl. Deswegen ist auch der Ansatz der EU-Kommis-sion richtig, Kraftstoffe aus Teersanden anders zu bilan-zieren als Kraftstoffe aus konventioneller Förderung.Die Debatte um die Behandlung von Teersanden wirdnicht nur in der EU geführt. In Kanada gibt es Proteste,vor allem von indigenen Gruppen, gegen die NorthernGateway Pipeline, die von Alberta an die kanadischeWestküste führen und den Ölexport nach Asien ermögli-chen soll. Die Genehmigung dieser Pipeline verzögertsich. Im November 2011 stoppte US-Präsident BarackObama vorerst den Bau der Keystone-XL-Pipeline.Diese Pipeline soll Öl aus Teersanden aus der kanadi-schen Provinz Alberta bis zu den Raffinerien im US-Bundesstaat Texas führen. In US-Bundesstaat Kalifor-nien sollen Treibstoffsorten bestimmte Emissionswertezugeordnet werden. Der kalifornische „Low CarbonFuel Standard“ ähnelt dabei der europäischen Kraft-stoffqualitätsrichtlinie. Gegen all diese Bemühungen ge-gen Öle aus Teersand geht Kanada massiv vor. Wie ge-rade schon dargestellt, gibt es – außer dem Profiteiniger Ölkonzerne – kein Argument für diese Art derunkonventionellen Förderung von Öl.Über den Vorschlag der EU-Kommission zur Umset-zung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie sollte am 23. Fe-bruar 2012 im Fuel Quality Committee abgestimmt wer-den. Das Fuel Quality Committee setzt sich ausExperten der Mitgliedstaaten zusammen. Jedoch kam eszu einem Patt. Das Committee konnte sich nicht auf eineBewertung der Energieträger einigen. Staaten wieGroßbritannien, aber auch Deutschland enthielten sichder Stimme. Nun müssen die EU-Umweltminister überdie Bewertung von Teersand entscheiden. Für den euro-päischen Klimaschutz ist es wichtig, dass der Vorschlagder EU-Kommission nicht verwässert oder verhindertwird. In dieser Diskussion ist die Haltung Deutschlandsentscheidend. Die Bundesregierung muss daher denVorschlag der EU-Kommission unterstützen und sichauch bei anderen Mitgliedstaaten für diesen Vorschlageinsetzen. Keine Meinung zu haben, kann für die nächsteAbstimmung keine Option sein. Ich kann den Kollegin-nen und Kollegen der Regierungsfraktionen nur dieWorte ihres Finanzministers ans Herz legen: Reden Sienicht, handeln Sie!
Die FDP-Fraktion begrüßt im Grundsatz die Überle-gung der EU-Kommission, eine Differenzierung mitBlick auf die Emissionen über den gesamten Lebenszy-klus hinweg vorzunehmen. In der Folge würde Kraft-stoffen auf Basis von Ölsanden ein höherer CO2-Emis-sionswert im gesamten Lebenszyklus zugewiesen alsKraftstoffen aus konventionellem Rohöl. Dies wäreZu Protokoll gegebene Reden
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19352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Michael Kauch
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sachlich richtig, da der Abbau und die Verarbeitung vonÖlsanden wesentlich mehr Energie in Anspruch nehmen,als dies bei konventionellem Rohöl der Fall ist. Danebendrohen insbesondere in Kanada ein Verlust an Wäldernund Mooren und somit zusätzliche CO2-Emissionen ausLandnutzungsänderungen.Einige offene Fragen gibt es allerdings noch, weswe-gen die Bundesregierung sich in dieser Frage auch nochnicht positioniert hat. Insbesondere ist unklar, welcheBerichterstattungspflichten auf die Mineralölwirtschaftzukommen. Die EU-Kommission hat angekündigt, dassein einfaches Berichtssystem mit den Vorgaben derRichtlinie vereinbar sei. Wie dieses Berichtssystem kon-kret ausgestaltet sein soll, ist bisher jedoch unklar.Einem Land wie Kanada, das sich nicht mehr demKioto-Regime unterwerfen will, sollte man bei derFrage des Teersandabbaus eine klare Botschaft senden.Der kanadischen Regierung muss deutlich gemacht wer-den, welche Auswirkungen ihre Art von Klimapolitikhat.Sofern die EU-Kommission ein einfaches und trans-parentes Berichterstattungssystem vorsieht, sollte siebei ihrem Vorhaben unterstützt werden. Nach der erstenDiskussion im Umweltausschuss hat sich die Arbeits-gruppe Umwelt meiner Fraktion nochmals beraten. Wirsind der Auffassung, dass es richtig ist, die Mineralöl-produkte nach den Lebenszyklustreibhausgasemissionenzu differenzieren.Leider war es nicht möglich, einen Kompromiss mitder CDU/CSU-Fraktion für einen interfraktionellen An-trag zu finden. Da wir an den Koalitionsvertrag gebun-den sind, müssen wir den vorliegenden Antrag ablehnen.Das bedeutet aber nicht, dass wir gegen dieses Anliegensind.
Der Ölpreis hat in den letzten Monaten wieder ange-zogen. Er liegt gegenwärtig bei über 100 Dollar jeBarrel. Das hat verschiedene Ursachen. Eine davon istsicher, dass Öl schlicht knapper wird. Der Aufwand zurFörderung steigt – und meist auch die damit verbunde-nen negativen sozialen und Umweltfolgen.Weil der Peak Oil seine Schatten voraus wirft, wirdnun die Gewinnung von Öl und Bitumen aus Teersandenoder Ölschiefer rentabel, allerdings nur eng betriebs-wirtschaftlich; denn die daraus gewonnenen Kraftstoffehaben am Ende eine bis zu dreifach schlechtere CO2-Bi-lanz. Das Bitumen muss schließlich mit heißem Dampfvom Sand getrennt und zu Ölprodukten aufbereitet wer-den.Das Ganze ist eine ziemliche Sauerei, von den sonsti-gen Folgen für die natürliche Umwelt im Fördergebietganz zu schweigen. Dafür werden im kanadischen Bun-desstaat Alberta und anderswo riesige Wald- und Moor-flächen vernichtet. Zudem werden Unmengen an Wasserund Gas für die Förderung benötigt.Mit den gigantischen Teersandvorkommen sollen dieGrenzen des Wachstums beim Verbrauch von Öl heraus-geschoben werden. Wie wir sehen, geht dies nicht zumNulltarif, und wenn wir ehrlich sind, beißt sich die Katzesogar in den Schwanz: nicht nur ökologisch, sondernauch sozial. Wenn wir das kohlenstoffbasierte Energie-system noch künstlich verlängern, ja sogar mit zentralis-tischen Technologien die CO2-Intensität im Verkehrnoch erhöhen, ist der Klimakollaps nicht mehr zu ver-hindern. Das wiederum wird Hunger, Vertreibung undsonstige Konflikte anheizen.Interessant ist, dass sich kürzlich ausgerechnet Ka-nada aus dem Kioto-Vertrag verabschiedet hat. DasLand sollte seine Emissionen eigentlich um 6 Prozentmindern, stößt aber ein Fünftel mehr aus als 1990. Dasliegt auch an der Ausbeutung der Ölsande, die, wie ge-sagt, eine verheerende Treibhausbilanz hat.Diese Bilanz muss nun auch bei der Umsetzung derEU-Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigt werden.Darum unterstützt die Linke an dieser Stelle den Entwurfder EU-Kommission zur Konkretisierung des Art. 7 a,welcher eine nach Rohstoffen differenzierte Berechnungder Treibhausgasemissionen der Kraftstoffe vorsieht.Wer Treibstoff auf Grundlage kanadischer Ölsande an-bietet, muss die vorgesehenen CO2-Minderungsvorga-ben schwerer erfüllen können, als beim Angebot vonTreibstoffen aus konventioneller Förderung. Das gebie-tet das Verursacherprinzip.Wir stimmen darum auch dem Antrag der Grünen zu,der die Bundesregierung auffordert, sich dagegen zuwenden, dass dieses Anliegen der EU-Kommission vonMitgliedsländern oder Lobbyorganisationen blockiertwird.Leider hat der Antrag bislang nicht viel genützt, ob-wohl sich ursprünglich alle Parteien im Umweltaus-schuss zumindest für den Inhalt ausgesprochen hatten.Der zuständige Expertenausschuss der EU-Länder vo-tierte vor einer Woche weder für noch gegen den Vor-schlag der EU-Kommission, der die Kraftstoffe als kli-maschädlich einstuft. Das lag auch daran, dassDeutschland sich dort enthalten hat.Ich finde diese deutsche Enthaltung feige und unauf-richtig. Ich frage mich, wie Deutschland jene nachhal-tige Rohstoffpolitik betreiben will, die ja erst gesternhier im Parlament beschworen wurde. Wie etwa ist dieIdee von Rohstoffpartnerschaften aus Sicht der nachhal-tigen Entwicklung zu verstehen, wenn Deutschland undEuropa es sogar im Falle eines potenten Industrielandeswie Kanada ablehnen, Vorschriften zu erlassen, dieextreme Umweltbelastungen beim Import von Rohstof-fen berücksichtigen?Auch wenn heute die Koalition den Antrag der Grü-nen ablehnen wird, gibt es noch eine Chance zur Besin-nung; denn die EU-Umweltminister müssen sich erneutmit dem Kommissionsvorschlag befassen. Darum appel-liere ich an Norbert Röttgen: Setzen Sie sich in Brüsselfür eine nach Rohstoffen differenzierte Berechnung derEmissionen ein. Der Dreck soll am besten bleiben, wo erist: unter der Erde.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19353
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In Brüssel wird gegenwärtig ein Vorschlag der Euro-päischen Kommission zur Umsetzung der Kraftstoffqua-litätsrichtlinie beraten. Eines der wichtigsten Ziele die-ser Richtlinie ist es, die Treibhausgasemissionen imVerkehrssektor um 6 Prozent bis zum Jahr 2020 gegen-über 2010 zu reduzieren. Die Bundesregierung unterAngela Merkel hat dieses Ziel bei der Erarbeitung derRichtlinie immer unterstützt.Die Kommission hat nun die Aufgabe, Regeln für dieUmsetzung der Richtlinie zu entwickeln, die eine Errei-chung des Ziels gewährleisten. Wenn man diese Aufgabeernsthaft angeht, reicht es nicht, nur darauf zu gucken,welche Emissionen bei der Verbrennung von Treibstof-fen entstehen. Es müssen auch die Emissionen in denBlick genommen werden, welche schon bei der Förde-rung entstehen. Es bedarf also einer Betrachtung derLebenszyklustreibhausgasemissionen. Diese unterschei-den sich nämlich ganz erheblich, je nach Herkunft desÖls.Es macht einen deutlichen Unterschied in der Klima-und Umweltbilanz, ob man Erdöl aus einer konventio-nellen Lagerstätte gewinnt, oder ob, wie beim Abbauvon Teersanden in Kanada, große Waldflächen vernich-tet werden, unter hohem Energieaufwand das Öl ausdem Boden gewaschen wird und die daraus entstehen-den Abwässer in Giftseen gelagert werden müssen.Diese Seen müssen sogar großflächig abgedeckt werden,damit bloß keine Vögel darauf landen können. So vergif-tet ist das Wasser! Auch in anderen Regionen der Welt,zum Beispiel in Venezuela, Madagaskar, der RepublikKongo und Russland gibt es Teersandprojekte bzw.Pläne, Erdöl aus Teersanden zu fördern. Wenn wir es inEuropa wirklich ernst damit meinen, dass wir unsereEmissionen im Verkehrssektor reduzieren wollen, danndürfen wir diese Auswüchse bei der Erdölförderungnicht ignorieren und müssen jetzt ein Zeichen dagegensetzen.Genau hier setzt der Vorschlag der EuropäischenKommission zur Umsetzung der Kraftstoffqualitätsricht-linie an, für den wir in dem vorliegenden Antrag umUnterstützung werben: Kraftstoffanbieter sollen in Zu-kunft nachweisen, aus welchem Rohstoff ihre Mineral-ölprodukte gewonnen wurden. Daraus folgt: Kraftstoff-anbieter, die Öl aus Teersanden verkaufen, haben eineentsprechend schlechtere CO2-Bilanz als diejenigen, diekonventionell gewonnenes Öl verkaufen. Die Kommis-sion beschreitet damit einen konsequenten Weg zurUmsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie. Wir sindder festen Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist,und daher fordern wir die Bundesregierung in demvorliegenden Antrag auch auf, diesen Vorschlag auf EU-Ebene zu unterstützen.Natürlich sind hier wirtschaftliche Interessen der Öl-industrie berührt. Unternehmen in Kanada planen zur-zeit, das Teersandgeschäft deutlich auszuweiten. Bishergeht ein Großteil der Lieferungen in die USA. Dies sollsich in Zukunft ändern: Die Förderung soll in den kom-menden Jahren verdreifacht und das gewonnene Ölschon bald auch verstärkt nach Asien und Europa gelie-fert werden. Entsprechend tritt die kanadische Erdöl-lobby bei den europäischen Regierungen derzeit mitNachdruck auf. Selbst der kanadische Botschafter hatdie Mitglieder des Umweltausschusses des Bundestagsnoch vor der Abstimmung im Ausschuss über unserenAntrag angeschrieben und für eine Ablehnung des Vor-schlags der EU-Kommission geworben.Bei der Bundesregierung und großen Teilen der Ko-alitionsfraktionen waren die Ölindustrie und die kanadi-sche Regierung offensichtlich auch erfolgreich: Anstattdas Vorhaben der Kommission zu unterstützen, wie diesimmerhin zwölf andere EU-Mitgliedstaaten getan ha-ben, enthielt sich die Bundesregierung der Stimme. Dassder Vorschlag der Kommission keine Mehrheit gefundenhat, ist ohne Zweifel auch die Folge der unklaren deut-schen Haltung. Schwarz-Gelb hat es wieder einmal ver-säumt, ein wichtiges Zeichen für den internationalenKlimaschutz zu setzen. Alle hier vertretenen Fraktionenhaben sich im vergangenen Dezember über den AustrittKanadas aus dem Kioto-Protokoll empört. Dies wäre dieChance gewesen, auf den Austritt Kanadas eine politi-sche Reaktion folgen zu lassen. Doch bisher wurde sievertan. Außerdem steht der Ausstieg Kanadas aus demKioto-Protokoll sicherlich auch in direkten Zusammen-hang mit erwartbar weiter steigenden CO2-Emissionendes Landes aus der Teersandgewinnung und der darausfolgenden Unmöglichkeit, die Klimaziele des Landeseinzuhalten.Es ist offensichtlich, dass sich WirtschaftsministerRösler und die Hardliner in der Bundesregierung auchbei diesem Thema durchgesetzt haben. Wir wissen, dasses in der Koalition durchaus Kräfte der Vernunft gabund wohl auch gibt, die unserem Antrag inhaltlichfolgen wollen. Die Beratungen im Umweltausschussschienen mir zwischenzeitlich sogar auf einem gutenWeg zu sein. Am Ende setzten sich dann doch dieFreunde der Ölindustrie in den Koalitionsfraktionendurch, und es kam nicht zu einem gemeinsamen Antragaller Fraktionen. Immerhin erklärt die FDP, den grünenAntrag nur aus Koalitionsräson abzulehnen, und dreiAbgeordnete der CDU enthielten sich. Damit wurde derAntrag mit denkbar knapper Mehrheit im Umweltaus-schuss abgelehnt.Nichtsdestotrotz habe ich bei den Beratungen im Um-weltausschuss durchaus den Eindruck gewonnen, dassdoch inhaltlich in weiten Teilen Konsens besteht. Ichwürde mich daher freuen, wenn sich hier im DeutschenBundestag doch noch eine Mehrheit für unseren Antragfinden würde und bitte Sie hiermit um Ihre Zustimmung.Das verbinde ich mit dem Appell an die Bundesregie-rung: Verabschieden Sie sich von Ihrer unwürdigenPosition der Enthaltung und unterstützen Sie den Vor-schlag der Kommission, wenn er im Juni diesen Jahresauf der Tagesordnung des Umweltrats steht. Zeigen Siewenigstens an dieser Stelle einmal, dass Klima- undUmweltschutz bei Ihnen nicht nur Themen für Sonntags-reden sind. Ein Land, welches sich selbst als Vorreiter inder Klima- und Energiepolitik bezeichnet, darf bei sol-chen Fragen nun wirklich nicht im europäischen Brem-serhäuschen sitzen. Alles andere als eine ZustimmungZu Protokoll gegebene Reden
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19354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Oliver Krischer
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zum Entwurf der Kommission wäre ein neuerlicher Tief-punkt der deutschen Klimapolitik.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8759,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7956 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der SPD-
Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die deutschen Kolonialverbrechen im ehema-
ligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord
anerkennen und wiedergutmachen
– Drucksache 17/8767 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die folgenden Kolleginnen und Kollegen: die Kolle-
gen Fischer und Dr. Götzer für die Unionsfraktion, die
Kollegin Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion, die Kol-
legin Schuster für die FDP-Fraktion, der Kollege
Movassat für die Fraktion die Linke und der Kollege
Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir debattieren hier heute in erster Lesung den An-trag der Linken zur Anerkennung und Wiedergutma-chung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligenDeutsch-Südwestafrika.Ich muss Ihnen sagen, der Antrag reiht sich gerade-wegs in die Reihe von Anträgen der Linken zum ThemaAfrika ein, für die ich wenig Verständnis habe. Vielmehrstelle ich mir die Frage, ob es nicht derzeit dringendereafrikapolitische Themen gibt, die einer Befassung durchden Deutschen Bundestag bedürfen. Als Beispiele nenneich die Unterstützung und Stabilisierung der neuen Re-gierung im Südsudan oder der seit 20 Jahren ungelösteKonflikt in Somalia.Ich spreche Sie, Herr Kollege Movassat, direkt an:Wir waren gemeinsam auf verschiedenen Reisen in denunterschiedlichsten Ländern des afrikanischen Konti-nents. Wir haben vor Ort die Probleme, aber auch dievielen guten Lösungsansätze der jeweiligen Regierun-gen und deren Partner gesehen. Dabei haben wir aberauch gesehen, dass es für die internationale Gemein-schaft noch viel zu tun gibt. Und trotz der vielen Aufga-ben, die wir auf unseren gemeinsamen Reisen vor Ortgesehen haben, schreiben Sie so einen Antrag? DerAntrag dient nur dazu, ihre verqueren politischen An-sichten in Bezug auf den von Ihnen so gern genannten„Neokolonialismus“ aufzuzeigen und Ihre eigenen Be-dürfnisse zu befriedigen! Für diese Verweigerung ge-genüber den außen-, entwicklungs- und menschen-rechtspolitischen Bedürfnissen und Gegebenheiten aufdem afrikanischen Kontinent fehlt mir jedes, aber wirk-lich jedes Verständnis.Aber nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen. Der Antragist eine Mischung aus altbekannten Forderungen, aberauch aus Feststellungen Ihrerseits, die rein völkerrecht-lich einfach nicht erfüllbar sind. Viele Forderungen ha-ben Sie auch schon im Rahmen einer Kleinen Anfrage andie Deutsche Bundesregierung gestellt, die auch vollum-fassend und ausführlich beantwortet wurde. Nicht zu-letzt dieser Umstand lässt mich an der Ernsthaftigkeitdes Antrages und Ihrem wirklichen Interesse an der Sa-che zweifeln.Sie fordern in Ihrem Antrag unter Punkt 5 des Fest-stellungsteils die Betonung der besonderen historischenund moralischen „Verantwortung Deutschlands gegen-über dem heutigen Namibia und der namibischen Bevöl-kerung“ und unter Punkt 3, „die Nachfahren der vomVölkermord betroffenen Herero, Nama, Damara undSan um Entschuldigung“ zu bitten. Die Bundesregie-rung hat sich vor dem Hintergrund der deutschen kolo-nialen Vergangenheit wiederholt zu dem schweren histo-rischen Erbe und der daraus resultierenden ethisch-moralischen Verantwortung Deutschlands gegenüberNamibia bekannt und die damaligen Geschehnisse zu-tiefst bedauert. So bat die damalige Entwicklungshilfe-ministerin Wieczorek-Zeul am 14. August 2004 „um Ent-schuldigung im Namen der gesamten deutschenRegierung“. Auch der Deutsche Bundestag hat das Son-derverhältnis Deutschlands zu Namibia unter anderemin seinen Entschließungen vom April 1989 und Juni2004 bekräftigt. Können Sie mir einen Grund nennen,warum der Deutsche Bundestag eine erneute Entschlie-ßung verabschieden sollte? Ich kann Ihnen sagen: Nein!Die Entschließungen von 1989 und 2004 gelten weiter-hin uneingeschränkt.Weiterhin sprechen Sie auch immer wieder von einerfälligen Anerkennung des „begangenen Völkermordes“nach der Konvention der Vereinten Nationen von 1948durch die Deutsche Bundesregierung. Die Konventionvom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestra-fung des Völkermordes ist für die BundesrepublikDeutschland am 22. Februar 1955 in Kraft getreten. Mitdem Beitritt zu diesem wichtigen Regelwerk hat die Bun-desrepublik Deutschland ihre feste Überzeugung unterBeweis gestellt, dass Völkermord verhütet und verfolgtwerden muss. Allerdings gilt die Konvention nicht rück-wirkend. Das heißt: Die damaligen Geschehnisse – soschlimm sie aus heutiger Sicht auch erscheinen – stell-ten nach damals geltendem Völkerrecht keine Verletzun-gen völkerrechtlicher Verpflichtungen dar. Bewertungenhistorischer Ereignisse nach rechtlichen Bestimmungen,die im Zeitpunkt dieser Ereignisse für Deutschland nicht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19355
Hartwig Fischer
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in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nichtvorgenommen.Auch sprechen Sie in Ihrem Antrag den Punkt an,dass Deutschland sich seiner kolonialen Vergangenheitin aller Klarheit und Deutlichkeit stellen muss. Die Bun-desregierung wird ihrer besonderen Verantwortung fürNamibia durch eine intensive Zusammenarbeit mit die-sem Land gerecht. So erhält Namibia von Deutschlanddie höchsten Pro-Kopf-Entwicklungsleistungen inAfrika. Die Höhe aller deutschen Zusagen seit 1990 anNamibia liegt bei über 700 Millionen Euro. Die Ent-wicklungszusammenarbeit konzentriert sich vorwiegendauf die ländliche Bevölkerung in dem besonders von Ar-mut betroffenen Norden des Landes.Die Bundesregierung hat zudem die sogenannte Son-derinitiative ins Leben gerufen, in deren Rahmen Nami-bia 20 Millionen Euro für Hilfsmaßnahmen zur Verfü-gung gestellt werden. Diese Initiative beinhaltet vorallem Projekte in den Siedlungsgebieten derjenigen na-mibischen Volksgruppen, welche im Kolonialkrieg be-sonders betroffen waren.Besonders interessant fand ich Ihre Forderungennach einem Parlamentarierdialog mit der namibischenNationalversammlung und der Einrichtung einerdeutsch-namibischen Parlamentariergruppe. Wie Siewissen, dienen gerade die Parlamentariergruppen desDeutschen Bundestages dem Kontakt mit den Parlamen-tariern und den Parlamenten der Partnerländer. So be-findet sich zum Beispiel in der kommenden Woche eineDelegation, bestehend aus Mitgliedern der namibischenNationalversammlung, zu Besuch in der BundesrepublikDeutschland. Neben vielen Treffen mit Abgeordnetendes Deutschen Bundestages finden auch Gespräche mitVertretern des Auswärtigen Ausschusses und der Parla-mentariergruppe SADC-Staaten statt. Auch bei der letz-ten Reise der Parlamentariergruppe SADC-Staaten imJahre 2009 gab es einen intensiven Austausch mit dernamibischen Nationalversammlung. Wie Sie sehen, gibtes also bereits einen intensiven beiderseitigen Aus-tausch.Und ich muss Ihnen sagen: Zur Errichtung einerdeutsch-namibischen Delegation kann die Linke, demSprichwort „Handeln ist besser als Reden“ folgend, sel-ber den ersten Schritt machen. Der Vorsitzende der Par-lamentariergruppe SADC-Staaten ist MdB StefanLiebich, Mitglied der Fraktion Die Linke. Herr Liebichkann gerne bei unserem Bundestagspräsidenten, HerrnDr. Norbert Lammert, den Antrag stellen, das Land Na-mibia aus der Parlamentariergruppe SADC-Staaten he-rauszulösen und dafür eine eigene deutsch-namibischeParlamentariergruppe zu gründen. Ich selber habe inder vergangenen Wahlperiode als Vorsitzender der Par-lamentariergruppe West- und Zentralafrika bei unseremBundestagspräsidenten, Herrn Dr. Norbert Lammert,den Antrag gestellt, die Parlamentariergruppe aufgrundder zu großen Anzahl an Partnerländern in zwei Grup-pen zu spalten. Diesem Antrag ist entsprochen worden,und somit gibt es seit Beginn der 17. Wahlperiode dieParlamentariergruppe der französischsprachigen Staa-ten West- und Zentralafrikas und der englisch-/portugie-sisch-sprachigen Staaten West- und Zentralafrikas. Siesehen, einem gut begründeten Antrag Ihrerseits stehtalso nichts im Wege.Ich habe hier nur wenige Ihrer Forderungen erwähnt,bin aber auf die Beratung und die Begründung diesesAntrages in den Ausschüssen gespannt. Ich möchte esaber nicht missen, zum Ende meiner Rede auch eineForderung an die Fraktion Die Linke zu stellen: HörenSie endlich auf, allein ideologisch-motivierte Anträge inBezug auf Afrika einzubringen. Nehmen Sie endlich dieaktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemeund Gegebenheiten des afrikanischen Kontinents wahr,um dann gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu su-chen.
Wir lehnen den Antrag der Linken im Wesentlichenaus zwei Gründen ab:Erstens führt die Fraktion Die Linke für ihre Begrün-dung des Straftatbestands „Völkermord“ die Konven-tion vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Be-strafung von Völkermord ins Feld. Diese ist, wie dieBundesregierung bereits mehrfach ausgeführt hat – sobereits auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linkezu Umständen der Rückführung von Gebeinen von Op-fern deutscher Kolonialverbrechen nach Namibia undder Entschuldigungs- und Versöhnungsfrage –, für dieBundesrepublik Deutschland am 22. Februar 1955 inKraft getreten. Sie gilt nicht rückwirkend.Zweitens hat die namibische Regierung die Frage derWiedergutmachung bisher nicht im Rahmen eines offi-ziellen Dialogs mit der Bundesregierung thematisiert.Sie hat sich die vom namibischen Parlament mit Ent-schließung vom 26. Oktober 2006 unterstützten Ent-schädigungsforderungen der Herero bisher nicht zu ei-gen gemacht. Trotz zahlreicher enger Kontakte mitVertretern der namibischen Regierung fand bislangkeine inhaltliche Diskussion über etwaige Entschädi-gungsforderungen statt.Deutschland steht vorbehaltlos zu seiner Verantwor-tung als ehemalige Kolonialmacht des heutigen Nami-bia. Diese Verantwortung hat auch der Bundestag inrichtungweisenden Entschließungen unterstrichen: 1989,als er die Bundesregierung aufforderte, mit dem unab-hängigen Namibia eine Sonderbeziehung zu entwickelnund zu pflegen, und 2004, als er in einer weiteren Ent-schließung der Opfer des Kolonialkrieges gedachte undseinen Willen bekräftigte, die guten bilateralen Bezie-hungen zu Namibia zu vertiefen.Diese sind heute, 22 Jahre nach der UnabhängigkeitNamibias, in der Tat sehr eng. Sie gründen auf der ge-meinsamen Kolonialzeit und der daraus erwachsendenVerantwortung Deutschlands, sowie auf der engen kul-turellen Verbindung mit den über 20 000 deutsch spre-chenden Namibiern. Sie erwachsen auch aus der aktivendiplomatischen Unterstützung der namibischen Unab-hängigkeit durch Deutschland als Mitglied der westli-chen Kontaktgruppe in den 80er-Jahren, und aus zweiJahrzehnten bilateraler Entwicklungspartnerschaft.Zu Protokoll gegebene Reden
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19356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Wolfgang Götzer
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Diese Entwicklungspartnerschaft hat ein Volumenvon bislang insgesamt circa 700 Millionen Euro. Damitist Namibia das Land in Afrika mit den höchsten deut-schen Zuwendungen pro Einwohner.Kennzeichnend für das deutsche Engagement ist je-doch nicht nur die staatliche Entwicklungshilfe, sondernauch die große Vielfalt privater Initiativen und Aktivitä-ten von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen.In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere aufdie wertvolle Arbeit der Hanns-Seidel-Stiftung verwei-sen, die bereits seit 1978 mit eigenem Standort in Wind-huk hauptsächlich Projekte zur Verbesserung demokra-tischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie zurwirtschaftlichen Entwicklung fördert. Auch hier sindPersonengruppen, die Benachteiligungen aus der Kolo-nialzeit oder der Zeit der Apartheid erfahren haben, eineder wichtigsten Zielgruppen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen,sind die demokratisch legitimierten Parteien im Bundes-tag, die Bundesregierung und private Einrichtungen da-rum bemüht, die privilegierten Beziehungen zu Namibiaweiter auszubauen, die den Weg in eine gemeinsame,verantwortungsvolle Zukunft weisen.
Als ich im Jahr 2004 als Bundesministerin für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Tagdes einhundertjährigen Gedenkens der blutigen Nieder-schlagung des Aufstandes der Herero, Nama undDamara durch deutsche Kolonialtruppen nach Namibiagereist bin, wurde mir das Ausmaß der noch immer tiefsitzenden Trauer durch viele Begegnungen eindringlichbewusst. Die Erinnerung an die Gräueltaten der kaiser-lichen Kolonialtruppen ist in Namibia und besonders inden Generationen der Herero, Nama und Damara nochimmer präsent.Die kaiserlichen Kolonialtruppen begingen einenVölkermord an den Herero, der fast ihre gesamte Volks-gruppe ausgelöscht hat. General von Trotha, der denBefehl zur Erschießung auch von Kindern und Frauengegeben hatte, müsste sich heutzutage vor dem Interna-tionalen Strafgerichtshof verantworten.Nahezu das gesamte Volk der Herero kam damals aufder Flucht in der Omaheke-Wüste um, wurde erschos-sen, erschlagen, erhängt oder verdurstete. In Lagern mitunbeschreiblichen Lebensbedingungen starben Zehn-tausende durch Krankheiten, durch Folgen von Zwangs-arbeit – alles mit Wissen und Duldung der Reichsregie-rung.Die Sozialdemokraten im Reichstag haben damals,leider erfolglos, gegen die Gräueltaten protestiert.August Bebel stellte in seiner Rede im Reichstag damalsfest: „Das Recht zum Aufstand, das Recht zur Revolu-tion, hat jedes Volk und Völkerschaft, die sich in ihrenMenschenrechten aufs alleräußerte bedrückt fühlt.“Es ist auch heute, 108 Jahre später, richtig und not-wendig, an die Toten von damals zu erinnern und sichder geschichtlichen Verantwortung Deutschlands fürden begangenen Völkermord zu stellen.Was hat die damalige Bundesregierung aus Anlassdes 100-jährigen Gedenkens unternommen?In meiner Rede anlässlich der Gedenkfeier in Oka-karara sagte ich: „Wir Deutsche bekennen uns zu unse-rer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verant-wortung und zu der Schuld, die Deutsche damals aufsich geladen haben“, und ich sagte aus meiner christli-chen Überzeugung heraus: „Ich bitte Sie im Sinne desgemeinsamen ,Vater unser‘ um Vergebung unsererSchuld.“ Diese Vergebung bekundeten gleich nach mei-ner Rede auch der damalige LandwirtschaftsministerHifikepunye Pohamba, der heutige Präsident Namibias,sowie der Vertreter der Herero, Kuaima Riruako.Nach meiner Reise sollten allerdings auch konkreteInitiativen folgen, die die damalige Bundesregierung indie Wege geleitet hat. Dazu zählte einerseits die Ver-dopplung der Leistungen innerhalb der Entwicklungs-zusammenarbeit innerhalb von fünf Jahren sowie ande-rerseits die Gründung einer Versöhnungsinitiative.Hierfür wurden zusätzliche Mittel in Höhe von 20 Mil-lionen Euro zur Verfügung gestellt. Das Geld sollte vorallem für die kommunale Entwicklung in Gebieten ein-gesetzt werden, in denen heute Nachfahren der Volks-gruppen leben, die besonders unter der deutschen Herr-schaft leiden mussten. Sie sollten die Lebensqualität derMenschen in diesen Regionen und ihre beruflichenChancen verbessern. Hierzu zählte beispielsweise dieErrichtung von Gemeindezentren, die Förderung derLandwirtschaft und der kleinbäuerlichen Viehzucht so-wie die weitere Verbesserung der ländlichen Infrastruk-tur. Die Folgen von Kolonialismus, Unterdrückung undApartheid sollen überwunden werden.Den meisten der Nachfahren der getöteten Herero,Nama und Damara geht es nicht um eine finanzielleEntschädigung oder eine materielle Wiedergutma-chungsleistung. Sie wollen, dass die Ungerechtigkeit,die sie erfahren haben, als solche anerkannt und gewür-digt wird. Wir sollten auch in Zukunft auf diesem Gebietnicht nachlassen und Namibia im Rahmen der Entwick-lungszusammenarbeit ausreichend unterstützen.Wir sollten nachhaltige finanzielle Entwicklungs-zusammenarbeit für Namibia bereitstellen und diedamals bereits von mir geforderte Versöhnungsinitiativeendlich in die Praxis umsetzen. Dies wurde in den letztenzwei Jahren offenbar verschleppt. Es bleibt zu hoffen,dass nach dem Besuch des Afrikabeauftragten des Aus-wärtigen Amts, Walter Lindner, vor wenigen Wochenjetzt die direkte Unterstützung für die betroffenen Regio-nen verwirklicht werden kann.Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschlandund Namibia verlangen nach einem angemessenen undrespektvollen Umgang mit dem Andenken an die Opferder deutschen Verbrechen Anfang des 20. Jahrhundertsim heutigen Namibia. Dazu gehört ein enger Dialogzwischen den Regierungen, aber auch ein regelmäßigerAustausch zwischen den Abgeordneten beider Parla-mente. Was möglich ist, ist ein Blick in eine gemeinsameZukunft, in der zusammen Projekte verwirklicht werdenkönnen und Deutschland seiner Verpflichtung dem na-mibischen Volk gegenüber nachkommt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19357
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Besonderer Dank gilt Bischof Zephania Kameeta fürsein langjähriges und nachhaltiges Engagement in allenFragen zu diesem Thema.Die Bundesregierung hat den Besuch einer Delega-tion der Herero, die im September 2011 in Berlin die Ge-beine ihrer verschleppten Vorfahren aus der Charité zu-rückholte, völlig instinkt- und perspektivlos behandelt.Insbesondere das Auftreten der Staatsministerin im Aus-wärtigen Amt, Cornelia Pieper, hat zu einer schwerenBelastung der Beziehungen geführt. Es bleibt zu hoffen,dass die Beziehungen, die durch die katastrophale Ver-haltensweise der Bundesregierung belastet wurden,durch den Besuch des Afrikabeauftragten im Auswärti-gen Amt, Walter Lindner, wieder verbessert werdenkonnten.Es wäre an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag ineiner gemeinsamen Resolution diese von mir noch ein-mal dargestellten Positionen betont. Wir sind jedenfallszur Formulierung eines gemeinsamen Antrags bereit.
Zwischen 1904 und 1907 – vor über 100 Jahren –wurden im Namen des Deutschen Kaiserreichs schreck-liche Gräueltaten an den Volksstämmen der Herero,Nama und Damara verübt. Wer die Berichte von damalsliest, ist heute noch tief erschüttert und betroffen überdie Menschenverachtung, mit der die Kolonialtruppengegen Teile der Bevölkerung vorgingen. Dieses Kapitelist ein furchtbares und beschämendes Kapitel deutscherVergangenheit in Afrika. Deshalb ist es richtig und sowichtig, dass dieses Kapitel nicht in Vergessenheit gerät.Die Erinnerung an diese Ereignisse muss wach bleibenund das Bewusstsein dafür geschärft werden.Aber – und das sage ich an die Adresse der Linken –,anders als dies Ihr Antrag beschreibt, ist sich Deutsch-land seiner historischen und moralischen Verantwor-tung für Namibia sehr wohl bewusst.Basierend auf der gemeinsamen Entschließung desDeutschen Bundestages von 1989, wurde das Funda-ment gelegt für eine enge und vertrauensvolle bilateralePartnerschaft mit Namibia. Dies war zu einem Zeit-punkt, als der Staat Namibia noch südafrikanischesMandatsgebiet war. Mit der Entschließung von 2004wurde die Bedeutung der historischen und moralischenVerantwortung Deutschlands gegenüber Namibia noch-mals bestätigt und bestärkt.Mit der Unabhängigkeit Namibias von der südafrika-nischen Mandatsherrschaft im Jahr 1990 wurde diesebesondere Beziehung realisiert. Die Resolution 435, diedurch die intensive Unterstützung des damaligen Außen-ministers Hans-Dietrich Genscher zustande kam undnach langwierigen Verhandlungen von den VereintenNationen verabschiedet worden ist, hat die Grundlagehierfür gelegt.Deutschland leistete erhebliche finanzielle Starthilfeund begleitet Namibia seitdem beratend als größtesGeberland der bilateralen Entwicklungszusammenar-beit. In 2010 war Namibia mit 15,80 Euro pro Kopf dasLand, das weltweit die höchste Leistung pro Einwohnererhält. Der Umfang an substanzieller und effektiver Ent-wicklungszusammenarbeit summiert sich mittlerweileauf knapp 700 Millionen Euro.Unmittelbar nach der namibischen Unabhängigkeit1991 wurde ein deutsch-namibisches Kulturabkommenabgeschlossen. Die bilateralen Beziehungen erfreuensich eines reichen aktiven Kultur-, Bildungs- und Sprach-austauschs. Die Wirtschaftsbeziehungen sind gut. Es be-steht kein Zweifel: Wir haben mit Namibia sehr enge,sehr gute bilaterale Beziehungen auf allen Ebenen.Vor diesem Hintergrund der vertrauensvollen Verbin-dung mit Namibia hinterfrage ich die Motivation desAntrags; nicht, weil ich anzweifle, dass es in unser allerVerantwortung liegt, dass diese grausame Vergangen-heit nicht vergessen wird – im Gegenteil!Den Opfern unter den verschiedenen Bevölkerungs-gruppen aus der oft blutigen und menschenverachtendenafrikanischen Kolonialzeit, die die deutsche Geschichtemit zu verantworten hat, gilt auch heute unser Gedenkenund unsere Trauer.Ich frage mich deshalb, weil die Forderung nachReparationszahlungen bis heute nicht vonseiten dernamibischen Regierung in offiziellen Gesprächen an dieBundesregierung herangetragen worden ist. Die nami-bische Regierung hat sich die Parlamentsentschließungvom Oktober 2006, die Entschädigungsforderungen derHerero zu unterstützen, gegenüber der Bundesregierungnicht zu eigen gemacht.Im Gegenteil: Bei Gesprächen mit der namibischenRegierung im Oktober 2006, wo das Thema Repara-tionszahlungen zur Sprache gekommen war, bestanddarüber Einigkeit, dass die Entwicklung der bilateralenKooperation und Entwicklungszusammenarbeit der ein-zig richtige Weg sei.Denn der Kern der Debatte zum Umgang mit derdeutschen Kolonialvergangenheit konzentriert sich auffolgende Frage: Wie können wir unserer historischenVerantwortung am besten gerecht werden?Mehr als 100 Jahre nach den für uns so beschämen-den Vorgängen der deutsch-kaiserlichen Kolonialherr-schaft kann man diese Frage nicht so beantworten, alswäre diese Zeit erst gestern gewesen. Wir müssen für unsheute die Frage beantworten, wie wir am besten dasheutige Namibia als Ganzes in seiner Entwicklung un-terstützen. Wir wollen die Gesellschaft in Namibia nichtspalten. Das ist der ganzheitliche Ansatz für die Zukunft,für den sich meine Fraktion immer eingesetzt hat, unddas ist auch der geeignete Weg.In der Frage, wie wir unserer kolonialen Vergangen-heit am besten gerecht werden können, waren und sindsich übrigens alle Bundesregierungen einig gewesen. Esgilt Namibia in seiner ganzheitlichen Entwicklung zu-kunftsgerichtet und integrativ zu unterstützen. DiesenAnsatz hat Deutschland auf allen Ebenen konsequentverfolgt. Denn dass es gelungen ist, eine deutsch-nami-bische Freundschaft zu entwickeln, ist eine der großenkulturellen und auch politischen Leistungen unserer bei-den Nationen und auch der jeweiligen Regierungen.Zu Protokoll gegebene Reden
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19358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Marina Schuster
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Ich plädiere deshalb für einen integrativen und zu-kunftsgerichteten Ansatz. Nur so können die aktuellenProbleme Namibias effektiv bearbeitet werden. LautUNDP hat Namibia bei der Einkommensverteilung welt-weit den höchsten Gini-Koeffizienten. Dies ist ein statis-tisches Maß zur Darstellung von Ungleichheit. Fast30 Prozent der Menschen leben am Tag von 1 Dollaroder weniger. Die Verbreitung von HIV/Aids ist mit13,1 Prozent mit die höchste in Subsahara-Afrika. DieArbeitslosenquote ist mit 37 Prozent sehr hoch und hatsich in den letzten Jahren kaum verbessert.Um diese gravierenden Probleme anzugehen, hat dieNationale Planungskommission Namibias 2004 Ent-wicklungsziele festgelegt, die in der Vision 2030 be-schrieben sind: Ziel ist es, für das namibische Volk„Wohlstand, zwischenmenschliches Miteinander, Frie-den und politische Stabilität“ zu schaffen. Dieses Zielunterstützt die Bundesregierung durch ihre Maßnahmen.Den Antrag der Linken werden wir daher ablehnen.
Lassen Sie es mich klar und unmissverständlich aus-sprechen: Sklaverei und Kolonialismus waren und sindin all ihren Formen und Ausprägungen ein Verbrechen!An diesen Verbrechen von schier unvorstellbarenAusmaßen beteiligte sich auch Deutschland, und zwaran zentraler Stelle. Insofern kann es in Afrika nurzynisch anmuten, wenn die Bundesregierung heute invielen ihrer Reden zur Vorstellung ihres Afrika-Konzeptsvon einem „relativ leichten kolonialen Gepäck“Deutschlands zu sprechen pflegt!Ein ganzer Kontinent wurde hier in Berlin 1884/85,nur einen Steinwurf von diesem Hause entfernt, auf-geteilt – und das ohne die Beteiligung auch nur eineseinzigen Menschen aus Afrika. Intakte afrikanische Ge-meinwesen wurden brutal zerschlagen. Es ging um Ent-mündigung und Erniedrigung mit dem einzigen Ziel derAusbeutung von Menschen und Rohstoffen zum eigenenwirtschaftlichen Nutzen.Weiß war die Hautfarbe des Terrors, von Gewalt undVernichtung. Am 4. November 1904 notierte General-leutnant von Trotha, der auch den bekannten Vernich-tungsbefehl gegen die Herero in der ehemaligen KolonieDeutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, gege-ben hatte – ich zitiere –: „Ich kenne genug Stämme inAfrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang,dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit kras-sem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuübenwar und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständi-schen Stämme mit Strömen von Blut.“An den Folgen dieses kolonialen Erbes, das ja ebennicht nur, aber doch auch von deutschem Boden aus-ging, und seiner Bewältigung trägt Afrika noch heuteschwer. In diesem Kontext steht unser Antrag, über denwir heute sprechen.Es ist absolut unbestritten, dass die deutschen Kolo-nialtruppen zwischen 1904 und 1908 in Deutsch-Süd-westafrika einen Völkermord nicht nur planten, sondernauch umsetzten! Es ist unbestritten, dass sie die Rücken-deckung dazu von der Berliner Reichsregierung hatten.Von der Mehrheit der Fachhistoriker über internatio-nale Organisationen wie der UNO bis zur deutschen undinternationalen Presse: Sie alle erkennen diesen Völker-mord an, sie alle kennen die historischen Fakten. DieBundesregierung jedoch verweigert bis heute die offi-zielle Anerkennung dieses Völkermords. Das ist beschä-mend!Es geht also heute um nicht weniger, als um die not-wendige Grundlage für echte Versöhnung zwischenNamibia und Deutschland. Versöhnung lässt sich nichteinseitig diktieren. Deutschland muss den ersten Schritttun, Verantwortung für diese Verbrechen übernehmenund eine offizielle Entschuldigung aussprechen! Dafürist die Zeit mehr als reif.Im neuen Afrika-Konzept der Bundesregierung spre-chen Sie von einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“.Aber eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ ist an Vo-raussetzungen gebunden. Sie lässt sich nicht einfachproklamieren. Auch Versöhnung lässt sich nicht einseitigdiktieren. In einem einstimmigen Beschluss hat dienamibische Nationalversammlung 2006 den deutschenVölkermord benannt. Noch heute warten wir auf denbitter notwendigen Dialog hierüber. So wenig Sie dieswollen – die darin angesprochene Frage der Wiedergut-machung lässt sich davon nicht ausnehmen.Die Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaftsind in Namibia bis heute spürbar. Bis heute fehlen denHerero, Nama, Damara und San die notwendigen Mittel,um sich eine eigenständige wirtschaftliche Grundlageaufbauen zu können. Wiedergutmachung muss genauhier ansetzen und diese strukturellen Nachteile ausglei-chen.Im Herbst letzten Jahres kam es zu einem denkwür-digen Ereignis: Nach über 100 Jahren kam eine hoch-rangige namibische Delegation der Nachfahren derOpfer nach Berlin, um 20 geraubte Schädel von Opferndes deutschen Völkermords heimzubringen. Sie wurdenursprünglich zu rassistischen Forschungszwecken nachDeutschland verbracht.Die Bundesregierung verhielt sich völlig respektlos:Die Delegation und der mitreisende namibische Jugend-minister wurden nicht offiziell empfangen. Staatsminis-terin Pieper hielt bei der Übergabe eine Rede. Es fielkein Wort der Entschuldigung für den begangenenVölkermord, und gleich nach ihrer Rede verließ sie denSaal, ohne sich den Minister Namibias anzuhören. Ichschäme mich für das Verhalten dieser Bundesregierung.Eine rapide Verschlechterung der Beziehungenzwischen unseren beiden Ländern war die Folge. ImDezember wurde der deutsche Botschafter von Nami-bias Präsident Pohamba wegen dieses Vorfalls vor dieTür gesetzt. Wir begrüßen deshalb die Reise des Afrika-beauftragten des Auswärtigen Amts von Anfang Fe-bruar. Immerhin hat er sich – wenn auch spät und unterDruck – für dieses Verhalten der Bundesregierung ent-schuldigt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19359
Niema Movassat
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Es ist höchste Zeit, dass der Bundestag dieses Themain die eigenen Hände nimmt. Deshalb haben wir heutediesen Antrag eingebracht. Ich kann an Sie nur appellie-ren: Halten Sie diese Frage aus dem üblichen Parteien-gezänk heraus! Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfachund immer wieder mit den Verbrechen der deutschenKolonialherren an den Völkern der Herero und NamaAnfang des 20. Jahrhunderts in dem damaligen Süd-westafrika, dem heutigen Namibia, befasst. Fast alles,was im Antrag der Linken steht, war auch schon Themavon Diskussionen und Anträgen.Trotzdem ist es richtig und wichtig, dass sich dasdeutsche Parlament erneut mit diesem dunklen Kapitelder deutschen Geschichte beschäftigt und mit den Gräu-eltaten der damaligen deutschen Kolonialherrschaftauseinandersetzt. Das wurde Ende letzten Jahres einmalwieder deutlich anlässlich der doch sehr unwürdigenUmstände und Vorfälle während des Besuchs einer gro-ßen hochrangigen Delegation aus Namibia, die nachBerlin gekommen war, um die in der Kolonialzeit nachDeutschland verschleppten Schädel von Menschen derHerero und Nama nach Hause nach Namibia zurückzu-holen. Auch die Berichterstattung in Namibia über denAblauf des mehrtägigen Besuchs und über die Überga-beveranstaltung in Berlin macht dies erforderlich.Wir wollen und müssen die politische und moralischeVerantwortung übernehmen für das historische Unrecht,den Vernichtungskrieg an den Herero, Nama und an An-gehörigen anderer Volksgruppen, das in deutschem Na-men in Namibia geschehen ist. Historiker haben seit lan-gem belegt, dass der Vernichtungskrieg ein Kriegsver-brechen und Völkermord war. Das sollten wir in allerKlarheit anerkennen. In früheren Erklärungen des Deut-schen Bundestages fehlte diese Klarheit. An der letztenErklärung zum 100. Jahrestag dieser Verbrechen hatteich selber mitgewirkt, war aber mit dem Ergebnis unzu-frieden.Die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, hatte dann bei einem Besuch in Namibia im August2004 als Vertreterin der deutschen Regierung bei denGedenkfeiern für die Schlacht am Waterberg und die ge-töteten Menschen eine klarere Sprache gesprochen undsich bei den Nachfahren der Herero, Nama und anderenVolksgruppen entschuldigt. In Namibia war die Rede aufgroße Zustimmung gestoßen. In Deutschland war die of-fizielle Reaktion verhaltener. Teilnehmer der Delegationaus Namibia haben dies jetzt, Ende letzten Jahres, be-dauert und eine eindeutigere Erklärung gefordert.Der Antrag der Linken berücksichtigt nicht, dass eseiniges von dem, was jetzt gefordert wird, schon damalsgegeben hat.Von der Bundesregierung wurden Mittel für die Ein-richtung und den Betrieb einer Gedenkstätte am Ort desGeschehens der Verbrechen in Namibia zur Verfügunggestellt. Diese Gedenkstätte am Waterberg in Okakararawurde überwiegend auch angenommen.Es gab auch schon den jetzt geforderten Austauschvon Parlamentsdelegationen aus Namibia und Deutsch-land. Ich habe an zwei solcher Treffen teilgenommen.Auch der Dialog mit der Zivilgesellschaft wurde an-gestoßen. So wurde eine viertägige große Konferenz imÜberseemuseum in Bremen im November 2004 durchge-führt, bei der Vertreter aus Namibia und Deutschlandzum Teil sehr heftig und intensiv diskutierten.Es gab sogar bereits einen Fonds für Namibia, mitdem ein Jugend- und Kulturaustausch mit Bevölke-rungsgruppen unterstützt wurde, aber mit dem auchLandreformen im Siedlungsgebiet von Herero und Namaeinschließlich Landaufkauf zugunsten von Nachfahrender Opfer der Verbrechen gefördert werden sollte.Bevor nun neue Initiativen gestartet werden, solltezunächst mit allen Beteiligten geklärt werden, woran esgelegen hat, dass Diskussionen, Dialoge und Kulturaus-tausch sich nicht erwartungsgemäß entwickelt habenund offenbar aus der Förderung von Landreformen undLandaufkauf wenig oder gar nichts geworden ist. Dieaufgetretenen Probleme und Schwierigkeiten müssen of-fengelegt und diskutiert sowie bei der Planung neuerInitiativen und Projekte berücksichtigt werden. Diesaber fehlt in dem Antrag der Linken. Es fehlt auch eineAbklärung der vorgeschlagenen Vorhaben mit Regie-rung und Parlament in Namibia.Es trifft zwar zu, wie in dem Antrag angeführt, dassdas gesamte Parlament in Namibia in einem Beschlussgefordert hatte, dass die Opfer der deutschen Verbre-chen entschädigt werden sollen. Aber die namibischeRegierung hat immer auch geltend gemacht, dass ein-zelne Volksgruppen im Land nicht bevorzugt werdensollten.Ohne Einbeziehung der namibischen Regierung undder Parlamentsmehrheit ist es kaum möglich, vernünf-tige und machbare Lösungen für die offenen Fragen zufinden. Namibia ist ein unabhängiger, souveräner Staat,und seine Vertreter müssen an allen Überlegungen fürneue Stiftungen und Projekte im Land beteiligt werden,In der nächsten Woche besucht eine namibische Dele-gation der Parlamentariergruppe der SADC-Staatenden deutschen Bundestag, unter anderem, um über dendeutsch-namibischen interparlamentarischen Dialog zusprechen. Diesen geplanten Austausch begrüßen wirsehr.Ein umfassender und ergebnisoffener Dialog zur ge-meinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit kann jetztwieder begonnen und muss geführt werden, aus demdann gemeinsame Initiativen zur Versöhnung erwachsenkönnen. Partnerschaftlich mit der namibischen Seite –ausdrücklich gemeint ist damit das gesamte Parlamentund nicht nur die Regierung – sollten wir eine neueAgenda für Versöhnung entwickeln. Das bedeutet aberauch, dass man Inhalte und Ergebnisse eines solchendeutsch-namibischen Parlamentarier- und Regierungs-dialogs nicht vorwegnimmt oder gar einseitig diktiert.Zu Protokoll gegebene Reden
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19360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Hans-Christian Ströbele
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Ich habe Verständnis für all diejenigen und zählemich selbst zu denen, die ungeduldig geworden sind undsagen, dass den vielen Worten und jahrelangen Debattenendlich Taten folgen müssen. Doch Aussöhnung ist of-fenbar ein schwieriger und langwieriger Prozess. Undjede Stimme will gehört werden – nicht nur die, die amlautesten ist.In diesem Sinne beraten wir Anträge zur Anerken-nung der deutschen Kolonialverbrechen als Völkermordim ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und deren Kon-sequenzen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8767 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Einfuhr und Verwendung von Asbest und as-
besthaltigen Produkten in Deutschland umfas-
send verbieten
– Drucksachen 17/7478, 17/8758 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing für
die Unionsfraktion, Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Frak-
tion, Dr. Lutz Knopek und Serkan Tören für die FDP-
Fraktion, Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke und
Dorothea Steiner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Dem Ziel, Menschen und Umwelt vor Schadstoffen zuschützen, fühlt sich die Bundesregierung in ihrem gan-zen Handeln verpflichtet. Auf allen politischen Ebenen– sei es im nationalen, europäischen oder internationa-len Rahmen – orientiert sie sich auf überzeugende Weisestets an dem Ziel, Risiken zu erkennen, zu reduzieren undnach Möglichkeit gar nicht erst entstehen zu lassen.Dies schließt chemische Substanzen wie chrysotilhalti-gen Asbest ausdrücklich ein – ein Stoff, derim Mittelpunkt des vorliegenden Antrags der Grünensteht. Gesundheit und Wohlbefinden jedes Einzelnen so-wie eine intakte Natur bilden die Eckpfeiler des erfolg-reichen Handelns der Regierungskoalition im PolitikfeldUmwelt und Gesundheit.Dies ließe sich durch unzählige Beispiele belegen, andieser Stelle möchte ich ein aktuelles und für den zu de-battierenden Antrag äußerst relevantes herausgreifen:das Rotterdamer Übereinkommen zum internationalenHandel mit bestimmten gefährlichen Chemikalien. Die-ses listet im Anhang III sogenannte gefährliche Chemi-kalien auf. Das Herzstück des Übereinkommens ist, dassein Land, welches diese Chemikalien in ein anderesLand einführen will, umfassende Informationen vorle-gen muss. Diese Regelung ermöglicht dem Importland,auf Basis vollständiger Informationen eine gesicherteund begründete Entscheidung über den zu importieren-den Stoff zu treffen.Deutschland setzt sich mit Nachdruck für die Auf-nahme von Chrysotil in die Liste der gefährlichen Che-mikalien des Rotterdamer Übereinkommens ein. DiesesBemühen wird von der EU nach Kräften unterstützt, diedas Übereinkommen im Jahr 2004 umgesetzt hat. Zielist, den Handel und den Einsatz von Weißasbest auf in-ternationaler Ebene zu reglementieren – bislang schei-terte die Aufnahme an anderen Staaten.Das Engagement der Bundesregierung ist bemer-kenswert und wird zu Recht auch von der Opposition ge-würdigt: So fordern die Grünen in ihrem Antrag aufSeite 1 die Bundesregierung auf, „sich im Rahmen derinternationalen Gemeinschaft weiterhin aktiv für dieAufnahme von Chrysotilasbest in die Rotterdamer Kon-vention einzusetzen“.Unabhängig von diesen Bemühungen auf internatio-naler Ebene sind EU-weit im Rahmen von REACH seit2006 und national seit 1993 krebserzeugende Asbest-fasern verboten. Von diesem grundsätzlichen Asbestver-bot in der EU erlauben die EU-Verordnung REACH unddie deutsche Chemikalien-Verbotsverordnung Ausnah-men: Ausgenommen sind die wenigen Anwendungen, fürdie bislang weder asbestfreie Ersatzstoffe noch Alter-nativtechnologien existieren. Vorausgesetzt werdenallerdings strenge Arbeitsschutzvorgaben in den Pro-duktionsprozessen.Einige EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutsch-land, machen von dieser Ausnahmemöglichkeit Ge-brauch – beispielsweise für die Nutzung von asbesthalti-gen Diaphragmen in Elektrolyseanlagen zur Herstellungvon Chlor. Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens wirdder Import von Chrysotil nach Deutschland zwei Unter-nehmen gestattet: Solvay Chemicals GmbH in Rheinbergund Dow Deutschland Anlagengesellschaft mbH inStade.An dieser Stelle setzt der Antrag der Grünen an: DieFraktion verlangt den Stopp der Einfuhr von chrysotil-haltigem Asbest und asbesthaltigen Produkten, das voll-ständige Verbot von Asbest in Deutschland sowie dieStreichung entsprechender Ausnahmeregelungen. DieseForderung lehnen wir als unverhältnismäßig ab, und ichwill Ihnen erklären, warum:Die Ausnahmeregelungen für die Verwendung vonWeißasbest in der Produktion, von der die beiden oben
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19361
Ingbert Liebing
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genannten Unternehmen profitieren, erfolgt auf Basisgeltenden europäischen und deutschen Rechts. Die Bun-desregierung hat die EU-Kommission fristgerecht überdie Gründe für die Nutzung der Ausnahmemöglichkeitunterrichtet. Darüber hinaus erfolgt der Import vonChrysotil nach Deutschland bereits freiwillig durch diebeiden Unternehmen entsprechend der Regelung im Rot-terdamer Übereinkommen.Beide Unternehmen arbeiten am Asbestausstieg undan der Entwicklung von Alternativen, wobei die Produk-tion beider Unternehmen auf völlig unterschiedlichenVerfahren beruht. Das Unternehmen Solvay wird ab2013 auf asbestfreie Produktion umgestellt haben. Dowforscht intensiv an der Substitution des Stoffes, diese istjedoch derzeit noch nicht möglich. Auf dem Weg zur er-folgreichen Substitution verwendet Dow den Asbest al-lein bei der Produktion von Chlor, es wird kein Asbesthergestellt, und kein Asbest verlässt das Werksgelände.Die vorgeschriebenen Schutzvorgaben im Umgangmit Asbest werden von den Unternehmen eingehalten.Eine konkrete Veranlassung – beispielsweise in Form ei-nes Unfalls nach unsachgemäßem Umgang – liegt nichtvor und dient nicht als Begründung für den vorliegendenAntrag. Es sind auch keine Vollzugsdefizite zu beanstan-den.Der Antrag richtet sich faktisch gegen ein einzelnesUnternehmen, gegen Dow. Dieses Unternehmen wird ab2013 als einziges Unternehmen in Deutschland die Aus-nahmeregelung zur Einfuhr und Verwendung von Asbestnutzen . Wo, wenn nicht hier, stellt sich dieFrage der Verhältnismäßigkeit von Gesetzesänderun-gen?Soweit zum geltenden Recht, der Rechtmäßigkeit derbestehenden Ausnahmeregelungen und damit verbunde-ner Rechtssicherheit für Unternehmen, Arbeitsplätzeund Wertschöpfung in Deutschland.Sollte es zukünftig im Rahmen der europäischenREACH-Verordnung zu einer Beendigung der As-bestausnahmen kommen, wird Deutschland diese in na-tionales Recht umsetzen. Eine entsprechende Überprü-fung mit wissenschaftlicher und sozioökonomischerBewertung läuft derzeit bei der europäischen Chemika-lienagentur ECHA. Diese Überprüfung auf EU-Ebenegilt es aufmerksam zu verfolgen und abzuwarten. Dasambitionierte europäische Chemikalienrecht wurde2006 im Zuge von REACH nicht ohne Grund auf EU-Ebene harmonisiert und zentralisiert.Unabhängig von der Entwicklung in Brüssel fordereich Dow abschließend auf, weiterhin hartnäckig an derSubstitution von Asbest zu forschen und entsprechendeForschungs- und Entwicklungsmaßnahmen mit großemEngagement fortzusetzen. Die Ausnahme vom Asbest-verbot ist keine Dauerlösung.Zusammenfassend stelle ich fest: Die Bundesregie-rung setzt sich national und international für einen opti-malen Umwelt- und Gesundheitsschutz beim Umgangmit Asbest ein. Sie nimmt das Thema ernst; denn vonChemikalien dürfen keine negativen Auswirkungen aufMensch und Umwelt ausgehen. Deutschland wird sichweiterhin gemeinsam mit der EU für die Aufnahme vonChrysotil in das Rotterdamer Übereinkommen einsetzen.Die Aufnahme von Asbest in die Gefahrstoffliste desÜbereinkommens ist richtig und wichtig.Schnellschüsse und Panikmache machen wir uns je-doch nicht zu eigen. Wenn die Grünen dies tun wollen,sollen sie dies gerne tun, wenn sie so ihre Rolle als Op-position verstehen. Wir setzen auf verantwortungsbe-wusstes sachliches Handeln. Deshalb lehnen wir denAntrag der Grünen ab.
Der Umgang mit der Einfuhr und Verwendung vonAsbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland istein anschauliches Beispiel dafür, dass die schwarz-gelbeBundesregierung leider noch immer versucht, Umwelt-schutz und Industriepolitik gegeneinander auszuspielen.In solchen Fällen hilft bekanntlich nicht Panikmache aufdem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,sondern Aufklärung und Sachlichkeit.Worum geht es? Letzte Woche Mittwoch, am 22. Fe-bruar 2012, erschien im „Stader Tageblatt“ als großerAufmacher ein Artikel mit der reißerischen Überschrift:„Droht der Dow Stade das Aus?“ Die FDP-Bundestags-abgeordneten Serkan Tören und Lutz Knopek haben dasniedersächsische Chemieunternehmen Dow Chemicalbesucht und dabei einen Angstwahlkampf gegen Rot-Grün gestartet.Hintergrund der Aufregung ist der heute zur Debattestehende Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion, derein umfassendes Import- und Nutzungsverbot von Asbestfordert. Es ist unverantwortlich, wie ein fachlich derarthochkomplexes Thema instrumentalisiert wird, um par-teitaktisch den Wahlkampf einzuläuten.Richtig ist, dass bereits 1993 – also zur Regierungs-zeit von Bundeskanzler Helmut Kohl – in Deutschlanddie Herstellung und Verwendung von Asbest endgültiguntersagt wurde. Seit dem 1. Januar 2005 gilt dasAsbestverbot auch europaweit, und das aus guten Grün-den. Denn Asbest zählt seit über hundert Jahren zu dengesundheitsgefährdenden Stoffen. Bereits um 1900wurde die Asbestose als Krankheit entdeckt. 1943 wurdeLungenkrebs als Folge von Asbestbelastungen als Be-rufskrankheit anerkannt, und seit 1970 wird die Asbest-faser offiziell als krebserzeugend bewertet.Trotz dieser Erkenntnis wird aber noch immer Asbest,insbesondere Chrysotil, der sogenannte Weißasbest, inDeutschland in Ausnahmefällen verwendet, und dastrotz der bekannten hohen Gesundheitsrisiken. Bereitsim Jahr 2006 wurden in der REACH-Verordnung, derEU-Chemikalienverordnung, die EU-weit geltenden Be-schränkungsmaßnahmen für die Herstellung, das In-Verkehr-Bringen und die Verwendung von Asbestfasernund asbesthaltigen Erzeugnissen beschlossen.Der Deutsche Bundestag widmet sich diesem Themaheute nicht zum ersten Mal. Bereits im Mai 2010 hat dieBundesregierung eine Antwort auf eine Kleine Anfrageder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Einfuhr vonAsbestfasern und asbesthaltigen Produkten gegeben.Zu Protokoll gegebene Reden
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19362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Bärbel Kofler
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Schon vor knapp zwei Jahren wurde die Bundesregie-rung vom Parlament gefragt, ob es Hinweise gäbe, dassbei einer Nichterteilung der Ausnahmegenehmigung fürdie Firma Dow Chemical mit einem Abbau von Kapazi-täten und damit Arbeitsplätzen im Werk Stade zu rech-nen sei. Eine Antwort genau auf diese berechtigte Frageist die schwarz-gelbe Bundesregierung schuldig geblie-ben. Auch das müssten meine Kollegen von der FDP-Fraktion wissen.Deshalb ist es wichtig und richtig, erneut parlamen-tarisch auf das weiterhin vorhandene Problem der Ver-wendung von Asbest in Deutschland hinzuweisen unddiese kritisch zu hinterfragen.Im Sinne der Sachlichkeit und Transparenz möchteich gerne die Hintergründe des heutigen Themas nocheinmal klarstellen. Die Ausnahmen zur Einfuhr und Nut-zung von asbesthaltigen Rohstoffen beruhen auf einerbis zum 31. Dezember 2010 bestehenden Regelung derChemikalien-Verbotsverordnung. Durch eine befristeteAusnahmeregel konnte die Einfuhr von asbesthaltigenStoffen zur Herstellung von chrysotilhaltigen Diaphrag-men für die Chlor-Alkali-Elektrolyse genehmigt werden.Was heißt das? Als Diaphragma wird in der Elektroche-mie die Trennwand zweier Halbelemente genannt. Beider Chlor-Alkali-Elektrolyse werden die wichtigenGrundchemikalien Chlor, Wasserstoff und Natronlaugeaus Natriumchlorid erzeugt. Es gibt hierbei drei techni-sche Verfahren: das Diaphragma-, das Amalgam- unddas Membranverfahren.Die Nutzung der Ausnahmeregelung war nur zuläs-sig, wenn asbestfreie Ersatzstoffe, Zubereitungen oderErzeugnisse nicht auf dem Markt angeboten wurdenoder ihre Verwendung zu einer unzumutbaren Härteführte.In Deutschland sind zwei Anlagen genehmigt wor-den: zum einen die Anlage der Firma Solvay ChemicalsGmbH in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen. Diese Aus-nahmegenehmigung ist bis zum 31. Dezember 2012 be-fristet. Nach Angaben der Firma Solvay ChemicalsGmbH ist eine Verlängerung der Genehmigung nichtnotwendig, da Maßnahmen zur Entwicklung von Alter-nativen ergriffen worden sind und eine entsprechendeUmstellung bis 2012 abgeschlossen werde.Zum anderen wurde die Anlage der Firma DowChemical Company in Stade in Niedersachsen geneh-migt. Diese Ausnahme wurde unbefristet genehmigt, al-lerdings unter der Voraussetzung des jederzeit mögli-chen Widerrufs. Einen Genehmigungswiderruf für DowChemical macht die Bundesregierung von den Prüf-ergebnissen der EU-Kommission abhängig. Bis Juni2011 musste Deutschland als EU-Mitgliedstaat einenumfassenden Bericht an die EU-Kommission über dieGründe der bisherigen Nutzung der Ausnahmeregelungsowie das Datum zum Auslaufen der Ausnahmeregelunggeben.Betrachtet man die Situation der beiden Unterneh-men in Deutschland, werden die Unterschiede schnellklar: Solvay Chemicals in Rheinberg hat Maßnahmenzur Entwicklung von Alternativen ergriffen und befindetsich im Umstiegsprozess, der bis 2012 abgeschlossensein soll.Die Firma Dow Chemical hält eine Umstellung even-tuell und frühestens im Jahr 2025 für möglich. Damitwäre Dow Chemical ab 2013 das einzige Unternehmenin Deutschland, das weiterhin die Notwendigkeit sieht,den gefährlichen Asbest einzusetzen, und dem es nichtgelungen ist, einen Ersatz für den gesundheitsgefähr-denden Stoff zu finden. In der Stellungnahme, die dieFirma Dow Chemical am 9. Januar 2012 an den Wirt-schaftsausschuss des Deutschen Bundestages geschickthat, werden die genauen technischen Unterschiede,warum aus Sicht der Firma keine asbestfreien Dia-phragmenmaterialien eingesetzt werden können, erläu-tert. Das habe ich mir selbstverständlich sehr genau an-gesehen. Es heißt dort aber auch, dass Dow Chemicalseit mehr als 40 Jahren Forschungs- und Entwicklungs-arbeiten unternimmt, um Asbest zu ersetzen. Genaudieses Bemühen wollen wir mit der Zustimmung zumAntrag unterstützen. Aus umweltpolitischer Sicht mussin Anbetracht der mit dem Einsatz von Asbest verbunde-nen Gefahren für die menschliche Gesundheit die Sub-stitution Priorität haben und müssen schnellstmöglichnotwendige Maßnahmen zur Umstellung ergriffen wer-den. Vielleicht hat es bisher am nötigen Druck gefehlt,Asbest als gefährlichen und gesundheitsgefährdendenStoff zu ersetzen.Wenn wir auch in Zukunft auf sichere Arbeitsplätzesetzen wollen – und das ist ausdrücklich Position undEngagement der SPD-Bundestagsfraktion; ich kann Ih-nen nur unser aktuelles industriepolitisches Papier zurLektüre empfehlen –, dann können das nur Arbeitsplätzesein, die auch den Erkenntnissen des Gesundheitsschut-zes entsprechen. Selbstverständlich sind wir immer fürangemessene Übergangsregelungen. Aber die beidenFirmen in Deutschland wussten und wissen doch selbst,dass Ausnahmegenehmigungen nur für einen begrenztenZeitraum gelten, sonst wären es keine Ausnahmen, son-dern die Regel.Daher sehen wir keinen Grund, warum beispiels-weise die Formulierung des Antrags abgelehnt werdensollte, dass sich der Deutsche Bundestag dafür einsetzt,dass auch innerhalb der Europäischen Union und welt-weit alle Anstrengungen unternommen werden, um per-spektivisch – ich betone: perspektivisch – ein komplettesVerbot des Abbaus und der Nutzung von Asbest zu errei-chen.Leider scheiterte im Juni 2011 erneut der Versuch,Chrysotilasbest in die Gefahrstoffliste der RotterdamerKonvention aufzunehmen. Verhindert wurde dies unteranderem von Kanada, dem Hauptexporteur von Chryso-tilasbest. Interessanterweise importiert auch DowChemical aus Kanada. Das Rotterdamer Übereinkom-men zum internationalen Handel mit bestimmten gefähr-lichen Chemikalien ist das erste internationale Vertrags-werk zum Import und Export von Chemikalien. Eserstreckt sich auf Industriechemikalien sowie auch aufPflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel. DieKonvention wurde am 10. September 1998 in Rotterdamangenommen und trat am 24. Februar 2004 in Kraft.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19363
Dr. Bärbel Kofler
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Als wir am 8. Februar 2012 im Umweltausschuss denAntrag der Grünen-Bundestagsfraktion beraten haben,bestätigte auch die CDU/CSU, dass die Forderung nacheiner Aufnahme von Asbest in die Gefahrstoffliste derRotterdamer Konvention richtig und wichtig sei. Wirwürden uns freuen, wenn diese gemeinsame Haltunginternational weiter vorangebracht würde. Dementspre-chend unterstützen wir die Forderung des Antrags, dassdie Bundesregierung sich im Rahmen der internationa-len Gemeinschaft weiterhin aktiv für die Aufnahme vonChrysotilasbest in die Rotterdamer Konvention einset-zen soll, auch nach dem erneuten Scheitern im Juni ver-gangenen Jahres.National wie international gilt: Umweltschutz undzukunftsorientierte Industriepolitik müssen Hand inHand gehen und dürfen nicht gegeneinander ausgespieltwerden, schon gar nicht auf dem Rücken der Menschen,die in diesen Branchen arbeiten.
Die Industrie ist eine der tragenden Säulen der deut-schen Wirtschaft. Gerade in der Finanz- und Wirt-schaftskrise hat sich gezeigt, dass eine starke Industrieunerlässlich ist für Wohlstand und Wachstum. Der che-mischen Industrie kommt dabei eine besondere Rolle zu,da sie die für Innovationen benötigten Werkstoffe undMaterialien produziert. Das Erfolgsgeheimnis unsererchemischen Industrie wiederum liegt in den integriertenVerbundstandorten, die es ermöglichen, aus relativ we-nigen Grundstoffen eine ganze Bandbreite von indus-triellen Produkten herzustellen. Diese elementaren Zu-sammenhänge sollte man sich unbedingt noch einmalvergegenwärtigen, bevor man über den vorliegendenAntrag der Grünen diskutiert.Ein ohne Zweifel gut funktionierender Verbundstand-ort ist das Werk von Dow Chemical in Stade. Grundlagealler Produktionsprozesse dort ist die Herstellung vonChlor und Natronlauge. Natronlauge entsteht dabei alsKoppelprodukt der Chlor-Alkali-Elektrolyse in einemfesten Verhältnis pro produzierter Tonne Chlor. Dazusetzt Dow in Stade zwei verschiedene Verfahren ein: dasAsbestdiaphragmaverfahren und das Membranverfah-ren. Etwa 1 Million Tonnen Chlor werden jährlich durchdas Diaphragmaverfahren erzeugt und circa 550 000Tonnen durch das Membranverfahren. Der Grund fürden parallelen Einsatz dieser beiden Verfahren liegt inder dabei entstehenden unterschiedlich stark konzen-trierten Natronlauge. Das Koppelprodukt des Diaphrag-maverfahrens ist eine etwa 10-prozentige Lauge; dasMembranverfahren produziert eine etwa 33-prozentigeNatronlauge. Alle nachfolgenden Produktionsprozessesind genau auf diese beiden Laugenkonzentrationenausgerichtet.Das Diaphragmaverfahren ist daher von existenziel-ler Bedeutung für den Standort Stade. Das Produktions-verfahren wurde von Dow eigens für die nachgeschalte-ten Chlorohydrinprozesse entwickelt. Diese sind nur miteiner 10-prozentigen Natronlauge möglich. Das Mem-branverfahren, das kommerziell verfügbar ist und dasgerne als Beste Verfügbare Technik angeführt wird, isthingegen auf die Produktion von 50-prozentiger Laugeausgerichtet und kommt für nachgeschaltete Chlorohyd-rinprozesse nicht infrage.Eine Alternative zum Einsatz von Asbest wäre derAustausch der Asbestdiaphragmen durch Kunststoffdia-phragmen, wie dies etwa bei Solvay in Rheinberg ge-schieht. Eine Besonderheit des Doweigenen Verfahrensist jedoch die geringe Stromdichte, mit der die Elektro-lyse betrieben wird. Alle Versuche seit den 70er-Jahren,für dieses Verfahren kunststoffbasierte Substitute zu ent-wickeln, sind bislang gescheitert. Eine Asbestsubstitu-tion wäre daher derzeit nur im Rahmen eines Anlagen-neubaus mit geschätzten Kosten von etwa 1 MilliardeEuro möglich. Anschließend lägen die energetischen Be-triebskosten gegenüber dem derzeitigen Verfahren je-doch um 10 bis 15 Prozent höher.Was genau beantragen nun die Grünen? Lesen wireinmal nach: Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-desregierung auf, so der Wortlaut des Antrags, sämtli-che Ausnahmeregelungen zur Einfuhr und Nutzung vonasbesthaltigen Rohstoffen im Rahmen der Chemikalien-verbotsverordnung umgehend zu streichen. Bestehendebefristete Genehmigungen zur Nutzung sollen für einenÜbergangszeitraum bis Ende 2012 weiter gelten können.Vor dem Hintergrund meiner vorherigen Ausführun-gen dürfte jedem hier im Hause klar sein, dass ein Erfolgdes Grünen-Antrags das sofortige Aus für den Dow-Standort in Stade bedeutet. Denn zum einen es ist wedertechnisch noch administrativ möglich, bis Ende des Jah-res die bestehende Produktion umzustellen. Allein diebehördlichen Genehmigungsverfahren würden so langedauern, und selbstverständlich müsste dann die Anlageselbst noch gebaut werden. Zum anderen ist es fraglich,ob sich eine solche Investition überhaupt betriebswirt-schaftlich rechnen würde. Das Alleinstellungsmerkmaldes Standortes Stade im weltweiten Dow-Standortwett-bewerb ist die energetisch günstige Herstellung von10-prozentiger Natronlauge. Entfällt dieser Vorteil,stellt sich automatisch die Standortfrage.Wer einen solchen Antrag stellt, wer 1 500 Arbeits-plätze infrage stellt, sollte daher gute Gründe dafür ha-ben. Während in der schriftlichen Antragsbegründungausschließlich die Rede ist von möglichen mit dem Ein-satz von Asbest verbundenen Gefahren für die menschli-che Gesundheit, hat man sich mündlich mittlerweile vondieser Argumentation verabschiedet. Im „Stader Tage-blatt“ war nachzulesen, dass die Grünen keine Risikenfür die Arbeiter im Werk Stade sehen. Vielmehr ginge esden Grünen um die Arbeitsbedingungen beim Asbestab-bau in Kanada. Eine Mitarbeiterin der Grünen lässt sichim „Tageblatt“ zitieren mit der Aussage, dass es sich umeine Abwägungsfrage handele und dass den Grünen dieFolgen des Abbaus in Kanada wichtiger seien als dieEnergieeinsparungen durch das Asbestdiaphragmaver-fahren in Deutschland.Wie bereits dargestellt, ignoriert diese Argumentationdie betriebswirtschaftlichen Folgen für den StandortStade. Zudem wird ohne weitere Substanziierung be-hauptet, dass der Asbestabbau in Kanada unter widri-gen Bedingungen geschehen würde. Kanada aber istZu Protokoll gegebene Reden
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19364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dr. Lutz Knopek
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keine Bananenrepublik, sondern ein hoch entwickeltesIndustrieland und Mitglied der OSZE, das über ein ent-sprechendes staatliches Arbeitsschutzregime verfügt.Wer allein auf Verdacht und Zuruf deshalb 1 500 Ar-beitsplätze und eine erhebliche regionale Wertschöpfungzur Disposition stellt, handelt nicht verantwortlich.Lassen sich mich daher zusammenfassen: Die Aus-nahmeregelung in der europäischen Chemikalienverord-nung REACH zum Einsatz von Asbest in der Chlorelek-trolyse wurde in dem Bewusstsein geschaffen, dass inder chemischen Industrie verantwortungsvoll und unterhöchsten Sicherheitsstandards mit diesem unzweifelhaftgefährlichen Stoff umgegangen wird. Das bestreitenauch die Antragsteller nicht länger. Ein relevantes Ri-siko aus dem Einsatz von Asbestdiaphragmen gibt esalso nicht. Zudem wird in regelmäßigen Zeitabständen,wie gerade jetzt, von der Europäischen Kommissionüberprüft, ob es asbestfreie Substitute gibt, die wirt-schaftlich einsetzbar sind. Der Anreiz zu diesbezügli-chen Forschungsanstrengungen ist also ebenfalls gege-ben. Damit ist der Antrag der Grünen vollständigentkräftet.Was dennoch übrig bleibt, ist Folgendes: Für dieGrünen sind 1 500 Arbeitsplätze in Deutschland weni-ger wichtig als das moralisch erhöhende Gefühl, ver-meintlich etwas für den Umwelt- und Gesundheitsschutzam anderen Ende der Welt getan zu haben, ohne dass dievermeintlichen Nutznießer dieser Wohltat dies über-haupt wollten oder gar gefragt wurden. Man könnte esauch so umschreiben: Wir malen uns die Welt, wie sieuns gefällt.Für uns Liberale ist eine solche Geisteshaltung un-verantwortlich: unverantwortlich, weil sie die berech-tigten Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer ignoriert; unverantwortlich aber auch, weil sie sichum die mit einer Asbestsubstitution einhergehenden öko-logischen Abwägungen drückt. Wir bekennen uns daherausdrücklich zum Chemiestandort Stade.Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie und Indus-trie, Michael Vassiliadis, hat vor kurzem an die Politikappelliert, mehr Loyalität zum, wie er es nannte, indus-triellen Netz in Deutschland zu zeigen. Mit Blick auf die-sen Antrag kann man abschließend feststellen: Recht hater!
Sicherlich ist es ungewöhnlich, dass ich als Innen-politiker in der Debatte zu einem umweltpolitischen An-trag von Bündnis 90/Die Grünen das Wort ergreife. Al-lerdings hat der vorgelegte Antrag unmittelbare Auswir-kungen auf meinen Wahlkreis und seine wirtschaftlicheZukunft. Dort nutzt die Firma Dow am Produktionsstand-ort Stade ein Verfahren zur Produktion von Chlor für diedirekte Verarbeitung im Werk, bei dem in einem ge-schlossen System Asbest eingesetzt wird. Für diesen As-besteinsatz besteht eine Sondergenehmigung, die entzo-gen werden müsste, sollte der heutige Antrag denn sobeschlossen werden.Der Einsatz von Asbest, so wie er heute am Chemie-standort Stade geschieht, ist unter wirtschaftlichen undumweltpolitischen Gesichtspunkten vernünftig und rich-tig. Alle treten für einen schonenden Umgang mit denvorhandenen Ressourcen ein. Der Einsatz von Asbest imStader Chemiewerk hat zur Folge, dass der ohnehinschon sehr hohe Stromverbrauch auf das Notwendigstebegrenzt wird. Zudem ist der ganze Produktionsprozessin Stade so aufgebaut, dass bei einem Verbot von Asbestder ganze Standort neu konzipiert werden müsste. In ei-nem Chemiewerk ist in der Regel alles von allem abhän-gig. So auch in Stade. Wenn nun der Produktionsprozessgeändert wird, dann hat dies Auswirkungen auf dasganze Werk. Für den Chemiestandort Stade würde diesbedeuten, dass dieser komplett umgekrempelt werdenmüsste. Es geht hier um die Summe von etwa 1 MilliardeEuro. Ob Dow bereit wäre, dieses Geld in die Hand zunehmen, um die nötigen Umbaumaßnahmen durchzufüh-ren, ist nicht sicher. Es ist somit nicht ausgeschlossen,dass das Werk aufgrund des Asbestverbots geschlossenwird. Direkt wären 1 500 Menschen von einer solchenSchließung betroffen. Dazu kommen noch einige hundertMenschen im Bereich der Zulieferer und natürlich dieAngehörigen. Sie sehen also, welche Bedeutung Dow fürStade hat. Sicherlich ist dies nicht das einzige wirt-schaftliche Standbein in der Region Stade. Dennochhätte der Wegfall der Arbeitsplätze verheerende Auswir-kungen für die gesamte Region.Auch uns Liberalen liegen der Umweltschutz und dieSicherheit der Menschen am Herzen, und Asbest istzweifelsohne gefährlich. Allerdings sollte man die wirt-schaftlichen Folgen seiner Entscheidungen bedenken,zumal sich die Verantwortlichen der Firma Dow sich derGefahren des Asbests sehr wohl bewusst sind. Von die-sem besonderen Verantwortungsbewusstsein für Mitar-beiter und Umwelt konnten sich mein Kollege Knopekund ich uns kürzlich bei einem gemeinsamen Besuchbeim Stader Dow-Werk ein Bild machen. Dort wird allesgetan, um die möglichen Gefahren für Mensch und Na-tur auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Asbestwird dort in einem geschlossenen System verwendet undanschließend verbrannt. Die Gefahr, dass Asbest ausdem Chemiewerk entweicht, ist somit nahezu ausge-schlossen.Was die Reaktionen vonseiten der SPD zum ThemaDow angeht, bin ich ein wenig erstaunt. Der Abgeord-nete Klingbeil verweist darauf, dass die SPD im Bundes-tag für Deutschland eine erfolgreiche Industriepolitikwill und hierfür auch die Weichen stellt, so seine Äuße-rungen im „Stader Tageblatt“. Dennoch stimmte dieSPD im Umwelt- und im Landwirtschaftssauschuss fürden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, und im Wirt-schaftsausschuss enthielt sie sich der Stimme. Wenn soalso die Weichen für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitikgestellt werden, dann landet der deutsche Zug irgend-wann auf dem Abstellgleis. Bündnis 90/Die Grünen sindda wenigstens konsequent. Sie haben in allen zuständi-gen Ausschüssen für den Verbotsantrag gestimmt. Viel-leicht sollte sich die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen mit den Parteifreunden in Stade über dieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19365
Serkan Tören
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Auswirkungen ihrer in Berlin getroffenen Entscheidun-gen einmal austauschen.Abschließend kann ich nur sagen, die SPD redet vonWirtschaft und handelt wirtschaftsfeindlich und Bünd-nis 90/Die Grünen scheinen nicht mal ansatzweise eineIdee von Wirtschaftspolitik zu haben.Als Koalition mit wirtschaftspolitischem Verstandkönnen wir einem solch wirtschaftsfeindlichen Antrag,der Arbeitsplätze vernichtet, nicht zustimmen. Die christ-lich-liberale Koalition wird den Antrag ablehnen.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Einfuhr und
die Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produk-
ten in Deutschland umfassend zu verbieten. Außerdem
soll sich der Bundestag dafür einsetzen, dass europa-
und weltweit der Abbau und die Nutzung von Asbest ver-
boten wird.
Sieht man sich die Folgen der durch Asbest verur-
sachten Schäden für die Betroffenen an, so ist der An-
trag aus Sicht der Fraktion Die Linke ohne Zweifel in
den allermeisten Positionen sinnvoll. Asbest ist hoch ge-
fährlich und löst Krebs aus, wenn es in die Lunge gerät.
2005 mussten in der Bundesrepublik 1 540 Todesfälle
durch Asbest offiziell festgestellt werden. Tatsächlich
werden es noch erheblich mehr sein.
Die Asbestgewinnung liegt weltweit bei 2,2 Millionen
Tonnen jährlich. Davon wurden 2009 in die Bundesrepu-
blik 38 Tonnen legal mit Ausnahmegenehmigungen ein-
geführt. Es gibt jedoch etliche Produkte ausländischer
Hersteller, mit denen unbekannte Mengen in die Bundes-
republik gelangen. Es handelt sich hier beispielweise um
Dichtungsmaterialien oder um Thermoskannen mit
Wärmedämmung aus Asbest. Es sind übliche Ge-
brauchsgegenstände für den Alltag von Handwerkern
und Verbrauchern. Die im Antrag genannten Vollzugs-
defizite des Chemikalienrechts müssen deshalb unbe-
dingt beseitigt werden. Diese illegalen Importe dürfen
keinen weiteren Schaden mehr anrichten.
Bei den Ausnahmeregelungen des legalen Imports be-
steht eine ganz andere Situation. Hier werden keine Ver-
braucher unbekannten Gefahren ausgesetzt, sondern es
werden zwei eng begrenzte Industrieanwendungen er-
möglicht. Die zeitlich begrenzten Ausnahmegenehmi-
gungen sind an strikte Auflagen geknüpft.
Es sind zwei Industrieunternehmen, die Asbest zur
Chlorgewinnung benötigen. Das Unternehmen der
Solvay-Gruppe sieht sich in der Lage, den Asbest durch
andere Stoffe zu ersetzen. Es wird das auch kurzfristig
umsetzen. Das Unternehmen der Dow Chemical schließt
einen Ersatz als technisch nicht möglich aus, da ihre
Produktionsmethode eine andere sei. Das Produktions-
verfahren müsse beim Verzicht auf Asbest vollständig
neu aufgebaut werden. Die zulässige Arbeitsplatzbelas-
tung liegt bei Dow Chemical um den Faktor 100 unter
dem zulässigen Grenzwert, und die Montage des Asbests
wird von Robotern vorgenommen.
Durch die Nichtverlängerung der Ausnahmegenehmi-
gung wären im Stader Werk rund 1 500 Arbeitsplätze ge-
fährdet. Die Sicherheit der mit dem Umgang von Asbest
betrauten Arbeitnehmer ist aber gewährleistet, und auch
die Verglasung der Asbestabfälle ist ein akzeptabler Ent-
sorgungsweg. Ein Verbot, welches nach einer realisti-
schen Fristsetzung von vier Jahren in Kraft tritt, würden
wir unterstützen. Ein sofortiges Verbot ist jedoch unan-
gebracht, und daher wird sich die Fraktion Die Linke
bei diesem Antrag enthalten.
Noch immer wird Asbest in Deutschland verwendet.Es finden sich wieder vermehrt Produkte im Handel, dieAsbest erhalten: billige Thermoskannen aus China undDichtungsringe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Jadies ist illegal, Gesetze helfen hier nicht weiter. Aber esbedarf dringend einer Stärkung der Vollzugsbehörden.Die sind häufig überhaupt nicht in der Lage, die notwen-digen Kontrollen durchzuführen. Deshalb fordern wirdie Bundesregierung auf, gemeinsam mit den LändernMaßnahmen zu ergreifen, um diese Defizite abzubauenund die Einfuhr von asbesthaltigen Produkten nachDeutschland wirksam zu verhindern.Aber Asbest kommt nicht nur im Rahmen illegalerEinfuhren nach Deutschland, nein auch ganz legal. ImRahmen der Chemikalienverbotsverordnung gibt es einebefristete Ausnahmeregel zur Einfuhr von asbesthalti-gen Stoffen zur Herstellung von chrysotilhaltigen Dia-phragmen für die sogenannte Chlor-Alkali-Elektrolyse.Diese Ausnahmeregelung war damals bei der Einfüh-rung des Asbestverbotes richtig, um der chemischen In-dustrie die Möglichkeit zu geben, umzustellen. Dennauch wir Grüne betreiben, anders als Sie immer gernebehaupten, verantwortungsvolle Industriepolitik undwollen prinzipiell den Unternehmen Möglichkeiten ge-ben, behutsam auf neue Vorschriften umzustellen.Was wir nicht wollen, ist, allein den Partikularinte-ressen eines einzigen Unternehmens gerecht zu werden.Denn es gibt zwar mehrere Unternehmen, die Chlor-Al-kali-Elektrolyse betreiben, aber nur Dow in Stade hatnicht ausreichend Maßnahmen ergriffen, um erfolgreichSubstitutionsstrategien umzusetzen und asbestfreie Dia-phragmen zu nutzen. Genau deshalb fordern wir in unse-rem Antrag die Bundesregierung auf, nicht weiter vonder Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen.Wenig überraschend haben Sie, werte Kollegen vonden Koalitionsfraktionen, uns vorgeworfen, wir wärenverantwortungslos, wir würden Arbeitsplätze vernich-ten, es gäbe doch gar keine Gefahr, alles sei so sicher,bis hin zu kaum bekannten FDP-Abgeordneten ausStade, die schlankweg behaupten, wir hätten uns nichtinformiert und daher keine Ahnung.Da kann ich Ihnen nur sagen, wir haben uns infor-miert und wir haben Ahnung, mehr als Sie augenschein-lich. Lassen Sie uns doch noch mal kurz die Fakten an-führen:Erstens. Asbest ist ein hochgefährlicher Stoff; daswird hier wohl niemand bestreiten wollen.Zu Protokoll gegebene Reden
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19366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Dorothea Steiner
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Zweitens. Der Asbest, den die Firma Dow Chemicalin Stade verwendet, wird in Kanada unter katastropha-len Bedingungen mit massiven Gesundheitsschäden fürdie Arbeiter vor Ort abgebaut. Ich empfehle Ihnen daden NDR-Beitrag „Die Asbestfalle“. Asbest kann mannämlich nicht gefahrlos abbauen, und ja, uns Grünenbedeutet auch der Schutz von Mensch und Umwelt vorAsbestgefahren in Kanada etwas.Drittens. Natürlich sind die Risiken für die Arbeite-rinnen und Arbeiter bei Dow in Stade vergleichsweisegering aufgrund hoher Sicherheitsstandards, aber siesind weiterhin da und sollten nicht geleugnet werden.Viertens. Es gibt Alternativen, das haben Konkurren-ten von Dow wie Solvay Chemicals bewiesen. DerenProdukte sind zwar etwas teurer und etwas energieinten-siver. Aber sollte es uns das nicht wert sein, mit Blick aufdie katastrophalen Folgen von Asbest?Jetzt sagen Sie, ja, aber in Deutschland ist es alles si-cher, und wir wollen doch die Kosten- und Energievor-teile nutzen. Natürlich setzt sich die Bundesregierungfür ein weltweites Asbestverbot ein, aber Kanada will janicht. Da kann ich Ihnen sagen, warum Kanada nichtwill: Solange wir noch freudig für Chemiefabriken inDeutschland den kanadischen Asbest kaufen und einfachignorieren, welche schweren Folgen der dortige Abbaufür Mensch und Umwelt hat, müssen wir uns nicht wun-dern, dass die Kanadier weiterhin in großem Umfangden Asbest auf den Markt drücken wollen. Auch hiergilt: Die Nachfrage bestimmt das Angebot!Von CDU/CSU und FDP haben wir ja nichts andereserwartet. Aber dass auch Sie, werte Kolleginnen undKollegen von der Linken, auf diesen Zug aufspringen,hat uns schon gewundert. Sie haben doch in letzter Zeitimmer zum Ausdruck gebracht, dass Sie sich für die bes-seren Grünen in Sachen Umwelt- und Energiepolitikhalten. Jetzt zeigen Sie mit Ihrer Verweigerung, dem An-trag zuzustimmen, wie es wirklich um Ihre umweltpoliti-sche Kompetenz bestellt ist. Mit dem scheinheiligen Ar-gument, in Deutschland passiert den Arbeiterinnen undArbeitern ja nichts, daher wollen wir doch die Arbeits-plätze nicht gefährden, werfen Sie sämtliche Gedankenan Umweltschutz über Bord. Umwelt- und Gesundheits-schutz außerhalb Deutschlands scheint Sie nicht zu inte-ressieren, dabei dachte ich immer, die internationale So-lidarität hätte so einen besonderen Stellenwert beiIhnen.Wir Grünen haben schon immer Ökologie und Öko-nomie gemeinsam gedacht. Wir wollen eine nachhaltigeWirtschaft, die die Umwelt schont und zukunftssicher ist.Wirklich langfristig werden die Arbeitsplätze in Stadebei Dow nur gesichert, wenn Asbest erfolgreich substitu-iert wird. Dow spielt ein riskantes Spiel, wenn sie wei-terhin darauf setzen, eine singuläre Ausnahmegenehmi-gung für die Nutzung des hoch gefährlichen Asbests zuerhalten, nicht nur mit der Gesundheit der Menschen,sondern auch mit dem zukünftigen Profil des Unterneh-mens.Daher fordern wir: Umstieg jetzt – Einfuhr und Ver-wendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten inDeutschland müssen im Sinne des Gesundheits- undUmweltschutzes in Deutschland und weltweit umfassendverboten werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8758,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7478 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf morgen, Freitag, den 2. März 2012,
9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.