Protokoll:
17162

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 162

  • date_rangeDatum: 1. März 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:22 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/162 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 162. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Peter Röhlinger, Jerzy Montag und Hans- Joachim Fuchtel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Carola Stauche als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 3, 19, 29 sowie 31 b und c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechts- extremismus (Drucksache 17/8672) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenversicherung stärken und solida- risch ausbauen – Solidarische Min- destrente einführen (Drucksache 17/8481) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 19203 A 19203 A 19203 B 19203 D 19203 D 19204 A 19204 B 19205 D 19207 B 19208 B 19209 C 19211 A 19213 A 19214 B 19214 D 19215 D 19217 A 19218 B 19219 B 19220 D 19221 D 19223 A 19223 B 19225 C 19225 D 19227 A 19229 A 19229 C 19230 B 19230 D 19232 B 19234 C 19236 D 19238 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 2. Dezember 2010 über die Errichtung des Funktio- nalen Luftraumblocks „Europe Cen- tral“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Kö- nigreich der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (FABEC-Vertrag) (Drucksache 17/8726) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Axel Troost, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Finanzmärkte verbrau- chergerecht regulieren – Finanzwächter und Finanz-TÜV einführen (Drucksache 17/8764) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Er- wachsenen und Kindern für das Jahr 2012 (Achter Existenzminimumbericht) (Drucksache 17/5550) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 17. März 1992 zum Schutz und zur Nut- zung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen (Drucksache 17/8725) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksachen 17/8320, 17/8798) . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/8804) . . . . . . . . . . . . . b–h) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 390, 391, 392, 393, 394, 395 und 396 zu Petitionen (Drucksachen 17/8590, 17/8591, 17/8592, 17/8593, 17/8594, 17/8595, 17/8596) . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Dietmar Nietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verleihung des Status als EU-Bei- trittskandidat an Serbien aussprechen (Drucksache 17/8763) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richt- linie der Europäischen Union (Drucksache 17/8682) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Große Anfrage der Abgeordneten Franz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Der de- mografische Wandel in Deutschland – Handlungskonzepte für Sicherheit und Fortschritt im Wandel (Drucksachen 17/6377, 17/8372) . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19239 B 19239 D 19241 C 19241 C 19243 A 19245 A 19245 C 19246 D 19248 B 19249 C 19250 B 19250 B 19250 B 19250 C 19250 D 19250 D 19251 A 19251 A 19251 D 19252 A 19253 D 19255 A 19256 B 19257 C 19259 A 19260 C 19262 A 19262 D 19264 A 19265 A 19265 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 III Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes (Drucksache 17/8684) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Juristische Aufarbeitung der Gewalt und politischer Neuanfang für den Jemen (Drucksache 17/8587) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung gem. § 56a GO-BT: Technikfolgenab- schätzung (TA) TA-Projekt: Gefährdung und Verletz- barkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und lang- andauernden Ausfalls der Stromversor- gung (Drucksache 17/5672) . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur Risikoanalyse im Bevölke- rungsschutz 2011 (Drucksache 17/8250) . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Methode zur Risiko- analyse im Bevölkerungsschutz 2010 (Drucksache 17/4178) . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Deutsches Engage- ment beim Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in internationalen Frie- densmissionen stärken und ausbauen (Drucksache 17/8603) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mehr Mitsprache des Parlaments bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei (Drucksache 17/8381) . . . . . . . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 19266 C 19268 A 19269 A 19270 B 19272 A 19272 C 19273 C 19274 A 19275 B 19276 B 19277 C 19278 D 19279 D 19279 D 19280 D 19282 C 19283 C 19284 B 19285 A 19286 C 19286 D 19287 C 19288 D 19290 A 19291 B 19292 B 19293 B 19293 C 19293 C 19293 D 19295 A 19296 C 19297 C 19298 C 19299 C 19301 A 19301 A 19301 B 19302 D 19304 B 19305 B 19306 A 19306 C 19307 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 Tagesordnungspunkt 13: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe – zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tourismus als Chance für die Einhaltung der Menschenrechte nutzen – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Menschenrechte in der Tourismus- wirtschaft achten, schützen und ge- währleisten (Drucksachen 17/8347, 17/6458, 17/8736) b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Kornelia Möller, Katrin Werner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte in der Touris- muspolitik konsequent durchsetzen (Drucksache 17/8762) . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den demographischen Wandel bei den Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe in der gesetzlichen Rentenver- sicherung besser berücksichtigen (Drucksache 17/8602) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Allge- meinen Eisenbahngesetzes (Drucksachen 17/8364, 17/8787) . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren und gewährleisten (Drucksachen 17/5390, 17/6929) . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die geodätischen Referenz- systeme, -netze und geotopographischen Referenzdaten des Bundes (Bundesgeorefe- renzdatengesetz – BGeoRG) (Drucksachen 17/7375, 17/8634) . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19308 C 19308 D 19308 D 19310 A 19311 B 19312 B 19313 A 19313 D 19315 B 19316 B 19316 C 19317 C 19318 D 19319 C 19320 A 19320 D 19322 A 19322 D 19323 A 19323 C 19324 B 19325 A 19325 C 19326 D 19327 C 19327 C 19328 D 19330 D 19331 A 19332 A 19332 D 19333 C 19334 D 19335 A 19335 D 19336 D 19337 B 19338 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 V Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungsarmut durch Alphabetisierung und Grundbil- dung entgegenwirken (Drucksache 17/8765) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Niemanden abschreiben – An- alphabetismus wirksam entgegentre- ten, Grundbildung für alle sichern (Drucksache 17/8766) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Fraktion der SPD: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- päischen Parlaments und des Rates über die Konzessionsvergabe KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11 hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon (Grundsätze der Subsidiari- tät und der Verhältnismäßigkeit) Ausschreibungspflicht bei Dienstleis- tungskonzessionen ablehnen – Kommu- nale Daseinsvorsorge sichern (Drucksache 17/8761) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- päischen Parlaments und des Rates über die Konzessionsvergabe KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11 hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon (Grundsätze der Subsidiari- tät und der Verhältnismäßigkeit) Klares Signal zum Schutz der kommu- nalen Daseinsvorsorge setzen (Drucksache 17/8768) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Manfred Nink (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Sabine Zimmermann, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Er- werbsminderung 1 : 1 an Kommunen wei- terreichen (Drucksache 17/8606) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Oliver Krischer, Dr. Valerie Wilms, Hans- Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraft- stoffen aus Teersanden bei der Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie berück- sichtigen (Drucksachen 17/7956, 17/8759) . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die deutschen Kolonialverbrechen im ehe- maligen Deutsch-Südwestafrika als Völ- kermord anerkennen und wiedergutma- chen (Drucksache 17/8767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19339 A 19339 B 19339 C 19339 D 19340 A 19341 C 19342 C 19343 B 19344 A 19344 D 19345 A 19345 C 19346 D 19347 C 19348 B 19349 B 19349 C 19350 C 19351 D 19352 B 19353 A 19354 A 19354 B 19355 C 19356 A 19357 A 19358 B 19359 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einfuhr und Verwendung von Asbest und asbest- haltigen Produkten in Deutschland umfas- send verbieten (Drucksachen 17/7478, 17/8758) . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Bildungsarmut durch Alphabetisierung und Grundbildung entgegenwirken – Niemanden abschreiben – Analphabe- tismus wirksam entgegentreten, Grundbildung für alle sichern (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19360 A 19360 B 19361 C 19363 A 19364 B 19365 A 19365 C 19366 D 19367 A 19367 C 19368 C 19369 C 19371 B 19372 A 19373 B 19374 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19203 (A) (C) (D)(B) 162. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19367 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Bildungsarmut durch Alphabetisierung und Grundbildung entgegenwirken – Niemanden abschreiben – Analphabetismus wirksam entgegentreten, Grundbildung für alle sichern (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Lesen und Schreiben sind grundlegende Voraussetzungen, um sich im alltäglichen Leben zurechtzufinden und zu be- haupten. Vielen Menschen in unserem Land bereitet das leider Probleme. Wie die Ergebnisse der durch den Bund geförderten „leo. – Level-One-Studie“ zeigen, sind 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sogenannte funktionale An- alphabeten und haben somit Probleme, selbst kürzere Texte zusammenhängend zu lesen oder zu schreiben. Darüber hinaus haben 4 Prozent der Erwerbstätigen nicht nur Probleme mit mehreren Sätzen, sondern sogar mit einzelnen Wörtern. Und weitere 13 Millionen Bür- ger haben Probleme mit gebräuchlichen Wörtern – also eine allgemeine Leseschwäche. Diese zählen formal je- doch nicht zur Gruppe der Analphabeten. Die Zahlen zum Analphabetismus zeigen, dass es die- ses Problem gibt, das wir auch ernst nehmen. Doch ist mir hierbei eine differenzierte Betrachtung wichtig: Dem Eindruck, wir seien eine Nation von Analphabeten, möchte ich ausdrücklich entgegentreten, denn dieser ist fatal und auch falsch. Deutschland ist eine global agie- rende und eine der führenden Bildungsnationen der Welt mit einem hohen Bildungsstandard. In der heutigen Debatte darf es nicht ausschließlich darum gehen, Fachkräfte zu qualifizieren. Die Bekämp- fung des Analphabetismus ist mehr. Dahinter steht auch der Grundgedanke humanistischer Bildung: sich nämlich an den Interessen, den Werten und der Würde des einzel- nen Menschen zu orientieren und damit das menschliche Dasein zu verwirklichen und zu verbessern. Die vorliegenden Anträge bieten daher in der Sache durchaus berechtigte Lösungsansätze, enthalten jedoch nichts wesentlich Neues. In der Sache sind wir uns hier ja alle einig, nur über das „Wie“ gibt es unterschiedliche Ansichten. Eine Mehrheit der Vorschläge verkennt die bisherige Arbeit der Bundesregierung. So hat die Bundesregierung das Thema Alphabetisie- rung und Grundbildung bereits seit längerem auf ihrer Agenda. Der dabei bereits eingeschlagene Weg wird nicht nur fortgeführt, sondern das Engagement im Kampf gegen Analphabetismus sogar noch ausgebaut. Hervorzuheben sind hierbei die Initiativen in der früh- kindlichen Förderung, beispielsweise die Aktion „Lese- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 01.03.2012 Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 01.03.2012 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 01.03.2012 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 01.03.2012 Burchardt, Ulla SPD 01.03.2012 Friedhoff, Paul K. FDP 01.03.2012 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 01.03.2012 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 01.03.2012 Dr. Harbarth, Stephan CDU/CSU 01.03.2012 Hintze, Peter CDU/CSU 01.03.2012 Kaczmarek, Oliver SPD 01.03.2012 Kipping, Katja DIE LINKE 01.03.2012 Körper, Fritz Rudolf SPD 01.03.2012 Korte, Jan DIE LINKE 01.03.2012 Krellmann, Jutta DIE LINKE 01.03.2012 Kressl, Nicolette SPD 01.03.2012 Ludwig, Daniela CDU/CSU 01.03.2012 Luksic, Oliver FDP 01.03.2012 Marks, Caren SPD 01.03.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 01.03.2012 Philipp, Beatrix CDU/CSU 01.03.2012 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 01.03.2012 Pronold, Florian SPD 01.03.2012 Rupprecht (Weiden), Albert CDU/CSU 01.03.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 01.03.2012 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 01.03.2012 Anlagen 19368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 (A) (C) (D)(B) start – Drei Meilensteine für das Lesen“, das größte Leseförderungsprogramm in der Geschichte der Bundes- republik. Darüber hinaus wurden vielfältige Forschungs- vorhaben gestartet sowie weitere Projekte, die sich nicht nur an Kinder, sondern vor allem auch an die erwerbs- tätige Bevölkerung richten. All den Unkenrufen der Opposition zum Trotz: Die Aktivitäten der Bundesregierung wurden in einer Anhö- rung des Bildungsausschusses von unabhängigen Exper- ten gelobt, die ihr bescheinigten, dass der Bund sich der Aufgabe angemessen annimmt. Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihren Anträgen for- dern, ist ein breites Aktionsbündnis von Bund, Ländern und Kommunen sowie Vertretern der Zivilgesellschaft. Die Idee ist gut, doch auch diese wurde bereits aufge- griffen und in Teilen bereits realisiert. So gaben bei- spielsweise Bundesministerin Professor Dr. Annette Schavan und KMK-Präsident Dr. Bernd Althusmann Ende 2011 den Startschuss für eine Nationale Strategie zur Verringerung der Zahl funktionaler Analphabeten. Der nächste Schritt muss nun die weitere und stärkere Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Vertreter sein. Doch auch diese Idee ist nichts Neues, und an ihrer Realisie- rung wird gearbeitet. Nichtsdestotrotz sind die Länder gefordert, sich noch stärker zu engagieren. Gefragt sind konzertierte Aktio- nen, die auf bereits gewonnenen Erkenntnissen für viel- versprechende Maßnahmen aufbauen. Dabei erscheint es mir wichtig, dass zielgenaue und bedarfsorientierte An- gebote auf der Ebene der allgemeinen und der berufsbe- gleitenden Bildung geschaffen werden; Letzteres übri- gens auch im Hinblick auf die Qualifizierung von Fachkräften. Zur Erforschung von Maßnahmen wurde Ende 2011 ein neues Projekt beschlossen, das mit 20 Mil- lionen Euro vom Bund gefördert wird. Um den Betroffenen besser als bisher konkrete Ange- bote zu unterbreiten, müssten die entsprechende Infra- struktur geschaffen werden und die Programme ausge- baut und sinnvoll miteinander verknüpft werden. Die Unionsfraktion würde die Ausrufung einer „Nationalen Dekade Alphabetisierung“, einer Imagekampagne oder auch die Einrichtung sogenannter Clearingstellen zur Abstimmung zwischen Bund und Ländern begrüßen. Was gilt es zukünftig zu vermeiden? Meiner Ansicht nach insbesondere Aktionen, die schlicht nur mehr Geld binden und dieses mit der Gießkanne ausschütten und so ineffektiv verpuffen. Auch gehören Maßnahmen dazu, deren Erfolg zweifelhaft ist und die viele Bevölkerungs- gruppen außen vor lassen. Wichtig ist mir, dass der Stigmatisierung Betroffener entgegengewirkt wird. Egal welche Projekte existieren: Wenn die Betroffenen nicht zu einer Teilnahme ermutigt werden, bleiben alle Anstrengungen erfolglos. Der Ab- bau von Ressentiments ist hier ebenso wichtig wie das breite gesellschaftliche Engagement. Eine der wichtigsten zu beantwortenden Fragen bei allen Forschungs- und Förderungsprojekten ist, warum es im Leben einiger Menschen offensichtlich zur Verrin- gerung der Lese- und Schreibkompetenzen kommt. In Anbetracht der frühkindlichen Förderung und dem ganz- heitlichen Besuch der Grundschule scheint der Analpha- betismus, zumindest für in Deutschland Geborene, teil- weise unerklärlich. Doch zeigt dies, dass auch nach dem Schulabschluss die Lust und die Bereitschaft zum Ge- brauch der Sprache gefördert werden müssen. Chancen und Risiken bieten aus meiner Sicht dabei die neuen Medien: Einerseits eröffnet sich hier eine Möglichkeit, Betroffene zu erreichen und so zugleich nicht nur deren Sprach- sondern auch die Lesekompe- tenz beispielsweise über den Umgang mit der sogenann- ten Social Media zu steigern. Andererseits bestehen Ri- siken durch den immer intensiveren Gebrauch neuer Medien, in denen Rechtschreibung oft vernachlässigt wird und diesbezüglich kontraproduktiv wirkt. Dies wird durch die Möglichkeit zur Kommunikation mittels But- tons und somit ohne Sprache begünstigt. Weitere Anstrengungen sind unbestreitbar. Die Bun- desregierung hat mit ihren Projekten den richtigen Weg eingeschlagen. Jetzt sind die Länder und die Gesell- schaft gefordert, durch größere Sensibilität und erhöhtes Interesse Analphabeten aus dem Randbereich der Ge- sellschaft herauszuholen und sie erfolgreich zu integrie- ren. Wir als Bund werden dies wie gewohnt unterstützen und darüber hinaus Impulse setzen. Axel Knoerig (CDU/CSU): Bereits am 9. Juni 2011 haben wir uns im Plenum mit Alphabetisierung und Grundbildung beschäftigt. Damals lag ein Antrag der Sozialdemokraten vor. Heute bringen nun die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und Linken das gleiche Thema wieder auf den Tisch. Die SPD-Forderung eines „Grundbildungspaktes“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird zwar von den Grünen und der Linken nicht aufgenommen. Den- noch wird eine umfassende Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen von der gesamten Oppo- sition gefordert, die im Endeffekt auf dasselbe hinaus- läuft, egal wie man diese Konstruktion nun beim Namen nennt. Der Antrag der Linken setzt dem aber noch eine Krone auf: Ein Zehnjahresprogramm zur Umsetzung des Plans zur Alphabetisierung und Grundbildung soll in Angriff genommen werden. Zielvorgaben, Zuständigkeiten, fi- nanzielle Mittel und Zeitpläne sollen unverzüglich vor- gelegt werden. – Der Schwefelgeruch des Plansozialis- mus schwebt über dem Hohen Hause! Ich kann vor solchen Vorhaben nur warnen. Was nut- zen Zielvorgaben, wenn die Ergebnisse der Projekt- förderungen nicht zwischenzeitlich evaluiert und gege- benenfalls korrigiert werden? Der Bund wird hier mal wieder als Zahlmeister eingespannt, ohne dass die In- strumente auf Effektivität geprüft werden. Ein Zehnjah- resplan ist völlig überflüssig und in diesem Zeitrahmen in der Koordination von Bund, Ländern und Kommunen auch nicht durchführbar. Der 17-Punkte-Katalog des An- trages der Linken ist im deutschen Bildungsföderalismus Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19369 (A) (C) (D)(B) über mehrere Wahlperioden hinaus überhaupt nicht rea- lisierbar. Im Gegensatz dazu hat die Bundesregierung längst mit umfassenden Maßnahmen vorgesorgt. Bereits seit 30 Jahren fördert das BMBF Projekte, die sich dieses Themas widmen. Die vom Ministerium in Auftrag gege- bene Level-One-Studie der Universität Hamburg von 2011 verweist auf die erschreckend hohe Zahl von 7,5 Millionen Menschen, die funktionale Analphabeten sind. Der Begriff „funktionaler Analphabetismus“ trägt den Realitäten Rechnung. Er bezieht sich auf die indivi- duellen Lese- und Schreibkenntnisse und bedeutet die mangelnde Beherrschung der Schriftsprache. Die Ursachen für diese Defizite können sehr unter- schiedlich sein: Während der Schulzeit sind Lernrückstände entstan- den. Schwierige Lebensumstände haben die Aneignung von Lesekompetenzen erschwert. Psycho-organische Beeinträchtigungen, fehlende Pra- xis oder ein Migrationshintergrund haben zu Benachtei- ligungen beim Erwerb der Lese- und Sprachkompeten- zen geführt. Was bedeutet das für die Betroffenen? Dieses „Manko“ bedeutet eine immense tägliche Belastung, diese gesellschaftlich nicht akzeptierte Schwäche zu ka- schieren. Als direkte Folge entwickelt sich ein negatives Selbstbild, das geradewegs in die soziale Isolation führt. Aus diesem Teufelskreis kommt man schließlich ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus! Bildung ist die Grundlage für die persönliche Ent- wicklung und soziale Teilhabe. In der Bildungsrepublik Deutschland soll die Chancengleichheit verbessert wer- den. Die Bundesregierung hat diesbezüglich in dieser Legislaturperiode schon viel auf den Weg gebracht. Zu nennen ist hier der Förderschwerpunkt des BMBF: „For- schung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“. Insgesamt 30 Millionen Euro stellt das Ministerium zwischen 2007 und 2012 für diese Maßnahme zur Verfügung. Auch den geforderten gesamtgesellschaftlichen Kon- sens zu dieser Thematik hat die Bundesregierung längst hergestellt: Grundlage dafür ist die „Nationale Strategie zur Verringerung der Zahl funktionaler Analphabeten“, deren Förderbedingungen das BMBF am 8. Februar 2012 veröffentlicht hat. 20 Millionen Euro werden bis 2015 bereitgestellt. Die neue Initiative hat das Ziel, betroffene Erwach- sene besser in die Arbeitswelt zu integrieren und ihre fachlichen Fähigkeiten zu fördern. Erfolgen soll dies mittels arbeitsplatzorientierter Forschung und Entwick- lung auf dem Gebiet der Alphabetisierung und Grundbil- dung. Ich möchte an dieser Stelle nur die wichtigsten För- derschwerpunkte neben den bereits erwähnten anspre- chen: Dazu gehören Öffentlichkeitskampagnen – 5 Mil- lionen Euro für 2012 –, das Rahmencurriculum für „Alphakurse“ – 2,1 Millionen Euro bis 2015 –, die Lern- plattform www.ich-will-lernen.de – unbefristet, 800 000 Euro pro Jahr –, die Bildungsprämie – bis zu 500 Millio- nen Euro bis 2015 –, Alphabetisierungskurse im Rah- men von Integrationskursen für erwachsene Migranten an Volkshochschulen – unbefristet, 42,2 Millionen für 2011 – und die Prävention „Lesestart“ – 26 Millionen Euro bis 2018. Das sind die vielfältigen Leistungen der schwarz-gel- ben Bundesregierung zur Alphabetisierung und Grund- bildung. Und die lassen sich sehen! Entscheidend ist dabei: Die Maßnahmen richten sich an alle Altersgruppen und beziehen sich immer spezi- fisch auf die jeweilige Lernsituation der Betroffenen. Die Maßnahmen sind kurativ und präventiv. Nur so kann eine optimale Unterstützung gewährleistet werden. Aber der Staat kann es nicht alleine richten, wir brau- chen dazu eine breite zivilgesellschaftliche Unterstüt- zung. Deshalb lehnen wir den staatlichen Dirigismus der Linken strikt ab. Wir brauchen kein bürokratisches Monster eines Zehnjahresplans, das in seinen Planungs- exzessen an den Realitäten vorbeigeht. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Eine Vorbemer- kung vorweg: Ich persönlich finde es sehr bedauerlich, dass wir die Debatte zur Auseinandersetzung mit dem Analphabetismus und der Verbesserung der Grundbil- dung einmal mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit führen bzw. unter Umständen sogar nur zu Protokoll ge- ben. Hier geht es immerhin um das Grundrecht auf Bil- dung und Qualifikation; über 7,5 Millionen Menschen sind in gravierender Weise davon betroffen. Hinzu kom- men noch viele Angehörige, Familien, Kollegen, Firmen. Und wenn Sie nicht nur auf die 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten, sondern auf die über 20 Mil- lionen Menschen mit massiven Grundbildungsdefiziten abheben, wird das Erfordernis einer breiten gesellschaft- lichen und das heißt auch einer intensiven, umfassenden, sich vertiefenden parlamentarischen Diskussion immer drängender. Nun denn: Wir von der SPD bleiben hierzu am Ball. Die Debatte muss ja auch noch aus dem Aus- schuss zurück in den Bundestag. Wir haben bereits ein sehr aufschlussreiches Fachge- spräch im Bildungsausschuss durchsetzen können, und wir waren auch diejenigen, die schon vor fast einem Jahr einen Antrag „Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland fördern“ ins Parlament eingebracht haben. Wir freuen uns, dass jetzt auch die anderen Opposi- tionsfraktionen mitziehen und mit ihren Anträgen hel- fen, dass dieses bildungspolitische Tabu endlich immer weiter aufgebrochen wird. Viel zu lange Zeit hat man die Augen verschlossen und so getan, als ob Analphabetis- mus ein Thema in unterentwickelten Ländern ist, in fer- nen Kontinenten und nur weit weg von hochmodernen, hochindustrialisierten und hochgebildeten Gesellschaf- ten und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland existiert. Nach der sehr verdienstvollen Leo-Studie, die jetzt schon ein Jahr vorliegt, wissen wir allerdings, dass Analphabetismus kein exotisches Thema ist, sondern aus 19370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 (A) (C) (D)(B) der Mitte unserer Gesellschaft kommt und über 14 Pro- zent unserer erwerbsfähigen Bevölkerung betrifft. Nur frage ich mich jetzt: Wann wird das Thema auch bei den Regierungsfraktionen aufgegriffen? Wann bringen Sie Ihre Anträge und Initiativen ein? Die betroffenen Men- schen hätten es verdient. In den Anträgen, die jetzt von Bündnis 90/Die Grünen und von der Fraktion Die Linke eingereicht wurden, se- hen wir viel Übereinstimmung in Beschreibung, Analyse und Bewertung zu unserem eigenen Antrag aus dem Mai 2011. Wir sind eigentlich sicher, dass auch die Regie- rungsfraktionen dem beitreten können bzw. sollten. Die Unterscheide zeigen sich tatsächlich in den Konsequen- zen und Maßnahmen, die hieraus abgeleitet werden müs- sen. Hier ist das, was die Bundesregierung über die For- schung hinaus anbietet und eingeleitet hat, eben doch zu zaghaft und unentschlossen. 10 Millionen Euro in zwei Jahren für eine große Informations-, Aufklärungs- und Motivationskampagne können nur ein Einstieg sein. Die Mittel der Bildungsprämie mit zu aktivieren, ist für diese Zielgruppe, die ja eher ein sehr geringes bis in wenigen Fällen mittleres Einkommen hat, nicht zielführend, wie auch die Anhörung im Bildungsausschuss gezeigt hat. 20 Millionen Euro für drei Jahre, also unter 7 Millionen Euro im Jahr, für die Förderung arbeitsplatzorientierter Alphabetisierung und Grundbildung sind angesichts ei- ner Zahl von 7,5 Millionen Betroffenen auch zu zöger- lich und ohne entscheidende Durchschlagskraft. Die SPD-Bundestagsfraktion bleibt deshalb bei ihrer Forderung nach einem umfassenden Alpha-Pakt für Grundbildung. Bund, Länder und Kommunen sowie die Sozialpartner und die Bundesagentur für Arbeit müssen gemeinsam und entschlossen handeln, um Menschen mit unzureichender Grundbildung zu unterstützen. Allein der Bund soll dafür mittelfristig mindestens 50 Millio- nen Euro aus dem Bildungshaushalt für sehr konkrete Alphabetisierungs- und Grundbildungsmaßnahmen im Jahr bereitstellen, beginnend mit 25 Millionen Euro in 2012. Entsprechende Anträge hatte die SPD-Bundes- tagsfraktion im Rahmen der Haushaltsberatungen ge- stellt. Wir brauchen dieses starke Signal des Bundes an die Länder und die Kommunen, damit diese sich in ihren Anstrengungen nicht alleingelassen fühlen, sondern Bund, Länder und Kommunen hier tatsächlich Hand in Hand in den Aufbau eines Programmes eintreten, das über einen Zehnjahreszeitraum an die Gesamtaufwen- dungen heranreicht, wie sie zum Beispiel in Großbritan- nien in Alphabetisierung und Grundbildung investiert worden sind, nämlich durchschnittlich 360 Millionen Euro über 10 Jahre. Auch wenn hier genauere Zahlen sehr schwer zu ermitteln sind, dürften die Kommunen und die Länder aktuell in Deutschland noch unter 100 Millionen Euro jährlich bereitstellen. Auch die Bundesagentur für Arbeit war bisher noch sehr zurückhaltend, obwohl über 55 Prozent der Betrof- fenen erwerbsfähig sind. Es hat uns gefreut, dass die Vertreter des DIHK für die Wirtschaft und der DGB für die Gewerkschaften in unserem Fachgespräch die Not- wendigkeit einer Förderung auch aus der Arbeitslosen- versicherung ausdrücklich anerkannt haben, ganz in dem Sinne, dass die Arbeitslosenversicherung eben auch Qualifikations- und Bildungsversicherung, das heißt Be- schäftigungsversicherung zum Auftrag hat. Andere Punkte, die wir nach dem Fachgespräch im Bildungsausschuss durch die Experten noch besser er- kannt haben und hier zuspitzen möchten, sind: Erstens. Es besteht ein großer Bedarf dafür, dass in konkreten Schritten mindestens 100 000 Kursplätze für Alphabetisierung bereitgestellt werden, damit die Be- troffenen eine realistische Chance auf gesellschaftliche Teilhabe erhalten. Zurzeit können nur circa 20 000 Men- schen an Alphabetisierungskursen teilnehmen. Dies ist eine große Aufgabe für die Länder und Kommunen. Der Bund sollte sie dabei nachdrücklich unterstützen. Denn 100 000 Plätze erfordern nach den Berechnungen der Fachleute rund 250 Millionen Euro jährlich! Die Linke beschreibt diese Verfünffachung als wenig ambitioniert, jedoch ist dies nun wirklich das Gegenteil. Liebe Kolle- ginnen und Kollegen von links, das ist wirklich sehr am- bitioniert. Es ist im Übrigen auch sehr teuer. Aber es muss nun einmal sein. An dieser Stelle ist Ihr Hinweis auf Großbritannien durchaus richtig und wichtig. Nur, ohne tatkräftige finanzielle Unterstützung dieser Natio- nalen Strategie durch die Bundesregierung wird dieses keinen Erfolg haben. Zweitens. Auch das hat das Fachgespräch gezeigt: Für einen quantitativen Aufwuchs der Teilnehmerzahlen müssen die Strukturen der Alphabetisierungsarbeit aus- gebaut werden. Es gibt bislang keinen akademischen Ausbildungsgang „Alphabetisierungspädagogik“. Erst- mals werden in 2012 einige wenige Studenten und Stu- dentinnen den Weiterbildungsstudiengang an der Päda- gogischen Hochschule Weingarten absolvieren. Da sich auch in der Weiterbildung ein Generationenwechsel vollzieht, werden qualifizierte Kursleiter und -leiterin- nen für die Grundbildungsarbeit fehlen. Mit ProGrund- bildung liegt ein Konzept für eine grundlegende Qualifi- zierung vor, die aber von den Kursleitenden nicht selbst finanziert werden kann. Darüber hinaus müssen Bil- dungsträger in die Lage versetzt werden, über die Ver- netzung mit anderen lokalen Einrichtungen, zum Bei- spiel kommunalen Ämtern oder Beratungsstellen, und durch gezielte Stadtteilarbeit die Betroffenen zu errei- chen. Die aufsuchende Bildungsarbeit erfordert perso- nelle Ressourcen, die bislang in zu geringem Maße zur Verfügung stehen. In diesem Sinne wollen wir unseren Antrag vom Mai 2011 nach dem Fachgespräch inhaltlich präzisieren und nachschärfen. Drittens. Konkret hat die Auseinandersetzung mit den Experten weiter gezeigt: Die Bundesbildungsministerin sollte für eine langfristige finanzielle Unterstützung der wichtigsten Alphabetisierungsträger sorgen, damit sie ihre wertvolle Arbeit dauerhaft leisten können. Es kann nicht sein, dass der Bundesverband für Grundbildung und Alphabetisierung e. V. auf Sponsoren angewiesen ist, um seine Arbeit kontinuierlich fortzuführen. Solche Träger brauchen Planungssicherheit. Viertens. Bestätigt und bestärkt sehen wir uns schließ- lich im Einsatz für Alphabetisierung und Grundbildung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19371 (A) (C) (D)(B) als Aufgabe einer präventiven Beschäftigungsförderung. Wir fordern deshalb ein Umdenken bei der Bundesagen- tur für Arbeit, die sich aktiv in den Pakt für Alphabeti- sierung und Grundbildung einbringen muss. Denn Al- phabetisierung bei Erwachsenen und zumal bei mehrheitlich Erwerbstätigen ist eben nicht vorrangig all- gemeine Bildung, sondern dient der Herstellung der Be- schäftigungsfähigkeit und ist deshalb auch Teil der akti- ven Arbeitsmarktpolitik. Wir erwarten insbesondere auch von der Wirtschaft in diesem Zusammenhang ein besonderes Engagement. Denn angesichts des drohenden Fachkräftemangels kann es sich auch die Wirtschaft nicht leisten, dass aktuell 14,5 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter von wichtigen Arbeitsprozessen ausgeschlossen bleiben, weil sie kaum lesen und schreiben können. Um auch die- ses zu sagen: Das Programm der Regierung zur Förde- rung von Projekten mit dem Förderschwerpunkt „Ar- beitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ macht sehr viel Sinn und wird von uns auch voll unterstützt. Nur das kann eben nicht fast alles sein. Wenn Deutschland ernsthaft den Anspruch einer „Bil- dungsrepublik“ hat, muss die Bekämpfung des Analpha- betismus endlich auf die bildungspolitische Agenda ge- setzt werden. Das nächste Jahrzehnt muss im Zeichen einer nationalen Alphabetisierungsstrategie stehen. Al- phabetisierung ist eine Gemeinschaftsaufgabe jenseits von politischen Ideologien und verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. Wir dürfen die Probleme der 7,5 Mil- lionen funktionalen Analphabeten nicht länger verdrän- gen, nur weil die Menschen, die es betrifft, keine Lobby haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Im Gegen- teil: Das Tabu des Analphabetismus muss jetzt fallen und die Betroffenen müssen eine Chance bekommen, „Gesicht“ zu zeigen und Unterstützung zu erhalten, in ihrem Interesse und im Interesse der Allgemeinheit. Deshalb hoffen wir, dass es in dieser Frage keine Regie- rungsfraktion oder Oppositionsfraktion gibt, sondern wir uns zusammen engagieren und die Bundesregierung wie die Landesregierungen, die Kommunen und die Sozial- partner treiben, hier mutige Schritte zu wagen. Das sind uns die 7,5 Millionen wert. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Ergebnisse der Leo-Studie vom Frühjahr 2011 zum Analphabetismus in Deutschland haben uns alle überrascht und gleicherma- ßen erschrocken. Mit 7,5 Millionen funktionalen An- alphabeten und 300 000 Menschen, die noch nicht ein- mal ihren Namen schreiben können, hatte wohl niemand gerechnet. Angesichts solcher Erkenntnisse erscheint das seit 2003 formulierte Ziel der Vereinten Nationen, mit einer Dekade der Alphabetisierung bis 2013 welt- weit die Analphabetenquote zu halbieren, umso bedeu- tender – auch und gerade in Deutschland. Man könnte erwarten, diese erschreckenden Zahlen hätten die Bundesregierung und die Öffentlichkeit auf- geschreckt, vielleicht sogar für das Anliegen sensibili- siert. Doch das Thema ist leider relativ schnell wieder verhallt. Wie konnte es dazu kommen? Selbstverständlich ist das Thema funktionale An- alphabeten schwierig. Weder Unternehmen, die aktiv Alphabetisierungsmaßnahmen betreiben, noch die Be- troffenen selbst äußern sich hörbar und öffentlich. Es bräuchte gerade deswegen eine Politik, die sich unbe- quemen Themen widmet, sie auf die öffentliche Agenda setzt und Handlungsmaßnahmen in Angriff nimmt. Bun- desbildungsministerin Schavan hat – wie bei zahlreichen anderen Themen – lediglich eine große Pressekonferenz angesetzt und gab große Versprechen ab. Doch was ist nun nach nahezu einem Jahr davon übrig geblieben? Nichts, faktisch nichts hat sich an der Situation dieser Menschen geändert. Das Thema ist erneut im Sande verlaufen. Es ist tragisch, aber diese Entwicklung Schavan’scher Ankündigungen ist leider typisch. Die Leidtragenden sind jedes Mal die Betroffenen. Auch die im Dezember getroffene Vereinbarung von Bund und Ländern brachte nicht den erhofften großen Wurf. Man einigte sich auf eine öffentlichkeitswirksame Kampagne sowie länderübergreifende Kooperation und Vernetzung. Das ist natürlich gut und wichtig. Doch kon- zentrieren sich die Maßnahmen auf die Länder: kein neues Projekt der Bundesregierung, keine Zusammenar- beit mit Sozialpartnern, mit der Bundesagentur für Ar- beit oder anderen Aktiven in dem Bereich. Stattdessen hat im vergangenen Jahr das BMBF der seit 2003 jähr- lich stattfindenden Fachtagung Alphabetisierung, die vom Bundesverband Alphabetisierung organisierte Platt- form der gesamten Alphabetisierungs- und Grundbil- dungsarbeit in Deutschland, die Förderung gestrichen. So geht das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Wir von der SPD-Fraktion schenken dem Thema Alphabetisierung größere Aufmerksamkeit. Wir haben als erste Fraktion nach der Studie einen Antrag mit konkreten Handlungsmaßnahmen und Zahlen in den Bundestag eingebracht. Wir wollen in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Kommunen einen Grundbil- dungspakt schließen, der die Anzahl der Analphabeten halbieren soll. Wir nehmen dabei im Gegensatz zur Bun- desregierung alle gesellschaftlichen Kräfte mit: Wirt- schaftsverbände, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kir- chen wie auch die Medien sollen daran beteiligt werden. Wir wollen 25 Millionen Euro in diesem Jahr und mittel- fristig 50 Millionen Euro jährlich für diesen Grundbil- dungspakt bereitstellen. Unser Ziel ist ein zügiger Aus- bau der Kursplätze auf 100 000 pro Jahr. Das sind konkrete Projekte. Damit könnten wir substanziell die Situation dieser Menschen verbessern. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht, das will ich ausdrücklich festhalten, in die richtige Richtung. Doch setzt unser An- trag im Vergleich selbst nach fast einem Jahr der Debatte immer noch Maßstäbe: Wir haben uns klar positioniert und dies an konkreten Zahlen festgemacht. Eine wichtiger Punkt noch zum Schluss: Die Exper- ten des im Ausschuss durchgeführten Fachgespräches haben vor allen Dingen einen Wunsch formuliert: Sie wollen keine kurzfristige Projektförderung mehr, bei der von Jahr zu Jahr neu entschieden wird, ob die Arbeit weitergeführt und das Personal gehalten werden kann. Sie brauchen langfristige Strukturen und Planungs- sicherheit. Ich finde, damit haben sie recht und es ist un- 19372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 (A) (C) (D)(B) terstützungswert. Dieses Thema ist zu wichtig, als dass dessen Finanzierung jedes Jahr am seidenen Faden hän- gen sollte. Um das zu ermöglichen, muss der Bund aktiv werden und den Ländern Hilfe leisten. Und auch dafür müssen wir an das Kooperationsverbot in der Bildungs- politik ran und langfristige Finanzierungsmöglichkeiten schaffen. Die SPD hat auch hierfür bereits Vorschläge gemacht. Patrick Meinhardt (FDP): Es ist gut, dass wir im Deutschen Bundestag das Thema Grundbildung und Alphabetisierung immer weiter oben auf die bildungspo- litische Agenda setzen. Eines sage ich aber gleich: Die- ses Thema darf nicht in einen parteipolitischen Schlag- abtausch heruntergezogen werden. Vielmehr ist es notwendig, dass über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg eine gemeinsame Zielrichtung klar wird: Deutsch- land braucht einen Masterplan Alphabetisierung. Wir haben viele Organisationen und Institutionen, die in vorbildlicher Art und Weise schon heute aktiv sind. Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle die exzel- lente Arbeit des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung und der Stiftung Lesen erwähnen. Diese beiden Organisationen sind Vorreiter in der Sensi- bilisierung für Analphabetismus und für Lesen in Deutschland. Beiden sei von dieser Stelle aus ein herzliches Danke- schön für Ihren unermüdlichen Einsatz gesagt. Recht hat Herr Dr. Jörg Maas, der Hauptgeschäftsfüh- rer der Stiftung Lesen, wenn er formuliert: „Lesen muss als zentrale Schlüsselqualifikation in der Bildung und Ausbildung der nächsten Generation verankert werden. Hierfür ist ein Netzwerk, eine Allianz von vielen Part- nern nötig.“ Deswegen setzt die Initiative der Bundesre- gierung mit 26 Millionen Euro für das Programm „Lese- start“ genau an der richtigen Stelle an. In den kommenden acht Jahren werden 4,5 Millionen Lesestart-Sets verteilt. So sollen Kinder dafür begeistert werden zu lesen. Aber mindestens genauso wichtig ist es, Eltern für das Vorle- sen zu begeistern. Denn eine bildungspolitische Binsen- weisheit muss im Land der Dichter und Denker wohl wieder in Erinnerung gerufen werden: Nur dort, wo ge- lesen wird, entwickelt sich auch ein bildungspositives Umfeld. Deswegen gilt: Das Geld ist wichtig, aber viel wichtiger ist es, dass Lesen wieder eine Selbstverständ- lichkeit in Deutschland wird. Darüber hinaus ist es bildungspolitisch dringend er- forderlich, alle Anstrengungen zu intensivieren, um die Schulabbrecherquote in Deutschland deutlich zu reduzie- ren. Hier sind die Länder in der Pflicht, die sie bedauerli- cherweise äußerst unterschiedlich wahrnehmen. Während unter der alten Landesregierung in Baden-Württemberg die Schulabbrecherquote seit Beginn der Qualifizie- rungsinitiative von 6,3 auf 5,6 Prozent, in Bayern von 7,2 auf 6,4 Prozent und in Hessen von 8,1 auf 7 Prozent mit vielen Projekten unter harter Arbeit Schritt für Schritt re- duziert werden konnte, sieht es in SPD-geführten Bun- desländern ganz anders aus: In Berlin erhöhte sich die Quote von 9,9 auf 11,5 Prozent, in Brandenburg von 11,7 auf 13 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern von 12,1 auf skandalöse 16,8 Prozent. Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Schulabbruch und der verstärkten Gefahr des Analpha- betismus. Umso unverständlicher ist es, dass Länder hier nicht bereit sind, alle notwendigen Kraftanstrengungen zu unternehmen. Hier erwarte ich eine bildungspoliti- sche Trendwende der Landesregierungen, die dieses Thema so sträflich vernachlässigen. Spätestens seit der Leo-Studie im vergangenen Jahr sollte ein bildungspolitischer Ruck durch Deutschland gehen. Bis vor wenigen Monaten gingen wir alle davon aus, dass wir 4 Millionen funktionale Analphabeten ha- ben. Jetzt wissen wir: Es ist die erschreckende Zahl von 7,5 Millionen Betroffenen. Damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben. Das muss der Motor für neue Kraftan- strengungen in der Bildungspolitik werden. Hier müssen wir alle an einem Strang ziehen. Die Bundesregierung und die Fraktionen von FDP und CDU/CSU stellen sich dieser Verantwortung: Ein 20-Mil- lionen-Programm zur arbeitsplatzorientierten Forschung und Entwicklung für Grundbildung, zudem weitere akti- vierte 35 Millionen aus dem Europäischen Sozialfonds, 24 Verbundvorhaben mit über 100 Einzelmaßnahmen mit einer Gesamtfördersumme von über 30 Millionen Euro und die millionenschweren Mittel, die über die Bundes- agentur zur berufsbezogenen Eingliederung zur Verfü- gung stehen, machen eines deutlich: Diese Bundesregie- rung, diese Regierungsfraktionen kümmern sich um die Sorgen der Menschen, die nicht richtig lesen und schrei- ben können, und setzen diese in konkrete Bildungspolitik um. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es, dass wir in allererster Linie ein gesellschaftspolitisches Klima schaf- fen müssen, in dem Analphabetismus enttabuisiert und alle gesellschaftlichen Institutionen dafür sensibilisiert werden. Es ist keine Schande, nicht richtig lesen und schreiben zu können. Es ist aber eine Schande, wenn wir als Gesellschaft zulassen, dass Menschen dies verbergen, weil sie sich schämen. Als eine kurzfristige Maßnahme haben wir in den Haushaltsberatungen durchgesetzt, dass der Posten „Qualitätsentwicklung und Strukturverbesserung der all- gemeinen Weiterbildung“ um sage und schreibe 60 Pro- zent auf 13,5 Millionen Euro erhöht worden ist. Damit werden wir eine Konferenz zur Aufarbeitung der UNO- Alphabetisierungsdekade für Deutschland finanzieren, die auch Perspektiven für die Zukunft aufzeigen soll. Wir werden eine öffentlichkeitswirksame, breit ange- legte Kampagne intensivieren, und es ist damit möglich geworden, das Vorbildprojekt iChance fortzuentwickeln und damit Menschen unkompliziert digital die Möglich- keit zu geben, sich zu informieren. Denn das muss unser weiteres zentrales Ziel sein: Menschen unkompliziert und ohne Stigmatisierung die Möglichkeit zu eröffnen, für sich selbst den bestmöglichen Weg zu finden. Das brillante Motto: „Schreib dich nicht ab! Lern Lesen und Schreiben!“ macht deutlich, dass dieses Geld bildungs- politisch hervorragend angelegt ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19373 (A) (C) (D)(B) Funktionale Analphabeten müssen eine zweite und dritte Chance erhalten. Wir brauchen eine gewaltige ge- meinsame Kraftanstrengung von Kommunen, Ländern, Bund, Unternehmen, Vereinen und Initiativen. Umso wichtiger ist es, dass wir ein Weiterbildungserfolgspro- jekt dieser Bundesregierung, die Bildungsprämie, jetzt öffnen. Seit der Verdreifachung der Prämie von 150 auf 500 Euro, haben wir statt 7 000 Prämien im Jahr 2009 inzwischen 175 000 Prämien ausgegeben und deswegen auch den Haushaltsansatz für dieses Jahr noch einmal er- höht. Diese Prämie kann von jetzt ab auch für Maßnah- men der Alphabetisierung und Grundbildung genutzt werden. Dies wird die Möglichkeit für einen weiteren Schub öffnen und ist deswegen eine wichtige Weichen- stellung dieser Bundesregierung. Der Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabeti- sierung und Grundbildung, Herr Peter Hubertus, bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Als Wissenschaftsge- sellschaft können wir es uns schlichtweg nicht leisten, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung wegen unzu- reichender Grundbildung im Alltag und auf dem Ar- beitsmarkt benachteiligt ist.“ Jetzt wird es wichtig, das Thema Grundbildung und Alphabetisierung in alle bildungspolitischen Netzwerke in der Bundesrepublik Deutschland einzuspeisen. Es muss fester Bestandteil der Qualifizierungsinitiative für Deutschland werden, es muss in der Allianz für Bildung ein klarer Schwerpunkt sein und in den Bildungsbünd- nissen vor Ort fest integriert sein. Deswegen begrüßen wir es, dass es gemeinsam vom Bund mit den Kultusmi- nistern den Impuls für eine „Nationale Strategie zur Al- phabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ gibt. Nur so schaffen wir es, Öffentlichkeit zu schaffen und einen Masterplan Alphabetisierung auf den Weg zu brin- gen. Hier steht noch eine bildungspolitische Herkules- aufgabe vor uns. Das Fundament dafür ist umsichtig ge- legt. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Als vor einem Jahr die Studie zum funktionalen Analphabetismus in Deutschland vorgelegt wurde, gab es ein großes Erschre- cken. Mehr als 14 Prozent der erwachsenen erwerbsfähi- gen Bevölkerung in unserem Land kann nicht richtig le- sen, schreiben und rechnen. Das ist ein Skandal, den man in diesem Ausmaß nicht vermutet hatte. Bis dahin ist man von 4 Millionen betroffener Menschen ausge- gangen, nun sind es fast doppelt so viele. Um das Ausmaß deutlich zu machen: der Bundestag hat rund 580 Abgeordnete im erwerbsfähigen Alter. Wenn er den Durchschnitt der Bevölkerung repräsentiert – was wahrscheinlich nicht der Fall ist – könnten 84 von uns nicht richtig lesen und schreiben. Ich mache diesen Vergleich nicht aus boshafter Unterstellung, sondern weil an diesem Befund des Analphabetismus auch schlimm ist, dass eine unzureichende Grundbildung in Deutschland als selbstverschuldeter Mangel angesehen wird. Damit aber werden die Betroffenen stigmatisiert, wird nicht nach den tiefer liegenden Ursachen geforscht, wird das ganze Problem unter den Teppich gekehrt und eben zu wenig dagegen getan. Fakt aber ist: Unter den von Analphabetismus Betrof- fenen haben fast die Hälfte einen Schulabschluss, 12 Prozent sogar einen höheren Bildungsabschluss. Warum also sollte der Deutsche Bundestag hier eine Ausnahme bilden. Das Bundesministerium hat nun endlich eine Natio- nale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung angekündigt. Die UN-Dekade zur Alphabetisierung hatte zum Ziel die Zahl der Analphabeten weltweit zu halbieren. Nun, fast am Ende der zehn Jahre zeigt die Studie, dass erheblicher Handlungsbedarf auch in Deutschland da ist. Andere europäische Staaten können aber schon Ergebnisse im eigenen Land aufweisen. Deutschland hat sich bisher auf Fachtagungen, Beratung und Internetangebote beschränkt. Das reicht nicht aus. Sind wir über die Ursachen von mangelhafter Grund- bildung denn überhaupt im Bilde? Oder ist es vielmehr nicht so, dass gar nicht bemerkt wird, wenn jemand dabei Schwierigkeiten hat? Ist unsere PISA-Fixierung dabei nicht auch hinderlich, weil Analphabetismus auch nach der abgeschlossenen Schulausbildung entstehen kann, weil die Betroffenen ihre Schulkenntnisse wieder verlernen? Welchen Anteil haben anregungsarme beruf- liche Tätigkeiten dabei, und was bedeutet es, wenn man jahrelang von Erwerbstätigkeit ausgegrenzt ist? Welche konkreten Ziele gibt es? Wer setzt sie um? Für mich sind nach dem Fachgespräch im Ausschuss mehr Fragen entstanden als schon Antworten gegeben wurden. Nun fordern wir aber nicht erst eine weitere Studie, obgleich es auch diese geben muss, sondern er- warten, dass schnell wirksame Gegenstrategien greifen. Dazu gehört für uns natürlich die Forderung, dass nie- mand ohne eine gefestigte Grundbildung die Schule verlassen soll. Dazu müssen Lehrende in Studium und Weiterbildung besser vorbereitet werden. Sie müssen in der Lage sein, zu merken, wenn jemand nicht gut lesen, schreiben, rechnen lernt. Das sieht man offensichtlich nicht nur an schlechten Zensuren. Sie brauchen die nö- tige Zeit für eine angemessene Förderung. Wir brauchen mehr gut qualifizierte Kursleiterinnen und Kursleiter und eine bessere Finanzierung von deutlich mehr Kursen als heute zur Verfügung stehen. Wir brauchen eine öffentlich finanzierte und leicht zugängliche Bildungs- beratung, die Betroffenen helfen kann, geeignete Ange- bote zu finden. Wir brauchen niedrigschwellige Ange- bote, die auch ganz im Privaten greifen. Wir brauchen die Aufmerksamkeit in den Unterneh- men und ihre Bereitschaft, Beschäftigten eine entspre- chende Qualifizierung zu ermöglichen, ohne dass sie im Betrieb schief angesehen werden. Wir brauchen ein öffentliches Klima, das Analphabetismus nicht als Tabuthema behandelt, sondern als gesellschaftliches Problem, nicht nur als Problem des einzelnen. Ziel muss es sein, nun endlich innerhalb von zehn Jahren die Zahl der Betroffenen zu halbieren. Damit wir uns am Ende des Zeitraumes nicht wieder schulter- zuckend eingestehen müssen, dass wir nicht so recht vorangekommen sind, wollen wir, dass jährlich der Stand der Entwicklung festgestellt und öffentlich dar- gelegt wird. 19374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 (A) (C) (D)(B) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die „Level-One-Studie“ zum Analphabetismus in Deutsch- land hat einen der größten bildungspolitischen Skandale offengelegt: Analphabetismus ist im technologisch hoch entwickelten Land der Dichter und Denker kein Randphänomen weniger, sondern ein existenzielles Pro- blem viel zu vieler. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns als Bundestag mit darum kümmern, das Problem zu lösen. Das Ausmaß des Analphabetismus ist erschreckend: Rund 7,5 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter sind funktionale Analphabeten. Sie sind also nicht in der Lage, den Sinn eines einfachen Textes zu verstehen. Ihre sozialen, beruflichen, ökonomischen und kulturellen Teilhabechancen sind massiv eingeschränkt. Das alltäg- liche Leben der Betroffenen ist häufig geprägt von Scham, Vertuschung und Ignoranz der Gesellschaft. Die FAZ hat den Umgang mit funktionalen Analpha- beten zutreffend mit der Schlagzeile „durchgereicht und weggelogen“ beschrieben. Dringend notwendig ist daher eine Enttabuisierung des Themas. Besonders das Bildungswesen, Sozialpartner und die Medien sind zu einem verantwortungsvollen Umgang aufgefordert. Angesichts immer höherer Anforderungen im Ar- beitsleben werden die Chancen von Menschen mit man- gelnder Grundbildung immer schlechter. Hier haben Erwachsenenbildung, Volkshochschulen und Bundes- agentur für Arbeit eine wichtige Funktion. Die Arbeit- geber sind zudem aufgefordert, diese Menschen gezielt zu unterstützen und die Weiterbildung auszubauen. Die Bundesregierung hat es aber versäumt, die Förderung der Weiterbildung gerade für Menschen mit niedrigem Einkommen zu verbessern. Hier müssen Sie dringend liefern! Wir benennen in unserem grünen Antrag wirkungs- volle Maßnahmen, die Staat und Zivilgesellschaft ergrei- fen müssen: Bei den Alphabetisierungskursen legen wir Wert auf einen deutlichen Ausbau, verbunden mit ÖA- Kampagnen, auf Qualitätssicherung und Zielgruppen- orientierung. Wichtig ist uns, dass Alphabetisierungs- angebote Genderaspekte stärker berücksichtigen. Dies betrifft den überdurchschnittlich hohen Anteil männ- licher Analphabeten. Ebenso gilt es, etwa in den Integra- tionskursen, gerade Frauen mit Migrationshintergrund kultursensibel anzusprechen. Mit Blick auf besonders benachteiligte Gruppen ist es absolut falsch, dass Programm „Soziale Stadt“ kaputtzu- sparen. Richtig wäre, in diesem Rahmen niedrigschwel- lige Angebote zur Alphabetisierung und Grundbildung stärker zu verankern. Dies haben die Sachverständigen bei der Anhörung des Bildungsausschusses bestätigt. Dort herrschte Unverständnis, warum der Pakt für Alphabetisierung so wenig vorankommt und öffentlich kaum wahrnehmbar ist. Das muss sich ändern! Bestürzend ist, dass Analphabetismus viele junge Menschen betrifft, die gerade erst die Schule verlassen haben – der übergroße Teil mit Schulabschluss: So sind 20 Prozent der 18- bis 29-Jährigen funktionale Analpha- beten oder sehr schwach in Rechtschreibung. Dies zeigt Versagen und Mängel unseres Bildungssystems. Das muss sich ändern! Eine frühzeitige Sprachbildung, individuelle Förde- rung von Anfang an bis hin zur Jugend- und Schulsozial- arbeit sind daher unverzichtbar. Bildungsarmut darf in Deutschland nicht weiterhin stärker als in anderen OECD-Ländern vererbt werden. Das Ziel ist klar: Keine Schülerin und kein Schüler darf die Schule ohne ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen und ohne solide Grundbildung verlassen. Dies ist nicht nur eine volkswirtschaftliche Konsequenz aus dem demografischen Wandel, sondern vor allem die Umsetzung fundamentaler Rechte auf Bildung und Teil- habe. Der Nationale Pakt für Alphabetisierung und Grund- bildung darf kein Placebo sein, sondern muss endlich klare, ambitionierte Zeit- und Zielpläne erhalten. Wir sollten uns – als Konsequenz aus der Anhörung – dabei an erfolgreichen nationalen Strategien wie der in Groß- britannien orientieren. Im Vergleich dazu sind die Aktivitäten der Bundesregierung leider qualitativ und quantitativ ein Tropfen auf den heißen Stein. Öffentlich- keitswirksame Kampagnen wären ein Anfang und das Mindeste, sie ersetzen aber kein strategisches Gesamt- konzept. Bis zur „Bildungsrepublik“ Deutschland ist auch an dieser Baustelle noch viel zu tun. Bessere Perspektiven der Betroffenen müssen uns allen ein Ansporn zu ent- schlossenem Handeln sein. Bund und Länder dürfen die- sen Bildungsskandal nicht verwalten, sondern müssen Lösungen gestalten. 162. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 27 Bekämpfung des Rechtsextremismus TOP 4 Mindestrente TOP 31,18 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 32, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 5 EU-Hochqualifizierten-Richtlinie TOP 6 Demografischer Wandel in Deutschland TOP 9 EU-Richtlinie zum Wertpapierhandel TOP 8 Jemen TOP 11 Bevölkerungsschutz TOP 10 Einsatz von Polizisten in Friedensmissionen TOP 13 Menschenrechtsschutz im Tourismus TOP 12 DemografischerWandel in der Rentenversicherung TOP 15 Eisenbahngesetz TOP 14 Menschenrechte in Deutschland TOP 17 Bundesgeoreferenzdatengesetz TOP 16 Bildungsarmut TOP 20 Vergabe von Dienstleistungskonzessionen TOP 21 Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung TOP 22 Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus Teersand TOP 23 Kolonialverbrechen in Deutsch-Südwestafrika TOP 24 Verwendung von Asbest Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
eröffne die 162. Sitzung des Deutschen Bundestages.

Ist Frau Jochimsen schon da? – Dann möchte ich Ih-
nen, Frau Kollegin Jochimsen, gleich vor Eintritt in die
Tagesordnung zu Ihrem heutigen 76. Geburtstag herzlich
gratulieren und alle guten Wünsche für das neue Lebens-
jahr aussprechen.


(Beifall)


In den zurückliegenden Tagen haben weitere Kolle-
gen ihre Geburtstage gefeiert, darunter der Kollege
Dr. Peter Röhlinger seinen 73., der Kollege Jerzy
Montag seinen 65.


(Beifall)


und der Kollege Hans-Joachim Fuchtel seinen 60. Ge-
burtstag.


(Beifall – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


– Dass die Tagesordnung mit überparteilichem Jubel be-
ginnt, ist eine schöne Motivationshilfe für die Abwick-
lung derselben.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
allerdings noch eine schwierige Wahl durchführen, weil
der Kollege Dr. Johann Wadephul sein Schriftführeramt
niedergelegt hat. Als neue Schriftführerin schlägt die
Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Carola Stauche
vor. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensicht-
lich der Fall, jedenfalls höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist die Kollegin hiermit gewählt.

Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es eine inter-
fraktionelle Vereinbarung gibt, die verbundene Tages-
ordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auswirkungen der geplanten Kürzung der So-
larvergütung von bis zu 32 Prozent auf die
Energiewende und den Arbeitsmarkt insbe-
sondere in Ostdeutschland sowie drohender
Stillstand bei der EU-Energieeffizienzricht-
linie

(siehe 161. Sitzung)


Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 32

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Verleihung des Status als EU-Beitrittskandidat
an Serbien aussprechen

– Drucksache 17/8763 –

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 3, 19, 29
sowie 31 b und 31 c abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 18
wird zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 31 aufge-
rufen.

Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der am 9. Februar 2012 (158. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Gesundheit (14. Ausschuss) zur Mitbera-
tung überwiesen werden:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von
Sportwetten

– Drucksache 17/8494 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Sportausschuss





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit

Ich darf auch hier fragen, ob Sie damit einverstanden
sind. – Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Bekämpfung des Rechtsextremis-
mus

– Drucksache 17/8672 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister des Innern, Dr. Hans-Peter
Friedrich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
nern:

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Es ist gerade vier Monate her, dass wir mit Entset-
zen feststellen mussten, dass es zwischen der Mordserie,
die uns seit vielen Jahren bewegt hat, und der Zwickauer
Zelle einen Zusammenhang gibt. Diese Zwickauer Zelle
konnte aufgedeckt werden. Eine Frage hat uns bewegt
und bewegt uns immer noch: Wie konnte es passieren,
dass diese Mordserie, dass diese Raubserie über zehn
Jahre in Deutschland stattfinden konnte und unentdeckt
geblieben ist, jedenfalls die Zusammenhänge nicht her-
gestellt werden konnten?

Wir können das, was geschehen ist, die Morde, die
Verbrechen, nicht rückgängig machen. Was wir aber
können, ist, aufzuklären und dafür zu sorgen, dass die
Weichen gestellt werden, dass Ähnliches in der Zukunft
nicht wieder passieren kann. Die Aufklärung schulden
wir nicht nur unserem Rechtsstaat, sondern auch den
Angehörigen der Opfer. Das Zusammentreffen mit den
Angehörigen im November 2011, das der damalige Bun-
despräsident Christian Wulff organisiert hatte, und das
abermalige Zusammentreffen bei der Gedenkstunde ha-
ben mich sehr bewegt. Diese Menschen haben vieles
mitgemacht. Ihnen gegenüber haben wir unser Verspre-
chen noch einmal erneuert, dass wir alle Möglichkeiten
unseres Rechtsstaates nutzen werden, um die Dinge auf-
zuklären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Generalbundesanwalt hat bereits im November
letzten Jahres die Ermittlungen übernommen. Ihm zur
Seite steht eine Sonderkommission des Bundeskriminal-
amtes. Es sind derzeit 355 Kräfte aus Bund und Ländern
dabei, fast 6 000 Asservate auszuwerten. Nur um Ihnen
einen Eindruck zu geben: Allein das Auslesen eines ein-
zigen beschlagnahmten Handys umfasst Tausende von
Ausdruckseiten, die Zeile für Zeile durchgegangen wer-
den müssen. Es ist also eine sehr umfängliche Arbeit, die
da zu leisten ist.

Daneben hat, um die politische Aufarbeitung zu flan-
kieren, der Untersuchungsausschuss des Bundestages
seine Arbeit aufgenommen, ist eine Bund-Länder-Kom-
mission eingerichtet worden und arbeitet in Thüringen
ein Gremium mit Hochdruck an der Aufarbeitung des-
sen, was jetzt auf dem Tisch liegt, und dessen, was noch
zu klären ist.

Meine Damen und Herren, Weichen stellen für die
Zukunft, das bedeutet zweierlei: dafür zu sorgen, dass
wir erstens die sicherheitspolitisch richtigen Weichen
stellen und dass wir zweitens auch gesellschaftspolitisch
die richtigen Weichen stellen. Ich habe deswegen zu Be-
ginn dieses Jahres mit meiner Kollegin Kristina
Schröder einen runden Tisch gegen Rechtsextremismus
einberufen. Alle Teilnehmer – Gewerkschaften, Reli-
gionsgemeinschaften, kommunale Vertreter, Vertreter
der verschiedenen Organisationen, die sich gegen den
Extremismus wenden – haben ihre Entschlossenheit zum
Ausdruck gebracht, zusammenzuarbeiten und diesen
Sumpf trockenzulegen.

Wehrhafte Demokratie, das bedeutet starke demokra-
tische Strukturen, das bedeutet aber auch funktionie-
rende Sicherheitsstrukturen. Deswegen ist es notwendig,
dass wir auch die modernen Möglichkeiten der Informa-
tionstechnologie nutzen, um die Kernaufgabe des Staates
zu erfüllen, nämlich die Sicherheit unserer Bürger zu ge-
währleisten. Die Menschen, die in diesem Lande leben,
müssen sich sicher fühlen, egal welche Hautfarbe sie ha-
ben, egal aus welchem Land sie kommen.

Wichtig ist, dass wir die rechtsextremistischen Struk-
turen rechtzeitig erkennen, dass wir diejenigen identifi-
zieren können, die Angst und Schrecken verbreiten. Die
wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass wir das Infor-
mationssystem oder den Informationsaustausch zwi-
schen den Behörden noch weiter verbessern. Seit Mitte
Dezember letzten Jahres arbeitet das Gemeinsame Ab-
wehrzentrum gegen Rechtsextremismus, in dem alle
Polizeien der Länder und die Polizei des Bundes sowie
die Nachrichtendienste zusammenarbeiten und täglich
– täglich! – über Fälle, neue Erkenntnisse, Vorkomm-
nisse und Personen im rechtsextremistischen Bereich
sprechen. Ich denke, es ist gut und richtig, dass wir das
Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus
eingerichtet haben, um die Zusammenarbeit der Behör-
den auch auf höchster Ebene sicherzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)


Was wir heute auf den Weg bringen, ist eine Verbund-
datei, mit der die Zusammenarbeit effektiver gestaltet
werden soll, indem die Dateien, die die Behörden anle-
gen, zusammengeführt werden. Natürlich werden Sie
fragen: Gibt es denn heute keinen Informationsaus-
tausch? Den gibt es, und zwar in Form von sogenannten
Projektdateien im Rahmen speziell eingerichteter Pro-
jekte, die aber nur vorübergehend sind. Es fehlt die
Rechtsgrundlage für eine dauerhafte Sammlung von Da-
ten und Informationen.

Ich denke, dass wir durch die Verbunddatei bzw.
durch das Zusammenführen aller Dateien Übermitt-
lungsfehler vermeiden. Außerdem sind wir dann nicht
mehr auf die subjektiven Beurteilungen der jeweiligen
Beamten vor Ort angewiesen, die richtig oder falsch sein
können. Das ist momentan nämlich der Fall. Man gibt
eine Information dann weiter, wenn man der Auffassung
ist: Diese Information ist notwendig. Sie wird jetzt ge-
braucht. – Man fragt eine Information bei einer
bestimmten Stelle an, wenn man glaubt, dass sie dort
vorliegt. Aber das ist natürlich mit subjektiven Unge-
wissheiten behaftet. Deswegen, glaube ich, ist es richtig,
dass wir diese Verbunddatei schaffen, in die alle Behör-
den ihre Informationen automatisch einspeisen. Dass
eine solche Verbunddatei effizient ist, wissen wir von
der Antiterrordatei, die seit 2007 existiert und sehr gute
Ergebnisse zeitigt, auch was die Aufklärung im Vorfeld
möglicher Verbrechen angeht.

Wir haben in der Verbunddatei künftig alle Daten
über gewaltbezogenen Rechtsextremismus. Gewaltbezo-
gener Rechtsextremismus: Das sind alle Bestrebungen,
die darauf gerichtet sind, unsere Demokratie, die Men-
schenrechte und die Menschenwürde anzugreifen, und
bei denen vor Gewalt nicht zurückgeschreckt wird. Es
wird künftig möglich sein, dass alle Behörden, die dort
zusammengeschlossen sind, erstens sogenannte Grund-
daten abrufen, um Personen und Objekte zu identifizie-
ren, und zweitens, wenn es nötig ist, auch erweiterte
Grunddaten abfragen. Das heißt, es wird möglich sein,
erste Erkenntnisgewinne, die die eine oder andere Be-
hörde hat, abzurufen und bei Gefahr in Verzug sofort auf
dem Bildschirm zu haben.

Was neu ist – man muss sich überlegen, ob man die-
ses neue Instrument auf andere Dinge ausweitet, aber
das ist heute nicht unser Thema –, ist die erweiterte Da-
tennutzung, mit der es möglich ist, Zusammenhänge
zwischen Personen, Gruppen und Objekten herzustellen.
Das ist für die Arbeit der Behörden natürlich besonders
wichtig. Auf diese Art und Weise ist es zum Beispiel
möglich, regionale Verbindungen zu finden. Wir verbes-
sern damit die Möglichkeit – das ist das Ziel dieser
Verbunddatei –, die Zusammenhänge, die von den Er-
mittlungsbehörden heute mühsam aufgearbeitet und he-
rausgesucht werden müssen, schon im Vorfeld aufzude-
cken und aufzuklären.

Ich sage: Wir erhöhen die Chancen. Garantien gibt es
natürlich nie, aber mit einer solchen Verbunddatei ver-
bessern wir die Möglichkeit bzw. erhöhen die Chance,
die Mängel, die jetzt auftauchen, in der Zukunft abzu-
stellen. Ich denke, dass diese Verbunddatei eine richtige

und zukunftsweisende Ergänzung dessen ist, was wir
schon gemacht haben.

Wir sind daneben dabei, auch im Bereich des Inter-
nets noch weiter Strukturen aufzubauen. Wir beobach-
ten, was im Bereich des Internets an rechtsextremisti-
schen Tendenzen vorhanden ist; denn wir stellen fest,
dass der Extremismus auch dort inzwischen sehr gezielt
versucht, vor allem junge Leute für sich einzunehmen
und zu gewinnen. Auch das ist ein Thema, das von den
Behörden seit Dezember ganz konkret, mit Hochdruck
und verstärkt angegangen wird.

Ich denke, dass wir mit all dem, was wir auf den Weg
gebracht haben bzw. auf den Weg bringen – das Gemein-
same Abwehrzentrum, die heutige erste Lesung des Ge-
setzentwurfs zur Einrichtung der Verbunddatei und eine
künftig stärkere Koordinierung der Behörden im Bereich
des Internets –, den Versuch starten können, in Zukunft
so etwas wie das, was in der Vergangenheit passiert ist,
zu verhindern. Ich denke, wenn es uns gelingt, auch nur
eine Tat zu verhindern, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dann hat sich alles gelohnt – auch die Einrich-
tung dieser Verbunddatei. Ich bitte, das bei den Beratun-
gen auch zu berücksichtigen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200100

Michael Hartmann ist der nächste Redner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1716200200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Heute vor einer Woche haben wir in einer allseitig
und zu Recht als würdig anerkannten Gedenkfeier an die
Opfer der Mordserie einer ruchlosen Nazibande erinnert.
Es ist und bleibt eine Schande, dass es trotz aller vor
zehn und mehr Jahren bereits vorliegenden Erkenntnisse
dieses heillose Trio gab, das raubend und tötend durch
unser Land ziehen konnte.

Wir können – da bin ich mit Ihnen einer Meinung,
Herr Minister – die Taten natürlich nicht mehr ungesche-
hen machen, sosehr wir alle das auch verfluchen mögen.
Deshalb müssen wir die Aufarbeitung umso konsequen-
ter, entschlossener und entschiedener vorantreiben. Das
muss ohne Ansehen von Personen und Parteien und ohne
die üblichen Reflexe und Schuldzuweisungen gesche-
hen. Wenn uns das nicht gelingt, meine Damen und Her-
ren, dann würden wir ein zweites Mal versagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es auch unbedingt nötig, Fehler einzuge-
stehen, wie es der Präsident des Bundesamts für Verfas-
sungsschutz bereits in der ersten Sitzung des Innenaus-
schusses zu dem Thema getan hat, indem er sagte: Dies
ist eine Niederlage der Sicherheitsbehörden. – Das Ein-
gestehen von Fehlern ist nötig, um die Konsequenzen,





Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)


die wir hoffentlich möglichst einvernehmlich ziehen
wollen, auch ziehen zu können. Dazu gehört über den
Bereich der unmittelbaren detaillierten Aufarbeitung hi-
naus, dass wir uns die Frage stellen, ob wir uns alle oder
zumindest viele von uns in Deutschland nicht zu sehr da-
ran gewöhnt haben, mit Abstufungen, dass überall in un-
serer Republik praktisch an jedem Wochenende Skin-
heads in Springerstiefeln marschieren.

Wir müssen uns fragen, ob wir uns nicht viel zu sehr
daran gewöhnt haben – vielleicht sind wir auch abge-
stumpft –, dass Jugendzentren bedroht werden oder dass
bei nahezu jedem größeren Fußballspiel irgendwo der
Hitlergruß gezeigt wird oder nazistische Parolen ge-
schrien werden. Zu der Gesamtbetrachtung gehört auch,
dass wir die NPD sehr viel schärfer als in den vergange-
nen Jahren in den Blick nehmen. Denn die NPD ist der
legale Arm einer Gesamtbewegung, die sich gegen unse-
ren freiheitlichen Staat richtet.


(Beifall bei der SPD)


Das sind die Biedermänner, die Kreide gefressen haben
und hinter denen sich die Brandstifter verbergen. Des-
halb müssen entschlossen alle Anstrengungen unternom-
men werden, um diese Partei endlich zu verbieten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


– Ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Unionsfraktion, dass Sie an dieser Stelle nicht
klatschen; denn auf dem CDU-Bundesparteitag haben
Sie genau das beschlossen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr richtig! Sehr wahr!)


Bitte gehen Sie nicht von der Fahne, Kolleginnen und
Kollegen. Bleiben Sie dabei und hören Sie auf, solche
Dinge zu erzählen, wie man sie jetzt wieder hört in Äu-
ßerungen wie: Nun ja, ein Verbotsverfahren ist vielleicht
zu überdenken. Vielleicht genügt es ja, die Finanzierung
der NPD zu verbieten. – Nein, wenn eine Partei nicht
verboten ist, dann stehen ihr auch die üblichen Finanzie-
rungswege offen. Sonst ist sie zu verbieten, und nach un-
serem Grundgesetz ist die NPD zu verbieten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen das zusammen machen. Wir müssen das
gründlich vorbereiten, keine Frage. Zur Vorbereitung all
dieser Maßnahmen gehört auch das Gesetz, das wir
heute in erster Lesung beraten. Es ist ein Teil einer erfor-
derlichen Gesamtstrategie.

Indem wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das eine
neue Datei schafft, gestehen wir Fehler ein: Wir waren
zu unaufmerksam. Wir haben vorhandene Informationen
nicht immer und regelmäßig in einer geeigneten Weise
zusammengeführt.

Wir gestehen noch etwas anderes ein. Ich sollte ge-
nauer sagen: Die Bundesregierung gesteht etwas anderes
ein. Diese Bundesregierung hat nämlich den Fehler be-
gangen, Rechtsextremismus, Linksextremismus und

Islamismus in einen Topf zu werfen und alles zusam-
menzurühren, ohne zu erkennen, dass jeder Extremis-
musansatz mit anderen Mitteln bekämpft werden muss.
Gut, dass Sie jetzt beim Verfassungsschutz wieder eine
Abteilung für den Kampf gegen rechts einrichten!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Aufarbeitung der Mordserie und der konsequente
Kampf gegen alte und junge Nazis müssen auf lange Zeit
das Thema der Innenpolitik bleiben. Die eigenständige
Abteilung für den Kampf gegen rechts beim Verfas-
sungsschutz ist ein wichtiges Instrument.

Ebenso sind wir der festen Überzeugung, dass die
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz gestärkt werden muss. Herr Minister, wir
unterstützen Sie dabei, wenn Sie Schritte in diese Rich-
tung unternehmen. Wir wollen auch, dass das Gott sei
Dank sehr schnell eingerichtete Abwehrzentrum gegen
rechts gut funktioniert.

Wenn wir jetzt in die Beratung eines Gesetzes zur
Schaffung einer Verbunddatei eintreten, reichen wir der
Bundesregierung die Hand für die weitere Beratung. Ich
sage allerdings zugleich: Wir werden die gleiche Sorg-
falt an den Tag legen wie in jeder anderen Debatte um
die Einführung neuer Sicherheitsdateien. Wir werden
differenziert abwägen und entschlossen vorangehen;
denn es wäre ein Fehler, den Feinden der Demokratie
Raum zu geben, indem wir auch nur einen Millimeter an
Freiheitsrechten preisgeben. Das muss auch in dieser
Diskussion der Maßstab für unser Handeln sein.


(Beifall bei der SPD)


Dabei gilt außerdem, dass wir uns natürlich mit allen
16 Bundesländern intensiv austauschen wollen und wer-
den. Wir werden beachten, was die Innenminister be-
schlossen haben und weiter beraten. Wir werden uns
über Speicherumfang und Speicherdauer genau kundig
machen und dies abwägen. Außerdem werden wir in ei-
ner bereits beschlossenen Anhörung, Herr Kollege
Bosbach, sehr gründlich Expertenrat einholen.

Ich will bei diesem Gesetz aber noch eines in Rich-
tung Regierungsbank sagen – ich kann Ihnen diesen Vor-
wurf auch heute leider nicht ersparen –: Es ist nicht gut,
wenn auf die Vorlage eines Gesetzentwurfes reflexhaft
so reagiert wird, wie es im Dezember geschehen ist. Das
Bundesinnenministerium hatte nach Absprache auch mit
den anderen Ressorts einen Entwurf erarbeitet, der zuge-
leitet wurde, und das Justizministerium sagte erst ein-
mal: Njet. – Stimmen Sie sich besser ab! Ersparen Sie
uns bitte diese Schmierenkomödie bei allen Sicherheits-
gesetzen, aber ganz besonders in diesem Fall!


(Beifall bei der SPD)


Die NPD und alle, die in ihrem Umfeld agieren, han-
deln gegen die Menschenwürde. Die Datei kann helfen,
das zu belegen und eine genaue Beweisführung vorzu-
nehmen. Es gehört aber auch dazu, dass wir so wie in an-
deren Bereichen auch – sei es bei Fußballrowdys oder
sonstigen Gewalttaten – null Toleranz zeigen und dass
die Polizeipräsenz überall dort gesteigert wird, wo die





Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)


Rechten aufmarschieren und sich präsentieren. Es gehö-
ren außerdem aufmerksame und gut geschulte Behör-
denmitarbeiter dazu sowie starke Kommunen. Wer den
Kommunen den Geldhahn zudreht, der öffnet den Rech-
ten die Türen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte darum, dass wir bei dem gemeinsamen
Kampf gegen rechts alle Verharmloser und Relativierer
zum Schweigen bringen. Ich denke da nicht nur an den
Kollegen Dobrindt und dessen unselige Äußerung. Es
geht nicht an, dass wir sagen: Wir wollen die NPD ver-
bieten, und wenn wir schon einmal dabei sind, verbieten
wir auch gleich die Linken. – Wer so argumentiert, hat
den Ernst der Stunde nicht verstanden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine offene, schonungslose Aufarbeitung schulden
wir den Opfern, schulden wir unserem Rechtsstaat,
schulden wir der inneren Sicherheit, schulden wir unse-
rer Geschichte und schulden wir dem Ansehen Deutsch-
lands in der Welt.

Das „Nie wieder!“ war die Gründungsformel unseres
Grundgesetzes. Wir sollten dieses „Nie wieder!“ mehr
denn je beachten. Ich habe immer noch im Ohr, was
Semiya Simsek in einer unglaublich eindrucksvollen
kurzen Rede vor einer Woche sagte:

In unserem Land, in meinem Land muss sich jeder
frei entfalten können, unabhängig von Nationalität,
Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behin-
derung, Geschlecht oder sexueller Orientierung.

Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun,
als hätten wir dieses Ziel schon erreicht. Meine Da-
men und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Ein-
zelne von uns ist gefordert.

Den Worten von Semiya Simsek ist nichts hinzuzufü-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200300

Das Wort hat nun der Kollege Hartfrid Wolff für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute

liegt Ihnen das Gesetz über die Verbunddatei vor. Mit
dieser gemeinsamen elektronischen Plattform gewinnt
unser demokratischer Rechtsstaat neue Schlagkraft in
seiner legitimen Abwehr rechtsextremistischer Bestre-
bungen, und wir schaffen damit in einem ersten Schritt
ein rechtsstaatliches, wirkungsvolles Instrument zur bes-
seren Zusammenarbeit der Behörden.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die
braune Gewaltkriminalität in Deutschland zu einem ter-
roristischen Netzwerk verdichtet, zu dem auch der NSU
gehörte, der zehn entsetzliche Morde aus rassistischem
Gedankengut heraus begangen hat – anscheinend unbe-
merkt von den Sicherheitsbehörden.

Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundes-
tages, der die offenkundigen Ermittlungspannen aufklä-
ren und sich ein Gesamtbild verschaffen soll, hat mit sei-
ner Arbeit eben erst begonnen. Doch schon jetzt zeichnet
sich ab, dass die Arbeit der Sicherheitsbehörden zwi-
schen den Ländern, aber auch zwischen Ländern und
Bund besser verzahnt werden muss.

In Jena haben es in den 90er-Jahren schon die Spatzen
von den Dächern gepfiffen, dass sich eine braune Zelle
über Ländergrenzen hinweg bewegt hat. Wer hat sich da-
mals darum gekümmert? Thüringen? Sachsen? Jeweils
einzeln?

Wenn der BKA-Chef Ziercke zu Beginn der Ermitt-
lungen zu den rechtsextremistischen Mordtaten von ei-
ner Beziehungstat in Heilbronn sprach, obwohl gerade
die sachnähere baden-württembergische Polizei zu einer
ganz anderen Bewertung gekommen ist, dann gibt es of-
fensichtlich einen Mangel an Abstimmung, an Informa-
tionsaustausch und an Kommunikation. Eine Neuorgani-
sation der Sicherheitsbehörden und eine komplette
Neuausrichtung der gesamten Sicherheitsarchitektur
sind meines Erachtens dringend überfällig. Das reicht
von der Abschaffung des MAD bis zur Zahl der Landes-
ämter für Verfassungsschutz. Das Nebeneinander der Si-
cherheitsbehörden muss aufhören.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zuständigkeitsdiskussionen, isoliertes Handeln und
Ressortegoismen sind fehl am Platz, wenn es um die Si-
cherheit der Menschen und um Menschenleben geht.
Durch die schlechte Organisation der Behörden dürfen
keine Schutzlücken entstehen. Doppeltätigkeiten, auch
von anderen Sicherheitsbehörden, erzeugen Effizienz-
und Effektivitätsverluste.

Da wir einen Paradigmenwechsel in der Sicherheits-
politik brauchen, sind die neue Verbunddatei und der In-
formationsaustausch über das Terrorabwehrzentrum hilf-
reich; das macht aber notwendige Strukturreformen der
Sicherheitsbehörden nicht obsolet. Ich erwarte bei der
Aufklärung und auch bei der Bekämpfung der Straftaten
zukünftig eine engere Verzahnung der Sicherheitsbehör-
den und eine Zusammenarbeit zum Schutz der Bürgerin-
nen und Bürger. Damit muss sich vor allem die Innen-
ministerkonferenz in diesem Monat auseinandersetzen.

Die Debatte um ein Verbot der NPD wurde durch die
Aufdeckung der Mordtaten wieder entfacht. Der Kollege
Hartmann hat das sehr pointiert hier angesprochen. Die
NPD ist aus Sicht der FDP eine verfassungsfeindliche
Partei. Aber die Hürden für ein Parteiverbot sind durch
das Bundesverfassungsgericht zu Recht sehr hoch ge-
setzt worden. Gleichzeitig gilt natürlich auch: Das darf
nicht bedeuten, dass extremistische Parteien per se und
generell vor einem Verbot gefeit wären. Hier ist sehr





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


vorsichtiges Handeln gefragt. Plakatives und aktionisti-
sches Vorgehen, lieber Kollege Hartmann, verbietet sich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sehr wahr! Wer könnte Ihnen da widersprechen?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200400

Herr Kollege Wolff, achten Sie bitte auf die Zeit.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Ich komme gleich zum Schluss. – Aber wir müssen

aufpassen, dass wir nicht einfach nur über das Beseitigen
einer Hülle reden. Das Gedankengut, die braunen Akti-
vitäten bekämpfen wir nicht durch die Beseitigung eines
parteipolitischen Gefüges. Die Werte des demokrati-
schen Rechtsstaats müssen von uns allen verteidigt wer-
den. Diese Aufgabe kann nicht ausschließlich an Polizei
und Sicherheitskräfte delegiert werden. Wer Verantwor-
tung abgibt, läuft Gefahr, sie zu verlieren. Deshalb müs-
sen wir als Demokraten unseres Landes gegen alle Ex-
tremisten jeder Couleur zusammenstehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200500

Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716200600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von

der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf hat den An-
spruch, einen Beitrag zur Verbesserung der Bekämpfung
des Rechtsextremismus zu leisten. Einem solchen Ziel
würde die Linke jederzeit zustimmen, wenn es denn
ernst gemeint wäre. Doch handelt es sich bei diesem Ge-
setz um puren Aktionismus.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung will eine weitere Verbunddatei
von Polizei und Geheimdiensten. Im Klartext: Ausge-
rechnet jene Sicherheitsdienste sollen jetzt zuallererst
gestärkt werden, die so schmählich versagt und in eini-
gen Fällen offenbar sogar mit der Naziszene gekungelt
haben. Sie sollen künftig noch mehr im Geheimen arbei-
ten dürfen. Das halten wir für einen Skandal. Wir brau-
chen Transparenz und Öffentlichkeit in der gesamten
Aufklärung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sollen mit der Verabschiedung dieses Gesetzes ei-
ner Ausweitung der Kompetenzen der Sicherheitsbehör-
den zustimmen, ohne dass wenigstens ansatzweise deren
doch so zweifelhafte Rolle gegenüber den Naziterroris-
ten des NSU aufgeklärt wurde. Richtig wäre doch als Al-
lererstes Aufklärung. Dafür haben wir im Übrigen einen
Untersuchungsausschuss hier im Parlament eingesetzt.

Dann entscheidet das Parlament über die Konsequenzen
politischer wie rechtlicher Art, die zu ziehen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Aufzuklären wäre dringend: Wie war das mit den un-
seligen Allianzen zwischen V-Leuten und Neonazis?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Inwieweit haben sich die Sicherheitsbehörden im letzten
Jahrzehnt mit den Neonazis auch analytisch beschäftigt?
Was wurde versäumt oder gar vertuscht? Die Öffentlich-
keit, die Angehörigen aller Nazimordopfer haben einen
Anspruch auf Transparenz und Aufklärung.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber auch hier mauert die Bundesregierung. Wir ha-
ben all diese Fragen kürzlich in einer Kleinen Anfrage
gestellt. Es gab keine einzige Antwort.


(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)


Die Bundesregierung argumentiert, das Staatswohl
gebiete, dass niemand weiß, was Polizei und Geheim-
dienste in der Vergangenheit in Sachen Nazimörder
unternommen haben. Anders kann man die entsprechen-
den Antworten bzw. Nicht-Antworten nicht interpretie-
ren. Ich halte es auch für eine Verhöhnung des Parla-
ments, dass wir über die Geschichte der Aufarbeitung
hier vom Innenminister nichts erfahren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die geplante Verbunddatei folgt dem Modell der
bereits bestehenden Antiterrordatei. Schon diese wurde
damals von der Linken abgelehnt;


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)


denn sie verstößt gegen den Grundsatz der Trennung von
Polizei und Geheimdiensten.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)


Diese Datei und die Datei, deren Einrichtung heute vor-
geschlagen wird, kranken an zu schwammig definierten
Kriterien,


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Also jetzt doch keine Aufklärung!)


zum Beispiel, welches Verhalten von Personen eigent-
lich zur Speicherung führt. Bei der Nutzung der Daten
nun auch zu Recherche- und Analysezwecken werden
die Befugnisse der Behörden weit über die bisherigen
Regelungen im Zusammenhang mit der Antiterrordatei,
die offiziell der Strafverfolgung und der Prävention die-
nen soll, ausgedehnt. Ganz nebenbei sollen die Befug-
nisse jetzt auch für die Antiterrordatei mit ausgeweitet
werden. Meine Damen und Herren, es kann nicht sein
und ist auch ungeheuerlich, dass die Nazimorde jetzt
dafür instrumentalisiert werden sollen, alte Forderungen
der Union durchzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Innenminister hat auch noch weiter reichende
Pläne; wir haben es eben schon vom Kollegen Hartmann
gehört. Auf die Frage der FAZ im Interview vom 23. Ja-





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


nuar, ob man nach Dateien zu Islamisten und Nazis nicht
auch eine Datei über „gewaltbereite Linksextremisten“
benötige, antwortete Friedrich:

Sie haben recht mit Ihrem Hinweis. Sie brauchen
keine Angst zu haben. Wir werden auch den Kampf
gegen den Linksextremismus verstärken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Ja, das ist schön. – Das zeigt doch deutlich, wohin die
Reise geht:


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Verharmlosung von Extremismus bei Ihnen!)


die Ausweitung der bisher auf den sogenannten islamis-
tischen Terror beschränkten Datei zuerst auf den Rechts-
extremismus, um dann weiter zu einer umfassenden Ver-
dächtigen- und Gesinnungsdatei zu kommen, in der
Polizei und Geheimdienste nach Belieben schnüffeln
können. Das geht nicht in einem Rechtsstaat, meine
Damen und Herren!


(Beifall bei der LINKEN)


Der Tendenz einer undemokratischen Zentralisierung
und Verschmelzung von Polizei und Geheimdiensten
wird mit einer solchen Verbunddatei weiter Vorschub
geleistet, und eine solche Aufweichung der Verfassung
lehnen wir eindeutig ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Um es deutlich zu sagen: Im Gegensatz zu manch ande-
rer Fraktion hier in diesem Haus hat die Linke schon im-
mer kompromisslos gegen Nazis gekämpft. Aber unser
Kampf gegen den Rechtsextremismus ist ein Kampf für
und nicht gegen die Grundrechte. Deswegen lehnen wir
Dateien dieser Art ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wenn die Regierung es
ernst meinen würde mit der Bekämpfung des Rechts-
extremismus, dann müsste sie erst einmal die Öffentlich-
keit darüber informieren, was die Gremien von Bund
und Ländern denn in der Vergangenheit auf diesem Ge-
biet geleistet haben. Es gab ja genügend Gremien, die
dafür eingesetzt wurden. Die Regierung müsste zugeben,
dass oft der politische Wille gefehlt hat, die bestehenden
gesetzlichen Instrumentarien energisch genug einzuset-
zen. Und sie müsste tatsächlich Fehler zugeben, zum
Beispiel hinsichtlich der V-Leute-Praxis der Verfas-
sungsschutzämter auf Bundes- und Landesebene. Das
NPD-Verbot wurde dadurch an die Wand gefahren, dass
die Bundesregierung nicht bereit war, diese V-Leute we-
nigstens aus Führungsgremien abzuziehen. Das ist sie
übrigens bis heute nicht.

Deswegen ist es richtig, wenn gesagt wird: Die NPD
ist eine verbrecherische Partei. Sie gehört verboten, und
sie vertritt hier nicht irgendwelche Meinungen. Sie müs-
sen die V-Leute endlich abziehen, damit der Weg für ein
NPD-Verbot frei gemacht wird.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200700

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland,

Bündnis 90/Die Grünen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716200800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe

zu: Ich habe gewisse Schwierigkeiten. Nun sind wir
durch die Gunst der Stunde heute mit dieser Debatte in
die Primetime gerutscht. Wir behandeln den anspruchs-
vollen Titel „Bekämpfung des Rechtsextremismus“, und
zu der Zeit, zu der hier sonst Rettungspakete geschnürt
werden, liegt uns ein Gesetzentwurf zu einer Datei vor.
Das kann natürlich nicht alles gewesen sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist ein Baustein. Eigentlich brauchten auch wir so
etwas wie ein Rettungspaket, so etwas wie einen Master-
plan, wie wir tatsächlich Gelände zurückgewinnen, wie
wir das, was Nazis in unserem Land erobert haben, auf-
rollen und wie wir den Schulterschluss zwischen Repres-
sion, die notwendig ist, Frau Jelpke, und Zivilgesell-
schaft hinbekommen. Das steht auf der Tagesordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch ich fand es beeindruckend, was die Kanzlerin
vor einer Woche im Konzerthaus gesagt hat. Sie hat den
Familien der Opfer Folgendes versprochen: Wir klären
die Straftaten auf und führen die Täter der Bestrafung
zu. – Da bin ich guter Dinge. Das BKA arbeitet gut und
energisch.


(Jörg van Essen [FDP]: Und der Generalbundesanwalt auch! Er führt nämlich die Ermittlungen!)


Das sage ich hier ganz deutlich. Für uns ist das im
Gegensatz zu Ihnen, Frau Jelpke, nicht nur irgendein
Repressionsorgan, das im Lande herumschnüffelt. Wer
soll es denn sonst tun? Wer soll denn sonst Straftäter
festnehmen? Wer soll sie denn sonst vor Gericht brin-
gen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Genauso richtig ist es, dass der notwendigen Verfol-
gung der Täter – inzwischen hat man einen Kreis von
13 Beschuldigten im Auge – eine Kontinuität in der Be-
kämpfung folgen muss. Wir haben den Bundesinnen-
minister dafür gelobt,


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Unerhört!)


dass er das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechts-
extremismus eingerichtet hat.


(Beifall bei der FDP)

Das tun wir wirklich nicht oft.


(Zuruf von der FDP: Eigentlich schade!)






Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


Frau Jelpke, erst einmal soll der Untersuchungsaus-
schuss untersuchen, und dann schauen wir nach andert-
halb Jahren, ob man etwas ändern muss. Ich weiß schon
jetzt, dass Sie, Ulla Jelpke, sagen werden: Da kommt nur
Schnüffelei heraus, und da werden nur alte Wünsche
erfüllt. – Ein solches Modell, erst einmal abzuwarten
und dann zu erklären, sowieso nichts zu tun, das ist nicht
unser Modell. Wir wollen – das sage ich klar und deut-
lich – keinen weiteren Toten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Zurufe von der LINKEN)


Wir sagen auch: Es geht hier nicht nur um den terroris-
tischen Bereich.


(Zuruf von der LINKEN: Bürgerrechte waren einmal, nicht wahr?)


– Passen Sie mal auf – –


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!)


– Oder: Passen Sie weiter auf. Ich will heute ja ganz
friedlich sein.


(Heiterkeit)


Passen Sie bitte weiter auf.

Nach dem 11. September 2001 haben wir gesagt: Das
ist eine Zäsur, und daher muss und kann alles auf den
Prüfstand. Eine ähnliche Zäsur liegt jetzt auch vor.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: So ist das!)


Auch wir haben nicht gesagt: Für diese sogenannten
Döner-Morde – ein grässliches Wort –, diese Mordserie
an hier eingewanderten Migranten sind Naziterroristen
verantwortlich. Das haben wir uns so nicht vorstellen
können. Jetzt wissen wir es, und jetzt müssen wir han-
deln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Jetzt möchte ich noch kurz etwas zur Datei sagen. Das
ist ein Baustein, über den wir reden wollen. Das ist ein
sensibles Thema. Das hat die Justizministerin richtig
erkannt, und das war kein kleingeistiger Zank. Lieber
Kollege Hartmann, über manche bürgerrechtlichen Fra-
gen muss man sich auseinandersetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Unbedingt!)


Wenn wir einen gemeinsamen Aktenschrank für Polizei
und Nachrichtendienste schaffen – und das ist eine sol-
che Datei –, dann muss man darum ringen, wessen Daten
darin zu finden sind.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Aber vielleicht nicht auf offener Bühne!)


Bei Dateien kann man zwei Dinge grundsätzlich
falsch machen:

Das Erste ist, dass man aufgrund partieller Blindheit
gar nicht sieht, wen man in diese Datei aufnehmen muss.
Wir hatten ja zum Teil das Problem, dass es unterschied-
liche Opferzahlen gibt. Die Presse spricht von 148 Op-
fern, die Sicherheitsbehörden hingegen haben gerade
einmal ein Drittel registriert. Wenn wir da keine klaren
Kriterien haben, dann nutzt doch die schönste Datei
nichts. Wenn ich partiell blind bin, dann gebe ich in
diese Datei nicht das Richtige ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Der zweite Fehler, den ich machen kann, ist, dass ich
das Falsche eingebe und dass ich einen Datenmoloch
schaffe. Es war richtig, um den Gewaltbezug zu ringen.
Er ist unseres Erachtens bei den Kontaktpersonen aber
nicht durchgehalten worden. Es hat nicht viel Sinn, zu sa-
gen, die Gewalttäter kämen sowieso in die Datei – denn
sie sind ja gewaltbezogen – und der Rest komme als
Kontaktperson hinein.

Es ist wirklich schade, dass wir die Islamismusdatei
noch nicht evaluiert und ausgewertet haben. Verfas-
sungsschutzpräsident Fromm hatte vorher gesagt, er
habe die Hoffnung, dass weniger als 10 000 Personen in
die Datei „Islamistischer Terrorismus“ hineinkommen.
Es sind doppelt so viele geworden. Das heißt, die Frage,
wie wir nur die wirklichen Gefährder und nur die
schlimmsten Finger dort hineinbekommen, muss disku-
tiert und auch im Gesetzgebungsverfahren behandelt
werden.

Uns allen ist es ganz klar – das sage ich abschließend –,
dass Rechtsextremismus strukturell immer gewalttätig
ist.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: So ist das!)


Er geht immer in Richtung Gewalt. Dennoch müssen wir
uns um juristische Abgrenzungskriterien bemühen. Wir
dürfen dabei aber nicht vergessen, was die Zivilgesell-
schaft sagt. Deswegen ist es wichtig, mit ihr zusammen-
zuarbeiten. Sie darf nicht durch Extremismusklauseln
und ähnliche Dinge kujoniert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deswegen dürfen Rechtsextremismus und Linksextre-
mismus nicht gleichmacherisch behandelt werden. Da
haben Sie, Kollege Hartmann, recht. Das alles darf nicht
geschehen. Wir brauchen den Zusammenschluss in der
Gesellschaft.

Naziideologie in den Köpfen kann ich nicht verbieten.
Man kann auch durch Verbote nicht erreichen, dass sie
nicht in die Köpfe hineinkommt. Dafür zu sorgen, ist
vielmehr eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Verbote
können dennoch sehr nützlich sein; auch Repression
muss sein. Im Ergebnis kommt es darauf an, was die
Zivilgesellschaft sagt. Ich erlaube mir daher zum
Schluss, einen Satz der Antifa zu zitieren, weil er den





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


gemeinsamen Bogen spannt: Nationalsozialismus ist
keine Meinung, Nationalsozialismus ist ein Verbrechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716200900

Wolfgang Bosbach erhält nun das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1716201000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Jelpke, ohne alle Schärfe möchte ich
sagen – ich kann Ihnen das jetzt nicht ersparen –: Es ist
völlig unmöglich, dass Sie dem Kollegen Wieland wäh-
rend seines leidenschaftlichen Plädoyers den Scheiben-
wischer gezeigt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht nur so, dass es gegen jede parlamentarische
Gepflogenheit ist. Auch die geistige Haltung, die dahin-
tersteht, ist unerträglich. Nicht das Plädoyer des Kolle-
gen Wieland war plemplem.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ihre Angriffe sind plemplem!)


Plemplem ist es, hier ständig den Eindruck zu erwecken,
als sei die Bundesrepublik Deutschland ein Schnüffel-
und Überwachungsstaat. Wir haben fast auf den Tag
genau vor 22 Jahren einen Schnüffelstaat abgeschafft,
und niemand möchte einen neuen errichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie waren es ganz bestimmt nicht!)


Lieber Michael Hartmann, weite Teile deiner Rede
kann ich unterschreiben. Aber in einem Punkt bin ich
unterschiedlicher Auffassung. Wir müssen nicht über
alles streiten; das hast du in deiner Rede dankenswerter-
weise selbst gesagt. Es ist gut, dass auch bei dieser erns-
ten Debatte parteipolitischer Streit – so weit, wie das
möglich ist – außen vor bleibt. Aber es bleibt noch ein
Rest übrig, über den man unterschiedlicher Auffassung
sein kann.

Hans-Peter Uhl und ich sowie einige andere in diesem
Hause können uns noch sehr genau daran erinnern, wie
es vor zwölf Jahren beim ersten NPD-Verbotsverfahren
war. Jeder in diesem Hause wäre froh, wenn die NPD
schon vor zwölf Jahren verboten worden wäre. Aber ein
NPD-Verbot setzt nicht nur guten Willen voraus, son-
dern auch gute juristische Argumente.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ohne Frage!)


Der kraftvolle politische Wille, den wir alle äußern, wird
diese guten juristischen Argumente in Karlsruhe nicht
ersetzen können.

Ich will noch einen Satz dazu sagen: Wenn ein erneu-
tes NPD-Verbotsverfahren beschlossen werden sollte,
darf dieses Verfahren unter keinen Umständen scheitern.
Einen solchen Propagandaerfolg dürfen wir der NPD
nicht gönnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Dann schalten Sie die V-Leute ab!)


Die Verbunddatei Rechtsextremismus ist ein wichti-
ges Mittel beim Kampf gegen den gewaltbereiten
Rechtsextremismus. Sie ist kein Allheilmittel, aber ein
wichtiger Baustein, um eine Mauer zu errichten gegen
politischen Fanatismus, gegen Antisemitismus, gegen
Rassismus, gegen eine Brutalität, wie wir sie uns nicht
vorgestellt haben. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes
notwendig, so notwendig wie gesellschaftliches Engage-
ment. Hier hat Wolfgang Wieland völlig recht: Den
Kampf gegen politischen Extremismus und politische
Gewaltbereitschaft allein den staatlichen Behörden zu
übertragen, greift zu kurz. Herr Präsident, es tut mir von
vorherein leid, es ist ein unparlamentarischer Ausdruck,
aber er ist richtig: Im Rheinland gab es vor gut zehn Jah-
ren die Initiative „Arsch huh, Zäng ussenander“.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Willy Millowitsch! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das hat nicht jeder verstanden!)


Aufstehen und offen antreten: Das ist das, was in dieser
Situation von uns allen erwartet wird. Keine Handbreit,
kein Millimeter Toleranz für diejenigen, die nichts ande-
res im Sinn haben, als diese freiheitlich-demokratische
Grundordnung zu zertrümmern, und zwar völlig unab-
hängig davon, aus welcher Richtung sie gegen diesen
Staat marschieren.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Datei ist aber auch ein Ausdruck des Umstandes,
dass wir in Deutschland insgesamt 36 Behörden mit
Sicherheitsaufgaben haben. Die große Zahl von Behör-
den alleine macht es nicht. Das war auch dein Plädoyer,
Hartfrid Wolff. Es ist nicht entscheidend, dass wir mög-
lichst viele Behörden haben. Entscheidend ist, wie die
Behörden zusammenarbeiten, wie sie ihre Arbeit koordi-
nieren, wie sie kooperieren. Jede Behörde hat eine ge-
sonderte Rechtsgrundlage, besondere Zuständigkeiten
und besondere Eingriffsbefugnisse. Entscheidend ist es,
eine Lehre aus den bitteren Erfahrungen der jüngsten Er-
mittlungserkenntnisse zu ziehen. Die Behörden dürfen
nicht nebeneinander arbeiten, sondern müssen miteinan-
der arbeiten. Es darf nicht mehr so sein, dass Sicherheits-
behörden denken: Mein Tatort, meine Zuständigkeit,
mein Fall; ich weiß etwas, was du nicht weißt.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sehr wahr!)






Wolfgang Bosbach


(A) (C)



(D)(B)


Entscheidend ist, dass wir die Erkenntnisse so zusam-
menführen, dass wir ständig komplette Lagebilder in der
ganzen Bundesrepublik Deutschland erstellen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Jede Maßnahme der Gefahrenabwehr setzt voraus,
dass ich eine Gefahr erkennen will und dass ich sie er-
kennen kann. Wenn ich eine Gefahr nicht erkennen
kann, dann kann ich sie auch nicht abwehren.

Die Bundesministerin der Justiz hat die legitime
Frage gestellt, ob diese Organisationsstruktur, wie wir
sie jetzt haben, wirklich optimal für die Aufgabenwahr-
nehmung ist. Jeder Bundespolitiker, der sich diese Frage
stellt, begibt sich auf ein schlüpfriges Terrain, weil man
weiß, dass man aus den Ländern hört: Das ist unsere
Kompetenz, unsere Zuständigkeit, unsere Behörde, und
das lassen wir uns nicht nehmen. – Dennoch ist es richtig
und wichtig, dass wir über dieses Thema sprechen; denn
es kann sein, dass insbesondere kleinere Behörden bei
der Aufgabenwahrnehmung an die Grenzen ihrer Mög-
lichkeiten gelangen.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)


Nehmen wir das Beispiel Videoobservation. Es wird
ein Hauseingang observiert, um zu sehen, ob die Zielper-
sonen dort tatsächlich verkehren. Es ist aber unglaublich
personalintensiv, neben diese Kamera immer Ermittler
zu stellen: 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche. Die
Kamera läuft also, wie es so schön heißt, unbemannt.
Dann wird Tage später der Film ausgewertet, und siehe
da, sie waren da. Die Kamera war zwar da, aber keiner,
der hätte zugreifen können. Also legt man sich wieder
auf die Lauer und guckt, ob sie vielleicht noch einmal
vorbeikommen. Das Ergebnis ist bekannt: Sie sind nie
mehr gekommen.

Nehmen wir das Beispiel Observation. Es ist anders
als im Tatort: Vorne die Zielperson, der Ermittler fährt
hinterher und observiert alles, und beide finden auch
noch gleichzeitig nebeneinander einen Parkplatz.


(Heiterkeit)


Im richtigen Leben ist es so, dass ich für eine Observa-
tion zwischen 20 und 22 Mitarbeiter benötige. Was ma-
chen Sie aber bei einem Amt mit 50 oder 60 Mitarbei-
tern und zwei oder drei Zielpersonen, die sie über einen
längeren Zeitraum observieren müssen?

Ich kenne das formale Argument – § 2 Abs. 2 Bun-
desverfassungsschutzgesetz –: Jedes Land hat eine ei-
gene Behörde. Daran werden wir im Übrigen auch nichts
ändern. Dass die Behörden aber enger zusammenarbei-
ten müssen, dass sie sich abstimmen müssen, ist im
wahrsten Sinne des Wortes notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Einige Fragen sind von überragender Bedeutung – da-
neben gibt es noch viele Tausend andere –, auf deren Be-
antwortung die ganze Republik wartet:

Erstens. Wie konnte es eigentlich sein, dass drei Per-
sonen, die sich im Visier der Sicherheitsbehörden befan-
den, 13 Jahre lang untertauchen und unter uns leben
konnten, ohne dass ihr mörderisches Treiben gestoppt
werden konnte? Sie sind ja nicht an einem exotischen
Ort untergetaucht, sondern mitten unter uns. Das macht
man nur, wenn man sich eines Unterstützerumfeldes si-
cher sein kann.

Zweitens. Haben sie isoliert agiert, oder waren sie
Teil einer größeren Terrorzelle? Darüber wurde auch
gestern im Innenausschuss des Deutschen Bundestages
leidenschaftlich diskutiert. Im Moment dreht sich alles
um die wichtigsten Fragen: Wer waren die Hintermän-
ner, Anstifter, Gehilfen? Gibt es noch andere Terrorzel-
len bei uns in Deutschland, die mit ähnlicher Brutalität
und Mitleidlosigkeit agieren?

Ich sage einmal in aller Ruhe und ohne Vorwurf an ir-
gendjemanden: Zur Beantwortung dieser Frage wäre die
Vorratsdatenspeicherung ein unverzichtbares Hilfsmittel.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch sie ist keine Wunderwaffe, und ich würde auch
nicht sagen: Wenn wir sie gehabt hätten, hätte das mör-
derische Treiben gestoppt werden können. Dafür gibt es
im Moment gar kein Indiz. Wenn wir aber vom Bundes-
kriminalamt die Beantwortung der Frage erwarten, ob es
sich um eine isolierte Zelle handelte oder ob sie Teil ei-
nes Netzwerkes war, dann ist es doch von überragender
Bedeutung, zu wissen, mit wem die drei Personen in der
Vergangenheit kommuniziert und mit wem sie telefo-
niert haben. War es ein Telefonat, oder waren es Hun-
derte Telefonate,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wisst ihr doch alles!)


insbesondere in der Zeit vor und nach einem Mord, vor
und nach einem Banküberfall?

Natürlich gibt es auch andere Ermittlungsansätze,
aber gerade die Auswertung elektronischer Spuren ist für
die Behörde von überragender Bedeutung. Wenn wir
vom Bundeskriminalamt erwarten, dass es diesen Fall
aufklärt, und zwar nicht nur den Tatbeitrag der Drei, son-
dern auch das Hinterfeld ausleuchtet, dann müssen wir
dem Bundeskriminalamt auch das Instrument geben, um
diese Aufgabe erfüllen zu können.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sieht das der Koalitionspartner auch so?)


Zu Recht ist in den letzten Monaten Kritik geäußert
worden. Es gab Fehler, es gab Versäumnisse, es gab zum
Teil Fehleinschätzungen mit dramatischen Folgen. Es
gibt aber auch die enormen Anstrengungen von knapp
500 Ermittlerinnen und Ermittlern, die in den letzten
Monaten eine wirklich beeindruckende Arbeit geleistet
haben, die den Zeitraum von 13 Jahren Tag für Tag re-
konstruieren, alle Akten auswerten, allen Spuren noch
einmal nachgehen. Der Bundesinnenminister hat gesagt,
dass fast 7 000 Asservate ausgewertet werden müssen,
davon über 2 000 aus dem niedergebrannten Haus. Allen
Ermittlerinnen und Ermittlern sind wir zu Dank ver-
pflichtet. Sie machen eine hervorragende Arbeit. Ich





Wolfgang Bosbach


(A) (C)



(D)(B)


hoffe, dass sie den gesamten Tatkomplex aufklären kön-
nen. Das sind wir den Opfern und den Hinterbliebenen
schuldig.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716201100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1716201200

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Rechtsextreme Gewalt ist präsent in unse-
rem Land. In manchen Regionen ist sie sogar sehr prä-
sent. Das Wort „alltäglich“ will mir bei diesem Thema
allerdings nicht über die Lippen kommen; denn rechts-
extreme Gewalt darf in unserem Land nie wieder alltäg-
lich werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Trotzdem: Jeden Tag geschehen in diesem Land
rechtsextreme Straftaten. Leider hat es die schrecklichen
Morde des NSU gebraucht, um das Thema auf die politi-
sche Agenda dieser Bundesregierung zu heben. Dabei
sind die Zeitungen voll von Meldungen – in Ostdeutsch-
land und nicht nur dort, sondern im ganzen Land.

Gleichwohl sollten uns die Geschehnisse Anlass ge-
nug sein, dass wir als Demokratinnen und Demokraten
gemeinsam überlegen, was wir gegen Rechtsextremis-
mus tun können und wie wir die Menschen in unserem
Land wirksam vor rechter Gewalt schützen können.
Denn genau das ist es, was die Menschen von uns zu
Recht erwarten.

Ich will zunächst sagen: Ich finde es gut, dass es heute
diese Initiative der Bundesregierung gibt, auch wenn wir
im Detail Fragen haben und Kritik anbringen. Ich finde
es auch gut, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz
wieder eine eigene Abteilung zum Thema Rechtsextre-
mismus hat. Ich war irgendwie immer davon ausgegan-
gen, dass das natürlich so ist.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Hat Schäuble abgeschafft!)


Die Extremismusgleichmacherei hat zumindest an die-
sem Punkt endlich ein Ende.

Das ist gut; aber ganz ehrlich: Das ist wirklich nur ein
erster, kleiner Schritt. Was nützt denn eine Datei, wenn
Straftaten von den Verantwortlichen im Zweifel eben
nicht als rechtsextrem qualifiziert werden? Was nützt die
Datei, wenn die Polizei in manchem Bundesland viel zu
lange braucht, um an Ort und Stelle zu sein? Was nützt
sie denn, wenn viele Betroffene in manchen Landstri-
chen gar nicht mehr zur Polizei gehen und sich nicht
trauen, Anzeige zu erstatten, wenn sie Opfer rechter Ge-
walt werden? Was nützt sie, wenn in vielen öffentlichen
Verwaltungen und öffentlichen Stellen noch nicht die

Sensibilität herrscht, zu wissen, dass man bei diesem
Problem ganz genau hinschauen muss? Was nützt sie,
wenn mancher Prozess gegen rechte Schläger und Ka-
meradschaften unendlich lange dauert?

Das, was Sie heute vorlegen, ist wirklich nur ein ers-
ter, kleiner Schritt. Die Menschen in unserem Land ver-
langen viel, viel mehr. Wir tun gut daran, das gemeinsam
und schnell anzugehen; denn das Vertrauen der Men-
schen in staatliche Institutionen ist gerade durch die Ge-
schehnisse rings um den NSU massiv nach unten gegan-
gen.

Viele Schritte sind notwendig. Dazu gehört für uns
erst einmal die Erkenntnis, dass wir beides brauchen:
Prävention und Repression; wir dürfen beides niemals
gegeneinander ausspielen. Die Polizei kann eben nur
sehr wenig gegen rechtes Gedankengut und gegen Ras-
sismus in der Mitte der Gesellschaft tun, genauso wenig,
wie eine zivilgesellschaftliche Initiative etwas gegen
eine gewaltbereite Kameradschaft vor Ort tun kann.

Ich spreche das Gebot, Prävention und Repression
nicht gegeneinander auszuspielen, auch deshalb an, weil
in Ihrem Ministerium, Herr Friedrich, eine Instanz der
Prävention zu Hause ist, die ein bisschen an die Wand
gedrückt wurde. Sie wissen, wovon ich spreche: Ich
spreche von der Bundeszentrale für politische Bildung.
Sie haben die Mittel der Bundeszentrale gekürzt, auch
nachdem die Morde des NSU bekannt geworden sind.
Herr Friedrich, auch damit haben Sie Vertrauen ver-
spielt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Heute geht es aber vor allen Dingen um wirkungs-
volle Repression. Sie ist wichtig; denn Neonazis sind für
sehr viele Menschen in unserem Land tatsächlich eine
Bedrohung. Wir von der SPD sagen: Wir brauchen eine
massive Sensibilität in der gesamten Gesellschaft und in
allen staatlichen Behörden für das Problem. Das tut not,
damit rechtsextreme Straftaten als solche erkannt wer-
den und auch als solche erkannt werden wollen. Vor die-
sem Hintergrund muss ich persönlich meiner Erschütte-
rung über den Kalender der DPolG in Bayern Ausdruck
verleihen. Hier ist noch einiges zu tun; dieser Kalender
hat nun wirklich jede Sensibilität vermissen lassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir, die SPD, haben mit dem Ziel, die Sensibilität zu
stärken, einen Antrag eingebracht, dass Hate Crime, also
Hasskriminalität, strafverstärkend wirken soll. Wir er-
hoffen uns davon auch, dass die Justiz so einen viel bes-
seren Blick darauf hat, dass in unserem Land viele Straf-
taten aus Hass, aus niederen Beweggründen begangen
werden.

Wir brauchen, sehr geehrte Damen und Herren, aber
auch eine Debatte über die Statistik, über die eklatante
Lücke zwischen den Opferzahlen, die uns die Zivilge-
sellschaft präsentiert, und denen, die uns die Polizei prä-





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


sentiert. Woher kommt diese Lücke, und wie kann sie
geschlossen werden? Das ist eine der großen Fragen die-
ser Stunde.

Wir brauchen aus meiner Sicht eine höhere Präsenz
der Polizei auf der Straße, gerade in den Bereichen, in
denen Neonazis aktiv und präsent sind. Von den Neona-
zis geht eine Gefahr aus; sie machen Menschen Angst.
Wir brauchen dies als Zeichen an die Betroffenen, dass
sie nicht alleine sind, und wir brauchen das Zeichen an
die Neonazis, dass ihr Treiben beobachtet wird und sie
keinen Platz in unserer Gesellschaft und auf unseren
Straßen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen ein Verbot der NPD, auch wenn, Herr
Wolff, ganz klar ist, dass man rechtsextremes Gedanken-
gut natürlich nicht mit verbieten kann. Dazu braucht es
dann wieder die breite Zivilgesellschaft.

Sie sehen: Viele Schritte sind nötig. Ich denke eigent-
lich, das sehen auch Sie so. Zudem gibt es dafür einen
breiten gesellschaftlichen Konsens. Also lassen Sie uns
das gemeinsam angehen. Das, was Sie heute vorlegen,
ist ein erster Schritt, allerdings ein „Babystep“, wie man
so schön sagt. Vor uns liegt aber ein Marathon.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716201300

Der Kollege Dr. Stefan Ruppert ist der nächste Red-

ner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1716201400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich die
Debatte heute Morgen, wie sie von SPD, CDU, Grünen
und FDP geführt wird, ausgesprochen sachlich und gut
finde, weil sich zeigt, dass nicht das reflexhafte Auf-
einandereinschlagen, sondern durchaus das Ringen um
sachliche Positionen im Vordergrund steht. Leider muss
ich die Rede von Frau Jelpke an dieser Stelle ausneh-
men, weil ich finde, dass das, was Sie hier gesagt haben,
leider viel zu wenig ist. Ihre eigene Präsidentschaftskan-
didatin hat – wenn man Zeugnisse lesen kann, weiß man
Bescheid – ein klares Urteil darüber gefällt. Ich zitiere
Beate Klarsfeld: Es ist löblich, dass die Linke sich be-
müht. – Eine schlechtere Note im Zeugnisdeutsch gibt es
aus meiner Sicht nicht. Das gilt auch für die Auseinan-
dersetzung mit dem Rechtsextremismus, die Sie heute
Morgen hier abgeliefert haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist doch völlig aus dem Zusammenhang!)


Nun werden die repressiven Elemente von Herrn
Hartmann in den Vordergrund gestellt und die präventi-
ven von anderen Rednern wie Herrn Wieland. Beide Ele-
mente brauchen wir. Wer allerdings zu schnell alleine
auf Repression, strafrechtliche Härte und Verfolgung ab-
stellt – diese sind sicherlich zwingend notwendig –, der
schwächt auf Dauer die Immunsysteme unserer Gesell-
schaft, weil wir uns dann zu sehr darauf verlassen, dass
allein der Staat, das Strafrecht und die Strafverfolgung
das Problem lösen werden. Das wird nicht gelingen. Wir
alle müssen jeden Tag den Kampf gegen Rechtsextre-
mismus in der Mitte der Gesellschaft aufnehmen; sonst
werden wir keinen Erfolg haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das damalige NPD-Verbotsverfahren war nichts an-
deres als die Flucht in eine symbolische Politik. Die
NPD ist eine zutiefst rechtsextreme Partei. Aber wer ein
Verfahren so betreibt, wie es im Wesentlichen damals
von Herrn Schily betrieben worden ist, und es dermaßen
schlecht vorbereitet, der schadet der Sache und hilft ihr
nicht. Deswegen ist ein erneutes NPD-Verbotsverfahren
– wenn überhaupt – gründlich zu überdenken und, wenn
es nötig ist, bestens vorzubereiten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Man muss aber auch sagen, dass es hohe Transaktions-
kosten gibt, um einen Begriff aus der Ökonomie zu ver-
wenden. Zur Vorbereitung eines solchen Verfahrens
müssen wir V-Leute abschalten und können den rechten
Terror weniger beobachten. Deswegen muss man sich
sehr gut überlegen, ob der Preis, der dafür zu zahlen ist,
im Einzelfall nicht zu hoch ist.

Deswegen werbe ich am Ende dafür: Lassen Sie uns
dem Reflex widerstehen, zu sehr auf die repressive, auf
die symbolische, auf die gesetzliche Ebene zu schauen.
Die infrage stehende Datei stellt einen guten und ausge-
wogenen Kompromiss dar. Lassen Sie uns vor allem den
Schmerz, den diese Attentate und dieser Terror ausgelöst
haben, noch etwas spüren, ihm noch etwas nachgehen
und ihn uns selbst als Anreiz dazu dienen, um jeden Tag
aufs Neue aufzustehen und gegen rechte Gewalt in
Deutschland vorzugehen, anstatt auf die Symbole der
Repression alleine zu setzen. Sie ist richtig und notwen-
dig, aber kein Allheilmittel.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716201500

Petra Pau ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716201600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

reden über eine Verbunddatei für rechtsextreme Gewalt-
täter. Zur Begründung heißt es im Gesetzentwurf – ich
zitiere –: Sie soll die „bewährten Formen der Zusammen-
arbeit“ zwischen den Ämtern „sinnvoll … ergänzen“.





Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Es war heute schon die Rede davon: Auslöser für die
heutige Debatte ist eine jahrelange Nazimordserie mit
zehn Toten. Danach von einer bewährten Zusammenar-
beit der Sicherheitsbehörden in diesem Fall zu sprechen,
finde ich allerdings dreist und würdelos, auch gegenüber
den Hinterbliebenen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nachdem die Nazimordserie publik wurde, hat der
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich drei Schluss-
folgerungen bzw. Maßnahmen angekündigt: erstens ein
Abwehrzentrum gegen rechten Terror, zweitens die be-
sagte Verbunddatei für rechtsextremistische Gewalttäter
und drittens eine Sonderkommission, die sich mit den
Ermittlungspannen beschäftigen sollte.

Was Sonderkommissionen sollen, dürfen oder tun, ist
unklar. Eine Bund-Länder-Koordinierung gegen Rechts-
terrorismus gab es schon einmal. Sie stellte im Jahre
2007 unverrichteter Dinge ihre Arbeit ein. Ebenso gab es
eine Spezialdatei für rechtsextreme Kameradschaften.
Sie wurde im Jahre 2010 gelöscht, und zwar so nachhal-
tig, dass sich der zuständige Staatssekretär im Dezember
letzten Jahres auf meine Nachfrage nicht einmal mehr an
die Existenz dieser Datei erinnern konnte.

Kurzum: Wir erfinden heute nicht den Stein der Wei-
sen. Es geht zum Teil um alte Hüte, die zuvor abgelegt
wurden und nun lediglich aufpoliert werden. Die Ver-
bunddatei soll vor allem Erkenntnisse der Kriminal- und
Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern bün-
deln. Dazu wird es eine Anhörung im Innenausschuss
geben. Dazu drei Anmerkungen von mir:

Erstens. Es heißt, das sei eine Täterdatei, keine Ge-
wissensdatei. Der Gesetzentwurf schließt allerdings eine
Gesinnungsdatei nicht aus. Einem solchen Vorstoß wird
die Linke nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Wenn Sie den Gesetzentwurf lesen, dann
stellen Sie fest, dass die unsägliche V-Leute-Praxis im
rechtsextremen Milieu durch Sonderregelungen fort-
geschrieben wird. Das wäre für die Linke nicht hin-
nehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Lapidar wird im Text mitgeteilt, dass ver-
briefte Grundrechte eingeschränkt werden. Auch das ist
so nicht akzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Entwurf, um den es hier geht, trägt den Titel „Ge-
setz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus“. Ich halte das ein wenig für anmaßend – andere
haben schon darauf hingewiesen –, denn es ist nur diese
Datei, die tatsächlich Bestandteil des Gesetzes ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kollege Hartmann hat es bereits gesagt: Es fehlt ein Ge-
samtkonzept, gerade auch was die Prävention im Kampf
gegen Rechtsextremismus angeht. Das ist das eigentli-
che Problem. Nun erwarte ich nicht – das ist auch nicht
Ihre Aufgabe –, dass das Bundesinnenministerium ein
Gesamtkonzept vorstellt. Allerdings erwarte ich es auch
nicht vom Familienministerium, das nach der Geschäfts-
verteilung der Bundesregierung eigenartigerweise zu-
ständig ist. Meines Wissens gab es nach der unglaub-
lichen Nazimordserie von der Bundesfamilienministerin
zwei Reaktionen: Erstens sei sie für Prävention und nicht
für Morde zuständig – das ist richtig –, und zweitens
werde ein Kompetenz- und Informationszentrum ge-
schaffen; dieses Zentrum solle wertvolle Erfahrungen,
auch pädagogische, im Umgang mit Rechtsextremen
sammeln und verbreiten.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gute Sache!)


Inzwischen konnten wir lesen, was als pädagogisch
wertvoll gilt. So sollten in Dortmund 30 militante Neo-
nazis mit 30 demokratischen Jugendlichen plaudern, um
die Nazis vom rechten Weg abzubringen. Von derselben
pädagogischen Güte waren übrigens geplante Ausflüge
junger Kölner CDU-Mitglieder nach Berlin-Kreuzberg.
Sie sollten sich besetzte Häuser ansehen, um der linken
Gefahr ins Auge zu schauen.


(Lachen bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Um Gottes willen! Wo leben Sie, Frau Schröder?)


Das alles wurde gefördert mit Geldern aus dem Bundes-
familienministerium. Wer von diesem Thema Ahnung
hat, der ist fassungslos.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir können weiter über das Für und Wider von Ver-
bunddateien streiten und werden das auch tun. Aber das
eigentliche Manko besteht darin, dass ein gesamtgesell-
schaftliches Konzept für gemeinsames Handeln fehlt.
Dieser Bereich liegt weiterhin brach. Überhaupt: So-
lange Rechtsextremisten verharmlost und Antifaschisten
misstrauisch beäugt werden, ist etwas faul. Dieser Ange-
legenheit sollten wir uns gemeinsam zuwenden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716201700

Konstantin von Notz ist der nächste Redner für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mordtaten
der Zwickauer Zelle geben sehr ernsten Anlass, zu prü-
fen, ob wir wirklich alles getan haben, um die schreck-
lichen Taten zu verhindern bzw. rechtzeitig aufzuklären.
Wir wissen bis heute nicht, was exakt in den Sicherheits-
behörden schiefgelaufen ist. Deswegen haben wir ge-





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


meinsam einen parlamentarischen Untersuchungsaus-
schuss eingesetzt. Dessen Aufklärungsarbeit ist von
ganz entscheidender Bedeutung für das Zurückgewinnen
von Vertrauen in den Bevölkerungsgruppen, in denen
dieses Vertrauen ernsthaft erschüttert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Weil wir bis heute mehr Fragen als Antworten haben,
ist es schwierig, bereits jetzt, noch vor Abschluss dieser
wichtigen Arbeit, ein Gesetz zu verabschieden, mit dem
letztlich Fakten geschaffen werden. Es gibt weitere
Gründe, abzuwarten: Mit dem Antiterrordateigesetz der
schwarz-roten Koalition liegt die Grundkonzeption die-
ses Gesetzentwurfs derzeit dem Bundesverfassungs-
gericht zur Prüfung vor. Mit dem Urteil kann und muss
jederzeit gerechnet werden. Außerdem findet derzeit
eine Evaluation dieser Antiterrordatei statt. Es wäre also
angezeigt, auf das Ergebnis der Evaluation und das Ur-
teil zu warten, bevor man ein weiteres, ganz ähnliches
grundrechtsrelevantes Gesetzeswerk auf den Weg bringt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei dem Skandal bezüglich des Versagens der Sicher-
heitsbehörden im Fall der Zwickauer Zelle stehen heute
nicht deren angeblich unzulängliche Instrumente im Vor-
dergrund, sondern es geht bislang vor allem um falsche
Einschätzungen, um Kompetenzwirrwarr und um Infor-
mationseitelkeiten. Der Fall des mutmaßlichen Mittäters
Holger G. wirft ein schräges Licht auf genau diese Pro-
blematik. Der niedersächsische Verfassungsschutz er-
hielt einen Hinweis der Kollegen aus Thüringen. Der un-
ter Verdacht stehende Holger G. sollte observiert werden.
Die Observation wurde nach zwei Tagen eingestellt. Als
das Ende der Speicherprüffrist erreicht war, löschte man
den Vorgang einfach, und das entgegen den gesetzlichen
Bestimmungen und trotz Terrorismusverdacht. Daraus
kann man nur lernen: Wenn die vorgeschalteten krimina-
listischen Bewertungen nicht stimmen, wenn die beste-
henden Möglichkeiten nicht genutzt werden, wenn sogar
gegen gesetzliche Regelungen verstoßen wird, dann
helfen auch alle technischen Instrumente der Welt nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Reflexhaft sind wir in eine Verschärfungsdebatte ein-
gestiegen. Herr Bosbach, obwohl ich Ihre Rede ins-
gesamt erfreulich fand – ich meine insbesondere den
Schulterschluss –, finde ich es einfach unsäglich, an
dieser Stelle wieder die Vorratsdatenspeicherung zu
fordern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Geltendes Europarecht ist „unsäglich“! Na gut!)


Wir diskutieren darüber in einer Situation, in der selbst
Gutgläubige den Eindruck haben könnten, bestehende
Instrumente würden maßlos und unverhältnismäßig ge-
nutzt. Massenhafte Funkzellenabfragen in Berlin und
Dresden, gigantische Zahlen bei der automatischen Er-
fassung von E-Mails durch die Dienste und der geradezu
naive Einsatz von kommerzieller Trojanersoftware
durch Bundesbehörden,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie glauben auch alles, was in der Zeitung steht, oder?)


das ist der Hintergrund dieser Debatte, Herr Kollege, in
der wir hier über die nächste Befugniserweiterung zu-
gunsten der Sicherheitsbehörden diskutieren.

Wir Grüne konzedieren, dass bemerkenswerte
Schritte für mehr Datenschutz bei der Schaffung der
Datei gemacht wurden. Vor allem die verbesserten Ver-
fahrensrechte – das wurde hier bereits angesprochen –
weisen in die richtige Richtung. Auf dem Verfahrensweg
können aber nicht die Fehler kompensiert werden, die
bei der Grundkonstruktion gemacht wurden. Deshalb
kritisieren wir die nicht eindeutige Aufzählung der
zugriffsberechtigten Behörden als einen Verstoß gegen
den Bestimmtheitsgrundsatz und die unzureichend ein-
gehegte Erfassung von Kontaktpersonen. Diese Ver-
bunddatei greift in das Trennungsgebot und das Grund-
recht auf informationelle Selbstbestimmung ein.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das musste ja noch kommen!)


Sie bewegt sich im Vorfeld eines konkreten Verdachts
und konkreter Gefahren und damit potenziell außerhalb
dessen, was derzeit rechtsstaatlich solide einhegbar
erscheint.

Solche Dateien sind nicht grundsätzlich unzulässig,


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha! – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sondern?)


aber sie müssen eine Ausnahme bleiben, und ihr Umfang
ist zu beschränken; denn sie ebnen tendenziell die ver-
fassungsrechtlich abgesicherten Unterschiede zwischen
operativer Polizeiarbeit und geheimdienstlicher Informa-
tionstätigkeit ein. Deswegen sage ich bei allem Problem-
bewusstsein angesichts der schrecklichen Morde: Diese
Dateien müssen die äußerste Ausnahme sein, und wir
müssen sie aufs Strengste beschränken.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716201800

Herr Kollege.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.

Es ist richtig: Unser vordringlichstes Ziel muss es
sein, dass es keine weiteren Toten gibt. Wir müssen uns
dabei aber – das haben Sie, Herr Innenminister, völlig zu
Recht gesagt – im Rahmen unserer Verfassung bewegen.
Deswegen fordere ich uns alle auf, diese Maßgaben zur
Grundlage unserer Diskussion zu machen.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716201900

Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Peter Uhl für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1716202000

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Zehn Jahre lang zehn Morde, von ein und der-
selben Gruppe begangen, nicht aufgeklärt zu haben,
macht geneigt, diesen Umstand als Skandal zu bezeich-
nen. Ich möchte so weit nicht gehen. Aber ich gebe zu
bedenken, ob man über die föderale Struktur, die wohl
Ursache der Angelegenheit ist, im Bereich der Sicher-
heitsbehörden verstärkt nachdenken sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Föderalismus, zu dem wir uns alle bekennen, hat
eben auch seine Schwächen. Bei diesem Sachverhalt
werden die Schwächen überdeutlich. Wir werden im
Laufe der weiteren Ermittlungen darauf einzugehen ha-
ben. Es ist gut, dass es einen Untersuchungsausschuss in
Thüringen und einen Untersuchungsausschuss in Sach-
sen gibt


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch nicht!)


– wir werden ihn bald haben – und dass wir bereits einen
auf Bundesebene eingesetzt haben. Ich halte es auch für
richtig, dass die Expertenkommission von Bund und
Ländern ihre Arbeit aufnimmt. Dies alles trägt dazu bei,
den ungeheuerlichen Vorwurf – den dürfen wir auf kei-
nen Fall stehen lassen – aus der Welt zu schaffen, dass
der deutsche Staat auf dem rechten Auge blind sei. Das
darf es nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben jetzt ein gemeinsames Terrorismusabwehr-
zentrum gegen rechtsextreme gewaltbereite Kräfte ein-
gerichtet. Das war richtig so. Es ist dem Bundesinnen-
minister zu danken, dass so unverzüglich gehandelt
wurde. Wir beraten heute in erster Lesung über den in
großer Eile und in Abstimmung mit den Ländern erar-
beiteten Gesetzentwurf, der vorsieht, für gewaltbereite
Rechtsextremisten eine gemeinsame, standardisierte
zentrale Datei zu schaffen, in die alle Behörden ihre Er-
kenntnisse eingeben müssen. Das ist der entscheidende
Punkt: Sie müssen sie eingeben. Was heißt „alle Behör-
den“? Man muss sich das einmal vorstellen: 16 Landes-
kriminalämter, 16 Landesämter für Verfassungsschutz,
das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, das Bundes-
amt für Verfassungsschutz, das sind schon 35 Behörden.
Dass da enorme Zentrifugalkräfte wirken, kann man sich
gut vorstellen. Dass das nicht auf Zusammenarbeit ange-
legt ist, sondern dass das auseinanderstrebt, liegt in der
Natur der Sache und ist der Preis des Föderalismus. Die-
ses Defizit muss beseitigt werden. Deswegen ist es rich-
tig, diese Datei zu schaffen.

Ich halte es auch für richtig, dass die Datei bis Ende
Januar 2016 befristet ist und dass vor Ablauf dieser Frist
evaluiert wird, um gegebenenfalls nachzubessern, an
kleinen Schrauben zu drehen und noch einmal Erfahrun-
gen zu sammeln, auch im Umgang mit der bereits beste-
henden Datei gegen Linksextremismus. Das kann man
so machen.

Das ganze Thema ist – das zeigt auch die heutige De-
batte – zwischen den Parteien eigentlich nicht strittig.

Vielmehr besteht der Konflikt im Verhältnis des Bundes
zu den Ländern. Wenn wir den Dingen auf den Grund
gehen, werden wir möglicherweise Defizite in Thürin-
gen und Sachsen aus der Zeit von vor zehn Jahren und
Versäumnisse, die keinem zuzurechnen sind, in den dar-
auffolgenden Jahren in anderen Bundesländern feststel-
len. Das sind die Zusammenhänge. Das heißt, hier geht
es nicht um SPD- oder unionsgeführte Landesregierun-
gen, sondern darum, dass das Zusammenspiel der Si-
cherheitsbehörden nicht funktioniert hat. Deswegen
glaube ich, dass es sehr wichtig ist, Konsens mit den
Ländern herzustellen. Morgen wird sich auch das Ple-
num des Bundesrats mit der Schaffung dieser Datei be-
fassen. Dazu gibt es eine Reihe von Änderungsvorschlä-
gen. Frau Justizministerin, diese sollten wir ernsthaft
prüfen, weil sie zum Teil zum Ziel haben, Korrekturen,
die Sie an dieser Datei vorgenommen haben, in eine an-
dere Richtung nachzubessern.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen darf das nicht geschehen, Herr Kollege Uhl!)


– Ich vertraue auf den Sachverstand der Praktiker bei
solchen Dingen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Justiz sitzen offenbar nur die Theoretiker! – Gegenruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das haben Sie gesagt!)


Ich glaube nicht, dass wir bezüglich solcher Dateien den
höchsten Sachverstand hier in diesem Hause haben. Wir
müssen die Praktiker aus den Landessicherheitsbehörden
sehr ernstnehmen, wenn sie sagen, dass wir dieses oder
jenes Werkzeug – diese müssen dann natürlich auf ihre
Rechtmäßigkeit, zum Beispiel im Hinblick auf Daten-
schutzgesetze, überprüft werden – brauchen. Ich möchte
hier jedenfalls keinen Konflikt zwischen Bund und Län-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Länder fordern für den Kampf gegen Rechts-
extremismus eine erweiterte Datennutzung, und zwar
generell und ganzjährig, nicht nur beschränkt auf befris-
tete Projekte. Die infrage stehende Datei wird vom Bun-
deskriminalamt geführt. Ein großer Teil der Kosten wird
vom Bund übernommen, ein kleinerer Teil von den Län-
dern. In neun Monaten wird die Datei funktionsfähig
sein. Das ist gut so.

Wir haben jetzt das Terrorabwehrzentrum gegen
Rechtsextremismus, die Rechtsextremismusdatei, einen
entsprechenden Untersuchungsausschuss und die Bund-
Länder-Expertenkommission. Dies sind vier sehr ernst-
zunehmende und gute Reaktionen auf den Umstand,
dass man über zehn Jahre zehn Morde nicht aufgeklärt
hat.

Zu dem Ruf nach einem NPD-Verbot hat Kollege
Bosbach eigentlich schon das Nötige gesagt. Der Ruf
nach einem NPD-Verbot ist verständlich. Ein solches
Verfahren ist aber nicht – das hat bereits Kollege
Ruppert gesagt – der allein selig machende Weg. Ich





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)


glaube eher, dass wir uns – das ist eine zutiefst demokra-
tische Einstellung – mit dem Gedanken anfreunden müs-
sen, dass die Gedanken frei sind,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


leider auch rechtsextreme Gedanken, und dass Men-
schen, die solche Gedanken haben, auch in Zukunft frei
herumlaufen können; das ist leider so. Ich glaube, dass
es hohe Hürden zu überwinden gilt, bevor wir als Verfas-
sungsorgan, aber letztlich auch als Parteipolitiker einen
Antrag auf Verbot einer konkurrierenden Partei stellen.
Die Hürden sind vom Gericht sehr hoch angesetzt.

Ich glaube, dass der Kampf gegen rechtsextremes Ge-
dankengut sehr viel wichtiger als ein NPD-Verbot ist. In
der gesamten Gesellschaft müssen wir den Kampf gegen
Ausländerfeindlichkeit, den Kampf gegen Antisemitis-
mus, den Kampf gegen Rassismus und den Kampf gegen
antidemokratisches Führerdenken ohne Unterlass sehr
ernsthaft führen; denn das alles ist Neonazi-Denken und
muss von der ganzen Gesellschaft geächtet werden. Die-
ser Aufgabe müssen wir uns stellen. Das ist das Aller-
wichtigste.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716202100

Das Wort erhält nun die Kollegin Kirsten Lühmann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1716202200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe

Kolleginnen! Sehr geehrte Anwesende! NADIS, INPOL,
POLAS und AFIS – das sind nur einige von Dutzenden
von Dateien, die der Polizei bei ihrer Arbeit zur Verfü-
gung stehen. Da stellt sich natürlich die Frage: Brauchen
wir wirklich noch eine Datei, zumal wir schon Dateien
haben, in denen Daten zu Gewalttätern gespeichert wer-
den, zum Beispiel die Dateien „Gewalttäter Sport“, „Ge-
walttäter Links“, „Gewalttäter Rechts“, und das schon
seit Jahren?

Wenn eine Bande über zehn Jahre lang mordend
durch Deutschland zieht, wenn sie unerkannt Unterstüt-
zergruppen hat, wenn sie Fahrzeuge und Wohnungen be-
liebig wechseln kann, dann muss sich in unserer Sicher-
heitsstruktur etwas ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Probleme, die durch den fehlenden Informations-
fluss bei einzelnen Behörden über Ländergrenzen hin-
weg, ja sogar innerhalb einiger Länder aufgetaucht sind,
werden zurzeit von einem Untersuchungsausschuss auf-
gearbeitet. Eines ist aber schon jetzt klar: Um zu erken-
nen, wann aus einem Rechtsextremen ein Rechtsterrorist
wird, brauchen wir ein neues Instrument.

Ein Beispiel gibt es schon: die sogenannte Antiterror-
datei. In ihr werden nicht nur Namen, sondern auch Da-
ten zu Kontaktpersonen, Handys, Wohnungen und Fahr-
zeugen gespeichert. Eine solche Verbunddatei soll jetzt
auch im Hinblick auf den Rechtsterrorismus geschaffen
werden, allerdings nicht als Kopie der Antiterrordatei
– dann brauchten wir sie nur zu erweitern –, sondern als
eine Datei, die auf die besonderen Verhältnisse des
Rechtsterrorismus zugeschnitten ist.

Ein Problem haben beide Gesetze: Auch wenn die
Verbunddateien nur eine gemeinsame Infoquelle sind,
weichen sie die strikte Trennung zwischen Polizei und
Geheimdiensten immer weiter auf. Beide, Polizei und
Geheimdienste, sollen Daten einstellen. Beide, Polizei
und Geheimdienste, können auf diese Daten zugreifen.
So kann die Polizei auch Informationen erlangen, die mit
geheimdienstlichen Mitteln beschafft wurden. Genau
dies wird aufgrund der Erfahrungen mit dem nationalso-
zialistischen Unrechtsregime des Dritten Reiches als
problematisch angesehen. Im Gesetzentwurf sind dazu
Sicherungen vorgesehen. So kann die Polizei nicht unge-
hemmt auf alle Informationen zugreifen. Die einstellen-
den Behörden entscheiden über die Weitergabe einzelner
Daten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob das
wirklich ausreicht, wissen wir noch nicht, zumal die An-
titerrordatei zurzeit gerichtlich überprüft wird. Bei dieser
Überprüfung geht es um die Frage, ob das Trennungsge-
bot eingehalten wird oder ob die Regelungen gegen das
Grundgesetz verstoßen. Ich hoffe, das Urteil kommt so
rechtzeitig, dass wir die Ergebnisse bei den Beratungen
über den uns vorliegenden Gesetzentwurf berücksichti-
gen können. Denn es wäre ein fatales Signal, wenn uns
diese neue Waffe im Kampf gegen den Rechtsextremis-
mus vom Bundesverfassungsgericht gleich wieder weg-
genommen werden würde. Das darf nicht passieren.


(Beifall des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])


– Danke schön, Herr Kollege.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich habe noch ein
paar praktische Fragen. Im vorliegenden Gesetzentwurf
steht, dass die beteiligten Behörden sogenannte erwei-
terte Speicherungen ganz unterlassen können, wenn be-
sondere Geheimhaltungsinteressen dies ausnahmsweise
erfordern. Dabei sind es genau diese erweiterten Daten
– etwa Adressen für elektronische Post, genutzte Handys
oder Fahrzeuge –, die für die Ermittlungsbehörden emi-
nent wichtig sind. Das sind genau die Daten, die bei den
Ermittlungen im Hinblick auf die Rechtsterroristen hilf-
reich gewesen wären. Von einigen Behörden wurden sie
aber mit Hinweis auf ebendiese besonderen Geheimhal-
tungsinteressen nicht weitergegeben. Das Problem, das
wir mit diesem Gesetz beseitigen wollen, wird also mit
diesem Gesetz festgeschrieben. Das ist widersinnig.


(Beifall bei der SPD)


Durch unbestimmte Rechtsbegriffe wie „besonderes Ge-
heimhaltungsinteresse“ oder „besonders schutzwürdige
Interessen“ werden Ausschlusstatbestände geschaffen,
die auf jeden Fall angewendet werden können. In der
Anhörung zu diesem Gesetzentwurf sollten wir deshalb
besonderes Augenmerk darauf richten, dass hier die Ge-





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)


fahr droht, dass Wissenslücken entstehen, wo keine Wis-
senslücken sein dürfen.

Dass den berechtigten Anliegen einiger Behörden
Rechnung getragen wird, zeigt die Möglichkeit der ver-
deckten Speicherung. Dabei muss jede verweigerte Da-
tenweitergabe mit der Begründung, warum die Daten
nicht weitergegeben wurden, gespeichert werden. So
kann auch noch nach Monaten nachvollzogen werden,
ob Daten rechtmäßig weitergegeben wurden oder auch
nicht weitergegeben wurden. Bei einer nicht erfolgten
Speicherung ist dies nicht möglich. Die Behörde, die
mauert, bleibt im Dunkeln und muss sich nicht erklären.
Das kann nicht unser Ziel sein.

Insgesamt sehe ich nicht so sehr die Gefahr der unge-
hemmten Sammelwut. Dazu sind die Kriterien zu eng
gefasst. Sie sind so eng gefasst, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, dass sich sogar die Bundesländer uni-
sono fragen, ob wirklich nur gewaltbezogene Extremis-
ten oder nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht
auch gewaltbereite Extremisten in unseren Fokus rücken
sollten. Ich finde, dass es sich lohnt, auch diese Frage in
der Anhörung näher zu beleuchten.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir sind am An-
fang der parlamentarischen Beratungen. Ausgehend von
dem Expertenwissen, das wir in der Anhörung erlangen
werden, sollten wir gemeinsam darauf hinwirken, dass
das Gesetz auf einer gesicherten rechtsstaatlichen
Grundlage steht und in der Praxis ein effektives und effi-
zientes Instrument im Kampf gegen den Rechtsextremis-
mus werden wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716202300

Das Wort erhält nun die Kollegin Gisela Piltz für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1716202400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Niemand – das haben viele heute hier schon gesagt –
hätte es für möglich gehalten, dass Rechtsextremisten
– viele haben sie als rechtsextremistische Bande,
Nazimörder oder ähnlich bezeichnet – durch Deutsch-
land ziehen und zehn Morde begehen, und niemand von
uns hätte es für möglich gehalten, dass das nicht vorher
bekannt wurde.

Aber ganz ehrlich, liebe Kollegin Jelpke: Der Skandal
ist das, was passiert ist, und nicht das, was wir heute hier
tun und besprechen. Ich habe während Ihrer Rede ver-
sucht – ich glaube, das kann niemand wirklich schaffen –,
mich in die Angehörigen der Opfer zu versetzen. Ich
glaube, Sie haben an deren Interessen wirklich völlig
vorbeigeredet; denn es geht darum, aus dem, was pas-
siert ist, Lehren zu ziehen, und es geht nicht darum, die
Angehörigen der Opfer zu verhöhnen. Es geht nicht um

die Verharmlosung von Gewalt, sondern es geht um die
Bekämpfung von Gewalt. Ich glaube, hier haben Sie sich
wirklich im Ton vergriffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Rechte Gewalt, Gewalt aufgrund widerwärtiger, men-
schenverachtender Ideologien, muss selbstverständlich
mit aller Kraft bekämpft werden. Es ist gut, wenn wir
alle uns darüber einig sind. Nein, Herr Kollege
Hartmann, ich glaube, niemand von uns hier im Deut-
schen Bundestag hat sich an Rechtsextremismus ge-
wöhnt.

Ich glaube, es ist – wenn man das so sagen darf –
richtig und gut, dass niemand von der NPD hier im
Deutschen Bundestag vertreten ist. Wir alle gemeinsam
sollten es als Aufgabe sehen, dass das auch so bleibt –
anders als in dem einen oder anderen Landtag. Herr Kol-
lege Hartmann, ein NPD-Vertreter in einem Landtag ist
kein Biedermann, sondern bleibt offen NPD-Vertreter.
Ich bin mir nicht sicher, was Max Frisch zu Ihrem Ver-
gleich gesagt hätte. Für mich jedenfalls kann jemand, der
der NPD angehört, auch in einem Landtag niemals als
Biedermann bezeichnet werden.


(Gustav Herzog [SPD]: So war es von dem Kollegen Hartmann auch nicht gemeint!)


Unser Ziel als Demokraten muss sein, dafür zu sorgen,
dass niemand mit rechtsextremistischem Gedankengut in
den Bundestag oder in ein Landesparlament einzieht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir bekämpfen Rechtsextremismus, aber auch Extre-
mismus jeder Art; auch das muss hier einmal gesagt wer-
den. Das ist die Aufgabe aller demokratischen Parteien.
Dafür – das ist schon gesagt worden – reicht eine einfa-
che Datei oder auch ein NPD-Verbotsverfahren reloaded,
wie das heute heißt, nicht aus. Wir dürfen uns nichts vor-
machen: Ein Verfahren, das scheitert – eines ist schon
gescheitert –,


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das Verfahren ist nicht gescheitert! Es wurde nie in der Sache verhandelt!)


kann sich diese Demokratie nicht leisten. Es darf nicht
nur Verbotsverfahren geben, sondern die gesellschaftli-
che Auseinandersetzung mit rechtsextremistischer Ideo-
logie muss fortgeführt werden. Das ist unsere Aufgabe.

Ich glaube, wir alle hier wissen: Es gibt keine einfa-
chen Lösungen – nicht für die Auseinandersetzung mit
rechten Parteien und auch nicht für die Verfolgung
rechtsextremistischer Straftäter. Es wäre falsch, zu glau-
ben, dass mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute
hier diskutieren, alles gemacht worden ist.

Wir haben gelernt, dass die Ermittlungsbehörden
nicht in die richtige Richtung gearbeitet haben. Aus wel-
chen Gründen dies nicht geschah, arbeiten der Untersu-
chungsausschuss, die Regierungskommission von Bund
und Ländern und nicht zuletzt auch – sehr erfolgreich –
der Generalbundesanwalt gerade auf.





Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)


Man muss sich aber auch die Frage stellen, ob diese
Morde der richtige Anlass dafür sind, hier noch einmal
über die Vorratsdatenspeicherung zu sprechen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Reden Sie jetzt zu Ihrem Koalitionspartner?)


– Nicht nur zu denen, zu Ihnen genauso. Das ist doch
Ihre Auffassung.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich wäre hier einmal ganz vorsichtig, Herr Kollege
Hartmann. Ich glaube, Sie und nicht wir haben das ge-
macht. – Dass ein Trio, das telefonisch überwacht
wurde, ein Argument für die Vorratsdatenspeicherung
ist, kann meine Fraktion nicht zwingend erkennen.

Wir können nur noch einmal appellieren: Mit dem,
was wir vorgeschlagen haben und was die Justizministe-
rin vorgelegt hat, dem Quick-freeze-Verfahren, hätten
wir jetzt die Möglichkeit, hier mehr zu tun, als wir jetzt
tun können. Von daher, meine Kollegen von der Union:
Wir wären weiter, wenn Sie mit uns darüber sprechen
würden.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Weiter nichts machen!)


Sie wissen – das ist kein Geheimnis –, dass meine
Fraktion Dateien immer kritisch beäugt. Das war bei der
Antiterrordatei schon so, und das gilt auch hier.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir das tun müs-
sen, was nötig ist, um Rechtsextremismus zu bekämp-
fen. Aber für Liberale kann es auch keinen Zweifel da-
ran geben, dass wir unsere Demokratie und unsere
Grundrechte nur dann auch gegen Neonazis verteidigen
können, wenn wir die Verfassung und die sich daraus er-
gebenden Grenzen beachten.

Deshalb ist es gut, dass tatsächliche Anhaltspunkte
darüber entscheiden, wer in die neue Datei aufgenom-
men wird. Eine Datei, bei der die vermutete Gesinnung
ausreichte, um ins Visier der Sicherheitsbehörden zu ge-
raten, wäre aus unserer Sicht nicht mit unserem Rechts-
staat vereinbar. Der verfehlten Ideologie der Rechten zu
begegnen, ist Aufgabe der politischen und gesamtgesell-
schaftlichen Auseinandersetzung. Den tatsächlichen Ge-
fahren zu begegnen, ist Aufgabe der Sicherheitsbehör-
den.

Zudem – das ist schon von dem einen oder anderen
gesagt worden – gilt bei keiner Datei das Motto „Viel
hilft viel“. Das ist in der letzten Zeit deutlich geworden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch ist richtig, dass die Datei nicht als Volltextdatei,
sondern als erweiterte Indexdatei angelegt ist. Polizei
und Nachrichtendienste haben unterschiedliche Aufga-
ben. Das ist mehrfach gesagt worden und dem schließe
ich mich an. Es ist und bleibt ein gutes Prinzip in unse-
rem Rechtsstaat, dass wer alles darf, nicht alles weiß und
wer alles weiß, nicht alles darf. Dafür wird sich die FDP
auch in Zukunft immer einsetzen.


(Beifall bei der FDP)


So gesehen ist es spannend, Herr Kollege Hartmann,
wenn Sie in Ihrer Rede die Regierung dafür kritisieren,
dass wir um diese Prinzipien ringen, aber die Kollegin
Lühmann als dritte Rednerin Ihrer Fraktion selbstver-
ständlich diese Prinzipien vorträgt. Von daher danke ich
Ihnen, Frau Kollegin Lühmann. Vielleicht können Sie
auch den Kollegen Hartmann auf den richtigen Weg
bringen.


(Beifall bei der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ihr seid schon Regierungsfraktion, oder?)


Aus unserer Sicht ist es auch zu begrüßen, dass es bei
den bisherigen Speicherfristen im Verfassungsschutzge-
setz bleibt. Wir haben die Verlängerung der Speicherfris-
ten nach dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsge-
setz nach gründlicher Prüfung nicht mehr für nötig
gehalten. Es wäre widersinnig, jetzt anders zu handeln.

Es ist auch gut, dass wir uns selbst den Auftrag geben,
die Wirksamkeit des Gesetzes zu überprüfen. Denn auch
bei einem hehren Ziel oder vielmehr gerade dann dürfen
wir nicht dem Glauben verfallen, uns nicht mehr selbst
hinterfragen zu müssen.

Interessant ist aber auch, dass die Länder im Bundes-
rat sehr viel weiter gehen wollen. Ich bin sehr gespannt,
was die mitregierenden Kollegen der SPD und der Lin-
ken, die noch viel weiter gehen wollen, morgen in der
Länderkammer tun werden.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Auch die Kollegen der FDP, die in Bayern mitregieren!)


Ich habe die Ahnung, dass wir dort von ihnen nicht viel
hören werden.

Eine gemeinsame Datei kann nur so gut sein wie die,
die sie gemeinsam nutzen, dies ermöglichen. Daran soll-
ten wir arbeiten. Uns ist klar: Kein Gesetzentwurf ver-
lässt dieses Haus so, wie er hineingeht. Wichtig ist, dass
ein Gesetz die rechtsstaatlichen Grundsätze widerspie-
gelt. Dafür werden wir sorgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Gruß an die bayerische FDP!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716202500

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Jetzt mal was zur Vorratsdatenspeicherung! Die Haltung der Koalition!)



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1716202600

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das Thema
der heutigen Debatte. Kollege Wieland hat gesagt, die
Datei könne dazu nicht alles sein. Das ist völlig richtig.





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)


Aber diese Datei ist ein wichtiger Schritt. Sie ist ein
wichtiger Baustein.

Dabei dürfen wir nicht vergessen: Es bleibt unsere
Gesamtverantwortung, und es bleibt eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe, im Kampf gegen den Rechtsextre-
mismus alles zu tun, damit sich solche Taten nicht wie-
derholen und solche Strukturen nicht verfestigen können
und wir eine wehrhafte Demokratie bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei dem Teilbaustein, den wir heute beraten, geht es
um Fragen des Informationsaustausches. Als im Novem-
ber 2011 die schreckliche Mordserie bekannt wurde
– zehn Morde, zwei Sprengstoffattentate; hinzu kamen
mehrere Banküberfälle –, stellte sich die Frage: Wie
konnte das sein, ohne dass es jemand gemerkt hat?

Ich will uns allen den Spiegel noch etwas stärker vor-
halten. Das Terrortrio wurde am 4. November 2011 ent-
deckt. Am 5. November waren die Täter identifiziert.
Man wusste, dass dieses Trio für den Mord an der Poli-
zistin in Heilbronn verantwortlich war, weil man die
Dienstwaffen gefunden hatte – mehr nicht. Niemand
– nicht einmal dort – kam auf die Idee, zu fragen, ob das
nicht auch die Täter bei den neun Morden an unseren
ausländischen Mitbürgern gewesen sein könnten – am
5. November nicht, am 6. nicht und am 7. nicht. Nie-
mand von uns, niemand von den Journalisten, niemand
bei den Sicherheitsbehörden – niemand hat diese These
aufgestellt. Erst als man die Ceska gefunden hatte, war
klar, dass es sich um sehr viel mehr handelt, nämlich um
eine schreckliche Mordserie.

Es muss uns noch viel mehr zu denken geben, was In-
formationsaustausch und Informationsbewertung be-
trifft, dass wir, selbst als die Täter erkannt waren, nicht
von alleine auf diese Spur gekommen sind. Deshalb
glaube ich, dass dem sehr technischen Begriff des Infor-
mationsaustauschs zwischen Sicherheitsbehörden eine
viel größere Bedeutung beigemessen werden muss, als
wir vielleicht annehmen.

Es geht im Kern um folgende Frage: Wie gehen wir in
unserem Rechtsstaat mit dem Wissen um, das Sicher-
heitsbehörden über rechtsextremistische Gewalttäter
oder gewaltbereite Personen haben? Die Antwort kann
nicht sein, dass wir das Wissen voreinander abschotten,
auf möglichst viele Stellen verteilen, dass keiner mit
dem anderen redet, Informationen nur im Ausnahmefall
ausgetauscht werden und man sich hinterher wundert,
wie so etwas geschehen konnte. Das wäre die falsche
Antwort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir das als Maßstab anerkennen, dann ist diese
Datei der richtige Ansatz. Dafür müssen wir auch nicht
auf die Ergebnisse der Untersuchungsarbeit unserer Aus-
schüsse, die sehr viel tiefer geht, warten. Diese Datei
können wir schon heute auf den Weg bringen.

Sie ist notwendig, weil sich in Deutschland 36 unter-
schiedliche Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern
mit Rechtsextremismus befassen. Es ist ganz entschei-
dend, den Informationsaustausch so zu organisieren,
dass keine Information verloren geht. Diese Datei wird
eines erreichen: Sie wird der Rahmen sein, innerhalb
dessen aus verschiedenen Informationsbruchstücken ein
aussagekräftiges Bild entsteht.

Dazu werden verschiedene Dinge gespeichert, und
zwar von Polizei und Verfassungsschutz. An die Adresse
der Grünen: Wenn Sie es ernst meinen, wenn wir alle es
ernst meinen mit der Aussage, dass sich so etwas nicht
wiederholen darf und wir im Kampf gegen Rechtsextre-
mismus wehrhafter sein müssen, dann müssen wir an
dieser Stelle konkret werden. Wir als Union – in der
Großen Koalition gemeinsam mit der SPD – haben in
der Vergangenheit schon immer gesagt: Der Informa-
tionsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz
verstößt nicht gegen das Trennungsverbot. Er ist not-
wendig, um eine Aufgabe sachgerecht zu erfüllen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir auch! Da sagen wir gar nichts anderes!)


An dieser Stelle werden Sie Ihre Position korrigieren
müssen. Das wage ich vorauszusagen. Alles andere
würde nicht funktionieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Der Kollege Ströbele ist verzweifelt. Ich würde die
Frage zulassen, wenn der Präsident sie zulässt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716202700

Gut, dann sind wir uns insofern einig.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Bitte, Herr Kollege Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Präsident. – Danke auch, Herr Kollege.
Sie sprechen zutreffend an, dass in der Öffentlichkeit im-
mer wieder der Eindruck erweckt wird, dass die Sicher-
heitsbehörden bei uns in Deutschland so voneinander ab-
geschottet sind, dass die einen Informationen zum
Beispiel über Rechtsextremismus, über Gewalttaten,
über Straftaten und Ähnliches haben, die sie den anderen
nicht mitteilen. Das sei – so wird das in der Öffentlich-
keit manchmal dargestellt – verboten.

Geben Sie mir recht, dass dies entgegen der Auffas-
sung in der Bevölkerung und entgegen anderslautenden
Medienberichten gar nicht so ist? Können Sie bestätigen,
dass die Gesetzeslage so ist, dass etwa die Verfassungs-
schutzämter Informationen sehr wohl weitergeben kön-
nen und eigentlich auch weitergeben sollten, wenn dies
zur Aufklärung oder sogar Verhinderung von Straftaten
dienen kann, dass sie das aber in der Vergangenheit ver-





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)


mutlich – in einigen Fällen offensichtlich – nicht getan
haben?

Die Verfassungsschutzämter handeln typischerweise
so, dass sie ihre Informationen für sich behalten und
nicht weitergeben wollen, etwa weil sie ihre Informanten
schützen wollen oder meinen, ihr Wissen sei zu wichtig
für eine Weitergabe an die Vollzugsbehörden. Stimmen
Sie mir darin zu, dass da der Fehler liegt, dass es da ein
falsches Denken gibt? Man konnte Informationen nach
dem Gesetz schon immer weitergeben, hat es aber nicht
getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1716202800

Herr Kollege Ströbele, es ist unbestritten, dass im

Einzelfall ein Austausch von Informationen zwischen
dem Verfassungsschutz und der Polizei oder innerhalb
des Verfassungsschutzverbundes möglich war.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht im Gesetz!)


Aber das war – das war die Erlass- und Gesetzeslage –
immer an sehr hohe Hürden gekoppelt. Es war der Lan-
desbehörde überlassen, zu entscheiden, ob eine Informa-
tion für den Bund oder eine der anderen 15 Landesbe-
hörden relevant sein könnte. Wenn diese Behörde
entschieden hat, die Information nicht weiterzugeben,
weil sie als banal erachtet wurde, dann wurde sie nicht
weitergegeben. Die Fristen zur Speicherung solcher In-
formationen waren im Übrigen sehr kurz. Ich will daran
erinnern: Die Daten des Terrortrios mussten nach fünf
Jahren gelöscht werden. Das Trio war ab 2003 nicht
mehr auf dem amtlichen Radarschirm. Die Daten waren
in keiner einzigen Datei mehr gespeichert.

Es kann uns doch nicht ruhig lassen, wenn wir eine
Konstruktion haben, bei der solche Informationen verlo-
ren gehen. Die jetzt vorgesehene Datei hat ein verpflich-
tendes, automatisiertes Element und stellt damit sicher,
dass die Mosaiksteine, die vielleicht im Land X keine
Bedeutung haben, dafür aber im Land Y, zusammenge-
führt werden. Das war bis heute nicht möglich, mit Aus-
nahme des Bereichs des internationalen Terrorismus, wo
wir sehr erfolgreich sind. Wir brauchen eine solche Datei
auch für den Bereich Rechtsextremismus, wenn wir
wehrhaft sein wollen – und wir wollen wehrhaft sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will in aller Kürze, weil die Datei gerade ein
Thema war, darauf eingehen, was gespeichert wird. Herr
Kollege von Notz hat vorhin eine Aussage getroffen, die
ich für schwer durchzuhalten halte. Ich will Ihnen das
gleich begründen. In diese Datei kommen Daten über
bekannte rechtsextremistische Straftäter, bekannte
rechtsextremistische gewaltorientierte Personen, deren
Kontaktpersonen sowie Vereinigungen, Sachen und Ob-
jekte. Sie, Herr Kollege von Notz, haben kritisiert, dass
vielleicht zu viele Kontaktpersonen aus dem rechtsextre-
men Milieu erfasst werden könnten.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur ich!)


Ich kann das nicht nachvollziehen; denn wenn wir die
richtigen Konsequenzen ziehen wollen, dann müssen wir
präzise bleiben. Hätte man Ihren Maßstab angelegt, dann
wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit die Beschuldigte
Zschäpe nicht in der Datei gewesen. Das sollte Ihnen zu
denken geben. Gerade Kontaktpersonen haben oftmals
keine Straftaten begangen, sind aber nah an den Straf-
tätern dran. Die Erfassung solcher Personen hilft uns,
Netzwerke zu erkennen. Daten solcher Personen nicht zu
speichern, würde dazu führen, dass unsere Instrumente
von vornherein zum Scheitern verurteilt wären. Deshalb
muss man schon A und B sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Eine weitere Bemerkung bezieht sich auf die Punkte
des Bundesrats, die der Kollege Uhl vorhin zu Recht an-
gesprochen hat. Der Bundesrat möchte weitere Recher-
chemöglichkeiten haben. Das werden wir uns in der An-
hörung von den Praktikern erklären lassen. Es spricht
einiges dafür, zu fragen, warum man erst Projekte defi-
nieren und beschreiben soll, wenn es eine Daueraufgabe
ist und gerade das Zusammenführen von Erkenntnissen
uns einen Schritt weiter bringt. Der Bundesrat sagt aber
auch, dass er ein Problem bei den Speicherfristen sieht.
Das sehe auch ich.

Wenn wir die richtigen Lehren aus der Analyse dieser
schrecklichen Mordserie ziehen – ich komme immer
wieder auf diesen Fall zurück –, dann müssen sich die
Ergebnisse in unserem Handeln wiederfinden. Heute
wissen wir, dass die Speicherfrist für die Daten des Ter-
rortrios 2003 auslief und ab 2003 die Daten von
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in allen polizeilichen
und automatisierten Verfassungsschutzdateien gelöscht
werden mussten, weil die Speicherdauer so kurz war.

Hinter der Speicherfrist steht ein logischer Gedanke.
Der Gedanke, nach fünf Jahren die Daten zu löschen, be-
ruht auf der Annahme, dass jemand, der fünf Jahre nicht
in Erscheinung tritt, offensichtlich wieder den Weg in
das normale bürgerliche Leben zurückgefunden hat und
nicht mehr dieser Szene angehört. Aber die Tatsache,
dass ein Terrortrio fünf Jahre untergetaucht ist, ist doch
kein Beleg dafür, dass die Mitglieder dieses Trios wieder
normale Bürger geworden sind. Deshalb dürfen wir
nicht noch einmal den Fehler begehen, die Speicherfrist
zu kurz zu fassen, sodass nach fünf Jahren kein Wissen
mehr über die Personen vorhanden ist. Es war ein
Grundfehler der Sicherheitsbehörden, zuzulassen, dass
das Wissen gar nicht mehr vorhanden war, weil die Da-
ten gelöscht wurden, oder nur Bruchstücke vorhanden
waren, die auch noch verteilt waren.

Ich glaube, dass wir und die Bundesregierung mit
dem neuen Zentrum zur Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus und mit der Antiterrordatei rechts, wie man sie
auch nennen könnte, zwei wichtige Schritte gemacht ha-
ben. Die Untersuchungsausschüsse werden weitere
Empfehlungen geben. Unter dem Strich muss die Bot-
schaft sein: Wir werden nicht zulassen, dass sich so et-





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)


was wiederholt. Wir werden alles dafür tun, dass diese
schreckliche Mordserie aufgeklärt wird. Das sind wir al-
len Menschen in unserem Land schuldig.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716202900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf der Drucksache 17/8672 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rentenversicherung stärken und solidarisch
ausbauen – Solidarische Mindestrente einfüh-
ren

– Drucksache 17/8481 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch
darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann kön-
nen wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Matthias Birkwald für die Fraktion
Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716203000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Sage und schreibe 112 000 Menschen gehen jenseits
ihres 75. Geburtstages einem Minijob nach. Älter als 65
sind mehr als 760 000 der Minijobberinnen und Mini-
jobber. Zwei Drittel davon sind Frauen.


(Unruhe)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1716203100

Einen Augenblick, bitte! Könnten wir uns vielleicht

darauf verständigen, dass notwendige Gespräche an pas-
senderer Stelle geführt werden?


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716203200

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Karin Schäfer,

68 Jahre alt, aus Blankenfelde bei Berlin ist eine von ih-
nen. Sie geht putzen. Dabei hat sie ihr Leben lang gear-
beitet. Sie hat 35 Jahre als Verkäuferin und als Kassiere-
rin Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt, und sie hat

drei Kinder erzogen. Nun bleiben ihr nur magere 599
Euro gesetzliche Rente. Weitere Alterseinkünfte hat sie
nicht, und auch nichts auf der hohen Kante. Das reicht
hinten und vorne nicht. Sie sagt:

Ich muss arbeiten gehen, mein ganzes Leben lang.
Keine Ahnung, wovon ich leben soll, wenn das mal
nicht mehr geht.

Für Karin Schäfer und für Hunderttausende weiterer
Seniorinnen und Senioren gibt es keinen Ruhestand. Ihr
Schicksal heißt: Malochen bis zum Tode. Dieses Schick-
sal ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist politisch ge-
macht. Darum kann man es auch politisch ändern. Dazu
ist es allerhöchste Zeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, 14 Prozent der Menschen
im Rentenalter gelten heute als arm. Immer mehr Rent-
nerinnen und Rentner sind auf die Grundsicherung im
Alter angewiesen. Sie liegt bei 688 Euro im Monat – im
Schnitt. Mehr als 400 000 Menschen über 65 Jahre müs-
sen damit auskommen. Altersarmut ist also schon heute
ein Problem. Genau das Problem will die Linke lösen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die einen spüren die Altersarmut Monat für Monat,
wenn sie feststellen müssen, dass das Geld vorne und
hinten nicht reicht. Die anderen spüren die Altersarmut
als Furcht vor einer ungewissen Zukunft; denn sie wis-
sen, dass aus einem langen Arbeitsleben mit schlecht
bezahlten Jobs, mit Leiharbeit und immer wieder unter-
brochenen befristeten Beschäftigungsverhältnissen oder
unfreiwilliger Teilzeitarbeit kein Anspruch auf eine aus-
kömmliche Rente entsteht. Diejenigen, die lange Jahre
arbeitslos sind oder waren, wissen genau, dass ihnen die
Altersarmut droht, weil für Langzeiterwerbslose nur
niedrige oder dank CDU/CSU und FDP nun gar keine
Beiträge mehr an die Rentenversicherung überwiesen
werden.

Aber auch wer lange Jahre Beiträge eingezahlt hat,
macht sich Sorgen, weil die Renten der Neurentnerinnen
und Neurentner von Jahr zu Jahr sinken. Selbst für Men-
schen, die 35 Jahre und länger erwerbstätig waren und in
die Rentenkasse eingezahlt haben, sinkt die Rente. Wer
vor zwölf Jahren nach langjähriger Versicherung neu in
Rente ging, erhielt im Durchschnitt noch 1 020 Euro
Rente. 2010 erhielten solche Neurentnerinnen und Neu-
rentner im Durchschnitt nur noch eine Rente in Höhe
von 919 Euro. Bei den Frauen waren es nur 597 Euro.

Nach den geltenden Gesetzen wird das Rentenniveau
weiter sinken. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen
endlich wieder ein Rentensystem, das den Menschen die
Angst vor der Zukunft nimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, eine gute Rentenpolitik
muss an zwei Punkten gemessen werden: Die gesetzli-
che Rentenversicherung muss zum einen den einmal
durch gute Arbeit erreichten Lebensstandard sichern und
zum anderen die Menschen zuverlässig vor Altersarmut





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


schützen. Beides schafft die gesetzliche Rente schon
heute nicht – von morgen oder übermorgen ganz zu
schweigen. Wir brauchen also eine grundlegende Re-
form der gesetzlichen Rentenversicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb schlägt die Linksfraktion vor, die gesetzliche
Rentenversicherung zu einer solidarischen Rentenversi-
cherung auszubauen, die den Lebensstandard sichert und
die eine solidarische Mindestrente enthält. Denn die
Linke will, dass niemand im Alter von weniger als
900 Euro leben muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesetzliche
Rente soll den einmal erreichten Lebensstandard wieder
sichern. Das bedeutet aber, dass jede Frau und jeder
Mann ganz realistisch auch die Möglichkeit haben muss,
sich einen guten Lebensstandard erarbeiten zu können.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Nur so ist eine im Kern lohnbezogene Rente auch sozial
gerecht.

Viele Menschen haben diese Chance aber nicht. Sie
sind bereits vor dem Rentenalter arm, und wenn wir
nichts ändern, werden sie es wahrscheinlich auch im
Rentenalter bleiben. Das gilt insbesondere für diejeni-
gen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wie zum
Beispiel Alleinerziehende ohne Kinderbetreuung, Be-
schäftigte, die zu miesen Konditionen und niedrigen
Löhnen arbeiten müssen, Hartz-IV-Betroffene, die lange
Zeit keinen Job finden, oder Menschen, die aus gesund-
heitlichen Gründen nur eingeschränkt oder gar nicht
mehr arbeiten können, die also erwerbsgemindert sind.
Für sie alle müssen wir dringend etwas tun. Denn auch
sie haben ein Recht darauf, in Würde alt zu werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, allen sozial denkenden
Menschen muss es doch darum gehen, Armut gar nicht
erst entstehen zu lassen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Armut in der Erwerbsphase zu bekämpfen, hilft, Armut
im Alter zu vermeiden.

Jede moderne Alterssicherungspolitik muss darum
am Arbeitsmarkt ansetzen, deswegen sagt die Linke:
Wer von Altersarmut spricht, darf zu prekärer Beschäfti-
gung, also zu schlechter und unsicherer Arbeit, nicht
schweigen. Hier müssen wir ran.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, das, was die Menschen
brauchen, ist gute Arbeit. Gute Arbeit ist eine Beschäfti-
gung, die sicher, geregelt und sozial geschützt ist und die
vor allem so gut bezahlt wird, dass man in Vollzeit auch
davon leben kann. Darum brauchen wir einen flächende-
ckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro
brutto in der Stunde.


(Beifall bei der LINKEN)


Darum muss der soziale Schutz auch für die Minijobs
gelten, deshalb soll künftig jede Stunde Erwerbsarbeit
sozialversicherungspflichtig sein und für die Rente zäh-
len. Das nützt vor allem den Frauen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gute Arbeit bedeutet auch, dass Frauen endlich nicht
nur genauso viel verdienen wie die Männer, sondern
dass sie das auch bekommen, und dass Männer und
Frauen Familie und Beruf wirklich miteinander verein-
baren können.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, eine gute, den Lebensstan-
dard sichernde Rente ist ohne ein vernünftiges Siche-
rungsniveau nicht möglich. Die Rentenkürzungen der
vergangenen Jahre müssen einmalig ausgeglichen und
die Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel gestrichen
werden. Nach mehr als 20 Jahren deutsche Einheit ist es
höchste Zeit, die Prinzipien „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ und „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“
umzusetzen und das Rentenniveau Ost endlich auf das
Westniveau anzuheben.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach allem, was wir wissen, sind die Ostdeutschen in
Zukunft besonders von Altersarmut bedroht, und darum
ist die Angleichung an das Westniveau besonders wich-
tig.

Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück. Das wäre ein
echter Beitrag zur Lebensstandardsicherung und zur Ar-
mutsvermeidung.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer bereits heute auf
ein Leben voller Unsicherheit und Erwerbslosigkeit zu-
rückblicken muss, sieht in einer den Lebensstandard si-
chernden Rente kein Versprechen, sondern eine Drohung.
4,6 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor,
und für viele von ihnen ist die Sicherung des Lebensstan-
dards gleichbedeutend mit Altersarmut. Deswegen wol-
len wir den Solidarausgleich in der gesetzlichen Rente
stärken und zum Beispiel die Rente nach Mindestentgelt-
punkten für Beschäftigte mit niedrigerem Einkommen
entfristen. Für Hartz-IV-Betroffene sollen wieder Renten-
beiträge in anständiger Höhe gezahlt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Für all diejenigen, die trotz dieser und vieler anderer
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen kein Altersein-
kommen von mindestens 900 Euro erreichen, greift un-
ser Vorschlag der solidarischen Mindestrente. Noch ein-
mal: Die Linke will, dass niemand im Alter von weniger
als 900 Euro im Monat leben muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Min-
destrente soll die Lebensstandardsicherung ergänzen, sie
soll sie nicht ersetzen. Wir Linken fordern seit langem
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Aber
wir wollen keine Gesellschaft von Mindestlohnbezie-





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


henden, sondern wir wollen, dass möglichst viele Be-
schäftigte gute Tariflöhne deutlich darüber bekommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Ziel der Linken sind gute, lohnbezogene und den
Lebensstandard sichernde Renten und Alterseinkom-
men, die weit über der Mindestrente liegen – und das für
möglichst viele Rentnerinnen und Rentner, am besten für
alle. Wir fordern aber sehr nachdrücklich eine solidari-
sche Mindestrente, damit niemand im Alter in Armut le-
ben muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Die heutige lohnbezogene Rente ist an Vorleistungen
geknüpft, die im Kern auf Beiträgen durch Lohnarbeit
beruhen. Das soll auch so bleiben. Es ist so weit in Ord-
nung, wie die Menschen auch die Möglichkeit haben, ei-
ner guten Arbeit nachzugehen. Wenn wir aber Armut be-
kämpfen wollen, sind Vorbehalte fehl am Platz. Darum
soll jede und jeder über 65 die Mindestrente erhalten,
wenn ihr oder sein Einkommen 900 Euro netto unter-
schreitet – ohne Vorleistungen. Vermögen unterhalb
bestimmter Freibeträge wird nicht angerechnet. Bei der
aktuellen Grundsicherung im Alter beträgt der Vermö-
gensfreibetrag nur 2 600 Euro. Das ist eine bedürftig-
keitsgeprüfte Leistung. Nur wer schon sein letztes Hemd
verkauft hat, hat ein Recht auf die Grundsicherung. Das
wollen wir ausdrücklich nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


In der linken solidarischen Mindestrente werden da-
rum Vermögen unterhalb von 20 000 Euro und Erspar-
nisse fürs Alter von 750 Euro pro Lebensjahr ebenso we-
nig angerechnet wie die selbst genutzte Wohnung oder
das Eigenheim bis 130 Quadratmeter Wohnfläche. Die
Mindestrente wird als steuerfinanzierter Zuschlag im
Rahmen der Rentenversicherung verwaltet und als Rente
ausgezahlt. Mindestrentner und Mindestrentnerinnen
werden dann nicht mehr diskriminiert. Sie erhalten wie
ihre Nachbarn und Freunde auch eine Rente.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Bedürftigkeitsprüfung wollen Sie aber schon!)


Das ist wichtig; denn viele Ältere schämen sich, die
Grundsicherung im Alter oder Sozialhilfe zu beantragen.

Karin Schäfer, die 68-jährige Minijobberin, sieht das
auch so. Sie scheut davor zurück, Grundsicherung zu be-
antragen. Sie wolle keine Almosen, sagt sie. Das kann
als falscher Stolz abgetan werden. Das ist aber ver-
schämte Altersarmut. Weder das eine noch das andere
träfe zu, wenn auch in der Rentenpolitik endlich wieder
gälte: Sozial ist, was Würde schafft.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716203300

Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Nächster Redner

für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Karl
Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1716203400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Aus den Erzählungen von
Homer kennen wir die Geschichte des in der Ägäis he-
rumirrenden Odysseus, der der großen Gefahr ausgesetzt
ist, an der Insel der Sirenen, die schöne Schalmeien-
klänge aussenden, vorbeizukommen und darauf herein-
zufallen. Ist man darauf hereingefallen, kostet einen das
Leib und Leben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Antrag der Linken enthält solche sozialpoliti-
schen Schalmeienklänge. Hinter diesen Klängen der
Linken steht ein Weltbild, das in den Abgrund führt – ich
sage das so deutlich –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN: Oh!)


das verführerisch ist und das unseren Wertvorstellungen
nicht entspricht.


(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Ihr Antrag bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Ren-
tenversicherung von einer auf eigener Leistung beruhen-
den Alterssicherung in staatlich finanzierte Abhängig-
keit führt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt doch nicht!)


Das entspricht nicht unserem Menschenbild.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das entspricht auch nicht den Prinzipien, nach denen die
Rentenversicherung aufgebaut worden ist. Und das ent-
spricht auch nicht den geistigen Prinzipien, aus denen
heraus wir als Union Politik gestalten. Für uns gehört es
zur Menschenwürde, dass jeder durch seiner eigenen
Hände und seines eigenen Kopfes Arbeit auch für sein
Alter vorsorgen kann. Im Gegensatz zu Ihren Positionen
ist die betriebliche und die private Vorsorge Bestandteil
der Alterssicherung und keineswegs etwas, was falsch
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716203500

Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Dittrich?


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1716203600

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716203700

Bitte schön, Frau Kollegin.


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716203800

Danke schön, dass Sie mir die Zwischenfrage gestat-

ten. – Sie haben eben von meinem Kollegen Herrn
Birkwald gehört, dass es eine Bevölkerungsgruppe gibt,





Heidrun Dittrich


(A) (C)



(D)(B)


die besonders betroffen ist, nämlich Mütter. Wir wissen,
dass das flächendeckende Kinderbetreuungsprogramm
für Kinder unter drei Jahren gescheitert ist. Sie haben
aber eben gesagt: Jeder und jede sollte mit der eigenen
Hände oder des eigenen Kopfes Arbeit die Rente erar-
beiten können. Wie soll ein Vater oder eine Mutter, der
oder die erzieht, eine Arbeitsstelle annehmen, wenn
keine Kinderbetreuung möglich ist? Können Sie mir sa-
gen, wie er oder sie die Rente erarbeiten soll?


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1716203900

Erstens. Das Programm der Betreuung von Kindern

unter drei Jahren ist nicht gescheitert. Wir erleben einen
gigantischen Ausbau. Das wird weiter gefördert. Dort,
wo es scheitert, liegt es nicht am Bund, sondern an den
Ländern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Auf die Frage der Alterssicherung werde
ich im Rahmen meiner Rede noch eingehen.

Die Rente genießt eine hohe gesellschaftliche Aner-
kennung nicht als Fürsorgesystem, sondern als Solidar-
system. Zurzeit sind, anders als manche Unken rufen,
2,5 Prozent der Rentnerinnen und Rentner auf Grund-
sicherung angewiesen. Dies ist zugegebenermaßen eine
Zahl, die nicht hoch ist, aber jeder einzelne Fall treibt
uns um. Unser Ziel ist, dass im Alter die Gefahr der Ab-
hängigkeit von der Grundsicherung nicht weiter steigt.
Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag verein-
bart, dass in einem Dialogprozess erörtert werden soll,
wie wir dagegen angehen. Entsprechende Schritte sind
eingeleitet.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind.

Besonders betroffen von der Altersarmut sind die Er-
werbsminderungsrentner. Wir wissen, dass etwa 9,5 Pro-
zent der Erwerbsminderungsrentner auf Grundsicherung
im Alter angewiesen sind. Das wollen wir durch höhere
Bewertung der Beitragszeiten abfedern. Wir wollen,
dass diejenigen, die 63 Jahre alt sind und in Rente gehen,
so viel hinzuverdienen dürfen, dass sie das Einkom-
mensniveau der letzten Erwerbsjahre erreichen können.
Ich sage Ihnen ausdrücklich die Unterstützung der ent-
sprechenden Überlegungen der Bundesarbeitsministerin
zu. Diejenigen, die Kinder erzogen haben, wie die von
Ihnen genannte Schäferin, Frau Schäfer – sie war Schä-
ferin, hatten Sie gesagt? Das passt beides –


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie war keine Schäferin! Schäfer war der Name!)


– ach so –, ihre Eltern gepflegt haben, die zwischendurch
erwerbstätig waren und deren Rente noch nicht einmal
das Niveau der Grundsicherung erreicht, müssen so viel
über staatliche finanzielle Mittel hinzubekommen, dass
sie nicht auf die Grundsicherung angewiesen sind, son-
dern dass ihre Rente darüber liegt. Diese Vorstellungen,
die die Bundesarbeitsministerin eingebracht hat, teile ich
ausdrücklich. Der von Ihnen genannten Person würde
das zugutekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Weil sie keine fünf Jahre private Altersvorsorge hat, würde sie gar nichts kriegen!)


Wir stehen zur Rente mit 67 Jahren, die ihre Wirkung
erst 2031 voll erreichen wird. Wir sehen dazu keine Al-
ternative. Nach den europäischen Statistiken sind heute
bereits über 44 Prozent der über 60-Jährigen erwerbstä-
tig. Wir wollen, dass deutlich mehr Ältere das Renten-
eintrittsalter erreichen. Hier sind alle gefordert. Die Be-
triebe und insbesondere die Klein- und Mittelbetriebe
brauchen dabei Unterstützung und Förderung. Das ist
angelaufen. Das findet zurzeit statt. Das Bundesarbeits-
ministerium hat zum Beispiel mit einem Programm wie
INQA und anderen Programmen maßgebliche Unterstüt-
zung auf den Weg gebracht.

Aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind gefordert. Wo sie dabei Unterstützung brauchen,
sollen sie sie bekommen. Wir wollen daher die Möglich-
keiten der Rehabilitation erweitern, indem wir das de-
mografiemäßig anpassen und den Menschen auch die
gesundheitliche Unterstützung für ihre Arbeit gewähren.
Aber alles ist von der wirtschaftlichen Entwicklung ab-
hängig und davon, dass Arbeitsplätze entstehen und er-
halten bleiben; das geschieht in der Wirtschaft. Deswe-
gen ist unser Augenmerk darauf zu richten, dass die
wirtschaftliche Entwicklung beibehalten bleibt, damit
wir all die genannten Aufgaben erfüllen können. Hierzu
gehört allerdings auch die Tatsache – das entspricht der
Wahrheit –, dass die Wirtschaft, ebenso wie alle anderen
Bereiche, einer Entwicklung unterliegt, die wir die de-
mografische Entwicklung nennen. Wirtschaft, Staat, Ge-
sellschaft – sämtliche Bereiche in Deutschland hängen in
wesentlichem Maße von der demografischen Entwick-
lung ab.

Aus diesem Grunde ergeben sich besondere Chancen
für die Älteren am Arbeitsmarkt, weil wir auf sie ange-
wiesen sind, weil wir sie brauchen und weil auch die
Betriebe sie brauchen. Unsere Aufgabe ist es, die
Menschen in Beschäftigung zu halten oder sie in Be-
schäftigung zurückzuführen. Das müssen wir staatlich
unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir diskutieren über Fachkräftemangel – eine Dis-
kussion, die wir uns vor sechs Jahren noch gar nicht hät-
ten träumen lassen. Da haben wir über 5 Millionen Ar-
beitslose diskutiert. Mir ist lieber, wir diskutieren über
Fachkräftemangel als über Arbeitslosigkeit; das will ich
Ihnen deutlich sagen. Genau dieser Fachkräftemangel
führt dazu, dass die Arbeitslosen wieder eine Perspek-
tive haben.

Dass die Rentenversicherung auf einem guten Weg
ist, sehen wir daran, dass wir eine Rücklage von über
24 Milliarden Euro haben. Wir sind guter Hoffnung;
denn der Arbeitsmarkt befindet sich in einer guten Ver-
fassung. Wie die neuesten Zahlen belegen, ist jahreszeit-
lich bedingt eine leichte Erhöhung der Arbeitslosenzah-
len festzustellen. In der Gesamtentwicklung nimmt die





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)


Arbeitslosigkeit jedoch deutlich ab. Die Zahl der Lang-
zeitarbeitslosen ist seit 2006 um über 1 Million gesun-
ken. Das sind die hoffnungsvollen Zeichen, die wir set-
zen.

Unser Menschenbild entspricht nicht dem Rundum-
sorglos-Paket. Unserem Menschenbild entspricht viel-
mehr, dass wir den stärken und fördern, der mit seiner
Hände Arbeit tut, was er kann. Das entspricht unseren
christlichen Wertvorstellungen von Personalität, Solida-
rität, Subsidiarität und Menschenwürde. Das ist etwas
anderes als Sirenenklänge von einer wohlfeilen Gesell-
schaft, in der letztendlich die Menschen ihre Freiheit
verlieren und ihre Verantwortung abgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716204000

Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. – Nächste

Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unsere Kollegin Frau Elke Ferner. Bitte
schön, Frau Kollegin Elke Ferner.


(Beifall bei der SPD)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1716204100

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich

muss sagen, liebe Kollegen und Kolleginnen von den
Linken: Es ist schon sehr mutig, hier einen solchen An-
trag vorzulegen;


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mutig ist das nicht, Unsinn ist das!)


denn der Antrag folgt dem Motto, das Sie immer haben:
Im Himmel ist Jahrmarkt, und gleichzeitig fällt auch
noch Ostern und Weihnachten auf denselben Tag. Über
die Finanzierung Ihrer Wohltaten reden Sie in dem An-
trag überhaupt nicht, verfassungsrechtliche Restriktio-
nen beachten Sie nicht, und der Antrag ist auch in sich
widersprüchlich, Herr Birkwald.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn dieser Antrag Gesetz würde, würden Sie damit
die Lebensleistung vieler Arbeitnehmer und Arbeitneh-
merinnen entwerten. In Ihrem Antrag steht, Sie wollen
allen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt ha-
ben, im Alter oder bei Erwerbsminderung Rentenansprü-
che garantieren, mit denen sie den Lebensstandard ohne
erhebliche Einbußen aufrechterhalten können. So weit,
so gut.

Wenige Zeilen später fordern Sie dann: Niemand soll
im Alter von weniger als 900 Euro leben müssen. Es
geht hier also nicht um diejenigen, die lange eingezahlt
haben,


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die gar nichts eingezahlt haben!)


sondern es geht um alle. Die Voraussetzungen, die zu er-
füllen sind, finde ich schon sehr gewagt, muss ich sagen:
Man muss in Deutschland leben, man muss in einer
Wohnung leben, die nicht größer ist als 130 Quadratme-
ter, man darf nicht mehr als 20 000 Euro Geldvermögen

besitzen, man darf nicht mehr als 48 750 Euro für die
Altersvorsorge zurückgelegt haben, und man darf keinen
Unterhaltsanspruch haben. Eine eigene Beitragsleistung
ist überhaupt nicht notwendig.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau!)


Was heißt das im Klartext? Manches wird klarer,
wenn man es an einem konkreten Beispiel deutlich
macht: Ein selbstständiges Ehepaar, das nicht rentenver-
sichert war und auch sonst keine Vorsorge für eine
monatliche Rente betrieben hat, das aber 40 000 Euro
Geldvermögen ansparen konnte, das ein Altersvorsorge-
vermögen von fast 100 000 Euro besitzt und auch noch
in einer 130 Quadratmeter großen Wohnung lebt, be-
kommt monatlich 1 800 Euro Rente, Jahr für Jahr, und
das steuerfinanziert.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist doch wunderbar!)


Vergleichen wir das mit der Situation des Verkäufers
und der Verkäuferin, die 45 Jahre lang in dem Geschäft
dieses Ehepaars gearbeitet haben, die Beiträge gezahlt,
die deshalb kein Geld übrig hatten, um sich 40 000 Euro
anzusparen, die auch kein Geld übrig hatten, um sich ein
Altersvorsorgevermögen von 100 000 Euro anzusparen.
Wenn man sich anschaut, was dieses Ehepaar, abhängig
vom Tarifvertrag, an Rente bekommt, stellt man fest,
dass beide zusammen zwischen 1 640 und 2 120 Euro
Rente erhalten – gegenüber 1 800 Rente steuerfinanziert,
ohne eine eigene Anstrengung. Was daran gerecht sein
soll, das erschließt sich mir überhaupt nicht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Das ist wirklich eine Entwertung der Lebensleistung.

Man kann das jetzt noch auf die Spitze treiben. Jetzt
nehmen wir einmal denjenigen, der im Ausland sein gro-
ßes Erbe verjubelt hat, im Alter nichts mehr übrig hat
und dann zurück nach Deutschland kommt. Der kriegt
auch noch 900 Euro Mindestrente.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kriegt aber auch eine Grundsicherung!)


Das ist die Politik der Linken. Das wird die Arbeitneh-
mer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland wirklich
freuen. Man sieht es auch schon an der heutigen Beset-
zung: Hier haben offenbar diejenigen in Ihrer Fraktion
gewonnen, die sich für ein bedingungsloses Grundein-
kommen einsetzen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, nein, nein!)


nicht diejenigen, die eher gewerkschaftlich orientiert
sind.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man sich das weiter anschaut, dann erkennt
man: Es ist auch in sich widersprüchlich. Mit 10 Euro
Mindestlohn kommen Sie nach 40 Versicherungsjahren
– Sie wollen ja auch, dass jemand nach 40 Versiche-





Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)


rungsjahren abschlagsfrei in Rente gehen kann – auf
742 Euro Rente, also auf weniger als 900 Euro. Wenn
man 45 Jahre zugrunde legt, kommt man auf 834 Euro;
auch da hat man also noch nicht den Sprung über Ihre
Mindestrente geschafft.

Ich sage Ihnen, was Ihre sogenannte solidarische
Mindestrente bewirkt: Sie privilegiert all diejenigen, die
nicht, wenig, in Teilzeit oder selbstständig gearbeitet
haben und sich, wenn überhaupt, nur in sehr geringem
Umfang an der Finanzierung der Rentenversicherung
durch Beiträge beteiligt haben. Sie benachteiligen mit
Ihrem Vorschlag alle, die lange gearbeitet und wenig
verdient haben. Sie verringern die Akzeptanz der gesetz-
lichen Rentenversicherung bei den Beziehern und Bezie-
herinnen mittlerer Einkommen. Das ist das Ergebnis
Ihres Vorschlages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist nicht solidarisch und schon gar nicht gerecht. Im
Prinzip, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist das nichts
anderes als die sogenannte Zuschussrente von Frau von
der Leyen, nur auf höherem Niveau.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die kriegen nur 17 000!)


– Ich sage doch: „nur auf höherem Niveau.“


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nee, nee, nee!)


Dann komme ich zum Thema: abschlagsfreie Rente
nach 40 Versicherungsjahren, und zwar ohne Mindest-
alter. Die IG Metall fordert, wenn ich es richtig sehe,
eine Rente ohne Abschläge nach 40 Versicherungsjahren
und ab dem 60. Lebensjahr, stellt also zwei Bedingun-
gen. Ihr Vorschlag heißt im Klartext: Wer mit 15 an-
fängt, zu arbeiten, kann mit 55 aufhören. Bei gleicher
Beitragsleistung und gleicher Lebenserwartung bezieht
er oder sie zehn Jahre länger Rente als derjenige oder
diejenige, der und die mit 25 angefangen hat, zu arbei-
ten. Das mag nach Ihrer Auffassung gerecht sein, aber
finanzierbar ist es mit Sicherheit nicht. Da streuen Sie
den Leuten wirklich Sand in die Augen.

Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze mittelfris-
tig aufheben und die Renten derjenigen mit den höheren
Einkommen zwar nicht mehr kappen – das war auch ein-
mal im Gespräch –, aber absenken. Ich halte das verfas-
sungsrechtlich zumindest für bedenklich; es gibt auch
Leute, die das für verfassungswidrig halten. Es ist jeden-
falls nicht gesichert, dass Ihr Vorschlag verfassungs-
gemäß ist. Dabei gehen Sie an ein Grundelement der
gesetzlichen Rentenversicherung heran, nämlich an das
Äquivalenzprinzip. Ich will Sie einmal fragen: Wie wol-
len Sie demjenigen mit dem hohen Einkommen, den Sie
richtigerweise zusätzlich in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung haben wollen, erklären, dass er trotz seiner
hohen Einzahlungen einen geringeren Rentenanspruch
zu erwarten hat? Wenn man umverteilen will, wogegen
ich nichts habe, dann macht man das besser im Steuer-
recht und nicht über die Beiträge in der Rentenversiche-
rung.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen – da wird
wirklich deutlich, dass im Himmel doch Jahrmarkt ist
und Ostern und Weihnachten zusammenfallen –: Es geht
um ihre Forderung, den Rentenwert Ost an den Renten-
wert West anzugleichen, unter gleichzeitiger Beibehal-
tung des Höherwertungsfaktors.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür plädiert die SPD im Ausschuss aber auch!)


Dann muss man sich anschauen, was das in Cent und
Euro bedeutet: Nehmen wir einmal zwei Beschäftigte
hier in Berlin. Beide verdienen je 2 000 Euro brutto. Der
eine wohnt in Ostberlin, die andere wohnt in Westberlin.
Nach 45 Versicherungsjahren hat diejenige in Westberlin
967 Euro Rente und derjenige in Ostberlin 981 Euro
Rente, also schon ein bisschen mehr. Wenn man jetzt
aber Ihrem Vorschlag folgt, bleibt die Rentnerin im Wes-
ten bei 967 Euro Rente; der Rentner im Osten kriegt aber
1 100 Euro Rente, ohne dass er mehr eingezahlt oder
verdient hat; der einzige zusätzliche Verdienst ist die
Geografie, sprich: der Wohnort.


(Max Straubinger [CDU/CSU], an die LINKE gewandt: Sie sind eine Ostpartei!)


Das hat doch mit Gerechtigkeit nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch einmal deutlich machen: Auch im Wes-
ten dieser Republik gibt es Regionen, in denen im Ver-
gleich zum Durchschnittseinkommen in Westdeutsch-
land und auch zu einigen Regionen in Ostdeutschland
unterdurchschnittlich verdient wird.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Saarland!)


– Im Saarland beispielsweise.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716204200

Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischen-

frage von Frau Kollegin Dr. Bunge?


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1716204300

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716204400

Bitte schön, Frau Kollegin.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716204500

Frau Kollegin Flach.


(Zuruf: Kollegin Flach? – Weitere Zurufe)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1716204600

Ferner, so viel Zeit muss sein.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716204700

Frau Kollegin Elke Ferner spricht.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716204800

Ferner, Entschuldigung. Ich war jetzt bei einem ande-

ren Thema, der Organspende, deshalb habe ich gedank-
lich nur halb umgeschaltet.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wahrscheinlich hat sie beim Thema abgeschaltet!)


Könnte bei Ihrem Beispiel – da habe ich nämlich auf-
gehorcht – nicht die Ursache darin liegen, dass die Frau
in der DDR viel länger gearbeitet hat und damit mehr
Entgeltpunkte hat, was natürlich der Frau in der alten
Bundesrepublik auch zu wünschen gewesen wäre, ihr
aber nicht möglich war? Diese hatte unter Umständen
eine ganz andere Familien- und Einkommensstruktur,
weil in den alten Bundesländern zumeist auch andere
Alterseinkünfte und Vermögen eine Rolle spielen. Man
kann hier also nicht, wie Sie es machen, Äpfel mit Bir-
nen vergleichen.


(Beifall bei der LINKEN)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1716204900

Frau Kollegin Bunge, das wird Herr Birkwald Ihnen

wahrscheinlich nachrechnen können; auch ich kann
Ihnen die Berechnung geben. Es geht hier nicht um Ver-
gleiche zurückliegender Erwerbsbiografien, sondern es
geht hier nur um die Tatsache, dass – wenn man bei null
anfängt, es auf 45 Jahre hochrechnet und die Rentenan-
wartschaften Ost und West vergleicht – Sie den Renten-
wert Ost und den Rentenwert West angleichen, also auf
das Westniveau anheben, und gleichzeitig den Höher-
wertungsfaktor hinzunehmen wollen. Es steht aber die
gleiche Arbeitsleistung dahinter. Das mögen Sie glauben
oder nicht. Das ist so. Das ist schlicht und ergreifend
Mathematik.

Aber lassen Sie mich vielleicht noch eines zu dem
Vorwurf sagen, der bei Ihnen angeklungen ist, wir achte-
ten die Erwerbsbiografien der Frauen in Ostdeutschland
nicht. Ich erinnere mich an Diskussionen, die wir kurz
nach der Wende in meinem Landesverband, im Saarland,
hatten. Da war einer Vorsitzender, der auch einmal Vor-
sitzender Ihrer Partei war. Der hat uns immer gepredigt,
es könne doch wohl nicht angehen, dass ein Ehepaar im
Osten ein so viel höheres Renteneinkommen habe als ein
Ehepaar im Westen. Wir haben immer gesagt: Es liegt
vielleicht daran, dass die Frauen im Osten im Gegensatz
zu den Frauen im Westen eine durchgängige Erwerbs-
biografie und deshalb eine höhere eigenständige Renten-
anwartschaft hatten. Dieser Mann hieß Oskar Lafontaine
und war bis vor kurzem Ihr Parteivorsitzender. Ich
glaube, Sie brauchen uns hier keinen Nachhilfeunterricht
in der Frage der Anerkennung der Lebensleistungen der
Frauen im Osten zu geben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716205000

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, erteile

ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen
Matthias Birkwald.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716205100

Frau Kollegin Ferner, Sie haben die Finanzierung

angesprochen. Dazu muss man deutlich sagen: Wir müs-
sen entscheiden: Wollen wir Menschenwürde an der
Kassenlage oder an einem menschenwürdigen Bedarf
ausrichten?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das muss man doch nicht ablesen, die Kurzintervention!)


Die Linke hat sich klar entschieden: Ein menschenwür-
diges Leben im Alter darf nicht von der Kassenlage
bestimmt werden. Das ist der erste Punkt.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann haben Sie in Ihren Kritikpunkten vergessen zu
erwähnen, dass wir in unserem Antrag vorgeschlagen
haben, eine Erwerbstätigenversicherung einzuführen,
das heißt alle, die in irgendeiner Weise erwerbstätig sind,
einzubeziehen. Dazu gehören nicht nur Pflegende und
Erziehende; dazu sollen auch Politikerinnen und Poli-
tiker, wir Abgeordnete, Ministerinnen und Minister, ge-
hören, außerdem Selbstständige und Beamtinnen und
Beamte. Wir möchten langfristig alle in die gesetzliche
Rentenversicherung einbeziehen, selbstverständlich
auch die Erwerbslosen. Deswegen nennen wir sie „soli-
darische Rentenversicherung“. Das war der zweite
Punkt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wo haben Sie da das Geld her?)


Drittens. Die Beitragsbemessungsgrenze haben Sie
angesprochen. Selbstverständlich ist Art. 20 des Grund-
gesetzes – wir sind ein Sozialstaat – die Grundlage dafür,
dass wir unten und oben solidarisch sind und die Renten-
ansprüche bei mehr als dem Doppelten des Durch-
schnitts abflachen können. Ich bin gern bereit, mit einem
solchen Vorschlag bis vor das Bundesverfassungsgericht
zu gehen, und ich bin ziemlich sicher, dass wir da Recht
bekommen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Viertens. Am 9. November 1989 ist nachmittags etwas
geschehen, das so bedeutend war, dass wir alle wissen,
wo wir an diesem Tag gewesen sind. – Am Vormittag
wurde im Deutschen Bundestag, damals noch in Bonn,
eine Debatte über eine Rentenreform geführt. Meine
Vorvorgängerpartei saß da noch nicht im Bundestag.
Aber alle anderen Parteien im Bundestag waren sich
damals einig, dass der Beitragssatz für die Rente bis zum
Jahr 2030 bis zu 28 Prozent betragen könnte. Damals sah
man darin kein Problem. Der Unsinn mit dem Dogma
der Beitragssatzstabilität, der von der Weltbank kam,
kam erst später.

Moderate Beitragssatzsteigerung bei gleichzeitigem
Wirtschaftswachstum und bei steigender Arbeitsproduk-
tivität – das ist sehr wohl möglich. Deswegen kann man
sehr wohl davon ausgehen, dass die Beiträge moderat
steigen, und kann auch Steuerzuschüsse einbeziehen,
wie das die Bundesministerin bei der Zuschussrente vor-
sieht. In dem Steuerkonzept, das wir vorgelegt haben, ist
einiges an Ideen enthalten, was man mit Vermögen- und
Erbschaftsteuer und Ähnlichem machen kann.





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu dem
machen, was Sie und auch der Kollege Schiewerling zu
den drei Säulen gesagt haben. Riester ist ein Flop. Das
wissen Sie alle; das steht in jeder Zeitung. Da ist sogar
der Sparstrumpf besser. Sie müssen schon über 90 wer-
den, in manchen Rechnungen sogar 128, damit Sie eine
anständige Rendite von 5 Prozent bekommen. Ich erin-
nere daran: Als Riester eingeführt wurde – ich habe es
hier vorliegen –, wurden 3,25 Prozent Rendite verspro-
chen. Seit 1. Januar 2012 sind gesetzlich 1,75 Prozent
festgelegt. Riester ist also Unsinn.


(Beifall bei der LINKEN)


Zu der betrieblichen Altersvorsorge. Die haben im Osten
gerade einmal 35 Prozent und im Westen 55 Prozent der
Beschäftigten.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716205200

Ihr Schlusssatz, bitte.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716205300

Ich komme zum Schluss. – Man sieht: Es sind ins-

gesamt weniger als die Hälfte. Also: Die Drei-Säulen-
Theorie funktioniert nicht.

Mein letzter Satz. Was die Legitimation der Renten-
versicherung angeht, so glaube ich: Wenn jeder Beschäf-
tigte, egal, was er oder sie verdient, davon ausgehen
kann, im Alter eine anständige Rente zu bekommen, die
in der Nähe oder oberhalb der Armutsgrenze liegt, dann
stärkt das die Legitimation der gesetzlichen Rentenver-
sicherung und schwächt sie nicht. In 28 von 30 OECD-
Staaten geht das auch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716205400

Zur Antwort gebe ich der Kollegin Elke Ferner das

Wort.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Darauf kann man nichts antworten!)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1716205500

Doch, darauf kann man antworten; darauf muss man

sogar antworten. Denn dadurch wird der Unterschied,
der vorhanden ist, deutlich, und ich bin froh, dass er
offenkundig wird.

Es geht ein Stück weit um Gerechtigkeit. Diejenigen,
die 30, 40 oder 45 Jahre gearbeitet haben, die keine
Möglichkeit hatten, sich der Rentenversicherungspflicht
zu entziehen, können es nicht einsehen und werden es
nicht einsehen, dass diejenigen, die im Extremfall null
an Beitragsleistung erbracht haben, 900 Euro Rente
bekommen. Das kann nicht gerecht sein, und das wird
von der Mehrheit der Bevölkerung auch nicht als gerecht
empfunden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Der zweite Punkt ist die Finanzierung. Wofür Sie
Geld ausgeben, ist Ihre Sache. Es ist auch Ihre Sache,
welche Schwerpunkte Sie setzen. Aber Sie sollten dem
staunenden Publikum schon einmal erklären, woher das
Geld denn kommen soll. Es ist Ihnen ja völlig unbenom-
men, Milliarden für Ihr Programm auszugeben, aber
schreiben Sie in Ihrem Antrag doch auch, wie Sie das
finanzieren wollen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das steht doch drin!)


– Nein, es steht in dem Antrag nicht drin, Frau Enkelmann.
Man sollte den Antrag schon gelesen haben. Es ist kein
einziger Finanzierungsvorschlag enthalten.

Allein die Tatsache, dass man die Rentenversicherung
zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln
will, hilft auch nicht weiter. In Ihrem Antrag wird vorge-
schlagen, in einem ersten Schritt die Selbstständigen, die
ja nicht in einem anderen Versorgungssystem sind, mit
einzubeziehen. Das heißt, das ist ein Prozess und wird
nicht auf Knopfdruck passieren. Aber, Leute: Die haben
doch auch Ansprüche, wenn sie in die Rentenversiche-
rung einzahlen. Diese Einbeziehung bringt vielleicht für
den Moment eine Verbesserung der Liquidität der Ren-
tenkasse,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


aber à la longue entstehen auch Ansprüche. Insofern
sollte man mit der gebotenen Redlichkeit an dieses
Thema herangehen.

Man kann sich für das eine oder andere entscheiden;
das muss jede Partei und jede Fraktion für sich selber
entscheiden. Aber ich erwarte, dass dann auch jede Frak-
tion klar und deutlich die Hausnummern benennt: was es
kostet, wem es nützt und wem es schadet. Auf alle Fälle
schadet Ihr Vorschlag der Akzeptanz der deutschen Ren-
tenversicherung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716205600

Wir setzen die Debatte in der Reihenfolge fort.

Nächster Redner für die Fraktion der FDP: unser Kol-
lege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1716205700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herzlich willkommen zur sozialpolitischen Debatte am
Donnerstagvormittag. Ich freue mich, dass wir heute,
wie in fast jeder Sitzungswoche, Gelegenheit zum
Austausch unserer Ansichten dazu haben. Heute geht es
um das Thema Rente. Allerdings – das ist die Besonder-
heit – richtet sich der Angriff der Linken heute nicht ge-
gen die Regierung, sondern gegen Rot-Grün, also gegen
die Fraktionen, die in ihrer Regierungszeit aus Sicht der
Linken besonders Schreckliches getan haben.





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)



(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl wahr!)


Angesichts des bisherigen Verlaufs der Debatte bin
ich etwas ratlos, was ich jetzt noch sagen soll;


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei 3 Prozent kann man auch nicht viel sagen!)


denn ich muss der Kollegin Ferner zu meiner eigenen
Überraschung in vielem, fast allem beipflichten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen will ich Sie, Herr Birkwald, mit ein paar
grundsätzlichen Anmerkungen versorgen.

Aus der Überschrift Ihres Antrages kann man schlie-
ßen, dass es Ihnen darum geht, die Rentenversicherung
zu stärken. Wenn man sich Ihren Antrag näher ansieht,
muss man aber feststellen, dass Sie das Thema verfehlt
haben. Ihr Antrag ist vollkommen unausgegoren; das hat
schon die Kollegin Ferner zu Recht gesagt. Das, was Sie
hier vorgelegt haben, taugt nicht und ist in jeder Hinsicht
unfinanzierbar. Sie verwechseln da etwas: Die gesetz-
liche Rentenversicherung ist vom Wesen her kein sozial-
politischer Reparaturbetrieb, sondern es handelt sich
hierbei um eine Versicherung, die konsequent nach dem
Äquivalenzprinzip organisiert ist. Das heißt: Renten
werden entsprechend den vorher erbrachten Leistungen
gezahlt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das muss doch nicht so bleiben!)


Frau Ferner hat Ihren Vorschlag richtig durchgerechnet.
Angesichts dessen, was Sie vorschlagen – 900 Euro
Grundrente


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mindestrente! Grundrente ist etwas ganz anderes!)


und Wohngeld on top, auch für eine 130 Quadratmeter
große Wohnung, auch für Wohnungen in teuren Lagen –,
kann man sich nur an den Kopf greifen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Birkwald, wer die Rente stärken will,
der muss auf die Finanzen achten. Das tun wir. Wir hat-
ten Ende letzten Jahres eine Nachhaltigkeitsrücklage in
Höhe von 25 Milliarden Euro – das war ein neuer
Rekordstand –; das entspricht 1,5 Monatsausgaben. Wer
die Rente stärken will, muss darauf achten, dass mehr,
möglichst viele Beitragszahler in die gesetzliche Renten-
versicherung einzahlen. Das tun wir. Wir haben einen
Rekordstand bei der sozialversicherungspflichtigen Be-
schäftigung in Deutschland. Wer die Rente stärken will,
der muss die Balance zwischen den Generationen wah-
ren. Deswegen sage ich Ihnen: Ihre Hetze gegen die
„Rente erst ab 67“, wie Sie immer sagen, ist vor diesem
Hintergrund wirklich vollkommen unangemessen. Wir
müssen die Belastungen zwischen den heutigen Bei-
tragszahlern, den heutigen Rentnern und vor allen
Dingen denen, die in den Jahren 2030 und 2035 Beiträge

zahlen, ausjustieren. Dazu leistet Ihr Vorschlag keinen
Beitrag.

Ich glaube, die Rente ab 67, die wir stufenweise und
nicht schlagartig im Jahr 2012 einführen, wird akzep-
tiert, wenn sie gut adjustiert ist und wenn man den
einzelnen Versicherten Möglichkeiten für flexible Über-
gänge bietet. Das wollen wir. Das hat die FDP-Bundes-
tagsfraktion in diesem Hause schon sehr früh vorge-
schlagen. Allerdings – auch das gehört zur Ehrlichkeit –
ist in einem äquivalenzorientierten Rentenversiche-
rungssystem ein vorzeitiger Renteneintritt ohne
Abschläge schlicht und einfach nicht denkbar. Das
würde zu Beitragsungerechtigkeiten und Verzerrungen
führen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das gab es doch alles schon einmal, Herr Kollege!)


Das passt mit unserem heutigen Rentensystem nicht zu-
sammen, Herr Kollege Birkwald.

Sie sprechen die Altersarmut an. In diesem Zusam-
menhang will ich eines sehr deutlich sagen: Wir haben
heute etwa 3 Prozent Rentner, die von Altersarmut be-
droht sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 14!)


– 3 Prozent.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In der Grundsicherung! Aber 14,1 Prozent sind von Altersarmut bedroht!)


– In der Grundsicherung. Genau. Das ist die Zahl, die ich
meine. – Dieses Problem wird sich verschärfen. Ich
glaube aber, dass man sagen kann, dass die gesetzliche
Rente für die allermeisten auch in Zukunft einen
Armutsschutz darstellen wird. Ich glaube, dass die aller-
meisten Menschen auch in Zukunft aufgrund ihrer ge-
setzlichen Rente in Kombination mit Bezügen aus ihrer
betrieblichen und privaten Altersvorsorge ein hohes,
ausreichendes Alterseinkommen erzielen werden.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja gut! Dann kostet die Mindestrente ja nicht so viel! Herr Kolb, Sie widersprechen sich!)


Wer hier etwas anderes erzählt, betreibt ein Geschäft mit
der Angst. Vor allen Dingen arbeitet er gegen die Säulen
der Rentenversicherung in der Form, in der sie heute be-
steht. Diese Säulen sollten aus unserer Sicht gestärkt und
nicht geschwächt werden.

Herr Kollege Birkwald, ich will Sie auf einen Denk-
fehler hinweisen. Ich glaube, dass die Frage, ob jemand
überhaupt einen Arbeitsplatz hat, für die zu erwerbenden
Altersansprüche wesentlich entscheidender ist als die
Entlohnung für diese Arbeit. Ich möchte diese Angele-
genheit nicht kleinreden; Ihre radikalen arbeitsmarkt-
politischen Vorschläge bergen aus unserer Sicht aber die
große Gefahr, dass sehr, sehr viele Menschen ihren
Arbeitsplatz verlieren. Dann stünden sie schlechter da,
als das heute der Fall ist.

Dieses System, das Rot-Grün, also die von Ihnen
heute Attackierten, eingeführt hat, dass jeder privat leis-





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


ten soll, was geht, und der Staat ergänzend etwas hinzu-
gibt, hat sich, glaube ich, bewährt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Fragen Sie mal die Betroffenen!)


Das ist einer der Gründe dafür – das sage ich durchaus
anerkennend an die Adresse der Kollegen von SPD und
Grünen –, dass wir heute ein derart hohes Beschäfti-
gungsniveau in Deutschland haben. Ich bedaure nur,
dass SPD und Grüne zu ihren früheren Erkenntnissen
mittlerweile nicht mehr stehen und das System radikal
zurückbauen wollen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was? Davon habe ich noch nichts bemerkt!)


Herr Kollege Birkwald, ich will mit einem Beispiel
des Kollegen Haustein enden. Er hat mir vorhin zugeru-
fen, wie viel Rente seine Mutter, die in der DDR drei
Kinder großgezogen hat, bekam. Das waren 312 Ost-
Mark, Herr Kollege Birkwald.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was hat sie an Miete gezahlt?)


Nach der Wende waren das 1 500 DM, also in heutiger
Währung 750 Euro.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was hat Sie für die Krankenversicherung gezahlt? Das war wesentlich weniger!)


Wenn die zwischenzeitlich vorgenommenen Erhöhungen
hinzugerechnet würden, läge das deutlich über dem Satz,
den Sie fordern. Deswegen ist das nicht glaubhaft, was
Sie hier vortragen. Heute, da Geld für Sie keine Rolle
spielt – jedenfalls solange Sie nicht regieren, und das
wird auf absehbare Zeit der Fall sein –, wollen Sie uns
vorschreiben, was zu tun ist. Als Ihre Vorgängerpartei
regiert hat, hatten Sie hinreichend Gelegenheit, ein
hohes Versorgungsniveau, ein Paradies auf Erden, zu
schaffen. Sie haben es nicht geschafft; Sie haben versagt.
Deswegen hätten Sie heute besser geschwiegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716205800

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Herr
Kollege.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kolb sagte gerade, dass wir hier regelmäßig über
sozialpolitische Themen diskutieren. Das ist richtig. Das
Problem ist aber, dass das immer auf Initiative der Oppo-
sition geschieht. Man hat den Eindruck, dass im Ministe-
rium gar nichts mehr gemacht wird und auch von den
Regierungsfraktionen in dieser Hinsicht überhaupt
nichts mehr kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Falscher Eindruck! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In der letzten Sitzungswoche kam zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung ein neues Gesetz! Aber da waren Sie nicht da!)


– Das letzte sozialpolitische Thema, das hier von Ihnen
angegangen wurde, war die landwirtschaftliche Sozial-
versicherung. Aber das war vor allen Dingen eine Initia-
tive der Agrarpolitikerinnen und Agrarpolitiker.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, Nein!)


Daran hat das Arbeitsministerium relativ wenig Anteil
gehabt. Insbesondere zum Thema Altersarmut kam in
den letzten Monaten nichts, aber überhaupt nichts. Es ist
sehr einfach, über den zugegebenermaßen nicht sehr gu-
ten Antrag der Linken herzuziehen. Aber es gibt keine
Alternative vonseiten der Regierungsfraktionen, und
auch von der SPD kam nichts außer heißer Luft.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Kommt noch! Wir haben ja noch vier Redner!)


Herr Kolb, Sie meinten, Altersarmut sei heutzutage
kein Problem. Das stimmt nicht. Es ist mittlerweile
höchste Eisenbahn, auf diesem Gebiet etwas zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Es ist lange Zeit gelungen, zu erreichen, dass das Ein-
kommen der älteren Bevölkerung nicht oder kaum unter
dem Einkommen der Jüngeren lag. Das hat sich mittler-
weile geändert. Noch 2003, also zu rot-grüner Regie-
rungszeit, hatten die über 65-Jährigen in Westdeutsch-
land immerhin ein Einkommen von 98 Prozent des
Durchschnittseinkommens; in Ostdeutschland waren es
95 Prozent. 2008 waren es im Westen nur noch 95 Pro-
zent, also schon 3 Prozentpunkte weniger. Im Osten ging
der Wert sogar auf 87 Prozent zurück, was noch einmal
deutlich macht, dass insbesondere für Ostdeutschland
etwas zu tun ist. Bemerkenswert ist auch, dass der Zahl-
betrag der Zugangsrenten von 2000 bis 2010 real um
sage und schreibe 16,6 Prozentpunkte gesunken ist. Das
zeigt, welche Entwicklung wir vor uns haben. Auch die
Altersarmut nimmt zu. Auf Basis der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe 2008 liegt die Armutsrisikoquote
der Älteren mittlerweile wieder über dem Durchschnitt
der Gesamtbevölkerung. Bei anderen Studien liegt sie
knapp unter dem Durchschnitt. Man kann also nicht
mehr behaupten, dass Altersarmut in Deutschland kein
Problem ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Leider! Aber so ist das!)


Die Altersarmutswelle rollt schon jetzt auf uns zu und
wird sich in den nächsten Jahren noch erheblich be-
schleunigen. Deswegen ist es dringend an der Zeit, etwas
gegen Altersarmut zu tun.





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber es geht nicht nur um Altersarmut. Die Menschen
zahlen fast ein Fünftel ihres Einkommens an Beiträgen
in die Rentenversicherung. Wenn sie das Gefühl haben,
dass dann die Rente am Ende nicht einmal reicht, um
den Bezug von Grundsicherung zu vermeiden, bekom-
men wir ein ernsthaftes ökonomisches Problem. Wir
müssen deswegen als Politik gewährleisten, dass die
Menschen für ihre Beiträge eine Gegenleistung erhalten.
Das heißt erstens: Zumindest wer lange eingezahlt hat,
muss eine Rente, die über dem Grundsicherungsniveau
liegt, erhalten. Das heißt zweitens: Wer mehr einzahlt,
muss auch eine höhere Rente bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die
Legitimität und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversi-
cherung aus sozialpolitischen und auch aus ökonomi-
schen Gründen.

Und was macht die Regierung? Vor einem Jahr sollte
eine Kommission zum Thema Altersarmut eingesetzt
werden. Angedacht war April 2011, dies wurde dann auf
den Herbst verschoben. Danach gab es den sogenannten
Regierungsdialog Rente, den manche der Beteiligten
allerdings eher als Regierungsmonolog empfunden
haben. Am Anfang standen drei Vorschläge der Bundes-
regierung. Bis Ende letzten Jahres wurden – weitgehend
hinter verschlossenen Türen – Gespräche geführt. Seit
Anfang dieses Jahres herrscht Schweigen im Walde.
Man hört nichts mehr. Wir haben im Ausschuss diverse
Male nachgefragt, wie weiter diskutiert wird und was
geplant ist. Wir haben keine Antwort bekommen. Staats-
sekretär Brauksiepe hat jedes Mal gesagt, er könne sich
dazu nicht äußern,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Brauksiepe sagt aber nie etwas!)


es gebe Gespräche zwischen den Regierungsfraktionen,
zwischen den Ministerien, zwischen wem auch immer.
Auch der Finanzminister hat wohl ein Wörtchen mitzu-
reden. Dies alles findet nicht öffentlich statt. Aber wir
brauchen endlich eine öffentliche Debatte darüber, wie
wir die Rente armutsfest machen.

Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Sagen Sie end-
lich der Öffentlichkeit, was Sie gegen Altersarmut
machen wollen! Brechen Sie Ihr Schweigen! Sagen Sie
der Öffentlichkeit, was aus der Idee der Zuschussrente
wird! Wird sie, wie Sie das vorgeschlagen haben, einge-
führt oder nicht? Planen Sie jetzt etwas ganz anderes?
Wir hören dazu nichts. Bei diesem Thema muss aber
endlich etwas passieren; das ist wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich finde, das, was die Bundesregierung da treibt, ist ein
echtes Armutszeugnis.

Nun zum Antrag der Linken; um diesen geht es in der
Debatte heute vor allen Dingen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha!)


Die Linken legen immerhin einen Vorschlag vor, wenn
auch einen schlechten. Zunächst zum Positiven: Die
Linke hat erkannt, dass man an mehreren Stellen anset-
zen muss. Einerseits brauchen wir präventive Maßnah-
men – diese fehlen beim Regierungsdialog –,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was heißt „präventiv“?)


um dafür zu sorgen, dass möglichst im Vorhinein eine ei-
gene ausreichende Rente aufgebaut wird. Andererseits
brauchen wir im Nachhinein eine Art Mindestniveau in
der Rente für den Fall, dass diese präventiven Maßnah-
men nicht ausreichen. Dies ist so weit ganz gut gemeint,
allerdings sind die einzelnen Vorschläge sehr schlecht.

Ich kann auf die Vielzahl der Kritikpunkte gar nicht
eingehen; denn das würde meine Redezeit sprengen.
Deswegen konzentriere ich mich auf die sogenannte
Mindestrente, bei der es sich überhaupt nicht um eine
Rente handelt. Es wird eine umfassende Einkommens-
und Vermögensprüfung – wie bei der jetzigen Grund-
sicherung – gefordert. Auch andere Kriterien sprechen
dafür – Kollegin Ferner hat darauf hingewiesen –, dass
es sich dabei um nichts anderes als eine zweite Grund-
sicherung handelt, bei der die Rentenversicherung die
Rolle des Sozialamts übernimmt. Das hat, Frau Ferner,
überhaupt nichts mit einem bedingungslosen Grund-
einkommen zu tun. Dies ist nichts anderes als eine
Grundsicherung de luxe.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sozialhilfe!)


Damit wird ein wesentliches Ziel bei der Schaffung ei-
nes Mindestniveaus in der Rente verfehlt, nämlich den
Grundsicherungsbezug zu verhindern. Würde man
Ihrem Antrag folgen, würden noch viel mehr Menschen
Grundsicherung beziehen und sich dadurch stigmatisiert
fühlen. Es könnte auch verdeckte Armut entstehen.

Sie hatten als Beispiel die Situation von Frau Schäfer
dargestellt. Diese müsste dann erst zur Rentenversiche-
rung, um dort die solidarische Mindestrente zu beantra-
gen, und dann müsste sie entweder zum Wohngeldamt
oder zum Grundsicherungsamt, um Grundsicherung zu
beantragen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Grundsicherungsamt gäbe es dann nicht mehr!)


Nach Ihrem Konzept liegt das Niveau der Grundsiche-
rung bei durchschnittlichen Wohnkosten höher als die
von Ihnen angedachte Mindestrente in Höhe von
900 Euro. Das alles passt überhaupt nicht zusammen.
Diese doppelte Grundsicherung ist völliger Unsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Allerdings ist der Vorschlag der Linken für eine Min-
destrente gar nicht so weit vom ursprünglichen Vor-
schlag der Ministerin für eine Zuschussrente entfernt.
Bei beiden soll eine Bedürftigkeitsprüfung durchgeführt
werden. Mir ist nicht klar: Soll diese Zuschussrente nun
eine Fürsorgeleistung oder eine Leistung der Renten-





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


versicherung sein? Das ist aber nicht der einzige Fehler,
der auf beiden Seiten gemacht wird. Bei der Zuschuss-
rente und auch bei der Mindestrente ist problematisch,
dass die eigenen Ansprüche voll angerechnet werden
sollen. Das ist ökonomisch falsch und auch ungerecht,
weil sich eigene Beitragszahlungen dadurch nicht mehr
lohnen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist falschherum gedacht!)


Das ist auch sozialpolitisch falsch, weil es die soziale
Spaltung verstärkt. Die linke Mindestrente ist, wie ge-
sagt, nichts anderes als eine Sozialhilfe de luxe. Das
reicht nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Wir brauchen eine Garantierente mit einem Mindest-
niveau, das über dem Grundsicherungsniveau liegt, auf
die die Menschen aufgrund ihrer Beitragszahlungen ein
Anrecht haben und die ohne Antrag und ohne umfas-
sende Bedürftigkeitsprüfung zusammen mit der Rente
ausgezahlt wird. Die Garantierente muss so ausgestaltet
sein, dass eigene Ansprüche und Eigenvorsorge zu ei-
nem höheren Einkommen im Alter führen. Das ist not-
wendig, um die Akzeptanz der Rentenversicherung zu
sichern.

Gleichzeitig brauchen wir, um einen Bezug der Ga-
rantierente möglichst zu vermeiden, präventive Maßnah-
men, die dazu führen, dass die Menschen einen ausreichen-
den eigenen Rentenanspruch erwerben. Dazu gehören
Mindestlöhne, höhere Löhne insgesamt, unter anderem
durch Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne,
und eine Eindämmung prekärer Beschäftigungsverhält-
nisse.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine ähnliche Logik!)


Hier sind wir uns mit der Linken von der Tendenz her
durchaus einig, auch wenn es im Detail unterschiedliche
Vorstellungen gibt. Darüber werden wir im Ausschuss
noch reden.

Darüber hinaus wollen wir die Rentenversicherung zu
einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, gehen hier
also weiter als die Linken mit ihrem Vorschlag einer
Erwerbstätigenversicherung. Als erste Schritte sollen
bisher nicht abgesicherte Selbstständige in die Renten-
versicherung einbezogen und Minijobs wieder renten-
versicherungspflichtig werden. Für Arbeitslose müssen
wieder Beiträge gezahlt werden. Last, but not least wol-
len wir die eigenständige Alterssicherung von Frauen
stärken; auch dies ist ein Punkt, der im Antrag der Lin-
ken völlig fehlt. Durch diese Maßnahmen werden unter-
brochene Versicherungsbiografien geschlossen und ei-
gene Ansprüche aufgebaut, und die Finanzierung der
Rentenversicherung wird auf eine insgesamt nachhalti-
gere Basis gestellt.

Das Wort Finanzierung – das ist schon gesagt worden –
taucht im Antrag der Linken überhaupt nicht auf. Es
wird überhaupt nichts dazu gesagt, was das Ganze kos-
tet. Letztendlich ist der Antrag ein Sammelsurium von

allen möglichen Einzelmaßnahmen, die sehr teuer sind,
die zum Teil nicht zusammenpassen, die widersprüch-
lich sind, die nicht zu Ende gedacht sind und für die Vor-
schläge zur Gegenfinanzierung völlig fehlen.

Wir werden in absehbarer Zeit ein durchgerechnetes
Konzept einer grünen Garantierente vorlegen. Bis dahin
warten wir gespannt, ob die Bundesregierung noch et-
was vorlegt. Vielleicht macht ja sogar einmal die SPD
einen konkreten Vorschlag.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716205900

Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. –

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön,
Kollege Peter Weiß.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1716206000

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland, die
wichtigste Säule der Altersvorsorge der Deutschen, steht
zu Beginn des Jahres 2012 besser da, als wir je gedacht
haben. Wir haben zurzeit eine Rücklage, also ein Plus
auf dem Rentenkonto, in Höhe von mehr als 1,4 Monats-
ausgaben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bei Herrn Kolb waren es 1,5!)


Im vergangenen Jahr hat die Rentenversicherung ein
Plus von 4,6 Milliarden Euro gemacht. Dies wird dazu
führen, dass Rentenanpassungen, sprich Rentenerhöhun-
gen für diejenigen, die bereits in Rente sind, wieder in
einem ansehnlichen Ausmaß möglich werden.

Die Absenkung des Beitragssatzes zur Rentenversi-
cherung zum 1. Januar dieses Jahres von 19,9 Prozent
auf 19,6 Prozent ist eine deutliche finanzielle Entlastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie wird üb-
rigens zur Folge haben, dass die Rentenanpassung für
die Rentnerinnen und Rentner im übernächsten Jahr
deutlich höher ausfallen wird, als es ohne Absenkung
des Beitragssatzes der Fall gewesen wäre.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
finde, in dieser Situation können wir mit Recht sagen:
Wir haben die gesetzliche Rentenversicherung, die wich-
tigste Säule der Alterssicherung in Deutschland, sowohl
durch die Reformpolitik der vergangenen Jahre als auch
insbesondere infolge der guten wirtschaftlichen Ent-
wicklung im vergangenen Jahr in einem Ausmaß stabili-
siert, auf das wir stolz sein können. Zu allen Anschlägen
auf die Sicherheit der deutschen Rentenversicherung
muss es ein klares Nein geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der Tat gibt es eine Reihe von neuen Aufgaben. Vor
diesen Herausforderungen stehen wir, weil im Rahmen
der Rentenreform, die in der Regierungszeit von Rot-
Grün durchgeführt wurde, eine Absenkung des Renten-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


niveaus beschlossen wurde – dazu ist es, wie gesagt, un-
ter der Verantwortung von Rot-Grün gekommen –,


(Ottmar Schreiner [SPD]: Wie haben Sie denn damals abgestimmt?)


die zu einigen Problemen geführt hat. Vor diesem Hin-
tergrund danke ich der Bundesministerin für Arbeit und
Soziales, Ursula von der Leyen, dafür, dass sie im ver-
gangenen Jahr eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt
hat, wie wir die bestehenden Probleme angehen können.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, im vergangenen Jahr! Und jetzt?)


– Herr Strengmann-Kuhn, weil wir es mit der Bürgerbe-
teiligung, die die Grünen immer fordern, ernst meinen,
hat die Ministerin zu einem Rentendialog eingeladen, an
dem alle interessierten Verbände und Bürgerinnen und
Bürger teilnehmen konnten.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? Auch Bürger? Daran waren ja nicht mal wir Parlamentarier beteiligt! Das ist doch keine Öffentlichkeit, was Sie da machen!)


Die Koalitionsfraktionen sind derzeit damit befasst, die
Ergebnisse des Rentendialogs gründlich auszuwerten.
Wir gestalten die Rente nicht gegen die Bevölkerung,
sondern wir betreiben Rentenpolitik für die Bevölke-
rung. Deswegen: Ja zum Rentendialog!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ottmar Schreiner [SPD]: Es weiß doch keiner, was Sie da machen! Was kommt denn hinten raus? – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mal wir wissen, was da passiert! Die Bevölkerung weiß das erst recht nicht!)


Wir haben erstens vor, ein wichtiges Prinzip in der
Rentenversicherung zu verankern: Wer ein Leben lang
gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat,
der sollte auch in Zukunft sicher sein, dass er aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung eine Leistung erhält, die
oberhalb der Grundsicherung liegt, dass er also nicht zu-
sätzlich um staatliche Unterstützung bitten muss. Das ist
die Idee, die der Zuschussrente zugrunde liegt.

Herr Birkwald hat gerade beispielhaft das Problem
von Frau Schäfer vorgetragen. Die Lösung dieses Pro-
blems wäre ganz einfach. Er müsste nur zu Frau von der
Leyen gehen und sagen: Frau von der Leyen, ich trage
Ihr Konzept mit.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es gibt doch kein Konzept!)


Frau Schäfer würde dann nämlich ab sofort 850 Euro an
Rente bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, weil sie nicht privat vorgesorgt hat und das auch nicht konnte! Das wissen Sie genau! Das stimmt nicht!)


Kollege Karl Schiewerling hat schon darauf aufmerk-
sam gemacht: Das größte Problem hinsichtlich der dro-
henden Altersarmut ergibt sich bei den Beziehern von
Erwerbsminderungsrente, also bei Menschen, die wegen
Krankheit vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden
mussten. Deswegen wollen wir zweitens den Schutz für
Erwerbsminderungsrentner verbessern, indem wir die
Zurechnungszeit verlängern und die Jahre, in denen sie
schlechter verdient haben, bei der Rentenberechnung
nicht berücksichtigen. Dadurch gewährleisten wir insge-
samt einen besseren Schutz für Erwerbsminderungsrent-
ner.

Drittens wollen wir für all diejenigen, die vor dem Er-
reichen der Regelaltersgrenze aus dem Erwerbsleben
ausscheiden und Rente beantragen oder das Instrument
der Teilrente nutzen wollen, die Hinzuverdienstgrenzen
deutlich erhöhen, um vor allen Dingen den Tarifpart-
nern, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, die
Möglichkeit zu geben, betriebliche Modelle eines glei-
tenden Übergangs aus der Berufstätigkeit in die Rente zu
ermöglichen.

Mit diesen drei Reformvorhaben, die wir als Koali-
tion angehen wollen, werden wir unser Rentensystem
stärken und einen wirksamen Schutz gegen Altersarmut
einbauen. Das ist unser Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was dagegen die Linke vorschlägt, ist nichts anderes
als ein brutaler Anschlag auf die Prinzipien des deut-
schen Rentenversicherungssystems.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist echt Unsinn! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Natürlich, Herr Birkwald!)


Dass künftig jemand, der in die Rentenversicherung ein-
gezahlt hat, die gleiche Rentenzahlung erhalten soll wie
jemand, der nie eingezahlt hat, widerspricht allen Prinzi-
pien der Solidarität und der Gerechtigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das geht in anderen OECD-Ländern doch auch!)


Wir haben in der Vergangenheit im Deutschen Bundes-
tag in der Rentenpolitik oftmals – und das war gut – ge-
meinsam über alle Fraktionen hinweg Beschlüsse ge-
fasst. Warum haben wir das getan? Im Hintergrund stand
für uns: Wir wollen die Leistungen von Menschen, die
arbeiten und in die Rentenversicherung einzahlen, mit
einer anständigen Rente belohnen. Die Rente ist lohn-
und beitragsbezogen. Wer zu dieser Solidarität im Ren-
tensystem nichts beiträgt, der kann auch nicht eine
gleich hohe Rente erhalten wie jemand, der sein ganzes
Leben lang eingezahlt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist aber Peter Weiß bei der Zuschussrente der Fall! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wollen Sie sie verhungern lassen, oder was? So ein Wahnsinn!)





(A) (C)


(D)(B)


Gott sei Dank wird heute einmal deutlich, dass die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland,
die ehrlich arbeiten und in die Rentenversicherung ein-
zahlen,


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Er spricht voll im Stechschritt!)


mit einem brutalen Angriff der Linken zu rechnen ha-
ben,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil wir die Menschen aus der Armut herausholen wollen, ist das ein Angriff?)


die ihre Ehrlichkeit, ihren Gerechtigkeitssinn und ihre
Bereitschaft zur Solidarität in unglaublicher Art und
Weise ohrfeigt. Wir stehen dazu: Die Rentenversiche-
rung muss gerecht und vor allen Dingen solidarisch sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche gilt für den Vorschlag der Linken, dass
die Arbeitnehmer, die im Osten gearbeitet haben, und
die Arbeitnehmer, die im Westen gearbeitet haben und
das Gleiche verdient haben, künftig nicht die gleiche
Rente bekommen sollen – die Forderung, dass sie die
gleiche Rente bekommen, fände ich okay; das würde ich
unterstützen –, sondern dass die Rentner im Osten mehr
Rente erhalten sollen als die im Westen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber die Rentner im Osten haben doch weniger verdient, Herr Kollege!)


Sprich: Die Linke will die deutsche Spaltung nicht been-
den, sondern sie will eine neue Spaltung in Deutschland
einführen. Das weisen wir mit aller Entschiedenheit zu-
rück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche gilt für das Finanzierungskonzept. Letz-
ten Endes geht es nicht um einen Beitragssatz von
28 Prozent für die Rentenversicherung, wie Herr
Birkwald vorgetragen hat. Wenn man das durchrechnet,
dann kommt man vielmehr auf einen Rentenversiche-
rungsbeitrag von über 30 Prozent. Was soll ein junger
Auszubildender denken, wenn er im Job zum ersten Mal
seine geringe Ausbildungsvergütung ausbezahlt be-
kommt und der Beitragssatz für die Rentenversicherung
bei 30 Prozent liegt?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Rechnung hätte ich gerne, Herr Kollege! Schicken Sie mir die Rechnung!)


Mit Generationengerechtigkeit, mit der gleichmäßigen
Verteilung der Lasten auf die einzelnen Generationen hat
das nichts zu tun. Wenn wir ein gesundes, solides und
von der Bevölkerung akzeptiertes Rentensystem haben
wollen, dann muss es gleichmäßige Belastungen und
Entlastungen für alle Generationen geben. Man kann
nicht die Lasten einseitig auf eine Generation verteilen.

Wir sind die Fraktion, die dafür steht: Generationenge-
rechtigkeit ist die Grundlage unseres Rentensystems.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716206100

Das war ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1716206200

Ich will zum Schluss noch eines sagen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716206300

Dann aber ganz zum Schluss.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1716206400

Damit unsere Rentenversicherung auch in Zukunft er-

folgreich und leistungsfähig ist, wäre es schön, wenn wir
in diesem Parlament wieder gemeinsam zu den Prinzi-
pien des deutschen Rentenversicherungssystems stehen
könnten. Dazu fordere ich Sie herzlich auf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716206500

Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialde-
mokraten unser Kollege Anton Schaaf. Bitte schön, Kol-
lege Anton Schaaf.


(Beifall bei der SPD)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1716206600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Peter Weiß, du hast gesagt, dass ihr Rentenpolitik mit
den Menschen macht. Ganz im Ernst: Beim Thema Re-
gierungsdialog wisst nicht einmal ihr in der Koalition,
was am Ende dabei herauskommt, geschweige denn die
Menschen. An der Stelle macht ihr überhaupt nichts.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist offenbar eine geheime Kommandosache, was ge-
rade im Ministerium läuft. Das ist so geheim, dass selbst
ihr nicht wisst, was bei dieser komischen Zuschussrente
am Ende herauskommt. Von daher war das etwas über-
zogen.

Was die Gemeinsamkeiten angeht, haben wir bei den
großen Leitlinien der Rentenversicherung bzw. der Al-
terssicherung der Menschen immer zusammengearbei-
tet. Aber wenn ihr anfangt, bei dieser Zuschussrente ei-
nen individualisierten Teil zur Grundlage dafür zu
machen, dass Menschen eine staatliche Förderung erhal-
ten, dann werden wir das nicht gemeinsam beschließen.
Dabei machen Sozialdemokraten nämlich nicht mit.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und Linke erst recht nicht!)


So einfach ist das.


(Beifall bei der SPD)






Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


Im Übrigen verlasst ihr die Gemeinsamkeiten, die Parität
und Solidarität bedeuteten. Darauf haben wir immer sehr
großen Wert gelegt. Wenn aber die individualisierte
Rente, also die Riester-Rente, Anspruchsvoraussetzung
für die Zuschussrente werden soll, dann werden wir das
auf keinen Fall mitmachen. Dann verlassen wir eben die
gemeinsamen Linien und kämpfen ums Detail.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihr habt doch selber die Riester-Rente eingeführt! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Anton, wir erinnern dich daran!)


Dann zu Ihnen, Kollege Strengmann-Kuhn: Wir ha-
ben uns zur Erwerbstätigenversicherung verhalten. Wir
haben im Plenum auch Vorschläge zur Erwerbsminde-
rungsrente diskutiert. Heute Abend wird es noch um den
Rehadeckel gehen. Wir haben im Plenum eigene An-
träge zur Rente mit 67 eingebracht und zum Thema So-
loselbstständigkeit Position bezogen. Zu sagen, wir hät-
ten nichts zum Thema Rente gemacht, ist absoluter
Unfug.


(Beifall bei der SPD)


In dieser Debatte geht es aber um einen Antrag der
Linken. Wir sind übrigens einer Meinung: Er ist kata-
strophal schlecht. Darum geht es in dieser Debatte. Es
geht nicht darum, ob wir vollendete Konzepte vorgelegt
haben. Ein vollendetes Konzept gibt es auf Ihrer Seite
auch nicht.


(Elke Ferner [SPD]: Das liegt am Fachkräftemangel auf der anderen Seite!)


Ich erinnere mich an das vollendete Konzept, das die
Grünen einst vorgelegt haben. Es war zumindest sehr
überprüfungsbedürftig.


(Beifall bei der SPD)


Herr Birkwald, wenn wir Rentendebatten geführt ha-
ben, insbesondere wenn die Linken sie beantragt hatten,
hat oft Herr Gysi geredet, und ich habe dann immer ge-
sagt: Lasst doch jemanden von eurer Fraktion reden, der
Ahnung von Rente hat. – Diesem Anspruch sind Sie
heute nicht gerecht geworden. Ich weiß nicht, warum.


(Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Vielleicht haben sie niemanden! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So eine Arroganz!)


Denn Sie haben eigentlich Ahnung von Rente.

Ich sage es folgendermaßen: Wie wollen Sie jeman-
dem, der 35 Jahre lang gearbeitet und für jeden ver-
dammten Cent, den er verdient hat, entsprechend in die
Rentenversicherung eingezahlt, sodass er einen Renten-
anspruch von 901 Euro hat, erklären, dass sein Nachbar,
der nie irgendwo eingezahlt hat, 900 Euro bekommt?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil er nach unserem Konzept deutlich mehr als 900 Euro bekäme!)


Diese Debatte halten Sie auf keinen Fall durch. Das ist
auch weder eine gerechte noch eine linke Debatte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In der Rentenversicherung spiegeln sich Lebensleis-
tungen wider. Man kann zwar anderer Meinung sein,
aber dann gilt das, was Sie in Ihrem eigenen Antrag aus-
schließen. Sie wollen keine staatlich verordneten Almo-
sen. Was ist denn eine Regelung, wie Sie sie mit den
900 Euro vorsehen? Das ist eine staatlich verordnete Al-
mosenrente.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Ihr Beispiel von der Rentnerin ist entlarvend. Bei ihr
spiegelt sich die Lebensleistung in der Form wider, dass
die Rente circa 580 Euro beträgt. Sozialdemokraten und
Grüne haben die Grundsicherung im Alter eingeführt,
damit Menschen nicht zu Bittstellern werden, weil sie zu
wenig Rente haben. Jetzt sagen Sie, dass die Frau in Ih-
rem Beispiel keine Almosen will und deswegen die
Grundsicherung nicht beantragen würde. Ob aber je-
mand von 580 Euro durch einen staatlichen Zuschuss
von 100 Euro auf 680 Euro kommt oder ob man bis
900 Euro alimentiert: Die Frau ist am Ende immer Bitt-
stellerin; bei Ihnen ist der Zuschuss nur etwas größer.
Bei Ihnen werden allerdings viel mehr Menschen zu
Bittstellern, da Sie einen Wert von 900 Euro zugrunde
legen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag beträgt im
Moment 800 Euro. Alle Menschen, deren Rente im Be-
reich dieses durchschnittlichen Zahlbetrags liegt, werden
bei Ihnen zu Bittstellern.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unsinn!)


Wenn Sie die Debatte intellektuell redlich führen wür-
den, dann würden Sie über das Leistungsniveau diskutie-
ren, dann würden Sie sagen, dass es falsch ist, das Leis-
tungsniveau weiter abzusenken.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben wir doch gesagt!)


– Ja, aber das korrespondiert in keinster Weise mit Ihrem
Vorschlag einer Grundrente.

Bevor meine Redezeit ganz abgelaufen ist, will ich
noch etwas zum Thema Ost-West sagen. Sie haben na-
türlich recht: Die Regierungsfraktionen hatten sich in ih-
rem Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben, in
dieser Legislaturperiode diesbezüglich etwas zu machen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht gehalten!)


Wir können gemeinsam feststellen, Matthias Birkwald,
dass sie die den Menschen versprochene Ost-West-An-
gleichung in dieser Legislaturperiode nicht umsetzen
werden. An der Stelle wird nichts geschehen. Das





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


müsste die Ministerin den Menschen eigentlich ehrlich
sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben ein Versprechen gebrochen, meine Damen und
meine Herren aus der Regierungskoalition.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr macht doch selber nicht mit! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Macht Sellering denn mit? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sellering mitmacht, machen wir es!)


Herr Birkwald, die Kollegin Ferner hat recht: Nach
Ihrem Modell wird eine Person, die im Osten für die
gleiche Arbeit das gleiche Geld wie eine Person im Wes-
ten bekommt, bevorzugt – das müssen Sie den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern im Westen ehrlich sa-
gen –; denn über den Höherwertungsfaktor haben Sie
kein einziges Wort verloren. Sie haben nur gesagt, die
Rentenwerte sollten angeglichen werden. Sie haben
zwar von gleichem Geld für gleiche Arbeit und gleicher
Rente für gleiche Lebensleistung gesprochen, über den
Höherwertungsfaktor haben Sie aber kein Wort verloren.
Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
im Westen der Republik, dass Sie die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer im Osten der Republik weiter be-
vorzugen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wäre redlich, und dann kann man auch damit umge-
hen.

Der Höherwertungsfaktor ist durch unterschiedliche
Einkommenshöhen begründet; deswegen sei er gerecht.
Ist das Einkommen aber gleich – und der Kollege
Birkwald hat zu Beginn seiner Rede von gleichem Geld
für gleiche Arbeit gesprochen –, dann ist der Höherwer-
tungsfaktor nicht mehr begründbar.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! So ist das!)


Elke Ferner hat schon gesagt, dass wir auch im Wes-
ten der Republik Regionen haben, in denen man nicht so
gut verdient, beispielsweise im Norden der Republik
oder im Saarland. Da wird auch nichts ausgeglichen.

Sie wollen den Charakter der Rentenversicherung
verändern. Sie behaupten zwar, Sie wollten keine Ein-
heitsrente. Aber Ihr Vorschlag ist der erste Schritt zu ei-
ner Einheitsrente.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Wir sind der festen Überzeugung, dass es sehr sinn-
voll ist, dass sich Lebensleistung in der Höhe der Rente
widerspiegelt. Wir wollen niemanden ins Bodenlose fal-
len lassen. Deswegen gibt es die Grundsicherung im Al-
ter. Wir streiten auch gerne über das Rentenniveau und
über die Frage, ob zum Beispiel die Absenkung des Ren-
tenniveaus ursächlich dafür ist, dass mehr Menschen al-

tersarm werden, ob man an dieser Stelle eine Grenze ein-
ziehen muss. Wir streiten gerne über eine nachgelagerte
Höherwertung.

Aber Ihren Weg der Gleichmacherei unterschiedlicher
Lebensleistungen werden wir nicht mitgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716206700

Vielen Dank, Herr Kollege Schaaf. – Bevor ich dem

nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich dem Kolle-
gen Matthias Birkwald das Wort zu einer Kurzinterven-
tion.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716206800

Wer den Antrag gelesen und bei meiner Rede gut zu-

gehört hat, der wird festgestellt haben, dass wir Linken,
erstens, deutlich fordern, dass auf dem Arbeitsmarkt et-
was verändert wird, weil wir selbstverständlich mit Ih-
nen einer Meinung darin sind, dass die Rente nicht das
reparieren kann, was auf dem Arbeitsmarkt schiefgegan-
gen ist. Das muss man erst einmal festhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Wenn Sie die Kürzungsfaktoren aus der
Rentenformel herausnehmen, wenn Sie die Rentenwerte
in einem Schritt um 4 Prozent anheben und all das ma-
chen, was wir vorgeschlagen haben, dann werden dieje-
nigen, die lange Jahre in die Rentenversicherung einge-
zahlt haben, auch eine deutlich höhere Rente als
900 Euro bekommen. Die werden eine Rente von
1 100 Euro und mehr bekommen.

Das heißt, dass wir das Grundprinzip der Äquivalenz
im Bereich der Lebensstandardsicherung nicht antasten.
Aber wir sagen: Wir müssen im unteren Bereich solida-
risch sein und dafür sorgen, dass niemand im Alter in
Armut leben muss. Eine Grundsicherung im Alter, wie
es sie heute gibt, würde es dann nicht mehr geben. Es ist
sehr wohl richtig, dass viele Menschen die Grundsiche-
rung heute nicht beantragen, weil sie sich schämen. Sie
müssten dann, Kollege Schaaf, keine Bittsteller oder
Bittstellerinnen mehr sein; denn die Rentenversicherung
fragt, ob die Rentnerin oder der Rentner über eine ge-
setzliche Rente von zum Beispiel 600 Euro oder mehr
verfügt und ob eine Riester-Rente oder eine betriebliche
Altersvorsorge vorhanden ist. Im Osten müssten 99 Pro-
zent der Menschen antworten: Ich habe nur die gesetzli-
che Rente. Dann würde gesagt: Wenn kein Vermögen in
einer bestimmten Größenordnung oder sonstiges Ein-
kommen vorhanden ist, dann gibt es den Zuschlag.

Je besser die Rente – das hat Kollege Weiß angespro-
chen –, was die Äquivalenzseite anbetrifft, reformiert
wird, umso weniger brauchen wir den Zuschlag der soli-
darischen Mindestrente. Das heißt, wenn wir alle das
Rentensystem armutsfest machen, dann brauchen wir
null Zuschlag und null Mindestrente. Dagegen habe ich
nichts.





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


Ich sage noch einmal: Wir Linken fordern einen Min-
destlohn, und wir fordern eine Mindestrente. Wir wollen
aber keine Gesellschaft der Mindestrentebeziehenden
und der Mindestlohnbeziehenden, sondern eine Gesell-
schaft von Menschen, die mehr verdienen, gute Tarif-
löhne erhalten und eine höhere Rente als die Min-
destrente bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
die Gerechtigkeitsdebatte von den Menschen, die als
Durchschnittsverdienerinnen und Durchschnittsverdie-
ner in Zukunft 36 Jahre werden arbeiten müssen, um
überhaupt einen Rentenanspruch oberhalb der heutigen
Grundsicherung im Alter zu haben, so geführt werden
wird. Deswegen ist es wichtig, dass die Rentenversiche-
rung armutsfest gemacht und gleichzeitig ein Zuschlag
eingeführt wird, wenn dies nicht gelingt.

Ich komme zum Schluss zu den Renten im Osten. Es
besteht heute immer noch ein Lohnunterschied zwischen
Ost und West in Höhe von 11 Prozent. In dem Maße, wie
der Abstand schmilzt, soll auch die Angleichung beim
Hochwertungsfaktor erfolgen. Darin sind wir uns völlig
einig. Wir wollen natürlich nicht, dass in einem Landes-
teil die Renten unter dem Strich höher sind als in dem
anderen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Doch, das wollt ihr, und zwar auf Dauer!)


Die Realität ist aber eine andere. Heute werden den
Ostrentnern bei der Durchschnittsrente im Schnitt
140 Euro im Monat genommen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716206900

Sie kommen jetzt bitte zum Schluss.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716207000

Diese 140 Euro im Monat brauchen die Rentnerinnen

und Rentner im Osten. Deswegen ist es wichtig, dass wir
in einem ersten Schritt die Löhne angleichen. Dann
brauchen wir auch nicht mehr den Hochwertungsfaktor.
Solange die Löhne aber nicht angeglichen sind, ist es nur
gerecht, dass ein Florist oder eine Betonbauerin nach ei-
nem langen Leben für die gleiche Lebensleistung auch
die gleiche Rente erhält. Das werden auch die Menschen
im Westen einsehen. Ich komme aus Köln. Da gibt es
den Satz: Man muss auch jönne könne. – Da bin ich mir
sicher.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt auch den Satz: Et hätt noch immer joot jejange!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716207100

Das Wort zur Antwort hat Kollege Anton Schaaf.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1716207200

Bei vielen Punkten kann ich mich wiederholen.

Matthias Birkwald hat hier in seiner Rede kein Wort zum
Höherwertungsfaktor gesagt. Auch im Antrag steht dazu
nichts.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es! Er drückt sich!)


Was bleibt, ist, was hier gesagt worden ist und was im
Antrag steht. Es ist gesagt worden: gleiches Geld für
gleiche Arbeit, gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.
Zum Höherwertungsfaktor ist hier kein Wort gesagt wor-
den. Ich stelle das nur noch einmal fest.

Das ist jetzt korrigiert. Das nehme ich zur Kenntnis.
Wenn wir bei gleicher Einkommensstruktur gleiche Ren-
tenwerte haben, dann ist das in Ordnung. Das ist keine
Frage. Nur, dann fällt der Höherwertungsfaktor weg.
Das muss man im Osten dann auch sagen. Entweder er
wird beibehalten – dann muss man das im Westen sagen –,
oder er fällt weg, und dann muss man das im Osten sa-
gen. Das gehört zur Redlichkeit.

Was mich am meisten bei der Form der Grundrente,
oder wie auch immer man es nennen möchte, stört, ist,
dass sie zuerst einmal bedingungslos ist. Man braucht
keine eigenen Beiträge eingezahlt zu haben. Das ist der
entscheidende Punkt. Wenn man aber sagt, man müsse
nur das Niveau der Renten anheben, dann muss man
auch dazu sagen, wer das finanzieren soll und wie viel
das kostet. Einfach die Beitragsbemessungsgrenze anzu-
heben, alle Einkommensbezieher in die Rentenversiche-
rung aufzunehmen und die Renten zu deckeln – das kann
man natürlich machen –, reicht nicht, um umzuverteilen
und die Kosten gegenzufinanzieren, die auf uns zukom-
men. Das ist unredlich.

Wenn ich so etwas will, muss ich den Menschen ehrli-
cherweise sagen, dass sie sich mit einem Rentenversi-
cherungsbeitrag von 28 Prozent abfinden müssen, um
solch ein Niveau zu erreichen. Das aber wird nicht ge-
sagt. Weil Frau von der Leyen den Betrag von 850 Euro
genannt hat, muss die Linke sie natürlich überbieten und
900 Euro fordern. Es handelt sich um einen Bieterwett-
bewerb, wobei die Kosten in keiner Weise gegenfinan-
ziert sind und die genannten Summen unrealistisch sind.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716207300

Vielen Dank. – Wir fahren nun in der Reihenfolge un-

serer Wortmeldungen fort.

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön,
Kollege Kober.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1716207400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,
lassen Sie mich zunächst ein Wort an den Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Dr. Strengmann-Kuhn,
richten.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Mann!)


Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben kritisiert, dass die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bisher
noch keinen Entwurf zur Bekämpfung der Altersarmut





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


vorgelegt haben. Ich möchte Sie deshalb doch darauf
hinweisen, dass es Kennzeichen dieser Bundesregierung
und der sie tragenden Koalitionsfraktionen ist, dass wir
sorgfältig nachdenken, den Dialog mit allen Betroffenen
führen, uns gute Lösungen überlegen und dann vor allen
Dingen nachhaltige und belastbare Gesetze dem Hohen
Haus hier vorlegen – im Gegensatz zu Ihnen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Ost/West kommt nichts! Zur Altersarmut kommt nichts!)


Sie erinnern sich vielleicht daran, womit wir in den ver-
gangenen Monaten alles beschäftigt waren: mit der Job-
centerreform, mit Hartz IV, mit der Reform der arbeits-
marktpolitischen Instrumente. Mit all diesen Dingen
mussten wir uns beschäftigen, weil Sie während Ihrer
Regierungszeit hierbei nicht die entsprechende hand-
werkliche Qualität vorgelegt haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb: Wir arbeiten anders. Lernen Sie von uns! Dann
werden auch Sie einmal erfolgreich sein.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie noch andere Punkte? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bei 2 Prozent kann man nicht gerade von Erfolg sprechen!)


Aber jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken. Lieber Matthias Birkwald, es gibt einen gro-
ßen Politiker; der hat einmal gesagt: Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit. – Es ist doch geradezu
erschütternd, mit welcher unglaublichen Hartnäckigkeit
Sie sich diesem doch guten politischen Grundsatz ver-
weigern. All die Maßnahmen in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung, die Sie kritisieren, wie zum Beispiel die
Stärkung der privaten Säule, die Einführung der Riester-
Rente, die Rente mit 67, die Einfügung eines demografi-
schen Faktors, die Einfügung eines Nachhaltigkeitsfak-
tors, haben doch die Vorgängerregierungen nicht aus Jux
und Tollerei ergriffen, sondern deswegen, weil sie auf
eine Notwendigkeit reagieren mussten, die Sie nicht
wegdiskutieren können. Diese Notwendigkeit hat einen
Namen: demografischer Wandel. Demografischer Wan-
del bedeutet, dass sich das Verhältnis von Beitragszah-
lern zu Rentnern immer ungünstiger entwickelt. Das
sage ich auch mit Blick auf die vielen jungen Zuhörerin-
nen und Zuhörer, die heute hier im Saal sind. 1970 wa-
ren es noch fünf Beitragszahler, die eine Rente finanziert
haben, im Jahr 2000 waren es noch drei, und im Jahr
2040 soll das Verhältnis bei eins zu eins liegen.

Wenn wir die gesetzliche Rentenversicherung erhal-
ten wollen, müssen wir steuernd eingreifen. Das, was Sie
vorschlagen, ist unverantwortlich und vor allen Dingen
unbezahlbar.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Stichwort „bezahlbar“ – die Kollegin Ferner hat
schon darauf hingewiesen –: Es ist ja schon erstaunlich,
dass Sie mit keinem einzigen Wort in Ihrem Antrag er-

wähnen, wie Sie das, was Sie da vorschlagen, finanzie-
ren wollen. An einer Stelle gibt es die vage Andeutung;
da fordern Sie eine Mehrbelastung für freie Berufe und
von Menschen mit höherem Einkommen. Sie müssen
aber auch sehen, dass aus einer Mehrbelastung dann
auch höhere Ansprüche entstehen, jedenfalls dann, wenn
wir das Äquivalenzprinzip aufrechterhalten wollen. In-
sofern stellen Ihre Vorschläge nichts anderes als eine
Milchmädchenrechnung dar.

Das ist aber noch nicht alles. Dieser Antrag darf ja
nicht isoliert betrachtet werden. Da wir hier munter Don-
nerstag für Donnerstag über Sozialpolitik diskutieren
– Kollege Kolb hat schon darauf hingewiesen –, wissen
wir, welche weiteren sozialpolitischen Forderungen Sie
erheben: die Anhebung des Arbeitslosengeld-II-Regel-
satzes auf 500 Euro, die mittelfristige Einführung einer
sanktionsfreien Mindestsicherung, die deutliche Erhö-
hung der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik und
einen massiven Ausbau eines öffentlich geförderten Be-
schäftigungssektors.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wünsch dir was! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Alles gute Vorschläge!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ir-
gendwann müssen Sie einmal in der Realität ankommen
und uns sagen, wie Sie diese Menge an staatlichen Aus-
gaben in Zukunft finanzieren wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben ein Steuerkonzept vorgelegt, Herr Kollege!)


– Das Steuerkonzept, das Sie vorgelegt haben, trägt eben
nicht. – Was passiert, wenn für die ganzen Ausgaben, die
Sie sich vorstellen, nicht entsprechende Steuereinnah-
men realisiert werden, sehen wir jetzt gerade in erschre-
ckender Weise am Beispiel der europäischen Finanz-
krise. Das, was Sie hier vorgeschlagen haben, ist schlicht
nicht von dieser Welt. Es ist unverantwortlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
kommen Sie irgendwann einmal in der realen Politik an!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie sind bei 3 Prozent angekommen!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716207500

Vielen Dank, Kollege Kober. – Nächster Redner für

die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Johann
Wadephul. Bitte schön, Kollege Dr. Wadephul.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1716207600

Herr Präsident, wer verfolgt hat, wie Sie dem Kolle-

gen Birkwald eine zweite Möglichkeit gegeben haben,
hier in einer Kurzintervention noch einmal den Versuch





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


zu unternehmen, das Anliegen der Linken zu begründen,
war vielleicht zunächst verärgert. Ich jedenfalls war ei-
gentlich ganz zufrieden. Man hat gemerkt, Herr Kollege
Birkwald – wir haben Sie als einen kompetenten Renten-
fachmann im Ausschuss kennen- und schätzen gelernt –,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


dass Sie eigentlich eine ganz andere Auffassung als die
vertreten, die hier in diesem wirren Antrag niedergelegt
worden ist. Das, was Sie in der Sache mündlich vortra-
gen, passt überhaupt nicht zu dem, was seitens der Lin-
ken niedergelegt worden ist,


(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD])


und insofern anempfehle ich Ihnen erst einmal eine in-
terne Diskussion innerhalb der Fraktion der Linken. Sie
werden sich nicht nur über die Frage, wer Bundespräsi-
dent dieses Landes werden sollte, nicht ganz einig, son-
dern Sie werden sich auch über grundlegende Fragen der
Rentenpolitik nicht einig. Frau Bunge, die das Interesse
an dieser Diskussion mittlerweile verloren und den Saal
verlassen hat, ist möglicherweise die Autorin. Denn die-
ser Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, atmet noch
sehr stark das Gedankengut der Wissenschaft, die Frau
Bunge lange Zeit betrieben hat, und deswegen sage ich
Ihnen: Marxismus-Leninismus führt uns in Deutschland
nicht weiter, auch nicht in der Rentenpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vollkommen zu Recht haben Sie, Herr Birkwald, ge-
sagt, der Kern der Problemlösung sei der Arbeitsmarkt.
Da können wir Ihnen – das muss hier auch einmal gesagt
werden – nur recht geben. Der Arbeitsmarkt ist das
Kernelement, mit dem wir Armut bekämpfen, mit dem
wir den sozialen Ausgleich herstellen, mit dem wir Zu-
friedenheit auch im Alter schaffen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann führen Sie doch den flächendeckenden Mindestlohn ein! Machen Sie doch Minijobs sozialversicherungspflichtig!)


Darüber hinaus ist der Arbeitsmarkt die Grundvorausset-
zung dafür, dass eine Rentenversicherung funktionieren
kann.

Trotz eines harten Winters haben wir einen stabilen
Arbeitsmarkt, und trotz einer Finanz- und Wirtschafts-
krise in ganz Europa verzeichnen wir einen Erfolg auf
dem Arbeitsmarkt in Deutschland, um den uns viele be-
neiden. Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dass
Sie keinen einzigen Satz darauf verschwendet haben,
meine Damen und Herren.

Sozial ist, was Arbeit schafft,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, sozial ist, was gute Arbeit schafft!)


und diese Koalition hat dafür gesorgt, dass wir einen
Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt erleben. Das ist ein
wirklicher Erfolg für die Menschen, und das sichert auch
eine gute Altersvorsorge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Sie wollen doch die Globalisierung!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716207700

Herr Kollege Dr. Wadephul, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1716207800

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716207900

Bitte schön, Frau Kollegin.


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716208000

Sie haben gerade gesagt: Sozial ist, was Arbeit

schafft. – Darf ich Sie einmal daran erinnern, dass es ei-
nen Gleichstellungsbericht der Bundesregierung gibt, in
dem die Vorsitzende des Sachverständigenausschusses
gesagt hat, es sei desaströs, dass es auf dem Arbeits-
markt 400-Euro-Jobs, befristete Stellen und Freiwilli-
gendienste gebe? Keine Frau könne davon eine Rente
aufbauen.

Sie haben sehr zutreffend gesagt – das hat auch mein
Kollege Birkwald gesagt –, dass wir auf dem Arbeits-
markt anfangen müssen. Aber wo sind Ihre Konzepte da-
für, dass erziehende Elternteile auf dem Arbeitsmarkt
Chancen haben?


(Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb ist auch der Ausbau der Kinderbetreuung geboten! Sie bauen aber ab!)


Sie wissen ganz genau, dass die Kinderbetreuungsquote
im Westen der Republik bei unter 30 Prozent liegt. Das
kommt für Frauen und Männer, die Kinder erziehen, ei-
nem Verbot der Vollzeitarbeit gleich. Äußern Sie sich,
bitte schön, dazu.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1716208100

Das mache ich sehr gerne. – Dass Sie mir nun gerade

in dieser Debatte in Anwesenheit der Bundesarbeits-
ministerin Ursula von der Leyen die Gelegenheit geben,
darauf hinzuweisen, dass es Ursula von der Leyen war,
die dafür gesorgt hat, dass in der Bundesrepublik
Deutschland, dass im vereinten Deutschland nun die
Grundlagen dafür gelegt werden, dass die Betreuungs-
quote steigen kann


(Beifall bei der CDU/CSU)


und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser
möglich sein wird, als sie dies unter einer anderen Re-
gierung je war, dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. Das
ist in der Tat ein entscheidendes politisches Verdienst,
das sich mit dem Namen Ursula von der Leyen persön-
lich verbinden lässt, und das setzen wir fort. Das ist nicht
ganz einfach. Denn es muss auch finanziert werden. In-
sofern bedarf es einer gemeinsamen Kraftanstrengung
von Bund, Ländern und Kommunen, der wir uns auch
stellen.





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte Sie allerdings auf Folgendes hinweisen,
Frau Kollegin: Schauen Sie sich bitte einmal in Nachbar-
ländern um.


(Zuruf von der LINKEN)


– Nein, wir verzeichnen jetzt in ganz Deutschland in ei-
nem bekannten Problemmonat wie dem Februar eine
Verringerung der Arbeitslosigkeit um über 6 Prozent.
Das ist ein Erfolg, meine Damen und Herren, und jeder,
der Arbeit gefunden hat – wir haben so viele sozialversi-
cherungspflichtig Beschäftigte wie nie zuvor –, kann et-
was für die Rente tun. Darüber sollten wir uns freuen,
und daher sollten wir diesen Weg auch fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das sage ich nicht ausweichend auf die Frage, dass es
natürlich prekäre Beschäftigung gibt. Diesem Problem
weichen wir nicht aus, und auch Frau Bundesarbeits-
ministerin hat sich hierzu schon öffentlich geäußert.
Darüber hinaus sind wir dabei, für eine feste Lohnunter-
grenze die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzun-
gen zu schaffen, und hoffen, dass wir in dieser Koalition
noch in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebnis
kommen. Da sind wir also auf dem richtigen Weg. Die-
sen sozialpolitischen Fragen weichen wir in keiner
Weise aus.

Zweiter Punkt. Wir sollten die Rentenversicherung,
die wirklich ein Erfolgsmodell ist, nicht schlechtreden.
Die Rentenversicherung ist – darauf haben auch die Red-
ner der sozialdemokratischen Fraktion dankenswerter-
weise hingewiesen – an allererster Stelle eine Versiche-
rung und keine staatliche Wohltätigkeitsinstitution. Sie
lebt davon, dass Menschen Beiträge zahlen. Als Gegen-
leistung für das, was sie eingezahlt haben, bekommen sie
dann im Alter eine Rente.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die sinkt aber von Jahr zu Jahr!)


Lieber Herr Birkwald, wenn Sie sagen, die von Ihnen
geforderte Grundrente in Höhe von 900 Euro


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mindestrente!)


würde nicht zu einer Demotivation der Menschen füh-
ren, dann geht das an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Seien wir doch einmal ehrlich: Wer arbeitet denn
40 Jahre, um am Schluss eine Rente zu bekommen, die
vielleicht 100 Euro über Ihrer Garantierente liegt? Das
demotiviert. Wir müssen doch Anreize dafür geben,
morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und sozialver-
sicherungspflichtig tätig zu sein. Wir dürfen die Men-
schen aber nicht demotivieren, indem wir ihnen verspre-
chen, dass sie am Schluss eine Leistung bekommen, für
die sie heute noch hart arbeiten müssen. Das ist der fal-
sche Weg, den wir nicht mitgehen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die meisten Menschen werden deutlich mehr bekommen! Das habe ich jetzt zweimal gesagt!)


Dritter Punkt. Das mehrsäulige Modell in Deutsch-
land funktioniert. Ich stelle dabei nicht in Abrede, dass
die Riester-Rente nicht die Lösung aller Probleme ist.
Das ist vollkommen klar; auch Sie haben das angedeutet.
Viele Menschen haben einen entsprechenden Vertrag ab-
geschlossen oder betreiben auf andere Art und Weise
privat Altersvorsorge. Ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen – der Kollege Weiß hat vorhin schon darge-
legt, was man da noch ergänzend reformieren kann und
welche Weiterentwicklungen es geben sollte –, dass wir
in Deutschland auf unsere betriebliche Altersvorsorge,
die in Europa ihresgleichen sucht, stolz sein können.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viel Prozent der Menschen haben denn eine?)


Sie sorgt für sozialen Frieden und dafür, dass in den Be-
trieben ein Zusammengehörigkeitsgefühl besteht und
dass unsere Betriebe erfolgreich sind,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viele Menschen haben eine?)


und sie zeigt, dass Solidarität zwischen Menschen im Er-
werbsleben und Menschen, die eine Rente beziehen,
möglich ist. Das ist eine wesentliche Säule unserer Al-
tersvorsorge, auf die wir stolz sind und die wir bewahren
und stärken sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weniger als die Hälfte der Menschen haben eine betriebliche Altersvorsorge!)


Es ist daher verkehrt, Ängste zu schüren, was Sie an
vielen Stellen ihres Antrags tun. Sie verwechseln oft-
mals Armutsgefährdung mit tatsächlicher Armut im Al-
ter und weisen nicht darauf hin, dass in Deutschland
nach wie vor die größte Gefahr dafür, dass viele Men-
schen in der Tat im Alter von Armut bedroht sind, in der
Arbeitslosigkeit besteht. Deswegen sage ich Ihnen: Das
Wichtigste ist, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und dafür
zu sorgen, dass Menschen Arbeit haben.


(Katja Mast [SPD]: Gute Arbeit! – Elke Ferner [SPD]: Existenzsichernde Arbeit!)


Wir dürfen ihnen nicht weitere Sozialleistungen verspre-
chen, die wir am Schluss nicht finanzieren können.

Der Kollege Kober hat gerade auf die Nichtfinanzier-
barkeit Ihrer Vorschläge hingewiesen. Deswegen müssen
Sie in jeder lauteren Debatte zur Kenntnis nehmen, dass
wir im Jahre 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, ei-
nen Bundeszuschuss von 20 Milliarden Euro an die Ren-
tenversicherung gezahlt haben. In diesem Jahr überwei-
sen wir der Rentenversicherung über 80 Milliarden
Euro.

Abschließend will ich zu diesem Punkt sagen: Jeder,
der an dieser Stelle mehr Geld ausgeben will, muss zu-
mindest ansatzweise erklären, an welcher Stelle im Bun-
deshaushalt er das Geld lockermachen will. Darauf blei-
ben Sie jede Antwort schuldig. Angesichts einer
europaweiten Schuldenkrise werden Sie von uns keine
Zustimmung zu Ihrer Schuldenpolitik bekommen.





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)



(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir müssen die Einnahmeseite erhöhen!)


Wir müssen vielmehr unsere Haushalte konsolidieren
und gleichzeitig dafür sorgen, dass Menschen im Alter
und auch in anderen Lebensabschnitten frei von Armuts-
ängsten leben können. Dafür sorgen diese Regierung
und die Koalition mit einer erfolgreichen Arbeitsmarkt-
und Wachstumspolitik. Diese Politik werden wir fortset-
zen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716208200

Vielen Dank, Kollege Dr. Wadephul. – Nächster Red-

ner in unserer Aussprache ist unser Kollege Ottmar
Schreiner für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte
schön, Kollege Ottmar Schreiner.


(Beifall bei der SPD)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1716208300

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich muss achtge-

ben, wenn Kollegen der Koalition vor mir gesprochen
haben; denn das löst bei mir immer automatisch An-
griffsreflexe aus.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was? – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Aber heute nicht!)


Diesem Impuls will ich heute einmal nicht nachgeben,
weil es um einen Antrag der Linksfraktion geht.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Noch einmal Glück gehabt! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Da haben wir aber Glück gehabt!)


Ob Sie wirklich Glück gehabt haben, da bin ich mir
nicht sicher.

Einige Redner haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass es zwischen dem Antrag der Linkspartei und dem,
was bislang aus dem Hause von der Leyen zu dem
Thema Zuschussrente bekannt geworden ist, merkwür-
dige Parallelen gibt. Es wäre schade, wenn ich meine
Zeit damit verbringen würde, diese Parallelen hier zu be-
legen. Es ist aber schon erstaunlich, wenn der Kollege
Weiß sagt: Der Antrag der Linkspartei ist der brutalst-
mögliche Angriff auf die Rentenversicherung. Und der
Kollege Wadephul sagt: Bei dem Antrag der Linkspartei
war der Marxismus-Leninismus am Werk. Schlussfol-
gernd bietet es sich geradezu an, die These zu vertreten:
Auch im Hause von der Leyen waltet der Marxismus-
Leninismus, und es finden brutalstmögliche Angriffe auf
die deutsche Rentenversicherung statt.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


So weit bin ich mit meiner Argumentation noch nicht
gegangen. Man sieht, es fällt einem manches in den
Schoß, ohne dass man sich vorbereiten musste. Das
Ganze hat einen Vorteil. Es findet offenkundig ein politi-

scher Wettkampf zwischen den Fraktionen und den Par-
teien statt, wie man am wirksamsten gegen Altersarmut
vorgehen kann. Das ist sicherlich auch im Interesse der
betroffenen Menschen in der Republik. Deshalb macht
es Sinn, im Parlament diese kontroversen Debatten zu
führen.

Zum Antrag der Linkspartei. Auch meine Wahrneh-
mung ist, dass dieser Antrag ein Mittelding zwischen der
lohnbezogenen Rente und dem bedingungslosen Grund-
einkommen ist, mit starker Schlagseite in Richtung be-
dingungslosem Grundeinkommen. Die Einschränkungen
sind sehr vage und sehr zurückhaltend formuliert. Herr
Kollege Birkwald, Sie haben mit Ihrer zweiten Interven-
tion nicht recht, dass bei der Angleichung der Renten-
werte Ost und West auf die Höherwertung verzichtet
worden ist. Dies steht ausdrücklich in Ihrem Antrag.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch brauchen wir sie auch!)


Ich zitiere:

Mit Blick auf den Grundsatz „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Le-
bensleistung“ wird der Rentenwert Ost auf das
Westniveau angehoben und die Höherwertung bei-
behalten.

Also, nach der Anhebung beibehalten. Diese Art der Pri-
vilegierung versteht wirklich kein Mensch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das müssen Sie begründen. Das ist überhaupt nicht
nachvollziehbar.

In Ihrem Antrag steht auf Seite 8 der bemerkenswerte
Satz:

Einen Anspruch auf die solidarische Mindestrente
haben alle Menschen, deren Alterseinkommen un-
terhalb von 900 Euro netto liegt. Sie müssen nicht
zuvor in der gesetzlichen Rentenversicherung versi-
chert gewesen sein.

Das heißt, jeglicher Bezug zur gesetzlichen Rentenversi-
cherung wird gekappt. Wieso eine solche Position dazu
geeignet sein soll, diese Rentenversicherung zu stärken,
müssen Sie dem staunenden Publikum erklären. Das Ge-
genteil wird der Fall sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben als zweites eine maßvolle Anhebung der
Rentenwerte in Ihrem Antrag vorgeschlagen. Damit
würde das Rentenniveau geringfügig erhöht werden. Das
ist sicherlich ein sinnvoller Vorschlag. Im Zusammen-
hang mit den anderen Vorschlägen führt auch dies in die
Irre.

Von den Rentenexperten der Bremer Arbeitnehmer-
kammer habe ich mir einige Berechnungen zukommen
lassen. Danach würde Ihr Antrag dazu führen, dass die
sogenannte Standardrente – das ist die Rente eines
Durchschnittseinkommensbeziehers nach 45 Versiche-





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)


rungsjahren – von jetzt 1 100 Euro auf etwa 1 150 Euro
netto steigt. Um eine Rente in Höhe von 900 Euro zu be-
kommen, würde ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitneh-
merin, auch nach dem Vorschlag Ihres Konzepts zur An-
hebung des Rentenniveaus, gut 35 Versicherungsjahre
brauchen. Das – hier stimme ich allen Vorrednern zu –
werden Sie keinem Arbeitnehmer und keiner Arbeitneh-
merin erklären können. Wenn sich Leistung lohnen soll,
dann muss hier ein völlig anderes Verfahren gewählt
werden. So kann man das nicht machen.


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Sie bewerten 35 Beitragsjahre. Beitragsjahre sind in ei-
nem enormen Maße Lohnverzicht. Die sind gewisserma-
ßen für die Katz, weil man auch ohne jeden Beitrag an
den gleichen Zahlbetrag herankommen kann.

In Ihrem Antrag wimmelt es zudem vor immanenten
Widersprüchen. Dazu will ich Ihnen einige vortragen.
Der erste Widerspruch bezieht sich auf den Mindestlohn.
Bislang habe ich Ihre Position zum Mindestlohn immer
so verstanden, dass die 10 Euro Mindestlohn dazu füh-
ren sollen, dass ein Einkommen generiert wird, das ober-
halb der Grundsicherung, oberhalb der Sozialhilfe liegt.
Das war auch so. Wenn man Ihrem geänderten Antrag
folgt, dann müsste der Mindestlohn bei Ihnen mindes-
tens 12 Euro betragen, um eine Rente in Höhe der neuen
Mindestsicherung zu erreichen. Hier ist von Abstand
noch gar keine Rede. Leistung muss sich lohnen. Das ist
der erste Widerspruch.

Der zweite Widerspruch. Sie fordern – wie wir im
Übrigen auch – die Entfristung der Rente nach Mindest-
erwerbseinkommen. Das würde bedeuten, dass niedrige
Einkommen rentenpolitisch aufgewertet werden in Rich-
tung 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. Die von
Ihnen geforderten 900 Euro entsprechen aber bereits
78 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das heißt,
auch diese Waffe ist, ähnlich dem Mindestlohn, völlig
stumpf, jedenfalls rentenpolitisch.

Genauso verhält es sich mit den Vorschlägen zur Aus-
weitung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten
und Pflegezeiten sowie mit dem Vorschlag – der ja
meine Zustimmung findet –, erneut einen Versicherungs-
beitrag für Hartz-IV-Bezieher in Höhe der Hälfte des
Durchschnittseinkommens einzuführen. Auch dieser
Vorschlag würde vor dem Hintergrund der von Ihnen ge-
forderten 900 Euro vollständig ins Leere zielen. Das be-
deutet, Sie können das gesamte Paket Ihrer rentenpoliti-
schen Vorschläge auf den Misthaufen werfen, weil sie
ohne jede Wirkung sind.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Vorschläge in Ihrem Antrag sind bestenfalls
schmückendes Beiwerk.

Das Kernproblem ist: Die Standardrente liegt nach
Ihrer Konzeption nur noch circa 250 Euro über der von
Ihnen vorgeschlagenen Mindestrente. Von dem, was Sie,
was wir und manche anderen immer gefordert haben

– dass ein deutlicher Abstand zwischen der Höhe der
Mindestsicherung und dem Lohneinkommen bestehen
muss –, kann überhaupt keine Rede mehr sein. Sie
schmelzen diesen Abstand eher zusammen. Das Gegen-
teil von der Forderung, die Sie bisher aufgestellt haben,
wäre der Fall.

Die Zahlen sind völlig klar: Das Mindestsicherungs-
niveau wird bei Ihnen nochmals um gut ein Drittel ange-
hoben, der aktuelle Rentenwert und damit die Gesamt-
heit der Renten aber gerade einmal um 4 Prozent. Hier
liegt der Hund begraben. Wenn die Mindestsicherung
um mehr als 30 Prozent, um mehr als ein Drittel angeho-
ben wird, während der Rentenwert um ganze 4 Prozent
steigt, dann führt das tendenziell zu einem Ergebnis, das
Sie gar nicht wollen können. Das begünstigt nämlich ob-
jektiv die Verschmelzung von Rente und Mindestsiche-
rung; das ist geradezu vorprogrammiert. Das können Sie
im Ernst nicht wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das wäre der Abschied von der gesetzlichen Rentenver-
sicherung.

Was für die gesetzliche Rentenversicherung über
Jahrzehnte konstitutiv war, nämlich die Lebensstandard-
sicherung, fände dann so gut wie nicht mehr statt, bes-
tenfalls noch beiläufig. Sie muss aber wieder im Mittel-
punkt der Diskussionen stehen. Ihr Konzept reduziert die
Sozialstaatspolitik auf Armutsvermeidung. So wichtig
das auch sein mag: Das ist zu wenig und konzeptionell
völlig unzureichend. Deshalb möchte ich Sie dringend
bitten, das Ganze zu überarbeiten.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wo ist der Vorschlag der SPD?)


– Der Vorschlag der SPD? Wir haben eine ganze Reihe
von Vorschlägen unterbreitet, und wir werden weitere
liefern. Wir organisieren den politischen Wettkampf, von
dem ich gesprochen habe, auch in den eigenen Reihen.
Das hat seinen Vorteil; manchmal hat es auch Nachteile.
Sie werden von uns noch manches zu sehen bekommen.
Wir haben zu den allermeisten Punkten in den vergange-
nen Monaten und Jahren eigene Vorschläge gemacht. In-
soweit können Sie nicht fragen: Wo ist der Vorschlag der
SPD? Das meine ich gar nicht geringschätzig und hä-
misch; davon bin ich völlig frei.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716208400

Herr Kollege Schreiner, Sie schauen auf die Uhr?


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1716208500

Herr Präsident, ich bin schon am Abflug. – Ich weiß,

dass es sich um ein sehr kompliziertes Thema handelt.
Gleichwohl sollte man sich der Kritik stellen und Ihrer-
seits jetzt nicht in einen reinen Abwehrreflex verfallen.
Das wäre weder der Sache noch Ihrem eigenen An-
spruch angemessen.

Herr Präsident, herzlichen Dank für die Großzügig-
keit.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716208600

Vielen Dank und guten Flug. – Nächster Redner in

unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1716208700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

ist in der Tat eine Debatte, bei der man sich über die
Wortmeldungen der Kolleginnen und Kollegen der So-
zialdemokratie gefreut hat, insbesondere über die von
Ihnen, Frau Ferner; das muss man wirklich sagen. Ich
konnte – das ist selten der Fall, wenn wir über bestimmte
Themen streiten und diskutieren – fast jeden Satz Ihrer
Rede unterschreiben.

Toni Schaaf, ich habe mich auch sehr gefreut, dass du
den überparteilichen Konsens in der Aufgabe, das Ren-
tensystem zukunftssicher zu machen, betont hast. Ich
muss aber sagen, dass zwei Dinge nicht passen – so viel
Auseinandersetzung mit euch muss schon sein –:


(Anton Schaaf [SPD]: Das ist Dialektik!)


Erstens. In der Auseinandersetzung eben über die
Frage, was wir gegen Altersarmut tun, wolltest du dich
ein Stück weit von dem Konsens entfernen, den es hier
zu Recht einmal gegeben hat: dass wir das Rentensystem
auf zwei Säulen – gesetzlich und privat – aufbauen müs-
sen. Die Demografie ist nämlich nun einmal so, wie sie
ist. Anders können wir das Rentensystem nicht zukunfts-
fest machen. Davon sollten wir uns nicht verabschieden,
lieber Kollege Toni Schaaf; davon rate ich dringend ab.


(Beifall bei der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die dritte Säule nennt er schon gar nicht mehr!)


Zweitens – Kollege Schreiner hat eben darauf hinge-
wiesen, welche Vorschläge Sozialdemokraten hier in den
letzten Monaten eingebracht haben –: die Abkehr von
der Rente mit 67. Sie von der SPD haben die Rente mit
67 eingeführt und wollen sich nicht mehr dazu beken-
nen.


(Elke Ferner [SPD]: Nein, die haben wir zusammen mit der CDU/CSU eingeführt!)


– Ja, aber Sie auch. Der damalige Arbeits- und Sozial-
minister Müntefering war der federführende Minister. –
An dieser Stelle möchte ich den Kollegen Müntefering
zitieren, der noch vor wenigen Wochen im Bayerischen
Rundfunk zur Entwicklung des Arbeitsmarktes für Äl-
tere gesagt hat, das sei „der entscheidende Aufstieg der
letzten Jahre“; die Bedingungen für die Rente mit 67
seien erfüllt.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist keine Mehrheitsmeinung in der SPD!)


Deshalb seien alle Vorwürfe, die Rente mit 67 bedeute
de facto eine Rentenkürzung, nur als „Unsinn“ zu be-
zeichnen. An dieser Stelle haben wir von der Regie-
rungskoalition den Worten des Kollegen Müntefering
nichts hinzuzufügen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716208800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1716208900

Ich beantworte gerne die Frage des Kollegen

Schreiner.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716209000

Jawohl, auch ich lasse sie zu. – Bitte schön.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1716209100

Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil ich Ihren

Ausführungen etwas hinzufügen möchte.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1716209200

Gerne.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1716209300

Sie wissen, dass in dem berühmten Rentenkompro-

miss der Großen Koalition zur Rente mit 67 vereinbart
worden ist, dass eine eventuelle Anhebung des Renten-
eintrittsalters im Lichte der Entwicklung des Arbeits-
marktes für Ältere geprüft werden soll.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, und die ist sensationell!)


Ich habe vor wenigen Tagen in der Saarbrücker Zei-
tung gelesen – man ist zurzeit etwas häufiger im Saar-
land –, dass Frau von der Leyen eine Untersuchung vor-
gestellt hat, die ergab, dass von den 55- bis 64-Jährigen
ganze 27 Prozent einem sozialversicherungspflichtigen,
also existenzsichernden Beschäftigungsverhältnis nach-
gehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe es zufällig dabei!)


Man kann eine einfache Frage stellen, Herr Kollege:
Wenn ein Viertel der Älteren einem existenzsichernden
Beschäftigungsverhältnis nachgeht, was ist dann eigent-
lich mit den anderen drei Vierteln?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zum großen Teil erwerbstätig!)


Wo sind die anderen drei Viertel eigentlich? In der offe-
nen Arbeitslosigkeit? In der statistisch manipulierten Ar-
beitslosigkeit? Bei 400-Euro-Jobs? Sind sie krank, ge-
handicapt, in Hartz IV? Ja, was ist denn mit denen?

Sie können doch nicht im Ernst bestreiten, dass bei ei-
ner Beschäftigungsquote der Älteren von gut einem
Viertel die Rente mit 67, die Anhebung des Rentenein-
trittsalters, nichts anderes ist als blanker Rentenbeschiss.


(Beifall des Abg. Anton Schaaf [SPD])



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1716209400

Lieber Herr Kollege Schreiner, zwei Dinge dazu:

Erstens. Richtig ist: Die Quote der Beschäftigten
– Sie haben diese Quote angesprochen – beträgt 41 Pro-
zent.





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)



(Ottmar Schreiner [SPD]: Nein, das ist falsch! – Elke Ferner [SPD]: Da sind die Minijobs mit drin!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716209500

Das Wort hat jetzt der Kollege Vogel.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1716209600

Vielen Dank, Herr Präsident. – Zweitens. Wir wissen

natürlich, dass wir bei der Beschäftigung von Älteren in
diesem Land noch nicht am Ziel sind. Wir wollen diese
Beschäftigungsquote steigern. Das wollten auch Sie, als
Sie die Rente mit 67 eingeführt haben – die übrigens
nicht ab morgen gilt, sondern in den nächsten Jahren
schrittweise eingeführt wird. Das Entscheidende ist doch
der Trend: Ändert sich endlich die Einstellung zu den
Älteren in diesem Land in den Köpfen der Personaler, in
den Unternehmen, in den Betrieben? Da kann ich nur sa-
gen: In den letzten fünf Jahren ist der Anteil der 60- bis
65-Jährigen, die sozialversicherungspflichtig beschäf-
tigt sind, um 40 Prozent gestiegen. Das heißt, der Trend
ist besser, als Sie es je hoffen konnten.

Genau das hat Ihr sozialdemokratischer Kollege
Franz Müntefering gesagt. Er hat noch vor wenigen Ta-
gen im Bayerischen Rundfunk gesagt, die Entwicklung
der letzten Jahre zeige, der Arbeitsmarkt entwickele sich
dort, die Voraussetzungen für die schrittweise Einfüh-
rung der Rente mit 67 seien erfüllt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn Sie dazu nicht mehr stehen, dann erweisen Sie den
Älteren am Arbeitsmarkt einen Bärendienst, erst recht
den Jüngeren, die zukünftig eine sichere Rente bekom-
men wollen, Herr Kollege Schreiner.

Jetzt will ich trotz fortgeschrittener Zeit einen Satz
zum Antrag der Linken sagen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Guter Antrag!)


– Lieber Herr Kollege Birkwald, leider kann ich mich
der Einschätzung, dass es ein guter Antrag ist, nicht an-
schließen. Ich schätze Sie persönlich sehr – das wissen
Sie –, aber ich finde: Dieser Antrag ist wirklich ausge-
machter Murks. An vielen Stellen wurde bereits darauf
hingewiesen, dass dieser Antrag schon inhaltlich nicht
zusammenpasst. Es gibt Widersprüche in diesem Antrag;
einen will ich zitieren. Sie schreiben in der Begründung:

Die Fraktion DIE LINKE. folgt einem einfachen
Grundsatz: „… gleiche Rente für gleiche Lebens-
leistung“.

Schon zwei Absätze später schreiben Sie:

Menschen mit höheren Einkommen sollen … weni-
ger erhalten, als sie eingezahlt haben.

Das kann man wollen – ich halte es für falsch –; aber wi-
dersprüchlich ist es in jedem Falle. Konsistent ist das
nicht, Herr Kollege Birkwald.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ganz unabhängig davon, ob Ihr Antrag konsistent ist,
atmet er den Geist von „Wünsch dir was“, von „Alles für
alle, und am besten umsonst“, ohne jeden Hinweis, wie
die Solidargemeinschaft das finanzieren soll.

Sie haben eben mit dem Zitat „Man muss auch jönne
könne“ darauf hingewiesen, dass Sie aus Köln kommen.
In Köln gibt es leider auch den Satz: Et hätt noch immer
joot jejange. Als jemand, der das Rheinland sehr schätzt,
weil er jahrelang dort gelebt hat, muss ich sagen: Dieser
Satz, der die Ethik des Wünsch-dir-was ausdrückt, mag
im Rheinland eine schöne Lebenseinstellung sein; aber
er ist ganz sicher keine seriöse Grundlage, um Renten-
politik in diesem Land zu machen und Sozialsysteme zu-
kunftssicher auszurichten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist deshalb gut, dass Sie hier keine Verantwortung
für die Rente tragen, sondern dass wir uns darum küm-
mern können, die Rente zukunftssicher zu machen –
durch Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, durch ein Be-
kenntnis zu den Strukturreformen der letzten Jahre und
auch durch Reformen, die jetzt notwendig sind, um der
kommenden Gefahr von Altersarmut vorzubeugen und
um auf sie zu reagieren.

Lieber Herr Kollege Schreiner, an dieser Stelle kann
man versöhnlich sagen: Ich freue mich, dass Sie die
Sorge geäußert haben, dass bei der Betrachtung von An-
passungen im Rentensystem in den Köpfen nicht Mar-
xismus-Leninismus regieren sollte. Ich kann Ihnen für
meine Fraktion garantieren: Wir werden sicherstellen,
dass das nicht passiert; da können Sie ganz unbesorgt
sein.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716209700

Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Heike Brehmer.
Bitte schön, Frau Kollegin Heike Brehmer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1716209800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Lin-
ken, wenn man Ihren Antrag liest, wird klar, dass es Ih-
nen weder um die Bekämpfung von Altersarmut noch
um Solidarität geht.

Die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut, die be-
reits von vielen Seiten erkannt wird und deren Ursachen
wir bekämpfen, nutzen Sie zur gezielten Panikmache.
Unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit fordern Sie
den Ausbau der Rentenversicherung nach Ihren Wün-
schen. Dabei vergessen Sie die gegenwärtige Situation
der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)


Sozioökonomische Studien belegen, dass das Armuts-
risiko für ältere Menschen in Deutschland in den letzten
zehn Jahren etwa gleich geblieben ist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig falsch! Es ist gestiegen!)


Von rund 20 Millionen Senioren sind circa 3 Prozent auf
Grundsicherung im Alter angewiesen. Diese Zahl hat
sich seit über vier Jahren nicht erhöht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Von 2002 bis 2010 ist sie um 60 Prozent gestiegen!)


Das ist die gegenwärtige Situation.

Die christlich-liberale Koalition hat auch die Zukunft
im Blick. Unsere Ministerin hat zur rechten Zeit einen
Rentendialog gestartet. Frau von der Leyen ist mit Ver-
tretern der Rentenversicherung, Fachpolitikern, Wohl-
fahrtsverbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebern in
einen Dialog getreten. Mit dieser Initiative sollen die
Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt
werden. Der Rentendialog zielt außerdem auf einen ver-
besserten Erwerbsminderungsschutz und die stärkere
Anerkennung von Erziehungszeiten in der Alterssiche-
rung.

Keine Frage: Wir stehen in Zukunft vor veränderten
demografischen Strukturen in unserer Gesellschaft. Die
Politik und die Vorschläge der Linken lösen das grund-
sätzliche Problem nicht. Zukünftig werden immer mehr
Rentenempfängern immer weniger Beitragszahler ge-
genüberstehen. Eine steuerfinanzierte Grundrente löst
dieses Problem nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Aussteiger und Schwarzarbeiter wären die Nutznießer
einer solchen Grundrente. Das kann nicht ernsthaft Ihr
Anliegen sein, meine Damen und Herren.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Grundrente ist eine andere Baustelle!)


Wer sein Leben lang hart gearbeitet hat, sollte im Al-
ter etwas von seiner Rente haben. Wenn die Rente
nichts, aber auch gar nichts mehr mit der geleisteten Ar-
beit zu tun hat, dann ist das entwürdigend für diejenigen,
die jahrzehntelang in die Rentenversicherungskasse ein-
gezahlt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das hat in meinen Augen nichts mit Solidarität und
Gerechtigkeit zu tun.

Die CDU/CSU will die Gefahr der Altersarmut ein-
dämmen und verfolgt eine nachhaltige Arbeitsmarkt-
und Sozialpolitik. Wir wollen Menschen in den ersten
Arbeitsmarkt integrieren, anstatt ihnen die Chance auf
Wiedereingliederung zu verbauen. Der Etat des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales ist der größte Aus-
gabenposten im Bundeshaushalt.

Die Rente ist und bleibt ein Spiegel der eigenen le-
benslangen Erwerbstätigkeit. Verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, man kann ein Erwerbsleben
im Nachhinein nicht umkehren oder etwa renovieren,
wie Sie es vorhaben. Der CDU/CSU ist es besonders
wichtig, diejenigen im Blick zu haben, die aus verschie-
densten Gründen Lücken in ihren Erwerbsbiografien
aufweisen, sich aber dennoch bemüht haben, einer Tätig-
keit nachzugehen.

In den neuen Bundesländern – ich glaube, ich bin
heute die Einzige, die aus den neuen Bundesländern zu
diesem Thema spricht – waren nach der Wiedervereini-
gung viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig. Viele
Bürger verloren ihren Arbeitsplatz. Verehrte Kollegen
von den Linken, das sind die Folgen der verfehlten Poli-
tik der SED-Diktatur.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was hat die damit zu tun?)


Der Normalbürger – daran möchte ich Sie gerne erin-
nern – hätte im Durchschnitt vielleicht 340 Ostmark
Rente erhalten. Ich möchte auch daran erinnern, dass es
damals weder das Arbeitslosengeld noch eine Grund-
sicherung gab. Die Mindestrente soll noch weit unter
dem genannten Betrag gelegen haben.

Heute bemühen sich viele Unternehmen in den neuen
Bundesländern, wettbewerbsfähig zu bleiben und ihre
Arbeitskräfte zu halten. Doch einen Bruttostundenlohn
von 10 Euro, wie Sie ihn fordern, können viele noch
nicht zahlen. Damit würden wir ganze Unternehmens-
zweige, zum Beispiel die Tourismusbranche oder den
Dienstleistungsbereich, nicht nur in den neuen Bundes-
ländern kaputtmachen.

Ich kann Ihnen ein Beispiel aus einer Veranstaltung
nennen, die gestern Abend stattgefunden hat; viele Kol-
legen waren anwesend. Ein Unternehmer aus den neuen
Bundesländern, der in der Reinigungsbranche tätig ist,
hat mir gesagt: Wenn ich diesen Stundenlohn zahlen
müsste, dann müsste ich die höheren Kosten auf die
Preise umlegen. Die Folge wäre: Er würde sofort seinen
Auftrag verlieren, und die Arbeitnehmer würden abwan-
dern.

Die Bürgerinnen und Bürger in den alten und in den
neuen Bundesländern sollen unserer Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik auch in Zukunft vertrauen können. Mit Ih-
rem Antrag versprechen Sie den Bürgern etwas, was
nicht umsetzbar ist. Alles, was verteilt werden soll,


(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Ja, an die Banken!)


muss vorher hart erarbeitet werden.

Auf unserem CDU-Parteitag in Leipzig haben wir uns
mit deutlicher Mehrheit für die Einführung einer Lohn-
untergrenze in den Bereichen ausgesprochen, in denen
ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die-
ser Lohn soll durch eine Kommission der Tarifpartner
festgelegt werden und sich an den für allgemeinverbind-
lich erklärten, tarifvertraglich vereinbarten Lohnunter-
grenzen orientieren. Gerechter Lohn ist das Ergebnis
von Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern. Diese





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)


Art der Lohnfindung gehört zu den Grundpfeilern der
sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dass das Prinzip der Tarifautonomie seit seiner Ein-
führung 1919 funktioniert, beweisen 67 000 bestehende
Tarifverträge und der wirtschaftliche Erfolg unserer
Unternehmen. Wir müssen mit unserer Politik die Rah-
menbedingungen dafür schaffen, dass der Weg hin zu
mehr Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht wird. Für
den Eintritt ins spätere Erwerbsleben sind Bildung und
Qualifikation grundlegende Voraussetzungen.

Bildung ist und bleibt ein zentrales Thema. Bildung
darf keine Frage der Herkunft oder des Einkommens
sein. Es ist zwingend erforderlich, dass alle Schüler die
Schule mit einem Schulabschluss verlassen; denn das ist
die Grundvoraussetzung für eine Ausbildung bzw. ein
Studium und den späteren Eintritt ins Erwerbsleben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets
haben wir circa 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen
aus Geringverdienerfamilien Leistungen für Bildung und
Teilhabe ermöglicht. Das ist ein wichtiger Schritt; denn
die Vermeidung von Altersarmut, wie wir sie hier disku-
tieren, ist eine elementare Aufgabe unserer christlich-
liberalen Politik, und die werden wir, wie im Koalitions-
vertrag verankert, auch erfüllen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716209900

Vielen Dank, Frau Kollegin Brehmer. – Letzter Red-

ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kol-
lege Max Straubinger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1716210000

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am

Ende dieser Debatte stelle ich fest: Wenn man den
Antrag der Linken in puncto Rentensicherung für die
Menschen in unserem Lande bewerten soll, dann könnte
man meinen, dass Weihnachten und Ostern, wie es die
Frau Kollegin Ferner formuliert hat, und alle weiteren
schönen Tage zusammenfallen.

Schon allein der Titel des Antrags ist verräterisch:
„Rentenversicherung stärken und solidarisch ausbauen –
Solidarische Mindestrente einführen“.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das klingt doch gut!)


Es wird so getan, als ob die Bundesregierung keinen
Beitrag zur Sicherung des Lebensstandards im Alter leis-
ten würde bzw. keine Leistung erbringen würde, um
Armut im Alter vorzubeugen. Das ist falsch. Das sieht
man an den Ergebnissen, die wir durch unsere Wirt-
schaftspolitik und auch durch unsere Arbeitsmarktpolitik

erzielt haben. Allein die Tatsache, dass es seit 2006
1 Million weniger Hartz-IV-Bezieher und damit mehr
Beitragszahler gibt, die in die Rentenversicherung ein-
zahlen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!)


führt für die Menschen in unserem Lande zu einer besse-
ren Sicherung im Alter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Linken erzeugen hier ein Zerrbild – das machen
sie in fast jeder Plenarwoche; einmal geht es um die
Rente, einmal um die Grundsicherung im Alter, dann
wieder um Hartz IV und dergleichen mehr –, um unseren
Sozialstaat, um unsere sozialen Sicherungssysteme in
der Öffentlichkeit zu diskreditieren und letztendlich die
Leistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme
herabzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Wir wollen die Leistungsfähigkeit heraufsetzen und nicht herabsetzen!)


– Doch. – Das lassen wir Ihnen und den übrigen An-
gehörigen Ihrer Fraktion nicht durchgehen, Kollege
Birkwald.

Letztendlich umweht diesen Antrag – darauf haben
mehrere Kollegen schon hingewiesen – der Hauch des
bedingungslosen Grundeinkommens.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, überhaupt nicht!)


– Doch. – Ich sage ganz bewusst: Sie wollen am Schluss
eine Einheitsrente für die Menschen in unserem Lande.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Die soll es nicht geben!)


– Doch, Herr Kollege Birkwald. – Verräterisch ist, dass
Sie für eine solidarische Mindestrente in Höhe von
900 Euro plädieren. Sie nennen auch die Bedingungen,
die damit verbunden sein sollen – die Kollegin Ferner
hat darauf schon hingewiesen –: eine Einkommensprü-
fung und eine Vermögensprüfung. Es ist nur noch ein
kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass bei der Beantra-
gung von Rentenleistungen grundsätzlich Vermögens-
prüfungen stattzufinden haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


– Natürlich. Das ist nach Ihrem Gusto. Das wollen Sie in
Zukunft haben.

Es beginnt mit der Aufhebung der Beitragsbemes-
sungsgrenze. Das planen Sie zumindest langfristig – so
steht es in Ihrem Antrag –, obwohl es selbst im DDR-
Rentenrecht eine Beitragsbemessungsgrenze gab;


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was soll das denn jetzt?)


das möchte ich nur am Rande anführen. Darüber hinaus
ist verniedlichend von einer Abflachung des Renten-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


anspruchs die Rede. Sie wollen sich also vom Äquiva-
lenzprinzip verabschieden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Füßen getreten!)


Sie wollen die Rentenversicherung letztendlich zu einer
Sozialbehörde umbauen. Zum Schluss soll nur noch eine
Rente gezahlt werden, und die Zahlung soll davon ab-
hängig sein, ob man Vermögen hat oder nicht oder


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber bei der Hinterbliebenenrente gibt es doch auch schon eine Einkommensprüfung!)


ob man im Alter bedürftig ist oder nicht. Herr Kollege
Birkwald und verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linken, das ist nicht unser Verständnis von Rentenversi-
cherung und Altersabsicherung. Wir wollen die leis-
tungsbezogene Altersabsicherung. Diese wird weiterhin
Bestand haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist aber das Gegenteil von Bedingungslosigkeit!)


Ich bin sehr dankbar, dass vor allen Dingen die gro-
ßen Fraktionen in diesem Hause, CDU/CSU, FDP, aber
auch die SPD, mit Blick auf die Sicherung des Renten-
systems heute die Gemeinsamkeiten herausgestellt
haben. Natürlich hat das Altersversicherungssystem
angesichts der demografischen Entwicklung Herausfor-
derungen zu bewältigen. Ich bin dankbar, dass heute
deutlich wurde, dass allein das Vorlegen eines Wunsch-
kataloges sinnlos ist; schließlich müssen die Maßnah-
men von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern
finanziert werden. Deshalb ist zu verurteilen, dass die
Beitragssatzstabilität nach Ihrer Meinung keine Rolle
spielen soll. Sie treten mit einem Vorschlag an, nach dem
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer letztendlich
grenzenlos mit Beiträgen belastet werden sollen. Das
kann es nicht sein. Das ist nicht in unserem Sinne. Das
ist auch nicht im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer. Das ist nicht im Sinne der Menschen in un-
serem Land.

Es gab keine Alternative zu den Reformen, die wir
durchgeführt haben, insbesondere nicht zur Rente mit 67.
Herr Kollege Schreiner, da Sie dem Kollegen Vogel in
Ihrer Zwischenfrage vorhin entgegengehalten haben,
dass sich nur 27 Prozent der älteren Generation in sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen
befinden, möchte ich hier darlegen – der Kollege Vogel
sprach von gut 40 Prozent –: 44 Prozent der Älteren sind
erwerbstätig.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, die zahlen aber nicht in die Rente ein, Herr Kollege! Das sind zum Beispiel Beamte!)


Aber auch von den Erwerbsfähigen unter 55 Jahren
sind nur rund 50 Prozent sozialversicherungspflichtig
beschäftigt. Die Forderung der SPD, 50 Prozent der
Erwerbstätigen müssten sozialversicherungspflichtig be-
schäftigt sein, bedeutet eine indirekte Abkehr von der
Rente mit 67. Auch das sollte man hier verdeutlichen.


(Elke Ferner [SPD]: Gern, Herr Straubinger!)


Man sollte den Bürgerinnen und Bürgern sagen, was die
Umsetzung dieser Forderung bedeutet, nämlich Bei-
tragssatzerhöhungen. Anders kann das Ganze nicht aus-
geglichen werden. Wir befinden uns heute allerdings
nicht in der Auseinandersetzung mit der SPD, sondern
mit der Linken.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716210100

Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Schaaf?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1716210200

Dem Kollegen Toni Schaaf kann ich natürlich keine

Zwischenfrage verwehren.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716210300

Sie gestatten seine Zwischenfrage also. Dann wird

sich Ihre Redezeit noch wesentlich verlängern.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1716210400

Das freut mich besonders. Da bedanke ich mich.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716210500

Bitte schön, Kollege Schaaf.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1716210600

Ich habe nur eine Frage, die Sie mit Sicherheit beant-

worten können, Herr Straubinger. Würden Sie mir recht
geben, dass die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Legis-
laturperiode einen Antrag zur Abstimmung gestellt hat,
in dem sie nicht die Abschaffung der Rente mit 67, son-
dern deren Verschiebung gefordert hat? Können Sie mir
das bestätigen?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1716210700

Das ist richtig, Kollege Schaaf. Die Folge wäre aber,

dass immer wieder verschoben werden muss; Sie haben
für die Verschiebung ja keine Grenzen gesetzt.


(Anton Schaaf [SPD]: Natürlich!)


Sie haben Ihren Antrag auf Verschiebung mit der Bedin-
gung verknüpft, dass erreicht wird, dass 50 Prozent der
Älteren sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
Wie soll das geschehen, Herr Kollege Schaaf, wenn be-
reits bei den jüngeren Jahrgängen nur 50 Prozent sozial-
versicherungspflichtig beschäftigt sind, weil Selbststän-
dige und Beamte nicht mitgezählt werden? Wir haben
diesen Antrag zu Recht abgelehnt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Ein Letztes noch, Herr Kollege Birkwald. Sie haben
auch dargelegt, dass die Riester-Rente ein Flop sei. Es
gibt mittlerweile 15 Millionen Menschen, die einen
Riester-Vertrag abgeschlossen haben. Darüber hinaus
geht es hier in keiner Weise um grenzenlose Renditever-
sprechen; denn die Riester-Rente ist konzipiert wie eine
ganz normale Rentenversicherung. Wenn jemand, der in





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist und
bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet hat, kurz nach Renten-
eintritt leider Gottes verstirbt, so verbleibt keinerlei Ren-
dite aus seinen Beiträgen in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung. Genauso ist das beim Riester-Rentner. Somit
kann man hier nicht in Renditen rechnen und sagen, man
müsse 90 Jahre alt werden, um eine 4-prozentige Ren-
dite zu erreichen.

Das Entscheidende bei einem Versicherungsvertrag
ist – so das Versicherungsprinzip –, dass eine lebens-
lange Rente gewährleistet ist. Das ist mit den Riester-
Verträgen gegeben. Die Riester-Rente ist eine zusätzli-
che Versorgung. Eine zusätzliche Versorgung hat es auch
in der ehemaligen DDR gegeben. Eine zusätzliche
Versorgung ist notwendig, damit der Lebensstandard der
alten Menschen gesichert ist. Dies werden wir auch
weiterhin unterstützen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1716210800

Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. – Damit

schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8481 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a, d und e
sowie 18 auf:

31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 2. Dezember 2010 über die Er-
richtung des Funktionalen Luftraumblocks
„Europe Central“ zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland, dem Königreich Belgien, der
Französischen Republik, dem Großherzog-
tum Luxemburg, dem Königreich der Nieder-
lande und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft (FABEC-Vertrag)

– Drucksache 17/8726 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Axel Troost, Dr. Kirsten Tackmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Finanzmärkte verbrauchergerecht regulieren –
Finanzwächter und Finanz-TÜV einführen
– Drucksache 17/8764 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellen-
den Existenzminimums von Erwachsenen und

(Achter Existenzminimumbericht)


– Drucksache 17/5550 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

18 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 17. März 1992
zum Schutz und zur Nutzung grenzüber-
schreitender Wasserläufe und internationaler
Seen

– Drucksache 17/8725 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis h sowie
den Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 32 a:

a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes

– Drucksache 17/8320 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/8798 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Sabine Bätzing-Lichtenthäler

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/8804 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Merkel (Berlin)

Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz (Herborn)


Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8798, den Gesetzent-
wurf des Bundesrates auf Drucksache 17/8320 abzuleh-





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Es stimmt
niemand zu. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koali-
tionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Das ist die
Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist
somit in zweiter Beratung abgelehnt. Sie wissen, dass
damit nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung entfällt.

Tagesordnungspunkt 32 b bis h. Wir kommen zu den
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 32 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 390 zu Petitionen

– Drucksache 17/8590 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten und
Linksfraktion, also alle. Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 390
ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 391 zu Petitionen

– Drucksache 17/8591 –

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Vorsichtshalber
frage ich noch: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-
haltungen? – Auch niemand. Sammelübersicht 391 ist
angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 392 zu Petitionen

– Drucksache 17/8592 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozialde-
mokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion. Enthal-
tungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 392
ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 393 zu Petitionen

– Drucksache 17/8593 –

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch nie-
mand. Sammelübersicht 393 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 394 zu Petitionen

– Drucksache 17/8594 –

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen mit Ausnahme
der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Somit ist
Sammelübersicht 394 angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 395 zu Petitionen

– Drucksache 17/8595 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemo-
kraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Sam-
melübersicht 395 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 32 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 396 zu Petitionen

– Drucksache 17/8596 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-
haltungen? – Keine. Sammelübersicht 396 ist angenom-
men.

Zusatzpunkt 2:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Verleihung des Status als EU-Beitrittskandidat
an Serbien aussprechen

– Drucksache 17/8763 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Fraktion der Sozial-
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Koalitionsfraktio-
nen. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Der Antrag ist abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Verlangen der
Fraktion Die Linke unterbrechen wir wegen einer Frak-
tionssitzung die Plenarsitzung für eine Stunde. Der Wie-
derbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingel-
signal angekündigt.

Die Sitzung ist damit unterbrochen.


(Unterbrechung von 13.02 bis 14.06 Uhr)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716210900

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Hochqualifizierten-Richtlinie der
Europäischen Union

– Drucksache 17/8682 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Verabredet ist, hierzu eine Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-
regierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Ole
Schröder das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1716211000


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unsere wirtschaftliche Stärke und damit der
Wohlstand jedes Einzelnen von uns werden in Zukunft
noch stärker von der Innovationskraft und dem Wissen
der Menschen abhängen. Gerade aus diesem Grund stellt
der Fachkräftemangel auch eine Gefahr für unseren
Wohlstand dar.

Fachkräfte werden rar in Deutschland. Das liegt nicht
zuletzt an der Entwicklung unserer Geburtenrate. Aus
diesem Grund hat die Bundesregierung ein Konzept zur
Fachkräftesicherung vorgelegt, das im Wesentlichen drei
Ansätze verfolgt:

Zum Ersten ist es wichtig, dass wir die Menschen in
Deutschland dabei unterstützen, ihr Potenzial noch bes-
ser zur Entfaltung zu bringen. Wir wollen bessere Rah-
menbedingungen zur aktiven Teilnahme am Erwerbsle-
ben schaffen. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir die
Anzahl der Schulabbrecher und derjenigen, die ihre Aus-
bildung abbrechen, reduzieren und natürlich eine bessere
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, und
wir müssen dafür sorgen, dass gerade ältere Menschen
bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann fangen Sie mal an!)


Zweitens. Neben diesen heimischen Fachkräften soll-
ten wir auch nicht vergessen, dass es innerhalb Europas,
also innerhalb des Binnenmarktes, viele gut ausgebildete
junge Menschen gibt, deren Potenzial wir hier in
Deutschland ebenfalls nutzen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denken wir nur an die hohe Arbeitslosigkeit von jungen
Menschen, auch Akademikern, in den südlichen Mit-
gliedstaaten! In Spanien beträgt die Jugendarbeitslosig-
keit über 40 Prozent. Dort wird jetzt schon von einer ver-
lorenen Generation gesprochen.

Wir können zum Gewinn aller dafür sorgen, dass
diese Menschen hier in Deutschland eine Chance haben.

Die Unternehmerinnen und Unternehmer sollten ihren
Blick auch darauf richten, diesen jungen Europäern in
Deutschland die Möglichkeit zu bieten, eine Ausbildung
zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aufgrund der kulturellen Nähe haben wir hier natürlich
auch weniger Probleme im Bereich der Integration.

Als dritte Möglichkeit sollten wir schließlich auch auf
das Potenzial der Menschen zurückgreifen, deren Wis-
sen auf der ganzen Welt gefragt ist.

Wir wollen heute darüber sprechen, wie unser Land
für die hochqualifizierten Arbeitskräfte aus Staaten au-
ßerhalb Europas attraktiver werden kann, die sich hier
integrieren möchten und hier arbeiten wollen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Wir wollen ja auch, dass sie kommen!)


Dazu ist es notwendig, dass wir uns in diese Menschen
hineinversetzen, die ihr Glück woanders suchen und be-
reit sind, in einem anderen Land zu arbeiten.

Welche Erwartungen hat ein Hochqualifizierter? Wel-
che Erwartungen hätte jeder Einzelne von uns? Wir sind
ja auch Hochqualifizierte, denke ich, wenn ich in die
Runde blicke. Welche Erwartungen hätte jeder Einzelne
von Ihnen an seinen künftigen Arbeitgeber und an die
Lebensbedingungen vor Ort? Ginge es Ihnen um Gehalt,
Vertragslaufzeiten, Aufstiegschancen und die Erlernbar-
keit der Sprache oder vielleicht um das Klima? Viel-
leicht ginge es Ihnen auch nur um Freizeitmöglichkeiten,
was ja auch wichtig ist. Sicherlich wäre es Ihnen wich-
tig, ob Ihre Familie mit nach Deutschland kommen kann,
ob Ihr Ehepartner ebenfalls arbeiten darf oder ob Sie be-
reits Menschen im Zielland kennen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Das sind ja jetzt keine neuen Erkenntnisse!)


Welche Unterstützung würden Sie sich wünschen, wenn
Sie in ein anderes Land gehen? „Bin ich dort willkom-
men?“, würden Sie sich fragen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage! Wie antworten Sie? – Aydan Özoğuz [SPD]: Jetzt sollte auch eine Antwort kommen!)


Wir sprechen von einer Willkommenskultur, die für ein
Land notwendig ist, um attraktiv zu sein. Kurzum: Wo-
von würden Sie Ihre Entscheidung abhängig machen?

Unter den von mir genannten Faktoren – sie waren
ungeordnet – gibt es viele, die wir als Gesetzgeber be-
rücksichtigen müssen, die wir aber nicht selbst beein-
flussen können. Das gilt selbstverständlich für das Klima
und die geografische Lage. Andere Faktoren wie das Ge-
halt oder die Arbeitsbedingungen bestimmen in erster
Linie die Unternehmen zusammen mit den Gewerk-
schaften.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Kommen Sie mal zum Thema!)






Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) (C)



(D)(B)


Wir können und müssen als Gesetzgeber aber regeln,
unter welchen Voraussetzungen jemand kommen kann,
und damit die Entscheidung eines Zuwanderers positiv
oder negativ beeinflussen. Genau deshalb führen wir die
sogenannte Bluecard EU, die Blaue Karte EU, ein. Sie
richtet sich an Hochqualifizierte. Zuwanderung in die
Sozialsysteme wollen wir damit ausschließen.

Wir verlangen ein abgeschlossenes Hochschulstu-
dium. Die Gehaltsuntergrenze von knapp 45 000 Euro
macht es auch für hochqualifizierte Berufseinsteiger in-
teressant. In sogenannten Mangelberufen, in denen wir
besonders dringend Fachkräfte brauchen, zum Beispiel
Ärzte oder Ingenieure, liegt die Gehaltsuntergrenze bei
rund 35 000 Euro.

Zu den entscheidenden Bedingungen gehören aber
auch die Perspektiven für Ehepartner und Familie. Ehe-
gatten von Inhabern der Blauen Karte dürfen ebenfalls
von Anfang an arbeiten. Auf den Nachweis von Sprach-
kenntnissen verzichten wir. Denn wir gehen davon aus,
dass diese Hochqualifizierten das selbst in die Hand neh-
men werden, weil sie hier von Anfang an aktiv am Ar-
beitsleben teilnehmen.

Die Blaue Karte EU rundet damit unser Gesamtkon-
zept der Arbeitsmigration ab. Sie bettet sich ein zwi-
schen dem Aufenthaltstitel für geringer Qualifizierte, de-
nen wir nur einen befristeten Aufenthaltstitel gewähren,
und dem für Höchstqualifizierte, die ab dem ersten Tag,
an dem sie bei uns sind, einen dauerhaften Aufenthaltsti-
tel, also eine Niederlassungserlaubnis, erhalten.

Außerhalb der Blauen Karte schaffen wir weitere Vo-
raussetzungen, um Migranten, die bei uns ausgebildet
wurden, auch hier zu halten.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Das hat die SPD beschlossen!)


Denn es macht keinen Sinn, in die Ausbildung dieser
Menschen zu investieren, um sie danach gleich wieder
nach Hause zu schicken. So haben Absolventen deut-
scher Hochschulen ein Jahr lang Zeit für die Arbeits-
platzsuche. Sie dürfen während dieser Zeit zum Beispiel
durch Aushilfsjobs ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich
denke dabei beispielsweise an einen Biologen, der sein
Diplomstudium abgeschlossen hat und für den Zeitraum
der Arbeitsplatzsuche, nämlich ein Jahr lang, weiter in
dem Job bleiben darf, in dem er als Student gearbeitet
hat, bis er eine adäquate Beschäftigung gefunden hat.

Ein Daueraufenthaltsrecht gibt es bereits nach zwei
Jahren, wenn sie sich in ihrem erlernten Beruf etabliert
haben.

In Deutschland spielt das duale Ausbildungssystem
eine besondere Rolle für unsere Wirtschaft. Wir wissen:
Ein in Deutschland ausgebildeter Geselle kann häufig
mehr als viele Absolventen von Hochschulen im Aus-
land. Daher ist es folgerichtig, dass wir dafür sorgen,
dass auch Ausländer, die hier bei uns eine Berufsausbil-
dung abgeschlossen haben, bleiben dürfen, um in ihrem
erlernten Beruf zu arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Damit werden gerade die Branchen und Regionen ge-
stärkt, die schon jetzt Probleme haben, Ausbildungs-
plätze zu besetzen. Wir senden damit klare Signale an
ambitionierte internationale Fachkräfte außerhalb Euro-
pas. Die Botschaft lautet: Ihr werdet gebraucht, ihr seid
mit euren Angehörigen willkommen, und ihr habt eine
Zukunft in Deutschland! Wir wollen weltoffen und at-
traktiv für die klügsten Köpfe auf der Welt sein.

Ich möchte mit einem Zitat der Bundeskanzlerin
schließen, die anlässlich der Gedenkveranstaltung am
23. Februar 2012 Folgendes zur Geschichte unseres Lan-
des sagte – ich zitiere –:

Denn es ist auch eine Geschichte der Auswande-
rung und der Zuwanderung. So wurden Brücken in
alle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdankt
Deutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffen-
heit und seiner Neugier auf andere.

Ich finde, das fasst gut zusammen, was wir vorhaben.

Ich bin dankbar für die zahlreichen konstruktiven An-
regungen vieler Beteiligter, insbesondere der Länder. Ich
bin davon überzeugt, dass hiervon im parlamentarischen
Verfahren noch einiges bedacht und aufgenommen wer-
den wird und dass wir am Ende zu einem hervorragen-
den Ergebnis kommen werden, das unser Land für Men-
schen, die bei uns arbeiten wollen, zwar sicherlich nicht
attraktiver machen kann, mit dem aber bürokratische
Hürden, die es bisher gab, abgebaut werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716211100

Daniela Kolbe hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1716211200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Von der Bundesregierung liegt heute ein
Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Bluecard-Richtli-
nie vor. Das ist zunächst einmal sehr begrüßenswert; im-
merhin sind wir mit der Umsetzung schon ein wenig in
Verzug.

Es ist natürlich sinnvoll, den Zuzug von Hochqualifi-
zierten aus Drittstaaten in Europa einheitlich zu gestal-
ten. Unabhängig von dieser Debatte wäre es sinnvoll
und, ich denke, auch notwendig, in diesem Hohen Hause
noch viel mehr darüber zu sprechen, wie qualifizierte
Fachkräfte nach Deutschland zuwandern können und an
welchen der verschiedenen Stellschrauben wir diesbe-
züglich drehen wollen.

Bei prinzipieller Übereinstimmung, dass das Ziel
richtig und wichtig ist, bleiben wir bei einer ganz deutli-
chen Kritik an Ihrer Umsetzung. Denn Ihr Gesetzent-
wurf beinhaltet nur ein einziges Rezept. Es besteht, kurz
zusammengefasst, darin, die Mindestverdiensthöhen für
qualifizierte Zuwanderer abzusenken.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Finden Sie das schlecht, Frau Kolbe? Das wundert Daniela Kolbe mich, Frau Kollegin! – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Lesen Sie noch mal nach, Frau Kolbe! Da steht noch ein bisschen mehr drin!)





(A) (C)


(D)(B)


Die erforderliche Höhe des Jahresgehaltes bei einem Ar-
beitsplatz, den ein Zuwanderer in Deutschland antreten
möchte, soll gering sein – darüber werden wir uns noch
streiten können –; das ist auch das Mantra der Arbeitge-
ber. An manchen Stellen finden wir das durchaus richtig.
Bei Ihrem Gesetzentwurf haben wir aber an einer Stelle
politisch größte Bedenken.

Ich habe den Gesetzentwurf gelesen. Die Mindestver-
diensthöhe scheint die einzige Schraube zu sein, an der
Sie drehen wollen; Sie wollen sie absenken. Das geht
uns auf der einen Seite zu weit, und zwar aus formalen
Gründen, weil Sie aus unserer Sicht das durch die Richt-
linie erlaubte Maß unterschreiten – darauf komme ich
gleich noch zurück – und weil Sie die Grenze bei den
Mangelberufen so weit absenken, dass wir es für poli-
tisch äußerst bedenklich halten. Auf der anderen Seite
geht es uns nicht weit genug, weil Sie verschiedene an-
dere Stellschrauben bei der Zuwanderung außer Acht
lassen und nicht nutzen.

Was meine ich, wenn ich sage, dass Sie über das er-
laubte Maß hinausgehen? Was steht in der Richtlinie, die
Sie hier umsetzen? Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie fordert
ein Mindestgehalt von mindestens dem Anderthalbfa-
chen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts in dem
betreffenden Mitgliedstaat. Das durchschnittliche Jah-
resgehalt in Deutschland beträgt offiziell 31 144 Euro.
Das Anderthalbfache hiervon sind 46 716 Euro. In Ih-
rem Gesetzentwurf wird das Mindestgehalt anders fest-
gesetzt. Das ist legitim; das kann jede Regierung
machen, wie sie möchte. Sie setzen zwei Drittel der
Beitragsbemessungsgrenze an und kommen auf
44 800 Euro. Dieser Betrag liegt um fast 2 000 Euro un-
ter der Grenze, die von Europa als Minimum angegeben
worden ist.

Noch gravierender ist diese Unterschreitung, wenn
wir uns den Bereich anschauen, der in Art. 5 Abs. 5 der
Richtlinie behandelt wird. Dort geht es um Mangelbe-
rufe. Die Richtlinie besagt, dass man die Verdienst-
grenze bei Mangelberufen noch weiter senken kann,
jedoch maximal bis auf das 1,2-Fache des durchschnittli-
chen Jahresbruttogehalts. Für Deutschland sind das etwa
37 400 Euro. In Ihrem Gesetzentwurf legen Sie als
Grenze die Hälfte der Beitragsbemessungsgrenze fest.
Das sind 33 600 Euro. Das liegt um fast 4 000 Euro un-
ter der von Europa festgelegten Untergrenze. Wenn man
sich die Verdienstzahlen, die für 2012 vorab berechnet
worden sind – darin sind die Lohnsteigerungen eingear-
beitet –, anschaut, dann stellt man fest, dass Ihr Wert so-
gar fast 5 000 Euro unter dem Schwellenwert liegt, den
die EU vorgibt. Ich persönlich halte das, was Sie uns hier
vorlegen, für europarechtswidrig. Ich denke, dass wir
darüber im Ausschuss noch einmal sprechen sollten. Sie
wollen sicher nicht, dass wir Gesetzentwürfe verabschie-
den, die europarechtswidrig sind.


(Beifall bei der SPD)


Wir halten die Gehaltsgrenze für Mangelberufe im
Übrigen auch politisch für äußerst kritikwürdig. Die
Richtlinie erlaubt die Absenkung bis auf das 1,2-Fache;
sie verpflichtet aber nicht dazu. Sie schöpfen mit der Ab-
senkung das Maximum aus; Sie unterschreiten das Zu-
lässige sogar deutlich, wie ich eben ausgeführt habe. Aus
unserer Sicht birgt das die Gefahr des Lohndumpings in
hochqualifizierten Berufen. Wir reden hier über Inge-
nieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler.
Schauen Sie sich einmal an, wie hoch das Einstiegsge-
halt eines Akademikers ist. Nach Entgeltgruppe 13
Stufe 1 TVöD liegt das Gehalt eines Berufseinsteigers
bei 39 200 Euro. Aus unserer Sicht besteht kein Bedarf,
bei Mangelberufen die Gehaltsschraube derart nach un-
ten zu drehen.

Im Übrigen – das ist ein weiterer Punkt – bietet das
Aufenthaltsgesetz noch ganz andere Möglichkeiten,
etwa bei der Vorrangprüfung. Die Vorrangprüfung ist für
viele Unternehmen, die qualifizierte Zuwanderer nach
Deutschland holen wollen – das ist schon jetzt möglich,
ohne die Gehaltsschwellen, von denen hier die Rede ist –,
genau das Problem. Sie ist für viele Unternehmen unkal-
kulierbar und stellt ein großes Hindernis dar. Das wäre
ein Punkt, über den politisch ins Gespräch zu kommen,
ich mir wünschen würde. Dieses Hindernis müssen wir
beseitigen.


(Beifall bei der SPD – Hartfrid Wolff [RemsMurr] [FDP]: Bundeskanzler Schröder verstärkte die Vorrangprüfung!)


Sie haben angesprochen, dass es Punkte gibt, die über
die Umsetzung der Richtlinie hinausgehen. Dazu werden
Kollegen von mir noch etwas ausführen. Mir ist aufge-
fallen, dass Sie an einer weiteren Stelle an der Gehalts-
schraube drehen, und zwar im Bereich der besonders
hoch Qualifizierten, die sofort eine Niederlassungser-
laubnis bekommen. Die Gehaltsschwelle soll jetzt auf
48 000 Euro gesenkt werden. Das halten wir für poli-
tisch unproblematisch. Das kann man so machen. Aller-
dings ist das eigentlich eine Ausnahmeregelung für be-
sonders hoch Qualifizierte gewesen. Ursprünglich waren
84 000 Euro die Gehaltsgrenze; jetzt sind wir bei
48 000 Euro. Die Frage ist, ob das der Hebel ist, den wir
ansetzen sollten, da hier die Niederlassungserlaubnis so-
fort und ohne eine Vorrangprüfung erteilt wird.

Wir sehen ganz viele andere Stellschrauben, an denen
man drehen könnte, sei es bei der Frage der Vorrangprü-
fung in § 18 des Aufenthaltsgesetzes oder sei es bei der
Frage der Studierenden; auch da würden wir an anderen
Stellschrauben drehen. Die Frage des Punktesystems
halten wir für nicht ausdiskutiert. Das ist für uns eine
durchaus überlegenswerte Idee.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Beim Punktesystem klatscht noch nicht einmal Ihre Fraktion! Da müssen Sie ja großen Rückhalt haben!)


Wir legen deshalb einen Antrag vor, um Ihnen zu zeigen,
welche Stellschrauben es noch gibt. Ich hoffe, dass wir
darüber gemeinsam im Ausschuss beraten können.





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


In diesem Sinne: Diesen Gesetzentwurf, den Sie hier
vorgelegt haben, halten wir für nicht zustimmungsfähig.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716211300

Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine

effiziente und interessengeleitete Steuerung der Zuwan-
derung ist das Gebot der Stunde. Statt durch bürokrati-
sche Hemmnisse wollen wir die Zuwanderung sinnvoll
und interessengeleitet steuern. Eine bessere Zuwande-
rungssteuerung ist nicht nur Bestandteil des Koalitions-
vertrages; sie wird zur Sicherung der Wettbewerbsfähig-
keit Deutschlands von CDU/CSU und FDP Schritt für
Schritt in die Tat umgesetzt. Die EU-Richtlinie zur
Hochqualifiziertenzuwanderung und zur Blauen Karte
bietet jetzt einen neuen Anlass, den nächsten, weiter ge-
henden Schritt zur Umsetzung dieses Konzepts der Ko-
alition zu tun.

Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten
und Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Ar-
beitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen wichtig. Deutschland braucht qualifizierte
Fachkräfte, Forscher und Entwickler und auch Unter-
nehmer aus dem Ausland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manuel Höferlin [FDP]: Darf man nicht vergessen! – Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist mal die richtige Perspektive!)


Dabei stehen – auch das darf man nicht vergessen –
die EU-Staaten in einem starken Wettbewerb um die
klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb nehmen wir mit ei-
ner verbesserten Zuwanderungssteuerung auch an. Des-
halb müssen ergänzende Zuwanderungsregelungen in
den Mitgliedstaaten geschaffen werden; sie dürfen nicht
nur in Brüssel erarbeitet werden. Das gewährleisten die
Richtlinie und auch die von uns vorgeschlagene Umset-
zung. Die EU-Richtlinie betrifft viele Bereiche des Auf-
enthaltsrechts. Den darüber hinausgehenden Anpas-
sungsbedarf wollen wir konstruktiv und auch progressiv
nutzen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Das müssen Sie dem Herrn Schröder noch sagen!)


Wir wollen die Hochqualifiziertenzuwanderung ent-
bürokratisieren, beschleunigen und auch vereinfachen.
Wir wollen zugleich zusätzliche Integrationsanreize
schaffen. Wir wollen über die eigentliche Richtlinienum-
setzung hinaus auch das deutsche Zuwanderungsrecht
modernisieren und den Bedürfnissen einer global ver-
netzten Gesellschaft besser anpassen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Davon haben wir eben nichts gehört!)


Dabei werden wir darauf achten, dass die Öffnung für
Hochqualifizierte nicht missbraucht wird oder die Tore
zu einem ruinösen Niedriglohnwettbewerb öffnet.

Die Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie
zielt auf einen gemeinsamen Aufenthaltstitel für Hoch-
qualifizierte auf EU-Ebene ab, der attraktiv ausgestaltet
ist, um die Migration von Hochqualifizierten zu erleich-
tern und zu fördern. Zu diesem Zweck wird ein neuer
Aufenthaltstitel „Blaue Karte EU“ für Ausländer mit
akademischem oder diesem gleichwertigen Qualifika-
tionsniveau und einem bestimmten Mindestgehalt in die
Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes aufgenommen.
Darüber hinaus sind Begleit- und Folgeregelungen, ins-
besondere in Bezug auf den Arbeitsmarktzugang, den
Arbeitsplatzwechsel und den Familiennachzug, notwen-
dig.

Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf dient
aber nicht nur der Umsetzung der Richtlinie. Zusätzlich
zielt der Gesetzentwurf darauf ab, die Möglichkeiten zur
Beschäftigungsaufnahme ausländischer Absolventen
deutscher Hochschulen nach dem Studienabschluss zu
verbessern und den dauerhaften Zuzug von hochqualifi-
zierten Fachkräften, für die auf dem deutschen Arbeits-
markt ein großer Bedarf besteht, zu erleichtern. Um den
dauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten nach
Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die Ge-
haltsschwelle, und zwar ziemlich deutlich. Wir haben in
der Koalition noch weitere Vorschläge erarbeitet, die wir
im Ausschuss in den vorliegenden Gesetzentwurf ein-
fließen lassen werden.

Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit darge-
stellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstrukti-
ven und fortschrittlichen Verhandlungsprozess in der Zu-
wanderungspolitik gefunden.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich anders in Erinnerung!)


Diese Koalition setzt verhältnismäßig leise und unaufge-
regt einen Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik um:
Wir fördern und fordern, ohne ideologische Scheuklap-
pen, integrations- und arbeitsmarktorientiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Migration und Integration stellen Deutschland vor
neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue
Chancen. Die Koalition setzt Zug um Zug eine konse-
quente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland
und eine aktive Integrationspolitik um.

Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die
nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute
macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: für
die, die eben nicht nur „territorial“ nach Deutschland
kommen, sondern auch in unserem Land mit seiner Kul-
tur sowie unserer Gesellschaft mit ihren Grundwerten
ankommen wollen.

Wir halten es im Gegensatz zu den Grünen oder Lin-
ken nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern
wollen Anreize dafür setzen. Wir wollen fördern und
fordern.





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch die Deutschkurse eingeführt! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer hat denn die Integrationskurse eingeführt?)


Darüber hinaus halten wir Zuwanderer nicht für bemit-
leidenswerte und unfähige Menschen, sondern für Leis-
tungsträger, deren Anstrengungen für ein Miteinander
auch honoriert werden.

Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungen
muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich po-
sitiv denken. Unsere Gesellschaft, die ganze Nation wird
durch Zuwanderung bereichert. Wissen ist längst inter-
national. Forschung und Entwicklung machen nicht vor
Grenzen halt, und die deutsche Wirtschaft ist auf allen
Märkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte
ist schon längst international.

Zuwanderung von Hochqualifizierten schafft Arbeits-
plätze und erweitert den gesellschaftlichen Horizont.
Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der christ-
lich-liberalen Bundesregierung diese Veränderungen –
ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716211400

Das Wort hat jetzt Ulla Jelpke für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716211500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie wir

schon gehört haben, hat die Bundesregierung hier einen
Gesetzentwurf zur Umsetzung der Bluecard-Richtlinie
der Europäischen Union vorgelegt. Geregelt werden soll
damit die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeits-
kräften.

Diese Richtlinie ist im Übrigen seit zweieinhalb Jah-
ren in Kraft und hätte seit Juni 2011 in nationales Recht
umgesetzt werden müssen. Warum das so lange gedauert
hat, ist uns völlig unklar.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das erklären wir Ihnen!)


Denn nach der Gesetzesbegründung werden allenfalls
3 500 Menschen pro Jahr einen neuen Aufenthaltstitel
durch diese Regelung erhalten. Darunter werden viele
Menschen sein, die bereits nach den geltenden Regelun-
gen für Hochqualifizierte einwandern konnten. Trotz
dieser geringen Erwartungen an die Zahl der Einwande-
rungswilligen spricht der Gesetzentwurf von einem
Fachkräftemangel in Deutschland.

Die Bundesregierung hat im vergangenen Bundes-
haushalt die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit um
900 Millionen Euro und die Beteiligung des Bundes an
den Kosten der Arbeitsförderung um 800 Millionen Euro
gekürzt.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die Arbeitslosigkeit ist aber auch deutlich gesunken, Frau Kollegin! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Nur nicht bei den Linken!)


Die Kürzung bei den Arbeitsmarktinstrumenten beträgt
rund 25 Prozent. Sie beklagen also einerseits Fachkräfte-
mangel und streichen andererseits Mittel für Qualifizie-
rungsmaßnahmen. Das ist absolut absurd.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Vermögensteuer! – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Besuchen Sie mal die Unternehmen und nicht nur die Gewerkschaften!)


Meine Damen und Herren, seit Jahren wird von Un-
ternehmen und Politikern der angeblich drohende Fach-
kräftemangel beklagt. Zugleich gibt Deutschland seit
Jahren weniger Geld für Ausbildung aus als der Durch-
schnitt der anderen OECD-Länder. Das Ergebnis spie-
gelt sich in vergleichsweise geringen Absolventenzahlen
wider: Nur ein Viertel eines Jahrgangs hat in den vergan-
genen Jahren einen Hochschulabschluss erworben. In
den OECD-Staaten waren es fast 40 Prozent.

An dieser Stelle müsste die Regierung ansetzen. Das
Bildungssystem in Deutschland muss für Menschen aus
armen Familien durchlässiger werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Statt früher Selektion in unterschiedliche Schultypen
brauchen wir eine bedarfsorientierte Bildungsförderung.
Doch stattdessen setzen Union und FDP in den Ländern
auf den Erhalt von Hauptschulen und auf Studiengebüh-
ren an den Universitäten.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Bleiben Sie mal beim Thema!)


Sie selbst produzieren den Fachkräftemangel, den Sie
vorgeblich bekämpfen wollen.

Meine Damen und Herren, die Diskussion um den
Fachkräftemangel ist ein durchsichtiges Manöver.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Quatsch!)


So wollen Unternehmen durch den Zugriff auf ein höhe-
res Arbeitskräftepotenzial den Druck auf die inländi-
schen Löhne und Gehälter verstärken. Offensichtlich
sind die deutschen Unternehmer nicht gewillt, den hier
ausgebildeten Fachkräften ausreichende Vergütungen
und Arbeitsbedingungen zu bieten.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wann haben Sie das letzte Mal mit einem Unternehmer gesprochen?)


Besonders absurd ist es,


(Zuruf von der FDP: Wo sind denn die Fachkräfte?)


wie Sie versuchen, Fachkräfte zu werben. Alle Fachleute
sagen im Übrigen: Die Hochqualifizierten kommen
nicht, weil sie sich in Deutschland nicht willkommen





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


fühlen. Das ist auch kein Wunder. Schließlich machen
mordende Nazis auch im Ausland Schlagzeilen.


(Beifall bei der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wovon träumen Sie nachts?)


Es sind auch die komplizierten und restriktiven auf-
enthaltsrechtlichen Bestimmungen, die Ausländer von
der Einwanderung nach Deutschland abhalten. Da setzt
die Koalition mit diesem Gesetzentwurf sogar noch ei-
nen drauf. Selbst für gebildete Deutsche ist dieses auf-
enthaltsrechtliche Kauderwelsch nur schwer nachvoll-
ziehbar. Statt neuer Regelungen im Detail brauchen wir
eine klare Verschlankung des gesamten Aufenthalts-
rechts.

Die Linke sagt: Wer Fachkräfte haben will, der muss
sie ausbilden und sie gemäß ihrer Qualifikation bezah-
len.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn es wirklich einen Fachkräftemangel in Deutsch-
land gibt, dann ist er hausgemacht. Was Sie mit der
Fachkräfteanwerbung machen, ist nichts anderes, als die
Bildungs- und Ausbildungskosten auf andere Länder
dieser Welt abzuwälzen. Das ist nichts anderes als neo-
koloniale Ausbeutung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


– Ja, so ist es.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Fidel Castro lässt grüßen! Mein Gott!)


Daran wird auch die Bestimmung nichts ändern, wo-
nach das Arbeitsministerium durch Rechtsverordnung
Berufe bestimmen kann – ich zitiere –,

in denen für Angehörige bestimmter Staaten die Er-
teilung einer Blauen Karte EU zu versagen ist, weil
im Herkunftsland ein Mangel an qualifizierten Ar-
beitnehmern in diesen Berufsgruppen besteht.

Das ist reine Augenwischerei. Denn Fakt ist: In der
Realität werden sich interessierte Unternehmen ihre Be-
schäftigten dann eben auf anderer Rechtsgrundlage ho-
len können.

Wer für die Menschen in der Bundesrepublik etwas
tun will, muss endlich eine Ausbildungsplatzumlage und
einen gesetzlichen Mindestlohn einführen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das vorhandene Geld muss in Ausbildungs-, Bildungs-
und Arbeitsmarktförderung fließen statt in milliarden-
schwere Bankenrettungspakete. Wer etwas für die Men-
schen in den sogenannten Entwicklungsländern tun will,
muss in die soziale, ökologische und demokratische Ent-
wicklung dieser Länder investieren – und darf nicht noch
die Leute, die dort qualifiziert wurden, abziehen – und
nicht in Kriege und eine immer effektivere Abschottung
Deutschlands.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Bei dieser Rede klatscht nicht einmal die Linke komplett! Ich verstehe sie auch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716211600

Memet Kilic hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716211700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe geschätzte Frau Kollegin Jelpke, ich
dachte eigentlich, dass Ihre Partei die Grenzen aufheben
möchte. Ich stelle aber fest, dass Sie gegen die Einwan-
derung von Hochqualifizierten sind. Ich weiß nicht, ob
Sie Deutschland unter eine Glocke stellen und luftdicht
verschließen wollen. Das ist sicherlich nicht im Interesse
der Migranten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit der Blauen Karte setzt die Bundesregierung nur
halbherzig und sehr verspätet die Vorgaben der EU um.
Die Frist für ihre Umsetzung war der 19. Juni letzten
Jahres. Wer so lahm arbeitet wie die Bundesregierung,


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Aber Qualität, Herr Kollege!)


der soll sich nicht wundern, wenn der Zug schon abge-
fahren ist. Laut dem aktuellen Gutachten der Experten-
kommission Forschung und Innovation fehlen Deutsch-
land in Kürze Zehntausende Akademiker. Dabei haben
Sie, Frau Bundeskanzlerin, einst die Bildungsrepublik
ausgerufen. Was ist davon übrig geblieben? Erfolge sind
ausgeblieben; die Alarmglocken läuten. Wenn nicht radi-
kal gegengesteuert wird,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir steuern doch gegen!)


gehen uns die Akademiker und Fachkräfte aus.

Die Bundesregierung scheut aber den notwendigen
Systemwechsel. Sie hat Angst vor ihrem eigenen Schat-
ten. Sie sorgt nicht für ein offenes und transparentes Ver-
fahren, sondern weitet unbeholfen die Ausnahmen zum
Anwerbestopp immer weiter aus. Um für qualifizierte
Einwanderer interessant zu werden, muss sich das politi-
sche und gesellschaftliche Klima ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Grundlagen dafür sind: erstens eine sichere aufenthalts-
rechtliche Perspektive, zweitens ein einladendes Einbür-
gerungsrecht und drittens das effektive Eintreten gegen
Rassismus.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Alles erfüllt in dem Gesetzentwurf!)


– Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregierung
weit mehr hinter den Anforderungen zurück, als Sie ver-
muten, Herr Kollege.





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Aydan Özoğuz [SPD])


Die Richtlinie der EU sieht die Möglichkeit vor, die
Blaue Karte auch auf Personen mit qualifizierter Berufs-
ausbildung und mit fünfjähriger Berufserfahrung auszu-
weiten. In dem Entwurf der Bundesregierung findet sich
keine Spur davon. Der Gesetzentwurf ist ungenügend,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das muss der Kollege Uhl gleich alles richtigstellen!)


juristisch mangelhaft und wird selbst innerhalb der Ko-
alitionsfraktionen als rechtlich unhaltbar bewertet. Darin
wird vorgesehen, dass Einwanderer ihr Aufenthaltsrecht
wieder verlieren, wenn sie innerhalb der ersten drei
Jahre Sozialleistungen beziehen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Lesen Sie einmal den Gesetzentwurf!)


Eine Niederlassungserlaubnis nur unter Vorbehalt zu er-
teilen, verstößt gegen eine Säule unseres Zuwanderungs-
rechts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nach dem Grundsatz des deutschen Rechts werden die
Voraussetzungen eines Verwaltungsaktes bei der Ertei-
lung geprüft. Daher darf eine Niederlassungserlaubnis
aufgrund der nachträglichen Nichterfüllung der Lebens-
unterhaltssicherung nicht zurückgenommen werden. Das
muss auch der Union klar sein. So hat der Fraktionsvize
der Union Günter Krings erklärt,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr guter Mann!)


dass eine unbefristete Niederlassungserlaubnis nicht mit
einem Vorbehalt gewährt werden könne.

Äußerungen der CSU im Sinne einer Einwanderung
in die Sozialsysteme sind nichts anderes als populisti-
sche Stammtischpolitik, liebe Freundinnen und Freunde.
Solche Äußerungen tragen Mitschuld daran, dass
Deutschland das Image einer geschlossenen Gesellschaft
hat. Das Signal an die ausländischen Fachkräfte ist ziem-
lich negativ. Darum ist zu befürchten, dass sie weiter ei-
nen großen Bogen um unser Land machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb verdient die Bundesregierung eindeutig eine
Rote Karte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die
Blaue Karte reicht nicht aus, um die klugen Köpfe aus
dem Ausland nach Deutschland zu holen. Von der Visa-
vergabe in den Konsulaten bis zu den Ausländerbehör-
den brauchen wir dringend einen Wandel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Viele an einem Studium Interessierte aus dem Ausland
bekommen von deutschen Hochschulen eine Zusage, je-
doch scheitert die Einwanderung an den Konsulaten.

Manche Konsulate denken, dass sie die Studierfähigkeit
eines Bewerbers besser bewerten können als unsere Uni-
versitäten. Das ist hirnrissig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die restriktive Visavergabe in den Konsulaten muss ge-
ändert werden.

Ein großes Potenzial für uns sind die ausländischen
Studienabsolventen in Deutschland, was auch Sie betont
haben, Herr Schröder. Sie können gut Deutsch und ha-
ben sich hier eingelebt. Deutschland kann sie aber nicht
halten. Ein Bericht der OECD legt dar, dass nur etwa je-
der vierte der internationalen Studierenden nach Ab-
schluss seines Studiums in Deutschland bleibt.

Der erste Besuch in der Ausländerbehörde ist eine
große Herausforderung für die frisch Eingewanderten.
Ich spreche hier von meinen Erlebnissen und von den
Erlebnissen von Menschen, denen es heute immer noch
so geht. Dort erwartet sie ein Bürokratiemonster: die
strengen Regeln unseres Zuwanderungsgesetzes. Des-
halb muss die Bürokratie in den Ausländerbehörden ab-
gebaut und das Personal interkulturell geschult werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In der letzten Sitzungswoche hat die Bundesregierung
erneut gezeigt, dass sie ein modernes Einbürgerungsge-
setz scheut. Wir Grüne plädieren für eine einladende
Einwanderungspolitik für ausländische Fachkräfte. Da-
für brauchen wir ein modernes und transparentes Aus-
wahlverfahren mit einem Punktesystem. Dafür setzen
wir uns schon seit Jahren ein. Selbstverständlich müssen
die Möglichkeiten für eine humanitäre Einwanderung
weiterhin vorhanden sein. Die Einwanderung von Fach-
kräften wird für die politischen Parteien ein Lackmus-
test.

Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes und
modernes Deutschland in einer globalisierten Welt sein
wollen. Ich wünsche mir, dass Einwanderinnen und Ein-
wanderer willkommen geheißen und als gleichberech-
tigte Bürger anerkannt werden. Einwanderinnen und
Einwanderer müssen als Teil der Gesellschaft akzeptiert
werden. Die Union muss ihre ideologischen Scheuklap-
pen endlich absetzen


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie rennen offene Türen bei uns ein!)


und mit Vernunft das Zuwanderungsgesetz grundlegend
reformieren.

Vielen herzlichen Dank für Ihre Geduld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716211800

Nachdem wir uns hier ein bisschen mit der Exegese

des Wortes „hirnrissig“ beschäftigt haben und Sie, Herr
Kilic, eine Sache und nicht eine Person als solche be-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


zeichnet haben, waren wir gemeinsam der Meinung,
dass es möglich ist, dieses Wort hier zu verwenden.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezieht sich auf das Verfahren!)


Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Hans-Peter
Uhl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1716211900

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Gesetzent-
wurf der Bundesregierung; wir befinden uns in der ers-
ten Lesung über die Umsetzung der Richtlinie für Hoch-
qualifizierte aus Drittstaaten. Herr Kollege Kilic, Sie
meinten, Sie müssten der Bundesregierung dieserhalben
die Rote Karte zeigen. Ich empfehle, dies besser nicht zu
tun,


(Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Wie überraschend! – Was für eine Überraschung! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine gute Analyse, Herr Kollege!)


weil wir Sie vielleicht noch überraschen werden. Mögli-
cherweise können wir diesen Gesetzentwurf im Laufe
des Gesetzgebungsverfahrens noch umändern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ah!)


Es gibt ja den bekannten Spruch Ihres ehemaligen Frak-
tionskollegen: Kein Gesetz geht so aus dem Parlament
raus, wie es reingekommen ist. Das gilt auf jeden Fall
für dieses Gesetz.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist das Uhl’sche Paradoxon!)


– So ist es. – Das gilt auch für dieses Gesetz, und das ist
gut so. Wir kennen unser Selbstbewusstsein. Selbst der
Parlamentarische Staatssekretär Kampeter kann sich gut
an die Zeit erinnern, in der er noch nicht in der Regie-
rung war und selbstbewusst auf diesem Recht bestanden
hat.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr, Herr Kollege!)


Lieber Herr Kilic, wir sollten bitte diese alten Schall-
platten nicht immer wieder auflegen, dass jeder Auslän-
der, wenn er eine Ausländerbehörde in irgendeiner Kom-
mune Deutschlands betritt, mit irgendwelchen demüti-
genden Verhaltensmustern konfrontiert wird. Erstens ist
dem nicht so, und zweitens könnten wir das Ganze,
wenn es denn so wäre, nicht mit Paragrafen ändern. Es
ist vielmehr eine Frage des zwischenmenschlichen Um-
gangs in einer Behörde. Das muss die dortige Behörden-
leitung erledigen, wir können es von hier aus nicht än-
dern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden durch die Umsetzung der Bluecard-
Richtlinie sehr viel zur Verbesserung im Bereich Ar-

beitskräftemangel beitragen, wobei wir wissen, dass die-
ses Problem nicht allein durch Zuwanderung zu lösen
ist. Uns ist bewusst, dass wir uns zunächst einmal – da
haben Sie vollkommen recht, Frau Kolbe – Gedanken
um die Arbeitslosen in Deutschland machen müssen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Arbeitslosen bei
uns in Deutschland in Lohn und Brot bringen. Es gab
– da wird auch die Opposition zustimmen müssen –
noch nie so wenige Arbeitslose wie in diesem Februar;


(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


das ist die niedrigste Zahl seit 21 Jahren. 3,1 Millionen
Arbeitslose – in 21 Jahren hat es so etwas nicht gegeben.
Und dennoch müssen wir uns um diese 3,1 Millionen
Arbeitslosen kümmern.

Weiterhin müssen wir das Fachkräftepotenzial stär-
ken, indem wir junge Menschen gut ausbilden und die
Kenntnisse bei den älteren Menschen reaktivieren. Der
Zugang zum Arbeitsmarkt ist für diejenigen Frauen zu
erleichtern, die zugleich erziehende Funktionen haben.
Außerdem sollten wir uns noch mehr um die Menschen
mit Migrationshintergrund kümmern, die in Zeiten zu
uns gekommen sind, als die Zuwanderung noch so gut
wie nicht geregelt war.

Genau das ist ja unser Problem: Jahrzehntelang war
die Zuwanderung weitgehend ungeregelt.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Das wollten Sie ja so!)

Damals kamen sehr viele im Grunde überwiegend un-
qualifizierte Menschen zu uns, insbesondere durch den
Familiennachzug,


(Aydan Özoğuz [SPD]: Die waren angeworben!)


und wir gingen davon aus, dass sich die Integration
schon irgendwie von selbst erledigt. Wir haben also billi-
gend in Kauf genommen, dass Integration zur Glückssa-
che wurde. Das war ein schwerer Fehler, ausgeübt durch
Unterlassung, und zwar jahrzehntelang. Dafür sind wir
alle mitverantwortlich.

Das müssen wir jetzt reparieren. Nachholende Inte-
gration nennt man das. Das kostet Millionen. Deshalb
sollte niemand erzählen, dass jede Form von Migration
für den Staat ein Geschäft sei. Für den Staat ist das nie-
mals ein Geschäft. Allenfalls der eine oder andere Ar-
beitgeber kann ein Geschäft mit willigen und billigen
ausländischen Arbeitskräften machen. Der Staat kann
niemals ein Geschäft mit Migration machen. Für den
Staat ist Migration immer sündhaft teuer. Das müssen
wir uns alle immer wieder bewusst machen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist doch Blödsinn! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Käse!)


– Das ist kein Käse, Frau Kollegin, sondern das ist wahr.

Wir sollten uns allerdings über eine Frage Gedanken
machen, bei der das Ausländerrecht eigentlich keine





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)


Rolle spielt: Warum verlassen so viele Hochqualifizierte
– deutsche Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler – das
Land? Das kann ja nicht am Ausländerrecht liegen. Wa-
rum also? Da muss doch an den anderen Rahmenbedin-
gungen der Beschäftigung etwas nicht stimmen. Das
heißt, wir müssen die Wirtschaft mehr in die Verantwor-
tung nehmen, damit sie die Rahmenbedingungen für die
Hochqualifizierten attraktiver macht, sodass sie hierblei-
ben und nicht ihr Glück im Ausland suchen.

Der Gesetzentwurf ist ein Baustein; er geht in die
richtige Richtung. Wir werden etwas für Hochschulab-
solventen tun. Auch hier – Herr Kollege Kilic, ich mache
Sie darauf aufmerksam – tun wir etwas für die Studen-
ten, die hier studieren: Sie können während des Stu-
diums mehr für ihr Studium dazuverdienen, indem wir
die zulässige Arbeitszeit verdoppeln.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut!)


Wir wollen denen, die in Deutschland ein Studium abge-
schlossen haben, auch die Möglichkeit geben, einen Ar-
beitsplatz zu suchen; während dieser Arbeitsplatzsuche
sollen sie über einen längeren Zeitraum arbeiten können.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Jahr! Das ist geltendes Recht!)


Auch hier wollen wir einiges verbessern.

Ich glaube überhaupt, dass wir auf den Bundesrat hö-
ren sollten. Da gibt es eine ganze Reihe von Anregun-
gen. Dieses Gesetz muss mit Zustimmung der Länder er-
gehen. Der Bundesrat hat schon eine Fülle von weiteren
Verbesserungsvorschlägen gemacht; wir werden sie alle
in dem jetzt kommenden Verfahren, vor der zweiten und
dritten Lesung, auf uns wirken lassen und den einen oder
anderen Vorschlag übernehmen.

Ich glaube, die Analyse ist richtig, dass wir einen gro-
ßen Mangel an Fachkräften haben und wir uns deswegen
auch im Ausland umschauen müssen, natürlich zunächst
im europäischen Ausland. In Spanien liegt die Arbeits-
losenquote unter Jugendlichen bei annähernd 50 Pro-
zent. Da müssen wir uns natürlich im Sinne der europäi-
schen Solidarität zuerst in solchen Ländern umschauen,
darüber hinaus aber auch in Drittstaaten; das ist selbst-
verständlich.

Wir werden bei Mangelberufen – Frau Kolbe, da la-
gen Sie mit Ihren Äußerungen nicht ganz richtig – dafür
sorgen, dass Lohndumping nicht möglich ist. Wir wer-
den nämlich bei Mangelberufen auch bei Senkung der
Verdienstgrenze eine Vergleichbarkeitsprüfung im Hin-
blick auf die Arbeitsbedingungen vornehmen. Es ist
wichtig, dass wir dem Wunsch mancher Arbeitgeber
nach willigen und billigen Ausländern nicht nachgeben.
Wir haben beim Umgang mit diesem Thema also schon
die nötige Sensibilität.

Insgesamt ist also Folgendes zu beachten:

Erstens. Unsere eigenen Arbeitslosen müssen geschützt
werden und qualifiziert werden, um einer Arbeit nachge-
hen zu können.

Zweitens. Wir kümmern uns um die Arbeitslosen in
der Europäischen Union.

Drittens. Erst danach suchen wir uns Fachkräfte aus
Drittstaaten, aus dem weiteren Ausland.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716212000

Swen Schulz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1716212100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um dem
Fachkräftemangel zu begegnen, müssen wir zweierlei
tun: Wir müssen als Erstes die Bildungschancen der
Menschen, die hier leben, verbessern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Insbesondere in SPD-geführten Ländern!)


Selbst wenn wir das jetzt sofort tun würden und eine per-
fekte Bildungspolitik machen würden, wovon die Regie-
rungskoalition weit entfernt ist,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unwahr! Unsachlich!)


würde das allen Prognosen zufolge nicht ausreichen.

Wir brauchen darüber hinaus zweitens die Zuwande-
rung von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deswegen machen wir ja dieses Gesetz!)


Darum brauchen wir die entsprechenden Rahmenbedin-
gungen. Wir müssen als Arbeitsstandort attraktiv wer-
den; wir müssen eine Willkommenskultur etablieren.

Nun wissen wir natürlich, dass das eine politische
Herausforderung ist; denn jahrzehntelang ist uns von
vielen Leuten erzählt worden, wie schwierig das mit der
Zuwanderung sei, was das für eine Belastung sei und
welche Schwierigkeiten es bei der Integration gebe. Hier
geht es um eine politische Thematik, der wir uns stellen
müssen. Wir müssen trotzdem, auch gegen diesen Trend,
klar erkennen und es den Leuten auch sagen: Wir benöti-
gen Zuwanderung aus dem Ausland, um unsere Wirt-
schaft weiter voranzubringen und unseren Sozialstaat
perspektivisch weiter finanzieren zu können.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


SPD und Grüne haben sich dieser Herausforderung
schon vor langer Zeit gestellt. Die Regierung Schröder
war es, die 2002 das Zuwanderungsgesetz beschlossen
hat, damals hart bekämpft von CDU und CSU im Deut-
schen Bundestag und im Bundesrat;


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)






Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


wir erinnern uns sehr gut daran. Ich will aber jetzt nicht
noch einmal die alten Schlachten führen, sondern nur da-
rauf hinweisen, dass das bis heute nachwirkt und ein
Stück weit ein Problem ist. Denn die damalige Denke
bei der CDU/CSU gibt es, jedenfalls in Teilen der Union,
immer noch; sie wirkt immer noch nach. Darum ist die
Politik der Koalition in diesem Feld auch so halbherzig,
so widersprüchlich und eben auch zögerlich.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat sich sogar immer gegen die Deutschkurse ausgesprochen, weil das so teuer sei!)


Das sieht man auch in diesem Gesetzentwurf. Minis-
ter Rösler hat gesagt, dieser Gesetzentwurf sei ein Quan-
tensprung in der Zuwanderungspolitik.


(Zuruf von der FDP: Recht hat er!)


Bei so einer Wortwahl – Sprung – denke ich unwillkür-
lich an eine Raubkatze, die elegant und dynamisch nach
vorne schnellt.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Jetzt keine Polemik! Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Schulz! Das brauchen Sie doch nicht! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gestern noch vor dem Bundesverfassungsgericht und heute so abgleiten!)


Aber wenn man sich das ganze Verfahren anschaut
und sich ansieht, was im Gesetzentwurf enthalten ist,
kommt man zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung
das Bild eines schläfrigen Bernhardiners abgibt, der an-
geschoben werden muss, damit überhaupt irgendetwas
passiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sie dürfen nicht von sich auf andere schließen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


Das fängt schon damit an, dass die Umsetzung der
Richtlinie mit großem Zeitverzug passiert.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was haben Sie heute Morgen zum Frühstück getrunken, Herr Kollege?)


Die Richtlinie ist von 2009, wir sind heute im Jahr
2012, und Sie kommen erst jetzt mit dem Gesetzentwurf.

Was die Inhalte angeht, gibt es jede Menge Leerstel-
len. Das hat Ihnen – der Kollege Uhl hat dankenswerter-
weise darauf hingewiesen – der Bundesrat auch ins
Stammbuch geschrieben. Ich will nur einige Beispiele
nennen: Es fehlt zum Beispiel die Verbesserung der Zu-
verdienstmöglichkeiten für ausländische Studierende.
Der Bundesrat hat gesagt: Da müssen wir etwas machen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme dan-
kenswerterweise gesagt: Ja, okay, wir stimmen zu. – Also
hoffen wir, dass dies in den Beratungen im Deutschen
Bundestag von der Regierungskoalition auch aufgenom-
men wird.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Selbstverständlich! – Zuruf von der FDP: Sie werden positiv überrascht sein!)


Es fehlt die Verlängerung der Frist für die Arbeits-
platzsuche für die Absolventen. Die Bundesregierung
hat gesagt: Das müssen wir prüfen. – Also ein weiterer
Debattenpunkt. Es fehlt die vereinfachte Definition der
Angemessenheit der Arbeit. Die Bundesregierung hat
gesagt: Das lehnen wir ab. – Noch ein Diskussionspunkt
für die Ausschüsse. Es fehlt die Ermöglichung der
Selbstständigkeit von Absolventen. Die Bundesregie-
rung hat gesagt: Wir prüfen. – Also müssen wir auch da
in den Beratungen im Deutschen Bundestag weiter vo-
rankommen.


(Zuruf von der FDP: Ein Glück, dass es im Innenausschuss stattfindet und nicht bei Ihnen!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Bern-
hardiner-Koalition,


(Gisela Piltz [FDP]: Das nehme ich Ihnen schon übel! Ich will nur mal sagen: Ich bin Schütze und nicht Bernhardiner! – Zuruf von der FDP: Bernhardiner retten Leben, Herr Kollege!)


es ist wirklich schwer und mühsam, mit Ihnen da Fort-
schritte zu erreichen.

Da sind dann auch noch richtige „Klopper“ drin. Ein
starkes Stück ist das Thema „Niederlassungserlaubnis“.
Die Bundesregierung schlägt mit dem Gesetzentwurf
vor, dass die Niederlassungserlaubnis nachträglich ent-
zogen werden kann. Was ist denn das für eine Botschaft?
Sie sagen damit den Leuten: Ihr könnt hier jahrelang
brav arbeiten, Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffen
und sichern, aber wenn es ein Problem gibt, dann raus
mit euch. – Das ist doch das Gegenteil von Willkom-
menskultur.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716212200

Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1716212300

Ich komme jetzt zum Ende.

Ich glaube, dass an diesem Gesetzentwurf noch eine
ganze Menge getan werden muss. Wir jedenfalls werden
in den Ausschussberatungen versuchen, diese Bernhar-
diner-Koalition noch ein ordentliches Stück weiter anzu-
schieben, damit etwas Ordentliches daraus wird.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716212400

Serkan Tören hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1716212500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Schulz, Sie haben zwar den Begriff „Quantensprung“
kritisiert, aber er ist richtig in diesem Zusammenhang.
Wir sorgen dafür, dass der Wettbewerb um die besten
Köpfe weltweit begonnen wird und vernünftig funktio-
niert. Das war in Ihrer Regierungszeit gar kein Thema.
Auch darauf muss man hinweisen.

Ich kann mich an eine Rede des ehemaligen Kollegen
Scholz – jetzt Erster Bürgermeister in Hamburg – erin-
nern, der gesagt hat, die bestehenden Voraussetzungen
reichten völlig aus, um den Wettbewerb um die besten
Köpfe weltweit zu bestehen. Es gebe gar keinen Hand-
lungsbedarf auf gesetzlicher Ebene. Sie sagen heute et-
was anderes. Irgendwie müssen Sie da in Ihrer Fraktion
zu einer einheitlichen Meinung kommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ja, Deutschland braucht Zuwanderung. Es ist rechne-
risch abenteuerlich, wenn behauptet wird, dem demogra-
fischen Wandel und dem Fachkräftebedarf könnten wir
auch ohne eine solche begegnen. Natürlich müssen wir
auch im Inland etwas tun. Natürlich müssen wir Arbeits-
lose weiterqualifizieren, uns um Mütter kümmern und
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass einerseits die
Entscheidung für die Familie gelebt werden kann, ande-
rerseits aber eine Frau auch ihren Beruf ausüben kann.
Natürlich müssen wir auch Ältere aktivieren. Wir brau-
chen eine Bildungsoffensive auch für ältere Generatio-
nen.

Aber es ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch ge-
fährlich, die Alternativen gegeneinander auszuspielen.
Wir brauchen eben auch Zuwanderung von qualifizier-
ten und hochqualifizierten Menschen aus dem Ausland.
Das müssen wir den Bürgern auch offen sagen. Dies ist
eine besondere und wichtige Verantwortung gerade in
diesen Zeiten; denn es geht um nichts Geringeres als um
das gesellschaftliche Klima und – ein anderer Kollege
hat das auch gesagt – um die Willkommenskultur. Es ist
schlichtweg eine Illusion, zu glauben: Alle gut ausgebil-
deten Fachkräfte warten nur darauf, in Deutschland le-
ben und arbeiten zu können, hier Steuern zahlen und ihre
Kinder in die Schule schicken zu können. Das zeigen
nicht zuletzt die Zahlen, die uns über die zugewanderten
Arbeitskräfte aus Osteuropa seit dem 1. Mai 2011 vorlie-
gen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Wir reden seit längerer Zeit von der sogenannten
Willkommenskultur. Das ist ein wunderbarer Begriff,
wie ich finde, aber jetzt muss er auch mit Leben erfüllt
werden. Die Bluecard ist ein wichtiger Schritt, die neuen
Realitäten anzuerkennen und Deutschland als modernes
und offenes Land zu präsentieren. So ermöglicht es die
Bluecard auch den Ehepartnern, direkt und ohne Vor-
rangprüfung ebenfalls in Deutschland eine Arbeit aufzu-
nehmen. Das entspricht den Ansprüchen und heutigen
Realitäten von vielen Akademikern weltweit.

Auch in Bezug auf ausländische Absolventen deut-
scher Hochschulen wollen wir im Rahmen der Bluecard-
Umsetzung etwas tun. Die Zahl der ausländischen Stu-
dierenden ist erfreulich hoch, allerdings verlassen uns
die meisten nach dem Abschluss wieder. Das sind Men-
schen, die hier studiert haben, die die Sprache beherr-
schen und gerne in Deutschland leben und arbeiten
möchten. Mit Verlaub, diese jungen Menschen wieder
ziehen zu lassen und nicht mit allen Mitteln im Land zu
halten, ist mehr als unklug. Künftig sollen diese Hoch-
schulabsolventen im ersten Jahr der Arbeitsplatzsuche
unbeschränkt arbeiten und so leichter in das Berufsleben
starten können.

Für uns Liberale geht es bei einer Willkommenskultur
um Unvoreingenommenheit gegenüber Kultur und Reli-
gion. Das ist für eine offene und intakte Gesellschaft ge-
nauso essenziell wie Verantwortungsübernahme, Leis-
tungsbereitschaft und Rechtstreue.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Menschen, die über die Bluecard zu uns kommen,
werden einen wichtigen wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Beitrag für Deutschland leisten.

Die wesentliche Herausforderung wird darin beste-
hen, für Deutschland als lebenswertes und weltoffenes
Land zu werben und das Wort „Willkommenskultur“ mit
Leben zu erfüllen. Nur dann werden wir im Wettbewerb
um die klügsten Köpfe erfolgreich sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716212600

Jetzt hat das Wort Tankred Schipanski für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Guter Mann!)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1716212700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Als Vertreter des Bildungs- und Forschungsaus-
schusses in dieser Debatte gilt als Erstes mein Dank un-
seren Innenpolitikern; denn wir haben gemeinsam dieses
wichtige Themenfeld bearbeitet und einen guten Gesetz-
entwurf auf den Weg gebracht. Die Forschungspolitiker
hatten sich seinerzeit an unseren innenpolitischen Spre-
cher Hans-Peter Uhl gewandt und ihm Vorschläge zur
Etablierung einer Willkommenskultur für Hochqualifi-
zierte unterbreitet; das ist übrigens ein Begriff, den un-
sere Bundesministerin Annette Schavan geprägt hat. In
einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit Innenpolitikern
und Wirtschafts-, Sozial- und Forschungspolitikern ha-
ben wir uns in der Koalition auf Eckpunkte geeinigt, von
denen sich zahlreiche im heute vorliegenden Gesetzent-
wurf wiederfinden. Das ist ein gelungenes Beispiel da-
für, wie wir in der parlamentarischen Arbeit große The-
menkomplexe wie den Fachkräftebedarf in Deutschland
ganz zielgerichtet bearbeiten.





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


Der vorliegende Gesetzentwurf gilt nicht nur der Um-
setzung der EU-Richtlinien, sondern er setzt wesentlich
breiter an. Da wir einen breiteren Ansatz gewählt haben,
darf man die abgelaufene Frist zur Umsetzung dieser
Richtlinie auch nicht ständig überbewerten, lieber Herr
Schulz und liebe Frau Kolbe; denn wir alle in diesem
Haus kennen die Rechtsprechung zu nicht fristgerecht
umgesetzten Richtlinien. Den Bürgern sind hier keine
Nachteile entstanden.

Zunächst haben wir die Auswirkung der vollen Freizü-
gigkeit für osteuropäische Arbeitnehmer auf den deut-
schen Arbeitsmarkt, welche seit dem 1. Mai 2011 gilt, ab-
gewartet, um dann zu entscheiden, in welchen Bereichen
und in welchem Maß Erleichterungen bei der Zuwande-
rung notwendig sind. „Qualifizierung vor Zuwanderung“
und „Schaffung einer Willkommenskultur“ – das sind die
Schlüsselbereiche, von denen wir uns in dieser Debatte
über den Fachkräftebedarf in Deutschland leiten lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ziel der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie sind ein
erleichtertes Verfahren für die Zulassung hochqualifi-
zierter Drittstaatsangehöriger sowie die Schaffung at-
traktiver Aufenthaltsbedingungen für hochqualifizierte
Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Mit dem
Gesetz wollen wir einen neuen Aufenthaltstitel schaffen
und die sogenannte Bluecard einführen; die detaillierten
Regelungen hat unser Staatssekretär Ole Schröder be-
schrieben.

Darüber hinaus senken wir die Einkommensgrenze
von 66 000 Euro auf 48 000 Euro im Jahr für die Ertei-
lung einer Niederlassungserlaubnis speziell an hochqua-
lifizierte Spezialisten und leitende Angestellte. Aber wir
verlangen – das ist richtigerweise angesprochen worden –,
dass man innerhalb der ersten drei Jahre nicht arbeitslos
werden darf. Ich finde es unverantwortlich, dass Frau
Kolbe wegen dieser Regelung, wegen dieser Absenkung
Ängste schürt. Ich nenne noch einmal unser Motto: Qua-
lifizierung vor Zuwanderung und Schaffung einer Will-
kommenskultur.

Über diese Richtlinie hinaus verbessern wir die Auf-
enthaltsbedingungen für ausländische Studenten an deut-
schen Hochschulen. Das ist ein Herzensanliegen der
Forschungspolitiker der Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


So haben diese Studenten während ihrer einjährigen Su-
che nach einem angemessenen Arbeitsplatz einen unein-
geschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das
heißt, sie können neben der Jobsuche arbeiten. Das ist
eine ganz wichtige Neuerung. Die Studenten erhalten
bereits nach zwei Jahren in einer versicherungspflichti-
gen Beschäftigung ihre Niederlassungserlaubnis und
nicht erst nach fünf Jahren. Außerdem erhalten die Fa-
milienangehörigen der ausländischen Absolventen von
Anfang an einen uneingeschränkten Arbeitsmarktzu-
gang.

Dieser Gesetzentwurf enthält weitere ganz entschei-
dende Vereinfachungen hinsichtlich des Aufenthaltstitels

der Forscher, § 20 Aufenthaltsgesetz. Eine ganz wichtige
Neuerung nehmen wir zudem in § 27 der Beschäfti-
gungsverordnung vor: Künftig können ausländische
Fachkräfte, die in Deutschland eine Berufsausbildung in
einem staatlich anerkannten Beruf absolviert haben, im
Anschluss daran einen Aufenthaltstitel erhalten, um in
diesem Beruf zu arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aus Sicht der Bildungspolitiker unserer Koalition ist es
wünschenswert, diesbezüglich ebenfalls eine einjährige
Suchphase nach Abschluss einer Ausbildung einzuräu-
men, damit ein angemessener Arbeitsplatz gefunden
werden kann. Ich freue mich, dass der Kollege Schulz
von der SPD diesen Punkt aufgegriffen hat. In dieser Sa-
che sind wir uns anscheinend einig.

Wir Bildungspolitiker wünschen uns ferner, dass in
den nun anstehenden Beratungen noch einmal ein Blick
auf § 16 Abs. 3 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes geworfen
wird. Das hat Kollege Uhl bereits angesprochen. Es geht
dabei um die Nebenerwerbsmöglichkeiten von ausländi-
schen Studierenden. Wir denken, man sollte diese aus-
weiten. Nach gegenwärtiger Regelung kann eine Be-
schäftigung an 90 Tagen bzw. 180 halben Tagen ausgeübt
werden. Wir können uns sehr gut vorstellen, dies auf
120 Tage bzw. 240 halbe Tage zu erweitern.

Das so geänderte Gesetz bietet ausländischen hoch-
qualifizierten Fachkräften attraktive Zuwanderungs- und
Aufenthaltsbedingungen und eine bessere Perspektive
für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland.

Lassen Sie mich feststellen, dass wir der Problematik
des Fachkräftebedarfs in Deutschland nicht nur mit die-
sem Gesetz begegnen. Das Hohe Haus hat unter Feder-
führung des Forschungsausschusses am 29. September
2011 das Berufsanerkennungsgesetz beschlossen. Mit
diesem Gesetz erhalten Zugewanderte ab dem 1. April
dieses Jahres einen Rechtsanspruch darauf, dass ihre im
Ausland erworbene Berufsqualifikation auf Gleichwer-
tigkeit zur deutschen Referenzqualifikation überprüft
wird. Dieses Gesetz ist ein Meilenstein und ein wichti-
ges Signal für viele Migranten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Da unsere föderale Ordnung es nun einmal so will, gilt
dieses Gesetz aber nur für Berufe, die der Bund regeln
darf. Viele Berufe fallen aber in den Regelungsbereich
der Länder. So darf ich an dieser Stelle nochmals an die
Länder appellieren, endlich nachzuziehen und auch im
Landesrecht die Berufsanerkennung zu regeln.

Das Gesetz, über dessen Entwurf wir in erster Lesung
beraten, aber auch das Berufsanerkennungsgesetz sind
Grundsteine dafür, dass wir die Potenziale ausländischer
Fachkräfte für unsere Bildungsrepublik Deutschland so-
wie für unsere Volkswirtschaft besser nutzen können.
Diese Gesetze sind Ausdruck der gelebten Willkom-
menskultur, die die christlich-liberale Koalition in
Deutschland verwirklicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716212800

Als letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt erteile

ich Kollegin Aydan Özoğuz für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Aydan Özoğuz (SPD):
Rede ID: ID1716212900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich befürchte, dass in dieser Debatte eine Sache nicht
verstanden worden ist – leider habe ich nur wenige Mi-
nuten, um dies zu verdeutlichen –: Wir haben es im Mo-
ment mit einer Situation zu tun – die FDP hat darauf hin-
gewiesen –, in der wir Menschen brauchen, die unser
Land attraktiv finden, die den Weg in unser Land suchen
und eine gute Ausbildung haben. Diese Menschen sollen
sagen: Von allen Ländern, die es gibt und die mir mitun-
ter tolle Angebote machen, suche ich mir Deutschland
aus. Ich gehe dorthin und will dort arbeiten.

Laut der Konsensgruppe „Fachkräftebedarf und Zu-
wanderung“ gibt es bei konstanter Erwerbsquote einen
prognostizierten demografisch bedingten Rückgang des
Erwerbspersonenpotenzials um 6,7 Millionen bis 2025.
Man kann sicherlich mit Zahlen spielen. Aber wir befin-
den uns in dieser Situation. Daher kann ich nicht verste-
hen, dass Staatssekretär Schröder sich hier hinstellt und
viele Fragen stellt, etwa die Frage, ob es einem Hoch-
qualifizierten ermöglicht werden soll, seine Frau mitzu-
bringen, oder ob es vielleicht auch wichtig wäre, dass er
hier mit seinen Kindern gut leben kann. Das ist in der
heutigen Welt für hochqualifizierte Menschen selbstver-
ständlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Lesen Sie das Gesetz, da steht es!)


Die Konkurrenz ist riesengroß. Wir haben ein funda-
mentales Interesse. Ich glaube, diesen Perspektivwechsel
müssen wir endlich vollziehen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das haben wir bei der SPD heute nicht gehört! Sie sollten einmal die Frau Kolbe fragen! Die hat hier Ängste geschürt!)


– Ich kann viele Menschen zitieren, die hier Ängste
schüren.

Das ist ein gutes Stichwort, Herr Schipanski; denn ich
glaube, dass einige in der Union und insbesondere in der
CSU – die Zeit reichte nicht, um alle Zitate aufzuzählen –
tatsächlich ein Problem haben. Immer dann, wenn Sie
über die Zuwanderung qualifizierter Kräfte sprechen, sa-
gen sie ganz schnell: Wir wollen keine Menschen, die in
unsere Sozialsysteme eindringen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist doch legitim!)


Dann mischen sich sofort zwei Mythen miteinander. Es
ist wichtig, damit aufzuräumen. Es war Deutschland, das
ungelernte Arbeitskräfte als sogenannte Gastarbeiter an-
geworben und hierher geholt hat. Es war gewollt, dass
sie keine Hochschulabschlüsse haben; denn Hochschul-

absolventen hätten die Arbeit, die damals gemacht wer-
den sollte, auch nicht verrichtet.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nicht ungeregelt!)


Wir waren diejenigen, die irgendwann einmal – das hat
erst mit Rot-Grün begonnen – gesagt haben: Wir müssen
dem Ganzen Regeln geben. Wir brauchen Sprachkurse
und ein Zuwanderungsgesetz. Ich erinnere mich noch
gut, dass Sie, meine Damen und Herren von der Koali-
tion, damals Schreckensbilder an die Wand gemalt ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich finde, das gehört ein bisschen zum Geschichtsbe-
wusstsein dazu.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Warum machen Sie es bei den Hochqualifizierten?)


Wir sprechen heute über Studierende. Ich kann mich
an Debatten erinnern, in denen gesagt wurde, es stimme
doch gar nicht, dass Studierende das Land verlassen
müssten, wenn sie fertig seien. Das war Realität in die-
sem Land. Menschen durften hierher kommen, um zu
studieren oder eine Ausbildung zu machen. Aber an dem
Tag, an dem sie exmatrikuliert wurden, mussten sie ge-
hen. Es war die linke Seite des Hauses, die das geändert
hat und gesagt hat: Gebt denen doch einmal eine
Chance, bei uns zu arbeiten und einen Job zu finden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Das haben wir doch gar nicht kritisiert!)


Es ist richtig – das hat das Hamburg Welcome Center
herausgefunden –, die Zeiten auszuweiten, weil mitunter
ein Jahr nicht reicht. Die nun vorgesehenen 18 Monate
stellen einen wichtigen Schritt dar. Das hat der Bundes-
rat zu Recht unterstrichen. Wir brauchen eine richtige
Willkommenskultur in diesem Land und einen anderen
Blick auf das Thema Zuwanderung, die eine große Be-
reicherung bedeuten kann, wenn man es denn mit Herz
macht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716213000

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Aydan Özoğuz (SPD):
Rede ID: ID1716213100

Das bin ich jetzt.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716213200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8682 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Franz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD

Der demografische Wandel in Deutschland –
Handlungskonzepte für Sicherheit und Fort-
schritt im Wandel

– Drucksachen 17/6377, 17/8372 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Christoph Bergner das Wort.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1716213300


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vor diesem Hohen Hause ist
es eigentlich nicht erforderlich, noch einmal darauf hin-
zuweisen, dass der demografische Wandel, dem wir uns
zu stellen haben, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten
wahrscheinlich eine der zentralen gesellschaftlichen und
politischen Herausforderungen sein wird. Dabei sind aus
meiner Sicht zwei Aufgabenfelder zu unterscheiden.
Zum einen müssen wir angesichts der veränderten
Alterspyramide, der sinkenden Bevölkerungszahl und
der damit verbundenen Auswirkungen auf die Sied-
lungsstruktur die Frage beantworten, wie wir Daseins-
vorsorge, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusam-
menhalt ermöglichen und stabilisieren können. Zum
anderen müssen wir die Frage beantworten, wie wir eine
nachhaltige Bevölkerungsentwicklung sicherstellen kön-
nen. Das heißt, all die Fragen, die mit politischen Rah-
mensetzungen und gesellschaftlichen Einstellungen zu
tun haben, münden in der Frage, wie wir die für eine
nachhaltige Bevölkerungsentwicklung erforderlichen
Geburten- und Kinderzahlen in unserem Land erreichen
können. Beide zuvor genannten Fragen haben ihr eige-
nes Gewicht. Der Fragesteller hat sich vor allem auf die
erste konzentriert.

Die Bundesregierung stellt mit Blick auf den ersten
Aspekt fest, dass kein Anlass besteht, Katastrophenstim-
mung zu verbreiten; dies wäre angesichts der demografi-
schen Herausforderungen auch problematisch. Die
Bundesregierung möchte diesen Herausforderungen mit
einer konstruktiven Haltung begegnen. Sie möchte die
anstehenden Veränderungen als einen Modernisierungs-
auftrag für unsere Gesellschaft, für die politischen Struk-
turen und für die politischen Rahmensetzungen verstan-
den wissen. Die Bundesregierung hat bereits in diesem
Sinne gehandelt und verschiedene Initiativen ergriffen,
gesetzliche und untergesetzliche Instrumente umgebaut
sowie Programme aufgelegt. Ich will hier drei Beispiele
nennen.

Das erste Beispiel ist das Konzept zur Fachkräftesi-
cherung vom Juni letzten Jahres. In diesem hat die Bun-
desregierung wesentliche Ansatzpunkte und Maßnah-

men zur Fachkräftesicherung – von der Erstausbildung
bis hin zur Aktivierung und Integration Arbeitsloser in
den Arbeitsmarkt – dargelegt und sich darüber mit Wirt-
schaftsverbänden und Gewerkschaften in einer gemein-
samen Erklärung verständigt.

Das zweite Beispiel für die Bemühungen der Bundes-
regierung ist das Handlungskonzept „Daseinsvorsorge
im demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten“, das
zusammen mit den neuen Bundesländern erarbeitet
wurde. Es wurde auf der Ministerpräsidentenkonferenz
Ost am 5. Oktober letzten Jahres verabschiedet. Für
mich als Beauftragter für die neuen Länder ist dies ein
Beispiel für die gute Zusammenarbeit der Bundesregie-
rung mit den neuen Bundesländern.

Das dritte Beispiel – dies war vor nicht allzu langer
Zeit auch Gegenstand der Befragung der Bundesregie-
rung – ist die Forschungsagenda „Das Alter hat Zu-
kunft“. Sie wurde im November 2011 verabschiedet und
zielt auf Forschungsprogramme, die sich zentralen offe-
nen Fragen des demografischen Wandels widmen, Er-
kenntnisbedarf decken und unserer Demografiepolitik
eine wissenschaftlich fundierte Basis geben wollen.

Hier ist auch auf den Demografiebericht der Bundes-
regierung zu verweisen, der im Oktober letzten Jahres
verabschiedet wurde. In diesem werden die Aktivitäten
der Bundesregierung und die wissenschaftlich gesicher-
ten Erkenntnisse über die relevanten demografischen
Daten und Zusammenhänge umfassend dargestellt.

Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,
haben wir die heute auf der Tagesordnung stehende
Große Anfrage der SPD zum demografischen Wandel
gerne beantwortet. Wie Sie sich selbst überzeugen kön-
nen, sind die Antworten ausführlich und detailliert aus-
gefallen. Ich hoffe, Sie würdigen das in der nachfolgen-
den Debatte.

Nunmehr geht es der Bundesregierung um einen wei-
teren wichtigen Schritt. Ende dieses Monats, also Ende
März, werden wir eine Demografiestrategie vorlegen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf sind wir schon gespannt!)


Diese Strategie legt die wichtigsten Handlungsfelder
fest, auf denen sich die politische Gestaltung des demo-
grafischen Wandels in den nächsten Jahren bewähren
soll. Im Mittelpunkt stehen die Lebensbereiche, in denen
die Menschen die Veränderungen ganz unmittelbar und
am stärksten erfahren: die Familie, das Arbeitsleben, das
selbstbestimmte und unterstützte Leben im Alter, die
ländlichen Räume und die integrative Stadtpolitik.

Außerdem sollen in dieser Demografiestrategie die
entscheidenden Faktoren, um langfristig Wachstum,
Wohlstand und Zusammenhalt in unserem Land zu
sichern, angesprochen werden: Bildung, Fachkräfte,
qualifizierte Zuwanderung – ich verweise auf den letzten
Tagesordnungspunkt vor dieser Debatte –, Mittelstand
und Unternehmertum, Forschung, Infrastruktur, solide
Finanzen und eine leistungsfähige öffentliche Verwal-
tung. In all diesen Bereichen wird die Bundesregierung
ihre Zielsetzungen beschreiben und die wichtigsten Ini-
tiativen aufzeigen, die sie noch in dieser Legislatur-





Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)


periode, aber auch längerfristig für notwendig hält und
umsetzen will.

Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Die Ge-
staltung des Wandels kann nur gelingen, wenn alle staat-
lichen Ebenen und gesellschaftlichen Akteure zusam-
menwirken. Eine ressort- und ebenenübergreifende
Politik, wie sie die von uns geplante Strategie anstrebt,
kann also nicht verordnet, sondern muss gemeinsam ge-
tragen werden. Mehr noch: Wir brauchen die Kreativität
vor Ort. Es geht um Entscheidungen, die nicht allein am
grünen Tisch getroffen werden können. Eine Demogra-
fiestrategie muss auch die zentralen Felder beschreiben,
auf denen die Bundesregierung mit Ländern und Kom-
munen, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft ge-
meinsame Antworten entwickeln und umsetzen will.

Es ist klar, dass die föderale Ebene in diesem Dialog-
prozess besonders gefordert ist. Deshalb bin ich sehr
froh, dass es mit dem Handlungskonzept für die neuen
Bundesländer im letzten Jahr gelungen ist, in dieser Hin-
sicht ein erstes Beispiel zu geben. Maßnahmen und Pro-
gramme können nur wirken, wenn sie auf die Bereit-
schaft der Bürgerinnen und Bürger treffen, sich auf
Veränderungen einzulassen. Es geht also auch um einen
Bewusstseinswandel. Die notwendigen Veränderungen
können sonst nicht gelingen.

In den letzten Jahren hat dieser Bewusstseinswandel
an vielen Stellen begonnen; das sollte uns ermutigen.
Vor Ort werden zahlreiche neue Lösungen gefunden. Ich
erwähne ein Beispiel, das aus meiner Sicht bisher viel zu
wenig gewürdigt wurde: den Tarifvertrag der chemi-
schen Industrie in den neuen Bundesländern, in dem
zum Thema „lebensphasengerechte Arbeitszeitgestal-
tung“ Festlegungen getroffen wurden. Als Beauftragter
für die neuen Bundesländer blicke ich mit großer Genug-
tuung auf diesen Tarifvertrag, weil die besonderen
Herausforderungen, die die neuen Bundesländer in
puncto Demografie zu bewältigen haben, darin beispiel-
haft aufgenommen und sehr konstruktive Lösungen ge-
funden wurden.

Ich könnte viele weitere Beispiele nennen: Junge
Menschen entscheiden sich für höhere Qualifikation und
stellen sich auf veränderte Lebensläufe ein. Arbeitneh-
mer beginnen, sich auf das längere Leben in Beruf und
Alter vorzubereiten. Ältere Menschen wollen ihre Le-
benserfahrungen über die eigene Familie hinaus einbrin-
gen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.

Wir sind also schon auf dem Weg, uns neu zu organi-
sieren. All dies gilt es zu unterstützen und als Quelle der
Motivation und des Zusammenhalts in unserer Gesell-
schaft zu nutzen. Alles in allem gilt es, die Innovations-
kraft und die Dynamik unseres Landes zu nutzen. Dann
brauchen wir vor den Veränderungen, die uns bevorste-
hen, keine Angst zu haben. Deutschland ist als ein ent-
wickeltes Land in der Lage, diese Veränderungen zu
meistern. Gehen wir sie gemeinsam an! In diesem Sinne
würde ich die Antwort auf die Große Anfrage der SPD-
Fraktion gerne diskutiert sehen wollen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716213400

Das Wort hat nun Sabine Bätzing-Lichtenthäler für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1716213500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner
Teile.“ Das wusste schon Aristoteles vor knapp
2 500 Jahren. Diese Erkenntnis des berühmten Griechen
hatte die Bundesregierung bei der Beantwortung unserer
Großen Anfrage zum demografischen Wandel aber
offensichtlich nicht; denn sie verfängt sich in ihrer Ant-
wort in einer Projektitis und einer Menge unabgestimm-
ter Einzelteile und Ideen. Oft weiß das eine Ministerium
überhaupt nicht, was das andere tut.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, nein, nein!)


Einerseits will sie mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt,
mehr Zuwanderung und will die Städte umgestalten.
Andererseits will sie ein Betreuungsgeld, hält sie am
Ehegattensplitting fest, um Frauen vom Arbeitsmarkt
fernzuhalten, scheut sie ein offensive Zuwanderungsge-
setz wie der Teufel das Weihwasser und kürzt sie eifrig
die Mittel für die Städtebauförderung.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Da stimmt aber überhaupt nicht!)


Das nenne ich „links blinken und rechts abbiegen“. Herr
Ramsauer hätte das einmal in seinen neuen Strafpunkte-
katalog aufnehmen sollen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
keine Idee und keinen ressortübergreifenden Ansatz, aus
dem hervorgeht, wie sie sich Deutschland 2050 vorstellt.
Diese Meinung teilt übrigens auch das Kanzleramt,
wenn es sagt: Der Bundesinnenminister hat erkennbar
noch keinen Zugang zum Thema demografischer
Wandel gefunden. – Sie können das in der Zeit vom
26. Januar 2012 nachlesen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das muss trotzdem nicht stimmen!)


Besonders deutlich werden diese Ideenlosigkeit und
der fehlende Zugang in der Antwort auf unsere Frage 3
nach dem Gesellschaftsentwurf.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Frage war schon dämlich!)


Dort schreibt die Bundesregierung,

dass die freiheitliche demokratische Grundordnung
sowie die im Grundgesetz festgelegten Werte und
grundlegenden Prinzipien auch im Jahr 2050 die
Grundlage der bundesdeutschen Gesellschaft bilden
werden.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr gut!)






Sabine Bätzing-Lichtenthäler


(A) (C)



(D)(B)


Ich frage Sie ernsthaft: Ist das Ihre Strategie für 2050?
Das ist Ihr Gesellschaftsentwurf? Es soll sich an unse-
rem System nichts ändern?

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Niemals!)


Ich wünsche mir auch, dass unser Grundgesetz 2050
noch Bestand hat und dass wir in Deutschland in Freiheit
leben können.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Dann nehmen wir das einmal zu Protokoll!)


Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, hier
kann die Planung doch nicht aufhören; da muss die
Planung doch erst beginnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wo sind Ihre Ideen für mehr erfüllte Kinderwünsche,
für gutes Wohnen, für mehr Bildungschancen, für den
Arbeitsmarkt der Zukunft und für die Gesundheitsförde-
rung? Welche Vorstellungen haben Sie für mehr Mit-
einander und Füreinander in Familien, zwischen den
Generationen, in der Nachbarschaft, in der Region, in
Deutschland und in Europa? In der Antwort auf die
Große Anfrage sucht man diese Ideen vergeblich. Ich
frage mich: Wollen oder können Sie diese Antworten
nicht geben?


(Katja Mast [SPD]: Beides!)


Ohne Antworten ist die Bundesregierung jedenfalls bei
der Gestaltung des demografischen Wandels ein Total-
ausfall.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, ist sie nicht! Das können Sie wissen!)


Dass ausgerechnet jetzt – wir haben es ja gerade ge-
hört – das Thema Demografie den Koalitionsfrieden ret-
ten und die Einigkeit der Koalitionäre dokumentieren
soll, wie es heute die Rheinische Post berichtet, lässt
nichts Gutes erahnen; denn eine machtpolitisch moti-
vierte Demografiestrategie ist von Anfang an zum Schei-
tern verurteilt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für uns ist klar: Wir wollen ein alle Lebensbereiche
umfassendes fortschrittliches, soziales und demokrati-
sches Gesellschaftsmodell. Es geht uns nicht darum, den
Menschen vorzuschreiben, wie sie 2050 zu leben haben.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)


Wir wollen uns anhören, wie sie 2050 leben wollen, und
dann die Weichenstellungen vornehmen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist ein bisschen widersprüchlich, oder?)


Wir setzen daher mit unserem Zukunftsdialog darauf,
dass wir alle gemeinsam in Deutschland die Richtung
bestimmen. Wir freuen uns, dass sich die Bundesregie-
rung nun auch mit ihrem Dialog auf den Weg gemacht

hat. Nachahmen ist hier ausdrücklich erwünscht. Immer
wenn Sie das getan haben, ist etwas Gutes dabei heraus-
gekommen, wie beim Atomausstieg oder auch beim
Elterngeld.

Die Frage, die wir den Menschen stellen, ist einfach:
Wie wollt ihr miteinander leben? Uns als Sozialdemo-
kraten ist gutes Leben wichtig.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Zukunft ist gut für alle! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das schreiben Sie am besten auf das Wahlplakat und schreiben dazu „Schönes Wetter“!)


Wir sehen den demografischen Wandel nicht als Gefahr,
der wir noch entkommen können, wenn wir alle Ein-
schnitte hinnehmen. Wir wollen und wir werden errei-
chen, dass es den Menschen durch den demografischen
Wandel nicht schlechter, sondern möglichst besser geht.

Für unsere Politik bedeutet das, dass wir frühkind-
liche Bildung und Betreuung nicht einschränken. Für
unsere Politik bedeutet das, dass wir gute Arbeitsbedin-
gungen und Arbeitszeitmodelle schaffen und für einen
Mindestlohn eintreten, von dem jeder leben kann,


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie mal etwas zu den Streichungen von Lehrerstellen durch Sozialdemokraten in den Ländern!)


dass wir bezahlbare und bedarfsgerechte Wohnungen
vorhalten und die Städtebauprogramme nicht kürzen,
dass wir die Vielfalt von Menschen und Kulturen in der
Gemeinschaft integrieren,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und schließlich – damit komme ich zum Schluss –, dass
wir das Miteinander organisieren: das Miteinander der
Generationen, aber auch das Miteinander von Bund,
Ländern und Kommunen.

Meine Damen und Herren, wir werden den demogra-
fischen Wandel nur dann gestalten, wenn wir im Bund
das Notwendige tun und Ländern und Kommunen un-
sere Hilfe und Koordination anbieten. Es ist an der Zeit,
klarzustellen, wer bei dieser Thematik den Hosenanzug
anhat und wer das Steuer in die Hand nimmt. Es ist auch
höchste Zeit, dass die Richtlinien von dort kommen, wo
sie herzukommen haben: Richtlinien sind Chefsache,
und Regieren ist mehr als Krisenmanagement.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716213600

Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Phrasendrescherei ist beendet! Sehr gut!)







(A) (C)



(D)(B)



Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1716213700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Nachdem wir beim letzten Mal auf
den dringenden Wunsch der SPD-Fraktion hin ihren ei-
genen Fragenkatalog diskutiert haben, freue ich mich,
dass wir heute eine stärker inhaltlich fokussierte Debatte
über die Antworten der Bundesregierung zu ihrer Gro-
ßen Anfrage im Zusammenhang mit dem demogra-
fischen Wandel in Deutschland führen können.

Der demografische Wandel ist – daran besteht, glaube
ich, kein Zweifel – eine zentrale Herausforderung unse-
rer Zeit. Deswegen hat sich die christlich-liberale Koali-
tion für die laufende Legislaturperiode vorgenommen,
dieses Thema mit besonderer Sorgfalt zu bearbeiten.
Dies wurde mit dem Kabinettsbeschluss vom November
2009 deutlich zum Ausdruck gebracht. Heute, gut zwei
Jahre später, können wir mit einiger Zufriedenheit auf
die ersten Ergebnisse der damaligen Vereinbarung zu-
rückblicken.

Der Bundesminister des Innern hat, wie vereinbart,
im November des vergangenen Jahres einen Bericht zur
demografischen Lage und künftigen Entwicklung des
Landes vorgelegt. Zudem wird das Thema im Rahmen
der Demografiestrategie des Bundes berücksichtigt, die
noch in diesem Frühjahr – eine Vereinbarung steht kurz
bevor – vom Kabinett verabschiedet wird. Ich bin mir
sicher, dass wir uns als Parlament in diesem Zusammen-
hang noch einmal sehr ausführlich mit dem Thema be-
schäftigen werden.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur einmal? – Gegenruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Mindestens! – Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Das ist aber wenig!)


– Wir können es dann steuern, wie oft wir uns damit be-
schäftigen.

Neben diesen Maßnahmen hat das Bundesminis-
terium des Innern in Zusammenarbeit mit den Bundes-
ländern das „Handlungskonzept: Daseinsvorsorge im
demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten“ vorge-
legt. Die christlich-liberale Koalition hat damit für eine
solide Datenbasis für den Umgang mit dem demografi-
schen Wandel gesorgt, anhand derer wir zahlreiche Maß-
nahmen angehen können und bereits angegangen sind.

Wichtig ist, dass wir aufhören sollten, die durch den
demografischen Wandel bedingten Veränderungen stän-
dig als Bedrohung zu sehen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir nie getan!)


Der demografische Wandel stellt vielmehr die Verände-
rung der Rahmenbedingungen dar, vor deren Hinter-
grund die Gestaltung gesellschaftlicher, politischer und
wirtschaftlicher Aspekte erfolgt. Wir sollten diesen
Wandel annehmen; denn er stellt die Summe vieler indi-
vidueller Lebensentscheidungen dar. Das sollten wir re-
spektieren. Kleinreden sollten wir die Herausforderun-
gen, die der demografische Wandel mit sich bringt,
allerdings nicht; denn – das zeigen die Antworten der

Bundesregierung ebenso wie der Demografiebericht – er
erfordert unser Handeln.

Die christlich-liberale Koalition hat auch schon ohne
die Demografiestrategie gehandelt. So beruht zum Bei-
spiel unsere Daseinsvorsorge im Alter, die gesetzliche
Rente, seit ihrer Einführung im 19. Jahrhundert auf der
Annahme, dass die jüngere Generation die ältere mit-
finanziert. Bis dato war das nie ein Problem, da die jün-
gere Generation zahlenmäßig und produktiv immer die
vorherige Generation überboten hat. Heute ist das ganz
offensichtlich nicht mehr so. Immer mehr Menschen er-
reichen glücklicherweise ein hohes Alter, sind auch im
fortgeschrittenen Alter noch aktiv und wollen am
Erwerbsleben gerne teilhaben. Daher ist mit der schritt-
weisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre
ein erster Schritt getan, der älteren Menschen die Teil-
nahme am Arbeitsmarkt ermöglicht und die Sozial-
kassen entlastet.

Damit allein wird es allerdings nicht getan sein; denn
ältere Menschen werden mit ihrer Erfahrung und ihren
Fähigkeiten nicht unbedingt immer an denselben Ar-
beitsstellen eingesetzt werden können. Daher möchte die
FDP-Fraktion weiterhin das Altersmanagement in Un-
ternehmen sowie Umschulungsprogramme fördern und
günstige Rahmenbedingungen hierfür schaffen. Eine zu-
sätzliche Flexibilisierung des Renteneintrittsalters halten
wir vor diesem Hintergrund ebenfalls für sinnvoll.

Die Weiterentwicklung der Mobilität auf regionaler
und kommunaler Ebene ist dabei ebenso zentral. Auch
die bevorstehenden Initiativen im Bereich E-Govern-
ment zählen beispielsweise zu den Maßnahmen, mit
denen wir auf den demografischen Wandel reagieren;
denn damit kann eine flächendeckende Verwaltung
sichergestellt werden.

Doch auch diese Anstrengungen allein werden nicht
ausreichen. In einer schrumpfenden Gesellschaft werden
wir uns auch stärker mit dem Thema Zuwanderung
befassen müssen. Sie ist Quell neuer Ideen, die unsere
Gesellschaft bereichern und voranbringen werden, und
sie stellt sicher, dass der bevorstehende Mangel an Fach-
kräften in der Wirtschaft und in den sozialen Diensten
abgefedert wird.

Daher weise ich gerne noch einmal darauf hin, dass
die christlich-liberale Koalition sich gerade vorhin im
Parlament mit der Bluecard beschäftigt hat. Das ist ein
wichtiger Baustein der künftigen deutschen Zuwande-
rungspolitik.

Sie sehen, dass die christlich-liberale Koalition die
Herausforderungen des demografischen Wandels ernst
nimmt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie handelt auch und stellt nicht nur Fragen.

Die Bundesregierung wird noch in diesem Frühjahr,
also sehr bald, ihre Strategie zum demografischen Wan-
del vorlegen. Die FDP-Fraktion wird diese Strategie
selbstverständlich weiterhin konstruktiv, aber auch kri-
tisch begleiten. Ich denke, liebe Frau Kollegin Rößner,





Manuel Höferlin


(A) (C)



(D)(B)


dass wir uns hier im Parlament mehr als einmal damit
beschäftigen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716213800

Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716213900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es gibt zwei Begriffe, die oft in einen Zusam-
menhang gebracht werden: der demografische Wandel
auf der einen Seite und die Generationengerechtigkeit
auf der anderen Seite. Der demografische Wandel wird
immer als Ursache beschrieben. Dabei ist auch dieser
nicht einfach so über uns gekommen. Er hat Ursachen,
die auch politisch gemacht sind.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Der demografische Wandel politisch gemacht?)


Generationengerechtigkeit wird als moralisches Ziel bei
der Bearbeitung der Folgen des demografischen Wan-
dels beschrieben.

Das Problem, das ich damit habe, sind die Instru-
mente, die von der Politik in den letzten Jahren und Jahr-
zehnten daraus abgeleitet worden sind. Denn diese
Instrumente heißen: Privatisierung, Kürzung von Leis-
tungen und nicht zuletzt Schuldenbremse. Diese führen
aber aus meiner Sicht zu einer weiteren Verschärfung der
Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaft. Ich möchte
Ihnen das an einigen Beispielen verdeutlichen.


(Beifall bei der LINKEN)


Mein erstes Beispiel ist die Rente. Die Namen Rürup
und Riester stehen für die Privatisierung der Rente. Die
Namen Müntefering und von der Leyen stehen für die
Kürzung der Rente durch die Anhebung des Rentenein-
trittsalters. Beide Maßnahmen – Privatisierung und Kür-
zung – führen aber gerade nicht zu einer dauerhaften
Entlastung der Rentenkassen und zu mehr Gerechtigkeit,
sondern sie verlagern das Armutsrisiko auf die Men-
schen, die sich private Vorsorge aufgrund ihrer geringen
Löhne nicht leisten können, und auf diejenigen, die aus
Erwerbslosigkeit in Rente gehen und deshalb mit Ab-
schlägen leben müssen. Beides ist für mich kein Weg zu
mehr Generationengerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat hier heute Vormittag ihr Konzept für
eine solidarische Rentenversicherung vorgestellt, in die
alle einzahlen und bei der im Alter niemand von weniger
als 900 Euro pro Monat leben soll. Ich bin auf Ihre Vor-
schläge gespannt. Zweites Beispiel: die Gesundheits-
politik. Womit haben wir es hier zu tun? Mit Kürzungen
im Leistungskatalog der Krankenkassen, Zuzahlungen
zu medizinisch notwendigen Untersuchungen und Medi-
kamenten, Eintrittsgebühren für die Praxen der Ärzte,

Aushöhlung der paritätischen Finanzierung durch
Arbeitnehmer und Arbeitgeber, weil nun die Versicher-
ten einseitig Zusatzbeiträge leisten müssen. Auch hier
öffnet sich also die Schere nicht zwischen Alt und Jung,
sondern zwischen Arm und Reich. Das ist eine weitere
Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaft, der wir
nicht zuschauen dürfen, die aber politisch gemacht ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat auch hierzu ein Konzept vorgelegt. Wir
fordern eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversi-
cherung, in die mehr Menschen als jetzt einzahlen, zum
Beispiel auch Bundestagsabgeordnete, und die eine
Zweiklassenmedizin verhindern soll. Auch hier bin ich
auf Ihre Vorschläge gespannt.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittes Beispiel: das Elterngeld. Auch das ist schon
angesprochen worden, ein breites Thema in der Großen
Anfrage. Ja, meine Fraktion hat den Grundgedanken des
Elterngeldes unterstützt. Junge Familien sollen gefördert
werden, und wir wollen sicherstellen, dass beide Eltern-
teile sich der Betreuung ihrer Kinder widmen können,
ohne allzu große Einkommensverluste hinnehmen zu
müssen. Aber das Elterngeld für besserverdienende Müt-
ter und Väter wird durch die Streichung der Leistungen
für einkommensschwache Eltern gegenfinanziert. Das
Mindestelterngeld von 300 Euro wurde nur noch für
zwölf, maximal 14 Monate eingeführt. Das Erziehungs-
geld vorher wurde für zwei Jahre gezahlt. Nun aber wird
das Mindestelterngeld vollständig auf das Arbeitslosen-
geld II angerechnet. Das heißt, erwerbslose Eltern be-
kommen nicht einen einzigen Cent als Anerkennung der
Erziehungsleistung. Auch hier kommt es zu einer Polari-
sierung zwischen Arm und Reich und nicht zwischen Alt
und Jung. Auch hierzu hat die Linke eigene Vorschläge
vorgelegt.

Ich möchte noch ein viertes, kurzes Beispiel anfüh-
ren: die Einkommen. Eine Studie der Bertelsmann-Stif-
tung, die der Linken nicht gerade nahesteht, kommt zu
der Einschätzung, dass die Ungleichverteilung der Ein-
kommen in Deutschland innerhalb der letzten rund zwei
Jahrzehnte so stark zugenommen hat wie in kaum einem
anderen OECD-Mitgliedsland. Sie kommentiert dieses
Ergebnis, dass mit Blick auf den Zusammenhalt einer
Gesellschaft eine solche Polarisierungstendenz bedenk-
lich sei.

Ich glaube nicht, dass es das ist, was Sie, Herr Staats-
sekretär, unter Modernisierung verstehen. Ich hoffe zu-
mindest, dass es nicht das ist, was Sie unter Modernisie-
rung der gesellschaftlichen Strukturen verstehen, um den
demografischen Wandel in den Griff zu bekommen. Das
würde uns nämlich in den Abgrund führen.


(Beifall bei der LINKEN)


In wenigen Tagen, am 8. März, feiern wir den Inter-
nationalen Frauentag. Im vergangenen Jahr wurde er
zum 100. Mal begangen. Es gibt einen Verein der in der
DDR geschiedenen Frauen, der vor allem in Ostdeutsch-
land aktiv ist. Diese Frauen gehen jedes Jahr auf die
Straße, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Sie sagen,





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


dass sie bei der Rente ungerecht behandelt werden. Wir
haben dieses Thema hier im Bundestag schon mehrfach
behandelt und dazu Vorschläge gemacht. Die Vorsit-
zende dieses Vereins hat im Rahmen der letztjährigen
Demonstration gesagt: Wir sind zwar alt, aber wir ver-
stecken uns nicht. Wir bitten nicht. Wir wollen auch
keine Armutslösung. Wir wollen Gerechtigkeit. – Darum
geht es. Es geht um die Herstellung von Generationen-
gerechtigkeit, und darum muss es auch gehen, wenn wir
den demografischen Wandel gestalten wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin in einem Dreiweiberhaushalt groß geworden.
Er bestand aus meiner Oma, meiner Mutter und mir.
Meine Oma ist am Montag dieser Woche 92 Jahre alt ge-
worden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])


Genauso wie ich nicht möchte, dass es Menschen und
sogar Abgeordnete in diesem Haus gibt, die ihr das Hüft-
gelenk nicht gönnen,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist absolut deplatziert!)


genauso möchte meine Oma nicht, dass meine Kinder
sich nicht das Studium leisten können. Es muss also
darum gehen, mehr Verteilung und Gerechtigkeit zwi-
schen den Generationen zu erreichen. Aber es muss auch
darum gehen, mehr Verteilung und mehr Gerechtigkeit
innerhalb der Generationen zu erreichen. Wir dürfen die
eine Generation nicht gegen die andere ausspielen, son-
dern wir müssen für mehr Gerechtigkeit auch innerhalb
der Generationen kämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Am 20. Februar war der Welttag der sozialen Gerech-
tigkeit. Das ist einigen von Ihnen vielleicht gar nicht auf-
gefallen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitat
von Stefan Heym bringen. Er hat zur Eröffnung des
13. Deutschen Bundestags im Jahr 1994 gesagt:

Benutzen wir die Macht, die wir haben, vor allem
die finanzielle, weise und mit sensibler Hand.

Diese Weisheit und Sensibilität habe ich auch an dem
diesjährigen Welttag der sozialen Gerechtigkeit ver-
misst. Ich hoffe, dass sich dies bald ändert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716214000

Das Wort hat nun Tabea Rößner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716214100

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In

der ersten Hälfte der Legislaturperiode konnte man fast
den Eindruck gewinnen, der demografische Wandel habe
sich in Luft aufgelöst. So wenig Aktivitäten gab es von-
seiten der Bundesregierung.


(Manuel Höferlin [FDP]: Gründlich gearbeitet!)


Die Regierung wollte partout nicht das Mammut erle-
gen, das vor der Höhle stand. Stattdessen musste die Op-
position sie immer wieder zum Jagen tragen.

Jetzt kommt das Thema langsam wieder in Fahrt; und
das ist auch höchste Zeit. Dieses Mal treten wir Ihnen
dank der Großen Anfrage der SPD auf die Füße. Doch
was sagt uns die Antwort? – Alles in Ordnung. Die Bun-
desregierung singt sich selbst eine Lobeshymne, wie toll
sie den demografischen Wandel gestaltet. Die Hymne
stellt sich aber bei genauerem Hinsehen eher als ein Ab-
gesang heraus. Und schiefe Töne gibt es zudem auch
noch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Schauen Sie einmal die Fragen an! – Manuel Höferlin [FDP]: Das liegt alles an den Fragen!)


Spielen wir etwa das Lied des Freiwilligendienstes al-
ler Generationen, den die Bundesregierung vorbildlich
und besonders effektiv nennt. Das war er auch. Nur lei-
der hat genau diese Bundesregierung den Dienst sterben
lassen, und das, obwohl sie weiß, dass der Freiwilligen-
dienst aller Generationen besonders die Menschen ange-
sprochen hat, die sich nie zuvor engagiert haben. Jetzt
werden Sie bestimmt den Refrain anstimmen, dass es die
Mehrgenerationenhäuser richten sollen. Aber diese er-
setzen den Freiwilligendienst aller Generationen nicht;
denn er hat es mit seinen mobilen Kompetenzteams den
Leuten leicht gemacht, anzudocken. Sieht so Ihr Kon-
zept aus: in der Vergangenheit schwelgen, Fehler aber
nicht korrigieren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein!)


Der Lapsus mit dem abgeschafften Freiwilligendienst
ist zwar bezeichnend für Ihre planlose Arbeit, aber er ist
eine Petitesse gegen das, was sich durch alle Antworten
zieht. Es fehlt etwas. Es fehlt das, was die Grundlage Ih-
rer Pläne zur Bewältigung des demografischen Wandels
sein sollte. Es fehlt eine Vision, wie unsere Gesellschaft
in Zukunft aussehen soll.


(Manuel Höferlin [FDP]: Die Strategie kommt doch nächsten Monat!)


Der demografische Wandel wird in den nächsten Jah-
ren und Jahrzehnten unsere Gesellschaft komplett verän-
dern. Da geht es nicht darum, Herr Staatssekretär, ob die
Bürger mitgenommen werden oder sich darauf einlassen.
Die Menschen leben doch schon mit dem Wandel. In der
Antwort zeigen Sie auch Handlungsbedarf auf, nur die
logischen Schlüsse daraus ziehen sie nicht.

Wir müssen jetzt in eine breite gesellschaftliche De-
batte darüber eintreten, wie wir in Zukunft leben wollen.
Jetzt müssen wir die Leitplanken ausrichten. Aber vor-
her sollten wir doch wissen, wohin der Weg überhaupt
führen soll.





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine einzige Positionierung konnte ich in Ihrer Ant-
wort finden, wie unser Land im Jahr 2050 aussehen
wird. In der Antwort 3 heißt es – diesen Zusatz, liebe
Sabine Bätzing, hast du leider vergessen –:

Besonderer Schutz gebührt dabei weiterhin Ehe und
Familie.

Besonderer Schutz der Ehe: eine so rückwärtsgewandte
Vorstellung der Zukunft ist wirklich sensationell.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Ach, das ist rückwärtsgewandt? Höchst interessant!)


Mit Ihren altmodischen und lebensfremden Familien-
vorstellungen machen Sie sich ja heute schon lächerlich,
wie der Beitrag von Ihrem Sittenwächter Norbert Geis
zeigt. Meinen Sie, die Menschen in diesem Land haben
keine andere Sorge als die, ob der zukünftige Bundes-
präsident verheiratet ist oder nicht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Nein, die Menschen sorgen sich eher darum, ob sie nach
der Elternzeit eine Kinderbetreuung haben und ob es
eine gute Schule in der Nähe gibt – und das besonders,
wenn sie in Mecklenburg-Vorpommern leben – und wie
sie Arbeit und Familie unter einen Hut bekommen. Das
sind die wichtigen familienpolitischen Fragen, und nicht
die Frage nach irgendeinem Trauschein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manuel Höferlin [FDP]: Die familienpolitischen Fragen des Bundes?)


Da passt es ganz gut, dass einige Ihrer Abgeordneten
jüngst eine Strafabgabe für Kinderlose einführen woll-
ten. Erst die Herdprämie, jetzt die Demografiestrafe –
Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger mit aller Gewalt
in das Korsett Ihres Gesellschaftsbildes hineinzwängen.
Wer überhaupt noch Lust hat, in diesem Land Kinder zu
kriegen, dem muss sie bei solchen Ansagen wirklich ver-
gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind nicht bereit, die gesellschaftlichen Entwick-
lungen zu akzeptieren. Also verharren Sie auch bei der
Gestaltung des demografischen Wandels im Gestern.
Beispiel Fachkräftemangel: Alle sind sich einig, wir
müssen drei Ressourcen mobilisieren, nämlich Frauen,
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie aus-
ländische Fachkräfte. Wir bräuchten dringend Zuwande-
rung von qualifizierten Arbeitnehmern. Dafür müsste
man aber das System reformieren. Stattdessen: klitze-
kleine Miniänderungen.


(Manuel Höferlin [FDP]: Zur Zuwanderung gab es keine Frage!)


Es gilt bei der Zuwanderung – zwar mit Ausnahmen –
noch immer ein Anwerbestopp. Das versprüht so viel
Willkommenskultur wie eine zugenagelte Haustür.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
Stattdessen wollen Sie Müttern etwas zahlen, wenn sie
länger zu Hause bleiben. Was ist denn das für eine kurz-
sichtige Politik? Investieren Sie das Geld doch endlich in
den Ausbau von Kindertagesstätten. Sorgen Sie für Ent-
geltgleichheit zwischen Männern und Frauen, und geben
Sie den jungen Frauen ein Signal, dass sie gebraucht
werden. Installieren Sie endlich eine echte Quote und
„flexiquoten“ Sie nicht rum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen auch die älteren Arbeitnehmer; das ist
beileibe kein Selbstläufer. Wir brauchen eine neue Kul-
tur der Arbeit. Gute Ausbildung, lebenslanges Lernen,
gesunde alterns- und altersgerechte Arbeitsplätze und
flexible Arbeitsplatzmodelle – das alles gehört dazu.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist doch nicht neu!)


Darüber hinaus brauchen wir eine bessere Integration äl-
terer Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt. Solch eine Poten-
zialverschwendung, wie wir sie heute betreiben, werden
wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können, meine Da-
men und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Pflegepolitik stellen Sie zu Recht dringenden
Handlungsbedarf fest. Wir brauchen mehr und besser be-
zahlte Pflegekräfte, die gut ausgebildet sind und deren
Beruf breite Anerkennung findet. Aber wie sieht Ihre
Lösung aus? Es gibt den kurzen Verweis auf die Pflege-
reform Ihres glücklosen Gesundheitsministers. Diese hat
das Bundesfinanzministerium mittlerweile wieder ein-
kassiert. Kein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff! Kein
Fahrplan! Keine Vision! Auch hier gilt: Planlosigkeit,
wohin man schaut.

Wir benötigen eine Pflegereform aus einem Guss, die
ehrlich formuliert, was für eine Pflege wir uns zukünftig
leisten wollen und was diese auch kosten wird. Das Mo-
dell dazu gibt es. Es ist die grüne Pflege-Bürgerversiche-
rung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Noch eine letzte Sache, bei der Erkenntnis und Kon-
sequenz weit auseinanderliegen: Sie sagen, die Lösun-
gen für den demografischen Wandel müssten hauptsäch-
lich vor Ort gefunden werden. Doch wie, bitte schön,
soll eine Kommune, die in dem Teufelskreis aus weniger
Einwohnern, weniger Einnahmen, aber nicht weniger
Kosten gefangen ist, ihre Infrastruktur gestalten? Auch
der Rückbau wird Geld kosten. Wir brauchen handlungs-
fähige und finanzkräftige Kommunen, damit vor Ort
überhaupt erst die Möglichkeit besteht, die Zukunft zu
gestalten. Diesen gedanklichen Bogen zur Bundespolitik
haben Sie offensichtlich noch nicht gespannt.





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)


Demnächst wird also – Sie haben es eben angekün-
digt – die Bundesregierung ihre Strategie für den demo-
grafischen Wandel vorstellen. Ich fürchte nur, dass wir
nichts Großes erwarten können. Denn die schwarz-gelbe
Regierung hat, wie sie mit ihrer Antwort beweist,


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie müssen nicht so pessimistisch sein!)


kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungspro-
blem, und das ist ziemlich eklatant.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716214200

Das Wort hat nun Günter Krings für die CDU/CSU-

Fraktion.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1716214300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Sie sehen, meine Damen und Herren von der
SPD: Ein wenig Geduld lohnt sich. Wir haben über diese
Große Anfrage debattiert. Inzwischen ist nicht nur die
Große Anfrage beantwortet, sondern es gibt auch einen
Demografiebericht, und in wenigen Wochen wird es
auch eine Demografiestrategie der Bundesregierung ge-
ben. Ich wünsche mir auch trotz mancher Wortmeldun-
gen und Aussagen heute, dass wir der Versuchung wi-
derstehen, dem Thema Demografischer Wandel mit
parteipolitischen und oppositionellen Reflexen zu be-
gegnen.

Es geht hier um langfristige und nachhaltige Strate-
gien, die wir als Antwort auf den demografischen Wan-
del gemeinsam suchen müssen. Natürlich brauchen wir
Strategien, die für eine Mehrzahl von Wahlperioden und
für viele verschiedene Bundesregierungen gültig sind.
Aber wenn wir das von vornherein nur im parteipoliti-
schen Streit tun – dieser ist ansonsten manchmal ganz
gut, und ich bin eigentlich auch nicht dagegen, partei-
politisch zu streiten –, dann werden wir bei dem Thema
nicht wirklich weiterkommen. Ich appelliere also an Ihre
Bereitschaft zu konstruktiver Zusammenarbeit in den
nächsten Wochen und Monaten; das klang eben nicht in
allen Redebeiträgen durch. Manche Stimmen und Aussa-
gen hätte ich mir zumindest ein wenig weniger schrill
gewünscht, meine Damen und Herren.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ich auch!)


Demografischer Wandel bedeutet zum einen, dass wir
eine Entwicklung – das hat der Kollege Müntefering
beim letzten Mal sehr gut dargestellt – auch langfristig
vorhersehen können. Das ist in unserem parlamentari-
schen Alltag, in dem wir oft sehr kurzfristig – ich denke
an den vergangenen Montag – Entscheidungen treffen
müssen, fast Luxus. Hier können wir endlich langfristig
abschätzen, in welche Richtung sich Entwicklungen
vollziehen.

Zum anderen verlangt der demografische Wandel,
dass wir umgekehrt vorausschauend planen müssen. Ge-
nau daran arbeiten wir zurzeit.


(Abg. Franz Müntefering [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Ich möchte gerne die Zwischenfrage des Kollegen
Müntefering zulassen, falls der Präsident nichts dagegen
hat.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716214400

Bitte schön, Kollege Müntefering.


Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1716214500

Herr Kollege, ich kann Ihren Appell, dass wir dieses

Thema nicht parteipolitisch wenden, sondern eine offene
Diskussion darüber führen sollten, verstehen. Was er-
warten Sie aber von der Opposition angesichts der Tatsa-
che, dass bei dieser Debatte das Ministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, das Bau- und Verkehrs-
ministerium, das Bildungsministerium, das Gesundheits-
ministerium sowie das Finanzministerium auf der Regie-
rungsbank nicht vertreten sind?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Aber das Innenministerium ist vertreten!)



Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1716214600

Herr Kollege Müntefering, herzlichen Dank für Ihre

Zwischenfrage. Auch ich vermisse bei dieser Debatte in
der Tat einiges. Das sage ich ganz offen. Ich könnte mir
die Regierungsbank besser besetzt vorstellen. Allerdings
weise ich darauf hin, dass hier das Innenministerium fe-
derführend ist. Das ist auch gut so, weil es das Ministe-
rium des sozialen Zusammenhalts ist und eine wichtige
Querschnittsaufgabe wahrnimmt.

Ich vermisse aber noch andere Dinge. Zum Beispiel
bedauere ich, dass Sie nicht auf der Rednerliste Ihrer
Fraktion stehen. Ihr Redebeitrag hätte zur Qualität der
Debatte beigetragen. Aber ich versichere Ihnen, dass so-
wohl der Dialog innerhalb der Regierungskoalition und
der Regierung als auch der Dialog mit der Opposition
nicht ausschließlich in dieser Form stattfinden müssen.
Wenn es bei Ihnen Bedarf für ein Gespräch mit mir gibt
– ich leite in meiner Fraktion die Projektgruppe „Demo-
grafischer Wandel“ –, dann stehe ich jederzeit gerne zur
Verfügung. Wir können, wenn wir es beide wünschen,
Vertreter der Ministerien hinzuziehen. Das sollten wir
alsbald einmal machen, Herr Kollege Müntefering.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Wir brauchen hier die Fähigkeit und die Bereitschaft
zu langfristigen Weichenstellungen. Man muss in der Tat
Rechenschaft darüber abliefern, welche langfristigen
Ziele wir politisch verfolgen. Aber heißt das – das ist der
Unterschied zwischen unserer Position und dem, was die
Kollegin Bätzing-Lichtenthäler vorgestellt hat und was
aus der grünen Fraktion in Person von Frau Rößner an-
klang –, dass wir jetzt schon sagen sollten, wie unsere
Vision der Gesellschaft im Jahre 2050 aussieht? Ich will





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


jetzt gar nicht den Satz von Helmut Schmidt, der be-
kanntlich nicht aus meiner Partei kommt, bemühen, der
einmal gesagt hat: Wer Visionen hat, der soll zum Arzt
gehen.

Der wahre Kern dahinter ist, dass wir sehr wohl be-
stimmte Grundwerte erhalten wollen. Das klang auch in
der Antwort auf die Frage 3 an, in der davon ausgegan-
gen wird, dass die freiheitlich demokratische Grundord-
nung erhalten bleibt. In dieser Antwort kommt weiterhin
zum Ausdruck, dass wir die Ehe im Gegensatz zu Ihnen
nicht für antiquiert halten und dass wir an dem besonde-
ren Schutz für Ehe und Familie festhalten wollen.

Eine Fortschreibung bestehender Werte in die Zu-
kunft – ja. Aber genau zu sagen, wie eine Gesellschaft
2050 aussehen soll, halte ich für anmaßend. Ich möchte
eine Politik der Nachhaltigkeit und als Reaktion auf den
demografischen Wandel. Dabei sollten wir zukünftigen
Generationen möglichst viele Handlungsoptionen und
Entscheidungsmöglichkeiten offenhalten. Das bedeutet,
dass wir unsere Ressourcen schonen müssen. Dazu ge-
hört in der Tat die Schuldenbremse und auch – ich sage
nachher noch einige Sätze dazu – die Nachhaltigkeit der
sozialen Sicherungssysteme. Legen wir also zukünftige
Generationen nicht auf bestimmte Visionen fest, sondern
geben wir ihnen möglichst viel Handlungsspielraum in
der Zukunft. Das ist meine Vorstellung von nachhaltiger,
generationengerechter Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen weise ich darauf hin – ich habe es schon
gesagt –, dass die Strategie der Bundesregierung bald
vorgelegt wird. Dass die Bundesregierung nicht mit ei-
nem Male das gesamte Pulver verschießen will, halte ich
für nachvollziehbar.

Um dieses Ziel einer gewissen Verstetigung von
Grundwerten zu erreichen, brauchen wir natürlich Ak-
teure. Herr Staatssekretär Bergner hat darauf hingewie-
sen, dass es diese Akteure in der Gesellschaft, in der
Wirtschaft und im privaten Bereich gibt. Aber auch der
Staat muss als Akteur hier sehr ernst genommen werden.
Ich will das an zwei Bereichen exemplifizieren.

Viele erwarten vom Staat – das erkenne ich an den
Zuschriften –, dass er etwas gegen den demografischen
Wandel unternimmt. Es wird gefragt, warum dieser
Wandel nicht gestoppt werden kann. Eben klang es sogar
bei den Linken an, der demografische Wandel sei eigent-
lich ein Produkt der Politik. Es ist ein merkwürdiges
Menschen- und Gesellschaftsbild, dass die Politik den
demografischen Wandel herbeigeführt hätte.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wenn man jungen Leuten Geld zahlt, damit sie wegziehen!)


Ich glaube, das wird außer Ihnen in diesem Haus nie-
mand als eine echte Erklärung ansehen.

Der demografische Wandel beruht im Wesentlichen
auf einer Summe von persönlichen Lebensentscheidun-
gen. Es ist auch gut so, dass die Menschen individuell
entscheiden können und wir ihnen keine politischen Vor-
gaben machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716214700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Golze?


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1716214800

Aber sehr gerne.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716214900

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen,

Herr Kollege. – Ich frage Sie: Ist es keine politische
Maßnahme, wenn eine Landesregierung eine Prämie an
junge Leute, aber auch an erwerbslose ältere Menschen
dafür zahlt, dass sie das Bundesland verlassen und in
eine andere Region ziehen, nur damit die eigene Statistik
stimmt? Meinen Sie nicht auch, dass diese politische
Maßnahme zur Folge hat, dass gerade aus Regionen, die
sowieso schon durch Geburtenmangel gekennzeichnet
sind, junge Leute abwandern, die höchstwahrscheinlich
nicht mehr zurückkommen werden? Glauben Sie nicht
auch, dass eine solche Maßnahme den demografischen
Wandel zumindest verstärkt?


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1716215000

Ich bestreite nicht, dass es politische Maßnahmen

gibt, die sowohl stärkend als auch schwächend auf den
Effekt einwirken können. Ich habe nur die Kausalität im
Kern bezweifelt. Die Menschen wollen Arbeit. Es mag
vielleicht Anreize geben, damit sie dahin gehen, wo es
Arbeit gibt. Ich glaube, dass die Politik nicht den Ver-
such machen sollte, jegliche Wanderungsbewegungen in
Deutschland um jeden Preis zu verhindern. Ich komme
aus dem Rheinland. Das ist nicht weit entfernt vom
Ruhrgebiet. Wenn es im 19. Jahrhundert beispielsweise
keine Wanderungsbewegungen aus den damaligen östli-
chen Gebieten Deutschlands in das Ruhrgebiet gegeben
hätte, hätte es weder vor dem Zweiten Weltkrieg noch
danach einen wirtschaftlichen Aufschwung an der Ruhr
gegeben. Insofern gibt es immer Wanderungsbewegun-
gen. Wir können uns darüber unterhalten, ob die eine
oder andere staatliche Maßnahme zu weit geht oder kon-
traproduktiv ist, aber so zu tun, als ob der demografische
Wandel im Kern auf staatlichen Entscheidungen beruht
– so haben Sie es dargestellt –,


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich nicht!)


ist schlichtweg falsch.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716215100

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, diesmal der Kollegin Scharfenberg von den Grü-
nen?


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1716215200

Gern. Beim nächsten Male wäre es einfacher, die Re-

dezeit zu verdoppeln, aber mit einer Zwischenfrage er-
reichen wir dies auch.






(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Manchmal kommt es mehr auf den Inhalt an. Vielen
Dank. – Im Hinblick auf den demografischen Wandel
haben Sie von einer Summe persönlicher Entscheidun-
gen gesprochen. Ich frage Sie zum Thema Pflegebedürf-
tigkeit. Dies ist nicht unbedingt eine persönliche Ent-
scheidung, die getroffen wird; es ist ein Schicksal, das
einen ereilen kann. Der demografische Wandel, wie er
sich im Moment vollzieht, zeigt uns ganz klar, dass wir
in naher Zukunft mit einer erhöhten Zahl an Hochaltri-
gen rechnen müssen, die einen erhöhten Pflegebedarf
haben können. Das ist nichts, was wir erst sehen könn-
ten; das sehen wir bereits. Meine Frage, die ich Ihnen in
diesem Zusammenhang stelle, ist: Warum weigert sich
diese Regierung, eine umfassende und strukturell und fi-
nanziell richtige Pflegereform auf die Beine zu stellen,
um dem entgegenzuwirken?


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1716215300

In der Tat haben wir bereits eine Pflegeversicherungs-

reform auf den Weg gebracht. Hier wollen wir neue
Leistungstatbestände, etwa bei Demenzkranken, schaf-
fen. Insofern reagieren wir auf Veränderungen in der Ge-
sellschaft, zum Beispiel beim Gesundheitszustand und
bei der Pflegebedürftigkeit. Ich glaube, dies ist ein Pro-
zess, der weitergehen muss. Insofern bin ich gar nicht so
weit weg von Ihnen. Ich glaube aber, dass wir dieses
Problem nicht nur auf der Leistungsseite angehen kön-
nen. Wenn wir sagen: „Es gibt mehr Leistungsempfänger
und mehr Bedarf im Bereich der Pflege“, so müssen wir
ebenfalls schauen: Ist die Finanzierung, wie wir sie ge-
staltet haben, nachhaltig? Ich mache keinen Hehl daraus,
dass wir in diesem Bereich auch das Stichwort „Demo-
grafierücklage“ beachten müssen. Im Bereich der Pfle-
geversicherung haben wir noch etwas zu tun. Das ist
aber ein schrittweiser, ein evolutiver Prozess. Wir haben
erste richtige und wichtige Schritte gemacht. Aus meiner
Sicht wird dieser Prozess sowohl auf der Leistungsseite
als auch auf der Finanzierungsseite weitergehen müssen.
Deswegen fände ich es gut, wenn die Grünen zu ihrer al-
ten Beschlusslage zurückkehren und einer Demografie-
rücklage, wie sie ursprünglich von ihnen gefordert
wurde, wieder etwas abgewinnen könnten. Vielleicht
könnten wir an dieser Stelle Skeptiker in unseren beiden
Fraktionen überzeugen. – Vielen Dank.

Zuwanderung, Abwanderung, Geburtenrate, Sterbe-
rate – das sind die vier Faktoren, die den demografischen
Wandel bestimmen. Wir können nur an wenigen Punkten
etwas ändern oder wesentlich verändern. Insofern warne
ich davor, zu meinen, man könnte das ganze Phänomen
stoppen. Bei der Zuwanderung – gerade haben wir eine
Debatte dazu geführt – haben wir gesetzliche Hand-
lungsmöglichkeiten. Wenn wir es richtig verstehen, be-
schränken sie sich auf qualitative Zuwanderung. Wenn
wir – das ist quantitativ – die Zahl der Arbeitnehmer und
Ruheständler im jetzigen Gleichgewicht halten wollen,
hieße das: jährliche Zuwanderung jenseits der Millio-
nengrenze. Ich glaube, niemand glaubt ernsthaft, dass
wir solche Zuwanderungszahlen in der Gesellschaft inte-
grativ sinnvoll verkraften können.

Beim Thema Abwanderung gibt es naturgemäß keine
Steuerungsmöglichkeiten. Dazu hätten allenfalls die Lin-
ken etwas aus ihrer Geschichte im Angebot, aber ich
verzichte, darauf einzugehen.

Beim Thema Geburtenrate haben wir die Pflicht, zu
schauen: Was hindert Menschen daran, einen Kinder-
wunsch, den sie als Paar haben, zu realisieren? Aber
auch da müssen wir bescheiden sein. Wir haben gute und
sinnvolle Maßnahmen eingeführt, etwa das Elterngeld.
Es hat nicht wesentlich zu einer Erhöhung der Geburten-
rate geführt. Wir können ein wenig tun, aber wir können
leider nicht allzu viel tun. Ich finde es an dieser Stelle
wiederum beruhigend, dass die Frage, ob man sich für
oder gegen Kinder entscheidet, im Wesentlichen eine
persönliche und nicht in erster Linie eine finanzielle Ent-
scheidung ist. Ich fände eine Gesellschaft problematisch,
in der dieses Thema nur auf eine rein finanzielle Frage
reduziert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will den letzten Faktor für einen demografischen
Wandel nennen: die Lebenserwartung. Ich hoffe, dass
wir an diesem Punkt gemeinsam etwas zur Verschärfung
des demografischen Wandels beitragen; denn ich möchte
eine Gesundheitspolitik – die betreiben wir –, die die Le-
benserwartung erhöht.

Ist also der Staat als Akteur im Wesentlichen auf die
Anpassung an den demografischen Wandel reduziert?
Ich will dazu nur einige Stichworte nennen.

Ich glaube, dass wir in der Tat – das haben wir beim
Thema Pflege schon angesprochen – bei den sozialen Si-
cherungssystemen agieren müssen. Die Politik muss sich
insgesamt, und zwar unabhängig von Parteigrenzen, vor-
werfen lassen, dass sie vor dem demografischen Wandel
im Hinblick auf die soziale Sicherung jahrzehntelang
fest die Augen verschlossen hat. Wir haben die Augen in
den letzten Jahren jedoch gemeinsam geöffnet und ha-
ben beispielsweise die Rente mit 67 als Ziel eingeführt.

Das ist wichtig, wenn wir nicht entweder Beiträge er-
höhen oder Rentenzahlungen senken wollen. Ich halte
alle Vorschläge – egal von welcher Fraktion in diesem
Hause sie kommen –, die die Rente mit 67 infrage stel-
len, für ein echtes Sicherheitsrisiko im Hinblick auf die
langfristige Sicherung unserer Renten. Aus diesem
Grunde müssen wir den Weg weitergehen, die Konse-
quenzen aus dem demografischen Wandel zu ziehen.

Das Thema Pflegeversicherung und Demografierück-
lage habe ich bereits angesprochen.

Ein zweiter großer Bereich, wo wir tätig werden müs-
sen – das wird sicher einer der Schwerpunkte in der Stra-
tegie werden –, ist die Bildung. In einer schrumpfenden
Gesellschaft können wir es uns immer weniger leisten,
dass Talente ungenutzt bleiben. Das heißt nicht, dass wir
für jeden die Habilitation anstreben sollten. Ich glaube
aber, dass wir viel stärker mit dem Pfund der dualen
Ausbildung in Deutschland, worum uns die halbe Welt
beneidet, wuchern können. Vor allem müssen wir das
Bildungsniveau und die Bildungschancen von Menschen
mit Migrationshintergrund verbessern.





Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


Schließlich: Die Chance und die Notwendigkeit zum
Lernen hören nicht im Alter von 30 Jahren auf. Wir
brauchen eine kulturelle Entwicklung hin zum lebens-
langen Lernen, die wir vonseiten des Staates auf ver-
schiedenen Ebenen anstoßen können. Ich habe das Ge-
fühl – wenn ich diesen Gedanken noch äußern darf –,
dass lebenslanges Lernen von vielen Menschen eher als
Bedrohung denn als Chance wahrgenommen wird. Wir
müssen dahin kommen, dass alle Generationen und alle
Altersgruppen wieder einen gewissen Wissensdurst, ei-
nen Lernhunger verspüren. Damit können wir einen we-
sentlichen Beitrag zur Anpassung an den demografi-
schen Wandel leisten.

Ich könnte noch eine Reihe von weiteren Punkten
nennen, unter anderem konkrete Beispiele aus den neuen
Ländern zum Thema Infrastrukturentwicklung. In dieser
Beziehung können die alten Länder viel von den neuen
Ländern lernen. Wir brauchen hier keine Sorge zu haben.
Es gibt durchaus hochentwickelte und wohlhabende
Länder mit viel geringerer Bevölkerungsdichte, die das
sehr gut schaffen: Kanada ist ein Beispiel, des Weiteren
Finnland oder Länder in Osteuropa.

Es gibt also keinen Grund zur Sorge, aber Grund zum
Arbeiten. Wir müssen das Thema nicht nur über Frak-
tions- und Parteigrenzen hinweg angehen, sondern es
auch über die Grenzen der staatlichen Ebenen hinaus an-
packen. Bund, Länder und Kommunen müssen hier ge-
meinsam arbeiten. Die nationale Strategie ist der erste
Schritt. Wir werden weitere Schritte hoffentlich mit Ih-
nen gemeinsam gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716215400

Das Wort hat nun Ulrike Gottschalck für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1716215500

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsi-

dent! Ein halbes Jahr haben wir auf die Antworten der
Bundesregierung gewartet. Wir wollten erfahren, welche
Handlungsperspektiven und welche nachhaltigen Ant-
worten die Bundesregierung gibt.

Ich will Herrn Dr. Bergner, den ich jetzt nicht mehr
sehe, gerne zubilligen: Danke schön, es war eine ordent-
liche Fleißarbeit. Aber ansonsten muss ich sagen, dass
sich das Warten leider nicht gelohnt hat. Es gibt in dieser
Antwort viele warme Worte und heiße Luft, aber keine
Konzepte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insbesondere die Antworten der Bundesregierung zur
Rolle der Kommunen und Regionen grenzen schon fast
an Ignoranz. Allein optisch sieht man schon, dass die
Kommunen bei der Bundesregierung offensichtlich
keine prioritäre Rolle genießen; denn die Kommunen
sind der Regierung gerade einmal einige wenige Zeilen

wert. Schaut man sich dann diese wenigen Zeilen inhalt-
lich an, wird es erst richtig gruselig.

Meine sehr geehrten Herren auf der Regierungsbank
– ich sehe nur noch Herrn Ferlemann und Herrn Fuchtel –:
Haben Sie eigentlich realisiert, dass die demografische
Entwicklung insbesondere die Kommunen trifft, weil ih-
nen die Gesamtverantwortung für die Daseinsvorsorge
vor Ort obliegt? Haben Sie realisiert, dass die Kommu-
nen für die Aufrechterhaltung einer reibungslos funktio-
nierenden Infrastruktur und Mobilität zuständig sind und
dass der Druck auf die Kommunen im Hinblick auf die
Sicherstellung der Grundversorgung – Kindergärten, Ge-
sundheitsversorgung, ÖPNV, Nahversorgung und vieles
mehr – immer stärker wird? Meine sehr geehrten Damen
und Herren, Herr Dr. Bergner – Sie sind jetzt wieder da –,
haben Sie realisiert, dass die Kommunen dafür die Un-
terstützung des Bundes brauchen? Wo sind Ihre Strate-
gien und Konzepte?

In den wenigen Passagen, die Ihnen die Kommunen
wert sind, spielen Sie Schwarzer Peter, schieben die
Verantwortung den Ländern und Kommunen zu. Auf
Seite 33 führen Sie aus:

Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft um
die Belange der benachteiligten Stadtteile kümmern
und die Städte und Gemeinden darin unterstützen


Und wie sieht die Realität aus? Die Mittel für die Städte-
bauförderung, insbesondere für das Programm „Soziale
Stadt“, wurden 2010 und 2011 drastisch gekürzt, 2012
auf niedrigem Niveau verstetigt.

Auf Seite 18 teilen Sie mit:

Das Wohnen im Alter ist und bleibt ein Schwer-
punkt der Wohnungs- und Stadtentwicklungspoli-
tik.

Wenige Sätze weiter feiern Sie sich für das gute KfW-
Programm „Altersgerecht Umbauen“. Richtig so; denn
es war wirklich ein gutes Programm. Nur wurde die Be-
reitstellung der Mittel im Haushalt leider nicht verlän-
gert, das Programm ist ausgelaufen. Meine sehr geehrten
Damen und Herren, die Betonung liegt auf „war“: Es
war ein gutes Programm. Altersgerechtes Umbauen ist
einfach wichtig. Wie kurzsichtig ist es denn, das Pro-
gramm auslaufen zu lassen?

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat im Auftrag
des Verkehrsministeriums den Bedarf an altersgerechten
Wohnungen errechnet. Danach müssen bis 2020 mindes-
tens 2,5 Millionen Wohnungen barrierefrei bzw. barrie-
rearm sein. Und was macht die Bundesregierung? Sie
lässt das Programm auslaufen.

Der Gipfel der Ignoranz, meine sehr geehrten Damen
und Herren, ist jedoch die Aussage der Bundesregierung,
dass die Kommunen durch „die Übernahme der kommu-
nalen Ausgaben für die Grundsicherung … finanzielle
Spielräume“ erhalten, die sie „für die Gestaltung des de-
mografischen Wandels nutzen können.“


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Das ist wahr!)






Ulrike Gottschalck


(A) (C)



(D)(B)


Zudem würden „die Haushalte der Kommunen … durch
den demografischen Wandel weniger belastet“, es werde
„sogar Einsparpotenzial gesehen.“ Ich persönlich finde
das nicht nur frech, sondern auch realitätsfern. Die Kom-
munen haben angesichts der ständig zunehmenden
Pflichtaufgaben keinerlei Spielräume und stehen vor rie-
sigen Herausforderungen: Außer dem demografischen
Wandel gibt es da die Umsetzung des Rechtsanspruchs
auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren sowie
die Kosten der Inklusion.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr
Dr. Bergner, dass Sie sich in der Antwort auf unsere
Frage nach der finanziellen Unterstützung der Kommu-
nen ausgerechnet auf die kommunale Selbstverwaltung
berufen, ist schon perfide.


(Beifall bei der SPD – Michael Frieser [CDU/ CSU]: Die Selbstverwaltung steht im Grundgesetz! Das hat mit „perfide“ nichts zu tun!)


– Ich würde mir wünschen, dass Sie bei vielen anderen
Gesetzen, zum Beispiel beim Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz, an die kommunale Selbstverwaltung ge-
dacht hätten. Denn Sie schnüren den Menschen in den
Kommunen und den Kommunen selber, den Gemeinden
und Städten, die Luft ab.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie haben Mehreinnahmen, und zwar erhebliche!)


Deswegen finde ich das perfide. – Sie von der Koalition
wollen offensichtlich eher Ihre Klientel hofieren und die
Kommunen belasten.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ihre Klientel!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind
jetzt gespannt auf Ihre Demografiestrategie und hoffen,
dass wir darin bessere Antworten erhalten. Wir haben
auf jeden Fall kein großes Zutrauen und arbeiten deshalb
mit Hochdruck an handfesten Konzepten für ein gutes
Miteinander der Generationen. Vor allen Dingen wollen
wir nicht die Kommunen im Regen stehen lassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716215600

Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1716215700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Von der Trauerstrophe hin zum Zukunftsthema.
Demografieentwicklung: Wie steht Deutschland in 30,
40 oder 50 Jahren da? Die demografische Entwicklung
geht alle an. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Es ist
nicht angemessen, das aktuelle Wahlprogramm mit dem
Demografieproblem zu untersetzen. Vielmehr muss man
auf die eigentlichen Herausforderungen eingehen.

Die demografische Entwicklung betrifft natürlich die
Kinder, die in die zukünftige Gesellschaft hineingeboren
werden, diejenigen, die im Arbeitsleben stehen, und die
ältere Generation, die viel mehr an die Zukunft denkt, als
wir Jüngeren manchmal glauben.

Viele haben nämlich durchaus auch Sorgen oder Pro-
bleme, wie es ihren Kindern eigentlich ergehen wird, ob
sie es besser haben werden als sie selbst oder – das ist
mittlerweile neu – ob es den Kindern mindestens ge-
nauso gut wie ihnen selbst gehen wird. Die demografi-
sche Entwicklung wirkt sich auf alle Bereiche aus. Die
Bevölkerung schrumpft. In 50 Jahren wird es – wenn
man es umrechnet – die Bevölkerung des Landes Nord-
rhein-Westfalen in Deutschland nicht mehr geben. Wenn
man so möchte, ist die gesamte nordrhein-westfälische
Bevölkerung abgewandert – wenn man den Zahlen
Glauben schenken mag.

Die Bevölkerung wird älter. 30 Prozent der Menschen
in der Gesellschaft sind im Rentenalter. Daraus folgt na-
türlich auch, dass die Erwerbstätigenzahlen zurückge-
hen. Das hat Auswirkungen auf die Produktivität und da-
mit natürlich auch darauf, wer die Werte in dieser Gesell-
schaft schafft, die so dringend gebraucht werden.

Wenn das alles eintritt, wirkt es sich auf alle Lebens-
bereiche aus: auf Schule, Infrastruktur, Nachwuchs, Ar-
beit, Pflege, Rente. Jedes Ressort hier und jedes Ressort
in den Ländern ist betroffen. Ganz entscheidend ist: Der
demografische Wandel ist nicht nur in den Statistiken
oder in der Politik, sondern im konkreten Leben der
Menschen angekommen: Schulnetzplanungen, Arbeit-
nehmer, die immer älter werden und sich fragen, wo die
Azubis in dem Betrieb sind, oder auch Vereine oder
Kreisvorstände, in denen der Altersdurchschnitt deutlich
gestiegen ist und noch steigen wird. In der Politik ist die-
ses Thema leider – insbesondere bei den Vorgänger-
regierungen – weitgehend unterbelichtet geblieben. Die
SPD hat elf Jahre regiert. 2007 hat Tiefensee eine Studie
für viel Geld in Auftrag gegeben, veröffentlicht und
gleich wieder zurückgezogen. Die Projekte von
Tiefensee wurden als nutzlos eingestuft.

Schwarz-Gelb hat mit dieser Politik Schluss gemacht.
Im Koalitionsvertrag ist die Demografieproblematik als
Herausforderung deutlich benannt worden. Die erste Ko-
alitionsklausur damals in Meseberg hat die Demografie-
strategie in Auftrag gegeben. Das Haus – zunächst von
de Maizière, dann von Friedrich –, also das Innenminis-
terium, hat hierzu sehr wichtige Daten gesammelt. An
der Stelle sagen wir: Das Innenministerium soll diese
Daten sehr gern sammeln. Wir als Liberale finden das
Datensammeln an der Stelle richtig.


(Beifall der Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU] und Michael Frieser [CDU/CSU])


Dieses Datensammeln – das will ich eindeutig sagen – ist
notwendig.

Wir haben dann, nachdem diese Demografiestrategie
in Auftrag gegeben worden ist, im letzten Jahr – am
3. Oktober – das Handlungskonzept veröffentlicht. Nicht
wir haben das gemacht, sondern die Bundeskanzlerin
mit den ostdeutschen Ministerpräsidenten. Wir haben da





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)


den Aufbau Ost umgestellt und auch auf die Demografie
abgestellt. Wann hat es das je gegeben, dass die Bundes-
kanzlerin mit den Ministerpräsidenten gemeinsam ein
Handlungskonzept herausgibt?

Das Verkehrsministerium hat sich um die ländlichen
Räume gekümmert, das Gesundheitsministerium um den
Landärztemangel, das Wirtschaftsministerium um die
Innovationen in kleinen Betrieben, die vor allen Dingen
in den Regionen angesiedelt sind. Im November 2011
kam dann der Demografiebericht, an dem alle Ministe-
rien beteiligt waren. Auch das ist etwas ganz Neues und
Innovatives. Im Frühjahr 2012 wird dann die Demogra-
fiestrategie mit direkten, konkreten Forderungen kom-
men.


(Lachen bei der SPD)


– Da gibt es Gelächter. Ihnen fiel es damals schwer, das
rote Entwicklungshilfeministerium und das rote Außen-
ministerium zu gemeinsamem Handeln zu veranlassen.
Jetzt arbeitet die gesamte Bundesregierung zusammen
am Demografieproblem. Das muss man einmal hervor-
heben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In der Demografiestrategie, die demnächst heraus-
kommen wird, werden wir darüber reden, inwieweit wir
innovative Firmen unterstützen können, Konzentration
statt Rückbau schaffen.

Das will ich zum Abschluss sagen: Da stellen Sie ins-
gesamt 63 Fragen, und in keiner einzigen Frage wird
konkret darauf eingegangen, wie wir Einwanderung
wirklich gestalten und sie nutzen können.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Antwort sollte doch von der Regierung kommen! – Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Das war doch eine Frage!)


Zur auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, dazu, wo
deutsche Schulen im Ausland sind, zu deutschen Univer-
sitäten, wo wir Leute im Ausland nach Deutschland ein-
laden, gibt es keine einzige Frage. Diese Bundesregie-
rung hat als erste Bundesregierung eine Staatsministerin
im Auswärtigen Amt, die ausdrücklich nur für die aus-
wärtige Kultur- und Bildungspolitik zuständig ist. Au-
ßenminister Westerwelle hat die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik umgestellt. Das hat viel mehr mit Zu-
kunft zu tun als Frage Nr. 20, die lautet:

Ist die Bundesregierung bereit, mit praktischem An-
schauungsmaterial (z. B. Musterhäuser oder -räume)

für alten- und behindertengerechten Umbau oder
Neubau zu werben?

Diese Frage zu beantworten, ist schwer; aber diese Frage
zu stellen, ist noch viel schwerer.

Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Allgemeine Heiterkeit! – Franz Müntefering [SPD]: Den Mann müssen wir uns merken!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716215800

Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSU-

Fraktion.


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1716215900

Herr Präsident! Wir wollen die Heiterkeit nicht unter-

binden, um Gottes willen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre auch schade!)


Sehr verehrte Kollegen! Zunächst einmal möchte ich
dem Präsidium in Bezug auf die Gestaltung der Tages-
ordnung ein Kompliment machen; denn die vorherge-
hende Debatte zum Thema Hochqualifizierten-Richtlinie
hatte einen ähnlichen Kontext. Dadurch ergibt sich eine
Schwerpunktbildung am heutigen parlamentarischen
Nachmittag. Das schadet sicherlich nicht.

Zu Beginn will ich deutlich machen: Es handelt sich
nicht etwa um einen Gesetzentwurf, den wir heute disku-
tieren, es handelt sich auch nicht um einen Antrag, son-
dern es handelt sich um Antworten der Regierung auf
gestellte Fragen. Ich kann nur so viel sagen: Wenn Sie
die Antworten auf die gestellten Fragen nicht hören wol-
len, müssen Sie andere Fragen stellen. Das ist meine
erste Feststellung.


(Lachen bei der SPD – Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Meine zweite Feststellung. Ich habe manchmal den
Eindruck: Es ist so etwas wie ein Hase-und-Igel-Spiel.
Lassen Sie uns den ganzen Ablauf Revue passieren. Die
Bundesregierung arbeitet an einem Demografiebericht


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, der liegt schon vor! Den haben wir schon! – Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: An der Strategie arbeiten Sie!)


– vielleicht warten Sie einmal das Ende des Satzes ab; es
kann vielleicht auch ein Lerninhalt folgen –, und zwei
Wochen vor der Veröffentlichung hieven Sie das Thema
auf die Tagesordnung, damit Sie sagen können: Ihr
müsst den Bericht vorlegen! Dabei weiß die ganze Welt,
dass der Bericht in zwei Wochen veröffentlicht wird. Sie
wissen, dass demnächst die Demografiestrategie veröf-
fentlicht wird. Nun wollen Sie schnell noch über die Be-
antwortung der Großen Anfrage diskutieren – die übri-
gens schon länger vorliegt –, nur um sagen zu können:
Jetzt brauchen wir eine Strategie.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hätten Sie halt schneller geantwortet! – Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Ihre Regierung hat zu lange für die Antwort gebraucht!)


Das ist ein bisschen eine Haltet-den-Dieb-Manier.

Aber sei es drum. Egal wer in unserem Land als
Handlungsreisender zum Thema Demografie unterwegs
ist, eines ist klar: Es ist ein wichtiger Themenkomplex,





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und ich glaube, wir müssen die Menschen tatsächlich
noch mehr dafür sensibilisieren. Es geht darum, dass alle
Bereiche ineinandergreifen müssen – das ist sicherlich
wahr –, aber wenn ich mir die Heterogenität des Fragen-
komplexes der SPD anschaue, dann stelle ich fest, dass
das auch für Ihre Fraktion gilt. Für zukünftige Diskus-
sionen wäre es durchaus hilfreich, den Themenkomplex
zu bündeln.

Ich bin dem Kollegen Kurth dankbar, dass er auf Fol-
gendes hingewiesen hat. Mich hat bei Ihrer Großen An-
frage zum Beispiel gestört – ich habe es im Oktober
schon formuliert –, dass die Migrations- bzw. die Inte-
grationspolitik bis auf die Wörter „Zuwanderung“ und
„Zuwanderungssaldo“ keine Rolle spielen. Nun kann
man sagen: Das ist inzidenter; darin ist bereits die volle
Zustimmung der SPD-Fraktion zur Integrations- und Mi-
grationspolitik der Bundesregierung eingeschlossen.

Ich bin gerne geneigt, das tatsächlich so zu sehen,
halte aber den Komplex Migration und Integration für so
wichtig, dass ich mich noch einmal kurz damit befassen
möchte. Mit der Erkenntnis „weniger und älter“ können
wir die Zukunft beschreiben. Dadurch wissen wir, wo-
rauf wir uns konzentrieren müssen. Die Entwicklung in
den Großstädten zeigt einen anderen Weg. Dort ist klar,
dass es nicht um weniger geht; denn es ist eindeutig,
dass wir in den Metropolen und in den Großstädten
durchaus noch Wachstumspotenziale haben. Warum ha-
ben wir die? Weil sich Menschen mit Migrationshinter-
grund verstärkt dort ansiedeln und so verstärkt ihren Bei-
trag leisten können.

Erst jüngst hat der Freistaat Bayern das Ergebnis ei-
ner in Auftrag gegebenen Sinus-Studie zum Thema Mi-
gration veröffentlicht. In diesem Bundesland Bayern,
aus dem ich zufälligerweise stamme, gibt es zum Bei-
spiel Städte wie Schweinfurt, wo 53 Prozent der Men-
schen einen Migrationshintergrund haben. Das zeigt uns,
dass das Thema auch im Zusammenhang mit der Frage
des demografischen Wandels von immer größerer Be-
deutung sein wird. Daher gilt es, die Menschen mit einer
gewissen Sensibilität auf diese Entwicklung vorzuberei-
ten. Aber wir dürfen nicht glauben – ich bin dem Kolle-
gen Krings dankbar, dass er darauf hingewiesen hat –,
dass wir das alleine durch Zuwanderung werden lösen
können; manchmal hat das den Anschein. Es braucht ein
modernes, zeitgemäßes und steuerndes Zuwanderungs-
recht. Aber klar ist, dass wir die Probleme damit allein
nicht lösen können. Wir müssten theoretisch einen Zu-
wanderungssaldo von gigantischen Ausmaßen haben,
um alles im Lot zu halten. Da befinden wir uns tatsäch-
lich am Rand unserer Belastbarkeit.

Worum geht es also? Es geht um das Heben der
Potenziale, die es in unserem Land gibt. Es geht darum,
dass das, was bereits in unserem Land an Potenzial vor-
handen ist, einen optimalen Beitrag leisten kann. Diese
Dinge sind zum größten Teil auch schon angesprochen
worden. Es geht letztendlich um die Menschen, die drau-
ßen sind. Ich habe manchmal den Eindruck, manche
denken, vor unseren Türen stünden Schlangen von hoch-

qualifizierten Arbeitnehmern. Aber dem ist nicht mehr
so. Aufgrund der Sprache haben wir ohnehin einen wirt-
schaftlichen Standortnachteil; denn mittlerweile ist die
angelsächsische Sprache international der Normalfall.
Letztendlich müssen wir sagen: Wer nach Deutschland
kommen möchte, ist herzlich willkommen, wenn er
hochqualifiziert ist. Aber es muss klar sein, dass wir uns
wirklich auf die Qualifikation stützen können.

Worum geht es? Die Aufgabe, die sich für uns aus
dem demografischen Wandel ergibt, ist, unsere Systeme
zu stabilisieren. Es geht darum, dass wir Menschen in
unserem Land haben, die einen Beitrag leisten können,
und zwar sowohl einen persönlichen Beitrag zur Gesell-
schaft als auch einen stabilisierenden finanziellen Bei-
trag, dass sie also Steuern und Beiträge zu den Sozial-
versicherungen zahlen. Deshalb kann eine unkontrol-
lierte Zuwanderung in Sozialsysteme sicherlich nicht die
Zukunft sein.

Letztendlich muss es uns um Teilhabe und Teilnahme
an dieser Gesellschaft gehen. Ich glaube, dass es darum
geht, den Menschen Folgendes deutlich zu machen: Es
geht um die Qualifizierten, die sich schon im Land be-
finden. Das heißt: Wer da ist, soll – Stichwort „Anerken-
nungsgesetz“ – optimal vorbereitet werden. Dazu lädt
man ein. Lassen wir bitte jenen marktschreierischen Par-
lamentarismus und jene Parteiendiskussion heraus. Die-
ses Thema wird uns in der Tat noch sehr lange beschäfti-
gen.

Als nächsten Akt freue ich mich sehr auf die Strategie
der Bundesregierung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716216000

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1716216100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir reden über die Große Anfrage der
SPD-Fraktion zum demografischen Wandel in Deutsch-
land. Nach Lektüre der 63 Fragen und 63 Antworten
kann man eines festhalten: Es wurde viel von dem be-
schrieben, was bisher getan wurde, auch von den voran-
gegangenen Regierungen. Es ist aber nicht einmal ein
Spurenelement von Perspektive und Strategie in dieser
Antwort zu finden.


(Beifall bei der SPD)


Um auch dem Publikum die Komplexität dieser Ant-
worten zu verdeutlichen und um zu zeigen, welch schöne
Worte gefunden wurden, denen aber leider keine Taten
folgen, will ich etwas vorlesen. Das steht auf Seite 10 un-
ter der Frage „Welche Konsequenzen und Handlungsbe-
darfe ergeben sich aus der sinkenden Zahl von Men-
schen im Erwerbsalter bis 2030 und bis 2050/60?“ Ich
zitiere:





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


Die mit der künftig regional unterschiedlich sinken-
den Zahl von Menschen im Erwerbsalter verbunde-
nen Herausforderungen für die wirtschaftliche Ent-
wicklung, insbesondere die Sicherung der Fach-
kräftebasis und eines hohen Produktivitätswachs-
tums, erfordern es, diesen Prozess zu gestalten.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Wer diesen Satz auf Anhieb versteht, der weiß, wa-
rum wir schnell über diese Antwort diskutieren müssen.
Alle Sätze sind von dieser Qualität. Ich bin der festen
Überzeugung: Wer Sätze wählt, die man nicht auf An-
hieb versteht, der will etwas verschleiern.


(Beifall bei der SPD – Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Oder hat nichts zu sagen!)


Genau das ist bei der Antwort auf unsere Große Anfrage
der Fall.

Wir werden im Jahr 2020 und erst recht im Jahr 2050
– das ist jetzt schon mehrfach erwähnt worden – einen
Fachkräftebedarf in Deutschland haben; das ist klar.
Nach Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-
forschung werden wir bis 2025 aufgrund des demografi-
schen Wandels in Deutschland 6,5 Millionen Erwerbsfä-
hige verlieren. Bis 2025 sind entsprechend der gleichen
Studie – je nachdem, welche Maßnahmen erfolgen –
1,85 Millionen, maximal 5,2 Millionen mobilisierbar.
Das heißt, wir werden durch Mobilisierung des inländi-
schen Potenzials nicht genug Erwerbspersonen bekom-
men.

Weil ich so viele junge Leute auf der Tribüne sehe,
will ich sagen, was zur Mobilisierung des inländischen
Potenzials gehört: dass alle Jugendlichen gut ausgebildet
werden können.


(Beifall bei der SPD)


Dazu gehört, dass alle Frauen – meistens sind es ja
Frauen, die Teilzeit arbeiten oder Minijobs haben – Voll-
zeit erwerbstätig sein können. Dazu gehört, dass auch
Menschen mit Migrationshintergrund, die heute am
stärksten unter der Spaltung am Arbeitsmarkt leiden,
ihre Chance und ihr Recht auf gute Arbeit bekommen.
Und dazu gehört, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer nicht mit 55 aus dem Arbeitsmarkt ausge-
steuert werden, sondern mit 55, sogar mit 60 noch ein-
mal neu anfangen können.


(Beifall bei der SPD)


Allein in Baden-Württemberg fehlen bis 2020
250 000 Arbeitskräfte. Da stellt sich die Frage: Wie kön-
nen wir für ein Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräf-
ten sorgen, das wir brauchen, um wirtschaftlich stark zu
sein? Dazu schreibt die Regierung wirklich viel, sowohl
zur Situation als auch zur Analyse. Aber es fehlt der
Hauch einer Antwort auf die Frage: Wie gehen wir damit
in den kommenden Jahren um? Es ist wichtig, dass die-
sen schönen warmen Worten Taten folgen. Die sind aber
nicht ersichtlich.

Wenn ich durch das Brennglas schaue, stelle ich fest:
Wir haben im Haushalt der Arbeitsministerin im Bil-
dungsbereich Kürzungen von 26,5 Milliarden Euro.

Diese Mittel können nicht mehr verwendet werden, um
lebenslanges und lebensbegleitendes Lernen zu organi-
sieren. Für Jugendliche, die ein bisschen schwächer sind,
gibt es das Programm „Jugend stärken“, das es ihnen er-
möglicht, im Anschluss an die Schule einen Ausbil-
dungsplatz zu bekommen oder die Ausbildungsreife zu
erwerben. Die Mittel dafür haben Sie um 28 Prozent ge-
kürzt. Das heißt, Sie nehmen Perspektiven. Wenn ich mir
die Berufseinstiegsbegleitung ansehe, dann stelle ich
fest, dass Sie für 1 000 Schulen in Deutschland die Si-
tuation verschlechtert haben; denn diese müssen jetzt
50 Prozent kofinanzieren. Da fehlt mir die Perspektive
nach vorne. Da fehlt mir die Strategie für lebenslanges
Lernen.


(Beifall bei der SPD)


Da fehlt mir die Strategie für die Gestaltung des demo-
grafischen Wandels.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716216200

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1716216300

Deshalb diskutieren wir heute diese Große Anfrage

der SPD-Fraktion mit so viel Leidenschaft. Das gilt
zumindest für die Rednerinnen und Redner meiner
Fraktion. Auf der Seite der Regierungskoalition und ins-
besondere beim Staatssekretär ist diese Leidenschaft je-
doch etwas geringer. Ich glaube, wir brauchen Leiden-
schaft in der Debatte. Wir müssen den demografischen
Wandel gestalten; denn wir müssen den Menschen Per-
spektiven eröffnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716216400

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2010/73/EU und zur Ände-
rung des Börsengesetzes
– Drucksache 17/8684 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu gibt
es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Peter
Aumer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1716216500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachstum und





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


Beschäftigung sind ein großes Ziel der christlich-libera-
len Koalition. Dieses Ziel zu erreichen, ist uns trotz der
großen Krisen in Europa durch harte und zuverlässige
Arbeit für die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes
und für Europa gelungen.

Die Strategie für Wachstum und Beschäftigung der
Europäischen Union ist Anlass unserer heutigen De-
batte. Mit dieser Strategie setzt sich die Europäische
Kommission mit dem Thema der besseren Rechtsetzung
und vor allem dem Bürokratieabbau auseinander. Der
Europäische Rat hat sich im März 2007 darauf geeinigt,
bis zum Jahr 2012 25 Prozent der Verwaltungslasten in
den Mitgliedsländern der Europäischen Union zu senken
und damit die Wettbewerbsfähigkeit in der EU zu
stärken.

Die von der EU-Kommission eingesetzte hochrangige
Gruppe unabhängiger Interessenträger im Bereich Ver-
waltungslasten hat bis heute Maßnahmen vorgeschlagen,
die von der Kommission umgesetzt worden sind und ein
Bürokratieabbaupotenzial von 22 Prozent in sich bergen.
Der Vorsitzende dieser Gruppe, der ehemalige bayeri-
sche Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber, leistet hier
hervorragende Arbeit


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und hat dabei das Ziel „mehr Wachstum und Beschäf-
tigung in Europa“ im Auge. Durch seine Arbeit trägt er
wesentlich zu einer effektiveren und effizienteren Euro-
päischen Union bei und gestaltet damit eine nachhaltige
Zukunft Europas.

Die Kommission hat die Prospektrichtlinie, über de-
ren Umsetzung wir heute reden, als „für Unternehmen
mit übermäßigem Aufwand verbunden“ eingestuft. Des-
wegen und auch, weil die Evaluierungsvereinbarung in
der Richtlinie selber niedergelegt war, musste sie überar-
beitet werden. Die Richtlinie zur Änderung der Pros-
pektrichtlinie vom 24. November 2010, über die wir
heute sprechen, setzen wir in dem Gesetzentwurf um,
der heute eingebracht wird.

Im Wesentlichen werden mit diesem Gesetzentwurf
zwei grundlegende Punkte verbessert:

Erstens sollen die Verwaltungslasten für Emittenten
und Finanzintermediäre gesenkt und damit Bürokratie
abgebaut werden. So kommt es beispielsweise durch die
Richtlinie zu einer rechtlichen Gleichstellung und zu ei-
ner Anpassung der Definitionen der Begriffe „qualifi-
zierter Anleger“ in der Prospektrichtlinie und „professio-
neller Kunde“ in der MiFID. Mit den neuen Vorschriften
machen wir Wertpapieremissionen effizienter, da die
Vorschriften verständlicher sind und mehr rechtliche
Klarheit besitzen. Der Gesetzentwurf birgt insgesamt
eine erhebliche Vereinfachung in sich. Laut Schätzungen
der Kommission können jährlich bis zu 302 Millionen
Euro an Verwaltungs- und Bürokratiekosten in der EU
eingespart werden.

Zweitens soll durch das Gesetz mehr Klarheit ge-
schaffen und die Effizienz bestimmter Regelungen ver-
bessert werden. Vor allem der Anlegerschutz ist ein

wichtiges Anliegen dieser Richtlinie bzw. des Gesetzent-
wurfs, den wir heute einbringen.

Trotz der positiven Auswirkungen auf die Qualität
und Angemessenheit der Informationen für Anleger
durch die Prospektrichtlinie hat die Finanz- und Wirt-
schaftskrise bei vielen Anlegern aufgrund nicht ange-
messener Informationen zu finanziellen Verlusten ge-
führt. Durch die Richtlinie sollen die Informationen für
die Anlegerinnen und Anleger und der Schutz ihres Ver-
mögens verbessert werden. Die Umsetzung der Richt-
linie stellt einen wesentlichen Teil des Gesetzentwurfs
dar; wir tragen dem Anlegerschutz dadurch verstärkt
Rechnung.

Außerdem ist in diesem Gesetzentwurf vorgesehen,
das Börsengesetz zu ändern. Die Förderkredite der För-
dereinrichtungen des Bundes und der Länder sowie der
Europäischen Investitionsbank werden vollständig von
der Bemessungsgrundlage für die Bankenangabe ausge-
nommen. Gemeinsam mit den Bundesländern wurde
hier eine gute Lösung gefunden, um dem wirtschafts-
politischen Zweck der Förderkreditgeschäfte, zum Bei-
spiel Innovationsförderung oder Gründungsförderung,
gerecht zu werden. Durch diese Entscheidung kann das
Hausbankprinzip, eine Säule unseres dreigliedrigen
Bankensystems, beibehalten werden.

Der Gesetzentwurf, den wir einbringen, ist der Zu-
stimmung wert. Durch ihn werden drei wesentliche
Beiträge geleistet: zum Bürokratieabbau, zum Anleger-
schutz und zur Sicherstellung der Förderkreditgeschäfte
des Bundes, der Länder und der Europäischen Investi-
tionsbank. Ich denke, dass man diesem Gesetzentwurf
zustimmen kann;


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schauen wir uns jetzt erst einmal gründlich an!)


denn er führt zu mehr Finanzstabilität in Europa, indem
wir dem Anlegerschutz Rechnung tragen und das För-
derkreditgeschäft untermauern. Deswegen bitte ich Sie
um Ihre Zustimmung.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716216600

Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1716216700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Anfang Januar dieses Jahres haben wir als SPD-
Fraktion einen Antrag zur Honorarberatung im Plenum
des Deutschen Bundestages eingebracht. Wir wollten
und wollen damit erreichen, dass der Vertrieb von Wert-
papieren und Geldanlagen auf eine neue Grundlage ge-
stellt wird, um den Verbraucherschutz zu stärken und die
Transparenz zu erhöhen. Die Koalition hatte sich in der
Debatte verhalten gezeigt. Jetzt aber müssen Sie reagie-





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


ren – mein Vorredner hat es gesagt –, weil Ihnen die EU-
Kommission mit ihrem Vorschlag zur europäischen Pro-
spektrichtlinie Dampf macht. Das ist auch notwendig.


(Beifall bei der SPD)


Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie in Deutschland steht der Anle-
gerschutz wieder einmal auf der Tagesordnung. Das ist
auch notwendig, weil in der Vergangenheit zu wenig ge-
tan worden ist und es zu wenige Fortschritte gegeben
hat. Jetzt kommt es zu Verbesserungen, insbesondere
dahin gehend, dass es nicht nur um die Qualität der
Produkte, sondern insbesondere um die Aufklärung der
Anlegerinnen und Anleger geht. Dabei ist Information
ein zentraler Punkt. Hierum geht es bei den Verkaufspro-
spekten, die Inhalt dieses Umsetzungsgesetzes sind.
Dazu kam es auf Druck der Europäischen Union.

Ich muss an dieser Stelle deutlich sagen, dass in den
Anlegerschutzregelungen, die die schwarz-gelbe Koali-
tion getroffen hat, Prospekte vorgesehen sind, die teil-
weise Hunderte von Seiten umfassen. Seien wir doch
einmal ganz ehrlich: Welcher Anleger liest denn diese
Konvolute,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ich zum Beispiel!)


erst recht angesichts der Tatsache, dass sie mit Fach-
begriffen gespickt sind? Es ist notwendig, die Prospekte
transparenter zu gestalten und sie verständlicher zu
formulieren. Schließlich geht es dabei um teilweise
komplizierte Angelegenheiten und komplizierte Pro-
dukte. Die Gratwanderung zwischen größtmöglicher
Transparenz und notwendigem Inhalt ist durchaus
schwierig.

Die EU-Kommission überprüft und evaluiert die Pro-
spektrichtlinie regelmäßig. Ich finde das gut. Diesem
Beispiel müssen wir folgen. Ich habe die bisherige Situa-
tion immer bedauert, und die SPD hat ihre Auffassung
zu diesem Thema mehrfach deutlich gemacht. Als Sie
Ihre Anlegerschutzgesetze eingebracht haben, haben wir
gesagt: Wir brauchen eine verpflichtende regelmäßige
Evaluierung, auch eine Evaluierung der gesetzlichen
Regelungen in Deutschland, und zwar durch externe
Experten.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist doch drin!)


– Das ist nicht in hinreichendem Maße drin. Wir haben
dazu weitergehende Vorschläge gemacht.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ach!)


Ich hoffe, dass die Evaluierung und die Überprüfung
durch dieses Gesetz deutlich verbessert werden.


(Beifall bei der SPD)


Im vorliegenden Gesetzentwurf setzen Sie im Bereich
des Prospektrechts an. Ich will zwei wesentliche Punkte
nennen, an denen aus unserer Sicht Entwicklungen ange-
schoben worden sind und mit denen wir uns in den wei-
teren Beratungen – wir führen heute ja die erste Lesung
durch – werden befassen müssen. Der erste Aspekt be-

trifft die Prospektzusammenfassungen, in denen zukünf-
tig Schlüsselinformationen enthalten sein müssen und
eine stärkere Konzentration auf das Wesentliche erfol-
gen muss. Der zweite Punkt betrifft die Gültigkeit von
Prospekten. Es ist richtig, dass Prospekte weiterhin
zwölf Monate gültig sein sollen, allerdings nicht mehr ab
dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, sondern erst ab
ihrer Billigung durch die Aufsicht. Dieses Mehr an
Kontrolle und Überprüfung ist wichtig. Auch die Verän-
derung der Frist geht in die richtige Richtung.


(Beifall bei der SPD)


Es werden weitere Themen angegangen. Ich will auf
die Erhöhung der Bußgelder bei öffentlichen Angeboten
ohne Prospekt hinweisen. Bisher betragen diese Bußgel-
der 50 000 Euro. Nach den vorliegenden Vorschlägen
sollen sie auf 500 000 Euro erhöht werden. Das ist eine
drastische Erhöhung. Sie geht aber in die richtige Rich-
tung, auch in dieser Größenordnung.

Etwas skeptisch bin ich, was die Schwellenwerte be-
trifft. Diese sollen erhöht werden. Wir müssen aufpas-
sen, dass es hier nicht zu Deregulierungen – mein Vor-
redner hat sie als Entbürokratisierung bezeichnet –
zugunsten der Wirtschaft und zulasten der Anleger
kommt. Hier werden wir Sozialdemokraten sehr sensibel
sein und sehr genau hinsehen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


In den Diskussionen über den Anlegerschutz gibt es
weitere wichtige Baustellen. Diese sind zu thematisie-
ren, da manche Bereiche nach wie vor unzureichend ge-
regelt sind. Ich will nur die Produktinformationsblätter
ansprechen. Ich stelle fest – auch vor dem Hintergrund
dessen, was die BaFin dazu an verschiedenen Stellen
deutlich gemacht hat –: Sie sind nicht hinreichend stan-
dardisiert. Sie müssen einheitlicher werden. Vor allem
müssen sie übersichtlicher werden, um wirklich Schutz
und Hilfe bieten zu können.

Angesprochen worden ist ein weiteres Thema, wel-
ches allerdings nichts mit dieser EU-Richtlinie zu tun hat
und in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der
Änderung des Börsengesetzes steht: die Bankenabgabe.
Dieses Thema nimmt die Koalition im Gesetzentwurf
auf, packt es quasi mit in den Omnibus und sorgt so für
eine Änderung des vor geraumer Zeit beschlossenen Re-
strukturierungsfondsgesetzes.

Man muss an dieser Stelle einmal festhalten, dass die
von Ihnen beschlossene Bankenabgabe eine viel zu ge-
ringe Wirkung hat. Die Kanzlerin hat uns hier im Hause
versprochen, dass durch die Bankenabgabe bei zukünfti-
gen Krisen nicht die Steuerzahler, sondern die Verursa-
cher der Krisen herangezogen werden.


(Björn Sänger [FDP]: Richtig!)


Das ist mit dieser Bankenabgabe nicht gegeben. Das
wissen Sie auch; denn schon das angesetzte Zielvolumen
von 1,2 Milliarden Euro ist lächerlich. Ich darf einmal
auf die Wirklichkeit zu sprechen kommen: Nur 600 Mil-
lionen Euro, also gerade einmal die Hälfte des ursprüng-
lich anvisierten Aufkommens, werden durch die Abgabe
erreicht. Das, was Sie als schwarz-gelbe Koalition der





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


deutschen Öffentlichkeit gegenüber prognostiziert und
im Gesetzbuch verankert haben, ist nicht hinreichend; es
wird gerade einmal die Hälfte erreicht.


(Beifall bei der SPD)

Sie wissen auch, dass gerade die Großen der Branche

verschont werden. Ich darf zwei Zahlen nennen: Die
Deutsche Bank hat im letzten Jahr einen Gewinn von
4,3 Milliarden Euro gemacht.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Im Konzern!)

Die Bankenabgabe beträgt 124 Millionen Euro. Das sind
gerade einmal 3 Prozent dieses gewaltigen Gewinns.
Das ist zu wenig für ein solch systemrelevantes und be-
deutendes Unternehmen. Hier hätte man mehr machen
müssen.


(Beifall bei der SPD)

Allerdings ist es hochinteressant, dass Sie eine wich-

tige Korrektur vornehmen, und zwar im Bereich der In-
stitute für wirtschaftliche Entwicklung. Endlich folgen
Sie dem, was wir als Sozialdemokraten schon in diese
Debatte eingebracht haben und was auch die Länder
über den Bundesrat gefordert haben.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ist das jetzt gut oder schlecht?)


Dort ist nämlich gefordert worden, die Förderbanken
von der Bankenabgabe auszunehmen. So weit gehen Sie
nicht; aber Sie nehmen die Förderkredite aus der Berech-
nung für die Bankenabgabe heraus. Das ist zwar nur ein
kleiner Schritt, aber ein Schritt in die richtige Richtung.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber sicherlich sinnvoller als Ihr Vorschlag!)


Das hätten Sie aber schon lange haben können. Damals
haben Sie gezögert und gezaudert und nicht beachtet,
dass die Förderbanken in den Ländern, im Bund und
auch in Europa davon ausgenommen werden müssen,
weil sie strukturpolitisch eine wichtige Funktion haben.


(Beifall bei der SPD)

Ich darf zusammenfassen: Sie machen mit diesem

Gesetzentwurf eine Reihe von Vorschlägen und korrigie-
ren – teils auf Druck der Europäischen Kommission,
teils offensichtlich aus verspäteter Einsicht – einen Teil
Ihrer eigenen Gesetze.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Druck?)

– Das scheint bei der Bankenabgabe ja so zu sein. – Ich
sage Ihnen aber: Sie ziehen den Finanzsektor nach wie
vor nicht wirksam und nachhaltig zur Bewältigung der
Krisenlasten heran.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Federführend von allen Ländern in Europa! Mit weitem Abstand sind wir vorne!)


Man kann nur sagen: CDU/CSU und FDP halten an
ihrer Politik fest, mit der die wirklichen Verursacher ver-
schont werden, die hier zugunsten der Steuerzahler in
die Verantwortung genommen werden müssen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716216800

Das Wort hat nun Björn Sänger für FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1716216900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist gut. Die
vorliegende Richtlinie kann man allerdings als gut be-
zeichnen; denn sie ist in der Tat ein wichtiger und wert-
voller Beitrag zum Bürokratieabbau.

Es werden zwei ganz wesentliche Ziele erreicht: Zum
einen gibt es Vereinfachungen für die Emittenten von
Wertpapieren, zum anderen wird der Anlegerschutz ver-
bessert. Es ist im Übrigen gut und richtig, dass das euro-
paweit geschieht und dass man sich, wenn man weiß,
dass bestimmte Dinge in Brüssel in der Pipeline sind,
nicht durch nationales Vorauspreschen in der Diskussion
isoliert.

Mit den Regelungen haben wir für den deutschen
Mittelstand Positives zu vermelden. Der deutsche Mit-
telstand beschafft sich sein Kapital ja noch sehr oft in
Form von Krediten. Wenn man sich überlegt, welche
Entwicklungen es im Bereich der Finanzmarktregulie-
rung gibt, dann kann man davon ausgehen, dass sich die
Kosten der Kreditfinanzierung nach oben entwickeln
werden. So gesehen ist es außerordentlich günstig, dass
kleineren und mittleren Unternehmen durch die Ausnah-
metatbestände, die durch die Anpassung der Schwellen-
werte geschaffen werden, ein direkter Zugang zum Kapi-
talmarkt ermöglicht wird. Es gibt einige Börsenplätze,
die damit schon gute Erfahrungen machen und die im
Übrigen auch sehr auf die Qualität der Anleihen achten.
Insofern findet auch dort ein gewisser Anlegerschutz
statt. Das ist eine weitere gute Maßnahme, um kleineren
und mittleren Unternehmen direkten Zugang zum Kapi-
talmarkt zu ermöglichen.

Es gibt des Weiteren Verbesserungen bei den Mitar-
beiterbeteiligungsprogrammen. Das ist ebenfalls ein
wichtiger Punkt auch für die kleinen und mittleren Un-
ternehmen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am
Unternehmenserfolg und damit auch ein Stück weit an
der Verantwortung für das Unternehmen zu beteiligen
und sie zu motivieren. Hierzu sind in der Richtlinie sehr
wichtige und segensreiche Änderungen enthalten.

Ein zweites großes Ziel ist der Anlegerschutz. Auch
hierzu sind wichtige Neuerungen eingeführt worden.
Wenn beispielsweise ein bestimmter Nachtrag in den
Prospekt aufgenommen wird, der sich auf einen Sach-
verhalt vor der Zeichnung des entsprechenden Wertpa-
piers durch einen Anleger bezieht, dann kann der Anle-
ger seine Zeichnung entsprechend widerrufen, weil sich
quasi die Geschäftsgrundlage geändert hat. Das ist neu.
Auch das ist wichtig.

Als wichtigster Punkt erscheint mir, dass die Schlüs-
selinformationen und insbesondere die haftenden Perso-
nen in die Zusammenfassung der Prospekte aufgenom-
men werden. Das ist meines Erachtens eine Anpassung
an die Lebenswirklichkeit. Der Kollege Sieling hat zu
Recht darauf hingewiesen: Man bekommt Hunderte von





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


Seiten an Papier. Wer liest das letzten Endes? – Das kann
man sich übrigens bei allem fragen, was wir in Bezug
auf Anleger- und Verbraucherschutz machen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nehmen Sie nur die Haftungsfragen!)


Das endet in einem Wust von Papier. Wenn man mit den
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den Banken
spricht, dann besagt die Lebenswirklichkeit: Der Anle-
ger heftet das ab. Die Bank hat ihre Schuldigkeit getan
und ist damit aus der Haftung heraus. Deswegen ist es
umso wichtiger, dass die Informationen in der Zusam-
menfassung herausgestellt werden. Der Anleger weiß
dann gleich, was für ihn wichtig ist. Er weiß auch, mit
welchen Haftungsbeschränkungen er zu rechnen hat und
wer am Ende des Tages für das haftet, was im Prospekt
aufgeführt ist. Ich halte das für einen sehr wichtigen Teil.

Der zweite Teil des Gesetzentwurfs beschäftigt sich
mit der Bankenabgabe. Die Förderkredite werden bei der
Berechnung ausgenommen. Das kann man machen; man
muss es nicht unbedingt machen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das hätte man schon lange machen können!)


– Das hätte man in der Tat schon lange machen können;


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das haben wir ja vorgeschlagen!)


dann hätte man aber möglicherweise die Bankenabgabe
anders strukturieren müssen. Denn faktisch bedeutet das
eine weitere Förderung der beiden Säulen am Kapital-
markt, der Volksbanken und Sparkassen.

Letztens fand das Fachgespräch zu Basel III statt.
Frau Professor Buch, Mitglied des Sachverständigenra-
tes, der sogenannten Wirtschaftsweisen, sagte in diesem
Zusammenhang, dass sich ein systemisches Risiko in
diesen beiden Säulen nicht ausschließen lässt. Diese bei-
den Säulen tragen nunmehr nahezu keine Last mehr an
der Bankenabgabe, würden aber logischerweise im Falle
des Falles von ihr profitieren. Angesichts der Landes-
bankenproblematik ist das möglicherweise gar nicht so
abwegig.

Verantwortung dafür trägt – das hat der Kollege
Sieling zu Recht gesagt – der Bundesrat. Man muss den
entsprechenden Verbänden zu ihrer Lobbyarbeit gratu-
lieren. Das erinnert mich ein bisschen an Probleme, die
möglicherweise in der Kindererziehung auftreten. Es
gibt Elternteile – ich formuliere das geschlechtsneutral –,
die möglicherweise etwas näher am Kind sind.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Welcher Teil der Koalition ist denn wer? Wer ist das Kind?)


Andere Elternteile sind beispielsweise beruflich bedingt
nicht ganz so nah am Kind. Wenn das Kind eine Süßig-
keit haben möchte, und der Elternteil, der näher am Kind
ist, sagt: „Nein, du hast heute schon genug Süßigkeiten
gehabt“, dann fragt das Kind den Elternteil, der nicht
ganz so nah am Kind ist, und schon bekommt es die Sü-
ßigkeit.

Unter dem Strich gibt es in diesem Gesetzentwurf
Licht und Schatten. Er ist gleichwohl zustimmungsfähig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716217000

Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716217100

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Liebe Zuhörer! Mit diesem Gesetzentwurf soll der,
wie es heißt, „bürokratische Aufwand für Emittenten
und Finanzintermediäre verringert werden“. Daneben
sollen „Klarheit und Effizienz bestimmter Regelungen
erhöht“ werden. Der Anlegerschutz taucht wieder ein-
mal nur an letzter Stelle auf. Ich wünsche mir eine an-
dere Prioritätensetzung. Der Anlegerschutz muss ganz
klar vor Bürokratieabbau kommen und darf nicht dem
Kostenargument geopfert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist gleichfalls aberwitzig, dass in Zeiten der Fi-
nanzkrise Kapazitäten in Brüssel und Berlin eingesetzt
werden, um Wertpapierunternehmen die Arbeit zu er-
leichtern. Wenn überhaupt, dann wäre es ratsam, die be-
stehenden Richtlinien gründlich auf Mängel hinsichtlich
des Verbraucherschutzes, der Transparenz und Informa-
tions- und Beratungsdefiziten zu durchforsten.

Insgesamt gibt es durchaus einige sinnvolle Regelun-
gen in dem Gesetzentwurf. Zum Beispiel ist die Auf-
nahme der Schlüsselinformationen in die Prospektzu-
sammenfassung richtig. Auch wird eine unmittelbare
Aktualisierung des Registrierungsformulars durch Nach-
trag erleichtert. Außerdem begrüßen wir, dass nach die-
sem Gesetzentwurf grundsätzlich auch Anleger im Bör-
senrat vertreten sein müssen.

Jedoch sehe ich auch einiges kritisch. In den Schlüs-
selinformationen sollen die Kosten geschätzt werden,
die dem Anleger vom Emittenten in Rechnung gestellt
werden. Das ist zu unpräzise und lässt einen zu großen
verbraucherfeindlichen Spielraum.

Es gilt gleichfalls zu prüfen, ob mit der Vereinheitli-
chung der Definition des „qualifizierten Anlegers“ und
des „professionellen Kunden“ nicht doch eine weniger
strenge Auslegung im Sinne des Verbraucherschutzes
etabliert wird. Schließlich besteht durchaus ein Unter-
schied darin, ob jemand professionell oder nur qualifi-
ziert und ob jemand Kunde oder gleich Anleger ist.

Ferner stoßen mir die erweiterten Ausnahmen von der
Prospektpflicht bei Belegschaftsaktienprogrammen übel
auf. Sie unterstellen damit indirekt, dass eine Prospekt-
pflicht keinen zusätzlichen Anlegerschutz gewähr-
leistet. Niemand kann aber davon ausgehen, dass Be-
legschaftsmitglieder per se besser informiert sind als
außenstehende Anleger. Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter müssen ausnahmslos geschützt werden.


(Beifall bei der LINKEN)






Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)


So ganz nebenbei wird mit diesem Gesetzentwurf
auch das Restrukturierungsfondsgesetz, also die Ban-
kenabgabe, geändert. Es wird bei ihrer Bemessungs-
grundlage ein zusätzlicher Abzugsposten für Verbind-
lichkeiten eingeführt. Das mag für sich betrachtet
sinnvoll sein. Das von den Banken zu zahlende Geld
fließt aber nach wie vor nicht in den Bundeshaushalt, ob-
wohl die Banken mit Steuergeldern gerettet wurden.
Auch ist die Abgabenhöhe der einzelnen Banken lächer-
lich niedrig; das wurde schon angesprochen. Selbst
wenn der Fonds seine Zielgröße erreicht, wäre die ange-
sammelte Summe viel zu gering, um eine systemrele-
vante Bank aufzufangen.

Ich komme zum Schluss.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Gut! Vielen Dank!)


Wirksamer Verbraucherschutz darf sich nicht auf Pro-
spekte und Infoblätter beschränken, und Verbraucher-
schutz kommt vor Emittentenschutz. Wir fordern daher
unter anderem eine eigenständige staatliche Verbrau-
cherschutzbehörde, die Einführung eines Finanz-TÜV
sowie die Stärkung der Verbraucherzentralen als Finanz-
marktwächter.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1716217200

Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will aus der Vielzahl der Aspekte, die in diesem Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie und zur
Änderung des Börsengesetzes enthalten sind, drei he-
rausgreifen, die für unsere Fraktion in der Beratung
wichtig sind.

Der erste Aspekt betrifft die Frage, welche Informa-
tionen der Kunde eigentlich bekommt. Informations-
unterlagen für Finanzprodukte haben nur dann einen
Sinn, wenn sie kundengerecht ausgestaltet sind, wenn
also Anlegerinnen und Anleger auf den ersten Blick er-
fassen können, ob eine Kapitalanlage den persönlichen
Anlagezielen entspricht oder nicht. Da die Verkaufspro-
spekte oft mehrere Hundert Seiten umfassen, ist es gut,
dass es jetzt eine Zusammenfassung in einem einheitli-
chen, standardisierten Format geben soll, die kürzer ist
und Schlüsselinformationen enthalten soll.

Das Problem ist allerdings, dass wir jetzt in den unter-
schiedlichen Produktbereichen sehr unterschiedliche In-
formationsvorgaben haben und daraus eine neue Un-
übersichtlichkeit entsteht. So haben wir etwa im
Fondsbereich die wesentliche Anlegerinformation, also
das sogenannte Key Investor Information Document, im
Wertpapierbereich wird nun die neue Prospektzusam-
menfassung samt Schlüsselinformation kommen, im
Versicherungsbereich haben wir das Produktinforma-

tionsblatt bei Versicherungsverträgen und die Informa-
tionspflicht der Vermittler über ihren Status, und seit
dem 1. Juli 2011 müssen Wertpapierdienstleistungsun-
ternehmen Kundinnen und Kunden bei der Anlagebera-
tung ein Produktinformationsblatt zu den Finanzinstru-
menten zur Verfügung stellen, die Gegenstand einer
Kaufempfehlung sind. Im Bereich der geschlossenen
Fonds und anderer Vermögensanlagen wurde kürzlich
das Vermögensanlageninformationsblatt eingeführt.

Genau diese Vielfalt ist unübersichtlich; denn die ein-
zelnen Informationsblätter unterscheiden sich hinsicht-
lich Transparenz, Umfang und Reihenfolge der
Pflichtangaben. Das ist nicht nur unbefriedigend, das ist
auch vermeidbar, natürlich nicht in Bezug auf die Sa-
chen, die abschließend in Brüssel geregelt sind, aber in
Bezug auf die Sachen, bei denen wir nationale Hand-
lungsspielräume haben. Ich muss sagen: Es ist schon ein
Problem, dass hier keine Anstrengungen unternommen
werden, vorvertragliche Informationsgrundlagen so zu
gestalten, dass sie optischen und inhaltlichen Standards
folgen.

Ich frage mich, warum die Bundesregierung weder
bei der Umsetzung des Anlegerschutz- und Funktions-
verbesserungsgesetzes noch bei den Beratungen zum
Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler-
und Vermögensanlagenrechts unserem Vorschlag gefolgt
ist, die wesentlichen Vorgaben für ein jederzeit zugängli-
ches Kurzinformationsblatt hinsichtlich Inhalt und
Struktur als standardisiertes Muster gesetzlich vorzu-
schreiben. Sie überlassen die Umsetzung der Finanz-
branche und setzen auf Selbstverpflichtungserklärungen.
Wir meinen, dass die konkrete Ausgestaltung nicht dem
Verordnungsgeber überlassen werden darf, sondern dass
man konkretere gesetzliche Vorgaben machen muss, um
eine Vereinheitlichung hinzubekommen. Das wäre wirk-
lich effizient im Sinne der Verbraucher.

Mein zweiter Punkt. Wenn man sich anschaut, was
diese Informationen bringen, dann muss man sagen, dass
man damit den Eigenheiten des Zertifikatemarktes nicht
Herr werden wird. Häufig stellen die Informationsblätter
zu diesen Produkten nur die Intransparenz dieser Pro-
dukte noch einmal dar, schaffen aber keine wirkliche
Transparenz. Hinzu kommt – Sie haben es vielleicht mit-
bekommen –: Die Prüfung der endgültigen Bedingungen
dauert offensichtlich sehr kurz. Sie kostet 1,55 Euro,
weil die Dauer so kurz ist. Es entstehen nur ganz geringe
Kosten, um neue Produkte auf den Markt zu bringen.
Das führt zu einer Riesenvielfalt. Es wird geschätzt, dass
wir bis 2013 in Deutschland 1 Million Anlagezertifikate
haben werden. Das ist keine gesunde Entwicklung.
Diese Vielfalt nutzt niemandem. Ich glaube, wir werden
mit der alleinigen Prospektpflicht, über die wir jetzt dis-
kutieren, dem nicht Herr werden. Wir brauchen vielmehr
eine Produktregulierung bei den Anlegerzertifikaten.


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Abschließend möchte ich in aller Kürze noch einen
dritten Punkt nennen. Kollege Sieling hat die Bankenab-
gabe schon angesprochen. Man muss sich fragen, woher
der Sinneswandel bei den Förderkrediten kommt. Es





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


wird zu einem Minderaufkommen kommen. Das wird
dazu führen, dass es noch länger dauert, mit der Banken-
abgabe den Fonds so aufzubauen, dass er ein notwendi-
ges Volumen erreicht. Also werden wir uns über das
Aufkommen unterhalten müssen; denn eines darf nicht
sein, nämlich dass durch das Entgegenkommen bei der
Bemessungsgrundlage letztlich die Sicherheit, die mit
der Bankenabgabe und dem Fonds erreicht werden soll,
nicht erzielt wird.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716217300

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1716217400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein

sperriges Thema, und das ist eine sperrige Debatte. Wir
setzen eine EU-Richtlinie auf einem Feld um, das nicht
ganz einfach ist. Die Kollegen haben es vorgestellt. Es
geht um Bürokratieabbau und um mehr Transparenz. Die
Bundesregierung hat das Ganze zusammen mit den Ko-
alitionsfraktionen zum Anlass genommen, auch im na-
tionalen Bereich einige Änderungen, beispielsweise im
Börsengesetz, vorzunehmen. Der Kompromiss, der mit
dem Bundesrat im Rahmen der Bankenrestrukturierung
und der Bankenabgabe gefunden worden ist, wird
gleichzeitig mit abgearbeitet.

Das alles ist nicht sonderlich spektakulär. Ich möchte
meine Ausführungen in zwei Teile teilen und zwei Dinge
betonen. Zuerst zu der Kritik, die geäußert worden ist;
das war ja recht interessant. Da ist von Herrn Koch von
der Linken gesagt worden: Uns ist Anlegerschutz wichti-
ger als Bürokratieabbau. Das habe ich, ehrlich gesagt,
nicht ganz verstanden, weil Bürokratieabbau, wie ich
glaube, ein ganz toller Anlegerschutz ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn ich heute bei einer Beratung 130 Seiten oder,
wie Herr Sieling gesagt hat, einen Prospekt vorgelegt be-
komme, werde ich mir den sinnigerweise nicht durchle-
sen. Die Prospektpflicht ist übrigens 2005 umgesetzt
worden; da war die SPD ja noch federführend. Nichts-
destotrotz, wenn ich solche Monsterpapiere bekomme,
lese ich sie mir nicht mehr durch. Wenn also solche Pro-
spekte nun nicht mehr durchgelesen werden, wird der
Anlegerschutz konterkariert. Deswegen hängen Büro-
kratieabbau und Anlegerschutz ganz genuin zusammen.
An dieser Stelle müssen wir also etwas machen. Das ist
auch ganz gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich nehme auch gerne die Botschaft auf, die sowohl
von der SPD wie auch von den Grünen gekommen ist,

dass wir uns dabei noch ein bisschen mehr bemühen
müssen. Sie, Herr Sieling, haben gesagt, solche Pro-
spekte seien unübersichtlich. Herr Schick hat das Wirr-
warr bei den Produktinformationsblättern angespro-
chen. Wir sind da sofort bei Ihnen. Aber lassen Sie uns
zum Beispiel auch das Beratungsprotokoll dazunehmen
und auch in Ihrem Sinne evaluieren. Auch hier haben
wir nämlich ein bürokratisches Monstrum geschaffen,
wodurch in vielen Fällen Anleger nicht geschützt, son-
dern verärgert werden. Wenn wir uns hier und heute da-
rauf einigen könnten, dass wir einmal schauen, wie wir
den Anlegerschutz so gestalten können, dass er so
schlank ausgestaltet wird, dass die Menschen in diesem
Land auch etwas davon haben, wäre das schon ein tolles
Ergebnis dieser Debatte.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wenn Sie Ihre Politik ändern, sind wir dabei!)


Des Weiteren haben Sie die Bankenabgabe kritisiert.
Wir können uns trefflich darüber unterhalten, ob man bei
der Einführung gewisse Dinge hätte besser machen kön-
nen. Eines muss man aber berücksichtigen, meine Da-
men und Herren: Wir waren die Ersten in Europa, die so
etwas überhaupt auf den Weg gebracht haben.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Genau!)


Dass es da das eine oder andere Abstimmungsproblem
gibt, im Übrigen auch mit dem Bundesrat, ist doch ganz
klar. Ich bin immer noch der Meinung, dass das, was wir
auf den Weg gebracht haben, dann, wenn wir es erwei-
tern, dazu führen wird, dass zumindest ein Teil, wenn
auch nicht alle Risiken aus einem Default bzw. einem
Scheitern von Banken vom Steuerzahler ferngehalten
werden können. Daran sollten wir arbeiten.

Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle der Finanz-
marktstabilisierungsanstalt ein dickes Lob aussprechen.
Sie hat in vorbildlicher Weise innerhalb weniger Monate
ein sehr kompliziertes Erhebungsverfahren aus dem Bo-
den gestampft, ohne dass es große Probleme gegeben
hat. Daran sollte sich vielleicht die eine oder andere eu-
ropäische Behörde durchaus ein Beispiel nehmen. So gut
und so schlank kann das gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das war der erste Teil meiner Rede. Dieses Thema ist,
wie gerade schon gesagt, für die Schülergruppen, die
hier heute auf der Tribüne sitzen, und für den einen oder
anderen, der vor dem Fernseher sitzt, nicht sehr dankbar.
Man fragt sich: Muss man denn eigentlich darüber re-
den, wenn man eine europäische Richtlinie umsetzt? Ich
sage: Ja, man muss darüber reden. Überlegen Sie sich
einfach einmal: Die christlich-liberale Koalition hat mit
diesem Gesetz in den letzten 24 Monaten 13 Gesetze zur
Bankenregulierung auf den Weg gebracht.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Vieles nicht gut!)


Jetzt kommt traditionell von der einen Seite des Hauses
immer der Einwand: Ja, aber das ist nicht genug – oder
wie auch immer. Das sagen Sie deswegen, weil Sie na-
türlich versuchen, die Legende aufzubauen, dass wir gar
nichts gemacht hätten. Das fängt bei Steinbrück an und





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


hört bei Sieling auf. Das ist nicht wahr. Wir haben ziem-
lich viel auf den Weg gebracht.

In einem Punkt haben Sie aber recht, nämlich wenn
Sie sagen, ein erheblicher Teil dieser Maßnahmen stellt
eine Umsetzung von europäischem Recht dar. Mehr als
die Hälfte der Gesetze betraf die Umsetzung von euro-
päischem Recht. Das trifft ja auch auf das Projekt, das
wir heute beraten, zu. Wenn Sie sich die anderen Ge-
setze, die wir national umgesetzt haben, anschauen, wer-
den Sie feststellen, dass wir uns ganz oft strecken muss-
ten, damit wir nicht irgendwo an europäisches Recht
angestoßen sind.

Schauen Sie sich auch einmal an, welche Projekte wir
in diesem Jahr vor der Brust haben: Ob das die Eigenka-
pital- bzw. Liquiditätsregeln für Banken sind, ob das die
Hedgefonds-Regulierung ist, ob das das Vorhaben der
Regulierung der OTC-Derivate ist, ob das die Schaffung
eines Versicherungsaufsichtsgesetzes ist oder die Neu-
ordnung der nationalen Finanzaufsicht, all diese Berei-
che sind oftmals stark europäisch bestimmt. Auch bei
der genuinen Neuordnung der nationalen Finanz-
marktaufsicht, die wir jetzt anpacken werden, lassen wir
uns auf europäische Mechanismen ein.

Deshalb müssen wir ganz klar feststellen, meine Da-
men und Herren: Finanzmarktpolitik ist nicht länger
deutsche nationale Politik, sondern Finanzmarktpolitik
ist europäische Politik. Darüber wird zuvorderst nicht in
Berlin oder London entschieden, sondern in Brüssel und
Straßburg. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns als Parla-
ment darauf entsprechend eingestellt haben. Viele Leute,
nicht nur in diesem Haus, sondern auch in den Medien
und in der Öffentlichkeit glauben immer noch, man
könne hier in Deutschland alles regeln. Sie glauben im-
mer noch, dass wir hier den Stein der Weisen haben und
dass der Deutsche Bundestag das zentrale Gremium sei,
in dem Politik gemacht wird. Das ist – ich sage es einmal
etwas pathetisch – die Lebenslüge dieses Parlaments.

Wir müssen akzeptieren, dass ganz, ganz viel auf eu-
ropäischer Ebene geregelt wird. Darauf müssen wir re-
agieren. Das tun wir nicht in angemessener Weise.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir geben viel zu wenig Impulse nach Brüssel, was dort
geregelt werden soll und was die Kommission aufarbei-
ten soll. Wir gestalten nur bei den wirklich großen Din-
gen wie zum Beispiel Eigenkapitalregeln für Banken
oder Einlagensicherungen den Prozess in Brüssel aktiv
mit. Wir geben der Regierung viel zu wenig mit auf den
Weg. Wir positionieren uns als Deutscher Bundestag in
viel zu wenigen Feldern.

Insofern glaube ich, dass wir eine Menge Nachholbe-
darf haben. Wir sollten uns wirklich überlegen, wie wir
uns aktiver in diese europäischen Prozesse einbringen
können, und dazu gehört es, dass wir uns auch mit so ei-
nem Gesetz, das – das tut mir auch leid – leider etwas
langweilig ist, ausführlich beschäftigen. Wir tun dies
heute in der ersten Lesung. Wir werden die Ausschuss-
beratung und die zweite und dritte Lesung nachfolgen
lassen. Lassen Sie uns daran arbeiten. Lassen Sie uns die

europäischen Angelegenheiten ernst nehmen; denn sie
sind es wert.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716217500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/8684 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Juristische Aufarbeitung der Gewalt und poli-
tischer Neuanfang für den Jemen

– Drucksache 17/8587 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Kerstin Müller von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Wahl von Mansur Hadi zum neuen Präsidenten des
Jemen am Dienstag der letzten Woche wurde die
33 Jahre dauernde Herrschaft von Ali Abdullah Salih
endlich beendet. Das Land zieht damit einen ersten
Schlussstrich nach einem Jahr wirklich schwerer Unru-
hen. Präsident Salih hatte am 23. November – man muss
wieder „endlich“ sagen – nach Monaten blutiger Kämpfe
auf Vermittlung der UN schließlich dem Abkommen des
Golfkooperationsrates zugestimmt, die Macht abzuge-
ben.

Sicherlich, von einer echten Wahl Hadis kann man ei-
gentlich nicht sprechen. Nur ein Name stand auf dem
Wahlzettel, und ein Nein war nicht vorgesehen. Aber es
ist eben so, dass die Mehrheit der politischen Akteure
mit dem Kompromisskandidaten Hadi einverstanden
war. Auch die Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul
Karman rief zur Teilnahme auf und sprach gar von ei-
nem historischen Tag für das Land, weil es endlich ge-
lungen sei, Salih zu vertreiben.

Trotz des Aufrufes der Separatisten im Süden sowie
schiitischer Rebellengruppen im Norden, die Wahl zu
boykottieren, haben immerhin etwa – das waren weit





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


mehr als erwartet – 65 Prozent der Bevölkerung teilge-
nommen. Auch wenn die Zukunft in vielerlei Hinsicht
unklar ist, kann man meiner Meinung nach schon sagen:
Die hohe Wahlbeteiligung zeigt, dass große Teile der Be-
völkerung das Signal setzen wollten: Die Ära Salih ist
vorbei. Dazu kann man dem jemenitischen Volk von hier
aus wirklich nur gratulieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Obwohl die Wahl Hadis keine echte Wahl war, könnte
sie der Beginn einer neuen Ära sein. Sie könnte der Be-
ginn dringend notwendiger Reformen, für die die Pro-
testbewegung seit über einem Jahr auf die Straße gegan-
gen ist, sein.

Hadi hat nun zwei Jahre Zeit dafür. Er muss eine Re-
gierung der nationalen Einheit bilden, eine Verfassungs-
reform durchführen und eine Armee neu strukturieren.
Nach dieser Übergangszeit soll dann in einer richtigen
Wahl ein neues Parlament gewählt werden.

Es wird nun darauf ankommen, dass dieser politische
Neuanfang auch gelingt. Dafür muss Hadi zum einen
– das ist ganz wichtig – den Dialog mit allen politischen
und gesellschaftlichen Akteuren, der Jugendbewegung,
der Demokratiebewegung, den Huthi-Rebellen im Nor-
den sowie der Sezessionsbewegung im Süden, führen.
Denn nur so kann vermutlich langfristig ein Bürgerkrieg
oder gar eine Spaltung des Landes verhindert werden,
und das wird sicherlich die schwierigste Aufgabe sein.

Zum anderen muss die internationale Staatengemein-
schaft die Übergangsregierung bei diesen Reformen mit
allen Kräften unterstützen. Denn wir haben beispiels-
weise in Afghanistan bitter erfahren, was passiert, wenn
wir solche Staaten alleinlassen und sie dann zerfallen.

Deshalb ist neben der Demokratie die wirtschaftliche
Entwicklung die zentrale Frage. Das Land war schon im-
mer das Armenhaus der Region. Die humanitäre Lage
hat sich im letzten Jahr noch einmal dramatisch ver-
schärft. Die Forderung der Opposition, ausländische
Konten Salihs und seiner Familie einzufrieren und dem
Staat für den Aufbau des Landes zur Verfügung zu stel-
len, ist meiner Meinung nach nicht nur aus moralischen
Gründen gerechtfertigt. Noch entscheidender wird sein,
dass wir die humanitäre Hilfe ausweiten und den Jemen
beim Wirtschaftsaufbau unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Entscheidend ist, dass die Ära Salih auch tatsächlich
beendet wird. Allerdings ist zu befürchten, dass sich
Salih wieder einmischt. Nachdem er am Freitag aus den
USA zurückkam, hat er sogleich mit einem öffentlichen
Auftritt bei der Machtübergabe Öl ins Feuer gegossen.
Hinzu kommt, dass die Familie Salih beispielsweise bei
den Sicherheitskräften die Fäden noch fest in der Hand
hält. Das heißt, die Umstrukturierung der Armee ist sehr
wichtig. Salih muss klargemacht werden, dass es für ihn
im Jemen keine politische Zukunft mehr gibt.

Ich möchte zum Schluss auf eine weitere Forderung
der Opposition eingehen. Sie fordert, dass sich Salih für
seine Verbrechen, die er während seiner Amtszeit und
während des Aufstandes begangen hat, vor dem Interna-
tionalen Strafgerichtshof verantworten muss. Das ist
eine schwierige Frage; denn durch die Einigung der
UNO mit dem Golfkooperationsrat ist Salih Immunität
gewährt worden. Damit ist der Transformationsprozess
eingeleitet worden. Ich finde aber, wir können nicht ein-
fach ignorieren, dass die jemenitische Gesellschaft mit
diesem Deal nicht einverstanden ist und ein Strafverfah-
ren fordert.

Es zeigt sich immer wieder: Nach großen Kriegen
und schweren Menschenrechtsverbrechen ist Gerechtig-
keit für einen nachhaltigen Frieden in der Gesellschaft
von zentraler Bedeutung. Gerade wir, der Westen, die
wir den Internationalen Strafgerichtshof aus der Taufe
gehoben haben, dürfen das nicht ignorieren.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716217600

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Philipp

Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1716217700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal mit Blick auf
den arabischen Frühling kurz eine Einteilung der betrof-
fenen Länder vornehmen und daraus dann zu Ableitun-
gen kommen. Man kann grob vier Gruppen von Ländern
unterscheiden, die verschiedene Wege einschlagen.

Erstens. Länder wie Marokko und Jordanien haben
sich anscheinend für die friedliche Transformation ent-
schieden. Zweitens. In Tunesien und teilweise auch in
Ägypten können wir eine Konsolidierung nach den
Ereignissen im Zusammenhang mit dem arabischen
Frühling feststellen. Drittens. Länder wie Saudi-Ara-
bien, Katar und Oman haben sich von Anfang an dafür
entschieden – das sage ich jetzt ohne Wertung –, den
Status quo zu erhalten. Viertens. Es gibt Länder, die
einer Fragmentierung anheimfallen und die kurz vor ei-
nem Bürgerkrieg stehen bzw. schon mittendrin sind.
Dazu zählen Länder wie Libyen, der Iran, Sudan, Syrien
und eben der Jemen, über den wir heute sprechen.

Wir sehen im Jemen eine humanitäre Notlage, ein
Flüchtlingsproblem und eine dramatische Verschlechte-
rung der Versorgungslage der Bevölkerung. Die Zahlen
sind erschreckend. Mit einem katastrophalen Wert von
unter 0,462 liegt der Jemen beim Human Development
Index auf Platz 154. Vor diesem Hintergrund müssen wir
uns mit der Notlage, die die gesamte Bevölkerung be-
trifft, ernsthaft auseinandersetzen, auch wenn dies kein
Thema ist, welches die Menschen in Deutschland elek-
trisiert bzw. dazu bringt, auf die Straße zu gehen.

Es ist tatsächlich so: Der Jemen ist in viele Teile frag-
mentiert. Es gibt Sezessionsbewegungen, die zum Teil
von al-Qaida und zum Teil durch andere Länder unter-





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


stützt werden. Die Familie Salih – meine Vorrednerin hat
es bereits erwähnt – spielt dort eine sehr ungute Rolle.
Wer glaubt, die Problematik sei dadurch behoben, dass
Salih nicht mehr im Amt des Staatspräsidenten ist, der
irrt. Denn die wichtigsten Schlüsselfunktionen in diesem
Land, auch über weite Teile der öffentlichen Verwaltung
hinaus, befinden sich in den Händen der Familie Salih.
Deshalb wird sie dieses Land nicht aus ihrem Würgegriff
herauslassen.

Wir Außenpolitiker haben kürzlich Gelegenheit ge-
habt, uns ausführlich mit diesen Fragen auseinanderzu-
setzen. Mit der Tatsache, dass das Oberhaupt der Familie
keine politische Rolle mehr spielen wird, ist es allein
einfach nicht getan. Man muss den Prozess zur Moderni-
sierung des Landes breit unterstützen und vor allem da-
für sorgen, dass sich die humanitäre Situation verbessert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Frau Müller, ich teile in weiten Teilen Ihre Analyse.
An einer Stelle haben Sie unrecht bzw. überschätzen den
Einfluss und die Motive Saudi-Arabiens. Darüber kann
man sich natürlich streiten. Bei Saudi-Arabien sind wir
uns meistens relativ einig. Ich glaube aber nicht, dass
Saudi-Arabien der Hauptakteur in Bezug auf Bestrebun-
gen ist, im Jemen eine Demokratie zu verhindern. Die-
sen Punkt Ihres Antrags sehe ich kritisch. Zu erwähnen
bleibt, dass wir mit einem instabilen Jemen nicht leben
sollten; denn ein instabiler Jemen ist nicht nur eine Ge-
fahr für Saudi-Arabien und für die Region, sondern ein
instabiler Jemen ist eine Gefahr für die Welt. Erinnern
wir uns an das Jahr 2010. Im Oktober 2010 gingen Pa-
ketbomben aus dem Jemen nach Köln, die wiederum
weiter in die USA geschickt werden sollten, um gezielt
Menschen zu töten. Vor diesem Hintergrund sage ich:
Was für ein Glück, dass diese Paketbomben in Köln
nicht explodiert sind! Eines steht fest: Der Jemen ist
Schutzort für Terroristen und daher auch eine Bedrohung
für den Weltfrieden. Deshalb müssen wir dieses Problem
ernster nehmen und ihm mehr Aufmerksamkeit schen-
ken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Nachbarn Jemens reagieren auch. Saudi-Arabien
baut ein Grenzsicherungssystem auf, um sich zu schüt-
zen. Die saudischen Probleme sind an anderer Stelle aus-
führlicher zu diskutieren.

Was kann die Bundesregierung tun? Was tut die Bun-
desregierung bisher? Ich glaube, die Bundesregierung
leistet erstens zu Recht mit 29,6 Millionen Euro einen
wichtigen Beitrag zur humanitären Hilfe. Zweitens.
Deutschland hat sich 2011 gemeinsam mit anderen inter-
nationalen Partnern für eine politische Lösung der
Jemen-Krise eingesetzt und vor allem mit dem Golfko-
operationsrat die Verhandlungen in Schwung gebracht.
Ich glaube, dass die Vereinten Nationen ihrer Verantwor-
tung an dieser Stelle gerecht werden müssen. Das gilt
sowieso für Syrien. Wenn die UNO als Weltpolizei
ernstgenommen werden will, muss sie die Fragen des
Jemen und die Fragen von Syrien lösen können. Wenn

die Lösungskompetenz nicht gegeben ist, wird sie auf
Dauer obsolet und damit viel Vertrauen verlieren.

Wir haben die Bewegung „Friends of Yemen“ unter-
stützt. Wir sind der Meinung, dass der festgelegte Über-
gangsfahrplan weiter politisch begleitet werden sollte,
auch über die ersten Initiativen und Anstöße hinaus.

In einem dritten Punkt komme ich zur Entwicklungs-
zusammenarbeit. Deutschland ist seit über 40 Jahren im
Jemen engagiert. Wir sollten uns überlegen, ob wir bei
der Evaluierung der Aktivitäten der Entwicklungszu-
sammenarbeit den Fokus nicht stärker darauf richten,
wie zielgerichtet, wirkungsvoll und effizient dieses En-
gagement war, wenn es über einen so langen Zeitraum
läuft. Gerade habe ich den Development Index zitiert.
Jemen hat alles Zeug, ein gescheiterter Staat zu sein,
dauerhaft gegen die Menschenrechte zu verstoßen und
damit Demokratisierungsbewegungen im Ansatz zu ver-
hindern. Vor diesem Hintergrund steht dem Jemen noch
ein langer Weg bevor. Wir wollen die vernünftigen
Kräfte unterstützen. Allein die Identifizierung der ver-
nünftigen Kräfte dürfte uns schon sehr, sehr schwer-
fallen, sodass wir genau überlegen müssen, welche poli-
tischen Maßnahmen wir ergreifen, um das nicht nur in
Worthülsen zu kleiden. Wir müssen genau überlegen,
was wir mit dem Geld machen wollen, das wir zur Ver-
fügung stellen, und welche weiteren außenpolitischen
Aktivitäten wir ergreifen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716217800

Das Wort hat der Kollege Günter Gloser von der

SPD-Fraktion.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1716217900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Situation im Jemen ist meines Erachtens
nicht mit der in anderen arabischen Ländern vergleich-
bar. Aus meiner Sicht wird der Protest im Jemen zu
schnell in die Reihe der arabischen Rebellionen einge-
reiht. Hat es in den letzten Jahrzehnten im Jemen jemals
Ruhe gegeben? Die Antwort ist leider: nein. Die meisten
Konflikte sind sehr alt.

Da ist zum einen die nie gelungene Vereinigung der
beiden Landesteile zu nennen, die schon vor und wäh-
rend des Kalten Krieges getrennt waren. Dann dominie-
ren Volksgruppen und Clans weiterhin das politische
Denken und Handeln. Schlimmer noch, es droht das
Auseinanderdriften des Landes in tribale Strukturen und
der Zerfall der zentralen Fassadenstaatlichkeit, wie ich
es einmal bezeichnen will.

Wir sehen im Jemen also einige historische Vorbedin-
gungen, die es in anderen arabischen Ländern so nicht
gegeben hat. Ich will aber auch nicht zu pessimistisch
sein und die neuen positiven Entwicklungen im Jemen
erwähnen. Inspiriert durch die Ereignisse des arabischen
Frühlings hat der langjährige Machtkampf im Jemen im
letzten Jahr tatsächlich eine neue Dynamik gewonnen. In
Sanaa und anderen Städten des Landes standen weite





Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)


Teile der Bevölkerung gegen das korrupte Regime Salihs
auf, und dabei sind auch – das möchte ich betonen –
Tausende von Frauen auf die Straße gegangen, um die
Herrschaft des Regimes Salih zu beenden.

Nach langem Hin und Her war es, auch auf Initiative
des Golfkooperationsrats, zu einem Abkommen für die
Gestaltung des Machtübergangs gekommen. Der Preis
für den damit vereinbarten Abtritt des bisherigen Präsi-
denten war allerdings hoch. Viele Menschen verloren ihr
Leben. Weder die demokratische Opposition auf den
Straßen noch die zum Teil separatistische Opposition im
Süden des Landes noch die schiitischen Huthi-Rebellen,
die Teile des Landes kontrollieren, erkennen die jetzt ge-
fundene Lösung an. Dabei könnte sie doch zumindest
den Boden für einen geregelten Übergang und eine künf-
tige Stabilität bereiten.

Wie schwierig die Situation ist, zeigt ja auch das
Fernbleiben der Abgeordneten der Opposition bei der
Zeremonie zur Amtseinführung des neugewählten Präsi-
denten Hadi. Mit der Wahl des Präsidenten ist die erste
Phase der Vereinbarung an ihr Ende gekommen. Nun
soll eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, Parla-
ments- und Präsidentenwahlen sollen innerhalb von zwei
Jahren stattfinden – so der Plan, der hoffentlich einge-
halten werden kann.

Unmittelbar nach dem Amtseid gab es vor dem Präsi-
dentenpalast einen Selbstmordanschlag, bei dem
26 Menschen starben. Al-Qaida hat sich zu diesem An-
schlag bekannt. Es gibt leider noch mehr Gründe, die
momentan Zweifel daran aufkommen lassen, ob das
Übergangsabkommen wirklich umgesetzt werden kann.

Der Auftritt des bisherigen Präsidenten Salih bei der
Amtseinführung seines Nachfolgers wirft ein Schlaglicht
auf die aktuelle Situation. In einem provozierenden Auf-
tritt spielte Salih denjenigen, der die Macht übergibt –
als hätte es nie einen blutigen Aufstand gegen ihn und
die Wahlen gegeben. Dabei spricht er noch den Satz:

Ich gebe das Banner der Revolution, der Freiheit,
der Sicherheit und der Stabilität in zuverlässige
Hände.

Nichts ist wahr in diesem Satz. Er ist allein zynisch.
Denn wo war die Sicherheit, wo war die Freiheit, wo war
die Stabilität im Jemen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Dieser Auftritt erst vor wenigen Tagen war auf jeden
Fall für viele im Jemen eine Farce und ein Schlag in das
Gesicht der Menschen, die für ein Ende des bisherigen
Systems gekämpft haben. Dabei wäre dem Jemen und
seiner leidgeprüften Bevölkerung ein echter politischer
Neuanfang nur zu wünschen. Um die Basis dafür geht es
in dem hier debattierten Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen.

Ich betone es ausdrücklich noch einmal: Die Bundes-
regierung hat sich seit Jahrzehnten in der Entwicklungs-
zusammenarbeit dafür eingesetzt, dass sich die Situation
im Jemen verbessert. Ich danke ausdrücklich den vielen

Organisationen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
sowie den Ministerien, die dafür verantwortlich waren,
dass dort unter schwierigen Bedingungen eine Entwick-
lungszusammenarbeit ausgeführt worden ist, die projekt-
orientiert war und bei der das Geld nicht in verschiede-
nen staatlichen Kanälen versickert ist, sondern wo in
Bereichen der Infrastruktur etwas erreicht worden ist.
Daran müssen wir anknüpfen, wohl wissend, dass die
Sicherheitslage in dem Land noch nicht so ist, wie es für
diese Arbeit erforderlich wäre.

Noch ein Wort an die Adresse der Bundesregierung
– das hat sich in verschiedenen Aussagen bereits gezeigt,
und hier gibt es eine Übereinstimmung hinsichtlich der
Forderungen, die im Antrag stehen und die ich nur unter-
streichen kann –: Es braucht eine juristische Aufarbei-
tung der Gewalt und des Machtmissbrauchs beim Sys-
tem Salih. Ich weiß, wie heikel es ist, das aus einer
geschützten Situation heraus zu fordern, auch vor dem
Hintergrund – Frau Müller, Sie haben das erwähnt – die-
ses Abkommens.

Eines sage ich aber ganz bewusst: Ich habe noch in
Erinnerung, dass im Jahr 2007 – damals durch das Aus-
wärtige Amt organisiert – eine große Konferenz mit
Finnland, mit Jordanien, mit NGOs aus allen Ländern
stattfand, bei der es um die alte spannende Frage ging:
„Frieden oder Gerechtigkeit?“ oder „Frieden und Ge-
rechtigkeit?“. Das eindeutige Zeichen muss lauten: Frie-
den und Gerechtigkeit. Es kann nicht sein, dass diejeni-
gen, die als Machthaber oder an verantwortlichen Stellen
in Militär und Verwaltung tätig waren, die Menschen als
Opfer auserkoren und Befehle gegeben haben, diese
Menschen zu töten, in einer neuen Gesellschaft frei he-
rumlaufen können und nicht bestraft werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Philipp Mißfelder [CDU/CSU])


Es geht aber auch – das war schon mehrfach die Ad-
resse an die Bundesregierung; das sage ich jetzt gar nicht
vorwurfsvoll – um das Fluchtkapital der jemenitischen
Machthaber, das sich auch in Deutschland befindet. Ich
bin mir bewusst, dass ein Rechtshilfeersuchen aus dem
Jemen vorliegen muss, um die Gelder einzufrieren. Inso-
fern richtet sich mein Appell an die jemenitische Regie-
rung, so schnell wie möglich um diese Hilfe zu ersuchen.
Das entwendete Eigentum muss nämlich, jedenfalls nach
meiner Überzeugung, an das jemenitische Volk zurück-
übertragen werden; denn diesem ist es entwendet wor-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir unterstützen die For-
derung dieses Antrages. Vielleicht darf ich einen Bereich
ansprechen, in dem ich eine Wertung vornehme, die an-
ders als die im Antrag ist. Ich will schon zum Ausdruck
bringen, dass die Mitgliedsländer des Golfkooperations-
rates – bei allen innenpolitischen Spannungen in diesen
Ländern – eine wesentliche Rolle dabei gespielt haben,
dass es zur ersten und zweiten Phase dieses Übergangs
gekommen ist. Ich glaube, wir werden im Jemen ohne





Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)


die Mitgliedsländer des Golfkooperationsrates, allein als
EU oder bilateral, nichts bewegen können. Deshalb ist es
wichtig, dass wir die Initiative aufgreifen, die es schon
Anfang des Jahres 2011 gegeben hat – Herr Mißfelder,
Sie haben es erwähnt –, dass die Friends of Yemen wie-
der aktiv werden und entsprechende Beiträge zu einem
wirklichen Neuanfang im Jemen leisten können.

Es geht um einen Neuanfang in der politischen Kul-
tur. Es geht also um mehr als nur Verteilungsfragen. Es
geht darum, dass auch der wirtschaftliche Neuanfang in
diesem Land gelingt. Ich denke, dass Deutschland und
die Europäische Union einen wesentlichen Anteil an die-
sem Neuanfang haben können. Deshalb unterstützen wir
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716218000

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Stinner von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1716218100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im

Fall Jemen erleben wir Abgeordnete ein klassisches Di-
lemma, nämlich das Dilemma zwischen dem eigentlich
Sinnvollen, politisch Korrekten und Guten, das der poli-
tischen Ästhetik folgt sowie wünschenswert und richtig
ist, und der Not, pragmatische Politik zu betreiben.
Natürlich enthält das Transitionsabkommen, das ge-
schlossen worden ist, eine ganze Reihe problematischer
Positionen. Aber die Frage ist, wie wir den Abwägungs-
prozess vornehmen.

Es wird völlig zu Recht kritisiert, dass Herrn Salih in
diesem Transitionsabkommen eine Immunität gewährt
wird. Das heißt, dass er vor zukünftiger Bestrafung si-
cher ist. Das kann jedem, der an Recht und Billigkeit
glaubt, natürlich nicht recht sein. Aber die Frage ist: Was
haben wir ausgehandelt? Ich möchte dieses Dilemma,
das wir täglich haben und mit dem wir zurechtkommen
müssen, sehr deutlich vor uns ausbreiten. Beim Transi-
tionsabkommen ist eine entsprechende Abwägung ge-
troffen worden. Natürlich kann uns die Immunität von
Herrn Salih nicht recht sein. Wir alle wissen, welche
Verbrechen begangen worden sind. Wir alle wissen
auch, welche wirtschaftliche Bereicherung stattgefunden
hat. Damit müssen wir entsprechend umgehen.

Ein zweiter Punkt der Kritik am Transitionsabkom-
men bezieht sich auf die zweijährige Übergangsphase.
An der Dauer der Übergangsphase übe ich, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, wiederum keine Kritik. Denn bei
der Abwägung, ob man für einen schnellen Übergang,
schnelle Neuwahlen und die möglichst schnelle Verab-
schiedung einer neuen Verfassung, meinetwegen inner-
halb von sechs Wochen, sein sollte oder man sich ange-
sichts der Erfahrungen, die wir anderswo gemacht
haben, dafür mehr Zeit nehmen sollte, komme ich zu

dem Schluss: Ich persönlich kann sehr gut mit der Über-
gangsfrist von zwei Jahren leben, wenn der Übergang ei-
nigermaßen vernünftig abläuft.

Der dritte Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass mit
Herrn Hadi der ehemalige Vizepräsident – er war über
Jahrzehnte hinweg mit Salih verbunden – jetzt Präsident
geworden ist. Das kann man mit Fug und Recht kritisie-
ren. Es wird auch kritisiert, dass sich die Parteien auf
einen Kandidaten und auf keinen Gegenkandidaten ver-
ständigt haben. Es soll ja auch in manchen westeuropäi-
schen Ländern vorkommen, dass sich die Parteien vor
großen Wahlentscheidungen vorher auf einen Kandida-
ten einigen; das würde ich auch im Falle Jemen nicht un-
bedingt kritisch beurteilen.

Natürlich sind das Kröten, die man hier schlucken
muss. Die Abwägung lautet: Ist uns die Vereinbarung,
die getroffen worden ist, diesen Preis wert? Ich sage
nach Abwägung von Pros und Cons: Für mich und
meine Fraktion ist es diesen Preis wert. Denn wir haben
mit dieser Vereinbarung wirklich die Chance, dass wir
ohne einen Bürgerkrieg eine Veränderung der politi-
schen Situation im Jemen erreichen. Wir haben täglich
vor Augen, was gegenwärtig in Syrien passiert. Wenn es
mit dieser Vereinbarung gelingt, ähnliche Verhältnisse
im Jemen zu verhindern, dann haben wir, glaube ich, den
richtigen Weg eingeschlagen.

Diese Vereinbarung ist, wie wir alle wissen, zum
Glück auf Druck eines Teils der Opposition im Jemen,
der Vereinten Nationen und des Golfkooperationsrates
im Konsens mit uns Europäern getroffen worden. Ich
halte es für ein sehr gutes Zeichen, dass diese vier zu-
sammenhalten. Das sollte auch in Zukunft wichtig und
richtig sein. Ich betone hier wieder, wie wichtig es für
uns ist, dass der Golfkooperationsrat als regionale Orga-
nisation selber Verantwortung übernimmt und einbezo-
gen wird. Wir alle kennen die Historie des Verhältnisses
zwischen Golfkooperationsrat und dem Jemen. Keine
Frage: Der Jemen war in der Vergangenheit aufgrund ei-
nes anderen Systems der Outcast. Es ist wichtig, dass
sich der Golfkooperationsrat hier einmischt und Verant-
wortung übernimmt.

Wir alle wissen – die Kolleginnen und Kollegen ha-
ben es gesagt –: Die Sicherheitslage ist nach wie vor kri-
tisch. Es gibt die Huthi-Miliz; außerdem kämpfen dort
Salafisten. Das ist alles andere als berauschend und alles
andere als ermunternd. Es führt kein Weg daran vorbei,
dass wir schrittweise eine Stabilisierung dieses Landes
vornehmen.

Jedenfalls bisher hat dieses Abkommen funktioniert.
Die bislang vorgeschriebenen Schritte sind alle so, wie
es in dem Abkommen vom letzten Jahr beschrieben wor-
den ist, unternommen worden. Das gibt uns Hoffnung,
dass es auch in den kommenden Jahren so ist. In zwei
Jahren sollen – so ist es in der Verfassung festgeschrie-
ben worden – ein neues Parlament gewählt werden und
ein neuer Präsident ins Amt kommen.

Ich glaube, dass es bis dahin wichtig ist, dass wir
– Golfkooperationsrat, Vereinte Nationen, Europa und
damit Deutschland – zusammenhalten und versuchen,





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)


die Entwicklung im Jemen in die richtige Richtung zu
lenken; das tut Deutschland ja auch schon. Herr Gloser,
ich erinnere mich an unsere legendäre gemeinsame
Reise im Jahr 2005 in den Jemen, wo uns etwas passiert
ist, was jedenfalls mir zuvor noch nie passiert war, näm-
lich dass die Bevölkerung einem Abgeordneten zugeju-
belt hat. Das kann nicht nur an mir gelegen haben, Herr
Gloser; es hat vielmehr daran gelegen, dass im Jemen
traditionell eine intensive Verbindung zu Deutschland
besteht. Die Jemeniten wussten, wie stark sich Deutsch-
land in ihrem Land engagiert hat, auch durch Entwick-
lungshilfe, durch archäologische Ausgrabungen etc. In-
sofern können wir davon ausgehen, Herr Gloser, dass
dieser Beifall Ausdruck des Erinnerns im Jemen war und
dass wir Deutsche tatsächlich bestimmte Einfluss-
möglichkeiten – die wir allerdings nicht überschätzen
sollten – haben.

Nach Abwägung aller Pros und Cons sage ich: Wir
stehen zum Transitionsabkommen. Liebe Frau Müller,
da ist Ihr Antrag und da war Ihre Rede meiner Ansicht
nach nicht ganz klar. Einerseits sagen Sie, es sei richtig,
was dort gemacht worden ist, andererseits schreiben Sie
in Ihrem Antrag unter Punkt 5, es müsse dafür gesorgt
werden, dass Herr Salih vor Gericht kommt. Das ist ein
Widerspruch. Entweder akzeptieren wir dieses Abkom-
men – was wir tun; wir schlucken die Kröte –, oder wir
tun es nicht. Ich glaube, dazu müssen wir Stellung neh-
men.

Ich komme zum Schluss. Ich persönlich sage Ihnen
hier und heute ganz offen: Wenn es uns gelingen würde,
einen ähnlichen Deal in Syrien mit Herrn Assad zu-
stande zu bringen, wäre ich bereit, ihn einzugehen. Wenn
es dadurch gelingen würde, das tausendfache Sterben,
das in Syrien täglich vor unseren Augen stattfindet, zu
verhindern, wäre ich bereit, auf das politisch nicht
schöne, politisch nicht korrekte, politisch unästhetische
und ganz üble Machwerk einzugehen und diesen
Trade-off hinzunehmen, das heißt, die Kröte zu schlu-
cken. So könnte das Töten tatsächlich verhindert wer-
den. Diese Abwägung müssen wir treffen. Ich treffe sie
und sage Ihnen, dass ich dafür wäre, einen solchen Deal
einzugehen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716218200

Das Wort hat der Kollege Jan van Aken von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716218300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einem

Jahr demonstrieren im Jemen Hunderttausende für Frei-
heit, für Demokratie und für ein Ende des Regimes. Dass
der alte Präsident Salih jetzt gegangen ist, ist ein Anfang.
Aber machen wir uns nichts vor: Das System des alten
Präsidenten lebt fort. Seine Söhne kontrollieren den Mi-
litär- und Polizeiapparat, seine Partei ist auch in der

Übergangsregierung vertreten. Der Übergangspräsident
ist sein früherer Stellvertreter.

Nur zur Erinnerung: Jemen ist das ärmste Land der
Arabischen Halbinsel. 45 Prozent der Menschen, fast die
Hälfte, leben unter der Armutsgrenze, und über die
Hälfte der Menschen ist arbeitslos. Schon in wenigen
Jahren werden die letzten Ölquellen im Jemen versiegen,
und dann fallen noch einmal 70 Prozent des Staatshaus-
haltes weg. Dieses Land wird dann endgültig im Chaos
versinken, wenn jetzt nicht die richtigen Weichen ge-
stellt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Gleichzeitig ist die Menschenrechtssituation katastro-
phal. Im Norden kommt es mit den Huthi immer wieder
zu ganz schweren Kämpfen, genauso wie im Süden, wo
immer mehr Menschen eine Abspaltung anstreben. Bis
zu freien und fairen Wahlen – ich denke, da sind wir uns
alle einig – ist es noch ein langer, steiniger Weg. Wer
sich am Ende durchsetzt und welches System dann
kommt, das hängt maßgeblich von der internationalen
Politik ab.

An diesem Punkt möchte ich gerne konkret fragen:
Was tut die Bundesregierung im Moment, und was sollte
sie eigentlich tun? Es nützt doch relativ wenig, immer
wieder mit vielen schönen Worten die friedlichen Pro-
teste in Sanaa und anderswo zu unterstützen und gleich-
zeitig den wichtigsten Unterstützern des alten Regimes
Panzer und eine Waffenfabrik zu liefern. – Ja, ich spre-
che von Saudi-Arabien. Was glauben Sie denn, was
Saudi-Arabien macht, sobald die von Deutschland gelie-
ferte Waffenfabrik in die Produktion geht? Man wird in
Zukunft, wie in den letzten Jahren, die unterdrückeri-
schen Teile des Regimes mit deutscher Waffentechnolo-
gie unterstützen. Das finde ich einfach falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Antwort auf die Frage, warum die Bundesregie-
rung so etwas liefert, ist relativ einfach: weil Saudi-Ara-
bien ein geschätzter Wirtschaftspartner ist. Jedes Jahr
verkauft Deutschland dorthin Waren im Wert von rund
5 Milliarden Euro. Das nimmt man in Kauf, obwohl
Saudi-Arabien nicht nur die eigene Bevölkerung unter-
drückt, sondern in den letzten Jahren immer wieder auch
massiv in den Nachbarländern, auch im Jemen, einge-
griffen hat und die unterdrückerischen Regime dort un-
terstützt hat. Damit muss Schluss sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Wenn Sie wirklich eine friedliche Entwicklung im Je-
men unterstützen wollen, dann tun Sie vor allem eines:
Sorgen Sie dafür, dass der Dialog im Jemen innerhalb
Jemens bleibt! Sorgen Sie dafür, dass die Eigeninteres-
sen anderer Länder herausgehalten werden! Sorgen Sie
dafür, dass die Interessen des Golfkooperationsrates, der
hier so gelobt wird, dass die Eigeninteressen Saudi-Ara-
biens, der Amerikaner und auch der deutschen Wirt-
schaft aus der Region und aus der jemenitischen Politik





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)


herausgehalten werden! Das bedeutet ganz konkret, die
Gewalt im Jemen nicht noch dadurch zu befeuern, dass
man weiterhin Waffen in die Region liefert. Damit kön-
nen Sie aufhören.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt auch, dass die Bundesregierung endlich ihre
Stimme dagegen erhebt, dass die USA ihren Terrorkrieg
auch in den Jemen tragen und dort Menschen durch
Drohnen gezielt töten. Auch das befeuert die Gewalt;
auch das verhindert einen friedlichen Dialog im Jemen.
Das bedeutet, auf Saudi-Arabien dahin gehend einzuwir-
ken, dass es mit der Einmischung im Jemen endlich auf-
hört.

Ich kann die lobenden Worte, die von allen Seiten für
den Golfkooperationsrat zu hören sind, nicht verstehen.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ihn nicht gelobt!)


– Ja. Sie kommen nicht von allen Seiten, etwa nicht von
den Grünen. – Dahinter stehen massive Interessen – die
Führung dabei hat Saudi-Arabien –, durch die gerade das
alte Regime stabilisiert worden ist. Mich würde wirklich
interessieren, wie das Abkommen ausgesehen hätte,
wenn der Golfkooperationsrat nicht mitgewirkt hätte.
Vielleicht wären wir dann ein ganzes Stück weiterge-
kommen.

Die Menschen im Jemen wollen den gesellschaftli-
chen Wandel; aber den können sie nur selber herbeifüh-
ren. Ich finde es völlig richtig, alles zu unterstützen, was
den Dialog unterstützen kann. Man kann zum Beispiel
die Wahlen finanziell oder organisatorisch unterstützen,
insbesondere dort, wo es Sinn macht und wo es gewollt
ist, Friedensfachkräfte einzusetzen oder vor Ort auszu-
bilden. Das alles sind Dinge, die Sie von hier aus ma-
chen können, solange Sie die Eigeninteressen ausblen-
den.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, nicht in den Je-
men, nicht nach Saudi-Arabien und auch in kein anderes
Land der Welt.

Ich bedanke mich bei Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716218400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Thomas Silberhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1716218500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sicherheitslage im Jemen ist nach wie vor ausgespro-
chen angespannt. Das war sie bereits vor den Demon-
strationen für Demokratie und gegen Salih im April
2010. Auch nach der Umsetzung des Übergangsabkom-
mens vom November 2011 bleibt die Sicherheitslage ex-
trem schwierig. Weite Teile des Landes sind nicht unter
staatlicher Kontrolle. Al-Qaida hat im Jemen Fuß ge-

fasst. Im Süden droht eine Rezession, und im Norden
kämpfen schiitische Rebellen gegen sunnitische Radi-
kale. Die Luftwaffe meutert. Mitarbeiter der Vereinten
Nationen werden verschleppt. Das Land kommt nicht
wirklich zur Ruhe. Nur wenige Stunden nachdem Präsi-
dent Hadi am 25. Februar seinen Amtseid abgelegt hat,
kam es zu dem bisher schwersten Selbstmordanschlag
seit Monaten, zu dem sich al-Qaida mittlerweile bekannt
hat. Es gab 26 Tote und 30 Verletzte.

Trotz dieser ernüchternden Bilanz muss man feststel-
len, dass es im Jemen durch Druck der internationalen
Gemeinschaft immerhin gelungen ist – anders als bei-
spielsweise in Libyen –, den Autokraten, in diesem Falle
Salih, durch Verhandlungen zu einer geordneten Über-
gabe seiner Macht zu bewegen. Dabei spielt in der Tat
auch der Golfkooperationsrat eine wichtige Rolle. Sie
sollten die regionale Verantwortung nicht unterschätzen.
Auch die Vereinten Nationen, die USA und der interna-
tionale Druck insgesamt haben dazu beigetragen, dass
diese Entwicklung überhaupt möglich geworden ist.

Nach dem Übergangsabkommen ist der von der
Opposition benannte Vorsitzende des Nationalrats für
die friedliche Revolution zum Ministerpräsidenten der
Übergangsregierung ernannt worden. Die Übergangsre-
gierung ist paritätisch besetzt – 17 Mitglieder der Partei
Salihs und 17 Mitglieder des Oppositionsbündnisses –,
und es gibt eine Vereinbarung über den Abzug der regu-
lären und der oppositionellen bewaffneten Kräfte. All
das sind wichtige Voraussetzungen, um Gewalt zu ver-
meiden.

Das jemenitische Parlament hat im Januar den Weg
für die formale Ablösung Salihs freigemacht. Die Prä-
sidentschaftswahlen am 21. Februar 2012 sind ord-
nungsgemäß abgelaufen. Nun muss Präsident Hadi als
Kompromisskandidat die zweite Phase des Transforma-
tionsprozesses einleiten. Sicherlich muss die internatio-
nale Gemeinschaft mit hoher Aufmerksamkeit weiter auf
die Entwicklung im Jemen achten. Wir brauchen den
Druck, den beispielsweise die Hochkommissarin für
Menschenrechte einbringt. Auch der Internationale
Strafgerichtshof kann von sich aus tätig werden, wenn er
Verbrechen gegen die Menschlichkeit feststellt.

Es wird wichtig sein, dass tatsächlich alle Armeeteile
unter ein zentrales Kommando gestellt werden. Dann
wird man zusehen, dass der Verfassungsprozess in Gang
kommt. Er soll ja innerhalb von zwei Jahren zu Parla-
ments- und Präsidentschaftswahlen führen; das ist auch
für die tief gespaltene Opposition Zeit, sich zu sortieren.
Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass diese
Wahlen frei und fair stattfinden können. Darauf sollten
wir unsere Aufmerksamkeit richten. Deswegen wird der
Jemen weiter im Fokus der Bemühungen der internatio-
nalen Gemeinschaft stehen.

Der Friends-of-Yemen-Prozess ist angesprochen wor-
den. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
wird sich immer wieder damit beschäftigen müssen.
Außerdem wird der Golfkooperationsrat weiterhin eine
konstruktive Rolle spielen müssen, genauso wie die
Europäische Union ihre Rolle als politischer Akteur und
als Geber von humanitärer und rechtsstaatlicher Hilfe
wahrnehmen muss.





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


Der Beginn des arabischen Frühlings ist jetzt mehr als
ein Jahr her. Man könnte versucht sein, die weitere Ent-
wicklung mit Skepsis zu betrachten. Wir sehen, dass im
Jemen die Familie von Salih weiterhin einflussreiche
Posten besetzt. In Syrien richtet das Regime Assad
gerade ein Blutbad unter der Zivilbevölkerung an. In
Tunesien und Ägypten haben die Islamisten die Wahlen
gewonnen. Insbesondere in Ägypten stagniert die Ent-
wicklung: Die Arbeitslosigkeit ist unverändert hoch, und
der Oberste Militärrat macht keine Anstalten, die Zügel
aus der Hand zu geben.

So unbefriedigend diese Lage im Einzelnen auch sein
mag: Sie ist dennoch kein Grund, die Hoffnung fahren
zu lassen, ganz im Gegenteil. Die Länder haben natür-
lich noch eine weite Wegstrecke vor sich, um ein funk-
tionierendes Staatswesen aufzubauen. Wir sollten diesen
historischen Umbruch nutzen und sie dabei unterstützen.
In Tunesien, Ägypten und in Libyen hat die Bevölkerung
ihre Autokraten zum Rücktritt gedrängt. Im Jemen hat
Salih nach mehr als 30 Jahren Alleinherrschaft die
Macht weitgehend friedlich übergeben, und auch das
Regime in Syrien ist gehörig unter Druck.

Meines Erachtens dürfen wir in diesem Prozess nur
zwei Fehler nicht begehen: Wir dürfen die Menschen vor
Ort nicht mit unseren Erwartungen überfrachten – wir
sollten im Blick haben, wie lange solche Umwälzungs-
prozesse in Europa gedauert haben –, und wir sollten
nicht der Versuchung erliegen, diese Entwicklung an
westlichen Maßstäben zu messen. Die Länder des arabi-
schen Raums haben ein Recht auf eine eigene Entwick-
lung. Wir müssen darauf achten, dass rechtsstaatliche
und menschenrechtliche Standards eingehalten werden.
Wir sollten die Menschen nach unseren Kräften unter-
stützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716218600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8587 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a bis c auf:

a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a GO-BT


Technikfolgenabschätzung (TA)


TA-Projekt: Gefährdung und Verletzbarkeit
moderner Gesellschaften – am Beispiel eines
großräumigen und langandauernden Ausfalls
der Stromversorgung

– Drucksache 17/5672 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungs-
schutz 2011

– Drucksache 17/8250 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht über die Methode zur Risikoanalyse
im Bevölkerungsschutz 2010

– Drucksache 17/4178 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1716218700

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr

geehrte Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, das
auf den ersten Blick relativ unattraktiv, wenig bewegend
klingt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Es geht um die beiden Berichte der Bundesregierung zur
Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz für die Jahre 2010
und 2011 und um einen Technikfolgenabschätzungsbe-
richt des Ausschusses für Bildung und Forschung, der
am Beispiel eines langandauernden und flächendecken-
den Stromausfalls die Frage behandelt, wie gefährdet
und verletzbar moderne Gesellschaften sind.

Es geht aus meiner Sicht bei dieser Debatte um ein
zentrales Thema – vielleicht gibt es sogar nur wenige
Aufgaben, die für einen Staat essenzieller sind –, es geht
nämlich um die simple Frage: Wie kann der Staat eine
bedarfs- und risikoorientierte Vorsorge- und Abwehrpla-
nung im Zivil- und Katastrophenschutz gewährleisten?

Um diese Frage wirklich ausreichend beantworten zu
können, ist als Grundlage zunächst einmal eine detail-
lierte und substanziierte Risikoanalyse erforderlich.
Dafür gibt es im Bereich der Bundesregierung zwei Gre-
mien: den Lenkungsausschuss und den Arbeitskreis „Ri-
sikoanalyse im Bevölkerungsschutz Bund“. Ich bin den





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



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Mitarbeitern und den Vertretern in beiden Gremien sehr
dankbar dafür, dass sie in steter Regelmäßigkeit eine
meines Erachtens außerordentlich wichtige und wert-
volle Arbeit ausüben, indem sie sehr detailliert und sub-
stanziiert die unterschiedlichen Risiken, die der deut-
schen Bevölkerung und der deutschen Gesellschaft
drohen, analysieren, bestimmte Eintrittswahrscheinlich-
keiten unter die Lupe nehmen und, darauf aufbauend,
konkrete potenzielle Schadensberechnungen vorneh-
men.

Ich möchte auch den Mitarbeitern des Bundesamtes
für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe für diese
sehr wichtige Arbeit ganz herzlich danken. Ich bin der
festen Überzeugung, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, dass wir es unserer Bevölkerung schuldig
sind, dass wir uns vorausschauend mit möglichen Gefah-
ren und einem damit verbundenen potenziellen bundes-
relevanten Schadensausmaß beschäftigen. Die Natur-
katastrophen bleiben nicht aus. Schneekatastrophen,
Sturmschäden, Hochwassersituationen gibt es fast jedes
Jahr. Uns bedrohen leider nach wie vor Gefahren durch
chemische, biologische, radioaktive und nukleare Stoffe.

Ausfälle kritischer Infrastrukturen oder von Einrich-
tungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind keine Hor-
rorszenarien, sondern können, wie andere Länder leid-
voll erfahren mussten, durchaus blanke Realität werden.
Auch vor terroristischen Angriffen bleibt Deutschland
nicht verschont. Wir haben das im letzten Jahr erstmals
erlebt, als ein islamistischer Terrorist am Frankfurter
Flughafen zwei US-Soldaten ermordet hat. Es bedarf
also angepasster Konzepte für eine effektive und effi-
ziente Gefahrenabwehr. Ich bin sehr dankbar, dass der
Ausschuss für Bildung und Forschung ein Szenario auf-
gegriffen hat, das das Grünbuch des Zukunftsforums Öf-
fentliche Sicherheit bereits im Jahr 2008 behandelt hat,
nämlich: Welche Auswirkungen hätte ein großflächiger
und langandauernder Stromausfall in Deutschland?

Ich möchte ebenfalls in aller Deutlichkeit sagen:
Durch die sogenannte Energiewende, durch den schnel-
leren Fortschritt in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien, verbunden mit einer dezentraleren Energiever-
sorgung, ist dieses Szenario mit Sicherheit nicht unwahr-
scheinlicher geworden.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Das zeigt sehr deutlich, wie verwundbar unsere moderne
Gesellschaft und wie verwundbar auch unsere deutsche
Volkswirtschaft ist.

Man kann in dem erwähnten Bericht sehr detailliert
nachlesen, welche ganz konkreten Auswirkungen ein
derartiger langandauernder Stromausfall für unsere
Kommunikation, für das Transportwesen, für den Ver-
kehr, aber vor allem auch für die Versorgung mit Wasser
und mit lebenswichtigen Lebensmitteln hätte. Aber auch
der Zugang zum Gesundheitswesen wäre deutlich beein-
trächtigt, wenn über mehrere Stunden, vielleicht sogar
über Tage kein Strom in Deutschland verfügbar wäre.

Angesichts dessen ist es wichtig, sich frühzeitig und
ernsthaft mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Es

drohen durchaus Schäden in Milliardenhöhe, ganz zu
schweigen von den Auswirkungen auf die deutsche
Gesellschaft. Meine vorsichtige Prognose ist, dass die
deutsche Bevölkerung, unsere Bundesbürger in diesem
Fall nicht sehr belastbar wären. Ich glaube, es ist umso
wichtiger, dass wir uns frühzeitig mit diesem Thema
auseinandersetzen und – ich sage das hier in aller Ernst-
haftigkeit – auch die deutsche Bevölkerung damit kon-
frontieren.

Ich persönlich habe den Eindruck, dass insbesondere
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs für viele Bundes-
bürger das Bedrohungsszenario weggefallen ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!)


Die innere Sicherheit war gewährleistet, und von außen
drohte kein Feind mehr. Dies wurde an dem massenhaf-
ten Abbau von Sirenen zur Warnung der Bevölkerung
sichtbar. Umso wichtiger ist es, die Diskrepanz zwischen
den objektiv drohenden Schäden und den Bedrohungs-
szenarien auf der einen Seite und der meines Erachtens
durchaus etwas bedächtigen und naiven Haltung der
Bevölkerung zu diesem Thema auf der anderen Seite ab-
zubauen.

Ich glaube, Deutschland ist hinsichtlich des Bevölke-
rungsschutzes gut aufgestellt. Wir haben sehr gut ausge-
stattete, sehr motivierte Bevölkerungsschutz- und Kata-
strophenschutzorganisationen. Diese werden durch eine
wissenschaftlich hochstehende Expertise beim Bundes-
amt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe be-
gleitet. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen,
dass wir insbesondere in Form des Technischen Hilfs-
werks eine dezentrale Bevölkerungsschutzorganisation
haben, die hervorragend ausgestattet – natürlich kann
man immer noch mehr machen – und jeden Euro wert
ist, der in sie investiert wird. Ich möchte das gesamte
Haus im Hinblick auf zukünftige Haushaltsberatungen
ermuntern, hier nicht zu sparen. Es mag auf den ersten
Blick einfach erscheinen, im Bereich des Bevölkerungs-
und Katastrophenschutzes Einsparungen vorzunehmen;
im Endeffekt könnte sich so etwas aber als sehr kostspie-
lig und gefährlich herausstellen.

Das THW ist eine sehr günstige Einheit. Jeder aktive
THW-Helfer kostet den deutschen Steuerzahler pro Jahr
im Durchschnitt 4 500 Euro; da sind alle Kosten einbe-
rechnet. Insoweit kann Deutschland froh darüber sein,
dass es 80 000 Helferinnen und Helfer hat, die jeden
Tag, die jede Stunde bereit sind, ihr Leben, ihre Gesund-
heit aufs Spiel zu setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben es verdient, dass sie mit entsprechenden Mit-
teln ausgestattet werden. Daher lautet mein Appell an
uns alle, hier nicht nachzulassen und das Technische
Hilfswerk bei zukünftigen Haushaltsberatungen sehr
wohlwollend zu behandeln.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







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Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716218800

Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1716218900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wir erleben gerade ein kleines historisches Ereignis
– ich habe nachgeschaut –: Es ist das erste Mal, dass sich
der Deutsche Bundestag zu einem Tagesordnungspunkt
ausschließlich mit Fragen der zivilen Sicherheit in die-
sem Lande beschäftigt; bisher geschah dies meist im
Zusammenhang mit Polizei, Militär und Aspekten der
äußeren Sicherheit. Das halte ich für einen ganz wichti-
gen Schritt. Dies ist übrigens auch im Interesse der vie-
len Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Technischen
Hilfswerks – einer Bundesanstalt –, des BBK, des Bun-
desamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophen-
hilfe, aber auch der vielen Feuerwehren in diesem
Lande, die wir bei den Haushaltsberatungen – darauf
möchte ich hinweisen – auch nicht vergessen dürfen. Es
kann nicht sein, dass wir auf der einen Seite dem THW
helfen – das ist völlig richtig; das haben wir gemeinsam
beschlossen –, aber auf der anderen Seite das BBK und
die Feuerwehren als Sparbüchse betrachten.

Ich glaube, bezüglich des Bevölkerungsschutzes und
der dafür notwendigen Anstrengungen liegen unsere
Meinungen als Berichterstatter gar nicht so weit aus-
einander. Vieles, was wir auf den Weg gebracht haben
und worüber wir jetzt auch im Parlament debattieren,
kam zustande, weil alle, CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne
und Linksfraktion, im Interesse der zivilen Sicherheit
unseres Landes fraktionsübergreifend zusammengear-
beitet haben. Das ist bei diesem Thema auch angemes-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Der Technikfolgenabschätzungsbericht, das Grün-
buch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, aber
auch die vielen länderübergreifenden Katastrophen-
schutzübungen, kurz LÜKEX genannt, die seit Jahren
vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastro-
phenhilfe durchgeführt werden, wurden angesprochen.
Übrigens, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe, das unter einer rot-grünen Regierung
gegründet wurde, hat diese Übungen angestoßen. Dies
geschah aufgrund der Erfahrungen des 11. September
und der Elbe- und Oderflut. Es ist eine sinnvolle Einrich-
tung, führt uns aber auch jeden Tag vor Augen, wie ver-
wundbar unsere moderne Industriegesellschaft gewor-
den ist, nämlich in einem Ausmaß, wie wir es uns früher
nur im Kriegsfall hätten vorstellen können.

Ich sage in Gesprächen immer etwas flapsig: Wenn
man abends nicht einschlafen kann, dann zählt man ja
üblicherweise Schäfchen. Man kann sich einmal Gedan-
ken darüber machen, was in unserem Lande alles nicht
mehr funktioniert – einige Beispiele sind genannt wor-
den –, wenn der Strom ausfällt. Ich gebe Ihnen die Ga-
rantie: Danach können Sie nicht mehr einschlafen. Weil

das so ist, ist es wichtig, dass sich das Parlament, der
Deutsche Bundestag, mit diesen Themen beschäftigt.

Die Ursachen von Katastrophen sind, wie wir wissen,
vielfältig. Das können Naturereignisse sein, wie wir sie
im Münsterland erlebt haben. Das kann technisches Ver-
sagen sein, wie wir es damals bei dem Abschaltfehler an
der Ems erlebt haben. Das können auch Terroranschläge
sein. In den letzten Wochen und Monaten haben wir er-
fahren, dass es auch menschliche Absichten geben kann,
die im wahrsten Sinne katastrophenauslösend werden
können. Bei den Vorgängen an der Strombörse Leipzig,
die fast dazu geführt hätten, dass das bundesdeutsche
Stromnetz kollabiert wäre, war der Auslöser die Profit-
gier.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Na, na! Jetzt nicht Leipzig schlechtmachen!)


Auch sie ist in einer komplexen, modernen Industriege-
sellschaft inzwischen durchaus zu einer möglichen Kata-
strophenursache geworden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Die ist viel schlimmer als alle anderen!)


Umso wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass nichts an-
brennt – das gilt übrigens nicht nur für diesen Bereich –,
und sich auf mögliche Katastrophen vorzubereiten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Weil Katastrophen nicht vor Ländergrenzen haltma-
chen, ist es wichtig, im europäischen Konzert zu han-
deln. Dabei müssen wir zwar den Rahmen unseres Föde-
ralismus beachten, aber so vorgehen, dass es zu einem
möglichst hohen Grad an länderübergreifender Zusam-
menarbeit und Kooperation zwischen Bund und Ländern
kommt.

Hier haben wir einige Schritte nach vorne gemacht,
etwa im letzten Zivilschutzgesetzänderungsgesetz. Auch
wenn die Länder nicht bereit waren, mehr zu geben, er-
kennen sie jetzt zumindest an, dass dem Bundesamt für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und dem
Bund bei entsprechenden Lagen eine koordinierende und
stärker organisierende Funktion zukommen kann; das
gilt übrigens nicht nur in einer Lage, sondern auch in der
Vorbereitung. Das halte ich für extrem wichtig.

Vielleicht am Rande: Dass dem Bundestag über die
Risikoanalysen, die erst am Anfang stehen, zu berichten
ist – momentan geht es ja erst einmal darum, dass ge-
meinsam mit den Ländern die Methode vereinbart wurde –,
haben wir diesem Gesetz zu verdanken. Darüber möchte
ich zwar nicht unbedingt stolz berichten – das war näm-
lich eine gemeinsame Leistung der Großen Koalition,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen –, aber doch da-
rauf hinweisen, dass diese Berichtspflicht gegen den er-
heblichen Widerstand der damaligen Berichterstatterin
der Union ins Gesetz geschrieben worden ist. Dem ha-
ben wir es zu verdanken, dass wir heute im Bundestag
über dieses Thema diskutieren. Auch das muss man in
dieser Stunde, in der wir diese Debatte führen, einmal
stolz sagen können.





Gerold Reichenbach


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(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Ja! Kann man machen!)


Ich glaube, es ist wichtig, dass wir gemeinsam an ei-
nem Strang ziehen. Weil das Bundesamt für Bevölke-
rungsschutz und Katastrophenhilfe inzwischen eine so
zentrale Funktion übernommen hat, ist es ganz wichtig
– Herr Kollege Mayer, ich nehme Ihr Angebot gerne an –,
interfraktionell dafür zu streiten, dass für den Bevölke-
rungsschutz in Zukunft Geld in die Hand genommen und
an dieser Stelle nicht gespart wird. Aber ich sage ganz
offen: Das darf nicht nur für das THW gelten – ich weiß,
dass wir beide dort sehr stark engagiert sind –, sondern
muss auch für das BBK gelten, das beim letzten Mal lei-
der ein bisschen bluten musste und nicht, wie das THW,
in die Reihe der Sicherheitsbehörden aufgenommen
wurde. Leider ist beim letzten Mal auch bei der Ausstat-
tung der Feuerwehren und der Hilfsorganisationen, die
wir den Ländern zur Verfügung stellen, gespart worden.

Ich glaube, ein Teil unserer gemeinsamen Anstren-
gung muss sein, dass wir uns auf künftige Herausforde-
rungen und Gefährdungen vorbereiten. Dabei geht es
nicht mehr nur um die klassischen Hilfsorganisationen.
Ich möchte zitieren, was Major General Michael
Charlton-Weedy vom britischen EPC anlässlich einer
großen internationalen Katastrophenschutzkonferenz in
China zum Katastrophenschutz der Zukunft und zu den
Herausforderungen, die zu bewältigen sind, gesagt hat:
We need new guys with new skills. – Wir brauchen ne-
ben den klassischen Katastrophenschutzorganisationen
also auch neue Kräfte mit neuen und anderen Fähigkei-
ten. Ich glaube, er hat den Nagel auf den Kopf getroffen.

Teile und integrale Bestandteile unseres Katastro-
phenschutzes sind nicht nur Feuerwehren, Sanitätsorga-
nisationen, das THW und andere, sondern auch solche
Organisationen wie der Deutsche Wetterdienst und die
Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, die zum
Beispiel bei dem Einsatz in Japan, dessen Beginn sich
jetzt jährt, erhebliche Unterstützungsleistungen für das
THW erbringen konnten, Organisationen, die stärker in
den Bereichen Wissenschaft und Vorbereitung tätig sind,
und Organisationen wie das Deutsche GeoForschungs-
Zentrum. Das alles sind inzwischen Teile unseres Bevöl-
kerungsschutzes. Ich glaube, wir müssen sie auch als in-
tegrale Bestandteile dessen verstehen.

Ich bin ganz froh, dass es uns gelungen ist – ich
glaube, der Kollege Notz als jetzt amtierender Vorsitzen-
der des Beirates wird auch darauf eingehen –, aus dem
Parlament heraus eine ganze Reihe von Einrichtungen zu
schaffen, mit denen wir uns überparteilich und über die
Fraktionen hinweg zum Ziel gesetzt haben, die Vorberei-
tung auf schwierige Lagen und auf die zunehmende Ver-
wundbarkeit unserer Gesellschaft voranzutreiben. In die-
sem Sinne begreife ich die heutige Debatte als einen sehr
guten Auftakt.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219000

Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere

globalisierte Welt bietet viele Chancen, birgt aber gleich-
zeitig durchaus auch Risiken. Deshalb gilt es, nicht mit
Angst Politik zu machen, sondern mit kühlem Kopf die
Herausforderungen zu analysieren.

Bedrohungen sind ständigen Wandlungen unterwor-
fen. Regionale Katastrophen können globale Wirkungen
haben, wie sie zum Beispiel Pandemien, Extremwetter-
lagen und Großschadensereignisse wie Hochwasserflu-
ten und Erdbeben zeigen. Entsprechend steigen die An-
forderungen an eine weitsichtige Politik und an einen
effektiven Bevölkerungsschutz. Unsere Gesellschaft ist
vielfältig vernetzt. Gesellschaftspolitische Änderungen
und neue Techniken führen zu einem zunehmenden
Druck auf Sicherheitsstandards und die Verlässlichkeit
der Systeme. Das Krisenmanagement steht vor neuen
Herausforderungen.

Durch die Veränderungen unterliegen wir weiteren
Verwundbarkeiten, insbesondere im Bereich der kriti-
schen Infrastrukturen. Unternehmen mit Versorgungs-
netzwerken aus der Energie-, IT- und Telekommunika-
tionsbranche als Lebensnerven unserer heutigen
modernen Gesellschaft können durch kleinste Störungen
ausfallen.

Der TAB-Bericht zum Projekt „Gefährdung und Ver-
letzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines
großräumigen und langandauernden Ausfalls der Strom-
versorgung“, der von meiner Fraktion angeregt wurde,
legt erstmals wissenschaftlich fundiert die möglichen
Folgen eines solchen Ereignisses im heutigen Deutsch-
land dar. Er schafft eine Diskussionsgrundlage, um sich
neue Gedanken zur Sicherheit unserer Bevölkerung zu
machen – in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Gerold Reichenbach sprach es schon an: Gerade in die-
sem Zusammenhang gab es hier einige Initiativen. Herr
von Notz wird sicherlich auch noch darauf eingehen.

Der mehrtägige regionale Stromausfall im Münster-
land im Jahr 2005 hat uns zwar in etwa die Folgen erah-
nen lassen, jedoch hatten die wenigsten die Vorstellung
davon, dass aus einem großräumigen Stromausfall eine
nationale Katastrophe erwachsen kann. Andere Groß-
schadenslagen im In- und Ausland zeigen Ähnliches.

Die Analysen des TAB zeigen, dass der Stromausfall
ein besonders wichtiges Beispiel für kaskadierende
Schadenswirkungen sein kann. Auch aufgrund aktueller
Entwicklungen im Bereich der Energieversorgung er-
scheint das Risiko von massiven Versorgungsstörungen
der Haushalte, Beeinträchtigungen der Industrieproduk-
tion sowie Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit
nicht gänzlich unwahrscheinlich.





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



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Die verschiedenen Sektoren kritischer Infrastrukturen
sind umfassend von einer kontinuierlichen Stromversor-
gung abhängig. Es bedürfte einer Mobilisierung aller in-
ternen und externen Kräfte des Bevölkerungsschutzes,
um die Auswirkungen zumindest zu mildern. Vollstän-
dig beherrschbar sind sie laut TAB-Bericht nicht.

Meine Damen und Herren, der TAB-Bericht ist des-
halb so wichtig, weil er uns zeigt, wie verletzlich unsere
Gesellschaft aufgrund unserer Vernetzung und der
Stromabhängigkeit sein kann. Er stellt wichtige Folgen-
analysen vor und gibt Hinweise zur Stärkung der Resi-
lienz kritischer Infrastrukturen und zur Optimierung des
Katastrophenmanagements.

Politisch heißt dies, dass wir auch die Präventions-
strategien und die Reaktionsmöglichkeiten deutlich den
neuen Herausforderungen anpassen müssen. So sind wir
dazu aufgerufen, stets neue sicherheitsrelevante Berei-
che zu identifizieren und uns immer wieder die Frage
nach einem gesellschaftlich akzeptierten Verhältnis von
Freiheit und Sicherheit zu stellen.


(Manuel Höferlin [FDP]: Ja!)


Es war deshalb richtig, dass der Bund in seinem Zu-
ständigkeitsbereich bereits erste Weichenstellungen un-
ternommen hat; der Kollege Stephan Mayer hat schon
darauf hingewiesen. So hat diese Koalition dafür ge-
sorgt, dass zum Beispiel das Technische Hilfswerk als
Sicherheitsbehörde anerkannt wurde und dass in Zukunft
gerade der Einsatz von einer Vielzahl von ehrenamtli-
chen Kräften eine bessere Unterstützung erhält.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das Engagement aller Ehrenamtlichen im Bevölke-
rungsschutz für unser aller Sicherheit ist beispielhaft in
Deutschland.

Für den Katastrophenschutz sind grundsätzlich allein
die Länder zuständig; nur für den Zivilschutz im Vertei-
digungsfall hat der Bund eine Kompetenz. Großscha-
denslagen wie ein flächendeckender Stromausfall ma-
chen aber nicht vor Ländergrenzen halt. Zuständigkeiten
und Ressortdenken helfen nicht, wenn es um schnelle
Entscheidungen im Notfall und um den Aufbau moder-
ner Reaktionskräfte geht.

Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion mit dem In-
spekteur für den Bevölkerungsschutz eine Koordina-
tionsinstanz der Länder vorgeschlagen. Der Idee liegt
zugrunde, dass wir – gegebenenfalls über einen Staats-
vertrag zwischen Ländern und Bund – zum Beispiel in
der Ausstattung oder Ausbildung auch für die vielen eh-
renamtlichen Kräfte im Bevölkerungsschutz bessere Vo-
raussetzungen schaffen können.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist eine gute Idee!)


Bessere Koordination statt Ressortegoismen, schnellere
Reaktionen statt langes Warten auf Entscheidungen, ver-
netztes Denken über Ländergrenzen hinweg statt Ein-

dimensionalität in einer vernetzten Welt, das ist meines
Erachtens die Zukunft im Bevölkerungsschutz.


(Zuruf von der FDP: Sehr wahr!)


Die Bevorratung mit Medikamenten, die Aufklärung
der Bevölkerung, die Katastrophenschutzforschung, eine
gezielte Alarmierung der Bevölkerung oder die einheitli-
che Beschaffung sowie auch die Ausbildung und Fortbil-
dung vielfach ehrenamtlicher Kräfte brauchen effektive
und effiziente Strukturen. Kommunen, Länder und Bund
müssen enger zusammenarbeiten, um den Menschen im
Ernstfall mehr Sicherheit geben zu können. Wir haben
heute Morgen in einem anderen Zusammenhang über Si-
cherheit diskutiert. Aber auch hier brauchen wir eine
neue Sicherheitsarchitektur.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Gerold Reichenbach [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219100

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716219200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Auch ich möchte mich zunächst bei den Au-
toren der vorliegenden Studie wie auch bei den Prakti-
kern bedanken, die uns ständig beraten. Spätestens jetzt
wissen wir, dass wir für Großschadenslagen wie einem
großflächigen Ausfall der Stromversorgung noch nicht
ausreichend vorbereitet sind. Das gilt es zu ändern, und
zwar, wie wir gehört haben, gemeinsam.


(Beifall bei der LINKEN)


Fakt ist, dass ein langanhaltender Stromausfall für die
Bundesrepublik eine menschliche und wirtschaftliche
Katastrophe wäre. Denn die Stromversorgung ist Vo-
raussetzung für Internet, Wirtschaft, Handel, Bankwesen
usw. Fällt die Stromversorgung aus, hat das – darüber
muss man sich im Klaren sein – gravierende Folgen un-
ter anderem für die Wasserversorgung und -entsorgung,
die Lebensmittelversorgung und die gesamte elektroni-
sche Kommunikation. Manches fällt innerhalb weniger
Stunden aus, anderes spätestens nach wenigen Tagen.
Auch der Katastrophenschutz selbst – das ist sehr wich-
tig – wäre von einem Stromausfall direkt betroffen.

Diesen hohen Vernetzungsgrad gab es vor 20 Jahren
noch nicht. Darauf müssen wir nun – das haben wir er-
kannt – schnellstmöglich reagieren. Nicht zuletzt durch
die Studie wissen wir, dass es aktuell erhebliche Defizite
bei der Bewältigung einer solchen Katastrophe gibt.

Ein Beispiel sind die ungeklärten Zuständigkeiten.
Herr Wolff von der FDP hat recht: Die 16 Ländergesetz-
gebungen bilden einen Flickenteppich, den es zu koordi-
nieren gilt.

Ein zweites Beispiel sind die Rettungskräfte. Es muss
geklärt werden, wie Rettungskräfte in der Zeit eines
Stromausfalls kommunizieren sollen, wenn Handys und





Frank Tempel


(A) (C)



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Funk ausgefallen sind. Sehr wichtig sind auch die Aus-
rüstung und Einsatzbereitschaft des Katastrophenschut-
zes.

Es ist richtig: Aktuell ist der Katastrophenschutz auf
klassische Unglücke wie Überschwemmungen gut vor-
bereitet. Aber die Vorsorge für eine atomare Katastro-
phe, ein großes Chemieunglück oder eben für einen
langanhaltenden, großflächigen Stromausfall ist absolut
unzureichend. Lange hat die Regierung komplexe Sze-
narien als unwahrscheinlich vom Tisch gewischt. Spä-
testens seit Fukushima ist aber offensichtlich, dass sol-
che Unglücke auch in Deutschland möglich sind.

Bei uns und unseren Nachbarn gibt es weiter Atom-
kraftwerke. Sie dürfen daher das Bedrohungspotenzial,
das auch darin liegt, nicht ignorieren.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Katastrophenschutzpläne und technische Ausrüstung
müssen schnellstmöglich dieser Bedrohungslage ange-
passt werden. Alles andere wäre fahrlässig.

Ein weiteres Problem: Der Katastrophenschutz in der
Bundesrepublik ist richtigerweise auf Ehrenamtlichkeit
und ziviles Engagement aufgebaut. Auf 100 Ehrenamt-
liche kommt zum Beispiel bei der Bundesanstalt Techni-
sches Hilfswerk, also dem THW, ein hauptamtlicher
Mitarbeiter. Aber das Ehrenamt ist jetzt zunehmend ge-
fährdet. Gründe sind zum Beispiel hohe berufliche Inan-
spruchnahme, zu geringe gesellschaftliche Anerkennung
und die Überalterung der Bevölkerung. Das stellt das
Ehrenamt infrage und führt zu Nachwuchssorgen. Auch
das sind Probleme, derer wir uns annehmen müssen.

Durch die Abschaffung der Wehrpflicht zum Beispiel
wurde dem THW eine wichtige Möglichkeit genommen,
junge Menschen langfristig für den Katastrophenschutz
zu begeistern. Denn früher konnten sich junge Men-
schen, statt Wehrdienst zu leisten, beim THW verpflich-
ten, und viele blieben dann aus Verbundenheit auch
dabei. Das heißt, wir brauchen heute dringender denn je
ein langfristiges Konzept, um den Nachwuchs für den
Katastrophenschutz zu sichern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Selbsthilfe ist ein ganz entscheidender Faktor im
Katastrophenschutz. Zusammenhalt und gegenseitige
Hilfe der Menschen sind von entscheidender Bedeutung.
Zunehmende soziale Unterschiede und vorhandene Aus-
grenzung können im Krisenfall Folgen haben. Statt-
dessen brauchen wir eine hohe soziale Mobilität, das
Wissen über das richtige Verhalten im Katastrophenfall
auch beim Einzelnen, das man durch das Ehrenamt er-
langt, und ein Mindestmaß an materiellen Reserven im
Haushalt. Man muss sich genügend Wasser- und Lebens-
mittelvorräte im Haus auch leisten können.

Gerade im Katastrophenfall zeigt sich der Zusam-
menhalt der Gesellschaft. Entsolidarisierung und Egois-
mus müssen überwunden werden, damit alle Menschen
eine Chance haben. Dabei machen wir gerne mit.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219300

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konstantin von

Notz von Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es hier im
Hause um Katastrophen- und Bevölkerungsschutz geht,
gibt es – das merkt man auch dieser Debatte an – immer
wieder einen sehr bemerkenswerten Konsens zwischen
den Fraktionen, und das ist gut so.

Deswegen treffen wir uns auch mit allen Fraktionen
regelmäßig in dem gemeinsam geschaffenen Zukunfts-
forum Öffentliche Sicherheit, dem ZOES, um zusammen
mit Verbänden, Behörden, Wissenschaft und Wirtschaft
genau das zu tun, was auf diesem Feld so wichtig ist,
nämlich mit externem Sachverstand mögliche Risiken
für die Bevölkerung zu identifizieren, Strategien für
Gegenmaßnahmen zu entwerfen oder, am besten, Kata-
strophen präventiv zu verhindern oder zumindest ihre
Auswirkungen zu minimieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP] und Frank Tempel [DIE LINKE])


Zugleich geht von FOES und ZOES auch ein Signal
an Millionen von Freiwilligen und Ehrenamtlichen aus,
nämlich das Signal, dass der Bundestag ihnen und ihrer
Arbeit den Rücken stärkt und sich der Bedeutung ihres
Einsatzes für unsere Gesellschaft sehr bewusst ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE])


Gerade beim Bevölkerungsschutz stehen wir als Frak-
tionen dieses Parlaments gemeinsam in der Verantwor-
tung, laufend kritisch zu hinterfragen, ob wir die richti-
gen Konzepte verfolgen, ob unsere Behörden optimal
aufgestellt sind und an welchen Stellen nachgebessert
werden muss. Denn es geht unmittelbar um den Schutz
von Menschenleben.

Weil es oft um die Frage von Leben und Tod geht,
werden Gefahren, Defizite, bestimmte Szenarien und
problematische Entwicklungen gerne verdrängt. Deswe-
gen müssen wir als Parlamentarier auch Stachel gegen
diese Verdrängungsmechanismen sein. Bestehende Wi-
derstände gegen beängstigende Szenarien und Ignoranz
aufgrund einer tendenziellen Nichtvorhersagbarkeit von
Ereignissen müssen identifiziert, angesprochen und
überwunden werden.

Das gilt auch und gerade, wenn eine Bundesregierung
allzu bereitwillig den Satz verbreitet: Wir sind im Bevöl-
kerungsschutz gut aufgestellt.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das stimmt doch!)


Das ist grundsätzlich nicht verkehrt,





Dr. Konstantin von Notz


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(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist grundsätzlich richtig! – Hartfrid Wolff [RemsMurr] [FDP]: Genau!)


aber die Analyse muss darüber hinausgehen. Denn ist
ein solch selbstzufriedenes Zurücklehnen im Politischen
schon generell gefährlich: Im Katastrophenschutz ist es
höchstgefährlich.

Eine schwarz-gelbe Koalition, die nicht eingreift,
sondern auch noch Flankenschutz gewährt, wenn die
Länder mit Zähnen und Klauen ihre Zuständigkeiten
verteidigen, verweigert sich sträflich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir befinden uns in einem epochalen Wandel, der
auch die Risikobewertung des Bevölkerungsschutzes
erfasst. Das ist hier angesprochen worden. Wir leben
heute in vielerlei Infrastrukturen, weltweit vernetzt, und
werden direkt von dem betroffen, was anderswo ge-
schieht. Katastrophen orientieren sich eben weder an
Bundes- noch an Landesgrenzen. Wir brauchen deshalb
weitere Anstrengungen zu einer sinnvollen Vereinheitli-
chung und Koordination.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!)


Ein weiteres grünes Credo im Umgang mit dem Kata-
strophenschutz wird stets die Frage nach den Ursachen
sein. Die richtige Prävention setzt dann in ganz anderen
Politikfeldern an, zum Beispiel beim Klimaschutz. Hier
bei uns wird glücklicherweise nicht ernsthaft bestritten,
dass ein von Menschen verursachter Klimawandel eine
reale Bedrohung darstellt, auch für Europa und Deutsch-
land. Hier gilt es, sowohl vorzusorgen als auch die Ur-
sachen noch entschiedener zu bekämpfen.


(Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das eindringliche Stromausfallszenario des Büros für
Technikfolgenabschätzung stellt in dieser Hinsicht einen
Meilenstein dar. Es stützt die grüne Forderung nach ei-
ner Dezentralisierung in der Energiewende. Herr Mayer,
es geht nicht in die Richtung, die von Ihnen angespro-
chen worden ist, sondern genau in die andere Richtung.
Ich zitiere aus der Studie:

Energieautarkie durch Eigenenergieproduktion so-
wie Inselnetztauglichkeit der dezentralen Stromer-
zeuger würden im Katastrophenfall einen Beitrag

– einen Beitrag! –

zur Versorgung nach einem Stromausfall leisten.

Deswegen ist die Energiewende gut für die Versorgungs-
sicherheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE])


Nachhaltigkeitskonzepte in den unterschiedlichsten
Bereichen bringen viel mehr für den Bevölkerungs-
schutz, als unser immer noch primär auf Nachsorge an-
gelegter Schutzapparat tatsächlich leisten kann.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219400

Denken Sie bitte an die Zeit.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. – Unser Handeln systema-
tisch von den möglichen katastrophalen Folgen her zu be-
denken – auch das zählt zu den zentralen Aufgaben des
Bevölkerungsschutzes, wie wir Grünen ihn verstehen.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Dr. Thomas Feist von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1716219600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Haben Sie eine Taschenlampe,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja!)


Einweckgläser, Konserven im Keller


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wichtige Frage!)


oder ein batteriebetriebenes Radio?


(Gerold Reichenbach [SPD]: Ja, sogar eines mit Kurbel! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Solarbetrieben!)


Wenn ja, dann sind Sie die Glücklichen; denn wenn es
zu einem langanhaltenden und großflächigen Stromaus-
fall kommt – das steht in dem Bericht, über den wir
heute reden –, dann wäre es gut, wenn man so etwas hat,
um miteinander kommunizieren zu können.

Dieser Bericht macht auf jeden Fall deutlich – nach-
dem er auch öffentlich zur Kenntnis genommen worden
ist –, dass wir hier in Deutschland leben, im sicheren
Schoße Europas und nicht in Amerika; denn in Amerika
– da bin ich mir hundertprozentig sicher – hätte die Ver-
öffentlichung eines solchen Berichts dazu geführt, dass
Baumärkte leergekauft und Batterien und Transistorra-
dios aufgekauft worden wären. Einweckgläser hätte man
woanders hergenommen.

Die elektrifizierte Gesellschaft – in der bewegen wir
uns – stellt die Voraussetzungen für alles andere. Freiheit
durch Technik – das hat der Bericht sehr deutlich gezeigt –
heißt aber auch Abhängigkeit von Technik. Ich finde ge-
rade an diesem Bericht sehr gut, dass Technikfolgenab-
schätzung, wie sie sein sollte, hier zum Ausdruck
kommt. Es ist keine Technikfeindlichkeit, aber auch
keine Technikgläubigkeit zu finden. Es wird vielmehr





Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)


genau geschaut, wo die Risiken unserer Freiheit und wo
die Verantwortung, die wir haben, liegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Klimaverträglichkeit ist ein wichtiges Kriterium
bei der Stromerzeugung.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Allerdings muss ich sagen: Wir sollten die Bezahlbarkeit
nicht vergessen. Grundlage von allem ist die Versor-
gungssicherheit. Die Versorgungssicherheit – das zeigt
dieser Bericht – ist etwas, was wir in dieser Trias nicht
gleichwertig behandeln sollten, sondern was darüberste-
hen müsste. Zumindest ist das meine Meinung.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe Ihnen vorgelesen aus diesem Bericht!)


– Sie haben mir etwas vorgelesen. Der Bericht ist aber
etwas umfangreicher.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber das steht drin!)


Die Insellösung ist – da haben Sie völlig recht – im
Katastrophenfall wichtig. Aber normalerweise leben wir
nicht im Katastrophenfall.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!)


Es gibt Städte in Deutschland, die auf diesen Katastro-
phenfall hervorragend vorbereitet sind,


(Zuruf von der SPD: Welche?)


zum Beispiel Willich – von dort kommt mein Kollege
Schummer –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


mit Geothermie und einem hervorragenden Stadtwerke-
konzept. Das muss man durchaus einmal erwähnen;
denn so etwas hilft uns.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wo liegt Willich? – Gerold Reichenbach [SPD]: Vor allem: Wie groß ist Willich?)


Die Abhängigkeit der Gesellschaft von kritischen In-
frastrukturen hat sich anhand verschiedener Katastro-
phen und technischer Störungen in den letzten Jahren
immer wieder gezeigt. Das ist deutlich geworden; Vor-
redner sind darauf eingegangen. Die erhöhte Gefahr von
Stromausfällen wurde – und das ist zu bedenken – in den
letzten Wochen und Monaten nicht nur von den Medien
thematisiert, sondern vor allen Dingen auch von den
Netzbetreibern, die uns eindringlich davor gewarnt ha-
ben, dass wir es nicht dazu kommen lassen dürfen, dass
die Netze durch Spannungsspitzen überlastet werden
und dadurch großflächige und eventuell langanhaltende
Stromausfälle resultieren.

Von daher – da bin ich als Mitglied des Bildungs- und
Forschungsausschusses ganz uneitel – lobe ich an dieser

Stelle die Weitsicht des Innenausschusses. Er hat näm-
lich diesen Bericht in Auftrag gegeben. Das ist einen be-
sonderen Applaus wert für den Innenausschuss und seine
Weisheit.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Der Bericht hat deutlich gemacht, dass noch erhebli-
cher Forschungsbedarf besteht, aber eben nicht nur in
technischer Hinsicht, sondern vor allen Dingen auch in
den Geistes- und Sozialwissenschaften. Wir müssen
nämlich nicht nur sagen, was technisch möglich ist, son-
dern auch, was für die Bevölkerung akzeptabel ist. Hier
brauchen wir mehr Sozialforschung. Wir müssen mehr
darüber lernen, wie unsere Leute ticken.

Aber eines – das fand ich sehr beruhigend in diesem
Bericht – steht auch fest: Die Leute reagieren im Kata-
strophenfall doch nicht so unüberlegt, wie man es sich
vorstellen würde. Der Bericht stellt nämlich auch fest:
Menschen sind in Katastrophen eben nicht nur Opfer,
sondern sie sind auch Helfer. Genau darin zeigt sich
auch die gesellschaftliche Solidarität in unserem Land.
Auch das ist ein sehr hohes und beklatschenswertes Gut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil ich hier vorne gerade unseren Parlamentarischen
Staatssekretär Thomas Rachel sehe, möchte ich es nicht
versäumen, darauf hinzuweisen, dass unter anderem ge-
nau solche Fragestellungen, wie sie im Bericht formu-
liert worden sind, in das Rahmenprogramm „Forschung
für die zivile Sicherheit“ aufgenommen worden sind.
Um einfach einmal eine Zahl zu nennen: In den letzten
fünf Jahren – so lange gibt es das Programm ja schon –
wurden immerhin 250 Millionen Euro in diesen Bereich
investiert.

Wir haben diesen Bericht nicht nur gelesen, sondern
nehmen ihn ernst. Wir beschäftigen uns mit einer ganzen
Reihe von Sicherheitsszenarien, in denen es um Versor-
gungssicherheit geht. In der zweiten Programmphase
werden wir uns vor allem mit den Fragen von Prävention
und Reaktion beschäftigen.

Abschließend möchte ich noch hinzufügen: Für viele
Bürger des Landes, aus dem unter anderem auch ich
komme, wäre angesichts der elektrisch gesicherten
Grenze und der Selbstschussanlagen ein langanhaltender
und großflächiger Stromausfall ein Segen gewesen. Ich
bin froh, dass wir heute darüber anders diskutieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5672, 17/8250 und 17/4178 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Deutsches Engagement beim Einsatz von Poli-
zistinnen und Polizisten in internationalen
Friedensmissionen stärken und ausbauen

– Drucksache 17/8603 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Mehr Mitsprache des Parlaments bei Aus-
landseinsätzen der Bundespolizei

– Drucksache 17/8381 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Edelgard Bulmahn von der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1716219800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Herren und Damen! Vor wenigen Minuten haben wir
hier im Deutschen Bundestag über den Neuanfang im Je-
men nach einer wirklich furchtbaren Zeit der Unterdrü-
ckung und blutiger Auseinandersetzungen diskutiert.
Wie gefährdet der Friede ist, haben wir nicht nur in die-
ser Debatte wieder miteinander erörtert und diskutiert,
sondern das wird auch im aktuellen Conflict Barometer
2011 des Heidelberger Instituts für Internationale Kon-
fliktforschung unterstrichen, in dem darauf hingewiesen
wird, dass es im letzten Jahr 388 gewaltsame Konflikte
weltweit gegeben hat. Davon kann man 20 sogar als
kriegerische Auseinandersetzungen bezeichnen.

Dieses Konfliktbarometer zeigt noch ein Zweites,
nämlich die Vielfalt der gewaltsamen Konflikte. Ethni-
sche und religiöse Spannungen, Hunger und Armut, ein
Mangel an Freiheit, Verteilungsgerechtigkeit und Demo-
kratie sowie das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit sind ge-
nauso Ursachen für diese Konflikte wie zum Beispiel der
Raubbau an Ressourcen oder die Zerstörung der natürli-
chen Lebensgrundlagen. All das zeigt, wie gefährdet der
Friede in vielen Regionen unserer Welt ist.

Deshalb ist das Thema, das wir heute diskutieren,
nämlich der Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in
internationalen Friedensmissionen, sehr wichtig. Denn

eine Vielzahl dieser Konflikte kann gar nicht anders ge-
löst werden. Hier sind Polizeieinsätze sehr wichtig, um
wieder friedensähnliche Verhältnisse und friedensähnliche
Zustände herzustellen.

Die globale und regionale Sicherheitslage wird heute
eben nicht mehr durch den Antagonismus zweier sich
feindlich gegenüberstehender Blöcke bedroht, wie wir
das noch in den 70er- und 80er- und teilweise sogar noch
in den 90er-Jahren erlebt haben, sondern durch Antago-
nismen innerhalb von Staaten und Regionen. Vor diesem
Hintergrund spielt der Dienst von Polizistinnen und Poli-
zisten in internationalen Friedensmissionen eine große
Rolle.

Gerade in den Krisenländern werden nämlich immer
wieder die Menschenrechte verletzt. Rechtsstaatlichkeit
wiederherzustellen, ist eine große Herausforderung. Wir
brauchen also gut ausgebildete Polizisten, um den Staats-
aufbau zu unterstützen, den Schutz der Menschenrechte
zu gewährleisten und Rechtsstaatlichkeit wiederherzu-
stellen.

Beim Einsatz der Polizei – das sage ich gerade in
Richtung der Linken – geht es nicht darum, dass von den
Polizisten militärische Aufgaben übernommen werden.
Das ist nicht das Ziel, und das darf auch nicht gesche-
hen. Vielmehr geht es darum, Sicherheit für die Zivilbe-
völkerung zu schaffen


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Warum steht das nicht in Ihrem Antrag?)


und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Die deutsche Polizei genießt international eine sehr
hohe Anerkennung. Die Kolleginnen und Kollegen von
der Polizei sind – das erfahren wir immer wieder – bes-
tens vorbereitet und hervorragend ausgebildet. Das sind
Stärken, die sowohl von den internationalen Organisatio-
nen als auch von den Ländern, in die die Polizisten ent-
sandt werden, außerordentlich geschätzt werden. Da-
rüber hinaus – das ist mir wichtig, und das ist auch für
die internationale Anerkennung sehr wichtig – ist die
deutsche Polizei aufgrund ihres Selbstverständnisses und
ihrer gesellschaftlichen Einbindung in einer besonderen
Weise geeignet, wichtige Unterstützung für eine demo-
kratische Entwicklung in Krisenländern zu geben. Das
ist uns ein sehr wichtiges Anliegen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da haben wir in Saudi-Arabien etwas anderes erlebt!)


Es gibt einen weiteren Aspekt, warum es so wichtig
ist, dass wir genügend Polizisten zur Verfügung stellen.
Die Nachfrage nach Experten wie Forensikern und Spe-
zialisten für Datensicherheit oder für die Bekämpfung
der organisierten Kriminalität ist gerade in diesen Kri-
senländern besonders groß.

Deutschland beteiligt sich seit 1989 an internationa-
len Friedensmissionen und hat seitdem 5 000 Polizistin-
nen und Polizisten entsandt. Wenn wir uns die Daten ge-
nauer anschauen, müssen wir feststellen, dass die Zahl
der entsandten Polizistinnen und Polizisten über die
Jahre kontinuierlich abgenommen und nicht zugenom-
men hat, was eigentlich dem Bedarf entsprechen würde.





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


Sie hat kontinuierlich abgenommen. Wenn man es sich
dann noch einmal genauer anschaut, stellt man fest, dass
Deutschland zurzeit gerade einmal 11 der 14 495 Poli-
zistinnen und Polizisten in den Einsätzen der UN stellt.
Die anderen europäischen Länder sind da im Übrigen
nicht viel besser. Großbritannien stellt nur 2, Frankreich
stellt 35 Beamte. Die europäischen Länder sind also
nicht wirklich ein Vorbild. Die meisten Polizistinnen und
Polizisten kommen aus Ländern wie Bangladesch und
Jordanien.

Das macht eines deutlich: Deutschland tritt zwar in-
ternational als Geldgeber auf. Es wird aber seiner kon-
kreten Verantwortung in den Missionen nur unzurei-
chend gerecht.

Wenn man nach den Gründen fragt, dann zeigt sich
eines sehr deutlich: Das Prinzip, sich freiwillig für einen
Einsatz im Ausland zu entscheiden, ist richtig und muss
auch beibehalten werden. Darin sind wir uns – das ist
ganz wichtig – mit den Innenpolitikern einig. Die Ursa-
che liegt auch nicht, wie viele vielleicht glauben, darin,
dass zu wenig Interesse und zu wenig Bereitschaft auf-
seiten der Polizei vorhanden sind. Auch das ist nicht der
Fall. Deshalb will ich den Polizistinnen und Polizisten
ausdrücklich für die Erfüllung ihrer wichtigen Aufgaben
danken.


(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es liegt auch nicht daran, wie vielleicht einige denken,
dass es an finanziellen Anreizen mangelt und dass nicht
genug Geld gezahlt wird. Das ist für die Polizistinnen
und Polizisten kein Grund.

Was fehlt, sind verlässliche Karriereperspektiven
nach ihrer Rückkehr. Dieser wesentliche Punkt wird im-
mer wieder genannt. Was fehlt, ist die fachliche und vor
allen Dingen auch die öffentliche Anerkennung ihrer Ar-
beit. Was fehlt, ist eine bessere Vereinbarkeit von Beruf
und Familie unter den besonderen Bedingungen eines
Auslandseinsatzes. Das sind die Punkte, bei denen es
Probleme gibt und wo wir zu Verbesserungen bzw. zu
Veränderungen kommen müssen.

Es gibt einen zweiten großen Problembereich, näm-
lich die strukturellen Hürden in der Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern. Für Polizeieinsätze im
Ausland werden kaum zusätzliche Ressourcen bereitge-
stellt. Das müssen wir ändern, wenn wir unseren interna-
tionalen Verpflichtungen wirklich ernsthaft nachkom-
men wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Solange Auslandseinsätze immer nur eine Zusatzbelas-
tung darstellen und mit einer vermehrten Belastung der
Kolleginnen und Kollegen einhergehen, die hier vor Ort
ihren Dienst tun, wird es keine zufriedenstellenden Lö-
sungen geben.

Die Bundesregierung ist daher aufgefordert – genau
diese Forderung erheben wir in unserem Antrag –, auf
die Länder zuzugehen und in einer umfassenden Bund-

Länder-Vereinbarung geeignete finanzielle wie organisa-
torische Strukturen zu schaffen, die sicherstellen, dass
die Bundesrepublik ihren internationalen Verpflichtun-
gen im ausreichenden Maße gerecht werden kann. Sol-
che Bund-Länder-Vereinbarungen sind im Übrigen im
Wissenschaftsbereich gang und gäbe. Genau so etwas
brauchen wir auch an dieser Stelle. Das ist eine Möglich-
keit, in unserem föderalen System einen vernünftigen
und richtigen Weg einzuschlagen, ohne die unterschied-
lichen Verantwortlichkeiten des Bundes und der Länder
infrage zu stellen und trotzdem zu guten gesamtstaatli-
chen Lösungen zu kommen.

Wir haben in unserem Antrag beschrieben, was eine
solche Vereinbarung enthalten soll, damit sie den beste-
henden Problemen gerecht wird. Dazu gehören die Be-
reitstellung ausreichender finanzieller Mittel, aber auch
zum Beispiel die Schaffung eines Pools von virtuellen
Planstellen, die Entwicklung gemeinsamer Ausbildungs-
formate und -inhalte und entsprechende Änderungen im
Dienstrecht, um Karriereperspektiven zu verbessern, wie
ich es eben beschrieben habe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-
schließend feststellen: Ich hoffe sehr, dass die Gemein-
samkeit im Deutschen Bundestag hinsichtlich internatio-
naler Polizeieinsätze auch dann vorhanden ist, wenn es
darum geht, die konkreten Grundlagen zu verbessern,
damit wir nicht nur Vereinbarungen unterzeichnen, son-
dern sie auch ausfüllen können. Damit können wir den
berechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnen
und Polizisten, die für uns im Ausland diese wichtige
Aufgabe erfüllen, auch endlich gerecht werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716219900

Das Wort hat der Kollege Armin Schuster von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1716220000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Vor drei Wochen haben wir hier über einen
Antrag der Linken debattiert, in dem der Abzug deut-
scher Polizisten aus Afghanistan gefordert wurde.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der war sehr gut!)


Ich habe diesen Antrag nicht nur abgelehnt, sondern ich
habe schon damals das Gegenteil gefordert. Ich trete
nämlich für eine Ausweitung des deutschen Engage-
ments bei internationalen Friedensmissionen ein. Der
heute zu beratende Antrag der SPD ist daher nichts ful-
minant Neues, weist aber gedanklich in die richtige
Richtung. Das möchte ich deutlich sagen.

Ein verstärktes deutsches Engagement wäre aller-
dings eine politisch nicht unerheblich neue Weichenstel-
lung. Immerhin wären wir dann bereit, mehr zivile deut-





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)


sche Experten auch in Krisengebiete wie zum Beispiel
den Jemen – Frau Bulmahn hat es angesprochen – oder
auch nach Afghanistan oder Libyen zu entsenden. Nach
den Erfahrungen der letzten Jahre sehe ich dafür noch
keine stabile parlamentarische Zustimmung bei der Op-
position und auch nicht in allen Ländern.

Deshalb sollten wir aus meiner Sicht zwei zentrale
Fragen beantworten: Wohin wollen wir sicherheitspoli-
tisch und warum? Es geht mir also vor den operativen
Umsetzungsdetails, die Frau Bulmahn genannt hat, zu-
nächst einmal um das Ziel und den politischen Auftrag.
Hier sehe ich sogar weiter reichende Perspektiven als
die, die im Antrag der SPD stehen.

Verteidigungsminister Thomas de Maizière betonte in
der vergangenen Woche in einer Grundsatzrede an der
Harvard-Universität, dass ein ökonomisch starkes, je-
doch sicherheitspolitisch schwaches Deutschland nur bis
1990 von seinen Partnern gewünscht war. Viel nehmen
und wenig geben, das war gestern. Auf der Münchner Si-
cherheitskonferenz wurde die zunehmende Selbstbe-
schäftigung der wichtigsten Mitgliedsländer Europas,
vor allem auch Deutschlands, international kritisiert. Wir
sind längst zum gleichberechtigten Bündnispartner ge-
worden, ob uns das gefällt oder nicht. In einem Bündnis
heißt „gleichberechtigt“ auch „gleichverpflichtet“. Uns
muss bewusst sein, dass die USA ihr sicherheitspoliti-
sches Engagement aus politischen, vor allem aber aus
wirtschaftlichen Gründen neu ausrichten und konzentrie-
ren werden. Auch deshalb wird Deutschland als stärkste
Volkswirtschaft in Europa höhere Erwartungen der
NATO erfüllen und mehr Verantwortung übernehmen
müssen. Zusammengefasst heißt das für mich: Entweder
gestalten wir unsere künftige Sicherheitspolitik selbst,
oder wir werden zunehmend gestaltet.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt Schuster und nicht mehr de Maizière!)


– Herr Wieland, das ist jetzt zu viel der Ehre für mich.

Beim Thema Friedensmissionen bieten sich aus mei-
ner Sicht dafür drei Aufgabenbereiche: erstens der mili-
tärische, zweitens der zivil-militärische, drittens der zi-
vile Aufgabenbereich. Die militärischen Perspektiven
sind heute nicht unser Thema. Beim zivil-militärischen
Bereich sehe ich erhebliche deutsche Potenziale. Das ist
aber ein Thema für eine eigene Debatte, die ich sehr in-
teressant finden würde. Wir bleiben beim zivilen Auf-
bau.

Friedensmissionen sollten meines Erachtens von An-
fang an strategisch dreistufig geplant werden: militärisch
Frieden schaffen, zivil-militärisch stabilisieren und in
der zivilen Phase demokratische Strukturen aufbauen.
An dieser Schnittstelle sehe ich die große Chance
Deutschlands. Hier gehe ich über Ihren Antrag hinaus.
Natürlich ist die Aufbauhilfe durch deutsche Polizisten,
also die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen und inne-
rer Sicherheit, ein Löwenanteil bei einer Mission. Aber
– Sie haben es selbst genannt – Infrastrukturunterstüt-
zung, Good Governance und der Aufbau moderner Ver-
waltungs- und Rechtsstrukturen in einem Land gehören

für mich systematisch zu einem Gesamtpaket. Nach den
Erfahrungen, die wir sammeln, betrifft dies nicht nur die
Polizei.

Auf diese dritte Phase muss man bei einem Einsatz
von vornherein strategisch vorbereitet sein. In der Ver-
gangenheit waren wir es für diese dritte Phase fast nie
und schon gar nicht so integrativ, wie ich es gerade be-
schrieben habe. Das ist für mich die große Chance
Deutschlands – es geht dabei nicht nur um die Polizei –:
Mit unserer Kompetenz und unserem international ho-
hen Renommee sollten wir der NATO, den Vereinten
Nationen oder der EU integrative Lösungskonzepte für
diese dritte Phase anbieten sowie ständig rekrutierbare
Expertenpools, einheitlich geführt und interdisziplinär
aus allen Ressorts zusammengestellt. Das muss das An-
gebot sein, das wir unseren Bündnispartnern – die Poli-
zei hat dabei den Löwenanteil zu leisten – bieten. Ich
glaube, damit hätten wir ein Alleinstellungsmerkmal in
Europa, vielleicht sogar weltweit, und könnten damit
eine Art Bündnisverpflichtung erfüllen, die zu unserer
historischen Verantwortung sehr gut passt.

Ich habe bei meiner letzten Rede – das ist jetzt nicht
Thomas de Maizière, Herr Wieland; das bin ich –


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schuster zitiert Schuster!)


von „German Quick Stabilisation Force“ gesprochen.
Ich will mich nicht selbst überhöhen, sondern Ihnen ein-
fach nur einen Slogan bieten. Er lässt sich leicht einprä-
gen. Im Militärischen kennen wir solche Begriffe. Aber
was ist mit der zivilen Komponente? Sollten wir nicht in
der Lage sein, mit Ministern wie Herrn Niebel, Herrn
de Maizière, Herrn Westerwelle oder Herrn Friedrich im
Rahmen deren Strategie und Einstellung ein solches sys-
tematisches Gesamtpaket zu schnüren?


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am ehesten mit de Maizière!)


Die Regierung bietet dafür die richtigen Leute.

Wer diese Vision hat, dem geht der Antrag der SPD
nicht weit genug. Frau Bulmahn, ich möchte Ihnen sa-
gen: Sie haben vieles beschrieben, mit dessen Umset-
zung wir in der Großen Koalition – Ihr Antrag klingt da
ein bisschen alt – schon begonnen haben.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Nichts von dem ist bisher begonnen worden!)


Ich dekliniere Ihnen jetzt nicht sämtliche Punkte durch,
wo wir schon etwas getan haben. In dieser Legislatur-
periode haben wir in unserer Koalition unter anderem
den Personalgewinnungszuschlag und die Auslandsver-
pflichtungsprämie eingeführt. Wir arbeiten an einer gan-
zen Reihe ähnlicher Ideen.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Es sind ja nicht die finanziellen Anreize!)


Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Nehmen Sie sich Zeit,
und besprechen Sie sich mit den Kollegen der SPD aus
dem Innenausschuss.





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)



(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das haben wir getan!)


Dort höre ich teilweise sehr zweifelhafte Kommentare
über den Afghanistan-Einsatz. Ich glaube, Sie haben
diesbezüglich noch genügend in der eigenen Fraktion zu
tun. Wir wollen solche Ziele durchsetzen. Wenn Sie da-
bei sind – gut.

Frau Jelpke, zu Ihrem Antrag: Sie wollen im Parla-
ment über Polizeimissionen sprechen. Sie wollen einen
Parlamentsvorbehalt. Das haben Sie zum wiederholten
Male vorgetragen. Wir aber bleiben bei unserer Mei-
nung: Nein, wir werden Ihrem Antrag wieder nicht zu-
stimmen. Das Parlament kann seine Kontrollfunktion
auch heute schon ausüben. Wir werden über jeden Ein-
satz unterrichtet. Wir können jeden Einsatz von hier aus
beenden. Was soll das Ganze also?

Ich werte in allem immer das Positive. Dass Sie heute
über diese Einsätze reden wollen, ist ein deutlicher Fort-
schritt zur letzten Debatte. Da wollten Sie nicht einmal,
dass wir über solche Einsätze reden.

Jetzt schließe ich –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716220100

Ja, bitte.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1716220200

– mit einem Zitat des Verteidigungsministers, Herr

Wieland:

Angst vor der eigenen Stärke zu haben, ist keine
Leitlinie deutscher Politik. … Verantwortung … im
Bündnis, ohne unsere Geschichte zu vergessen, das
eignet sich eher als Leitlinie.

Genau dafür habe ich Ihnen einen Konzeptvorschlag ge-
macht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716220300

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716220400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frak-

tion Die Linke will mit ihrem Antrag mehr Mitsprache
im Parlament bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei.


(Beifall bei der LINKEN – Manuel Höferlin [FDP]: Sie wollen doch nicht mitsprechen! Sie wollen doch ablehnen!)


Notwendig ist das aus zwei Gründen – das haben wir
heute schon von den Vorrednern gehört –: zum einen,
weil die Bedeutung solcher Einsätze der Bundespolizei
immer mehr zunimmt – das ist übrigens eine Tatsache,
die wir politisch und verfassungsrechtlich höchst proble-
matisch finden –,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie, dann werden es weniger?)


zum anderen, weil der Bundestag kaum Kontrollbefug-
nisse über diese Polizeieinsätze hat. So wie ich das im
SPD-Antrag gelesen habe, will die SPD das auch gar
nicht ändern. Die Linke aber sagt: Parlament und Öffent-
lichkeit müssen über diese Einsätze informiert werden.
Vor allen Dingen muss das Parlament eine Möglichkeit
haben, einzugreifen, wenn es meint, die Polizei zurück-
holen zu müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Moment kann die Bundesregierung nach Belieben
Polizisten hinschicken, wohin sie will. Nur bei Missio-
nen im Zusammenhang mit der UNO oder der OSZE
muss sie das Parlament informieren, und nur dann haben
wir ein Rückholrecht. Das gilt aber schon nicht mehr für
bilaterale Missionen, wenn etwa die Bundespolizei in
Straßburg mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor-
geht oder wenn deutsche Polizisten für menschenrechts-
feindliche Regime Ausbildungsbeihilfe leisten.

Beispielsweise haben wir im Parlament nur zufällig
erfahren, dass die Bundespolizei seit 2008 Ausbildungs-
beihilfe für das diktatorische Regime von Saudi-Arabien
an den dortigen Grenzen leistet. Das Parlament wurde
aber erst 2011 darüber informiert, und zwar über die Me-
dien und nicht über das Ministerium. Das kann einfach
nicht sein. Solche Einsätze müssen einer klaren parla-
mentarischen Kontrolle unterliegen. Denn sonst wird
meiner Meinung nach das Regierungshandeln zu einem
reinen Papiertiger degradiert.

Die Gewerkschaft der Polizei fordert – das ist auch
für die SPD sehr interessant; denn ich denke, Sie fallen
mit Ihrem Antrag weit dahinter zurück –:

Für alle Polizeimissionen und -einsätze, seien sie
bilateral oder international, muss der Deutsche
Bundestag ein Rückholrecht … und … jederzeit das
Recht zur Beendigung … haben.

In diesem Zusammenhang finde ich es schon interes-
sant, dass die SPD in ihrem Antrag weit dahinter zurück-
bleibt und sich nur mit einer besseren Einbindung des
Parlaments begnügt. Wir dagegen, meine Damen und
Herren von der SPD, wollen Entscheidungsbefugnisse
des Parlamentes, und das ist ein wesentlicher Unter-
schied.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke lehnt die Zunahme deutscher Polizeiein-
sätze bzw. deutscher Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe
ab. Auch darin unterscheiden wir uns von der SPD, die
offenbar eine Expansion solcher Einsätze anstrebt; das
werden wir im Ausschuss weiter diskutieren.

Unsere Skepsis gründet sich auf der Erfahrung, dass
Polizeieinsätze häufig nach Kriegseinsätzen zur Siche-
rung prowestlicher Regime erfolgen. Deshalb sind Poli-
zisten zum Beispiel in Afghanistan. Deshalb sind Poli-
zisten zum Beispiel nach dem Irak-Krieg in den Irak





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


geschickt worden. Sie werden wohl in der nächsten Zeit
auch nach Libyen geschickt.

Ich will darauf hinweisen, dass gerade die beratende
Stiftung Wissenschaft und Politik, also eine halbstaatli-
che Denkfabrik, immer wieder einfordert, dass die
Übungen der Bundespolizei auch zusammen mit auslän-
dischen Paramilitärs stattfinden dürfen.

Frau Bulmahn, in Bezug auf das von Ihnen angeführte
Argument, diese Einsätze dienten gleichsam dem Export
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, möchte ich Sie
darauf hinweisen, dass die Bundespolizei beispielsweise
beim Einsatz in Saudi-Arabien – ich kann Ihnen gern das
entsprechende Papier zukommen lassen – die Themen
Demokratie und Frauenrechte explizit aus dem Schu-
lungsprogramm herausgenommen hat, um keine Kon-
frontation mit dem dortigen Regime herauszufordern.
Ich halte es schon für einen Skandal,


(Beifall bei der LINKEN)


wenn dann davon geredet wird, dass diese Einsätze der
Förderung von Demokratie und Menschenrechten die-
nen.

Wer sich unserem Antrag entgegenstellt, hat wahr-
scheinlich Angst, dass solche Einsätze, wenn sie publik
werden, auf Widerstand bzw. Ablehnung in der Bevölke-
rung stoßen. Wir sind der Meinung: Die Geheimniskrä-
merei um Auslandseinsätze der Polizei muss endlich be-
endet werden. Deswegen freuen wir uns auf eine Debatte
im Ausschuss, vielleicht auch auf eine Anhörung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716220500

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Spatz von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1716220600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir, die wir im Unterausschuss „Zivile Krisen-
prävention und vernetzte Sicherheit“ schon lange über
dieses Thema nachdenken, haben die Erkenntnis ge-
meinsam, dass sich der Charakter der Konflikte maßgeb-
lich geändert hat – Frau Bulmahn hat das schon ange-
sprochen – und sich diese Andersartigkeit mit einem
nicht verträgt: mit einer ideologischen Herangehens-
weise. Deshalb ist die Position der Linken an dieser
Stelle intellektuell schlicht nicht satisfaktionsfähig. Ge-
nauso wenig, wie es zutrifft, dass man Konflikte mit mi-
litärischen Mitteln lösen kann, genauso falsch ist es, dass
Sie die Polizeieinsätze, die wir mit der klaren Zielstel-
lung, der Rule of Law zur Geltung zu verhelfen, im Aus-
land durchführen, als Konservierung von Regimen in
den entsprechenden Zielländern diffamieren. Das ist
schlicht nicht angemessen. Es entspricht nicht der Wahr-
heit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])


Ihr letzter Afghanistan-Antrag hat Ihre diesbezügliche
Position wieder einmal deutlich gemacht.

Meine Damen und Herren, wir stehen vor der Heraus-
forderung, dass wir angesichts der Erfordernisse im Zu-
sammenhang mit den neuen Konflikten – Herr Schuster,
Sie haben recht damit, dass mehr Herausforderungen auf
uns zukommen – entsprechende Ressourcen bereitstellen
müssen. Wir halten es allerdings für nicht sehr sinnvoll,
eine stehende Kapazität bei der Bundespolizei einzurich-
ten, sondern halten es auch hier für sinnvoll, einen Per-
sonalpool zu organisieren, so wie er, Herr Kollege
Schuster, mit dem beim Außenamt angesiedelten Zen-
trum für Internationale Friedenseinsätze schon längst
existiert. Dort wird nämlich Zivilpersonal verschiedens-
ter Ausbildungsrichtungen identifiziert und vorgehalten;
im Falle eines Einsatzes ist es zügig abrufbar.

Eine solche Konstruktion können wir uns auch im Be-
reich der Polizei vorstellen und, wenn Sie den Weg mit
uns gehen, natürlich auch in anderen Fachbereichen. Die
Menschen, die sich dafür identifizieren lassen, sind na-
türlich freiwillig dabei. Sie können in einem allgemeinen
Ansatz gut vorausgebildet werden und können dann rela-
tiv zügig für ein spezielles Einsatzland trainiert werden.
Man kann für eine entsendende Dienststelle, zum Bei-
spiel bei der Polizei, entsprechende Ersatzregelungen
vorsehen.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das schlagen wir Ihnen vor!)


Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Quali-
tät des Personals sichergestellt werden kann, gleichzeitig
aber die entsendenden Dienststellen auch die Möglich-
keit haben, zu reagieren.

Das ist natürlich noch ein langer Weg, bis das im Be-
reich der Polizei verwirklicht werden kann. Auch hier
stimmt, was Kollegin Bulmahn schon gesagt hat: Es
mangelt nicht an Freiwilligen. Aber wenn Sie dann mit
den Dienststellenleitern oder deren Vorgesetzten reden,
sagen die, dass es immer Missmut erzeugt, wenn die
Kollegen hier dann mehr Arbeit leisten müssen und
Ähnliches. Wenn Sie das Gleiche dann auch von den In-
nenministern der Länder hören, ahnen Sie schon, dass
wir mit den Ländern einen schwierigen Verhandlungs-
weg vor uns haben,


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Den muss man gehen!)


bei dem natürlich im Endeffekt auch klar sein muss, wer
bezahlt. Da kann man schon ahnen, dass am Bund ent-
sprechend hohe Kosten hängen bleiben werden. Aber
auch hier gilt: Wer in der zivilen Krisenprävention, Kri-
senbegleitung und auch in der Nachsorge Schwerpunkte
setzen will, der wird auch die Mittel dafür bereitstellen
müssen. Das ist völlig klar.

Wir erachten es aber trotzdem als gute Lösung, eine
Poollösung anzustreben, auch wenn das auf schwierigem
Verhandlungswege erfolgt. Gegen eine zentrale Bundes-
polizeilösung spricht,





Joachim Spatz


(A) (C)



(D)(B)



(Edelgard Bulmahn [SPD]: Wir schlagen keine zentrale Bundespolizeilösung vor, sondern eine Bund-Länder-Vereinbarung!)


dass alle Experten sagen, dass die Kräfte, die man vor
Ort braucht, die Expertise aus ihrer täglichen Arbeit im
Polizeidienst, egal welcher Fachbereich gemeint ist,
auch einbringen müssen. Deshalb sind wir für einen ent-
sprechenden Polizeipool.

Ich finde die Diskussion an dieser Stelle symptoma-
tisch für eine neue Zeit in der Sicherheitspolitik.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716220700

Herr Kollege Spatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Bulmahn?


Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1716220800

Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716220900

Bitte schön.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1716221000

Herr Kollege Spatz, stimmen Sie mir zu, dass unser

Vorschlag, einen virtuellen Stellenpool zu schaffen, der
Polizeikräfte aus den Ländern umfassen soll und der
nicht allein ein Stellenpool bei der Bundespolizei ist,
sondern ein virtueller Stellenpool, über den man genau
das schaffen könnte, was Sie beschrieben haben, näm-
lich dass man die Situation beendet, dass die Länder zu
wenig Polizeikräfte haben und nicht bereit sind, Polizei-
kräfte zur Verfügung zu stellen, obwohl die Polizistinnen
und Polizisten selbst zu einem Einsatz bereit wären, ein
Weg wäre, um Polizisten einsetzen zu können, die wir
dringend für die zivilen Krisenpräventionseinsätze brau-
chen?


Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1716221100

Ja, ich stimme Ihnen zu, dass das ein Weg wäre. Nur,

ich finde, es ist eine vielleicht etwas voreilige Festle-
gung, wenn man die Lösung, wie man den Ersatz
schafft, schon jetzt in einem Modell festschreibt. Ich
glaube, in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
wird es eine Lösung geben müssen. Ob es dann eine
Poollösung ist, wie Sie es vorschlagen, oder ob dies über
Geldleistungen gelöst wird, würde ich schlicht und er-
greifend nicht vorgeben wollen. Das Problem ist aber er-
kannt. Ich denke, es wird einen adäquaten Ansatz dafür
geben.

Ich will nur noch auf das eingehen, was Kollege
Schuster angesprochen hat, nämlich dass sich unser An-
satz und die verschiedenen Wirkmittel der Außen- und
Sicherheitspolitik – die reichen vom militärischen über
den polizeilichen bis hin zum zivilen und diplomatischen
Bereich –, dieser ganze Instrumentenkasten, bei dem wir
vielleicht eher die zivilen, polizeilichen und entwick-
lungsbasierten Methoden betonen, ein Stück weit von
dem unterscheiden, was bisher in der NATO dominant
gewesen ist. Ja, wir als Europäer haben da etwas beizu-
tragen – vielleicht auch als Alleinstellungsmerkmal –,

und ja, wir als Bundesrepublik Deutschland sind hier be-
reits jetzt Vorbild. Alles das, was dazu dient, diesen
Ansatz zu stärken und um innerhalb des Bündnisses ent-
sprechende Schwerpunkte zu setzen, die unserer Ge-
schichte angemessen sind, werden wir unterstützen.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1716221200

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von

Bündnis 90/Die Grünen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716221300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am

Dienstag haben wir uns noch darüber gestritten, welcher
Ausschuss hierfür die Federführung erhalten soll: Aus-
wärtiger Ausschuss oder Innenausschuss. Da ich nun die
unverhoffte Ehre habe, den erkrankten Kollegen Omid
Nouripour vertreten zu dürfen, wird es um innenpoliti-
sche Aspekte gehen. Die gute Nachricht ist: Ich kann
hier nicht wie Professor Schuster eine Harvard-Bewer-
bungsrede halten,


(Heiterkeit)


sondern nur einige Schlaglichter werfen.

Das Problem ist erörtert, Herr Kollege Spatz. Es gibt
einen Unterschied zum Militär. Ich will nicht bösartig
werden, aber die Bundeswehr hat in Friedenszeiten im
Inland nur Abschreckungsfunktion und ist ansonsten in
Kasernen und auf dem Übungsgelände anzutreffen. Der
Polizist bzw. die Polizistin hat im Grunde täglich etwas
zu tun. Wir haben im Inland keinen einzigen Polizisten
zu viel, gerade in den Ländern nicht. Jeder Polizist, der
sich zu einer Auslandsverwendung bereit erklärt, fehlt
im Inland.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja!)


Das ist der Istzustand. Das gilt für die Landespolizeien
in noch sehr viel stärkerem Maße als für die Bundespoli-
zei. Wir brauchen eine gute Lösung; das haben Sie rich-
tig gesagt, Frau Bulmahn. Das darf man nicht vergessen
für den Fall, dass man wieder regieren sollte.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das stimmt!)


Dann geht es um das Umsetzen.

So wie wir es bisher gemacht haben, muss man sagen
– das sage ich als Alt-68er gar nicht gerne –: Die Welt
mit Ausnahme von Ulla Jelpke ruft nach deutscher Poli-
zei,


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


weil sie – auch das hat Frau Bulmahn richtig gesagt –
viel zu bieten hat.


(Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


– Ja, Sie auch nicht, Frau Wawzyniak, das haben wir
heute Morgen gehört. Nach Ihrer Meinung wird ge-
schnüffelt, mit Rechtsextremisten gekungelt und mit





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


Wasserwerfern nach Frankreich gegangen. Sie nehme
ich da aus. Aber der Rest sieht es anders und schätzt die
Verbindung von Professionalität und demokratischer,
rechtsstaatlicher Ausbildungskapazität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das sollten wir als Kompliment verstehen. Wir soll-
ten organisatorische Vorbereitungen treffen. Aber die
Auslandseinheit in Gifhorn zum Beispiel ist gescheitert.
Viele Polizistinnen und Polizisten müssen sich nach ei-
ner Auslandsverwendung oft die Begrüßung anhören:
Schönen Urlaub gehabt? – Das ist immer noch gang und
gäbe.


(Joachim Spatz [FDP]: So ist es!)


Die Kollegen, die zu Hause geblieben sind, mussten für
die Betreffenden mitarbeiten und akzeptieren das nicht.
Es gibt zwar materielle Verbesserungen, aber die Aner-
kennung fehlt noch. Nun gibt es ein großes Problem. Na-
türlich könnte man eine Auslandsverwendung bei der
Beförderung berücksichtigen. Nur das Gros wird nie be-
fördert werden, Frau Bulmahn. Wir sind hier leider nicht
im Wissenschaftsbereich.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])


Die Beförderungsstellen bei der Polizei können Sie mit
der Lupe suchen. Derjenige, der zurückkommt, wird
auch die nächsten zehn Jahre seinen Dienstrang behal-
ten. Wir können nicht alle hinter den Schreibtisch setzen.
Es gibt also eine Menge Dinge, die geklärt werden müs-
sen. Ein virtueller Pool ist eine richtige Idee. Man muss
es aber auf den Weg bringen und finanziell ausstatten.

Eine Bemerkung zur Parlamentsbeteiligung. Diese
muss verbessert werden; das ist gar keine Frage. An die-
ser Stelle hat Frau Jelpke sogar recht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Was bei Saudi-Arabien hinter dem Rücken des Parla-
mentes geschehen ist, ist unglaublich. Wir wurden ab-
sichtlich falsch informiert. Das kann man nicht anders
sagen. Staatssekretär Ole Schröder wird sich daran erin-
nern, wie die Information des Parlaments erfolgt ist. Nun
wird man nicht für jeden Verbindungsbeamten, den wir
irgendwohin entsenden, eine Parlamentsbeteiligung wie
bei Auslandsmissionen des Militärs bemühen können.
Wir müssen in den Ausschussberatungen einen Weg fin-
den, der die vorherige Zustimmung des Parlaments bei
entscheidenden Dingen sicherstellt; das ist notwendig.
Wenn wir beides machen, kommen wir einen Schritt
weiter.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716221400

Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1716221500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich komme auf die beiden Anträge zurück, über
die wir heute eigentlich diskutieren wollten. Ich möchte
noch einmal auf das Engagement der deutschen Polizei
eingehen. Zurzeit sind 339 deutsche Polizisten von Bund
und Ländern im Auslandseinsatz. Es handelt sich dabei
um elf verschiedene internationale Friedenseinsätze der
EU oder der Vereinten Nationen oder um das bilaterale
Polizeiprojekt in Afghanistan. Ich möchte eindeutig sa-
gen: Damit leistet Deutschland einen aktiven und von
vielen anerkannten Beitrag zum Krisenmanagement
weltweit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leisten
ihr Bestes in gefährlichen Regionen unter schwierigen
Bedingungen und Einflüssen; das ist eindeutig festzu-
stellen. Sie helfen mit ihrer Arbeit, Regionen zu stabili-
sieren und demokratische Werte zu vermitteln. Das Ziel
ist eindeutig: Es geht darum, Freiheit und Sicherheit für
die Menschen vor Ort sicherzustellen und den Menschen
in den Regionen ganz konkret zu helfen. Ich möchte an
dieser Stelle ganz herzlich allen Polizistinnen und Poli-
zisten danken, die sich dieser Aufgabe weltweit stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Öffentlichkeit steht immer Afghanistan im Mit-
telpunkt, vielleicht noch der Südsudan. Deswegen habe
ich betont, dass unsere Polizisten in elf verschiedenen
Regionen im Einsatz sind. Wir sprechen oft gar nicht
mehr über Bosnien-Herzegowina oder Georgien, wo un-
sere Polizei ebenfalls Arbeit leistet. Alle Einsätze stehen
unter dem Mandat der Vereinten Nationen oder der EU.
Sie bedürfen natürlich eines starken Durchhaltewillens.
Vor Ort ist ein langer Atem notwendig. Es dauert lange,
bis man Erfolge erzielt. Ein Beispiel ist der Kosovo, wo
wir uns seit über zehn Jahren im Rahmen von UNMIK-
oder EULEX-Missionen engagieren. Zurzeit helfen
mehr als 70 Polizisten, davon 18 Bundespolizisten,
durch intensive Beratung der Ministerien, bei der Siche-
rung der Grenzen – sie leisten also grenzpolizeiliche Ar-
beit – oder bei der Bekämpfung der organisierten Krimi-
nalität.

Wir helfen Staaten auf dem Weg in die Selbstständig-
keit. Frau Jelpke, was die Linken hier verlangen, ist ein-
fach skandalös. Wir helfen in den Ländern, damit die
Menschen selbstständig werden und sich auf demokrati-
sche Werte besinnen. Das müsste eigentlich anerkannt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Spatz [FDP])


Zu dem Antrag der SPD hat der Kollege Schuster
schon einiges gesagt. Ich glaube, für ein nationales Füh-
rungs- und Einsatzzentrum, das gefordert wurde, haben
wir keinen fachlichen Bedarf. Die Bund-Länder-Arbeits-





Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)


gruppe wird in zunehmendem Maße aktiv, und die Ge-
schäftsstelle „Internationale Polizeimissionen“ koordi-
niert die Einzelaufgaben. Also haben wir das, was Sie
fordern, eigentlich schon umgesetzt. Die Bund-Länder-
Arbeitsgruppe hat sich auch mit dem Thema Beurteilung
und Beförderung nach Auslandsverwendungen beschäf-
tigt. Wir sind also auf einem guten Weg, die Tätigkeit
der Kollegen im Ausland angemessen zu berücksichti-
gen.

Ich möchte auf das Thema Auslandsverwendung nä-
her eingehen. Im Bundeskriminalamt wird derzeit ein
Leitfaden „Aufwertung von Auslandsverwendungen“ er-
arbeitet, der auch Themen, die Sie angesprochen haben,
enthält. Ich denke, diesbezüglich stimmen wir überein.
Wir sind auf einem guten Weg. Auslandsverwendungen
ohne Statusverlust, das ist entscheidend. Die Kollegin-
nen und Kollegen dürfen dadurch, dass sie im Ausland
waren, keine Nachteile haben.

Gewiss gibt es an vielen Punkten noch einiges zu ver-
bessern. Das machen wir gegenwärtig. Ich will nicht sa-
gen, dass schon alles optimal läuft; das hat auch der Kol-
lege Schuster angesprochen. Einige Punkte im SPD-
Antrag, Frau Bulmahn, kann man durchaus positiv sehen
und einbeziehen.

Zur Forderung der Linksfraktion, einen Parlaments-
vorbehalt einzuführen, haben wir eine eindeutige Posi-
tion.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Parlamentsbeteiligung! Genau sein!)


Dies ist nicht erforderlich. Es gibt die Möglichkeit, das
Parlament zu informieren,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es gemacht wird!)


genauso wie die Möglichkeit, jederzeit Polizisten aus
dem Ausland zurückzuholen.

Zum Parlamentsvorbehalt gibt es eine Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts von 1994.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Im Antrag steht nicht ein einziges Mal „Parlamentsvorbehalt“!)


– Frau Jelpke, Sie können sich ja melden. Dann antworte
ich Ihnen.

Im Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994 steht
deutlich, Gegenstand einer Parlamentsbeteiligung seien
die Einsätze bewaffneter Streitkräfte. Somit ist der Ein-
satz unserer Polizisten im Ausland als Ausbilder und
Mentoren beim Staatsaufbau nicht Gegenstand einer
Parlamentsbeteiligung. Ich denke, wir sind hier auf dem
richtigen Weg. Wir halten die Vorgaben des Verfassungs-
gerichtsurteils ein und brauchen hier nicht nachzubes-
sern.

Die Bundespolizei kann zur Mitwirkung an polizeili-
chen und anderen nicht militärischen Aufgaben im Rah-
men von internationalen Maßnahmen auf Ersuchen und
unter Verantwortung der Vereinten Nationen, der EU
und der Westeuropäischen Union im Ausland verwendet
werden; da gibt es keine Beeinträchtigungen. Demnach

müssen wir den Antrag der Linken kategorisch ableh-
nen, den der SPD leider auch; aber einige Punkte darin
sind durchaus überdenkenswert.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716221600

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/8603 und 17/8381 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/8603 soll federführend
beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen

Klimke, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Tourismus als Chance für die Einhaltung
der Menschenrechte nutzen

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Menschenrechte in der Tourismuswirt-
schaft achten, schützen und gewährleisten

– Drucksachen 17/8347, 17/6458, 17/8736 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Christoph Strässer
Serkan Tören
Annette Groth
Tom Koenigs

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Kornelia Möller, Katrin Werner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte in der Tourismuspolitik kon-
sequent durchsetzen
– Drucksache 17/8762 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Serkan Tören für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1716221700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auf der weltgrößten Reisemesse, der Internatio-
nalen Tourismus-Börse in Berlin, präsentieren sich ab





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


dem 7. März 2012 über 10 000 Aussteller aus etwa
180 Ländern. Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir
uns sehr, kurz vor Beginn der ITB einen so überzeugen-
den und gelungenen Antrag zur Schlussberatung vorle-
gen zu können. Grundsätzlich haben sowohl unser An-
trag als auch der der SPD das gleiche Ziel, nämlich das
Thema Unternehmensverantwortung stärker auf die Tou-
rismuswirtschaft zu übertragen. Wir als FDP setzen al-
lerdings mehr auf die Freiwilligkeit und Sensibilisierung
sowie die Stärkung positiver Ansätze. Außerdem möch-
ten wir vor allem mehr Aktivitäten hinsichtlich der Un-
ternehmensverantwortung auf internationaler Ebene,
unter anderem durch die Welttourismusorganisation
UNWTO.

Ziel des Koalitionsantrages ist es: Die Tourismus-
branche soll sich stärker mit ihrer sozialen und men-
schenrechtlichen Verantwortung auseinandersetzen.
Dazu bieten die sogenannten Corporate-Social-Respon-
sibility-Aktivitäten einen guten Ansatzpunkt. Auch die
Übernahme der UN- sowie der OECD-Leitlinien durch
die Tourismuswirtschaft sind aus unserer Sicht der rich-
tige Weg. Insgesamt sehen wir als FDP-Bundestagsfrak-
tion grundlegende Fragen der Unternehmensverantwor-
tung als ausschlaggebend für die Tourismusbranche an.

Der Antrag der SPD enthält ebenfalls eine Fülle von
zielführenden Forderungen, so etwa die Forderungen an
die Regierungen der Zielländer oder auch die Förderung
von nachhaltigem Tourismus durch entwicklungspoliti-
sche Maßnahmen, die wir auch in unseren Antrag aufge-
nommen haben. Einen Teil der SPD-Forderungen sehen
wir allerdings als problematisch an und lehnen den An-
trag der SPD daher ab. Die Sorgfaltspflicht von Unter-
nehmen in Deutschland gesetzlich zu verankern, wie un-
ter Punkt II. 8 im SPD-Antrag gefordert wird, entspricht
nicht unserem Ansatz. Wir wollen vielmehr: Verstöße
gegen Menschenrechte sollen in den Reiseländern ge-
ahndet werden. Die Kontrolle eines solchen Gesetzes
könnte sowieso nur von den Regierungen der Reiselän-
der geleistet werden.

Auch die Forderung unter II. 9 des SPD-Antrages zur
Unternehmensstrafbarkeit ist wenig sinnvoll. Verstöße
sollen vor Ort geahndet werden. Wir wollen aber nicht
die Rechtsgrundsätze umkehren.

Die Forderung unter II. 10 ist ebenfalls problema-
tisch. Es kann nicht unser Ziel sein, dass Opfer von
Menschenrechtsverletzungen im Ausland ein Verfahren
in Deutschland herbeiführen. Es gilt vielmehr, Entwick-
lungsländer im Sinne guter Regierungsführung und der
Stärkung der Justiz zu unterstützen. Opfer sollen dort zu
ihrem Recht kommen.

Die Forderung unter Punkt II. 15, Armutsbekämpfung
in Tourismuszielländern zu unterstützen, macht eben-
falls keinen Sinn. Armutsbekämpfung sollte dort geleis-
tet werden, wo die Not am größten ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Länder mit einer entwickelten Tourismuswirtschaft ge-
hören eher selten dazu. Zudem trägt der Tourismus
selbst zur Reduzierung der Armut bei. Hier plädieren wir

für mehr Wertschöpfung im Land durch entsprechende
Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit.

Als FDP sehen wir es nicht als unsere Aufgabe an
– dies fordern Sie unter Punkt II. 18 Ihres Antrages –,
Gewerkschaften für Beschäftigte im Tourismusbereich
im Ausland zu fördern, also letztlich auch finanziell zu
unterstützen. Bei der Tourismusentwicklung sollte viel-
mehr die Einbeziehung von NGOs und Akteuren der Zi-
vilgesellschaft durch deutsche Unternehmen angeregt
werden.

Insgesamt überträgt der SPD-Antrag die Verantwor-
tung zu sehr auf die Unternehmen und entlastet damit die
Regierungen der Zielländer. Deren Hauptaufgabe ist die
Sicherung der Menschenrechte im eigenen Land. Die
Möglichkeiten, vor deutschen Gerichten zu klagen, und
weitere Alleingänge auf nationaler Ebene würden deut-
sche Unternehmen im Wettbewerb benachteiligen. Zu-
sätzlich würden die Bürokratiekosten für die Wirtschaft
deutlich erhöht.

Es ist wirklich sehr schade: Während der sieben Jahre
unter Rot-Grün kamen selten solche Initiativen von Ih-
nen. Sie hatten damals die parlamentarische Mehrheit
und hätten all diese Forderungen durchsetzen können.
Erst unsere christlich-liberale Koalition hat es geschafft,
einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung zu
machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist aus Sicht der FDP nun einmal Fakt: Während der
sieben Jahre unter Rot-Grün haben sich der damalige
Außenminister Joschka Fischer und die damalige Ent-
wicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
permanent gegenseitig in der Außen-, Entwicklungs-
und Menschenrechtspolitik blockiert.


(Zurufe von der FDP: Aha!)


Dieses Trauerspiel wurde in der Großen Koalition zwi-
schen dem damaligen Außenminister Steinmeier und
Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul fortge-
setzt. Erst unter dieser schwarz-gelben Koalition ist es
gelungen, eine beeindruckende Kohärenz zwischen
BMZ und Auswärtigem Amt herzustellen und Synergie-
effekte zu erzielen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hier gilt mein besonderer Dank Entwicklungshilfeminis-
ter Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle.
Beide ziehen an einem Strang und haben die lähmende
Blockade der Vergangenheit sowie die Kompetenzstrei-
tigkeiten zwischen den Ressorts überwunden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Gerade in dem heute abschließend zu beratenden
Koalitionsantrag haben wir erneut gezeigt: Wir als
christlich-liberale Koalition wollen einen menschen-
rechtlich verantwortungsvollen und nachhaltigen Touris-
mus weltweit stärken. Ich danke ausdrücklich unserer
Bundesregierung, welche auf internationaler und bilate-





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


raler Ebene die Einhaltung von Menschenrechten insbe-
sondere im Tourismussektor einfordert. Gerade das
BMZ koppelt die Einhaltung menschenrechtlicher Stan-
dards eng an Entwicklungshilfe. Dementsprechend wer-
den bei Verletzungen von Menschenrechten Mittel ge-
kürzt.

Ebenfalls hervorheben möchte ich in diesem Zusam-
menhang die vom Studienkreis für Tourismus und Ent-
wicklung herausgegebenen Sympathie Magazine; dies
wird durch das BMZ gefördert. Auf informative Weise
wird in diesen Magazinen über den Alltag in den Reise-
ländern, über die politische Lage dort, aber auch über
Menschenrechtsverletzungen sowie über die problemati-
schen Folgen für den Tourismus berichtet. Vor kurzem
ist das Sympathie Magazin zum Reiseland Sri Lanka er-
schienen. Ich denke, dies ist ein sehr guter Weg, um Ver-
braucher für ihr Reiseziel zu sensibilisieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716221800

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die

SPD-Fraktion.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1716221900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Tören, ich
bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die fundamentalen Un-
terschiede zwischen unseren Anträgen auf den Punkt ge-
bracht haben. Diese ergeben sich aus meiner Sicht schon
aus den Überschriften der beiden Anträge. Bei Ihnen ist
Tourismus eine Chance für die Einhaltung der Men-
schenrechte. Wir wollen Menschenrechte gewährleisten.
Ich denke, das zeigt, dass unsere Politikansätze komplett
unterschiedlich sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte nur ganz kurz Vergangenheitsbewältigung
betreiben und dann lieber auf die Gegenwart eingehen.
Dass sich im Moment das Auswärtige Amt und das
BMZ nicht wirklich über die Ausrichtung der Politikfel-
der streiten, hat damit zu tun, dass beide im wesentlichen
das Ziel verfolgen, die Außenwirtschaftsförderung zu
stärken. Dass ausgerechnet das seit einigen Jahren im
BMZ Vorrang vor allem anderen hat, ist der eigentliche
Skandal dieser Bundesregierung in den letzten Jahren.


(Patrick Döring [FDP]: Ein Zerrbild!)


Aus meiner Sicht ist wichtig – darüber sollten wir in
der Sache streiten und keinen Popanz aufbauen –: Wie
schaffen wir es, den Menschen in den Zielländern des
Tourismus – es geht nicht um die Unternehmen in
Deutschland, die zu Recht profitieren – zum Beispiel
eine angemessene Arbeit und eine angemessene Entloh-
nung zu geben? Wie können wir verhindern, dass in den
Zielländern, um die es geht, ein Golfplatz gebaut wird,
der jeden Tag mit Wasser berieselt wird, während das
Wasser für die Menschen in den betreffenden Regionen

rationiert wird? Ich habe von Ihrer Regierung noch kein
Wort dazu gehört. Sie haben bisher nicht gesagt: Wir un-
terstützen solche Projekte, die einen solchen Tourismus
fördern, nicht mehr.

Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Es gibt auch
positive Entwicklungen in der Tourismuspolitik. Aber
diese Entwicklungen haben nicht Sie zu verantworten,
sondern – ihr danke ich dafür ganz ausdrücklich – eine
Nichtregierungsorganisation wie Tourism Watch. Sie ha-
ben zu Recht die ITB angesprochen. Ich frage Sie: Wer
ist auf die Idee gekommen, auf der ITB das Thema
„Menschenrechte und Tourismus“ zu problematisieren?
Nicht Sie, auch nicht wir, sondern diese Nichtregie-
rungsorganisation, die vor Ort ihre Arbeit macht und
Projekte durchführt. Frau Kollegin Schuster und Frau
Kollegin Granold waren dabei, als wir uns das in Kam-
bodscha angesehen haben. Nichtregierungsorganisatio-
nen machen genau die Arbeit, für die wir gesetzliche Re-
gelungen und Rahmenbedingungen schaffen müssen,
damit die Menschenrechte für die Betroffenen nicht nur
eine Chance darstellen, sondern auch durchgesetzt wer-
den.

Ich möchte zwei weitere Punkte ansprechen, weil ich
glaube, dass Sie hier einen fundamentalen Denkfehler
machen. Ich gehe noch einmal auf die Situation in Kam-
bodscha ein. Wer in Kambodscha Tourismusprojekte ins
Leben ruft, dafür Menschen, die nach kambodschani-
schem Recht Landtitel haben, enteignet und ihnen dann
den Vorschlag macht: „Geht doch bitte zu einem kambo-
dschanischen Gericht und klagt eure Rechte ein“, lieber
Kollege Tören, der ist mehr als zynisch.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist eine weitere Menschenrechtsverletzung. Das ist
nämlich Verweigerung des Rechtsschutzes; das kann
man aufgrund der Erfahrung aus vielen Delegationsrei-
sen, die wir gemeinsam gemacht haben, sagen. Das geht
aus meiner Sicht überhaupt nicht.

Wir haben im letzten Jahr sehr intensiv über die Ent-
wicklungen im Bereich der Entwicklungszusammenar-
beit und über die menschenrechtliche Verantwortung
von Unternehmen diskutiert. Es gibt Fortschritte im Be-
reich der OECD. In den OECD-Leitlinien wird zum ers-
ten Mal ein menschenrechtlicher Ansatz verfolgt. Au-
ßerdem gibt es den Bericht von John Ruggie, der im Juni
letzten Jahres im Menschenrechtsrat der Vereinten Na-
tionen verabschiedet worden ist. Er formuliert darin mit-
nichten unverbindliche Richtlinien – nach dem Motto,
man möge sich bitte überall auf der Welt daran halten,
keine Menschenrechtsverletzungen zu begehen, nicht in
der Wirtschaft und nicht im Tourismus –, sondern er
stellt Forderungen auf.

Diese Forderungen betreffen unterschiedliche Berei-
che. Er fordert die Politik auf, die Menschenrechte zu
schützen, im Zweifel auch durch Normen, die die Unter-
nehmen binden. Außerdem sagt er ganz deutlich: Wir
brauchen, auch mit Blick auf die Unternehmen, Respekt
vor den Menschenrechten. – Den Respekt vor den Men-
schenrechten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


man aus meiner Sicht nicht nur formulieren, sondern
dem muss man auch einen eindeutigen gesetzlichen Rah-
men geben, damit Sanktionen verhängt werden können;
dazu stehe ich. Ich will, dass Unternehmen, die die Men-
schenrechte missachten und in den jeweiligen Her-
kunftsländern massive Menschenrechtsverletzungen be-
gehen, zur Rechenschaft gezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn diese Unternehmen ihren Hauptsitz in Deutsch-
land haben, dann muss das in Deutschland geschehen.

Ich sage noch einmal: Ich verweise keinen Menschen
an ein Zielland des Tourismus mit nicht vorhandener
Rechtsstaatlichkeit und nicht vorhandenem Justizwesen.
Hier brauchen wir klare Regeln. Ich glaube, die Unter-
nehmen wären gut beraten, sich daran zu halten. Ein Sie-
gel oder Zertifikat, das man – entgegen Ihrer Meinung –
ohne großen bürokratischen Aufwand einführen könnte,
kann für deutsche bzw. europäische Touristikunterneh-
men ein Wettbewerbsvorteil sein. Darauf sollten wir ge-
meinsam hinarbeiten. Das würde den Unternehmen, den
Menschen und insbesondere den Menschenrechten nut-
zen und wäre für die Betroffenen nicht nur eine Chance.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716222000

Nun hat der Kollege Professor Dr. Egon Jüttner für

die Unionsfraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1716222100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Tourismus kann verbinden, den interkulturellen
Dialog fördern und die Wirtschaft weniger entwickelter
Staaten ankurbeln. Tourismus hat aber auch Auswirkun-
gen auf die Zielgebiete, die Menschen und die Gesell-
schaften vor Ort. Diese Auswirkungen betreffen nicht
nur die Ökologie, sondern sind auch menschenrechtsre-
levant. Ein Aspekt sind die Arbeitsbedingungen der Be-
schäftigten vor Ort, sowohl in den Hotels als auch in den
Unternehmen im Umfeld. Ein weiterer Punkt sind die
Folgen des Tourismus für die einheimischen Bewohner.
Diese Folgen können von einer schlichten Überforde-
rung durch den Massentourismus über das Fehlen von
Trinkwasser aufgrund des hohen touristischen Ver-
brauchs bis hin zu gesellschaftlichen Folgen reichen. Die
Menschenrechte sind auch bei der Realisierung touristi-
scher Projekte von Belang. Themen sind hier Zwangs-
umsiedlungen und auch die Frage, ob durch touristische
Vorhaben in Staaten mit einem Mangel an Good Gover-
nance korrupte Eliten mitfinanziert werden.

Grundsätzlich ist die Einhaltung der Menschenrechte
eine staatliche Aufgabe. Die Regierungen der Zielländer
von Tourismus müssen dafür sorgen, dass die Menschen-
rechte eingehalten werden und dass der Tourismus keine
negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte hat.
Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, dass wir

Regierungen immer wieder auf die Einhaltung der Men-
schenrechte hinweisen und dass wir auch mit unserer
Entwicklungspolitik zu Good Governance und zur Ein-
haltung der Menschenrechte beitragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Menschenrechtskonzept des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
stellt dafür eine neue Qualität dar, auch weil es für alle
Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusam-
menarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring und Eva-
luierung werden jetzt Menschenrechte einbezogen.

Ziel unseres Antrags ist unter anderem, die Verant-
wortung der Unternehmen der Tourismusbranche her-
vorzuheben und sie für die bekannten internationalen
Standards wie die UN-Leitlinien oder die Leitlinien der
OECD zu sensibilisieren. Uns geht es auch darum, die
Welttourismusorganisation UNWTO verstärkt in bran-
chenspezifische internationale Regelungen einzubezie-
hen. Aber auch die stärkere Aufklärung der Reisenden
liegt uns am Herzen. Es gibt in diesem Bereich gute An-
sätze, etwa die Aktivitäten der Branche bei der Bekämp-
fung von Kinderprostitution.

Positiv ist auch die Arbeit des Studienkreises für Tou-
rismus, der sich für ein nachhaltigeres Reisen und für
mehr Beschäftigung mit Land und Leuten sowie mit den
Kulturen der Reiseländer einsetzt und die hervorragen-
den Sympathie Magazine entwickelt, die mit ihren Infor-
mationen zur Sensibilisierung der Reisenden und zum
Verständnis fremder Gesellschaften beitragen. Deshalb
wollen wir, dass die Förderung des Entwicklungsminis-
teriums für die Magazine fortgeführt wird. Wir würden
uns freuen, wenn die Veranstalter diese Magazine in
noch größerem Umfang an die Reisenden verteilen wür-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, bei allen Eigenheiten des
Tourismus lässt sich das Ziel unseres Antrags unter dem
Aspekt der Stärkung der Unternehmensverantwortung
subsumieren. Hier ist im vergangenen Jahr viel gesche-
hen. So wurden die Leitlinien der Vereinten Nationen für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches
Handeln als Global Compact durch den UN-Sonderbe-
auftragten John Ruggie weiterentwickelt. Sie beinhalten
zehn Gebote zu Menschenrechten, Arbeit, Umwelt und
Korruptionsbekämpfung. Inzwischen verpflichten sich
rund 5 300 Unternehmen aus 130 Ländern zur Umset-
zung dieser Prinzipien.

Fast gleichzeitig wurden auch die OECD-Leitsätze
für multinationale Unternehmen überarbeitet und Ende
Mai vergangenen Jahres vorgestellt. Hier hat es deutli-
che Verbesserungen gegeben, weil jetzt auch der Finanz-
sektor einbezogen wurde. Außerdem ist der Aspekt der
Menschenrechte hier mit einem eigenen Artikel aufge-
wertet worden. Darin werden wichtige Kriterien ge-
nannt, mit denen Unternehmen ihrer menschenrechtli-
chen Verantwortung nachkommen können.





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)


Ferner sind die Vorschläge der EU-Kommission zu
Transparenzpflichten von Rohstoffunternehmen sowie
die Neudefinition von Corporate Social Responsibility
zu erwähnen. Hier erwarten wir in den nächsten Jahren
strengere Vorgaben für die Unternehmen – von der Frei-
willigkeit hin zur Pflicht.


(Beifall der Abg. Michael Brand [CDU/CSU] und Christoph Strässer [SPD])


Diese neuen Entwicklungen werden nicht an der Tou-
rismuswirtschaft vorbeigehen. Deshalb ist es wichtig,
dass sich die Branche bereits jetzt ihrer menschenrechtli-
chen Verantwortung stärker bewusst und in dieser Hin-
sicht aktiver wird. Das kann sowohl durch die Selbstver-
pflichtung zur Einhaltung internationaler Standards als
auch durch konkrete Corporate-Social-Responsibility-
Maßnahmen geschehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir wollen, dass Verstöße
gegen die Menschenrechte in den Reiseländern, vor al-
lem in den Entwicklungsländern, vor Ort geahndet wer-
den. Dafür ist eine international verbindliche Lösung an-
zustreben. Dies betrifft vor allem den Rechtsschutz der
Opfer. Es gilt dabei, die Entwicklungsländer im Sinne
von guter Regierungsführung und Stärkung der Justiz zu
unterstützen, damit Opfer dort zu ihrem Recht kommen.


(Christoph Strässer [SPD]: Sagen Sie doch mal, dass Sie das nicht hinkriegen!)


Wir wollen, dass die Unternehmen der Tourismus-
branche künftig für die menschenrechtlichen Auswir-
kungen ihrer Aktivitäten in den touristischen Zielländern
verstärkt in die Verantwortung genommen werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716222200

Das Wort hat die Kollegin Annette Groth für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716222300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Tourismusindustrie ist einer der weltweit größten
Wirtschaftszweige. Während es 1950 nur 25 Millionen
Touristinnen und Touristen gab, lag die Zahl 2010 bei
mehr als 935 Millionen. Ganze Regionen wie die Küsten
in Spanien, Portugal und der Türkei sind durch Betten-
burgen verschandelt. Wasser wird knapp und auf einigen
Kanareninseln bereits vom Festland angeliefert.

Etwa 240 Millionen Menschen sind im Tourismus be-
schäftigt. Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer werden schlecht bezahlt und müssen lange, teil-
weise unter entsetzlichen Bedingungen, arbeiten. Auch
Kinderarbeit ist häufig anzutreffen. Weltweit sind zwi-
schen 13 Millionen und 19 Millionen Kinder und Ju-
gendliche unter 18 Jahren in der Tourismusindustrie be-
schäftigt.

Ich selbst habe in den 90er-Jahren für eine internatio-
nale kirchliche Organisation auf der Karibikinsel Barba-
dos gearbeitet und die Auswirkungen des Golf- und
Kreuzfahrttourismus erlebt: Durch Golfplätze wird das
Menschenrecht auf Nahrung und Wasser in vielen Re-
gionen verletzt, weil sie oft auf fruchtbarem Ackerland
gebaut werden, große Mengen an Wasser verbrauchen
und somit der lokalen Bevölkerung Anbaufläche für
Nahrungsmittel und Wasser entziehen. Der tägliche
Wasserbedarf eines einzigen Golfplatzes beträgt bis zu
2 000 Kubikmeter Wasser. Das ist der Tagesverbrauch
eines deutschen Ortes mit 8 000 Einwohnern. Damit der
Rasen schön grün bleibt, werden ebenfalls große Men-
gen an Pestiziden verbraucht, die Land und Grundwasser
verseuchen.


(Christoph Strässer [SPD]: Sie können doch da zum Gericht gehen und klagen, oder?)


Ein tunesischer Manager, der ein Hotel auf der Fe-
rieninsel Djerba betreibt, kommentierte kürzlich, dass
viele Angebote im Internet sich für niemanden mehr ren-
tieren. Eine Woche Urlaub auf Djerba all-inclusive für
199 Euro inklusive Flug kann nicht kostendeckend sein.
Das ist pure Ausbeutung von Mensch und Natur und si-
cherlich keine Hilfe für den arabischen Frühling in Tu-
nesien.


(Beifall bei der LINKEN)


Die All-inclusive-Anlagen sind für kleine Restaurants
und lokale Tourismusunternehmen eine Katastrophe.
Dramatisch ist auch die Situation in Marokko. Pro Tag
und pro Kopf werden dort 685 Liter Wasser verbraucht.
Riesenpools in den Hotelanlagen, der Wäsche- und
Handtücherverbrauch und das exzessive Duschen der
Touristen sind dafür verantwortlich, nicht zu vergessen
auch die berühmten Golfplätze. In Deutschland dagegen
beträgt der Verbrauch pro Tag und pro Kopf nur 128 Li-
ter Wasser.

Beispiele für die Verletzung der Menschenrechte
durch den Tourismus sind die Vertreibung von Men-
schen für den Bau von Hotels, die Schaffung von Natio-
nalparks und sportliche Großveranstaltungen. Die Kom-
merzialisierung von Mensch und Natur für die Interessen
der Tourismusindustrie ist oft mit den Menschenrechten
nicht vereinbar.


(Beifall bei der LINKEN)


In Tansania wurden in den letzten Jahren über
130 Jagdkonzessionen für ein Gebiet von mehr als
250 000 Quadratkilometer vergeben. Dies ist ein höchst
profitables Geschäft, weil ein Großwildjäger für eine
zehntägige Büffeljagd 25 000 US-Dollar und für eine
dreiwöchige Elefanten- oder Löwenjagd immerhin
49 000 US-Dollar zahlen muss. Dieses große Gebiet
wurde aber traditionell von den Massai genutzt, die für
den Jagdtourismus vertrieben wurden. Ihre Lebens-
grundlage ist damit zerstört.

Es wurde schon darauf hingewiesen: Wir müssen die
großen Tourismuskonzerne auf die Einhaltung der Men-
schenrechte verpflichten, um zu einem menschenwürdi-
gen Tourismus zu gelangen, von dem die Touristen und





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)


die lokale Bevölkerung profitieren können. Deswegen
brauchen wir klare und verbindliche Regeln für die Un-
ternehmen in der Tourismusbranche.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716222400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Markus Tressel das Wort.


Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716222500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Tourismusausschuss hat sich bereits im Zuge des
arabischen Frühlings mit dem Spannungsfeld von Tou-
rismus und Menschenrechten beschäftigt, und es ist gut,
dass dieses Thema auf unserer Agenda oben bleibt und
dass wir heute darüber diskutieren.

Die Debatte war viele Jahre in der öffentlichen Wahr-
nehmung auf das Thema des Sextourismus verengt. Das
ist ein wichtiges Thema, aber dennoch nur eine Dimen-
sion des Problems. Wir als Tourismuspolitiker wissen
alle, dass Tourismuspolitik ein Querschnittsthema ist,
und deshalb ist klar, dass es auch andere Probleme gibt.

Land Grabbing – die großflächige Aneignung von
Land zur touristischen Nutzung – ist eines davon; Kol-
lege Strässer hat das schon angesprochen. Es hat gravie-
rende Auswirkungen auf die heimische Bevölkerung,
aber auch auf die Ökosysteme; denn ein verantwortungs-
voller Umgang mit den ursprünglichen Bewohnern und
Nutzern sowie den Ressourcen steht nicht immer im
Vordergrund.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Spannungsfeld von Tourismus und Menschen-
rechten betrifft aber insbesondere die Arbeitsbedingun-
gen. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, fehlende so-
ziale Absicherung und mangelnde Perspektiven sind
kein Aushängeschild für die Tourismusindustrie, und das
wollen auch die Kunden nicht. Die Unternehmen wären
gut beraten, das zu beherzigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Verschwen-
dung von Ressourcen – auch das haben die Kollegen
Strässer und Groth bereits angesprochen –, insbesondere
was das Wasser angeht. Wasserknappheit und der Zu-
gang zu Wasser sind ein großes Problem. Nicht nur eige-
ner Wasserverbrauch, sondern auch die zunehmende
Vertrocknung von Böden sowie die Wüstenbildung be-
deuten Eingriffe in die Menschenrechte anderer. Auch
dazu trägt der Tourismus leider bei. Weltweit ist der Tou-
rismus außerdem für 12,5 Prozent des Klimagasaussto-
ßes verantwortlich.

Das bedeutet für uns: Über die Themen Menschen-
rechte, Ressourcenverbrauch, Klimawandel und Touris-
mus muss gemeinsam debattiert werden. Das ist ein

weiterer Beweis dafür, dass der Tourismus ein einfluss-
reiches Querschnittsthema ist.

Was können wir also tun? Menschenrechte und Nach-
haltigkeit gehören zusammen. Wir müssen Ökologie,
Ökonomie und Soziales in Einklang bringen. Es kann
aber nicht darum gehen, Reisen in bestimmte Regionen
zu verbieten. Ebenso wenig wird es gelingen, Reisen im-
mer unter einen menschenrechtlichen Vorbehalt zu stel-
len. Aber wir müssen sensibilisieren, und zwar nicht nur
die Reisenden. Auch die Industrie und die Politik haben
Hausaufgaben zu erledigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Informationen bei Reiseveranstaltern und dem Aus-
wärtigen Amt zur Einhaltung der Menschenrechte im
Zielland müssen leichter zugänglich sein. Da fehlt mir
beim Auswärtigen Amt, aber auch bei den Veranstaltern
immer noch die Konsequenz. Außerdem brauchen wir
Regelungen und Sanktionen, die den Menschenrechten
einen höheren Stellenwert einräumen.

Die Tourismusverbände müssen selber Anreize und
Sanktionen schaffen, damit ihre Mitglieder menschen-
rechtliche Standards erfüllen und weiterentwickeln.
Aber auch Investoren müssen sicherstellen, dass beim
Bau von Hotelanlagen oder anderen touristischen Ein-
richtungen keine Zwangsvertreibungen oder Umsiedlun-
gen stattfinden. Fördermaßnahmen müssen umfassend
und unabhängig hinsichtlich Umwelt-, Menschenrechts-
und Sozialverträglichkeit geprüft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Kurz zu den Anträgen: Der Koalitionsantrag ist wirk-
lich schön geschrieben. Die Prosa liest sich gut, blendet
Kritisches aber aus. Außerdem passen Ziel und Forde-
rungen, wie so häufig bei Ihren Anträgen, leider nicht
zusammen. Deswegen werden wir uns bei diesem An-
trag enthalten, ebenso wie bei dem Antrag der Linken,
der viele gute Forderungen enthält, aber im Feststel-
lungsteil Mängel aufweist. Dem Antrag der SPD werden
wir zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christoph Strässer [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716222600

Die Kollegin Marlene Mortler hat nun für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1716222700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der 14. Januar 2011 markierte für uns alle ein
wichtiges Datum in der Geschichte. Der damalige
Staatspräsident von Tunesien, Ben Ali, dankte nach
23 Jahren ab und verließ fluchtartig sein Land. Zehn
Tage später standen die Menschen in Ägypten auf. Wir





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)


alle haben noch die Bilder der Protestwellen im Maghreb
vor Augen.

Diese Entwicklung war für uns der Auslöser dafür,
uns mit dem Thema Menschenrechte und Tourismus viel
intensiver zu beschäftigen und dieses Thema ganz oben
auf die Agenda zu setzen. Ich danke an dieser Stelle
ganz herzlich unserem momentanen Schriftführer Klaus
Brähmig,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


der zu dieser Zeit unbequeme Fragen gestellt hat: Kön-
nen wir überhaupt noch in diese Länder reisen? Sollen
wir diese Regime überhaupt unterstützen? Er ist dafür
kritisiert worden. Aber ich glaube, dass er unter dem
Strich dazu beigetragen hat, dass wir heute über unseren
Antrag „Tourismus als Chance für die Einhaltung der
Menschenrechte nutzen“ reden.

Unser Antrag ist auch das Ergebnis von vielfältigen
Anhörungen und Gesprächen mit Experten auf den ver-
schiedensten Ebenen. Wir sind überzeugt: Hier geht es
nicht nur um eine positive wirtschaftliche Entwicklung
in den jeweiligen Ländern, hier geht es nicht nur um
mehr Völkerverständigung, sondern gerade der Touris-
mus kann dazu beitragen, Menschenrechte zu stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich mache an dieser Stelle klar und deutlich: Wir hel-
fen diesen Ländern nicht, wenn wir ihnen als Urlauber
den Rücken kehren. Vielmehr können persönliche Kon-
takte dazu beitragen, relativ geschlossene Gesellschaften
aufzubrechen. Wo der Zugang zu Informationen be-
grenzt ist, können vor allem die Beschäftigten in der
Tourismusbranche wichtige Multiplikatoren sein. Wenn
sie ihre persönlichen positiven Erfahrungen weitergeben,
helfen sie, falsche Vorstellungen zu entkräften. Natürlich
sind wir nicht so blauäugig, zu glauben, der Tourismus
sei ein Allheilmittel, das, kräftig genug dosiert, allein die
Welt verbessern kann. Deshalb haben wir uns gesagt:
Wir legen einen Antrag vor, der sich an der Realität
orientiert und nicht an Wünschen, die aus meiner Sicht
nicht erfüllbar sind.

Ägyptens Wirtschaftsminister wurde vor kurzem im
Handelsblatt mit den Worten zitiert: Keine Regierung
kann in Ägypten ohne die Haupteinnahmen aus dem
Tourismus regieren. – Fakt ist: In vielen Schwellen- und
Entwicklungsländern ist der Tourismus ein wichtiger
Wirtschaftsfaktor. Er schafft und erhält nicht nur Ar-
beitsplätze, sondern er gibt auch Menschen mit geringer
Schulbildung eine Chance, ihren Lebensstandard zu er-
höhen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Durch den Tourismus selber gibt es auch Verbesse-
rungen in der Infrastruktur, von denen nicht nur der Tou-
rist, sondern auch der Einheimische profitiert. Vielen ist
auch nicht bewusst, dass erst durch Einnahmen aus dem
Tourismus der Erhalt von Nationalparks und Natur-
schutzgebieten finanzierbar wird.

Touristen wollen keinen Einheitsbrei. Sie wollen Au-
thentizität, das heißt, sie wollen mit bestimmten Ländern
bestimmte Traditionen und Kulturen verbinden. Ich erin-
nere an ein ganz tolles Beispiel. Wer weiß schon, dass
Tunis ganz in der Nähe des früheren Karthago erbaut ist.
Das ist eine wunderbare Attraktion.

Leider gibt es auch genügend negative Beispiele. Kol-
legen haben die Themen Menschenrechte und Umwelt
schon angesprochen. Ich nenne noch Umsiedlungen für
Bauprojekte, die Missachtung der Rechte indigener Völ-
ker, den Raubbau zulasten der Natur und Umwelt in Ho-
telanlagen, etwa durch einen häufig viel zu hohen Was-
serverbrauch, Sextourismus und Kinderprostitution. Ein
asiatisches Sprichwort bringt das auf den Punkt. Es lau-
tet: „Tourismus ist wie Feuer. Man kann damit seine
Suppe kochen, aber auch sein Haus abbrennen.“ Das
heißt, die zentrale Verantwortung für die Einhaltung von
Menschenrechten liegt zuallererst bei den Regierungen
der Zielländer. Ich möchte an dieser Stelle ganz aus-
drücklich die Bundesregierung loben, die vor allem bei
der Vergabe von Mitteln in Entwicklungsländer Konse-
quenzen zieht und sagt: Stopp, so geht das nicht. – Des-
halb dürfen wir nicht nachlassen, unbequeme Fragen zu
stellen und immer wieder auf die Einhaltung der Men-
schenrechte zu pochen.

Wir haben in der gestrigen Anhörung zum Thema
Tourismus und Entwicklungsländer gehört, dass sich die
Tourismusbranche sehr wohl ihrer Verantwortung be-
wusst ist und weiß, dass das eine Daueraufgabe ist und
bleiben wird.

Letztendlich sind wir Reisende, jeder Einzelne von
uns, selber gefragt, Verantwortung zu übernehmen, sich
bewusst zu machen, dass nicht nur in den Zielländern ein
gewisser – so möchte ich es einmal bezeichnen – „kultu-
reller Analphabetismus“ herrscht, sondern dieser auch
bei uns vorhanden ist.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716222800

Kollegin Mortler, achten Sie bitte auf die Zeit.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1716222900

Deswegen verweise ich immer wieder darauf, wie

wichtig es ist, dass wir auf Religion, auf Kultur, auf Sit-
ten und auf Gebräuche Rücksicht nehmen.

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Stich-
punktartig möchte ich noch einmal erwähnen: –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716223000

Das geht jetzt wirklich nicht mehr. Das Minuszeichen

zeigt an, wie weit Sie schon über Ihre Zeit sind.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1716223100

– die Länderinformationen des Auswärtigen Amtes,

die SympathieMagazine. Ich appelliere am Schluss noch
einmal an alle: Wir wollen und wir können heute das
Rad nicht noch einmal neu erfinden. Die UNWTO hat
bereits 1999 einen globalen Ethikkodex verabschiedet.
Wenn wir uns alle, die Branche, die Regierungen und die





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)


Reisenden selber, an diesen Kodex halten, dann ist schon
viel erreicht.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christoph Strässer [SPD]: Wenn nicht, was ist dann?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716223200

Kollegin Mortler, wir mögen uns trotzdem an die Ver-

abredungen halten. Wir haben das gerade heute Mittag
im Ältestenrat noch einmal bekräftigt. Nach einer zwei-
ten Aufforderung könnte man dann doch einmal einen
Punkt setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Marlene Mortler [CDU/CSU]: Ich war im Ältestenrat ja nicht dabei! – Michael Brand [CDU/CSU]: Ich finde, es hat sich gelohnt!)


– Das müssen Sie jeweils beurteilen. Ich bin hier vorne
dafür zuständig, dass es gerecht zugeht.

Jetzt hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die
SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Brand [CDU/CSU]: Ziehen wir es bei ihr ab!)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1716223300

Frau Präsidentin, vielleicht darf ich auch ein bisschen

überziehen. Dann ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716223400

Nein, so fangen wir heute Abend gar nicht mehr an.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1716223500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

freue mich, dass wir heute hier das so wichtige Thema
„Tourismus und Menschenrechte“ debattieren. Wir soll-
ten das viel öfter tun. Fast alle Fraktionen haben dazu
Anträge vorgelegt. Auch das finde ich gut. Das wäre
eine gute Grundlage, um parlamentarische Schlagkraft
zu entfalten. Schade nur, dass der Antrag der Koalitions-
fraktionen nichts weiter als ein zahnloser Tiger ist.
Schade, denn Schlagkraft, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, brauchen wir, wenn wir uns weltweit wirksam für
Menschenrechte einsetzen wollen. Der Tourismus ist
hierfür ein sehr guter Hebel. Denn Reisen verbindet.

Nie war es so einfach für uns, auch größte Entfernun-
gen zu überwinden, neue Länder und Kulturen kennen-
zulernen. Unsere Neugier und Reiselust eröffnen vielen
Menschen in Entwicklungsländern Chancen, freier zu le-
ben und sich lebenswichtige Einnahmequellen zu er-
schließen.

Es könnte alles so schön sein, wären da nicht die zer-
störerischen Kräfte, mit denen wir uns schon vor
6 000 Jahren selbst aus dem Paradies herauskatapultiert
haben. Umweltzerstörung, Vertreibung und brutalste
Ausbeutung von Menschen – das sind die Schattenseiten
des Tourismus.


(Beifall bei der SPD)


Wie, liebe Kolleginnen und Kollegen, vertreiben wir die
Schatten und schaffen mehr Licht? Alle haben sich in ih-
ren Anträgen mehr oder weniger überzeugend bemüht,
Antworten zu finden. Aber wie zu erwarten war, fallen
unsere Forderungen je nach Fraktion unterschiedlich
aus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es an die-
ser Stelle noch einmal ganz deutlich: Uns reichen Ap-
pelle und bloße Rufe nach Freiwilligkeit, wie sie in Ih-
rem Antrag zu finden sind, nicht aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ja, wir wollen mit Ihnen eine enge freiwillige länder-
übergreifende Zusammenarbeit mit allen Akteuren der
Tourismusbranchen. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen
aber auch ganz klare Regeln, die Sanktionen beinhalten,
damit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstö-
rung durch den Tourismus verhindert werden.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb kämpfen wir für starke verbindliche interna-
tionale Normen. Unternehmen, die Menschenrechte und
soziale Standards verletzten, müssen bestraft werden
können.


(Beifall bei der SPD)


Menschenrechte müssen immer Vorrang vor Unterneh-
mensinteressen haben. Wir wollen auch, dass sich Rei-
sende besser informieren können. Deshalb fordern wir
eine verbindliche Zertifizierung der Angebote.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die
Chance, gemeinsam gegen Ausbeutung und Umweltzer-
störung und für Menschenrechte zu kämpfen. Wir müs-
sen dafür an einem Strang und in die gleiche Richtung
ziehen. Ich lade Sie ein: Machen Sie das mit uns. Wir ha-
ben einen guten Antrag vorgelegt, dem Sie gerne Ihre
Unterstützung geben können. Wir würden uns sehr
freuen. Falls Sie das nicht machen, haben wir spätestens
2013 die Chance, unsere Vorstellungen dann ohne Sie
umzusetzen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Träum weiter!)


Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716223600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/8736.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/8347 mit dem Titel „Tourismus als Chance für die
Einhaltung der Menschenrechte nutzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/6458 mit dem Titel „Menschenrechte in der Tou-
rismuswirtschaft achten, schützen und gewährleisten“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/8762 mit dem Titel „Menschenrechte
in der Tourismuspolitik konsequent durchsetzen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion ge-
gen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Schaaf, Silvia Schmidt (Eisleben), Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Den demographischen Wandel bei den Auf-
wendungen für Leistungen zur Teilhabe in der
gesetzlichen Rentenversicherung besser be-
rücksichtigen

– Drucksache 17/8602 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1716223700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Kollege Anton Schaaf hat bereits im September
zum Rehaantrag der Linken richtigerweise Folgendes
festgestellt:

Wir müssen daher einen neuen Anpassungsmecha-
nismus finden, der Bedarf und Leistung besser in
Einklang bringen kann.

Er hat die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert.
Dem kann ich mich nur anschließen.

Ich kann auch Herrn Kollegen Weiß zustimmen, der
zum gleichen Punkt dargelegt hat:

Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist ein zentrales
Prinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es
entspricht dem Grundsatz der Humanität, alles zu
tun, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
durch Berufstätigkeit verursachte gesundheitliche
Beeinträchtigungen wieder überwinden können.

Ich frage mich aber, was in der Zeit von September
bis heute geschehen ist. In Ihrem Koalitionsvertrag und
auch in Ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Be-
hindertenrechtskonvention steht, dass die Rehabilitation
wichtig ist und gefördert werden muss und dass auch der
Rehadeckel überprüft werden muss.


(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD])


Ich frage mich: Wo sind Ihre Vorschläge im Rahmen
des Rentendialogs? Wahrscheinlich handelt es sich eher
um einen Monolog hinter verschlossenen Türen. Bisher
gilt: Fehlanzeige, obwohl es einen Beschluss des Bun-
desrates auf Initiative von Mecklenburg-Vorpommern
und die Empfehlungen der Rentenversicherung gibt. Es
war die rot-grüne Koalition, die seit 2001 mit dem
SGB IX die Rehabilitation weiterentwickelt hat. Sie,
meine sehr verehrten Damen und Herren, haben zuge-
stimmt. Wir wollen Erwerbsfähigkeit und nicht Erwerbs-
minderung fördern. Wir haben dies in unseren Positions-
papieren und Anträgen deutlich gemacht.

Heute geht es um den sogenannten Rehadeckel, der in
§ 220 des SGB VI geregelt ist. Mit ihm wird die Höhe
der Ausgaben für Rehabilitation der Rentenversicherung
begrenzt. Das wissen wir. Die Anpassung des Budgets
richtet sich seither nach der Entwicklung der Brutto-
löhne und -gehälter. Der Rehabilitationsbedarf steigt,
aber aus verschiedenen Gründen. Nicht nur die verhal-
tene Entwicklung der Bruttolöhne lässt die notwendige
Anpassung des Budgets nicht zu. Deshalb muss der Me-
chanismus so angepasst werden, dass die demografische
Struktur der Versicherten in die Bemessung des Budgets
einfließen kann.

Lassen Sie mich noch näher auf die Hintergründe ein-
gehen, warum die Entwicklung der Bruttolöhne so ver-
halten ist. Prekäre Beschäftigung im Niedriglohnbereich,
Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung und der geringfü-
gigen Beschäftigung bremsen die Entwicklung der
Löhne. Hier fehlt uns einfach der Mindestlohn. Im Nie-
driglohnbereich arbeiten mittlerweile 22 Prozent der Be-
schäftigten. Das sind mehr als 6,5 Millionen Menschen.
In Ostdeutschland arbeiten immer noch 40 Prozent der
Beschäftigten im Niedriglohnbereich, viele davon ohne
Tarifbindung.

Die Rentenkasse weist zwar Überschüsse auf, aber
diese könnten noch höher sein. Im Jahr 2011 betrug der
Überschuss 4,4 Milliarden Euro, und die Rücklagen be-
laufen sich auf insgesamt 24 Milliarden Euro. Das ist
gut. Aber dieser Betrag könnte, wie gesagt, noch höher
liegen, wenn wir Mindestlöhne hätten.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])






Silvia Schmidt (Eisleben)



(A) (C)



(D)(B)


Gleichzeitig steigen die Ausgaben für Rehabilitation
und sprengen mittlerweile das Budget. Das wissen wir.
Die Deutsche Rentenversicherung hat im Jahr 2010
Leistungen der medizinischen Rehabilitation und zur
Teilhabe am Arbeitsleben sowie sonstige Leistungen in
Höhe von 5,5 Milliarden Euro erbracht. Das sind gut
800 Millionen Euro mehr als 2005 und 1 Milliarde Euro
mehr als im Jahre 2000.

Obwohl die Rentenversicherung ihre Hausaufgaben
gemacht hat – ich nenne die ambulante Reha und die Ver-
ringerung der Verwaltungsausgaben –, gehen viele An-
tragsteller leer aus. Wir wissen das; denn betroffene
Bürgerinnen und Bürger beschweren sich in unseren
Sprechstunden über Ablehnungen von Rehaleistungen,
die dringend nötig wären. Nach Ansicht der Rentenversi-
cherung ist es nicht mehr länger möglich, die Kosten der
Rehabilitation mit den verfügbaren Mitteln zu bestreiten.
Dr. Axel Reimann, ein Direktor der Deutschen Renten-
versicherung, erklärte, dass die angespannte Situation im
Rehabilitationsbereich auf die demografischen Verände-
rungen im Versicherungsbestand zurückzuführen ist, die
bisher bei der Anpassung nicht berücksichtigt wurden.
Wir fordern deshalb die Überprüfung des Rehadeckels.
Das hatten Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, bereits ange-
kündigt. Der Aktionsplan der UN-Behindertenrechtskon-
vention liegt bereits ein Jahr vor. Der Bundesrat hat seine
Entschließung verabschiedet, die Rentenversicherungen
haben ihre Modelle eingebracht und Vorschläge unter-
breitet. Doch Sie tun nichts.

Franz Müntefering hat einmal gesagt: Wenn die Be-
völkerung älter wird, kann die Belegschaft nicht jünger
werden. – Die demografische Entwicklung führt dazu,
dass wir mehr Arbeitnehmer mit einem Alter von über
55 Jahren haben werden. Der Rehabilitationsbedarf wird
steigen. Die Unternehmen haben erkannt, dass medizini-
sche Rehabilitation einen wesentlichen Beitrag zur Fach-
kräftesicherung leisten kann. Vonseiten der Unterneh-
men wird auf Sie auch noch mehr Druck ausgeübt. Sie
werden Ihr Konzept zur Fachkräftesicherung in diesem
Zusammenhang nicht umsetzen können. Das Prognos-
Gutachten geht davon aus, dass mindestens 150 000 zu-
sätzliche Rehabilitationsmaßnahmen bis 2025 benötigt
werden und dass auch ihre Komplexität zunehmen wird.
Nicht nur die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt,
sondern auch die Zahl der chronischen und multiplen Er-
krankungen nimmt ständig zu. Die Inanspruchnahme im
medizinischen Bereich wächst, nicht nur weil wir seit
1991 eine Absenkung der Verweildauer im Krankenhaus
von durchschnittlich 14 Tagen auf 8 Tage feststellen
konnten. Gleichzeitig hat sich die Zahl der rehabili-
tativen Anschlussheilbehandlungen von 85 000 auf
290 000 mehr als verdreifacht. Somit wächst der Druck
auf die Rehabilitation stetig, der Akutversorgung zu ent-
sprechen. Das ist gut so; denn die Rehabilitation ist ein
Erfolgsmodell. Sie kostet im Vergleich zur Erwerbsmin-
derung und zur Frühberentung relativ wenig. Die durch-
schnittlichen Fallkosten von circa 4 000 Euro rechnen
sich schon nach vier Monaten, wenn eine Wiederauf-
nahme in eine sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung mündet. Das ist bei mindestens 70 Prozent der Fall.

Die Menschen brauchen die Rehabilitation; denn in Zu-
kunft wird jeder Einzelne so lange wie möglich im Ar-
beitsleben gebraucht. Wenn wir von der Rente mit 67
sprechen, dürfen wir das nicht aus dem Auge verlieren.

Wir haben ebenso wie die Selbstverwaltung der Deut-
schen Rentenversicherung Bund vorgeschlagen, die
demografische Entwicklung und die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit zukünftig bei der Bemessung des
Rehadeckels mit zu berücksichtigen – und nicht mehr al-
lein die Bruttolöhne. Dies ist eine moderate Forderung
und verfolgt nicht das Ziel, durch überhöhte Anpassun-
gen des Budgets den Beitragssatz zu belasten, im Gegen-
teil: Die Rentenversicherung hat uns bestätigt, dass diese
Lösung beitragsneutral erfolgen kann. Wir fordern Sie
auf, hier zu handeln, endlich etwas zu tun; denn es ist be-
reits fünf Minuten nach zwölf.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Nicht mal die Uhr gibt der Kollegin recht! Es ist drei nach acht!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716223800

Der Kollege Peter Weiß spricht nun für die Unions-

fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1716223900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen!

Qualifizierte medizinische Rehabilitation ist eine
wichtige Voraussetzung zur Integration von Kran-
ken in Beruf und Gesellschaft und nimmt im Ge-
sundheitswesen einen immer höheren Stellenwert
ein.

So heißt es in der Koalitionsvereinbarung von CDU/
CSU und FDP. An diesem Anspruch wollen wir unser
Handeln messen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Leistungen zur Rehabilitation in der gesetzlichen
Rentenversicherung in Deutschland sind wichtige Bei-
träge, die oftmals gar nicht richtig gewürdigt und wahr-
genommen werden. Der Grundsatz „Reha vor Rente“ ist
ein zentrales Prinzip unserer Rentenversicherung; denn
dieser Grundsatz gewährleistet, dass trotz drohender
oder bestehender Einschränkungen eine Teilhabe am Er-
werbs- und Arbeitsleben und damit eine Unabhängigkeit
von Sozialleistungen möglich wird. Nach dem jüngsten
Rehabericht der Deutschen Rentenversicherung sind für
Rehabilitationsmaßnahmen im Jahr 2010 insgesamt
5,38 Milliarden Euro aus Mitteln der Rentenversiche-
rung zur Verfügung gestellt worden. Das ist eine beacht-
liche Summe. Damit konnten 996 154 Leistungen zur
Rehabilitation durchgeführt werden.

Richtig ist: Rehabilitation lohnt sich für die Renten-
versicherung. 86 Prozent der betroffenen Rehabilitanden
sind im Verlauf von zwei Jahren nach einer Rehamaß-
nahme wieder voll erwerbsfähig. Deswegen wundert es





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


auch nicht, dass in der schon erwähnten Prognos-Studie
festgestellt wurde, dass wir für 1 in die medizinische
Rehabilitation investierten Euro 5 Euro an neuen Ein-
nahmen in Steuer- und Sozialversicherungskassen zu-
rückerhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was man ebenfalls festhalten sollte: Deutschland ge-
hört zusammen mit gerade noch vier weiteren OECD-
Ländern zu denjenigen Staaten, die die höchsten Aus-
gaben für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf-
weisen. Die finanziellen Mittel, die der gesetzlichen
Rentenversicherung für Leistungen zur Teilhabe zur
Verfügung stehen – das sind insbesondere medizinische
Rehabilitationen und berufsfördernde Maßnahmen –
werden gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung je-
des Jahr prozentual um den Beitrag erhöht, um den auch
die Bruttolöhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer steigen.

Das ist eigentlich keine dumme Regelung; denn auch
die Einnahmen der Rentenversicherung entwickeln sich
ja gemäß den steigenden Löhnen. Deswegen ist diese im
Gesetz vorgesehene Koppelung an und für sich eine sehr
kluge Regelung. Dennoch – das müssen wir heute fest-
stellen – stößt die Rentenversicherung bei ihren Bemü-
hungen, mit den bereitgestellten Mitteln für Rehabilita-
tionsleistungen auszukommen, allmählich an die
Grenzen des Machbaren.

Das sieht man sehr deutlich zum Beispiel daran, dass
die Zahl der Anträge bis 2010 um knapp 30 Prozent ge-
stiegen ist, die der Rentenversicherung für Rehamaßnah-
men zur Verfügung stehenden Mittel aber nur um
22 Prozent angehoben wurden. In der Tat ist es so, dass
gerade die Entwicklung im Altersaufbau unserer Gesell-
schaft mehr Rehaleistungen notwendig macht. Etwa drei
Viertel der Rehaleistungen werden für die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer ausgegeben, die bereits
über 45 Jahre alt sind. Das ist logisch; die Jüngeren sind
gesund und munter und brauchen noch keine Rehamaß-
nahmen.

Wenn man sieht, dass die geburtenstarken Jahrgänge
vor allem der 60er-Jahre sich jetzt im Alter über 45 be-
finden, dass also die Zahl derer, die, wie man so schön
sagt, in der zweiten Lebenshälfte stehen, deutlich stärker
wird, dann erkennt man, dass natürlich auch der Bedarf
an Rehamaßnahmen steigt. Denn diese Menschen müs-
sen, insbesondere wenn sie länger arbeiten sollen, wei-
terhin gesund arbeiten können und deshalb, wenn es not-
wendig ist, auf eine Rehamaßnahme der gesetzlichen
Rentenversicherung zurückgreifen können. Allein in den
nächsten zehn Jahren – mit einer Spitze im Jahr 2016, so
wird prognostiziert – wird deswegen ein finanzieller
Mehrbedarf von rund 200 Millionen Euro bestehen.

Die Deutsche Rentenversicherung, der Deutsche Ge-
werkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deut-
schen Arbeitgeberverbände haben gemeinsam – das
finde ich durchaus bemerkenswert – einen Vorschlag
vorgelegt. Dieser sieht vor, dass in Anlehnung daran,
wie sich die Altersstruktur bei den Beschäftigten in
Deutschland verändert, der Rehadeckel nicht nur um die

prozentuale Steigerung nach den Löhnen, sondern eben
auch nach der Entwicklung im Altersaufbau der Gesell-
schaft angehoben werden soll.

Es war ein Anliegen meiner Fraktion, diese Idee eines
demografischen Faktors in der Rehaleistung der Renten-
versicherung mit in den von Frau Bundesministerin
Ursula von der Leyen initiierten Rentendialog aufzuneh-
men. Ich habe bereits heute Morgen in meiner Rede ge-
sagt: Die Koalitionsfraktionen sind derzeit dabei, diesen
Rentendialog auszuwerten, und wollen möglichst bald in
die konkrete Gesetzgebung einsteigen. Dieser gemein-
same Vorschlag von Deutscher Rentenversicherung,
BDA und DGB zur Anhebung des sogenannten Rehade-
ckels wird dabei ein wichtiger Bestandteil sein, weil wir
die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung für
die Rehabilitation stärken wollen. Gerade in Zeiten dro-
henden Fachkräftemangels sollten wir, meine Damen
und Herren, alle Möglichkeiten ausschöpfen, um eine
konsequente und funktionierende Rehabilitation zu er-
möglichen. Die Erfolge, die eine zielgerichtete und effi-
ziente Rehabilitation und berufliche Integration bereits
jetzt schon bringen, zeigen uns, dass wir mit diesem Vor-
schlag auf dem richtigen Weg sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716224000

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege

Matthias W. Birkwald das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716224100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Menschen, die aufgrund einer Krankheit für ihre
Arbeit spezielle Computerbildschirme und Tastaturen
oder einen orthopädischen Bürostuhl brauchen, die nach
einem Bandscheibenvorfall oder nach Depressionen
wieder in ihren Beruf zurückkehren wollen, all diese
Menschen können sich auf die gesetzliche Rentenversi-
cherung verlassen. Die Rentenversicherung bietet ihnen
die notwendige Hilfe, finanziell, medizinisch und bera-
tend. An diesem einen Punkt sind sich alle hier im Hause
einig: Rehabilitation geht vor Rente, und das ist auch
richtig so.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, wer die Voraussetzungen
erfüllt und eine Rehamaßnahme braucht, der oder die
soll sie auch erhalten. Daraus folgt eigentlich logisch,
dass sich auch die Menge des Geldes, das für Rehamaß-
nahmen ausgegeben werden kann, am tatsächlichen Be-
darf orientieren muss: Wenn mehr Menschen Reha-
leistungen brauchen, um wieder arbeiten zu können, na,
dann muss auch mehr Geld ausgegeben werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das findet aber nicht statt. Denn vor gut 15 Jahren hat
die damalige schwarz-gelbe Regierung festgelegt, dass
die gesetzliche Rentenversicherung nur einen politisch





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


willkürlich festgesetzten Betrag für Rehaleistungen aus-
geben darf. Das ist der sogenannte Rehadeckel: Das ver-
fügbare Rehabudget orientiert sich nicht am vorhande-
nen Bedarf derer, die wieder gesund werden oder auch
mit Behinderung arbeiten wollen, sondern – das ist
schon gesagt worden – an der durchschnittlichen Ent-
wicklung der Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer. Das ist doch nun wirklich
absurd.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Werden die Menschen etwa gesünder, wenn die
Löhne und Gehälter sinken? Nein, ganz im Gegenteil.
Deswegen will die Linke keine Reha nach Kassenlage,
sondern eine Reha nach Bedarf.


(Beifall bei der LINKEN)


Danach muss sich die Finanzierung richten. Leistungen
zur Teilhabe dürfen sich im Interesse der Betroffenen
nur am medizinisch Notwendigen ausrichten. Das ist
auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Deshalb muss
der Rehadeckel komplett abgeschafft werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zu
Recht und völlig richtig schreiben Sie in Ihrem Antrag,
dass sich die Situation in der Reha immer mehr zuspitzt.
Der finanzielle Rahmen ist nahezu ausgeschöpft. Im Jahr
2005 sind knapp 92 Prozent des Rehabudgets ausge-
schöpft worden. Fünf Jahre später, also im Jahr 2010,
waren es bereits 99,4 Prozent. Sie stellen in Ihrem An-
trag ebenfalls sehr richtig fest, dass es nicht sachgerecht
ist, die Rehamittel an die Entwicklung der Bruttolöhne
und -gehälter zu koppeln. Sie kritisieren diesen Deckel,
fordern aber gleichzeitig die Regierung auf, sich über
einen neuen Deckel Gedanken zu machen. Da sage ich
Ihnen: Das ist der falsche Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Alternative lautet: entweder Deckel oder Bedarf. Da
ist die Position der Linken eindeutig. Wir sagen: Wer
Rehaleistungen braucht, soll sie auch erhalten. Reha
muss nach dem Bedarf geleistet werden. Alle anderen
Maßstäbe haben hier nichts zu suchen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sehe einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag kri-
tisch: Sie nutzen die Diskussion um den Rehadeckel aus,
um Ihr Bekenntnis zur Rente erst ab 67 aufzufrischen. Ist
denn der Rehadeckel nicht auch schon ohne die Rente
erst ab 67 falsch? Auch hier ist die Linke eindeutig. Wir
sagen: Wer kann und will, darf länger als bis 65 arbeiten,
und wer nicht mehr kann, muss auch nicht bis 65 arbei-
ten. So muss der Grundsatz lauten.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit die, die arbeiten wollen, trotz gesundheitlicher
Einschränkungen oder Behinderung tatsächlich weiter
arbeiten können, brauchen wir die Reha nach Bedarf und
nicht nach Kassenlage. Darum muss der Rehadeckel
weg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716224200

Das Wort hat der Kollege Dr. Kolb für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1716224300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Beste ist natürlich, wenn Beeinträchtigungen der
Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
überhaupt nicht erst entstehen. Prävention ist der Kö-
nigsweg, da sind wir uns einig.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Es ist insbesondere in den Unternehmen die Aufgabe,
durch Arbeitsbedingungen dafür zu sorgen, dass die Ge-
sundheit der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt wird. Wo
dies nicht gelingt, ist Rehabilitation angesagt. „Reha vor
Rente“ – das ist richtig, wir bekennen uns dazu. Rehabi-
litation ist ein zentrales Ziel unserer Sozialpolitik. Reha-
bilitation hilft den betroffenen Menschen, aber sie hilft
eben auch, Kosten für das Sozialsystem zu vermeiden.

Dabei ist – das unterscheidet uns mit Sicherheit, Herr
Kollege Birkwald – eine ständige Abwägung notwendig
zwischen den Interessen der Betroffenen, der Beitrags-
zahler und der Leistungsanbieter. Insgesamt geben wir in
diesem Bereich erhebliche Beträge aus, das muss man
feststellen: 5,56 Milliarden Euro im Jahr 2010 – das ist
kein Pappenstiel, das ist eine ordentliche Summe Geld –
4 Milliarden Euro für medizinische Reha, 1,4 Milliarden
Euro für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Also:
Wir lassen uns das Prinzip „Reha vor Rente“ schon et-
was kosten. Immerhin fallen für eine stationäre Reha-
maßnahme durchschnittlich knapp 2 450 Euro Kosten
an, die jeweils abgewogen werden müssen – so will ich
das sagen, Herr Kollege Birkwald.

Ich glaube, der Rehadeckel macht Sinn. Wir sind be-
reit – das hat der Kollege Weiß schon gesagt –, im Rah-
men der Rentengespräche über eine Anhebung des De-
ckels nachzudenken. Dabei will ich nicht verhehlen, dass
für uns die Beitragsentwicklung und insbesondere die
Einhaltung der Beitragsziele, die gesetzlich festgeschrie-
ben sind, eine wichtige Rolle spielen. Aber ich glaube
zudem, dass ein Deckel eine gewisse Funktion hat, weil
er auch für einen wirtschaftlichen Einsatz der Mittel
sorgt und die Beteiligten zwingt, darüber nachzudenken,
wie man neue Wege in der Rehabilitation gehen kann.
So stelle ich fest, dass es mittlerweile auch einen klaren
Trend zu ambulanten Rehaleistungen gibt. Deren Anteil
ist 2010 auf 12 Prozent der Rehaaufwendungen gestie-
gen und hat sich damit innerhalb von acht Jahren ver-
vierfacht. Ich gehe auch davon aus, dass sich dieser
Trend weiter fortsetzen wird. Das ist gut so, das begrenzt
die Ausgaben. Ich will an diesem Beispiel nur deutlich
machen, Herr Kollege Birkwald: Der Deckel macht
Sinn. Wenn Sie keinen Deckel haben, wenn Sie die Aus-
gaben einfach so laufen lassen, werden solche Innova-
tionsimpulse eben nicht gesetzt.

Also: Wir prüfen im Rahmen unserer Rentengesprä-
che, wie wir diesen Deckel verändern können. Wir ha-





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


ben – der Kollege Weiß hat es gesagt – den Vorschlag
von BDA und anderen zur Kenntnis genommen. Das ist
etwas, worüber wir sehr ernsthaft nachdenken. Deswe-
gen kann ich hier ankündigen, dass wir nach dem Ende
der Rentengespräche, wenn die Koalition ihre Beratun-
gen abgeschlossen hat, sicherlich im Gesamtpaket auch
an dieser Stelle etwas tun werden. Bis dahin bitte ich
noch um Ihre Geduld. Aber ich glaube, Warten kann sich
in diesem Fall tatsächlich auch lohnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716224400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Markus Kurth das Wort.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716224500

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsi-

dentin! Selten haben wir hier im Plenum eine solche
Einigkeit wie bei diesem Tagesordnungspunkt des heuti-
gen Abends. Praktisch alle Redner betonen die Wichtig-
keit des Grundsatzes „Reha vor Rente“. Alle haben ihre
Rechenbeispiele dabei – auch ich –, wie viel jeder inves-
tierte Euro nachher an eingesparten Erwerbsminderungs-
rentenzahlungen und zusätzlichen Beitragseinnahmen
bringt. Bei so viel Einigkeit frage ich mich nur – und ich
richte die Frage an die Regierungsfraktionen –: Warum
haben Sie nicht schon gehandelt, oder warum legen Sie
keinen Vorschlag vor?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man hätte doch gern einen Zeitpunkt genannt bekom-
men, wann Sie etwas machen. Stattdessen verweisen Sie
wieder einmal – wie schon heute Morgen in der Renten-
debatte – auf den Rentendialog. Sie denken nach und
diskutieren. Ihr Rentendialog kommt mir im Prinzip wie
ein schwarzes Loch vor, in dem alle Vorschläge nicht nur
zur Alterssicherung, sondern auch zum Thema Rehabili-
tation verschwinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die kommen wieder heraus! – Pascal Kober [FDP]: Nichts dergleichen!)


Wenn sich eine durchschnittliche medizinische Reha-
maßnahme schon nach vier Monaten einer Vermeidung
der Zahlung von Erwerbsminderungsrente rechnet, dann
sollte man an dieser Stelle wahrlich keine Zeit verlieren.
Die entsprechenden Einrichtungen, zum Beispiel die Be-
rufsförderungswerke, berichten, dass die Zahl der Bele-
gungen durch die Deutsche Rentenversicherung in den
zurückliegenden Monaten und im letzten Jahr erheblich
zurückgegangen ist.

Nachdem die besonderen Einrichtungen der berufli-
chen Rehabilitation durch die sinkende Zahl von Bewil-
ligungen durch die Bundesagentur für Arbeit ge-
schwächt worden sind, wird auch noch das zweite

Standbein, die Rentenversicherung, geschwächt, sodass
wir uns ernsthaft die Frage stellen müssen, ob in unserer
Netzplanstruktur die Berufsförderungswerke überhaupt
noch eine Zukunft haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD])


Hier zu sparen, ist volkswirtschaftlich widersinnig.
Insbesondere Rehaausgaben sind investive Sozialausga-
ben. Wir investieren in die Fähigkeiten und Möglichkei-
ten von Menschen, länger zu arbeiten. In einer älter wer-
denden Gesellschaft wird der Rehabedarf eindeutig
weiter steigen. Ganz offensichtlich steht hier die Renten-
versicherung vor einem Problem. Deshalb müssen wir
entsprechende Anpassungen vornehmen. Der Vorschlag
von Deutscher Rentenversicherung, BDA und Gewerk-
schaften liegt ja vor und wird in dem SPD-Antrag, den
wir unterstützen, aufgegriffen.

Herr Birkwald, ich muss noch einige Sätze dazu sa-
gen, dass Sie den Rehadeckel komplett abschaffen wol-
len. Ohne eine gewisse Rahmensteuerung der Kosten
setzt man keine Anreize, innovative und wirtschaftliche
Mittelverwendungsmöglichkeiten zu suchen; zum Bei-
spiel kann man hier die ambulante Reha nennen. Die be-
rufliche Reha hat sich bisher sehr stark am stationären
Bereich orientiert – ich finde das in bestimmten Berei-
chen sinnvoll; die Berufsförderungswerke habe ich ge-
nannt –, aber die ambulante Reha bzw. andere Formen
der medizinischen Rehabilitation können durch einen
gewissen Kostenrahmen, den man im Extremfall anpas-
sen muss, Anreize für wirtschaftliches Verhalten und für
neue Formen der Leistungserbringungen schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen zusätzlich neue Verfahren zur Ermitt-
lung und zur Klassifizierung des Rehabedarfes. Wir dür-
fen uns nicht nur auf den Rehadeckel und die Kosten-
steuerung konzentrieren; denn wir müssen es – auch das
ist ein Anliegen, das wir hier im Hause weitestgehend
teilen – angesichts der demografischen Herausforderung
schaffen, den notwendigen Rehabilitationsbedarf zielge-
richtet und effizient zu organisieren.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716224600

Der Kollege Paul Lehrieder spricht nun für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1716224700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Gegenstand der heutigen Debatte ist der
Antrag der SPD-Fraktion „Den demographischen Wan-
del bei den Aufwendungen für Leistungen zur Teilhabe





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


in der gesetzlichen Rentenversicherung besser berück-
sichtigen“, in dem Sie neben einer Ausrichtung der Aus-
gaben der Rentenversicherung für die medizinische
Rehabilitation am tatsächlichen Bedarf auch die Weiter-
entwicklung von Präventionsleistungen fordern. Kollege
Kolb hat auf die Bedeutung von Präventionsleistungen
in diesem Bereich mit zutreffenden Worten hingewiesen;
er ist ein guter Mann.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die Re-
habilitation neben der Prävention eines der zentralen An-
liegen unserer Sozialpolitik ist; denn von einer raschen
Reintegration in Arbeit bzw. einer frühzeitigen und
nachhaltigen Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit
durch Präventionsleistungen profitieren nicht nur die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern das ge-
samte Sozialsystem. Gerade in Zeiten eines beginnenden
Fachkräftemangels ist dieser Weg essenziell wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Fakt ist auch: Das Rehabilitationsbudget der Renten-
versicherung wird aufgrund des demografischen Wan-
dels und der Erhöhung des Renteneintrittsalters zuneh-
mend stärker ausgeschöpft. Für das Jahr 2011 stand der
Rentenversicherung ein Betrag in Höhe von 5,528 Mil-
liarden Euro für Leistungen zur Teilhabe zur Verfügung,
der aller Voraussicht nach auch ausgeschöpft worden ist.
Im Jahr 2012 wird das Rehabilitationbudget auf Basis
der geltenden Regelung vorläufig 5,678 Milliarden Euro
betragen. Dies bedeutet aber auch – ich sage dies, um die
Schwarzmalerei der Opposition ein wenig zu bremsen –,
dass der sogenannte Rehadeckel vor allem unter Berück-
sichtigung der aktuell zu verzeichnenden Lohnsteigerun-
gen noch nicht ganz erreicht bzw. überschritten ist.

Im Rahmen des sogenannten Rentendialogs sind wir
derzeit dabei – darauf haben meine Vorredner bereits
hingewiesen –, die Fortentwicklung des Rehadeckels zu
gestalten. Lieber Kollege Kurth, bei uns gilt das Prinzip
„Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. Wir haben in dieser
Legislaturperiode schon genug Sozialgesetze aus der rot-
grünen Zeit nachbessern müssen, was uns das Verfas-
sungsgericht aufgegeben hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschlechtert haben Sie die Situation!)


Sicherlich ist eine strukturelle Anpassung des Reha-
budgets aufgrund der demografischen Entwicklung so-
wie aufgrund der Regelaltersgrenze aus fachpolitischer
Sicht zu befürworten, da gerade in den nächsten Jahren
die geburtenstarken 1960er-Jahrgänge in das rehainten-
sive Alter von 45 bis 65 bzw. 67 Jahren kommen – Kol-
lege Weiß hat darauf bereits hingewiesen – und die
Regelaltersgrenze schrittweise richtigerweise auf 67 an-
gehoben wird. Diese beiden Faktoren waren bei der Ein-
führung und Festlegung des Rehabudgets Ende der 90er-
Jahre noch nicht gegeben. Sie wurden daher nicht expli-
zit berücksichtigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seien
Sie beruhigt. Wir von der christlich-liberalen Koalition
werden eine zufriedenstellende Regelung zur Deckung
eines möglichen temporären Mehrbedarfs selbstver-
ständlich unter Sicherung der Leistungsfähigkeit der ge-
setzlichen Rentenversicherung und vor allem – das
möchte ich besonders hervorheben – mit Blick auf die
gesetzlichen Beitragsziele im gemeinsamen Rentendia-
log erörtern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hin-
sichtlich der von Ihnen geforderten Weiterentwicklung
der Präventionsmaßnahmen möchte ich Sie gerne aus-
drücklich auf die Norm des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
SGB VI hinweisen. Demnach können seit dem 1. Januar
2009 „medizinische Leistungen … für Versicherte, die
eine besonders gesundheitsgefährdende, ihre Erwerbs-
fähigkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigung
ausüben“, zur Sicherung ihrer Erwerbsfähigkeit auch
ambulant durchgeführt werden. Die Deutsche Renten-
versicherung Bund, die Deutsche Rentenversicherung
Westfalen und die Deutsche Rentenversicherung Baden-
Württemberg haben diese gesetzliche Änderung bereits
zum Anlass genommen, das Rahmenkonzept „Betsi“ –
übersetzt heißt das: Beschäftigungsfähigkeit teilhabe-
orientiert sichern – zur Erprobung von Präventionsleis-
tungen zu entwickeln. Zielgruppe dieser Präventions-
leistungen sind Beschäftigte, bei denen erste, die
Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflussende gesundheitli-
che Beeinträchtigungen vorliegen, ohne dass bereits ein
Bedarf für medizinische Rehabilitationsleistungen be-
steht. Mit den Präventionsleistungen wird dabei das Ziel
verfolgt, die Beschäftigungsfähigkeit der Teilnehmer
frühzeitig und nachhaltig zu sichern. Die in diesem Rah-
men entwickelten Präventionsleistungen werden dem-
nächst von den beteiligten Rentenversicherungsträgern
in den Katalog der Regelleistungen aufgenommen. Des
Weiteren entwickeln viele andere Rentenversicherungs-
träger Konzepte für Präventionsleistungen für ihre Ver-
sicherten.

Sie sehen: Wir haben bereits gehandelt. Ihr dahin ge-
hender Antrag ist zwar gut gemeint, aber leider unnötig;
denn eine über § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI hinaus-
gehende gesetzgeberische Regelung für Präventionsleis-
tungen der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht
notwendig. Dennoch lade ich Sie, meinen Damen und
Herren von der SPD und von den übrigen Fraktionen in
diesem Hohen Hause, ganz herzlich ein, mit uns gemein-
sam im Ausschuss konstruktiv zu diskutieren


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie einmal etwas vor!)


und mit dafür Sorge zu tragen, dass ein Konzept zur Si-
cherung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Renten-
versicherung, das die veränderten Bedingungen berück-
sichtigt, auf den Weg gebracht wird.

Herr Kollege Kurth, die Notwendigkeit, den Rehade-
ckel fortzuentwickeln – in diesem Punkt kann ich Ihnen
recht geben –, ist hier von fast allen Parteien, Herr





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Birkwald, anerkannt worden. Wir werden gemeinsam
daran arbeiten. Der Applaus fast des ganzen Hauses für
den Kollegen Kurth hat gezeigt, dass wir uns gemeinsam
auf den Weg machen können.

Ich bedanke mich und lade Sie ein, mitzudiskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716224800

Kollege Lehrieder, ich würdige ausdrücklich, dass Sie

die Redezeit eingehalten haben.

Der Kollege Pascal Kober hat für die FDP-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1716224900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist in der Tat eine besondere Situation, wenn sich in
einer sozialpolitischen Debatte alle Fraktionen hier im
Bundestag einig sind. Wir sind uns alle darin einig, dass
Reha vor Rente geht. Wahrscheinlich sind wir uns auch
alle darin einig, dass Prävention noch besser als Rehabi-
litation ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, schon nicht mehr einig sind wir uns bei der Frage,
ob es einen Rehadeckel geben darf oder muss oder nicht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist das!)


Wir haben da eine ganz klare Position. Alle Rednerinnen
und Redner, die bisher zu diesem Thema gesprochen ha-
ben, haben betont: Aufgrund der Wirtschaftlichkeit, zu
der wir verpflichtet sind, wird es ohne einen Rehadeckel
nicht gehen. Auch der Bundesrechnungshof hat sich ent-
sprechend geäußert, dass wir im Bereich der Rehabilita-
tion auf Effizienz schauen müssen. Aber das sind ja The-
men, die Sie nicht so sehr interessieren.

Heute Morgen haben wir mit Ihnen über die Rente
diskutiert. Da haben Sie die Einführung einer solidari-
schen Mindestrente von 900 Euro gefordert. Sie haben
allerdings offen gelassen, wie Sie das finanzieren wol-
len. Genauso lassen Sie heute Abend offen, wie Sie es fi-
nanzieren wollen, bei der Reha keinen Deckel vorzuse-
hen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine andere Logik! Wir setzen bei den Interessen der Menschen an!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich habe
heute Morgen schon gesagt: Politik beginnt mit der Be-
trachtung der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört eben
auch, dass die finanziellen Ressourcen eines Sozialstaats
begrenzt sind. Sie müssen zunächst erwirtschaftet wer-
den. Wir schießen schon heute im Bereich der gesetzli-
chen Rentenversicherung 81 Milliarden Euro zu.

Jetzt können Sie sagen: Einige Millionen hin oder her,
das kann doch keine Rolle spielen. – Aber so einfach

dürfen wir es uns nicht machen. Wenn wir beim Thema
Haushaltskonsolidierung weiter voranschreiten wollen,
dann müssen wir jeden einzelnen Euro zweimal umdre-
hen. Deshalb ist es gut, dass wir uns als Regierungsko-
alition Zeit nehmen, hier eine Gesetzgebung auf den
Weg zu bringen, die nachhaltig ist und Bestand hat.

Peter Weiß hat darauf hingewiesen, dass wir im Be-
reich des Rentendialogs auch die Thematik der Rehabili-
tation angehen werden. Ich glaube, wir können alle zu-
versichtlich sein, dass wir, wie es auch in den vergangenen
zwei Jahren Kennzeichen dieser Regierungskoalition
war, ein sehr ordentliches Ergebnis werden präsentieren
können.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine Drohung! Dann machen Sie doch besser nichts!)


Darauf sollten Sie gespannt sein. Wir sind zuversicht-
lich, dass wir zumindest die Bürgerinnen und Bürger von
unserem Gesetz werden überzeugen können, wenn auch
vielleicht nicht Sie; aber die Menschen in unserem Land
gehen in dieser Frage immer vor.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber nicht, wenn es um die Reha geht, wie Sie eben erklärt haben!)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716225000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8602 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisen-
bahngesetzes

– Drucksache 17/8364 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/8787 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


(Unruhe)


– Ich wäre dankbar, wenn auf der Seite der FDP-Frak-
tion etwas Ruhe einkehren könnte, damit wir nach dem
Verlesen der Namen der Redner, die ihre Rede zu Proto-
koll geben, die Abstimmung durchführen können. – Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Ulrich Lange und Thomas Jarzombek für die Unions-
fraktion, Martin Burkert für die SPD-Fraktion, Patrick
Döring für die FDP-Fraktion, Sabine Leidig für die
Fraktion Die Linke und Dr. Valerie Wilms für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1716225100

Der Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung

des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG, enthält
grundlegende Neuerungen im Eisenbahngesetz. In ihm
werden sowohl EU-rechtliche Veränderungen eingear-
beitet als auch dessen zentrales Anliegen, die Sicherheit
und die Kontrolle der Sicherheit zu verbessern. Im Zen-
trum steht die Einführung der Herstellerverantwortung.

In der bisherigen Praxis wurden Fahrzeuge nur auf
Bestellung der Eisenbahnverkehrsunternehmen oder
Halter auf der Grundlage von Lasten und Pflichten der
Besteller, also der Betreiber, gebaut. Anschließend
wurde von den Betreibern die Zulassung bzw. Abnahme
des Fahrzeugs beantragt. Zwar können die Hersteller
auch heute schon die Genehmigung zur Inbetriebnahme
eines Fahrzeuges beantragen, im AEG sind aber die Si-
cherheitspflichten eindeutig den Eisenbahnverkehrs-
unternehmen und Haltern von Eisenbahnfahrzeugen zu-
gewiesen. Das ändern wir jetzt.

Wir geben den Herstellern von Bahnfahrzeugen im
Rahmen der Liberalisierung des europäischen Eisen-
bahnmarktes die Möglichkeit, eigenverantwortlich ohne
Beteiligung eines Betreibers Fahrzeuge zu erstellen und
die Genehmigung zur Inbetriebnahme zu beantragen.
Damit geben wir den Herstellern mehr Möglichkeiten
für eine bessere Positionierung am Markt. Auf der an-
deren Seite müssen die Produzenten aber auch mehr
Verantwortung für ihre Fahrzeuge übernehmen. Dies
entspricht den Regeln unserer Marktwirtschaft.

Mit der Gesetzesnovelle werden wir aber auch die
Grundlagen dafür schaffen, dass Genehmigungen für
Bahnfahrzeuge schneller als bisher erteilt werden
können. Die DB AG hat große Probleme, genügend
Fahrzeuge für den Personennah- und -fernverkehr zu
erhalten. Eine Ursache ist auch die lange Dauer von Ge-
nehmigungen und das Gezerre um Verantwortlichkeiten.

Diesem Umstand werden wir Rechnung tragen, in-
dem wir eine Ermächtigungsgrundlage schaffen werden,
durch die dem Eisenbahn-Bundesamt die Festlegung
von technischen Einzelheiten für Planung, Bemessung
und Konstruktion von Betriebsanlagen der Eisenbahnen
des Bundes übertragen werden kann.

Im Rahmen dieser Gesetzesänderung werden aber
auch EU-rechtliche Korrekturen vorgenommen, die auf-
grund des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Ver-
trags über die Europäische Union und des Vertrags zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft notwendig
wurden.

Der Entwurf des Fünften Gesetzes zum AEG ist insge-
samt ein sehr gutes und dringend benötigtes Gesetz. Un-
nötig finde ich die Verknüpfung des AEG in Bezug auf
den Schienenlärm mit dem Bundes-Immissionsschutzge-
setz, BImSchG, die aufgrund von Einwänden des Bun-

desrates eingefügt wurde. In der Novelle des 5. AEG
geht es primär um Sicherheitsaspekte. Aus meiner Sicht
ist das Thema Schienenlärm heute so wichtig, insbeson-
dere für die Akzeptanz des Güterschienenverkehrs durch
die Bevölkerung, dass wir ein gesondertes „Schienen-
lärmpaket“ im BImSchG schnüren sollten. Bundesver-
kehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat mit Bahnchef
Dr. Rüdiger Grube die Einführung eines lärmabhängi-
gen Trassenpreissystems mit dem Fahrplanwechsel
2012 vereinbart. Dies ist richtungsweisend für die Redu-
zierung des Schienenlärms in Deutschland.


Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1716225200

Bei der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Ver-

kehr, Bau und Stadtentwicklung gab es ein seltenes Bild
der Geschlossenheit: Einstimmig haben sich die Mitglie-
der dafür ausgesprochen, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung zur Änderung des Allgemeinen Eisen-
bahngesetzes anzunehmen. Auch der dazugehörige
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurde ein-
stimmig angenommen.

Dies zeigt: Die Novellierung des Allgemeinen Eisen-
bahngesetzes ist fachlich unumstritten; denn sie ist ein
weiterer wichtiger Schritt, um für mehr Qualität und Si-
cherheit im Bahnverkehr zu sorgen. Daher gilt der Bun-
desregierung unser Dank für die Vorlage dieser gelun-
genen Gesetzesänderung.

Uns allen sind sicher noch die technischen Probleme
bei den ICE-Zügen der DB AG und auch bei der Flotte
der Berliner S-Bahn in Erinnerung. Die Beseitigung die-
ser Mängel hat vor allem aufgrund des erheblichen Aus-
maßes einen enormen Arbeits- und damit Zeitaufwand
bedeutet. An mehreren hundert Fahrzeugen mussten
Bremsen repariert oder gar komplette Achsen ausge-
tauscht werden. Teilweise waren die zeitlichen Verzöge-
rungen bei der Beseitigung jedoch auch dem Umstand
geschuldet, dass die Haftungsfrage bei Zugmängeln im
Gesetz – wie sich gezeigt hat – leider nicht eindeutig ge-
nug geregelt war. So haben sich Bahn und Hersteller
monatelang gegenseitig die Zuständigkeit für die Pro-
bleme zugeschoben.

Nach der bisherigen Rechtslage ist es so: Die Sicher-
heitspflichten liegen aufseiten der Eisenbahnen und
Halter von Eisenbahnfahrzeugen. Die Hersteller können
allerdings die Genehmigung zur Inbetriebnahme eines
Fahrzeuges beantragen. Diese Aufteilung rührt noch
aus den früheren Abläufen her, die vor der Bahnprivati-
sierung und der damit einhergehenden Öffnung des
Wettbewerbes üblich waren. Damals wurden Fahrzeuge
nur auf Bestellung der Eisenbahnen oder Halter und auf
der Grundlage von Lasten- und Pflichtenheften der Be-
treiber gefertigt. Lediglich der Betreiber konnte die Zu-
lassung bzw. Abnahme eines Fahrzeuges beantragen.

Inzwischen dürfen allerdings Hersteller eigenverant-
wortlich, also ohne Beteiligung eines Betreibers, Fahr-
zeuge herstellen. Dies ist eine Folge der Liberalisierung
des europäischen Eisenbahnmarktes. Dadurch haben
die Hersteller mehr Möglichkeiten für eine bessere Posi-
tionierung am Markt erhalten. Insbesondere ist es ihnen





Thomas Jarzombek


(A) (C)



(D)(B)


nunmehr möglich, eine Genehmigung zur Inbetrieb-
nahme zu beantragen.

An diese veränderte Situation soll das Allgemeine Ei-
senbahngesetz jetzt angepasst werden. Wesentlicher In-
halt der Novellierung ist die Einführung der Hersteller-
verantwortung. So soll neben den Eisenbahnen und den
Haltern von Eisenbahnfahrzeugen nun auch den Her-
stellern die Verantwortung dafür zugewiesen werden,
dass Fahrzeuge den Anforderungen der öffentlichen Si-
cherheit an den Bau genügen. Maßgeblich ist dabei der
Zeitpunkt der Inbetriebnahme. Die Verantwortung be-
zieht sich somit nicht auf den Ablauf des Bauprozesses
an sich. Entscheidend ist vielmehr das fertiggestellte
Bauprodukt. Durch die Novellierung wird die Verant-
wortung eindeutig demjenigen zugewiesen, der den An-
trag auf Genehmigung stellt.

Zweiter Kernpunkt der Gesetzesänderung ist eine
Stärkung der Position des Eisenbahn-Bundesamtes. So
wird die Ermächtigungsgrundlage dafür geschaffen,
dem Eisenbahn-Bundesamt durch Rechtsverordnung die
Kompetenz für die Festlegung von technischen Einzel-
heiten für Planung, Bemessung und Konstruktion von
Betriebsanlagen zu übertragen.

Darüber hinaus sind in dem Gesetzentwurf einige re-
daktionelle Änderungen, insbesondere vor dem Hinter-
grund des Vertrages von Lissabon, sowie unstrittige
Klarstellungen enthalten. Mit dem Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen werden zudem Empfehlungen auf-
genommen, die der Bundesrat im Rahmen seiner Befas-
sung mit dem Gesetzentwurf beschlossen hat. Hierbei
geht es vor allem um eine Klarstellung, dass die Bahn-
unternehmen bei der Erstellung von Lärmkarten und
Lärmaktionsplänen mitzuwirken haben. Auch hinsicht-
lich dieses Änderungsantrages bestand im Verkehrsaus-
schuss – wie erwähnt – gestern Einvernehmen.

Die Gesetzesänderung ist also ein richtiger und wich-
tiger Schritt. Die Anpassung wird zu einer Verbesserung
von Sicherheit und Qualität im Bahnverkehr beitragen.
Im Interesse aller Bahnreisenden wünschen wir uns,
dass neues Zugmaterial künftig rascher zugelassen wer-
den kann und technische Probleme – die natürlich im-
mer auftreten können – ohne Streit über die Zuständig-
keitsfrage schneller behoben werden können.


Martin Burkert (SPD):
Rede ID: ID1716225300

Wir brauchen im Schienenverkehr leistungsstarke

Züge; denn störanfällige Züge, die aus dem Verkehr ge-
zogen werden müssen, führen zu Verspätungen und Är-
ger bei den Bahnkunden. Außerdem gilt es, die Herstel-
lungsprozesse zu beschleunigen. In Nürnberg warten
wir bei der S-Bahn beispielsweise seit eineinviertel Jah-
ren auf neue Triebwagen von Bombardier, die immer
noch nicht komplett ausgeliefert wurden.

Wir brauchen also mehr Sicherheit beim Betrieb der
Fahrzeuge und eine schnellere Beschaffung!

Die Voraussetzung dafür schafft eine Neuerung im
Allgemeinen Eisenbahngesetz: Zentrale und wesentliche
Änderung wird hier sein, dass eine Verantwortung der
Hersteller für Eisenbahnmaterial eingeführt werden

soll. Wenn man im juristischen Sinne von Verantwortung
spricht, dann geht es ganz konkret um Fragen der Haf-
tung. Wer muss also dafür geradestehen, wenn Materia-
lien im Eisenbahnverkehr mangelhaft sind und es da-
durch beispielsweise zu einem Unfall kommt?

Bei Verantwortung und Haftung geht es aber vor al-
lem auch um Sicherheit sowie die Kontrolle der Sicher-
heit.

Bisher war es so: Die Eisenbahnen waren verpflich-
tet, nicht nur den Betrieb sicher zu führen, sondern auch
Fahrzeuge und das Zubehör sicher zu bauen. Die DB
AG trug im Falle eines Falles die volle alleinige – öf-
fentlich-rechtliche – Sicherheitsverantwortung, da der
eigentliche Eisenbahnhersteller im juristischen Sinne le-
diglich ein sogenannter – privatrechtlicher – Erfül-
lungsgehilfe war. Die Krux dabei ist: Eine öffentlich-
rechtliche Sicherheitsverantwortung kann nicht vertrag-
lich auf den Hersteller verlagert werden.

Diese Regelung im AEG wird nun in Anpassung an
eine EU-Sicherheitsrichtlinie geändert: Das Eisenbahn-
unternehmen wird aus der Pflicht entlassen, vor der In-
betriebnahme eines Fahrzeugs eine Genehmigung bean-
tragen zu müssen und somit alleine die Haftung für
dieses Fahrzeug zu übernehmen.

Schwierigkeiten mit neuen Zügen gab es in der Ver-
gangenheit leider immer wieder, ob mit ausgefallenen
Klimaanlagen im Hochsommer oder nicht funktionie-
render Neigetechnik, zum Beispiel zwischen Berlin und
Nürnberg. Viele Konstruktionsmängel zeigen sich erst
im Betrieb.

Die Bundesregierung wollte aber bei der Bearbeitung
und Modifizierung des Gesetzes noch einen Schritt wei-
ter gehen und den Herstellern allein die Haftung über-
tragen. Diesen groben Unfug konnte die SPD zusammen
mit der Bahnindustrie zum Glück noch verhindern!
Denn die Folge wäre schlichtweg, dass kein Unterneh-
men in Deutschland mehr ein Angebot für den Bau eines
Zuges abgeben würde.

Die – im Übrigen einzig gangbare – Lösung, die ge-
funden wurde, sieht vor, dass die Eisenbahnen von der
alleinigen Verpflichtung befreit werden, Fahrzeuge und
Zubehör sicher zu bauen. Der entscheidende § 4 regelt
nun, dass es Eisenbahnen oder Halter sind, die die
Fahrzeuge und deren Zubehör in einem betriebssicheren
Zustand zu halten haben. Und so ist es auch richtig!
Denn so lange ein Fahrzeug auf der Schiene in Betrieb
ist, muss die Sicherheitsverantwortung dafür jederzeit
genau zugeordnet werden können.

Die Änderung im Allgemeinen Eisenbahngesetz war
aber nicht nur deshalb längst überfällig. Sie musste
auch angepasst werden, weil die Bahn schlichtweg kein
Eisenbahnmaterial mehr selbst herstellt. Die Regelung
stammt aus einer Zeit, als die Bahn noch nicht im Wett-
bewerb stand und somit am Markt automatisch selbst für
die Kontrolle verantwortlich war. Dies hat sich, wie wir
wissen, geändert. Wenn man sich also die Historie des
Gesetzes anschaut, ist eine Änderung des AEG grund-
sätzlich zu begrüßen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Martin Burkert


(A) (C)



(D)(B)


Zu begrüßen ist dies auch aus Gründen eines fairen
Wettbewerbes: Denn bislang war die DB AG bei der Be-
stellung eines Fahrzeuges auch für die Genehmigung
beim Eisenbahn-Bundesamt, EBA, verantwortlich. Mitt-
lerweile kann sie aber bei einem Hersteller ein Fahr-
zeug in Auftrag geben mit der Maßgabe, dass dieser
auch die Genehmigung einholen muss. Das heißt: Erst
durch die Entlassung der Eisenbahnunternehmen aus
der Genehmigungspflicht entsteht zum ersten Mal ein
fairer Wettbewerb zwischen Eisenbahnbesteller und -her-
steller. Denn nun können Hersteller in eigener Verant-
wortung und ohne Beteiligung der Betreiber Fahrzeuge
produzieren.

Allerdings sind im AEG noch einige Punkte offen, für
die vernünftige Lösungen gefunden werden müssen!

Das EBA soll mit der Änderung des AEG gestärkt
werden, um besser kontrollieren zu können, wer eine Ge-
nehmigung bekommt. Dann muss das EBA aber auch ge-
stärkt werden. Das heißt im Klartext: Es muss mehr Per-
sonal bewilligt werden.

Die Änderung des AEG bietet eine wichtige und
längst überfällige Regelung, um für eine schnellere Be-
schaffung von Zügen und einen sicheren Betrieb zu sor-
gen. Wichtig ist nur, dass die Rahmenbedingungen, wie
die personelle Ausstattung der Genehmigungsbehörden,
stimmen.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1716225400

In den vergangenen Jahren kam es im Bereich des

Eisenbahnverkehrs immer wieder zu gravierenden Qua-
litätsproblemen, häufig hervorgerufen durch technische
Mängel an den Fahrzeugen. In den daran anschließen-
den Diskussionen zeigte sich, dass die Frage der Verant-
wortlichkeitsbereiche von Fahrzeugherstellern einer-
seits und Eisenbahnverkehrsunternehmen andererseits
nicht befriedigend geklärt ist. Kern des uns vorliegen-
den Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG, ist somit die
Einführung der Herstellerverantwortung für den Be-
reich des Schienenverkehrs; ein Vorhaben, bei dem wir
als FDP-Fraktion die Bundesregierung ausdrücklich
unterstützen.

Bislang ist es so, dass die Hersteller zwar eine
Genehmigung zur Inbetriebnahme ihrer Eisenbahnfahr-
zeuge beantragen können, das Allgemeine Eisenbahn-
gesetz Sicherheitspflichten aber nur den Eisenbahnen
und den Haltern von Eisenbahnfahrzeugen zuweist. Mit
den angestrebten Änderungen des Gesetzes soll zukünf-
tig nun auch den Herstellern die Verantwortung dafür
zugewiesen werden, dass die von ihnen gelieferten Fahr-
zeuge den angegebenen Anforderungen und Einsatz-
bedingungen entsprechen, sodass sie von den Verkehrs-
unternehmen im Betrieb sicher eingesetzt werden
können. Diese Änderung sorgt zudem dafür, dass das
Allgemeine Eisenbahngesetz die bereits seit 2004 im
Eisenbahnsektor gültige Verantwortungsverteilung der
Europäischen Union widerspiegelt.

Darüber hinaus schafft der Gesetzentwurf eine
Ermächtigungsgrundlage, durch die dem Eisenbahn-

Bundesamt die Festlegung von technischen Einzelheiten
für Planung, Bemessung und Konstruktion von Betriebs-
anlagen der Eisenbahn des Bundes übertragen werden
kann.

Der vom Verkehrsausschuss des Deutschen Bundes-
tages einstimmig angenommene Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen greift die Stellungnahme des Bun-
desrates vom Oktober des vergangenen Jahres auf und
fügt sinnvolle Ergänzungen insbesondere bezüglich der
Lärmkartierung ein.

Zusammenfassend begrüßt die FDP-Bundestagsfrak-
tion die angestrebten Änderungen, speziell die Klarstel-
lung der Verantwortlichkeiten im Verhältnis zwischen
Hersteller und Bahnunternehmen. Zu versuchen, in
diese Novelle weitere gesetzliche Regelungen zu pres-
sen, wie etwa die von SPD geforderten Bestimmungen zu
Lenk- und Ruhezeiten, lehnen wir allerdings ab. Weder
sollten wir das AEG mit Einzelregelungen überfrachten,
noch ist es rechtssystematisch der richtige Regelungs-
kreis.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716225500

Vor gut einem Jahr hatten Verkehrsminister

Ramsauer und die Deutsche Bahn AG getönt, die Fahr-
zeugindustrie habe der Bahn „Schrott“ geliefert. Sie al-
lein oder zumindest sie in erster Linie sei haftbar für
nicht dauerfeste Achsen und für eine S-Bahn-Baureihe
in Berlin, die das zweimalige Winterchaos und einen
Dauer-Notfahrplan herbeigeführt hätten. Als sich dann
im April 2010 noch eine ICE-Tür bei hoher Geschwin-
digkeit löste, durch die Luft flog und sechs Menschen
verletzte, hieß es erneut wie bei einem Pawlowschen Re-
flex: Es handle sich hier um einen Konstruktionsfehler.

Inzwischen ist bei diesem Thema Besinnung einge-
kehrt. Wir wissen:

Bei der ICE-Tür gab es einen Wartungsfehler, den die
Bahn und nicht der Hersteller zu verantworten hat.

Die nicht dauerfesten Achsen wurden auch aufgrund
der Vorgaben der Deutschen Bahn AG, Gewicht zu spa-
ren, eingebaut. Gleichzeitig wurden die Ultraschallprü-
fungen bei diesen Radsatzwellen massiv „gespreizt“,
also reduziert.

Die S-Bahn in Berlin geriet nachweislich in die Krise
aufgrund der massiv reduzierten Wartungsintervalle,
wegen ausgebliebener Instandhaltung und weil drei
Werkstätten komplett geschlossen und das Wartungs-
und Instandhaltungspersonal mehr als halbiert wurde.
Die entscheidende S-Bahnbaureihe 481/482 funktio-
nierte seit ihrer ersten Auslieferung 1995 und bis 2005
weitgehend tadellos – was ja bei neuen Bahnfahrzeugen
heute nicht mehr die Regel ist. Zu den massiven Ausfäl-
len kam es genau dann, als das Programm OSB – „Op-
timierung S-Bahn“ – zu greifen begann, als also die In-
standhaltung derart massiv zurückgefahren wurde.

Damit soll die Bahnindustrie nicht komplett freige-
sprochen werden. Sie ist jedoch Bestandteil in einem
Gesamtsystem, das falschen Vorgaben folgt: niedrige
Preise, schnellere Entwicklung und hohe Gewinne bei

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


Herstellern und Deutsche Bahn AG. Richtig wären aber
stattdessen die Ziele Solidität, Zuverlässigkeit und Kun-
denkomfort!

Jetzt haben wir also den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, AEG,
vorliegen, der weitgehend einvernehmlich von Regie-
rung, Bundesrat, Deutscher Bahn AG und den Schienen-
fahrzeugherstellern getragen wird. Es liegt sogar ein
ebenfalls gemeinsam entwickeltes „Handbuch Eisen-
bahnfahrzeuge“, ein Leitfaden zur Herstellung und
Zulassung vor.

Mit alldem sind wir einverstanden und stimmen die-
sem Gesetzentwurf zu.

Wir würden es allerdings auch für eine angemessene
Geste halten, wenn der Bundesverkehrsminister in der
gleichen Öffentlichkeit, in der er die Bahnindustrie
– und damit ja auch die Kolleginnen und Kollegen in
dieser Branche – herabgesetzt hat, diesen falschen Ein-
druck geraderücken würde!

Nun möchte ich aber noch auf drei Probleme hinwei-
sen, die ich in diesem Zusammenhang sehe:

Erstens ein paar Worte zum „Ausweg“, wonach
– nach der Gesetzesnovellierung – die Bahnindustrie
selbst als Hersteller die Zulassung beantragen und so-
gar – ich zitiere – „als Halter in das Fahrzeugeinstel-
lungsregister eingetragen werden (kann), wenn zum
Zeitpunkt der Zulassung noch kein Abnehmer gefunden
wurde“; so die entsprechende Passage aus der Begrün-
dung der AEG-Änderung. Das heißt ja eigentlich, dass
die Schienenfahrzeugindustrie selbst als Eisenbahnver-
kehrsunternehmen auftreten kann. Ich wurde darauf auf-
merksam, weil in Italien der Autohersteller Ferrari im
Bündnis mit anderen privaten Unternehmern erste
Hochgeschwindigkeitsstrecken betreiben will.

Wir haben es ja in Deutschland bereits mit einer zu-
nehmend zerklüfteten Landschaft der Schienenverkehrs-
unternehmen zu tun. Im Fernverkehr soll im nächsten
Jahr mit locomore rail ein erster privater Anbieter aktiv
werden. Künftig könnten auch Siemens, Bombardier
oder Alstom selbst als Eisenbahnbetreiber auf den Plan
und ins Netz treten.

Wir sehen diese Entwicklung bekanntlich kritisch.
Wir treten für ein möglichst einheitliches Schienen-
verkehrsangebot mit durchgängigem integralem Takt-
fahrplan ein, bei dem Nah-, Regional- und Fernverkehr
vernetzt werden. Die Liberalisierungs- und Konkurrenz-
modelle stehen allerdings einer solchen Perspektive ent-
gegen.

Zweitens wird zwar dem Thema Sicherheit im Schie-
nenverkehr jetzt vom Gesetzgeber größere Beachtung
geschenkt. Das ist gut so. Doch wie sieht es in der Praxis
aus? Vor zwei Jahren war das Thema der nicht dauerfes-
ten ICE-Achsen in aller Munde. Nachdem die Deutsche
Bahn AG eineinhalb Jahre lang – nach dem Achsbruch
im Juli 2008 in Köln – geleugnet hatte, dass es da ein
Problem geben würde, gestand sie schließlich kleinlaut
ein, dass alle ICE-3-Achsen und die Achsen der ICE-

Dieseltriebfahrzeuge ausgetauscht werden müssten. Es
dauerte dann aber nochmals gut eineinhalb Jahre, bis
ab Herbst 2011 mit dem Austausch der Achsen begonnen
wurde. Dieser Austausch soll sich, so wird uns mit-
geteilt, noch bis ins Jahr 2014 hinziehen! Dass es
auch schneller gehen kann, zeigt das Beispiel der Berli-
ner S-Bahn, wo ein weitgehend kompletter Achsenaus-
tausch bei einem Großteil der S-Bahn-Fahrzeuge binnen
eines Jahres vollzogen wurde. Hier stellt sich die Frage,
ob es erst mehrere Unfälle und massiven Druck geben
muss, bis die Deutsche Bahn AG diesen elementaren
Sicherheitsanforderungen entspricht?

Drittens ist mit der Novellierung des AEG das Thema
Eisenbahnsicherheit auch für den Bundestag noch nicht
erledigt. Die wichtigste Frage bleibt, wie wir zu einer
überzeugenden und effizienten Überwachung des Schie-
nenverkehrs kommen können: In den vergangenen zehn
Jahren wurden beim Eisenbahn-Bundesamt 20 Prozent
Personal abgebaut, aber die Aufgaben sind ausgeweitet
worden. Dazu kommt, dass das EBA offenbar weit-
gehend den Weisungen aus dem Hause Ramsauer folgt.
Das jüngste und eklatanteste Beispiel dafür ist die Ge-
nehmigung des Tiefbahnhofes Stuttgart 21, wo die
Gleise ein Gefälle haben werden, das fünfmal größer ist,
als in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung zuge-
lassen. Kurz: Wir fordern, dass das EBA personell ge-
stärkt und zu einer wirklich unabhängigen Institution
wird, die diesbezüglich dem Bundesrechnungshof ver-
gleichbar sein könnte.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716225600

Zum vorliegenden Gesetzentwurf herrscht breites

Einvernehmen im Bundestag, nachdem die Koalition be-
reit war, die Änderungsvorschläge des Bundesrates auf-
zugreifen. Darüber freuen wir uns und stimmen deswe-
gen dem Gesetzentwurf zu. Das Gesetz schafft mehr
Klarheit und schreibt die Verantwortung der Hersteller
von Bahnfahrzeugen stärker fest. Es ist richtig, diejeni-
gen stärker in die Verantwortung zu ziehen, die die
Fahrzeuge konstruieren; denn die Hersteller kennen
sich am besten damit aus. Es ist vollkommen konse-
quent, den Herstellern eine stärkere Verantwortung für
die Sicherheit und Funktionstüchtigkeit zuzuweisen. Wir
können uns vor allem die Frage stellen, warum das bis-
her anders war. Mit dieser stärkeren Klarheit des Geset-
zes sollte es insgesamt zu Verbesserungen kommen, da
zivilrechtliche Auseinandersetzungen zwischen Herstel-
lern und Käufern von Bahnfahrzeugen zukünftig eher ver-
mieden werden. Fälle wie beim Talent 2, als etwa 100 neue
Züge über zwei Jahre nicht fahren durften und stumm
vor sich hin rosteten, können wir so hoffentlich stärker
ausschließen. Das ist im Interesse von Herstellern und
Eisenbahnbetreibern, aber natürlich auch von Kunden,
die so schneller neue Wagen nutzen können.

Wir begrüßen, dass die Koalition die Vorschläge des
Bundesrates übernommen hat. Im Bundesrat sah das ja
noch anders aus: Hier hatte Staatssekretär Ferlemann
noch die Aufnahme des Lärmschutzes zurückgewiesen.
Wenn die Lärmschutzkartierung und die kostenfreie Da-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


tenlieferung jetzt im Bundes-Immissionsschutzgesetz
verankert werden, können wir Grüne damit gut leben.

Einmütigkeit ist in diesem Haus ja eher ungewöhn-
lich. Beim Eisenbahngesetz war die Problematik sehr of-
fensichtlich, und deswegen müssen wir uns hierüber
nicht streiten. Streiten werden wir uns sicher bei anderen
Problemen, die noch ungelöst sind. Die heutige Geset-
zesänderung geht ja auf die gebrochenen Radachsen an
ICEs zurück. Wir alle kennen den Bericht, der noch viel
weiter gehende Vorschläge macht als der heutige Ge-
setzentwurf. Ich will nur an das Thema Fahrgastrechte
erinnern. Hier warte ich weiter auf einen von der Ver-
kehrsministerkonferenz geforderten Bericht. Der sollte
schon im Herbst vorliegen, und ich frage mich langsam,
welchen Stellenwert das Bundesverkehrsministerium
den Rechten der Fahrgäste eigentlich einräumt. Ich
hoffe, hier wird jetzt zügig nachgearbeitet.

Neben den Sicherheitsproblemen fragen viele Men-
schen aber auch, was wir Bundespolitiker tun, um den
Bahnverkehr leiser zu machen. Wir sind uns einig, dass
diese Problematik nicht unbedingt ins Eisenbahngesetz
gehört. Ich erwarte jetzt von der Bundesregierung kon-
krete Vorschläge, wann und wie der Schienenbonus fal-
len soll oder ob die Koalitionsfraktionen einen Antrag
dazu machen, weil ihre eigene Regierung nicht voran-
kommt. Wir können nicht auf den neuen Bundesver-
kehrswegeplan warten und bis dahin mit alten Grenz-
werten planen und den Leuten die Sachen vor die Nase
setzen. Wenn es so kommt, werden wir in 15 Jahren noch
nach alten Regeln spielen!

Auch bei der Konkretisierung lärmabhängiger Tras-
senpreise sollte die Bundesregierung jetzt mal voran-
kommen. Wann wird hier die Ressortabstimmung end-
lich beendet sein? Die zwischen Bundesregierung und
Bahn beschlossene Eckpunktevereinbarung zur Einfüh-
rung lärmabhängiger Trassenpreise vom Juli 2011 greift
zu kurz, da die leise Bremse – die LL-Sohle – noch nicht
zugelassen ist und die Umrüstkosten höher liegen. Zwar
sollen schon in diesem Jahr lärmabhängige Trassen-
preise eingeführt werden, aber erst 2021/2022 sollen die
Preise dann endlich auch spürbar steigen. Damit wird
ein zu geringer Anreiz gesetzt, und wir fordern die Bun-
desregierung auf, hier deutlich ambitionierter zu sein.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716225700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ver-

kehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/8787, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8364 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschen-
rechte in Deutschland schützen, respektieren
und gewährleisten

– Drucksachen 17/5390, 17/6929 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Volker Beck (Köln)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1716225800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir debattieren heute über einen Antrag der Linken, der
ein Bild der Menschenrechtslage zeichnet, das mit der
Realität wenig zu tun hat. Insofern kann ich Ihnen die
Kritik an Ihrem Antrag nicht ersparen.

Zu Beginn: Menschenrechtspolitik ist eine Quer-
schnittsaufgabe. Das heißt, sie spielt in allen Politikfel-
dern eine Rolle. Menschenrechte haben für uns eine
ganz besondere Bedeutung; denn sie haben in Deutsch-
land Verfassungsrang. Wir sind durch internationale
Konventionen und Verträge auch völkerrechtlich an die
Einhaltung der Menschenrechte gebunden. Ich möchte
ganz besonders das Engagement der Bundesregierung
hervorheben und vor allem Markus Löning, den Men-
schenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, für die
Akzente, die er bei seiner Arbeit setzt, loben. Er war ge-
rade erst in Guantánamo. Er hat sich also eines Themas
angenommen, das nach wie vor auf der Agenda steht.
Ich möchte ihm für sein Engagement ganz herzlich Dank
sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt zum Antrag der Linken. Ich habe bereits gesagt,
dass in ihm ein verzerrtes und verfälschendes Bild der
Menschenrechtssituation gezeichnet wird. Er enthält zu-
dem handwerkliche Fehler. Ich kann Ihnen nicht erspa-
ren, darauf hinzuweisen. Auf Seite 4 Ihres Antrags neh-
men Sie Bezug auf den Staatenbericht aus dem Jahre
2001. Dieser ist mittlerweile über zehn Jahre alt. Zu dem
Zeitpunkt, als Sie den Antrag geschrieben haben, lag be-
reits der Staatenbericht aus 2008 vor. Warum Sie ihn





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


nicht erwähnt haben, weiß niemand. Wahrscheinlich ha-
ben Sie ihn übersehen, oder der neue Bericht passte nicht
zu Ihrer Argumentation. Ich plädiere dafür, dass Sie zu-
künftig Anträge vorlegen, die auf aktuellen Informatio-
nen basieren; das wäre dann ein konstruktiver Diskus-
sionsbeitrag.

Da Sie den alten Bericht bevorzugt haben, stimmt Ihr
Referenzrahmen nicht. Sie weisen in Ihrem Antrag auf
Massenarbeitslosigkeit hin, obwohl wir heute glückli-
cherweise die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wie-
dervereinigung haben. Ich finde, das sollte man anerken-
nen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Manchmal frage ich mich, ob Sie aus Berlin nicht he-
rauskommen. Zumindest kommen Sie nicht oft nach
Bayern. Dort gibt es eine Arbeitslosenquote von 3,4 Pro-
zent. Insofern geht Ihr Antrag an der Wirklichkeit vor-
bei. Ich frage mich: Wie fühlt sich ein junger Spanier,
der einen Ausbildungsplatz sucht? Dort gibt es eine Ar-
beitslosenquote von fast 50 Prozent. Ich glaube, man
muss die Dimensionen zurechtrücken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich gibt es in Deutschland Bereiche, um die wir
uns besonders kümmern müssen. Ich denke an die Inte-
grationspolitik. Ich denke daran, dass es nach wie vor
Unterschiede bei den Einkommen von Männern und
Frauen gibt und dass Kinder in armen, auch bildungs-
armen Verhältnissen groß werden. Es gibt auch großen
Umsetzungsbedarf bei der UN-Behindertenrechtskon-
vention.


(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Dazu gibt es in den Landtagen erste Beschlüsse. Sie aber
blenden die Realität aus und greifen einzelne Punkte aus
verschiedenen Themenbereichen auf. Das ergibt ein sehr
verzerrtes Bild. Sie vergessen dabei auch, dass viele
Aufgaben nicht allein in der Hand der Politik bzw. des
Gesetzgebers liegen, sondern dass wir alle gefordert
sind. Auch das gehört zur Debatte.

Ich komme zum Forderungsteil. In Ihrem Antrag sind
Forderungen aufgeführt, die keine finanzielle Hinterle-
gung haben und keine Gesetzentwürfe implizieren. Da-
her frage ich mich: Wie ernst meinen Sie es mit Ihrem
Antrag, wenn Sie die Mittel, die Sie fordern, nicht klar
benennen? Man sollte die Realität zur Kenntnis nehmen.
Im Titel Ihres Antrags ist von Anspruch und Wirklich-
keit der Menschenrechtspolitik die Rede. Ich muss sa-
gen: Sie sind zumindest meinem Anspruch nicht gerecht
geworden und der Wirklichkeit auch nicht.


(Beifall der Abg. Pascal Kober [FDP] und Michael Brand [CDU/CSU])


Ganz zum Schluss möchte ich einige Bereiche exem-
plarisch herausgreifen; denn wir können in dieser De-
batte natürlich nicht alle Politikfelder behandeln. Sie kri-
tisieren in Ihrem Antrag, dass wir die Yogyakarta-

Prinzipien nicht umsetzen. Dabei hat die schwarz-gelbe
Regierung in diesem Bereich sehr viel erreicht.

Erstens. Wir haben die homosexuellen Lebenspartner-
schaften bei der Erbschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer,
beim BAföG und beim Beamten-, Richter- und Solda-
tenrecht mit der Ehe gleichgestellt.

Zweitens. Im Jahr 2011 haben wir endlich die
Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg gebracht, um
durch Bildung und Forschung der Diskriminierung von
Homosexuellen entgegenzuwirken.

Drittens. Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit
erstmals ein verbindliches Menschenrechtskonzept. Die
aktuelle Meldung aus Uganda, dass der Gesetzentwurf,
der die Todesstrafe für Homosexuelle vorsieht, erneut
eingebracht worden ist, belegt, dass dieses Konzept not-
wendig war und richtig ist.

Es gibt Bereiche, um die wir uns besonders kümmern
müssen. Man sollte aber auf der Grundlage von Berich-
ten arbeiten, die der Bedeutung der Debatte gerecht wer-
den. Davon gibt es eine ganze Reihe. Auch verschiedene
NGOs haben umfassende Berichte zur Menschenrechts-
lage in Deutschland vorgelegt. Diese sind für uns eine
wichtige Informationsquelle. Unsere Aufgabe ist, die Si-
tuation ständig zu überprüfen und zu verbessern. Daran
arbeitet die Bundesregierung, und diesen Weg werden
wir konsequent weitergehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716225900

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1716226000

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! „Zur Arbeit für die Menschenrechte gehört das
Fegen vor der eigenen Tür“, hat Willy Brandt im
Jahre 1987 gesagt. Ich denke, er hatte recht, als er das so
formuliert hat. Die Menschenrechte sind in der Verfas-
sung der Bundesrepublik Deutschland fest verankert.
Doch wie sauber haben wir vor unserer Tür gefegt, und
wie erfolgreich sind die Menschenrechte in der Bundes-
republik Deutschland umgesetzt? Diese Frage zu beant-
worten, ist unter anderem Aufgabe des Ausschusses für
Menschenrechte in diesem Parlament, der sich nicht nur
mit den Menschenrechten in den auswärtigen Beziehun-
gen beschäftigt, sondern auch die Situation in der Bun-
desrepublik Deutschland im Fokus hat.

Der Antrag der Linksfraktion, über den wir heute
Abend diskutieren, enthält ein Sammelsurium von The-
men, die eher die WSK-Rechte betreffen. Die Bundesre-
gierung wird darin aufgefordert, die Menschenrechte zu
schützen. Daran ist an sich nichts Schlechtes. Aber ich
denke, der Antrag ist irreführend. Er ist definitiv nicht
der große Wurf.





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)



(Marina Schuster [FDP]: Ja, genau! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Das ist aber außerordentlich freundlich ausgedrückt!)


Ich muss sagen: Ich empfinde ihn als ziemlich lieblos
zusammengeschustert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Pascal Kober [FDP]: So geht es uns auch!)


Ich habe das Gefühl, hier wurden Texte verwertet, die
schon in anderen Anträgen zu lesen waren.


(Pascal Kober [FDP]: Ja! Das sieht auf den ersten Blick tatsächlich so aus!)


Ich habe zwar keine Textexegese betrieben, aber es liest
sich so.

Sie beschreiben Deutschland in Ihrem Antrag als ein
düsteres, ganz hinterwäldlerisches Entwicklungsland in
Sachen Umsetzung der Menschenrechte, vergleichbar
mit den Ländern, in die wir hin und wieder reisen, um im
Dialog mit den dortigen Regierungen die Einhaltung der
Menschenrechte einzufordern. Ohne überheblich wir-
ken zu wollen – und bei aller Sympathie für einen enga-
gierten Kampf für menschenrechtliche Belange –, muss
ich feststellen: Der Antrag atmet eine falsche, sehr sub-
jektive Betrachtungs- und Herangehensweise. Er be-
schreibt die Realität in Deutschland nur unter pessimisti-
schen Vorzeichen, und – Frau Schuster hat es schon
gesagt – er bezieht sich definitiv auf den Staatenbericht
aus dem Jahre 2001, obwohl der entsprechende Bericht
aus dem Jahre 2008 vorliegt. Wer so arbeitet, arbeitet
nicht reell.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Manfred Grund [CDU/CSU]: So kennen wir sie, die Linken! – Michael Brand [CDU/CSU]: Die wollen wohl die DDR zurück!)


In den Berichten internationaler Organisationen wird die
gegenwärtige Situation in Deutschland jedenfalls nicht
generell so negativ eingeschätzt, wie Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, es in Ihrem Antrag tun.

Natürlich brauchen wir eine menschenwürdige Exis-
tenzgrundlage für sozial Schwache. Es gibt zu viele
Menschen, die – verschuldet oder unverschuldet – unter
menschenunwürdigen Bedingungen leben. Ich gebe Ih-
nen recht: Altersarmut ist ein ernsthaftes Problem. Die
Anmerkung sei aber erlaubt: Das Nichtvorhandensein ei-
nes bedingungslosen Grundeinkommens ist beileibe
noch keine Menschenrechtsverletzung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja auch nicht unsere Position!)


Auf der anderen Seite ist richtig: Es gibt Defizite bei
den Menschenrechten – auch in Deutschland. Ein ganz-
heitlicher Ansatz bedeutet, besonders diejenigen zu
schützen, die am häufigsten von Benachteiligungen be-
troffen sind. Das sind Frauen, Menschen mit Migrations-
hintergrund, Alte, Jugendliche und vor allem Menschen
mit Handicap. Hier geht es zum Beispiel um Gewalt ge-

gen Frauen, Lohndiskriminierung, das fehlende kommu-
nale Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer und die Aus-
grenzung Älterer vom Arbeitsmarkt. Auch Transgender,
worüber wir in diesem Hohen Hause vor Kurzem eine
Debatte geführt haben, in der ich die Position der SPD
dazu dargelegt habe, ist ein solcher Punkt. In vielen Be-
reichen sind zudem Behinderte nicht genügend inklu-
diert.

Auch im Bereich der Flüchtlingspolitik gibt es defini-
tiv noch Verbesserungsbedarf. Die Abschiebung von
Flüchtlingen, die zum Beispiel aus Syrien kommen und
bei denen die Gefahr besteht, dass sie von dort aus wie-
der nach Syrien abgeschoben werden, ist nicht hinnehm-
bar.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Serkan Tören [FDP]: Passiert doch gar nicht!)


Unsere Aufgabe ist es, benachteiligten Menschen die
Möglichkeit zu geben, ihre legitimen Ansprüche einzu-
fordern.

Ich bin völlig bei Ihnen, wenn Sie einen aktiven
Kampf gegen den latenten und sichtbaren Rassismus
einfordern. Initiativen gegen Rechtsextremismus fehlt es
seit dieser schwarz-gelben Regierung an der Finanzie-
rung. Das haben wir heute früh ausführlich besprochen.


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht wahr! – Michael Brand [CDU/CSU]: Stimmt doch nicht! Jetzt nicht links blind werden!)


Ich hoffe, dass die Erkenntnis über die Täterschaft bei
den grausamen Morden an türkischstämmigen Mitbürge-
rinnen und Mitbürgern bei Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, einen nachhaltigen Umden-
kungsprozess in Gang gesetzt hat.


(Beifall bei der SPD)


Kommen wir zum Thema „Konventionen und Proto-
kolle“. Das für die Antidiskriminierungspolitik zentrale
12. Protokoll der EMRK sollte schnellstens von
Deutschland ratifiziert werden; da gebe ich Ihnen recht.
Das gilt ebenso für das ILO-Übereinkommen 169, das
die Rechte indigener Völker betrifft. Darüber haben wir
uns erst gestern im Ausschuss unterhalten. Ich denke,
hier gibt es eine ganze Reihe von Punkten, die man in
diesem Zusammenhang erwähnen könnte, zum Beispiel
die vollkommen unzureichende Umsetzung der Behin-
dertenrechtskonvention – das erkenne ich, wenn ich
mich mit behinderten Menschen unterhalte – und den
viel zu spät vorgelegten Nationalen Aktionsplan der Re-
gierung dazu. Ich denke, um behinderten Menschen eine
gleichberechtigte Teilhabe am Leben zu ermöglichen,
wäre hier mehr nötig gewesen.


(Beifall bei der SPD)


Erfreulich ist aber, dass die Bundesfamilienministerin
in diesen Tagen endlich das Zusatzprotokoll zur UN-
Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat. Auf die Not-
wendigkeit hat die SPD bereits im vergangenen Jahr hin-
gewiesen. Im Flüchtlingsbereich besteht aber noch im-





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


mer dringender Handlungsbedarf. Wenn ich auf die
Politik schaue, dann habe ich noch immer das Gefühl,
dass das Ausländerrecht über der UN-Kinderrechtskon-
vention steht.

Ich denke, auch auf formaler Ebene muss die Bundes-
regierung noch weitere dringende Schritte unternehmen.
Wie lange muss denn noch über die Ratifizierung des
Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt über ein Indivi-
dualbeschwerdeverfahren beraten werden? Wenn je-
mand nicht selbst die notwendigen weiteren Schritte ein-
leitet, also vor der eigenen Haustür ordentlich fegt, dann
fehlt es ihm an Glaubwürdigkeit. Ich denke, an dieser
Glaubwürdigkeit sollten wir alle arbeiten.


(Beifall bei der SPD)


Fest steht: Wir müssen an einer bestmöglichen Um-
setzung der Einhaltung der Menschenrechte für die in
unserem Land lebenden Menschen festhalten, also vor
der eigenen Türe gründlich fegen. Das müssen wir tun,
auch wenn wir uns über einen Antrag wie den, den wir
heute behandeln, ein bisschen ärgern, weil er den Tatsa-
chen nicht gerecht wird und die falschen Schwerpunkte
setzt. Aber so ist das Leben.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Marina Schuster [FDP])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716226100

Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1716226200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorlie-
gende fünfseitige Antrag leitet mit einem wunderbaren
Zitat ein:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung al-
ler staatlichen Gewalt.

Völlig richtig: Das ist in Art. 1 des Grundgesetzes fest-
gehalten.

Aber damit endet das Positive dieses Antrages auch
schon. Denn anschließend zeichnen Sie ein Bild von
Deutschland, das von Menschenrechtsverletzungen ge-
genüber Migranten, Behinderten, Kindern, Alten und
aufgrund sexueller Orientierung und von fehlenden so-
zialen Rechten geprägt ist. So war es vielleicht in der
DDR, aber so ist es in der Bundesrepublik Deutschland
von Anfang an nicht gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Antrag ist meine sechs Minuten Redezeit nicht
wert. Ich werde sie nicht ausschöpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist ein kluger Spruch!)


Das Stichwort „Massenarbeitslosigkeit“ ist schon an-
gesprochen worden. In welchem Land leben Sie? Gehen
Sie mit verbundenen Augen durchs Land? Sehen Sie,
dass sich Arbeitslosenströme zu den Suppenküchen wäl-
zen? Ich sehe das nicht.


(Katrin Werner [DIE LINKE]: Dann gehen Sie mal dahin! Das kann ich Ihnen empfehlen!)


Wir haben eine so niedrige Arbeitslosenquote wie seit
Jahrzehnten nicht mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit Sicherheit gibt es auch in unserem Lande Dinge,
die wir verbessern können und sollten. Aber das alles
fällt nicht unter den Begriff „Menschenrechtsverletzun-
gen“; es sind Punkte, die den sozialen und menschlichen
Bereich betreffen. Wir sind sicherlich kein perfektes
Land – die eine oder andere Verbesserung wünschte ich
mir auch –, aber man kann nicht sagen, dass in diesem
Land Menschenrechte verletzt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Blick auf den Globus zeigt, dass Deutschland zu den
wenigen Ländern gehört, in denen die Menschen ihre
Würde bewahren können und Menschenrechte einen
Stellenwert haben. Hier sind die Menschenrechte nicht
nur ein Lippenbekenntnis.

Frau Kollegin Graf, Sie haben vieles angemerkt, was
wir als Regierungskoalition noch machen könnten. Aber
auch die rot-grüne Regierungskoalition hätte einiges ma-
chen können.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Sie sind fast drei Jahre an der Regierung! So ist es ja nicht!)


Dennoch sage ich: Alle Regierungen, auch die Ihrige,
hat Menschenrechtspolitik betrieben.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja! Alles, was ihr könnt, können wir viel schlechter! Das ist das Motto der Regierung!)


Die jetzige schwarz-gelbe Koalition macht eine hervor-
ragende Menschenrechtspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist uns ein Anliegen. Wir machen das nicht halbher-
zig.

Aber alles hat seine guten Seiten. Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, auch Ihr An-
trag muss nicht im Papierkorb landen.


(Katrin Werner [DIE LINKE]: Sondern?)


Er kann eine segensreiche Wirkung entfalten. Fahren Sie
nach Kuba! Bringen Sie ihn Fidel Castro, und sagen Sie
ihm, er solle all das umsetzen!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716226300

Das Wort hat die Kollegin Katrin Werner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716226400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Wir reden heute über die Menschenrechte in
Deutschland zwischen Anspruch und Wirklichkeit, auch
wenn es einigen von Ihnen nicht passt, weil Sie meinen,
es gehe uns prächtig und wir hätten keinen Grund zum
Jammern,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Nein! Weil Sie ein Zerrbild zeichnen! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Wir reden über Menschenrechte!)


unsere Wirtschaft brumme, der Aufschwung sei da, die
Arbeitslosigkeit sinke und Deutschland sei eine Wohl-
standsinsel mitten im krisengeschüttelten Europa.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Genauso ist es!)


Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Etwa 12 Millio-
nen Menschen gelten als armutsgefährdet.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist das!)


Das entspricht etwa jedem siebten Menschen. Dies geht
aus dem Armutsbericht 2011 hervor, den der Paritätische
Wohlfahrtsverband in Berlin vorstellte.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das Thema sind die Menschenrechte!)


Laut Bertelsmann-Stiftung wachsen in Deutschland fast
20 Prozent aller Kinder in Armut auf und gelten als ar-
mutsgefährdet. Das ist jedes fünfte Kind. Allein in mei-
ner Heimatstadt Trier leben 21 Prozent der Kinder unter
drei Jahren in Armut.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das liegt vielleicht daran, dass es die Geburtsstadt von Karl Marx ist!)


In Pirmasens, 130 Kilometer von Trier entfernt, sind es
37 Prozent.

Die Ursache von Kinderarmut ist meist die Einkom-
mensarmut der Eltern. Besonders schwer trifft es Allein-
erziehende und Frauen. Wer von seiner Hände Arbeit die
eigene Familie nicht ernähren kann, wer von Hartz IV
leben muss, dem bleibt kein Geld für Bildung oder Frei-
zeit. Obwohl sich die meisten aller Eltern mit all ihrer
Kraft und Liebe um ihre Kinder kümmern, müssen sie
ihnen oft – und zwar sehr oft – sagen: Das können wir
uns nicht leisten. Sie können ihren Kindern nur ge-
brauchte Kleider kaufen. An der Klassenfahrt kann der
Sohn nicht teilnehmen. An Musikunterricht für die
Tochter ist nicht zu denken, und Urlaub kommt schon
gar nicht infrage.


(Patrick Döring [FDP]: Ein Zerrbild der Gesellschaft! Unfassbar! – Pascal Kober [FDP]: Das wird doch in der Bildungsinitiative der Bundesregierung berücksichtigt!)


Verstehen Sie das unter einem würdevollen Leben für
Kinder? Was tun Sie damit den Eltern dieser Kinder an?

Kinder aus Hartz-IV-Familien – das weiß inzwischen
jeder – sind schlechter ernährt. Fest steht auch, dass ihre
Bildungschancen deutlich schlechter sind. Oft wird Kin-
derarmut in Deutschland in Familien von Generation zu
Generation weitergereicht. Auf Kinderarmut folgt meist
Jugendarmut, und dann kommt, wenn überhaupt, eine
prekäre Beschäftigung. Damit ist dann auch Armut im
Alter vorprogrammiert. Das alles widerspricht der
Würde von Kindern zutiefst.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Ein Zerrbild der Gesellschaft! Sie sind zu oft auf Dienstreise in Nordkorea gewesen!)


Für Linke gehören Kinderrechte ins Grundgesetz. Sie
müssen unantastbar sein.

Viele Menschen sind trotz Arbeit arm. Es gibt Kü-
chenhilfen in Trier, die knapp 5 Euro pro Stunde bekom-
men. Überstunden werden mit einer Gratispizza und
Bier entgolten. Wie soll man damit eine Familie ernäh-
ren?


(Patrick Döring [FDP]: Weniger Dienstreisen nach Nordkorea! Mehr in den Wahlkreis!)


Über 1 000 Menschen müssen in Trier pro Woche zur
Tafel gehen. Gehen Sie einfach einmal zu einer Tafel
und sehen Sie sich die Menschen an, die oft unverschul-
det in die Armutsfalle geraten sind und sich für vier Äp-
fel, drei Bananen und vielleicht eine Zitrone in einer lan-
gen Schlange anstellen müssen. Alle Achtung vor den
freiwilligen Helfern der Tafel! Aber dass wir Tafeln in
Deutschland überhaupt brauchen, das ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Ist das ein würdevolles Leben? Die Linke sagt: Leih-
arbeit, unsichere Beschäftigung und Armutslöhne verlet-
zen die Würde von Millionen Menschen in Deutschland.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben Millionen Menschen eingesperrt!)


Die Linke sagt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von
10 Euro pro Stunde ist nötig.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wissen Sie, was die Menschen in der DDR verdient haben, im freiesten Land der Erde?)


Wir brauchen den Mindestlohn, um die Würde der Men-
schen durchzusetzen. Ohne Mindestlohn gibt es keine
sozial gerechte Teilhabe in der Gesellschaft.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Solch eine Propaganda!)


Was ist außerdem mit der Würde von Migrantinnen
und Migranten?





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das müssen Sie aus der DDR gerade sagen!)


Über 7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund
haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Nicht-EU-
Ausländer dürfen selbst auf kommunaler Ebene nicht
wählen, obwohl sie ihre Steuern hier zahlen. Das ist ein
Schlag gegen unsere Demokratie. Die Linke fordert: Er-
leichtern Sie endlich die Einbürgerung, und lassen Sie
dabei mehrfache Staatsangehörigkeiten zu! Demokratie
braucht politische Mitbestimmung. Menschenrechte sind
unteilbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert: Soziale Grundrechte gehören ins
Grundgesetz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716226500

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Tom Koenigs das Wort.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716226600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Werner, ein solcher Rundumschlag nützt
nichts. Man könnte viel präziser sein. Die internationa-
len Gremien und Vertragsorgane geben Deutschland
nämlich sehr präzise Ratschläge, wie man den Men-
schenrechtsschutz verbessern kann. Das Problem ist nur,
dass sich die Bundesregierung beratungsresistent zeigt.
Zugleich gibt man sich betroffen, wenn andere Regie-
rungen ebenso stur auf Kritik in Menschenrechtsbelan-
gen nicht reagieren.

Da, wo es starke Menschenrechtsinstitutionen gibt,
verbessert sich in der Regel die Menschenrechtslage.
Das hat auch die Bundesregierung in ihrem letzten Men-
schenrechtsbericht festgestellt. Trotzdem haben solche
Institutionen des Menschenrechtsschutzes in Deutsch-
land einen schweren Stand. Ich erinnere an die Bun-
desstelle zur Verhütung von Folter, die nach Vorgabe der
internationalen Anti-Folter-Konvention, CAT, mehr als
300 Gefängnisse und Haftanstalten überprüfen soll.
Diese Aufgabe soll sie allerdings mit drei Mitarbeitern
erfüllen. Das kann nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zugleich hat der Anti-Folter-Ausschuss des UN-Men-
schenrechtsrates im November 2011 kritisiert, dass die
Bundesregierung ihren Bericht zur Einhaltung der Anti-
Folter-Konvention zwei Jahre zu spät eingereicht hat.
Das muss auch nicht sein. Wie soll das ein Beobachter
zum Beispiel aus China anders interpretieren, als dass
die Umsetzung des Folterverbots die Deutschen nicht in-
teressiert?

Ein anderes Beispiel ist die schleppende Umsetzung
der internationalen Menschenrechtsabkommen in
Deutschland. Dabei geht es nicht nur um das Fakultativ-
protokoll zum Sozialpakt, über das wir im Plenum und

im Ausschuss schon einige Male diskutiert haben. Auch
das Zusatzprotokoll des UN-Kinderrechtsprotokolls zur
Individualbeschwerde – endlich unterzeichnet –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


ist noch nicht ratifiziert. Ebenfalls nicht umgesetzt oder
unterzeichnet – Frau Graf hat das schon gesagt – sind die
ILO-Konvention 169 zur Stärkung der Rechte indigener
Völker in aller Welt, die UN-Konvention gegen Korrup-
tion, die Internationale Konvention zum Schutz der
Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehöri-
gen und das Internationale Übereinkommen zum Schutz
aller Personen vor dem Verschwindenlassen.

Seit 30 Jahren wird geprüft, ob das Protokoll Nr. 7 zur
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten des Europarats nun endlich unterzeich-
net werden kann oder vielleicht doch nicht. In diesem
Protokoll geht es um das Recht, wegen derselben Sache
nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu wer-
den, und andere Grundsätze eines fairen Verfahrens. Was
hindert eigentlich Deutschland seit Jahrzehnten an der
Ratifizierung? Warum diese unwürdige Zurückhaltung?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland muss diese Abkommen und Protokolle
nicht nur deswegen unterzeichnen, weil sie Missstände
hier beheben sollen, wir müssen vielmehr in unserer
Menschenrechtspolitik vorbildlich sein – das sagen Sie
immer wieder –, um gegenüber anderen Regierungen
glaubwürdig zu sein. Wenn wir unsere eigenen Men-
schenrechtsinstitutionen schwach halten, ohne Not,
wenn wir internationale Abkommen aus opportunisti-
schen Gründen nicht unterzeichnen, ohne Not, dann
wenden wir eben Double Standards, doppelte Standards,
an und entwerten damit Deutschlands Engagement für
die Menschenrechte, auf das wir so stolz sind.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716226700

Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1716226800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Was ist dem noch hinzuzufügen? Es ist von
verschiedenen Seiten sehr deutlich gemacht worden, um
was es eigentlich in dem Antrag der Linken geht. An-
spruch und Wirklichkeit klaffen hier auseinander. Wenn
man die Wirklichkeit darstellen will, dann muss man sie
auch realistisch darstellen. Überhöhungen, Verzerrungen
der menschenrechtlichen Lage in Deutschland oder ver-
nichtende Kritik sind fehl am Platz. Einer meiner Vor-
redner hat gesagt, Deutschland werde wie ein kleiner
Staat irgendwo am Rande behandelt.





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Das trifft die Situation nicht. Ihr Antrag beginnt mit
einigen Zeilen – Frau Steinbach, Sie hatten darauf ver-
wiesen –, die wir alle unterschreiben würden; sie stehen
aber im Gegensatz zu Ihrer folgenden Darstellung der
Wirklichkeit. Durch Ihre Einleitung wird deutlich, dass
die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist. Das Grundgesetz
ist die Grundlage, und zwar eine gute Grundlage, unse-
res Staates. Dann aber reden Sie davon, als würden wir
in Sachen Menschenrechte, um einen Vergleich mit dem
Fußball herzustellen, in der Kreisklasse spielen. Wir
spielen aber zumindest in der Bundesliga oder sogar in
der Champions League. So bewerten es zumindest an-
dere Staaten.

Wir sind vielleicht nicht auf Platz 1, 2 oder 3, und
deshalb lassen wir uns gerne kritisieren. Ich danke Ih-
nen, Herr Koenigs, dass Sie das klargestellt haben.
Letztlich ist dieser Antrag in sich selbst nicht schlüssig,
weil er ein vernichtendes Urteil fällt, das nicht zutref-
fend ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Kein Wunder, wenn man sieht, von wem der Antrag kommt!)


Sie suggerieren, dass Deutschland einen bestimmten
Status habe, der so aber weder innerhalb des Landes
noch außerhalb des Landes wahrgenommen wird.

Heute Morgen gab es eine kleine Konferenz im Aus-
wärtigen Amt. Auf dieser Konferenz wurde sehr deut-
lich, wie die Bewertung der Menschenrechtslage in
Deutschland ausfällt. Sie aber listen wahllos – Kollegen
haben das als Sammelsurium bezeichnet – Menschen-
rechtsverletzungen auf. Wir wissen um diese Dinge, weil
wir die entsprechenden Berichte gelesen haben. Wir be-
greifen sie als Aufforderung, die Menschenrechtslage zu
verbessern, so wie ein Fußballverein, um im Bild zu
bleiben, der auf Platz 5 der Bundesliga steht, sich natür-
lich verbessern will. Das, was Sie kritisiert haben, neh-
men wir als Auftrag.

Ich leugne nicht, dass es diese Fälle gibt. Ich frage
aber erneut: Wo bleibt das Maß – Frau Schuster hat ge-
fragt: Wo bleibt die Dimension? – bei der Diskussion,
die wir heute führen. Sie malen ein Bild, das nichts, aber
auch gar nichts mit den Realitäten in der Bundesrepublik
Deutschland im Jahr 2012 zu tun hat.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ein ideologisches Zerrbild!)


Ich sage noch einmal: Ich weiß um die Dinge. Wir ha-
ben die Berichte gelesen. Sie offensichtlich nicht, weil
Sie einige der Situationen in Ihrem Antrag gar nicht auf-
gegriffen haben. Uns erscheint die Forderung absurd,
das Grundgesetz mit der Einfügung einer Reihe von Ein-
zelrechten künstlich aufzublähen. Das Grundgesetz ist
eben die Grundlage auch für die Ratifizierung des Pakts
über die WSK-Rechte, die ja bereits 1973 erfolgt ist.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716226900

Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung der Kollegin Alpers?


(Michael Brand [CDU/CSU]: Da will sich jemand entschuldigen!)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1716227000

Bitte.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716227100

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Sie haben ge-

rade gesagt, das, was wir gemacht haben, habe keinen
Bezug zur Realität.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Werder Bremen steht auf Platz 5 der Bundesligatabelle.
Sie haben recht: Auch wir Bremer und Bremerinnen
möchten besser werden. Wir haben sehr genau hinge-
schaut, wo wir stehen. Als Bildungspolitikerin sage ich,
und dabei bleibe ich: Bildung ist ein Menschenrecht.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Da sind die Bremer aber besonders schlecht dran, bei den Menschenrechten!)


Gemäß UN-Konvention soll die Rate der Analphabeten
weltweit halbiert werden. Wir haben in Deutschland
7,5 Millionen strukturelle Analphabeten. Wir haben
1,5 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und
29 ohne Berufsausbildung.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das liegt alles am Staat, oder?)


Wir könnten morgen früh über 2 Millionen jungen Men-
schen eine Ausbildung ermöglichen. Das ist eines von
vielen Beispielen.

Ich möchte uns jetzt nicht mit der Dritten Welt ver-
gleichen. Wir sind hier in der ersten Welt.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Eine Welt! Diskriminierung!)


Ich finde, wir sollten uns genau anschauen, wo wir sel-
ber stehen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Es gibt nur eine Welt, habe ich immer gedacht! Was für ein reaktionäres Gedankengut!)


Deshalb frage ich Sie: Stimmen Sie mit mir überein,
dass wir ganz genau hinschauen müssen, unsere Bedin-
gungen realistisch einschätzen müssen und uns der
Schwierigkeiten und Probleme, die wir noch haben, an-
nehmen müssen?


(Zuruf von der FDP: Jetzt reicht es wirklich einmal!)


Sie können es nicht damit abtun, zu sagen, wir sähen die
Realität nicht. Wir alle sehen die Menschen, und wir se-
hen alle, welche Bildungsanstrengungen noch nötig sind,
Herr Kollege.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1716227200

Liebe Frau Kollegin, meine Kritik – ich habe das

zwei- oder dreimal in meiner Rede gerade gesagt – geht
nicht dahin, dass wir die Einzelfakten, die in den Berich-
ten dargestellt werden, leugnen. Wir haben im Übrigen
mehr Berichte gelesen als Sie. Das Maß und die Art und





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Weise allerdings, wie Sie Elemente aus diesen Berichten
in Ihrem Antrag zusammengefügt haben, disqualifiziert
die Aussage Ihres Antrags. Damit kommen wir nicht
klar.

Ich habe gerade ebenfalls gesagt, dass wir bereit sind,
zu arbeiten, um von dem Platz, auf dem wir stehen, wei-
ter nach vorne zu rücken. Das ist uns wichtig. Es geht
nicht darum, dass wir Einzelne benachteiligen; Sie ha-
ben Beispiele in Ihrem Antrag aufgezählt.

Ich finde auch die Art und Weise, in welch vermesse-
ner Form Sie das degradieren, was unseren Staat aus-
macht, nicht angemessen.


(Pascal Kober [FDP]: So ist es!)


Gerade weil die Menschenrechte, hier insbesondere die
WSK-Rechte, also die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechte, so eine wichtige Rolle in
unserem Land spielen, hat sich die Bundesregierung zu
einer regelmäßigen Berichterstattung verpflichtet.

Wenn man nun in der Bundesliga und möglichst auch
in der Champions League spielen will, um noch einmal
dieses Bild zu benutzen, dann muss man auf hohem Ni-
veau überprüfbar sein. Die Prüfberichte belegen, dass
man sehr genau hinschaut. Evaluation trägt dazu bei,
dass die Einhaltung der Menschenrechte in unserem
Land gesichert ist. Dieser setzen wir uns aus. Der
5. Staatenbericht, auf den Sie sich unter anderem bezie-
hen und der 2008 erstellt und 2011 ergänzt wurde, redet
von der hohen Qualität entsprechender Bemühungen in
unserem Land.


(Marina Schuster [FDP]: So ist es!)


Unter anderem wird den Arbeitsmarktreformen in un-
serem Land hohe Qualität zuerkannt. Gerade zu dem,
was Sie als Menschenrechtsverletzung beschreiben,
nämlich die hohe Massenarbeitslosigkeit in unserem
Land, wird geschrieben, dass die Arbeitslosigkeit auf
dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren ist.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist richtig so! – Weiterer Zuruf von der LINKEN)


– Entschuldigen Sie, aber diese Aussage steht den Stan-
dards und den Tatsachen, die Sie beschreiben, diametral
gegenüber.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt auch für die Annahme von Zielen, um die wirk-
same Umsetzung des Nationalen Integrationsplans si-
cherzustellen.

Das waren nur zwei Beispiele. Darüber hinaus – das
steht nicht in dem Bericht – müsste man weitere Maß-
nahmen hinzufügen, wie das Bildungs- und Teilhabepa-
ket von 2011 und die mittlerweile eingeführten Bran-
chenmindestlöhne. Bitte halten Sie mit uns auch
Folgendes fest: Es gibt Defizite, auf die der Bericht hin-
weist; die räumen wir auch ein. Aber wir wollen sie
nicht überhöhen. Wir wollen sie in einem vernünftigen
Maß betrachten.

Die Verwirklichung der Menschenrechte ist nichts
einfach Gegebenes, das man hinnimmt, sondern etwas,

das man anstrebt und wofür man kämpft. In diesem
Sinne wird die Bundesregierung für eine Umsetzung der
Forderungen des Staatenberichtes bis zum nächsten
Staatenbericht 2016 weiter arbeiten. Denn wir wollen
besser werden als bis dato. Ich weise diese maßlose Ver-
zerrung des Bildes unseres Landes allerdings entschie-
den zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


International bescheinigt man Deutschland, wie zu
Beginn erwähnt, einen hohen Stellenwert. Sie werden
verstehen, dass wir den Worten und dem Wesen eines
solchen Antrags nicht zustimmen können.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, wünsche
uns eine gute Abstimmung und einen schönen Feier-
abend.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716227300

Bis zu Letzterem haben wir hier noch ein kleines Pen-

sum zu bewältigen, allerdings ohne weitere Debatten.

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Vom
Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutsch-
land schützen, respektieren und gewährleisten“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6929, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5390 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die geodätischen Referenzsysteme, -netze
und geotopographischen Referenzdaten des

(Bundesgeoreferenzdatengesetz – BGeoRG)


– Drucksache 17/7375 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/8634 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Gerold Reichenbach
Manuel Höferlin
Ulla Jelpke
Dr. Konstantin von Notz

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Frieser für die Unionsfraktion, Gerold Reichenbach für
die SPD-Fraktion, Manuel Höferlin für die FDP-Frak-
tion, Jan Korte für die Fraktion Die Linke und
Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1716227400

Bis vor 20 Jahren war es notwendig, eine gedruckte

Landkarte in die Hand zu nehmen, um geografische,
topografische, klimatische oder politische Sachverhalte
eines Gebietes auf der Erde zu veranschaulichen und zu
dokumentieren. Im Vergleich dazu haben wir eine Revo-
lution der Nutzung von Geodaten hinter uns: Es gehört
mittlerweile zu unserem Alltag, dass Menschen mit ih-
rem Smartphone auf der Suche nach Restaurants, Ge-
schäften, Kinos, Museen oder anderen Treffpunkten
durch die Straßen eilen. Viele Autofahrer können sich Ih-
ren Wochenendausflug ohne Navigationsgerät schon
nicht mehr vorstellen.

Geodaten spielen heute aber auch beispielsweise in
den Bereichen Raumplanung, Verkehrslenkung, Um-
welt- und Naturschutz, Landesverteidigung, Innere
Sicherheit, Zivilschutz, bei Versicherungen, in der Ge-
sundheitsvorsorge sowie Land- und Forstwirtschaft eine
bedeutende Rolle.

Geoinformationen sind durch die digitale Revolution
der Kommunikationstechnologie zu einem kostbaren
Wirtschaftsgut geworden. Sie sind in ihrer digitalen
Form einfach und schnell zu transportieren, sie lassen
sich schnell verarbeiten. Unzählige Unternehmen sind
gegründet worden, um Geodaten zu erheben, zu verar-
beiten und zu veredeln.

Die Digitalisierung der Geodaten bietet nicht nur
neue Formen der Nutzung, sondern fordert in erster Li-
nie vom Gesetzgeber tätig zu werden und neue Regelun-
gen zu schaffen. Eine vielfältige und effiziente Nutzung
von Georeferenzdaten setzt voraus, dass sie in einheit-
licher und bedarfsgerechter Qualität bereitgestellt
werden. Bisher bestehen für die von Bundesbehörden
erhobenen, verarbeiteten und genutzten Geodaten un-
terschiedliche Standards. Dies hat zur Folge, dass die
nichtharmonisierten Daten mit unterschiedlichen Quali-
tätsstandards für eine fachübergreifende Nutzung mit
hohem technischem Aufwand und in personalintensiven
Verfahren harmonisiert werden müssen. Dies würde ent-
fallen, wenn für alle Stellen einheitliche qualitative und
technische Standards gelten würden.

Mit dem von der Bundesregierung dem Bundestag
vorgelegten Bundesgeoreferenzdatengesetz unterstüt-
zen wir den Zukunftsmarkt der Geoinformationen. Da-
mit wird die Rolle verdeutlicht, die verlässliche und ak-
tuelle Geodaten für unsere Gesellschaft spielen.

Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie neue Ge-
schäftsfelder erschließen können und so bessere Infor-
mationen für Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung ge-
stellt werden. Durch die Vernetzung von Geodaten
können zudem Entscheidungsprozesse innerhalb von öf-
fentlichen Verwaltungen effizienter und effektiver wer-
den.

Die Bundesregierung will deshalb ein Qualitätszei-
chen setzen. Sie will die flächendeckende Bereitstellung
standardisierter, qualitativ hochwertiger Georeferenz-
daten für den Bund sicherstellen. Der Gesetzentwurf
dient dazu, den rechtlichen Vorgaben, die sich in erster
Linie aus der Umsetzung der INSPIRE-Richtlinie der
Europäischen Union ergeben, und den Anforderungen
der Nutzer hinsichtlich der Versorgung mit Geoinforma-
tionen gerecht zu werden. Bund, Länder und Kommunen
werden angehalten, amtliche Geoinformationen in ein-
heitlichen Datenstandards aufzubereiten und nutzer-
freundlich im Internet anzubieten.

Der Gesetzentwurf gibt den betroffenen Behörden des
Bundes, die Geodaten erheben und verarbeiten, die Ein-
haltung bestimmter qualitativer und technischer Stan-
dards vor. Die Qualitätsstandards sollen insbesondere
Aktualität, Vollständigkeit und Homogenität sicherstel-
len, sodass eine breite Nutzung nachhaltig, aktuell und
bedarfsgerecht sichergestellt ist.

Der Bund will sich bei der Festlegung der Standards
eng mit den Ländern abstimmen. Eine erfolgreiche Geo-
informationspolitik ist nur auf der Grundlage einer en-
gen, konstruktiven Zusammenarbeit von Bund und Bun-
desländern möglich. Mit den Änderungsvorschlägen des
Innenausschusses – sie dienen in erster Linie der Klar-
stellung – soll die bisherige gute Zusammenarbeit zwi-
schen Bund und Ländern auf dem Gebiet des Geoinfor-
mationswesens weiter gefördert werden. Beide Seiten
– Bund und Länder – haben ein gemeinsames Interesse,
einheitliche und qualitativ hochwertige Datenstandards
anzubieten.

Die Bundesregierung unterstützt diese Änderungs-
vorschläge, und auch die Bundesländer haben bereits
signalisiert, dass mit den Änderungen letzte Miss-
verständnisse ausgeräumt wurden und nun dem Gesetz-
entwurf zugestimmt werden kann.

Eine bessere und bedarfsgerechtere Versorgung des
Bundes mit raumbezogenen Grundinformationen wird
zudem mit dem Ausbau des Bundesamtes für Kartogra-
phie und Geodäsie zu einem zentralen Dienstleister des
Bundes für Geoinformationen unterstützt. Das Bundes-
amt stellt den Bedarf an Geodaten für den Bund fest und
stellt diese über ein Geoportal im Internet zur Verfü-
gung. Es wird die Bundesbehörden bei der standardkon-
formen Entwicklung und Nutzung ihrer Geodatendienste
unterstützen.

Die verbesserte Standardisierung und Koordinierung
der Georeferenzdaten wird dazu beitragen, dass Geo-
informationen zu einem Motor für die Internetwirtschaft
und für unsere Wissens- und Informationsgesellschaft
werden. So sichern wir die führende Rolle Deutschlands
auf diesem Gebiet. Ich lade Sie daher ein, mit uns den
Zukunftsmarkt Geoinformationen durch die Verabschie-
dung des Geodatenreferenzgesetzes zu fördern und bitte
um Zustimmung für den Gesetzentwurf.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1716227500

Derzeit bestehen für die Erfassung von Geodaten in

der Bundesverwaltung unterschiedliche und in den Bun-





Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)


desländern unverbindliche Standards. Geotopogra-
fische Referenzdaten werden aber überall benötigt. Sie
sind wichtig für die Raumplanung, für die Verkehrslen-
kung, für die Versorgung und Entsorgung bis hin zum
Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Leider gibt es
bislang aufgrund der föderalen Struktur keine einheitli-
che Standardisierung zur Erfassung und Darstellung
geotopografischer Referenzdaten des Bundes und des
amtlichen Vermessungswesens. Das kann Konsequenzen
haben, wenn beispielsweise in meiner Region die Ver-
sorgungswerke Mainz sowohl für Gebiete in Rheinland-
Pfalz als auch in Hessen zuständig und dabei auf Daten
der Landesvermessungsämter sowohl aus Rheinland-
Pfalz als auch aus Hessen angewiesen sind, diese aber
mit unterschiedlichen Standards geliefert werden. So
kann es zu Abweichungen und Fehlerquellen kommen,
jedenfalls führt es aber zu Mehraufwand.

Die verschiedenen Bundes- und Landesbehörden er-
stellen die Geodaten unter Verwendung unterschied-
licher Technik und verwenden dabei unterschiedliche
Leistungsmerkmale und Standards. Um diese dann über-
haupt in Zusammenhang bringen zu können, müssen sie
im Bundesamt für Kartographie und Geodäsie mit viel
Aufwand vereinheitlicht werden. Erhebliche Abweichun-
gen sind dabei vorprogrammiert.

Bund und Länder benötigen für ihre Aufgabenerfül-
lung viele aktuelle und qualitativ hochwertige Informa-
tionen. Das Potenzial aller gesammelten Daten kann
erst dann ausgeschöpft werden, wenn diese von homo-
gener Qualität sind und mithilfe standardisierter Metho-
den und Verfahren zu einem leistungsfähigen Geodaten-
management zusammengeführt werden können. Die
gleiche Forderung gibt es bei den Vereinten Nationen
und auf europäischer Ebene. Unwirtschaftliche Doppel-
arbeit soll und kann so vermieden werden.

Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt das Anlie-
gen der Bundesregierung, zumindest für den Bereich des
Bundes für eine effektivere Verfahrensweise zu sorgen.
Wir haben dazu auch einen internationalen und unions-
rechtlichen Auftrag. Bisher gibt es auf Bundesebene
insbesondere das Geodatenzugangsgesetz, mit dem die
INSPIRE-Richtlinie auf Bundesebene umgesetzt wurde.
Die INSPIRE-Richtlinie hat zum Ziel, eine Geodatenin-
frastruktur in der Europäischen Gemeinschaft zu schaf-
fen. Durch die im Geodatenzugangsgesetz festgelegten
Standards sollen der Austausch und die gemeinsame
Nutzung von Geodaten, also damit auch von geoto-
pografischen Referenzdaten und Daten des amtlichen
Vermessungswesens, ermöglicht werden. Das Geodaten-
zugangsgesetz regelt die Standardisierung geotopogra-
fischer Referenzdaten, aber nicht in gleicher Weise wie
das Georeferenzdatengesetz. Es gibt im Geodaten-
zugangsgesetz keine Regelungen, um die Qualität, also
Aktualität, Einheitlichkeit und Vollständigkeit, der geo-
topografischen Referenzdaten zu verbessern. Mit dem
heute hier vorliegenden Gesetzentwurf zu den Georefe-
renzdaten soll es eine verbesserte Nutzungsmöglichkeit
der allen Geodaten zugrunde liegenden geodätischen
Referenzsysteme, -netze und geotopografischen Refe-
renzdaten geben. Das heißt, zum einen sollen auf Bun-
desebene verbindliche Qualitätsstandards sichergestellt

werden. Die Datenerfassung orientiert sich dabei insbe-
sondere am eigenen Bedarf und den dem Bund im
Grundgesetz zugewiesenen Kompetenzen und Aufgaben.
Zum anderen wird das Bundesamt für Kartographie und
Geodäsie zu einem Dienstleistungszentrum des Bundes
für Geoinformationen ausgebaut und erhält für diese
Aufgabenstellung eine gesetzliche Grundlage.

Zusätzlich werden mit den im Innenausschuss be-
schlossenen Änderungen letzte Unsicherheiten beseitigt.
Die Länder haben während des gesamten Abstimmungs-
verfahrens Bedenken geäußert, ob der Bund in diesem
Bereich überhaupt eine Zuständigkeit hat. Der Gesetz-
entwurf beziehe sich auf Daten, die definitions- und in-
haltsgleich mit denen des amtlichen Vermessungswesens
einschließlich der Geobasisinformationen seien, wofür
eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Län-
der bestehe. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
werden letzte Unklarheiten beseitigt. § 1 des Bundesgeo-
referenzdatengesetzentwurfs stellt nun deutlich darauf
ab, dass Länderdaten nur im Rahmen ihrer Nutzungs-
rechte einbezogen sind. § 6 des Gesetzentwurfs sieht die
Festlegung der Standards so weit wie möglich im Ein-
vernehmen mit den Ländern vor.

Wir haben heute die Gelegenheit, ein Gesetz zu ver-
abschieden, das eine längere Vorgeschichte hat. Die ein-
heitliche Nutzung von Geodaten wurde schon zu Zeiten
der rot-grünen Koalition von den Sozialdemokraten
befürwortet und unter Otto Schily vorangetrieben. Die
einheitliche Nutzung von Geodaten ist wichtig und not-
wendig, um nationale, europäische und internationale
Verpflichtungen zu erfüllen. Ich hoffe, dass wir mit
diesem Gesetz einen Schritt weiter kommen und den
Bedenken der Länder Rechnung getragen haben. Darum
wird die SPD-Bundestagsfraktion der Regierungsvor-
lage zustimmen, nicht zuletzt, weil es die Fortsetzung
einer von Sozialdemokraten eingeleiteten Politik ist, die
Georeferenzdaten unseres Landes besser und einheit-
licher nutzen zu können.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1716227600

Mit dem Bundesgeoreferenzdatengesetz schließen wir

eine wichtige Lücke bei der Handhabung von Geodaten
durch Bundesbehörden.

Bisher waren Bundesbehörden nahezu ausschließlich
auf die Daten von Ländern und deren Referenzsysteme
bei der Handhabung von Geodaten angewiesen. Auch
im Hinblick auf harmonische, bundesweit einheitliche
Datenstrukturen und Qualitätskontrolle waren nicht
ausreichend Grundlagen gegeben. Dies hat in der Ver-
gangenheit immer wieder auf Bundesebene dazu ge-
führt, dass Unklarheiten bezüglich der Kompetenzen bei
Bundesbehörden für die Aufbereitung bzw. Bereit-
stellung von Georeferenzdaten herrschten – insbeson-
dere da diese durch die europäische INSPIRE-Richtlinie
dem Subsidiaritätsprinzip unterworfen waren und damit
vorrangig in die Zuständigkeit der Länder fielen.

Das Georeferenzdatengesetz schließt diese Lücke und
macht den Weg frei für eine gute, wohlgeordnete und
subsidiäre Geodateninfrastruktur in Deutschland. Es er-
möglicht dem Bund, fachübergreifend im Rahmen seiner

Zu Protokoll gegebene Reden





Manuel Höferlin


(A) (C)



(D)(B)


Zuständigkeit erhaltene Geodaten zu harmonisieren und
zu standardisieren. Wir erhoffen uns hierdurch einen
Qualitätsgewinn bei der Verwaltung der amtlichen Geo-
daten.

Auch werden durch dieses Gesetz etwaige bestehende
Unklarheiten bei den Kompetenzen der verschiedenen
Behörden ausgeräumt. Das Bundesamt für Kartogra-
phie und Geodäsie ist zentraler Ansprechpartner für alle
Fragen der Standardisierung amtlicher Geodaten im
Rahmen der Zuständigkeit des Bundes. Das können wir
als Erfolg für die christlich-liberale Koalition in dem
immer wichtiger werdenden Feld der Geoinformations-
wirtschaft, aber auch für die Wissenschaft, die Raum-
planung und die öffentliche Verwaltung festhalten.

Und nicht zuletzt profitieren auch in immer stärkerem
Maße die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland durch
die hochwertigen Geodaten, durch zügigere Bereitstel-
lung von Diensten, durch schnellere Bauvorhaben und
Planungen und durch eine verbesserte Datenbasis. Über
das Internet abrufbare Geodatenfachportale bieten
ihnen zusätzlich unmittelbar selbst Zugang zu den Geo-
daten und den damit verknüpften Diensten.

Gleichzeitig unterstreichen wir mit dem Georeferenz-
datengesetz und vor allem mit unserem Ergänzungsan-
trag hierzu noch einmal, dass die Generierung von Geo-
referenzdaten und -systemen eine Aufgabe ist, die von
den Ländern in ihrem Zuständigkeitsbereich erfüllt wird
und deren Position wir hier als eine wichtige Leistung
für die föderale Kooperation respektieren.

Insgesamt möchte ich festhalten, dass das Georefe-
renzdatengesetz ein richtiger und notwendiger Schritt
war. Daher freue ich mich auch sehr darüber, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD, im Innen-
ausschuss dem Gesetzentwurf der christlich-liberalen
Koalition zugestimmt haben.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716227700

Der uns heute zur Beratung vorliegende Gesetzent-

wurf soll die Verfügbarkeit und den Austausch der beim
Bund erhobenen, verarbeiteten und genutzten Geodaten
durch Anwendung einheitlicher Standards verbessern.
Gleichzeitig soll damit das Bundesamt für Kartographie
und Geodäsie zum zentralen Dienstleister in Sachen
Bereitstellung solcher Daten gemacht und dem Bundes-
amt als selbstständiger Bundesoberbehörde die gesetz-
liche Grundlage gegeben werden.

Die Betonung auf „beim Bund“ verarbeitete und ge-
nutzte Daten ist der Versuch einer Antwort der Bundes-
regierung auf die Kritik, die der Bundesrat und seine
Ausschüsse an dem Gesetzentwurf geäußert haben.
Offenbar wurde mit heißer Nadel gestrickt und halbher-
zig versucht, durch Änderungsanträge der Kritik aus
den Ländern wenigstens formal die Grundlage zu entzie-
hen und die gröbsten Bedenken verfassungsrechtlicher,
fachlicher und finanzieller Art auszuräumen. Dies ist
Ihnen jedoch nicht wirklich gelungen.

Der zentrale Vorwurf der Länder, dass dieses Gesetz
die Gefahr berge, Parallelstrukturen zu schaffen und die
bisher im Großen und Ganzen fachlich und finanziell be-

währten funktionierenden Strukturen zuungunsten der
Länder aufzulösen, wurde von der Bundesregierung
nicht überzeugend widerlegt.

Die Befürchtung der Länder, angesichts des wachsen-
den Marktes für Geodaten aller Art und des Ausbaus des
Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie sehr
schnell ins Hintertreffen zu geraten, ist nur zu sehr ver-
ständlich. Da mag der Gesetzentwurf noch so sehr beto-
nen, dass der Bund ja nur im Rahmen seiner bisher
schon geltenden Nutzungsrechte die Länderdaten ver-
wenden werde. Es ist doch so: Die Länder liefern, wie
andere Behörden des Bundes auch, Daten. Der Bund
erwirbt daraufhin die Nutzungsrechte an den Länder-
daten und „harmonisiert“ sie erst dann, wie es in der
Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellung-
nahme des Bundesrates heißt. Dafür, so vermutet unse-
res Erachtens die Länderkammer zu Recht, reicht der
Rahmen der bisherigen Nutzungsvereinbarungen und
ihrer finanziellen Regelungen jedoch nicht mehr aus.

Alle weiteren Geschäfte werden vom Bund gemacht,
der sich ja auch ausdrücklich auf den Druck kommer-
zieller Fachanwender beruft, um die neuen Aufgaben zu
begründen. Die Sorge ist kaum von der Hand zu weisen,
dass die Konkurrenz zwischen Standards, die der Bund
jetzt entwickelt, und denen, die bisher zwischen der
Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der
Länder, AdV, und dem Bund gegolten haben, bewusst an-
gestrebt wird. Das Ziel dabei ist, durch die vor-
geschlagenen Regelungen dieses Gesetzes Druck auf die
Länder auszuüben. Durch diese Strategie der vollende-
ten Tatsachen sollen die Länder veranlasst werden, die
neuen vom Bund geforderten Standards vorweg zu über-
nehmen, und das, obwohl die bisherigen Standards nach
Ansicht der Länder funktionieren.

Weil die Frage des Geodatenzugangsgesetzes schon
im Interesse der Bundesregierung gelöst ist, glaubt sie
wohl, auf die enge Zusammenarbeit mit den Ländern im
vorliegenden Fall verzichten zu können. Logischerweise
sieht das im Gesetz selbst formulierte „Benehmen“ mit
den Ländern, das dieser Harmonisierung vorausgehen
soll, ja auch nur die schwächste Form der Kooperation
zwischen Bund und Ländern vor. Eine vertrauensvolle
und problemorientierte Kooperation zwischen Bund und
Ländern sieht nach Auffassung meiner Fraktion jeden-
falls anders aus.

Zwei Anmerkungen zum Schluss:

Erstens bedeutet das vorliegende Gesetz einen weite-
ren großen Schritt zur Kommerzialisierung aller Geo-
daten. Diese Entwicklung entspricht keineswegs den
Grundsätzen von Open Data und Open Government.

Zweitens hätten angesichts der ja umfassend geplan-
ten Nutzung der Daten auch für Zivil- und Katastro-
phenschutz datenschutzrechtliche Grundsätze auf-
genommen werden können. Selbstverständlich bin ich
mir dessen bewusst, dass das eigentliche Problem hin-
sichtlich des Datenschutzes das Geodatenzugangsgesetz
und die ihr zugrunde liegende EU-INSPIRE-Richtlinie
ist. Aber: auf Letztere bezieht sich die Bundesregierung

Zu Protokoll gegebene Reden





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


ja ausdrücklich in den ersten Sätzen der allgemeinen
Begründung des Gesetzentwurfs.

Das BMI hat, warum auch immer, im Gesetzentwurf
auf die Formulierung datenschutzrechtlicher Rahmen-
bestimmungen verzichtet. Einige klarstellende Sätze und
Bezüge zu den grundsätzlich mit der ausufernden
Kommerzialisierung der Geodaten verbundenen Daten-
schutzfragen – der Personenbeziehbarkeit bestimmter
Geodaten also – hätten diesem Gesetzentwurf aus mei-
ner Sicht gutgetan. Stattdessen werden auch hier in der
Praxis wieder unendliche Umwege über die Regelungen
des Bundesdatenschutzgesetzes notwendig werden. Aber
das sind wir von Gesetzentwürfen der Bundesregierung
ja auch nicht anders gewohnt.

Aus all diesen Gründen ist der Fraktion Die Linke
eine Zustimmung zu diesem Entwurf nicht möglich. Wir
werden deshalb mit Enthaltung stimmen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Ziele des Entwurfes für ein Bundesgeoreferenz-
datengesetz unterstützen wir ausdrücklich. Die ange-
strebte stärkere Standardisierung der Erfassung und
Darstellung von Georeferenzdaten ist Voraussetzung für
die sinnvolle Nutzung dieser Daten durch die Behörden,
die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft.

Geodaten sind von großem Wert für die Erfüllung der
Aufgaben der Verwaltung, etwa für die Planung von mo-
dernen Transport- und Kommunikationssystemen. Die
Öffentlichkeit und Zugänglichkeit von Geodaten ist
zudem ein wichtiges Element der notwendigen Transpa-
renz im demokratischen Rechtsstaat, in dem Bürgerin-
nen und Bürger mitdiskutieren und mitentscheiden wol-
len und sollen – zum Beispiel über die Verwirklichung
von Infrastrukturprojekten. Geodaten sind außerdem ein
wichtiges Wirtschaftsgut, aus dem neue, innovative Pro-
dukte entwickelt werden können.

Voraussetzung für eine effiziente Verwertung ist
neben der öffentlichen Zugänglichkeit dieser Daten
auch eine Standardisierung von Erfassung und Darstel-
lung und eine größere Interoperabilität der technischen
Formate, in denen die Daten zur Verfügung gestellt
werden.

Natürlich ist eine solche Standardisierung auch für
den europäischen und internationalen Austausch nötig.
Da haben wir vor allem auch im Hinblick auf die EU-
Anforderungen aus der INSPIRE-Richtlinie noch eini-
gen Aufholbedarf, sowohl was die Zugänglichkeit als
auch was die Standardisierung der Veröffentlichung und
die Downloadbarkeit dieser Daten angeht.

Insofern begrüße ich das Vorhaben der Bundesregie-
rung, sich da weiterzuentwickeln. Was uns die Bundes-
regierung mit diesem Gesetzentwurf vorlegt, ist nach
dem Geodatenzugangsgesetz 2009 aber leider nur ein
weiterer Fetzen im Flickenteppich der gesetzlichen
Regelungen zu Geodaten, der die wesentlichen Fragen
und Probleme – das muss man leider an dieser Stelle
sagen – auch weiterhin offenlässt.

Dabei ist mir klar, dass die Standardisierung von
Geodaten im Gefüge unseres Bundesstaates keine ein-
fache Sache ist. Was aber nun nach jahrelanger
Verhandlung des Gesetzentwurfs herausgekommen ist,
kann aus meiner Sicht vor allem in zwei Bereichen nicht
befriedigen:

Erstens reichen die getroffenen Regelungen, die zu ei-
ner größeren Standardisierung führen sollen, in keiner
Weise aus, um eine stärkere Standardisierung und die
Weiterentwicklung zu einem modernen, offenen Staat
wirksam zu fördern. Es ist zu wenig, wie der vorliegende
Gesetzentwurf das tut, einem interministeriellen Aus-
schuss für Geoinformationswesen die Befugnis zu über-
tragen, technische Richtlinien festzulegen und das
Bundesamt für Kartographie und Geodäsie zur selbst-
ständigen Bundesoberbehörde aufzuwerten. Da müsste
sich der Gesetzgeber schon etwas weiter vorwagen und
selbst Grundprinzipien des modernen offenen Staates im
Sinne von Open-Data-Prinzipien festlegen.

Zweitens. Völlig unbefriedigend und unangemessen
ist an dem Gesetzentwurf außerdem, dass die zentralen
Interessenskonfliktpunkte, die sich bei der Bereitstellung
von Geodaten immer ergeben, in dem Gesetzentwurf
einfach ausgeklammert werden. Der schwierige Konflikt
zwischen verschiedenen öffentlichen und privaten Inte-
ressen, zwischen dem berechtigten Transparenzinteresse
der Öffentlichkeit, den wirtschaftlichen Interessen an
Geodaten und den Datenschutzinteressen der Betroffe-
nen löst sich aber nicht dadurch in Wohlgefallen auf,
dass man ihn totschweigt. Wie man den Konflikt zwi-
schen Transparenzanforderungen auf der einen Seite
und Datenschutzinteressen auf der anderen Seite löst, ist
zweifellos eine schwierige Frage in einer modernen
Demokratie. Darauf gibt es gewiss keine einfachen
Antworten, auch wir haben diese nicht. Dennoch hat
sich meine Fraktion auf den Weg gemacht, diese Fragen
anzugehen. Sie hingegen klammern diese Fragen ein-
fach aus. Ich bin sicher, dass uns diese Fragen in den
nächsten Jahren hier noch öfter beschäftigen werden,
zum Beispiel bei der Reform des Informationsfreiheits-
gesetzes.

Zwei Dinge aber liegen auf der Hand, und sie machen
den vorliegenden Gesetzentwurf ohne jegliche Behand-
lung von Datenschutzfragen so unzureichend: Geodaten
können von persönlichkeitsrechtlicher und datenschutz-
rechtlicher Relevanz sein. Das bestreitet meines Wissens
auch niemand. Diese Persönlichkeitsrechts- und Daten-
schutzrelevanz potenziert sich mit einer Standardisie-
rung der Erfassung, Darstellung und Bereitstellung, sie
potenziert sich mit der Interoperabilität und der Verein-
heitlichung technischer Richtlinien für die Bereitstel-
lung von Daten. Denn dadurch wird es viel einfacher,
Informationen mit Personenbezug zu sammeln, zu bün-
deln und weiterzuverarbeiten. Damit muss man umge-
hen, das muss datenschutzrechtlich aufgefangen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf verliert darüber jedoch
kein Wort. Meine Fraktion und ich können dem Entwurf
deshalb leider nicht zustimmen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716227800

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8634, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7375 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Abstimmungsergebnis wie
bei der zweiten Lesung angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bildungsarmut durch Alphabetisierung und
Grundbildung entgegenwirken
– Drucksache 17/8765 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Niemanden abschreiben – Analphabetismus
wirksam entgegentreten, Grundbildung für
alle sichern
– Drucksache 17/8766 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war eine
halbe Stunde für die Debatte vorgesehen. Wir haben al-

lerdings gerade zwischen den Fraktionen vereinbart,
dass wir die Beiträge des Kollegen Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, des Kollegen Weinberg
für die Unionsfraktion, des Kollegen Rossmann für die
SPD-Fraktion, des Kollegen Meinhardt für die FDP-
Fraktion,


(Beifall bei der FDP)


der Kollegin Hein für die Fraktion Die Linke, des Kolle-
gen Knoerig für die Unionsfraktion sowie des Kollegen
Schulz für die SPD-Fraktion zu Protokoll nehmen.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/8765 und 17/8766 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über die
Konzessionsvergabe
KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11

hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro-
tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon

(Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit)


Ausschreibungspflicht bei Dienstleistungskon-
zessionen ablehnen – Kommunale Daseinsvor-
sorge sichern

– Drucksache 17/8761 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über die
Konzessionsvergabe
KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11

hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro-
tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon

(Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit)


Klares Signal zum Schutz der kommunalen
Daseinsvorsorge setzen

– Drucksache 17/8768 –

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Kol-
lege Dr. Nüßlein für die Unionsfraktion, Kollege Nink
für die SPD-Fraktion, Kollegin Dr. Reinemund für die
FDP-Fraktion, Kollegin Kunert für die Fraktion Die Linke
und Kollegin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.

1) Anlage 2






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1716227900

Dass SPD und Grüne heute einmal Anträge auf den

Tisch legen, die ich fast 1 : 1 unterschreiben könnte, hat
wirklich Seltenheitswert. Aber wo Rot-Grün in der Sa-
che ausnahmsweise einmal recht hat, da hat sie eben
mal recht. Besonders der Antrag der SPD bezüglich der
Subsidiaritätsrüge ist in seiner Begründung wirklich le-
senswert.

Was sich übereifrige EU-Beamte aus dem Hause
Barnier da mit dem Richtlinienvorschlag über die Kon-
zessionsvergabe wieder haben einfallen lassen, zeigt,
wie weltfremd, ja wie für die EU-Bürger gar schädlich
so manche Ergüsse aus der EU-Kommission sind. Oder
sind sie gar nur lobbygeführt? Cui bono?, heißt die
Frage, die sich hier echt aufdrängt.

An dieser Stelle darf ich auch an die Ministerialbe-
amten unseres Bundeswirtschaftsministeriums und an
seine politische Spitze, aber auch an unsere lieben Kol-
legen von der FDP-Fraktion appellieren, nicht alles in
voreiligem Gehorsam mitzumachen, was da aus Brüssel
kommt. Nur die Rücksicht auf den Koalitionspartner
hält mich persönlich davon ab, der Opposition zuzustim-
men; dies, obwohl ich weiß, dass die Rücksicht eine Ein-
bahnstraße ist.

Der jetzt vorliegende Richtlinienvorschlag ist unnötig
und falsch: Mit einem solchen Rechtsakt würde nämlich
der Gestaltungsspielraum unserer Kommunen gerade
bei der so existenziell wichtigen Wasserversorgung er-
heblich eingeschränkt. Dienstleistungskonzessionen im
Besonderen haben – wie die Grünen richtig schreiben –
lange Laufzeiten. Das liegt in der Natur der Sache. Die
Laufzeiten können die Kommunen mit dem Konzessions-
nehmer nach heutigem Recht vertraglich frei bestimmen.
Mit der vorgelegten Richtlinie würden bestimmte Lauf-
zeiten EU-rechtlich festgelegt. Dazu kommt: In einem
solchen EU-weiten Vergabeverfahren könnten alle Mit-
bewerber aus dem EU-Raum gegen die Vergabe dieser
oder jener Konzession klagen. Damit käme eine Flut von
möglichen Klagefällen vor den Vergabekammern auf un-
sere Städte und Gemeinden zu. Die Dienstleistungskon-
zessionen wären faktisch vollständig dem Vergaberecht
unterworfen. Unsere Kommunen wären also an enge
Ketten gelegt – und das bei so fundamentalen Aufgaben
wie der Wasserversorgung oder Abwasserentsorgung.
Das halte ich für völlig daneben.

Unser Subsidiaritätsprinzip, das nicht nur in Art. 28
unseres Grundgesetzes, sondern auch in Art. 5 des EU-
Vertrages zu Recht verankert ist, wird hier mit Füßen ge-
treten. Die herausragend gute Wasserversorgung bei
uns ist ein Beispiel dafür, dass hier subsidiär auf kom-
munaler Ebene Großartiges geleistet wird – ohne Brüs-
sel. Natürlich argumentiert die Kommission vordergrün-
dig, mehr Transparenz und Wettbewerb auf den
öffentlichen Beschaffungsmärkten herstellen, den Bin-
nenmarkt vorantreiben und mehr Rechtssicherheit
schaffen zu wollen. Aber nehmen wir nur die geplante
Verschärfung des Vergaberechts im Bereich der Trink-
wasserversorgung her: Eine EU-weite Ausschreibungs-
pflicht sorgt eben nicht für mehr Transparenz, sondern

durch höheren Verwaltungsaufwand für mehr Bürokra-
tie und damit für höhere Kosten für die Verbraucher.

Schlimmer noch: Die europaweit führende Trinkwas-
serqualität in Deutschland wird doch nicht gerade da-
durch gesichert, dass ein rumänisches Wasserunterneh-
men den Zuschlag für die Wasserversorgung zum
Beispiel in Neu-Ulm, in Görlitz, in Recklinghausen oder
in Flensburg erhält und dann von Bukarest aus die
Trinkwasserqualitätskriterien überwachen soll. Wer will
das denn? Gerade bei der Wasserversorgung kann man
doch nicht von grenzüberschreitendem Dienstleistungs-
verkehr sprechen! Gerade weil unsere Kommunen die
Gestaltungshoheit über die Trinkwasserversorgung für
ihre Einwohner vor Ort haben und damit im Sinne einer
besonderen Fürsorgepflicht für „ihre“ Bürger beson-
ders auf ein Topniveau des Trinkwassers achten, haben
wir in Deutschland einen europaweit führenden Quali-
tätsstandard des Trinkwassers. Wollen wir dieses über
Jahrzehnte erarbeitete Topniveau wegen dieser faden-
scheinigen Argumente der EU-Kommission wieder auf-
geben?

Völlig zu Recht erkennt die SPD in der Begründung
zu der von ihr vorgelegten Subsidiaritätsrüge „das Be-
streben der Kommunen an, effiziente, kundenorientierte
und wettbewerbsfähige kommunale Unternehmen und
Einrichtungen zu betreiben“. Da kommunale Unterneh-
men an das Örtlichkeitsprinzip gebunden sind, sind sie
tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet, wenn finanz-
starke Unternehmen oder Investoren aus dem EU-Aus-
land die ausschreibungspflichtigen Konzessionen über-
nehmen und das örtliche Unternehmen die Konzession
verlieren würden. Das kann uns doch nicht egal sein!

Hier der EU-Kommission mal mit einer Subsidiari-
tätsrüge einen Schuss vor den Bug zu setzen, wie die
SPD das mit ihrem Antrag für eine Subsidiaritätsrüge
vorhat, hat durchaus seinen Reiz. Art. 6 des Protokolls
Nr. 2 des Vertrags von Lissabon sieht diese Möglichkeit
ja auf den ersten Blick durchaus vor. Leider ist aber eine
Subsidiaritätsrüge ein stumpfes Schwert, das uns hier
symbolisch in die Hand gegeben ist – ein Schwert aus
Glas.

Doch zurück zur Sache: Zu Recht hat der Gemein-
schaftsgesetzgeber bislang auf sekundärrechtliche Re-
gelungen der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen
verzichtet. Schauen wir doch einmal auf die bisherige
Rechtsprechung des EuGH: Danach gelten im Vergabe-
recht schon jetzt die aus den Grundfreiheiten des Ver-
trags über die Arbeitsweise der EU abzuleitenden pri-
märrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung, der
Nichtdiskriminierung und der Transparenz. Ein beson-
derer Regelungsbedarf für Dienstleistungskonzessionen
ist somit nicht erforderlich, so der EuGH. Dazu darf ich
aus dem Urteil des Gerichts vom 10. März 2011 zitieren.
Hier heißt es: „Es ist hinzuzufügen, dass Verträge über
Dienstleistungskonzessionen beim gegenwärtigen Stand
des Unionsrechts zwar von keiner der Richtlinien erfasst
werden, mit denen der Unionsgesetzgeber das öffentli-
che Auftragswesen geregelt hat, die öffentlichen Stellen,
die solche Verträge schließen, aber gleichwohl ver-
pflichtet sind, die Grundregeln des AEU-Vertrags, ins-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


besondere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV, sowie die da-
raus fließende Transparenzpflicht zu beachten, wenn
[…] an dem betreffenden Vertrag ein eindeutiges grenz-
überschreitendes Interesse besteht.“

Die Einschätzung, dass ein solcher Rechtsakt nicht
notwendig ist, vertritt auch das Europäische Parlament
in seinem am 18. Mai 2010 beschlossenen Initiativbe-
richt zum Vergaberecht, dem sogenannten Rühle-Be-
richt. Das EP spricht sich in diesem Bericht vielmehr für
die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen nach
Maßgabe der aktuellen Rechtsprechung des EuGH aus.

Auch der Bundesrat teilt diese Auffassung und appel-
liert in seinem Beschluss vom 12. Februar 2010 – ich zi-
tiere – „an die Kommission, den Gestaltungsspielraum
der Mitgliedstaaten, Regionen und lokalen Gebiets-
einheiten nicht durch legislative Eingriffe einzuschrän-
ken“, was „insbesondere auf Dienstleistungskonzes-
sionen gerichtete Regulierungsbestrebungen der
Kommission“ gemünzt ist. Diese Haltung hat der Bun-
desrat in seinem Beschluss vom 11. Februar 2011 be-
kräftigt. Hier hat der Bundesrat mit Blick auf Art. 14 des
Vertrags über die Arbeitsweise der EU besonders auf
das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen verwiesen.
Ich zitiere: „Im Vertrag von Lissabon wird das Selbst-
verwaltungsrecht der Kommunen anerkannt. Vor allem
im Interesse der Kommunen ist daher darauf zu achten,
dass die EU ihre Regelungskompetenz betreffend
Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Inte-
resse nicht zu Steuerungszwecken einsetzt und versucht,
für den sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge eigene
Qualitäts- und Sozialstandards einzuführen. Die Da-
seinsvorsorge muss im Entscheidungsbereich der Mit-
gliedstaaten und dort insbesondere der Kommunen ver-
bleiben. Nur so kann auch dem Subsidiaritätsgedanken
Rechnung getragen werden.“

Diesen und den Beschluss des Bundesrates von 2010
haben auch die Länder mitgetragen, in denen die Libe-
ralen an der Regierung beteiligt sind. In ihren Antwor-
ten auf meine schon im vergangenen Jahr verfassten
Schreiben an den früheren Bundeswirtschaftsminister
Rainer Brüderle, an seinen Nachfolger Dr. Philipp
Rösler und an den zuständigen Staatssekretär
Dr. Bernhard Heitzer wurde mir immer wieder versi-
chert, dass der Gestaltungsspielraum der Kommunen
auch mit einer solchen Richtlinie erhalten bliebe, denn
die Kommunen könnten ja weiterhin selbst darüber ent-
scheiden, ob sie Leistungen der Daseinsvorsorge wie die
Wasserversorgung selbst erbringen oder Dritte – natür-
lich unter Beachtung des Vergaberechts – damit beauf-
tragen. So übrigens versuchte auch EU-Kommissar
Michel Barnier mich in seinen Antworten auf meine
schriftlichen Appelle, von diesen Plänen abzulassen, zu
beschwichtigen.

Spätestens bei meiner Initiative, im Rahmen eines
Entschließungsantrags der Koalition die Bundesregie-
rung aufzufordern, bei ihren Verhandlungen im Rat
diese unsägliche Richtlinie gänzlich zu kippen oder we-
nigstens für den hochsensiblen Bereich der Wasserver-
sorgung eine Ausnahmeregelung zu schaffen, wie es sei-
nerzeit in der EU-Dienstleistungsrichtlinie verankert

worden war, bin ich auf den Widerstand unseres Koali-
tionspartners gestoßen, der noch schnell Rücksprache
mit dem Bundeswirtschaftsministeriums gehalten hatte.
Die FDP-Vertreter in der Bundestagsfraktion wurden
erwartungsgemäß zurückgepfiffen. Als Ergebnis haben
wir dann im Wirtschaftsausschuss einen Entschlie-
ßungsantrag vorgelegt, der die Bundesregierung „er-
sucht“, dass in der Richtlinie „den besonderen Belan-
gen der Wasserversorgung angemessen Rechnung
getragen wird“. Hier wird also offenkundig nicht im
Sinne der breiten Mehrheit von Bundestag, Bundesrat
und EP verhandelt. Das ist nicht akzeptabel. Wettbewerb
nicht allein um des Wettbewerbs willen! Im Zentrum al-
ler Wettbewerbspolitik muss letztlich immer noch der
Verbraucher stehen.


Manfred Nink (SPD):
Rede ID: ID1716228000

Es ist nicht alltäglich, dass der Bundestag über den

Antrag beschließen soll, eine Subsidiaritätsrüge gegen
einen Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommis-
sion zu erheben. Die SPD-Fraktion ist der Ansicht, dass
der von der Kommission vorgelegte Richtlinienentwurf
zur Konzessionsvergabe nicht mit den Grundsätzen der
Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
Dies betrifft vor allem die vorgesehenen Regelungen zur
Ausschreibungspflicht für Dienstleistungskonzessionen.

Die Kommission versucht hier, Recht zu schaffen, wo
von der Sache her gar keine neuen Regelungen notwen-
dig sind. Ja, es ist richtig, dass die Vergabe von Dienst-
leistungskonzessionen von den Vergaberichtlinien aus-
genommen ist. Aber das heißt doch nicht, dass die
Vergabe überhaupt keinen Regeln unterliegt. Die allge-
meinen Prinzipien Transparenz, Gleichbehandlung und
Nichtdiskriminierung gelten selbstverständlich auch
hier. Das hat der Europäische Gerichtshof erkannt. Das
hat das Europäische Parlament erkannt. Das hat der
deutsche Bundesrat erkannt und das hat der Wirtschafts-
ausschuss des Deutschen Bundestages erkannt.

Warum sieht die Kommission das anders, sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen? Der Bereich der
Dienstleistungskonzessionen ist lukrativ. Die Kommis-
sion will einen Markt für Konzessionen schaffen. Beson-
ders betroffen wäre unter anderem der gesamte Bereich
der Wasserwirtschaft. Die Europäische Kommission
strebt schon lange an, die Wasserwirtschaft europaweit
zu liberalisieren. Es geht dabei aber um unsere gut funk-
tionierenden Strukturen auf kommunaler Ebene. Diese
wollen wir erhalten.

Wir Sozialdemokraten sind gegen eine weitere Libe-
ralisierung. Und das aus guten Gründen: Die Trinkwas-
serversorgung ist für uns elementarer Bestandteil der öf-
fentlichen Daseinsvorsorge. Eine qualitativ hochwertige
Versorgungssicherheit für alle hat für uns Priorität. Mit
unserem wichtigsten Lebensmittel kann, ja darf man
nicht handeln wie mit jeder anderen Ware. Niemand
kann abstreiten, dass die Wasserversorger in Deutsch-
land eine sehr gute Arbeit leisten. Vor allem auch die
kommunalen Versorger bieten hervorragende Wasser-
qualität in einem flächendeckenden Versorgungsnetz zu
fairen Preisen an, die auch Nachhaltigkeits- und Um-

Zu Protokoll gegebene Reden





Manfred Nink


(A) (C)



(D)(B)


weltkosten widerspiegeln. Wir als SPD sehen keinen
Grund, daran zu rütteln.

Ähnlich verhält es sich bei den kommunalen Rettungs-
diensten. Auch diese wären massiv von einer Ausschrei-
bungspflicht für Dienstleistungskonzessionen betroffen;
und mit ihnen der Katastrophenschutz der Länder. So
ließen sich noch einige Beispiele finden, in denen die Er-
bringung wichtiger Leistungen der Daseinsvorsorge
durch die öffentliche Hand und durch kommunale Un-
ternehmen mit der vorgeschlagenen Richtlinie infrage
gestellt würde.

Erst der Vertrag von Lissabon hat das Selbstverwal-
tungsrecht der Kommunen gestärkt. Mit diesem Vor-
schlag jetzt würde der garantierte Ermessensspielraum
der Kommunen ausgehebelt und direkt wieder einkas-
siert.

Was soll so eine Richtlinie also den Verbraucherinnen
und Verbrauchern, den Bürgerinnen und Bürgern brin-
gen? Ich sehe keine Vorteile. Aber was noch viel schlim-
mer ist: Die Kommission scheint es selbst nicht zu
wissen, sonst hätte sie es doch in ihren Vorschlag rein-
schreiben können. Aber sie schweigt sich aus. Kein Wort
zu den Vorteilen für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher und keine Erklärung, wo die Kommission Markt-
verzerrungen und Wettbewerbsstörungen sieht. Ohne
sachliche Gründe aber kann und darf man kein neues
Recht schaffen.

Die SPD hat diese Ansicht gemeinsam mit den ande-
ren Oppositionsfraktionen im Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie vertreten. Wir haben in einem Ent-
schließungsantrag gemeinsam mit den anderen Fraktio-
nen der Opposition die Ablehnung des Richtlinienvor-
schlags durch die Bundesregierung im Rat gefordert.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, wenn
ich mich richtig erinnere, waren es doch die Kolleginnen
und Kollegen von der FDP und ihre Koalitionsräson, die
bei Ihnen damals die Zustimmung zu unserem Antrag
verhindert haben. Sie hatten dann selbst einen Ent-
schließungsantrag gestrickt. Aber dieser hatte keine
Substanz mehr. Es war ein Entschließungsantrag nach
dem Motto: „Nur keinem – insbesondere den Koalitions-
parteien – weh tun“. Ergebnis: Ja, so eine Richtlinie
wäre irgendwie schon gut, aber vielleicht könnte man ja
versuchen, irgendwie eine Ausnahme für die Wasser-
wirtschaft zu erreichen. – Das war nichts!

Stellen Sie sich das doch einmal vor: Jede Kommune
muss zukünftig in regelmäßigen Abständen europaweit
ausschreiben und Konzessionen vergeben. Viele Kom-
munen bei uns haben zehn- oder fünfzehntausend Ein-
wohner. Der Bürgermeister macht vieles selbst. Soll er
in Zukunft ein Team von Mitarbeitern einstellen, dessen
einzige Aufgabe es ist, die Vergabe von Dienstleistungs-
konzessionen zu überwachen? Was für ein Aufwand –
gerade für unsere kleinen Kommunen!

Sehr geehrte Damen und Herren von der Unionsfrak-
tion, geben Sie sich einen Ruck und bringen Sie mit uns
gemeinsam heute diese Subsidiaritätsrüge auf den Weg.
Lassen Sie sich doch nicht schon wieder von der FDP
wie ein Ochse am Nasenring durch die Manege führen.

Nach meinem Wissensstand werden die CDU-geführten
Bundesländer morgen im Bundesrat ebenfalls für eine
solche Rüge votieren. Dieser Antrag, eingebracht vom
Bundesland Bayern, sieht die Problematik ähnlich wie
wir.

In einer Frage, bei der es um die öffentliche Daseins-
vorsorge, das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, das
Wohl unserer Kommunen und ihrer kommunalen Unter-
nehmen geht, müssen Sie Verantwortung übernehmen.
Die FDP denkt auch in dieser Frage nur in alten neoli-
beralen Mustern, an die Prinzipien der Ordnungspolitik
und an ihre eigene Klientel. Denken Sie von der Union
mit uns gemeinsam im Gegensatz dazu an den Schutz der
kommunalen Daseinsvorsorge und das Wohl der Bürge-
rinnen und Bürger! Stimmen Sie für unseren Antrag!


Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1716228100

Als kommunalpolitische Sprecherin meiner Fraktion

und vor allem als Stadträtin meiner Heimatstadt Mann-
heim weiß ich nur zu gut, welche negativen Folgen man-
che Entscheidung oder Vorgabe aus Brüssel für die
Kommunen in Deutschland haben können. Unter diesem
Gesichtspunkt ist auch die Diskussion über einzelne As-
pekte des Gesetzesvorhabens zur Modernisierung des
Vergaberechts zu betrachten. Die EU-Kommission hat
am 20. Dezember 2011 im Rahmen der Binnenmarktakte

(Single Market Act) ein Legislativpaket zur Modernisie-

rung des Vergaberechts vorgelegt, darunter einen Vor-
schlag für eine Richtlinie zur Vergabe von Konzessio-
nen. Die FDP unterstützt das grundlegende Anliegen
der Kommission, bestehende rechtliche und verfahrens-
technische Unsicherheiten bei der Konzessionsvergabe
zu beseitigen. Wir waren immer für eine Öffnung des
Binnenmarktes und die Schaffung gleicher Spielregeln
für alle Marktteilnehmer in Europa. So auch in diesem
Fall.

Aber ich sage auch ganz klar: Das Subsidiaritäts-
prinzip ist ein hohes Gut. Subsidiarität bedeutet in die-
sem Fall, dass die Kommunen ihre Aufgaben in Eigen-
verantwortung wahrnehmen. Die Bundesregierung hat
sich bei ihren Verhandlungen im Europäischen Rat stets
dafür eingesetzt, dass das Prinzip der Subsidiarität bei
allen EU-Rechtsetzungsakten gewahrt bleibt. Ich weise
an dieser Stelle auf eine Antwort der Bundesregierung
auf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vom 19. April 2011 zu den Plänen der Europäischen
Kommission zur Vergabe von Dienstleistungskonzessio-
nen hin. Dort heißt es wörtlich: „Die Bundesregierung
hält eine Einbeziehung der Dienstleistungskonzessionen
ins Vergaberecht im Sinne der uneingeschränkten An-
wendbarkeit der vergaberechtlichen Regelungen nicht
für erforderlich oder sinnvoll“. Und weiter heißt es
dort: „Die Entscheidungshoheit, ob eine Aufgabe der
Daseinsvorsorge durch die Kommune selbst oder durch
Dritte erledigt wird, muss auch weiterhin der öffentli-
chen Hand überlassen bleiben.“ Da sind wir uns alle ei-
nig.

Wenn sich eine Kommune jedoch dafür entscheidet,
einen externen Anbieter mit der Wahrnehmung solcher
Aufgaben zu betrauen, so setzt die FDP sich dafür ein,

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)


die entsprechenden Konzessionen in einem transparen-
ten und von Wettbewerb geprägten Markt auszuschrei-
ben. Hier müssen gleiche Spielregeln für alle Teilnehmer
an der Ausschreibung gelten. Im Mittelpunkt steht nicht:
Wer macht Gewinn, Kommune oder Private? Im Mittel-
punkt muss der Nutzen für die Bürger stehen, im Sinne
von „beste Qualität zum bestmöglichen Preis“.

Die öffentliche Daseinsvorsorge ist unbestritten ein
höchst sensibler Bereich, in dem wir eine Qualitätsmin-
derung zulasten der Bürgerinnen und Bürger nicht hin-
nehmen. Das gilt insbesondere für die Trinkwasserver-
sorgung: Die Qualität unseres Trinkwassers ist führend
in Europa. Und das ist ein Verdienst der kommunalen
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung.

Die Bundesregierung hat dies im Blick. Das ergibt
sich eindeutig aus der Antwort auf die Anfrage der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen, die ich gerade zitiert habe.
Auch die Koalitionsfraktionen unterstützen die Bundes-
regierung durch ihren Entschließungsantrag, der am
8. Februar 2012 vom Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie angenommen wurde.

Die europäische Gesetzgebung im Sinne unserer
deutschen Interessen zu beeinflussen, ist allemal sinn-
voller als eine Subsidiaritätsrüge zu fordern – wie die
SPD es in ihrem Antrag tut – oder die gesamte Gesetzes-
vorlage abzulehnen, wie die Grünen es fordern. Damit
würden wir das Kind mit dem Bade ausschütten.

Die Kommunen mussten in der Vergangenheit man-
che Brüsseler Kröte schlucken. Basis aller Entscheidun-
gen muss das Subsidiaritätsprinzip und die Erhaltung
des Handlungsspielraumes für die Kommunen sein. Au-
ßerdem ist eine frühzeitige Einbeziehung der kommuna-
len Ebene bei europäischen Gesetzesvorhaben sicherzu-
stellen. Da gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716228200

Wir beschäftigen uns heute mit dem Vorschlag für

eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Konzessionsvergabe. Der Richtlinienvor-
schlag ist gemeinsam mit zwei Richtlinien zum Vergabe-
recht Bestandteil eines Gesetzespakets. Konkret geht es
darum, dass die Regelungen zur Vergabe von Bau- und
Dienstleistungskonzessionen durch die öffentliche Hand
in Europa vereinheitlicht werden sollen. Das Ziel be-
steht darin, ein vermeintlich höheres Maß an Rechts-
sicherheit herzustellen.

Dieses Vorhaben bringt mich als kommunale Man-
datsträgerin natürlich besonders zum Aufhorchen, und
ich denke, dass es einer ganzen Reihe von Kolleginnen
und Kollegen in diesem Haus genauso geht. Zumindest
habe ich gehört, dass die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie eine äußerst kritische Haltung gegenüber
dem Richtlinienvorschlag eingenommen haben.

Der Kommissionsvorschlag greift in Rechte der Kom-
munen ein, die nicht nur durch Art. 28 des Grundgeset-
zes, sondern auch durch den Vertag von Lissabon garan-
tiert werden. Dienstleistungskonzessionen betreffen die
unterschiedlichsten Bereiche kommunaler Aufgaben und

werden unter anderem im Bereich der Abfallentsorgung,
des öffentlichen Personennahverkehrs sowie der Woh-
nungswirtschaft vergeben. Die kommunale Gestaltungs-
freiheit an dieser Stelle muss unbedingt erhalten bleiben.
Eine zunehmende Verrechtlichung in diesem Bereich
durch die europäische Ebene würde die kommunalen
Handlungsspielräume deutlich einschränken.

Besonders negative Auswirkungen wären durch den
Richtlinienvorschlag bei der Wasserver- und Abwasser-
entsorgung zu erwarten. Diese gehört zu den kommuna-
len Aufgaben und wird in der Regel auch durch die Kom-
mune selbst oder durch kommunale Unternehmen
erfüllt. Selbst die Koalition erkennt in ihrem Entschlie-
ßungsantrag im Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie vom 3. Februar 2012 an, dass die in Deutschland
von den Kommunen verantwortete Trinkwasserversor-
gung qualitativ in Europa führend ist und dass bei euro-
paweiten Ausschreibungen in diesem Bereich eher die
Gefahr einer Verschlechterung des Qualitätsstandards
bestünde.

Soweit der Richtlinienvorschlag mit mangelnder
Rechtssicherheit bei der Vergabe von Konzessionen be-
gründet wird, ist dies schlicht nicht nachvollziehbar.
Kommunen und andere öffentliche Stellen müssen bei der
Vergabe von Dienstleistungskonzessionen die Grundre-
geln des EG-Vertrages und insbesondere das Verbot der
Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
einhalten. Was das im konkreten Einzelfall bedeutet, hat
der Europäische Gerichtshof durch eine Reihe von Ent-
scheidungen ausreichend präzisiert. Im Übrigen vertritt
er in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass für
Dienstleistungskonzessionen kein besonderer Regelungs-
bedarf seitens der EU besteht.

Tatsächlich dürfte die Absicht, durch eine Richtlinie
ein höheres Maß an Rechtssicherheit herzustellen, nur
vorgeschoben sein. Die Begründung des Vorschlags
macht noch eine andere Intention deutlich. Es wird er-
klärt, dass eine europäische Gesetzgebungsinitiative im
Bereich der Konzessionen zur Schaffung eines EU-Rah-
mens zur Förderung öffentlich-privater Partnerschaften
beitragen könnte. Spätestens hier wird deutlich, dass es
in Wirklichkeit darum geht, weitere Privatisierungen vo-
ranzutreiben und die Kommunen und ihre Unternehmen
in den rechtlichen Auseinandersetzungen mit Privaten
zu schwächen.

Gegen den Richtlinienvorschlag spricht auch der
Subsidiaritätsgedanke, der zu den zentralen Prinzipien
Europas zählt. Die EU darf in Bereichen, die nicht in
ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wer-
den, soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maß-
nahme weder auf staatlicher noch auf regionaler oder
lokaler Ebene erreicht werden können. Für etwaige
Wettbewerbsverzerrungen oder Marktabschottungen be-
stehen aber gerade keine Anhaltspunkte. Mit dem Subsi-
diaritätsprinzip lässt sich auch erklären, warum Dienst-
leistungskonzessionen bisher von den europäischen
Richtlinien zum Vergaberecht ausdrücklich nicht erfasst
wurden.

Die soeben von mir vorgetragenen Argumente lassen
für meine Fraktion nur einen Schluss zu: den Vorschlag

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)


für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Konzessionsvergabe abzulehnen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716228300

Die EU-Kommission hat am 20. Dezember 2011 ihre

Vorschläge zur Modernisierung des öffentlichen Verga-
berechts vorgelegt. Diese enthalten zukunftsweisende
Elemente, wie einen verbesserten Zugang und weniger
Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen bei Ver-
gabeverfahren oder auch breitere Möglichkeiten für eine
Vergabe nach sozialen Kriterien in den Kommunen. Al-
lerdings unterbreitet die Kommission in diesem Zusam-
menhang auch einen umfänglichen Richtlinienvorschlag
zur Vergabe von Konzessionen, der in das Selbstverwal-
tungsrecht und die Gestaltungsfreiheit der Kommunen
eingreift und nicht verhältnismäßig ist.

Dienstleistungskonzessionen haben in der Regel
lange Laufzeiten und brauchen demgemäß eine gewisse
Flexibilität. Die Gestaltungsspielräume der Kommunen
bei der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen müs-
sen deshalb erhalten bleiben. Diese Haltung hatte der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Deut-
schen Bundestages bereits am 1. Dezember 2010 in ei-
nem gemeinsamen Schreiben an den Kommissar für Bin-
nenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, zum
Ausdruck gebracht und sich dafür ausgesprochen, dass
die Rechtsetzungsinitiative zur Vergabe von Dienstleis-
tungskonzessionen kein Regelungstatbestand der Euro-
päischen Union sein sollte. An dieser Forderung halten
wir Grünen auch weiterhin fest und fordern die Bundes-
regierung daher auf, im Europäischen Rat darauf hinzu-
wirken, dass der vorgelegte Richtlinienvorschlag zur
Konzessionsvergabe abgelehnt wird. In diesem Sinne
werden wir auch dem parallel vorgelegten Antrag der
SPD-Fraktion zustimmen.

Die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen ist der-
zeit bewusst vom Anwendungsbereich des Vergaberech-
tes ausgenommen. Sie sind, im Gegensatz zu der öffent-
lichen Beschaffung, auch nicht in den internationalen
Verträgen fixiert. Durch das bestehende Primärrecht der
Europäischen Union, also Gleichbehandlung, Nichtdis-
kriminierung und Transparenz, und die ständige Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofes hierzu, sind
Dienstleistungskonzessionsvergaben hinreichend rechts-
sicher geregelt. So sieht es auch der Europäische Ge-
richtshof selbst.

Die Kommission begründet ihren Rechtsetzungsvor-
schlag damit, dass die bisherige Regelungslücke
schwerwiegende Verzerrungen des EU-Binnenmarkts
zur Folge habe. Allerdings sind in den Bereichen Infra-
struktur und Daseinsvorsorge, auf die der Vorschlag
zielt, schwerwiegende Wettbewerbsverzerrungen oder
eine Marktabschottung, die eine solche Regulierung ge-
gebenenfalls erfordern würden, bislang nicht erkennbar
und von der EU-Kommission auch nicht nachgewiesen
worden. Im Bereich der Dienstleistungskonzessionsver-
gabe besteht deshalb keine Notwendigkeit einer weite-
ren Verrechtlichung mit den entsprechenden bürokrati-
schen Belastungen für öffentliche Auftraggeber und
Unternehmen. Ähnliche Bewertungen haben der Bun-
desrat und das Europäische Parlament sogar mehrmals,

so zum Beispiel im Bericht „Neue Entwicklungen im öf-
fentlichen Auftragswesen“ vom 18. Mai 2010 sowie im
Bericht „Über die Modernisierung im Bereich des öf-
fentlichen Auftragswesens“ vom 5. Oktober 2011, abge-
geben und einen Richtlinienvorschlag zur Dienstleis-
tungskonzessionsvergabe daher abgelehnt.

Der Bundesrat wird sich in seiner Sitzung am kom-
menden Freitag nochmals mit der Problematik beschäf-
tigen. Der Innen- und Wirtschaftsausschuss und auch
der Ausschuss für Städtebau und Wohnungswesen emp-
fehlen, zu dem Vorschlag eine Subsidiaritätsrüge zu er-
heben. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich der Bundes-
rat insgesamt dieser Ausschussmeinung anschließt. Die
Bundesratsausschüsse kritisieren darüber hinaus, dass
die vorgeschlagenen Regelungen zu einem unverhältnis-
mäßigen Aufwand führen würden. Das ist ein sehr
schwerwiegender Einwand. Der vorgelegte Vorschlag
der Kommission begrenzt sich gerade nicht auf die Ko-
difizierung der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofes, sondern geht weit darüber hinaus. Wir mei-
nen, dass die vorgesehenen Schwellenwerte angesichts
der langen Laufzeiten von Dienstleistungskonzessionen
deutlich zu niedrig liegen. Darüber hinaus sollen sie
auch die voraussichtlichen Einnahmen und die vom
Konzessionsgeber zu zahlenden Beiträge erfassen.
Diese Definition beschwört Rechtsunsicherheiten herauf
und öffnet Rechtsstreitigkeiten Tür und Tor. Das gilt
auch für die Definition der Laufzeit. Insgesamt würde
die Verwendung von Dienstleistungskonzessionen deut-
lich erschwert.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716228400

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8761. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/8768. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieser An-
trag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion abgelehnt, gegen die Stimmen der übrigen
Fraktionen des Hauses.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Sabine Zimmermann, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Bundesmittel zur Finanzierung der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminde-
rung 1 : 1 an Kommunen weiterreichen

– Drucksache 17/8606 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch hier die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege
Lange von der Unionsfraktion, Kollegin Hiller-Ohm für
die SPD-Fraktion, Kollege Kober für die FDP-Fraktion,
Kollegin Kunert für die Fraktion Die Linke und Kollegin
Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sollte uns rechtzeitig vor Drucklegung des Protokolls
der Beitrag des Kollegen Tauber von der Unionsfraktion
erreichen, nehmen wir diesen ebenfalls zu Protokoll.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1716228500

Heute führen wir wieder eine der typischen Debatten,

weil die Linken verzweifelt nach einem Thema suchen
und dabei Gesetze kritisieren, die von allen, Bund, Län-
dern und Kommunen, positiv gewertet werden. Ich spre-
che vom Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kom-
munen, das seit dem 1. Januar 2012 in Kraft ist.

Worum geht es? Im Jahr 2003 hat Rot-Grün die
Grundsicherung eingeführt; wie so häufig aber nicht auf
Kosten des Bundes, sondern auf Kosten der Kommunen,
ohne einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Dies
hat sich aufgrund der steigenden Kosten zu einem der
größten Posten in den kommunalen Haushalten entwi-
ckelt, die Kommunen waren finanziell völlig überlastet.
Dennoch hat Rot-Grün in keiner Weise reagiert.

Um die Finanznot der Kommunen zu verringern, hat
die christlich-liberale Bundesregierung im Jahr 2010
die Gemeindefinanzkommission eingesetzt, zu deren
Aufgaben es gehörte, Möglichkeiten zur finanziellen
Entlastung der Kommunen bei den Ausgaben zu prüfen
und Lösungsvorschläge zu den drängenden Problemen
des kommunalen Finanzsystems zu erarbeiten. Der Vor-
schlag, die Kommunen bei den Aufwendungen zur
Grundsicherung finanziell zu entlasten, indem die Bun-
desbeteiligung bei der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung schrittweise angehoben wird, wurde
von allen Seiten begrüßt.

Wir haben ein gigantisches Paket geschnürt, und
diese Debatte gibt mir die Gelegenheit aufzuzeigen, dass
die christlich-liberale Regierungskoalition ein Maßnah-
menpaket für die Kommunen verabschiedet hat, das al-
lein bis 2015 die Kommunen um nahezu 13 Milliarden
Euro entlastet. Zusammen mit dem beschlossenen Bil-
dungspaket hat der Bund von den Kommunen bis zum
Jahr 2020 Kosten in einer Größenordnung von mehr als
50 Milliarden Euro übernommen. Dies ist die größte
Entlastung der Städte, Gemeinden und Kreise seit Beste-
hen der Bundesrepublik Deutschland.

Wir haben damit ein Versprechen aus der Koalitions-
vereinbarung erfüllt, in der es unter anderem heißt: Wir
wollen in Deutschland starke Kommunen. Zusammen
mit den kommunalen Spitzenverbänden werden wir nach
Wegen suchen, Entlastungen für die Kommunen zu iden-
tifizieren. – Wir haben nicht nur gesucht, sondern wir
haben in der Gemeindefinanzkommission auch einver-
nehmlich mit allen kommunalen Spitzenverbänden einen
sehr guten Weg gefunden. Jetzt haben die Kommunen
wieder mehr Geld zur Verfügung, um ihren zahlreichen
Aufgaben nachzukommen.

Und was macht die Linke? Sie kritisieren, dass die
Abrechnung vom Vorvorjahr erfolgt. Dabei wissen Sie
ganz genau, dass die Nettoausgaben nach geltendem
Recht (§ 46 a SGB XII) auf der Grundlage der Bundes-
statistik für das Vierte Kapitel SGB XII erstattet werden.
Die im Jahr der Zahlung der heutigen Bundesbeteili-
gung am aktuellsten verfügbaren Daten beziehen sich
auf das Vorvorjahr. Ich möchte zur Verdeutlichung ein
Beispiel anführen: Die Bundesstatistik für das Jahr
2010 lag im November 2011 vor und bildete die Grund-
lage für die Höhe der Bundesbeteiligung 2012 bei Haus-
haltsaufstellung 2012 und damit für die Zahlung der
Bundesbeteiligung im Jahr 2012. Zusätzlich werden die
Korrekturmeldungen zum Stand 1. April 2012 für das
Jahr 2010 berücksichtigt.

Generell gilt, dass der Anteil des Bundes nur auf Ba-
sis statistischer Daten eines zurückliegenden Zeitraums
gezahlt werden kann. Zwangsläufige Folge ist ein „time
lag“ zwischen dem Zeitraum, der als Berechnungs-
grundlage gilt, und dem oder den Auszahlungszeitpunk-
ten.

Aufgrund der Sachargumente fordere ich die Linke
auf: Ziehen Sie Ihren populistischen Antrag zurück und
arbeiten Sie zur Abwechslung einmal konstruktiv an der
Beseitigung der zahlreichen Probleme unserer Gesell-
schaft, anstatt dem Bundestag mit solch unnötigen An-
trägen die Zeit zu stehlen.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1716228600

Wir debattieren heute erneut über die Kostenüber-

nahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung durch den Bund und die damit verbundene fi-
nanzielle Entlastung der Kommunen. Ich wundere mich
darüber, denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist bereits nach intensiven Debatten im Ausschuss und
hier im Plenum am 27. Oktober 2011 beschlossen wor-
den.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
ben dem Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kom-
munen zugestimmt, allerdings mit Bauchschmerzen, die
wir, wie Sie auch, meine Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, in entsprechenden Anträgen zum Ausdruck
gebracht haben.

Im Vermittlungssauschuss zu den Hartz-VI-Regelsät-
zen war den Städten und Gemeinden die Übernahme der
Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung zugesagt worden. Bislang mussten die Kom-
munen diese Kosten fast allein tragen – eine Last, die
viele nicht mehr stemmen konnten.

Auf einen Schlag war die 100-prozentige Übernahme
durch den Bund nicht möglich, deshalb hat man sich auf
ein Stufenverfahren geeinigt. Nach langer Wartezeit lag
das Gesetz dann endlich auf dem Tisch. Doch darin
wurde lediglich die erste Entlastungsstufe gesetzlich ge-
regelt. Ab 2012 werden Städte und Gemeinden um 45 Pro-
zent entlastet. Für das weitere Vorgehen wurde ein Ver-
fahrensvorschlag in der Begründung des Gesetzes dar-
gelegt. Dieses Gesetz hat unsere Erwartungen nicht er-





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


füllt. Auch die Kommunen fühlten sich über den Löffel
barbiert.

Ich fasse noch einmal zusammen: Im Gesetz wurde
nur die Steigerung der Kostenübernahme der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für das
Jahr 2012 mit einer Bundesbeteiligung von 45 Prozent
abgesichert. Zu den weiteren Entlastungsstufen der
Jahre 2013 und 2014, in denen die Bundesbeteiligung
auf 75 Prozent bzw. 100 Prozent ansteigen soll, liegt bis
heute nichts vor. Das haben wir bereits im Oktober letz-
ten Jahres kritisiert. Die Bundesregierung ist mit ihrem
Gesetz zu spät in die Puschen gekommen. Die Kommu-
nen und Landkreise müssen nun unter der schwarz-gel-
ben Bummelei leiden! Sie können zwar mit der für dieses
Jahr geplanten Entlastung von 1,2 Milliarden Euro
rechnen, jedoch fehlt ihnen für die nachfolgenden Jahre
schlicht die Planungssicherheit. In der kommunalen
Praxis bedeutet dies, dass keine Doppelhaushalte verab-
schiedet werden können und auch keine seriöse mittel-
fristige Finanzplanung möglich ist. So steht Schwarz-
Gelb zu den Kommunen!

Ich rufe allen noch einmal in Erinnerung, über wel-
che erheblichen Größenordnungen wir sprechen: Bei
den geplanten weiteren Entlastungsstufen handelt es
sich um ein Volumen von 2,7 Milliarden Euro im Jahr
2013, 4,1 Milliarden Euro für das Jahr 2014 und
4,4 Milliarden Euro im Jahr 2015.

Warum, Frau Ministerin von der Leyen, haben Sie
nicht frühzeitiger mit der Arbeit begonnen und Ihre
Hausaufgaben rechtzeitig gemacht? Sie hätten uns allen
diesen unbefriedigenden langwierigen Prozess ersparen
können!

Dass der Bund überhaupt schrittweise die vollen Kos-
ten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-
rung übernimmt, haben wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten im Rahmen der Verhandlungen über
das Hartz-IV-Paket im Februar letzten Jahres durchge-
setzt. Das ist ein großer politischer Erfolg, den wir im
Vermittlungsausschuss für die klammen Kommunen aus-
gehandelt haben. Wir haben – im Gegensatz zu Ihnen,
meine Damen und Herren aus der Linksfraktion – unsere
Verantwortung wahrgenommen und dem Gesetzentwurf
zugestimmt, damit wenigstens die erste Entlastungsstufe
für dieses Jahr erreicht werden konnte. Denn die Kom-
munen und Landkreise dürfen und sollen nicht unter der
schlechten Arbeit der Bundesregierung leiden.

Deshalb haben wir auch in unserem Entschließungs-
antrag zur Verabschiedung des Gesetzes als einzige
Fraktion ergebnisorientiert im Sinne der Planungssicher-
heit der Landkreise und Kommunen eine verbindliche
Frist bis zum 1. April dieses Jahres zur Vorlage eines
weiteren Gesetzentwurfes gefordert. Nur durch eine
rechtzeitige Vorlage kann eine Wiederholung der Situa-
tion wie im vergangenen Jahr verhindert werden. Leider
scheint Ministerin von der Leyen solche Fristen zu brau-
chen.

Bis zum 1. April ist es heute nun noch genau einen
Monat hin. Ich appelliere an die Bundesregierung, diese
Zeit zu nutzen und dem Deutschen Bundestag bis April

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die zweite und
dritte Entlastungsstufe der Jahre 2013 und 2014 rechts-
verbindlich und vernünftig umsetzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs-
fraktionen, ich erinnere mich noch sehr genau an die
großspurigen Worte von Peter Götz aus der CDU-Frak-
tion hier im Plenum. Er sprach im September letzten
Jahres von der größten Entlastung der Kommunen seit
Bestehen der Bundesrepublik. Wenn Sie es wirklich ernst
meinen, sollte auch der Abrechnungsmodus noch einmal
überdacht werden und eine zeitnähere Abrechnung als
die bisherige eingeführt werden.

Jetzt werden die Aufwendungen der Kommunen des
Vorvorjahres für die Rückerstattung des Bundesanteils
zugrunde gelegt. Da die Kosten der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung ständig ansteigen, ver-
lieren die Kommunen so viele Millionen Euro.

Auch dies hatten wir in unserem Entschließungs-
antrag zu dem Gesetzentwurf deutlich gemacht. Unser
Entschließungsantrag war und ist daher ein klares Si-
gnal an die Kommunen, dass die SPD zu ihrem Verhand-
lungserfolg steht und die Entlastung wie verabredet
durchsetzen will.

Genau wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion, bin auch ich ungeduldig und will wissen,
wann denn nun der nächste Gesetzentwurf kommt. Ich
habe deshalb bei der Bundesregierung nachgefragt,
wann sie beabsichtigt, den neuen Gesetzentwurf zur Um-
setzung der Entlastungsstufen für die Jahre 2013 und
2014 mit einer Bundesbeteiligung von 75 bzw. 100 Pro-
zent an den Kosten der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung vorzulegen. Ich hoffe, dass ich damit
Frau Ministerin von der Leyen und das Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales aus ihrem Winterschlaf ge-
weckt habe.

Solche Wege hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen aus der Linksfraktion, auch gehen können. Dies
wäre zweckmäßiger gewesen, als jetzt einen Antrag
ohne neuen Inhalt einzubringen und alten Wein in neue
Schläuche zu gießen.

Die Bundesregierung ist nun in der Bringschuld. Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokarten werden der
schwarz-gelben „Bummelregierung“ Beine machen und
ihr ganz genau auf die Finger schauen. Wir sind sehr ge-
spannt, was die Bundesregierung vorlegen wird. Die
Städte und Landkreise brauchen endlich Planungssi-
cherheit.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1716228700

Am 27. Oktober 2011 haben wir hier im Deutschen

Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der
Kommunen beschlossen. Wir kamen damit einer im
Rahmen des Vermittlungsverfahrens zur Neuberechnung
der Arbeitslosengeld-II-Regelsätze getroffenen Verein-
barung nach und haben damit die Voraussetzungen für
eine Entlastung der Kommunen geschaffen, wie es sie in
dieser Höhe in der Geschichte der Bundesrepublik noch
nie gegeben hat.

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Diese christlich-liberale Koalition hat dafür gesorgt,
dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012
und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden
Euro entlastet werden. Hätten wir keine gesetzlichen
Änderungen herbeigeführt, läge die Kostenübernahme
durch den Bund im kommenden Jahr nicht bei 45 Pro-
zent, sondern nur bei 16 Prozent.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem
Antrag kritisieren Sie vor allem drei Punkte, mit denen
ich mich jetzt im Einzelnen befassen möchte.

Sie beschreiben, dass es Signale gäbe, dass einige
Länder die Mittel nicht in vollem Umfang an die Kom-
munen weiterleiten. Ich kann Ihnen sagen, ich habe sol-
che Signale auch vernommen. Ich zitiere einmal aus der
Schweriner Volkszeitung vom 8. Februar dieses Jahres:
„Zwischen den neuen Großkreisen und dem Land ist ein
erster handfester Streit entbrannt: Während das Sozial-
ministerium Mittel des Bundes in zweistelliger Höhe für
die Grundsicherung im Alter – also Gelder für arme und
ärmere Senioren – einbehalten will, fordern sie die Kom-
munen für sich. Allein 2012 könnte die Summe rund
20 Millionen Euro betragen, für das Jahr 2015 schätzt
sie der Landkreistag auf 77 Millionen Euro, sagte Ge-
schäftsführer Jan Peter Schröder auf Nachfrage.“ Wei-
ter heißt es dort: „Den Stein ins Rollen gebracht hatte
die Landes-FDP.“

Am Nachmittag des gleichen Tages hat Frau Schwesig,
die sich ja gerne als die wahre Kämpferin für die Kom-
munen und Schwächsten darstellt, dann dargelegt, dass
das Land nun doch die Mittel vollständig an die Kommu-
nen weitergibt. Ein Erfolg für die Kommunen bewirkt
durch die FDP in Mecklenburg-Vorpommern.

Wir sollten uns hier alle einig sein, dass die Länder
unseren gesetzgeberischen Willen umsetzen und nicht zu-
lasten der Kommunen tricksen sollten, um ihre eigenen
Einnahmen zu erhöhen. Daher kann ich diesem Punkt im
Antrag der Linken voll zustimmen.

Den anderen beiden Punkten jedoch nicht: Sie zwei-
feln an, dass der Bund die rechtlichen Grundlagen für
die Kostenübernahme ab 2013 legen wird. Hier muss ich
Ihnen entschieden widersprechen. Schon in den Debat-
ten zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kom-
munen haben andere Redner der Koalitionsfraktionen
und auch ich klar gemacht, weshalb bisher nur die Kos-
tenübernahme für das Jahr 2012 gesetzlich geregelt
wurde. Ich erläutere es Ihnen aber gerne noch einmal.

Sie sollten wissen, dass mit der Kostenübernahme die
Einrichtung einer Behörde im Rahmen der Bundesauf-
tragsverwaltung zusammenhängt. Die Einrichtung die-
ser Behörde bedarf einiger Regelungen und Änderun-
gen. Sie bedarf der Verankerung von Prüf- und
Weisungsrechten des Bundes und der Einführung und
Umsetzung einer ganzen Reihe von Regelungen, was
seine Zeit braucht. Wir werden aber in diesem Jahr die
Voraussetzungen für die Kostenübernahme in den kom-
menden Jahren schaffen.

Zudem fordern Sie, dass die Abrechnung und Erstat-
tung auf Basis der laufenden Nettokosten erfolgen sollte.
Sie sollten jedoch auch wissen, dass die Zahlen über die

Höhe der Kosten der Grundsicherung im Alter nicht so-
fort zur Verfügung stehen, sondern erst mit einiger Ver-
zögerung. So ist es auch bei den Kosten der Unterkunft
oder den Kosten für das Bildungs- und Teilhabepaket.

Daher könnte eine sofortige Abrechnung nur eine
Schätzung sein und müsste dann im Nachhinein nachjus-
tiert werden. Dieser Aufwand ist an dieser Stelle nicht
gerechtfertigt, zumal die Kommunen ja die entstanden
Kosten vom Bund vollständig erstattet bekommen.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716228800

Ende Oktober beschloss der Deutsche Bundestag das

Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen.
Der Bund soll die Kosten für die Grundsicherung im Al-
ter und bei Erwerbsminderung schrittweise bis 2014
vollständig übernehmen. In der Begründung des Geset-
zes wird ausdrücklich erklärt, dass mit der erhöhten Be-
teiligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung
die Kommunalfinanzen gestärkt werden sollen. Als maß-
gebliche Höhe der Gesamtkosten der Grundsicherung
werden die Nettoausgaben der Kommunen aus dem Vor-
jahr herangezogen.

Eine tatsächliche Entlastung der Kommunen bei die-
sen Kosten wird aber nur dann erreicht, wenn die Mittel
vollständig an die Kommunen gehen und ihnen die lau-
fenden Nettokosten erstattet werden.

Für die Linke ist das Gesetz in dieser Form eine Mo-
gelpackung; denn die Umsetzung dieses Gesetzes ver-
hindert eine komplette Kostenübernahme durch den
Bund. In einer Antwort bestätigt die Bundesregierung
erneut, dass sie bei den Kosten für die Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung in den nächsten
Jahren von einer kontinuierlichen Steigerung ausgeht.
Gleichzeitig soll sich die Höhe der Bundesbeteiligung
an diesen Kosten nicht an der aktuellen Entwicklung,
sondern an den Werten des jeweiligen Vorjahres orien-
tieren. Bei der von der Bundesregierung prognostizier-
ten steigenden Kostenentwicklung in diesem Bereich
kann also nie der Zustand erreicht werden, der die kom-
plette Kostenübernahme durch den Bund sicherstellt.
Ein wie auch immer auszusehender Ausgleich hierfür ist
laut Antwort der Bundesregierung ausdrücklich nicht
vorgesehen.

Es liegt auf der Hand: Die hierdurch entstehenden
Fehlbeträge müssen weiterhin durch die Kommunen ge-
tragen werden.

Legt man die Zahlen zugrunde, auf die die Bundes-
regierung in ihrer Antwort verweist, steigen die Kosten
für die Grundsicherung im Jahr 2013 um über 860 Mil-
lionen Euro, im Jahr 2014 um knapp 510 Millionen Euro
und im Jahr 2015 um weitere 284 Millionen Euro. In Be-
zug auf die Vorvorjahre müssen dann die Kostensteige-
rungen von zwei Jahren durch die Kommunen aufgefan-
gen werden.

Das ist aus Sicht der Linken keine kommunalfreundli-
che Politik, auch wenn dies der Kollege Götz gern vor
sich herträgt. Die vielfach abgegebenen Pressemittei-
lungen hierzu ersetzen mitnichten eine kommunal-
freundliche Politik.

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)


Die Linke will, dass der Finanzierungsmodus für die
Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung so klar gesetzlich geregelt wird, dass Ab-
rechnung und Erstattung der Kosten auf Basis der ak-
tuellen Nettokosten erfolgen. Es müssen die rechtlichen
Grundlagen für eine Kostenübernahme des Bundes in
Höhe von 75 Prozent ab 2013 und in Höhe von 100 Pro-
zent ab 2014 geschaffen werden.

Nun will ich etwas zu den angepriesenen Einsparun-
gen für die Kommunen sagen. Bereits jetzt gibt es nach
Aussagen des Deutschen Städtetages Signale aus eini-
gen Ländern, dass sie die Mittel nicht in vollem Umfang
an ihre Kommunen weitergeben werden. Zum Teil sollen
diese Mittel für die Finanzausgleichsmasse innerhalb
des Landes mit Verweis auf die erhöhte Bundesbeteili-
gung gekürzt werden. Die Länder haben sich mit der Zu-
stimmung zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der
Kommunen und dessen Gesetzesbegründung zu einer
tatsächlichen Entlastung der Kommunen bekannt. Kür-
zungen oder eine Nichtweiterleitung von entsprechen-
den Bundesmitteln stehen in einem eklatanten Wider-
spruch zu diesem Bekenntnis.

Die Linke will, dass die Bundesmittel zur Finanzie-
rung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin-
derung in vollem Umfang an die Kommunen weiter-
gereicht werden. In einem Gesetzentwurf muss
insbesondere im Rahmen der Aufsicht nach Art. 84
Abs. 3 Grundgesetz dafür Sorge getragen werden, dass
die Länder die Mittel für die Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung vollständig an ihre Kommu-
nen weiterzureichen haben.

Das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu-
nen suggeriert den Willen des Bundes, die Kommunen
beim Aufgabenvollzug von Kosten zu entlasten. Dies be-
tonte die Arbeitsministerin mehrfach. Wird es aber kon-
kret, zieht sich die Bundesregierung gern dahinter
zurück, dass es laut Grundgesetz keine direkten Finanz-
beziehungen zwischen Bund und Kommunen gibt.

Das ist zwar korrekt, aber dann tun Sie doch bitte
nicht so!

Abschließend fordere ich im Namen meiner Fraktion
– so haben wir es in unserem Antrag auch formuliert –,
dem Deutschen Bundestag ab dem Jahr 2012 jährlich
darüber Bericht zu erstatten, inwieweit die beabsichtigte
Entlastung der Kommunen tatsächlich eingetreten ist.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716228900

Die Fraktion Die Linke greift mit ihrem heute zur

Debatte stehenden Antrag ein Problem auf, das wir be-
reits im Oktober letzten Jahres beim Gesetz zur Stärkung
der Finanzkraft der Kommunen (Drucksache 17/7141)

verhandelt haben. Dieses Gesetz regelt – entgegen aller
Vereinbarungen in der Gemeindefinanzkommission der
Bundesregierung – nicht die vollständige Übernahme
der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Er-
werbsminderung durch den Bund. Bereits damals kriti-
sierte meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
Antrag „Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt
finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nach-


(Drucksache 17/7189)

sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht
vollständig an die Kommunen weitergegeben werden.
Die Fraktion Die Linke kritisiert dies nun ebenfalls zu
Recht.

Ich möchte heute die mangelnde Spitzabrechnung sei-
tens der Bundesregierung gegenüber den Kommunen in
den Fokus rücken, die Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, gerne unter den Tisch fal-
len lassen, wenn Sie mit Ihrer Botschaft, was Sie alles
für die Kommunen tun, durch die Lande ziehen. Auch
wir Grüne begrüßen, dass der Bund die Kosten der
Grundsicherung im Alter ab 2014 übernimmt. Aller-
dings dürfen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
Union und FDP, bei der gesetzlichen Umsetzung die
Städte, Gemeinden und Landkreise nicht gleich wieder
über den Tisch ziehen. Ohne Not wollen Sie den Kommu-
nen die Kosten der Grundsicherung im Alter nur auf der
Basis der Ausgaben des Vorvorjahres erstatten. Bei
jährlichen Ausgabensteigerungen bei der Grundsiche-
rung von 7 Prozent, wie es das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales für den Bundeshaushalt zugrunde
legt, werden den Kommunen 14 Prozent und mehr der
tatsächlichen Ausgaben nicht zugewiesen. Der Deutsche
Städtetag hat ausgerechnet, dass von den 4 Milliarden
Euro für die Grundsicherung im Alter ab 2014 bundes-
weit den Kommunen eine halbe Milliarde Euro vorent-
halten wird. Für die Stadt Bielefeld, die heute rund
19 Millionen Euro für die Grundsicherung ausgibt, be-
deutet dies zum Beispiel eine vorenthaltene Erstattung
von 2,7 Millionen Euro! Von einer hundertprozentigen
Erstattung der Grundsicherungsleistungen kann also
keine Rede sein. Deshalb verbreiten Sie, verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte nicht
weiter die Mär von der vollständigen Übernahme der
Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund.

Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie die fehlende
Spitzabrechnung auf das Verhandlungsergebnis zwi-
schen Bund und Ländern im Vermittlungsausschuss zur
Hartz-IV-Reform im Februar letzten Jahres zurückfüh-
ren. Dort ist nicht festgehalten, dass auf der Basis des
Vorvorjahres abzurechnen ist, auch wenn das dort zu-
grunde gelegte Zahlentableau Zahlen des Statistischen
Bundesamtes aus dem Vorvorjahr als Basis nimmt, um
für die Folgejahre eine Projektion vorzunehmen. Der
Grund war schlichtweg, dass damals keine aktuelleren
Daten vorlagen. Das heißt aber nicht, dass dies für alle
Zeit so fortgeschrieben werden muss. Halten wir fest:
Der Bund verwehrt den Kommunen durch den Vorvor-
jahresbezug die vollständige Erstattung der Kosten der
Grundsicherung und hält sich nicht an die Vereinbarun-
gen mit den Ländern; denn keine vier Monate nach
Abschluss des Vermittlungsverfahrens zur Reform des
SGB II beschloss die Gemeindefinanzkommission zum
Themenkomplex „Standards“ in ihrer abschließenden
Sitzung am 15. Juni 2011: „Ab dem Jahr 2014 wird der
Bund den Kommunen die Ausgaben für die Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung vollständig
erstatten zu 100 Prozent. Dabei soll durch eine zeitnahe
Erstattung sichergestellt werden, dass eine möglichst

Zu Protokoll gegebene Reden





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)


geringe Vorfinanzierung durch Länder und Kommunen
angestrebt wird.“

Diesem Beschluss hat der Bund bei der Umsetzung
des ersten Schrittes zur Übernahme der Kosten der
Grundsicherung im Alter durch das „Gesetz zur Stär-

(Drucksache 17/7141)

rung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage zu
Drucksache 17/8669 vom 13. Februar 2012 bereits
deutlich gemacht, dass sie beim weiteren Umsetzungs-
schritt wiederum keine vollständige Kostenerstattung an
die Kommunen vornehmen und von ihrer bisherigen
Praxis nicht abweichen wird.

Dabei besteht kein sachlicher Grund, den Kommunen
eine vollständige Kostenerstattung auf der Basis der tat-
sächlichen Ausgaben zu verwehren. Wir Grüne haben in
unserem genannten Antrag vorgeschlagen, zunächst auf
der Basis der Daten des Vorvorjahres vorschussweise
abzurechnen und den Restbetrag den Kommunen auf der
Basis einer Spitzabrechnung zukommen zu lassen, so-
bald die tatsächlichen Ausgaben vom Statistischen
Bundesamt ermittelt sind. Dieser Weg würde den Be-
schlüssen der Gemeindefinanzkommission Rechnung
tragen und würde eine hundertprozentige Entlastung der
Kommunen von den Ausgaben für die Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung sicherstellen. Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP
sind jetzt gefordert. Noch ist Zeit. Die Bundesregierung
hat angekündigt, den Gesetzentwurf für die weiteren
Entlastungsschritte im Sommer vorzulegen. Setzen Sie
sich für unsere Kommunen ein und sorgen Sie mit uns
gemeinsam dafür, dass diese die Kosten der Grundsiche-
rung im Alter vollständig vom Bund erstattet bekommen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716229000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/8606 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer,
Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraftstof-
fen aus Teersanden bei der Umsetzung der
Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigen

– Drucksachen 17/7956, 17/8759 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Oliver Krischer

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege
Dr. Paul für die Unionsfraktion, Kollege Schwabe für
die SPD-Fraktion, Kollege Kauch für die FDP-Fraktion,
Kollegin Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke
und Kollege Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1716229100

Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in welchem gefordert
wird, dass die Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus
Teersanden bei der Umsetzung der Kraftstoffqualitäts-
richtlinie berücksichtigt werden soll. Um es gleich vor-
weg zu sagen: Das ist für uns nicht ausreichend.

Im Jahr 2009 wurde in Art. 7 a der EU-Kraftstoffqua-
litätsrichtlinie ein Treibhausgasminderungsziel für
Kraftstoffe eingeführt. Diese Fuel Quality Directive der
EU soll dazu führen, dass die Treibhausgasemissionen
des Verkehrssektors sinken. Das ist aus Umweltsicht
dringend erforderlich. Im Gegensatz zu den Sektoren In-
dustrie, private Haushalte sowie Handel und Gewerbe
ist der Verkehr der einzige Sektor, in dem der CO2-Aus-
stoß nach wie vor steigt. Hier muss angesetzt werden.

Die EU legte in der Kraftstoffqualitätsrichtlinie fest,
dass die Mineralölwirtschaft bis zum Jahr 2020 die
Treibhausgasemissionen der fossilen Kraftstoffe um
mindestens 6 Prozent im Vergleich zu 2010 reduzieren
muss.

Dieses Minderungsziel kann mit verschiedenen Maß-
nahmen erreicht werden, zum Beispiel durch den Einsatz
von Biokraftstoffen. Aber auch die differenzierte Be-
trachtung der Lebenszyklustreibhausgasemissionen der
unterschiedlichen Kraftstoffe ist sinnvoll. Dabei ist es
wünschenswert, langfristig die CO2-Emissionen, die bei
Förderung, Verarbeitung und Transport entstehen – also
vom Förderturm bis zum Tank –, zu betrachten. Der
damit verbundene bürokratische Aufwand der Nachver-
folgung einzelner Chargen in immer wieder unter-
schiedlich gemischt gefüllten Transport- und Lager-
behältern ist dem gegenüberzustellen. Insofern ist es
völlig richtig, wenn in der Kraftstoffqualitätsrichtlinie
für Mineralölprodukte festgelegt wird, dass der gesamte
Lebenszyklus in den Blick genommen wird und in durch-
schnittlichen Werten für die CO2-Emissionen, den soge-
nannten Defaultwerten in Kilogramm CO2-Äquivalent
pro Gigajoule, abgebildet wird.

Die Europäische Kommission hat im Oktober 2011
einen Vorschlag für eine Methodik vorgelegt, wie die
CO2-Emissionen berechnet werden sollen. Vorgeschla-
gen wurde, Öl aus verschiedenen Quellen grundsätzlich
unterschiedliche Treibhausgasemissionswerte im gesam-
ten Lebenszyklus zuzuweisen. Dabei soll Kraftstoffen auf
Basis von Ölsanden ein höherer CO2-Emissionswert an-
gelastet werden als Kraftstoffen aus konventionellem
Rohöl. Das ist auch gerechtfertigt.

Ölschiefer- und Teersandlagerstätten sind auf der
Erde weit verbreitet. Mit steigenden Ölpreisen wird der





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


energieintensive Abbau dieser Rohstoffe wirtschaftlich.
Für die Verarbeitung des stückigen oder feinkörnigen
ölhaltigen Schiefers beziehungsweise zur Extraktion des
Bitumens aus Teersanden zum Beispiel durch großtech-
nische Heißwasserextraktion wird viel Energie ver-
braucht. Dies verschlechtert die Treibhausgasbilanz von
Kraftstoffen aus Teersanden signifikant. Daneben führt
der Teersandabbau zu zahlreichen weiteren Umwelt-
problemen, unter anderem im Wasser- und Naturschutz-
bereich.

Der Import von aus Teersanden hergestellten Mine-
ralölprodukten hat zurzeit in Deutschland keine und in
der Europäischen Union nahezu keine Bedeutung. Trotz-
dem ist die Festlegung einheitlicher Kriterien innerhalb
der Europäischen Union richtig.

Aber nicht nur Teersande verursachen einen größe-
ren „Klima-Fußabdruck“. Auch bei der Ölförderung
aus konventionellen Quellen können und müssen Pro-
zesse optimiert werden. So gibt es Länder, in denen bei
Ölbohrungen mitgefördertes Gas abfackelt wird oder
Gas beim Pipelinetransport von Erdöl abgeblasen oder
auch abgefackelt wird. Eine Nutzung des Gases unter-
bleibt allein aus wirtschaftlichen Gründen. Die ökolo-
gischen Folgen dieser Art der Förderung sind gravie-
rend! So hat in die Atmosphäre gelangendes Methan
eine 21-mal höhere Klimaschädlichkeit als CO2. Auch
für diese Erdölprodukte muss der Druck erhöht werden,
die Treibhausgasbilanz zu verbessern.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen un-
terscheidet zwischen konventionellen und unkonventio-
nellen Quellen. Das ist einseitig und geht in der Sache
fehl. Wir wollen nicht einzelne Länder benachteiligen,
sondern die Erdölprodukte sollen nach ihrer spezifi-
schen Treibhausgasbilanz differenziert werden. Nur das
ist sachgerecht. Uns geht es schließlich nicht um billige
Effekthascherei, indem ein Land wie Kanada an den
„Ökö-Pranger“ gestellt wird, wie dies teilweise von den
Grünen gemacht wird. Uns geht es vielmehr um die
Sache. Das erfordert eine ehrliche Betrachtung der öko-
logischen Auswirkungen bei allen fossilen Kraftstoffen.

Für den Nachweis der Lebenszyklustreibhausgas-
emissionen ihrer Mineralölprodukte sollten die betroffe-
nen Unternehmen nicht mit unverhältnismäßigen Be-
richtspflichten und bürokratischen Anforderungen
überzogen werden. Anzustreben ist ein möglichst un-
bürokratisches Verfahren. Der Vorschlag der Europäi-
schen Kommission lässt an dieser Stelle eine Reihe von
Fragen offen. Ein einfaches Berichtssystem, welches die
vielfach vorhandenen Daten und Informationen nutzt,
die bereits heute von der Ölindustrie geliefert werden,
ist kompatibel mit den Vorgaben der Richtlinie. Ich for-
dere die Bundesregierung auf, sich in den Verhandlun-
gen auf europäischer Ebene für solche unbürokratischen
Verfahren einzusetzen.

Zu prüfen ist aus meiner Sicht auch der Vorschlag,
EU-weite Standardwerte jeweils für Benzin und für
Diesel, die die Lebenszyklustreibhausgasemissionen
nach Herkunftsländern widerspiegeln, einzuführen.

Ziel ist und muss sein, CO2-Fußabdrücke verschiede-
ner Kraftstoffe vergleichbar zu machen und im Zeitab-
lauf beobachten zu können. Die Festlegung gesonderter
Defaultwerte für besonders schlechte Treibhausgas-
bilanzen sind sinnvoll, da dadurch Anreize geschaffen
werden, andere, umweltfreundlichere Ausgangsbrenn-
stoffe zu verwenden und Transport- und Produktionspro-
zesse zu optimieren. Dazu müssen die Werte regelmäßig
überprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt werden.
Das belohnt Anstrengungen der Liefer- und Transport-
länder, die Treibhausgasbilanz der Produkte zu verbes-
sern.

Nur auf diese Weise lassen sich unsere Klimaziele für
die EU erreichen: bis 2020 den CO2-Ausstoß insgesamt
um 20 Prozent gegenüber 1990 zu senken und den Ver-
kehrssektor hieran angemessen zu beteiligen.

Die Grünen springen zu kurz. Deshalb lehnen wir
ihren Antrag ab.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1716229200

Ich fange mit der Frage an, die im Mittelpunkt der

Debatte steht: „Lassen wir es zu, dass unsere Klima-
schutzpolitik durch massive Lobbyarbeit ausgehöhlt
wird?“ Bei dieser Frage steht die Bundesregierung im
Mittelpunkt der Debatte. Denn bei der Abstimmung in
Brüssel werden wir nur dann eine Mehrheit für den Kli-
maschutz bekommen, wenn die Bundesregierung den
Klimaschutz unterstützt. Sollte sie mal wieder keine
Meinung haben, so lässt sie den zerstörerischen Kräften
freien Lauf. Bei der Abstimmung im Umweltausschuss in
der letzten Sitzungswoche wurde klar, dass es einige
Umweltpolitiker bei den Regierungsfraktionen gibt, die
gegen eine Verwässerung der Kraftstoffqualitätsrichtli-
nie sind. Fast hätten wir sogar eine Mehrheit im Aus-
schuss für einen Antrag der Opposition bekommen. Ich
kann den Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb
nur zurufen: Machen Sie sich noch einmal klar, dass die
Position Deutschlands das Zünglein an der Waage ist.
Die nächste Abstimmung in Brüssel ist entscheidend.
Machen Sie Ihren Kollegen aus dem Wirtschaftsaus-
schuss klar, dass Europa nackt im Wind stehen würde,
wenn Kanada erst aus dem Kioto-Protokoll aussteigt
und dann auch noch den europäischen Klimaschutz tor-
pedieren könnte. Das darf nicht passieren!

Der Vorschlag der Kommission muss auf dem Um-
weltministertreffen im Juni eine Mehrheit finden. Die
Kommission hat eine wissenschaftlich fundierte Berech-
nungsmethode vorgeschlagen. Länder wie Großbritan-
nien oder die Niederlande sind nur dagegen, weil sie
ihre Ölkonzerne schützen wollen, die in den Abbau von
Teersand investieren wollen. Bei aller Sympathie für die
Industrie – und als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet
habe ich viel Sympathie für die Industrie – muss ich ganz
klar sagen: Der Abbau von Teersanden hinterlässt eine
trostlose Mondlandschaft, zerstört das Klima und ist
eine Art der Ölgewinnung, die so schmutzig ist, dass wir
sie nicht unterstützen können.

Der Vorschlag der Kommission setzt um, was wir
schon 2009 beschlossen haben. Auch der Verkehrsbe-
reich soll seinen Beitrag leisten, um das Klimaziel der

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)


EU zu erreichen. Dieses Klimaziel wurde im Jahre 2008
beschlossen und war damals auch für die Kanzlerin von
höchster Bedeutung. Heute müssten wir eher diskutie-
ren, dass dieses Ziel zu niedrig ist. Stattdessen haben wir
die absurde Situation und müssen Angriffe abwehren,
damit dieses niedrige Ziel nicht auch noch verwässert
wird.

Diese Angriffe sind gut organisiert. In Brüssel findet
eine wahre Lobbyschlacht statt. In den letzten zwei Jahren
zählte Friends of the Earth Europe über 110 Lobbying
Events kanadischer Vertreter zur Richtlinie und dem
Thema Teersande. Ich finde es erstaunlich, wie eine aus-
ländische Regierung unsere Politik zu beeinflussen ver-
sucht und wie massiv die kanadische Regierung gegen
die Kraftstoffqualitätsrichtlinie kämpft. Dabei exportiert
Kanada kaum Öl aus Teersanden nach Europa. Es
scheint nur darum zu gehen, dass eine Entscheidung in
Europa eine hohe symbolische Bedeutung hat, und soll-
ten Teersande in Europa ein schlechtes Image bekom-
men, könnten andere Absatzmärkte deswegen auch auf
die Idee kommen, ähnliche Gesetze zu erlassen und
Teersande ebenfalls von ihren Märkten fernhalten zu
wollen.

Diese Diskussion wird nicht erst seit gestern geführt.
Schon am 23. April 2009 wurde die EU-Kraftstoffquali-
tätsrichtlinie verabschiedet, in der EU-weite Standards
für Kraftstoffe festgelegt wurden. Bei dieser Novelle
wurde in Art. 7 a festgelegt, dass Kraftstofflieferanten
die Emissionen ihrer Kraftstoffe um 6 Prozent bis 2020
gegenüber 2010 senken müssen. Dieses Minderungsziel
im Treibstoffsektor soll mithelfen, das europäische Kli-
maschutzziel von minus 20 Prozent gegenüber 1990 zu
erreichen. Der Verkehrsbereich muss seinen Beitrag zur
Zielerreichung leisten. Neben effizienteren Fahrzeugen
bieten auch die verwendeten Kraftstoffe Möglichkeiten
zur Einsparung von Treibhausgasen.

Nach Verabschiedung der Richtlinie mussten noch
wichtige Details geregelt werden. In der Kraftstoffquali-
tätsrichtlinie wird die EU-Kommission aufgefordert, Re-
gelungen für technische Details vorzulegen. Dies ge-
schieht in einem sogenannten Komitologieverfahren. Im
Oktober 2011 hat die EU-Kommission ihren Vorschlag
vorgelegt, wie die Treibhausgasemissionen fossiler
Treibstoffe berechnet werden sollen. Dabei soll die Öko-
bilanz von der Förderung bis zur Verbrennung berück-
sichtigt werden. Da die Herstellung von Kraftstoffen aus
Teersanden und Ölschiefer zu den klimaschädlichsten
Varianten der Kraftstoffherstellung gehört, entstehen
bei dieser Art der Förderung höhere CO2-Emissionen
als bei der konventionellen Ölförderung. Nach Berech-
nungen der Stanford University für die EU-Kommission
liegt der Standardwert für Kraftstoffe aus Teersanden
bei 107 Gramm CO2-Äquivalente je Megajoule, für
Kraftstoffe aus konventioneller Ölförderung bei
87,5 Gramm CO2-Äquivalente je Megajoule. Der Wert
für Teersande basiert auf dem Industriedurchschnitt für
die Produktion von Teersanden, die in Raffinieren in der
EU verarbeitet werden können.

Kraftstoffe aus unkonventioneller Förderung wie aus
Teersanden oder Ölschiefer haben nicht nur eine

schlechte Klimabilanz, sondern führen auch zur großflä-
chigen Entwaldung in den Fördergebieten. In Kanada
befinden sich die größten Reserven für Teersande. Der
dortige Abbau zerstört große Flächen von borealem Pri-
märwald. Die Förderung ist auch sehr wasserintensiv
und geht mit einer großflächigen Wasser- und Luftver-
schmutzung einher. Bei Abbau und Verarbeitung von
Teersanden werden durchschnittlich viermal so viele
Treibhausgase freigesetzt wie bei konventionellem
Rohöl. Deswegen ist auch der Ansatz der EU-Kommis-
sion richtig, Kraftstoffe aus Teersanden anders zu bilan-
zieren als Kraftstoffe aus konventioneller Förderung.

Die Debatte um die Behandlung von Teersanden wird
nicht nur in der EU geführt. In Kanada gibt es Proteste,
vor allem von indigenen Gruppen, gegen die Northern
Gateway Pipeline, die von Alberta an die kanadische
Westküste führen und den Ölexport nach Asien ermögli-
chen soll. Die Genehmigung dieser Pipeline verzögert
sich. Im November 2011 stoppte US-Präsident Barack
Obama vorerst den Bau der Keystone-XL-Pipeline.
Diese Pipeline soll Öl aus Teersanden aus der kanadi-
schen Provinz Alberta bis zu den Raffinerien im US-
Bundesstaat Texas führen. In US-Bundesstaat Kalifor-
nien sollen Treibstoffsorten bestimmte Emissionswerte
zugeordnet werden. Der kalifornische „Low Carbon
Fuel Standard“ ähnelt dabei der europäischen Kraft-
stoffqualitätsrichtlinie. Gegen all diese Bemühungen ge-
gen Öle aus Teersand geht Kanada massiv vor. Wie ge-
rade schon dargestellt, gibt es – außer dem Profit
einiger Ölkonzerne – kein Argument für diese Art der
unkonventionellen Förderung von Öl.

Über den Vorschlag der EU-Kommission zur Umset-
zung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie sollte am 23. Fe-
bruar 2012 im Fuel Quality Committee abgestimmt wer-
den. Das Fuel Quality Committee setzt sich aus
Experten der Mitgliedstaaten zusammen. Jedoch kam es
zu einem Patt. Das Committee konnte sich nicht auf eine
Bewertung der Energieträger einigen. Staaten wie
Großbritannien, aber auch Deutschland enthielten sich
der Stimme. Nun müssen die EU-Umweltminister über
die Bewertung von Teersand entscheiden. Für den euro-
päischen Klimaschutz ist es wichtig, dass der Vorschlag
der EU-Kommission nicht verwässert oder verhindert
wird. In dieser Diskussion ist die Haltung Deutschlands
entscheidend. Die Bundesregierung muss daher den
Vorschlag der EU-Kommission unterstützen und sich
auch bei anderen Mitgliedstaaten für diesen Vorschlag
einsetzen. Keine Meinung zu haben, kann für die nächste
Abstimmung keine Option sein. Ich kann den Kollegin-
nen und Kollegen der Regierungsfraktionen nur die
Worte ihres Finanzministers ans Herz legen: Reden Sie
nicht, handeln Sie!


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1716229300

Die FDP-Fraktion begrüßt im Grundsatz die Überle-

gung der EU-Kommission, eine Differenzierung mit
Blick auf die Emissionen über den gesamten Lebenszy-
klus hinweg vorzunehmen. In der Folge würde Kraft-
stoffen auf Basis von Ölsanden ein höherer CO2-Emis-
sionswert im gesamten Lebenszyklus zugewiesen als
Kraftstoffen aus konventionellem Rohöl. Dies wäre

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


sachlich richtig, da der Abbau und die Verarbeitung von
Ölsanden wesentlich mehr Energie in Anspruch nehmen,
als dies bei konventionellem Rohöl der Fall ist. Daneben
drohen insbesondere in Kanada ein Verlust an Wäldern
und Mooren und somit zusätzliche CO2-Emissionen aus
Landnutzungsänderungen.

Einige offene Fragen gibt es allerdings noch, weswe-
gen die Bundesregierung sich in dieser Frage auch noch
nicht positioniert hat. Insbesondere ist unklar, welche
Berichterstattungspflichten auf die Mineralölwirtschaft
zukommen. Die EU-Kommission hat angekündigt, dass
ein einfaches Berichtssystem mit den Vorgaben der
Richtlinie vereinbar sei. Wie dieses Berichtssystem kon-
kret ausgestaltet sein soll, ist bisher jedoch unklar.

Einem Land wie Kanada, das sich nicht mehr dem
Kioto-Regime unterwerfen will, sollte man bei der
Frage des Teersandabbaus eine klare Botschaft senden.
Der kanadischen Regierung muss deutlich gemacht wer-
den, welche Auswirkungen ihre Art von Klimapolitik
hat.

Sofern die EU-Kommission ein einfaches und trans-
parentes Berichterstattungssystem vorsieht, sollte sie
bei ihrem Vorhaben unterstützt werden. Nach der ersten
Diskussion im Umweltausschuss hat sich die Arbeits-
gruppe Umwelt meiner Fraktion nochmals beraten. Wir
sind der Auffassung, dass es richtig ist, die Mineralöl-
produkte nach den Lebenszyklustreibhausgasemissionen
zu differenzieren.

Leider war es nicht möglich, einen Kompromiss mit
der CDU/CSU-Fraktion für einen interfraktionellen An-
trag zu finden. Da wir an den Koalitionsvertrag gebun-
den sind, müssen wir den vorliegenden Antrag ablehnen.
Das bedeutet aber nicht, dass wir gegen dieses Anliegen
sind.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716229400

Der Ölpreis hat in den letzten Monaten wieder ange-

zogen. Er liegt gegenwärtig bei über 100 Dollar je
Barrel. Das hat verschiedene Ursachen. Eine davon ist
sicher, dass Öl schlicht knapper wird. Der Aufwand zur
Förderung steigt – und meist auch die damit verbunde-
nen negativen sozialen und Umweltfolgen.

Weil der Peak Oil seine Schatten voraus wirft, wird
nun die Gewinnung von Öl und Bitumen aus Teersanden
oder Ölschiefer rentabel, allerdings nur eng betriebs-
wirtschaftlich; denn die daraus gewonnenen Kraftstoffe
haben am Ende eine bis zu dreifach schlechtere CO2-Bi-
lanz. Das Bitumen muss schließlich mit heißem Dampf
vom Sand getrennt und zu Ölprodukten aufbereitet wer-
den.

Das Ganze ist eine ziemliche Sauerei, von den sonsti-
gen Folgen für die natürliche Umwelt im Fördergebiet
ganz zu schweigen. Dafür werden im kanadischen Bun-
desstaat Alberta und anderswo riesige Wald- und Moor-
flächen vernichtet. Zudem werden Unmengen an Wasser
und Gas für die Förderung benötigt.

Mit den gigantischen Teersandvorkommen sollen die
Grenzen des Wachstums beim Verbrauch von Öl heraus-

geschoben werden. Wie wir sehen, geht dies nicht zum
Nulltarif, und wenn wir ehrlich sind, beißt sich die Katze
sogar in den Schwanz: nicht nur ökologisch, sondern
auch sozial. Wenn wir das kohlenstoffbasierte Energie-
system noch künstlich verlängern, ja sogar mit zentralis-
tischen Technologien die CO2-Intensität im Verkehr
noch erhöhen, ist der Klimakollaps nicht mehr zu ver-
hindern. Das wiederum wird Hunger, Vertreibung und
sonstige Konflikte anheizen.

Interessant ist, dass sich kürzlich ausgerechnet Ka-
nada aus dem Kioto-Vertrag verabschiedet hat. Das
Land sollte seine Emissionen eigentlich um 6 Prozent
mindern, stößt aber ein Fünftel mehr aus als 1990. Das
liegt auch an der Ausbeutung der Ölsande, die, wie ge-
sagt, eine verheerende Treibhausbilanz hat.

Diese Bilanz muss nun auch bei der Umsetzung der
EU-Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigt werden.
Darum unterstützt die Linke an dieser Stelle den Entwurf
der EU-Kommission zur Konkretisierung des Art. 7 a,
welcher eine nach Rohstoffen differenzierte Berechnung
der Treibhausgasemissionen der Kraftstoffe vorsieht.
Wer Treibstoff auf Grundlage kanadischer Ölsande an-
bietet, muss die vorgesehenen CO2-Minderungsvorga-
ben schwerer erfüllen können, als beim Angebot von
Treibstoffen aus konventioneller Förderung. Das gebie-
tet das Verursacherprinzip.

Wir stimmen darum auch dem Antrag der Grünen zu,
der die Bundesregierung auffordert, sich dagegen zu
wenden, dass dieses Anliegen der EU-Kommission von
Mitgliedsländern oder Lobbyorganisationen blockiert
wird.

Leider hat der Antrag bislang nicht viel genützt, ob-
wohl sich ursprünglich alle Parteien im Umweltaus-
schuss zumindest für den Inhalt ausgesprochen hatten.
Der zuständige Expertenausschuss der EU-Länder vo-
tierte vor einer Woche weder für noch gegen den Vor-
schlag der EU-Kommission, der die Kraftstoffe als kli-
maschädlich einstuft. Das lag auch daran, dass
Deutschland sich dort enthalten hat.

Ich finde diese deutsche Enthaltung feige und unauf-
richtig. Ich frage mich, wie Deutschland jene nachhal-
tige Rohstoffpolitik betreiben will, die ja erst gestern
hier im Parlament beschworen wurde. Wie etwa ist die
Idee von Rohstoffpartnerschaften aus Sicht der nachhal-
tigen Entwicklung zu verstehen, wenn Deutschland und
Europa es sogar im Falle eines potenten Industrielandes
wie Kanada ablehnen, Vorschriften zu erlassen, die
extreme Umweltbelastungen beim Import von Rohstof-
fen berücksichtigen?

Auch wenn heute die Koalition den Antrag der Grü-
nen ablehnen wird, gibt es noch eine Chance zur Besin-
nung; denn die EU-Umweltminister müssen sich erneut
mit dem Kommissionsvorschlag befassen. Darum appel-
liere ich an Norbert Röttgen: Setzen Sie sich in Brüssel
für eine nach Rohstoffen differenzierte Berechnung der
Emissionen ein. Der Dreck soll am besten bleiben, wo er
ist: unter der Erde.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716229500

In Brüssel wird gegenwärtig ein Vorschlag der Euro-

päischen Kommission zur Umsetzung der Kraftstoffqua-
litätsrichtlinie beraten. Eines der wichtigsten Ziele die-
ser Richtlinie ist es, die Treibhausgasemissionen im
Verkehrssektor um 6 Prozent bis zum Jahr 2020 gegen-
über 2010 zu reduzieren. Die Bundesregierung unter
Angela Merkel hat dieses Ziel bei der Erarbeitung der
Richtlinie immer unterstützt.

Die Kommission hat nun die Aufgabe, Regeln für die
Umsetzung der Richtlinie zu entwickeln, die eine Errei-
chung des Ziels gewährleisten. Wenn man diese Aufgabe
ernsthaft angeht, reicht es nicht, nur darauf zu gucken,
welche Emissionen bei der Verbrennung von Treibstof-
fen entstehen. Es müssen auch die Emissionen in den
Blick genommen werden, welche schon bei der Förde-
rung entstehen. Es bedarf also einer Betrachtung der
Lebenszyklustreibhausgasemissionen. Diese unterschei-
den sich nämlich ganz erheblich, je nach Herkunft des
Öls.

Es macht einen deutlichen Unterschied in der Klima-
und Umweltbilanz, ob man Erdöl aus einer konventio-
nellen Lagerstätte gewinnt, oder ob, wie beim Abbau
von Teersanden in Kanada, große Waldflächen vernich-
tet werden, unter hohem Energieaufwand das Öl aus
dem Boden gewaschen wird und die daraus entstehen-
den Abwässer in Giftseen gelagert werden müssen.
Diese Seen müssen sogar großflächig abgedeckt werden,
damit bloß keine Vögel darauf landen können. So vergif-
tet ist das Wasser! Auch in anderen Regionen der Welt,
zum Beispiel in Venezuela, Madagaskar, der Republik
Kongo und Russland gibt es Teersandprojekte bzw.
Pläne, Erdöl aus Teersanden zu fördern. Wenn wir es in
Europa wirklich ernst damit meinen, dass wir unsere
Emissionen im Verkehrssektor reduzieren wollen, dann
dürfen wir diese Auswüchse bei der Erdölförderung
nicht ignorieren und müssen jetzt ein Zeichen dagegen
setzen.

Genau hier setzt der Vorschlag der Europäischen
Kommission zur Umsetzung der Kraftstoffqualitätsricht-
linie an, für den wir in dem vorliegenden Antrag um
Unterstützung werben: Kraftstoffanbieter sollen in Zu-
kunft nachweisen, aus welchem Rohstoff ihre Mineral-
ölprodukte gewonnen wurden. Daraus folgt: Kraftstoff-
anbieter, die Öl aus Teersanden verkaufen, haben eine
entsprechend schlechtere CO2-Bilanz als diejenigen, die
konventionell gewonnenes Öl verkaufen. Die Kommis-
sion beschreitet damit einen konsequenten Weg zur
Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie. Wir sind
der festen Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist,
und daher fordern wir die Bundesregierung in dem
vorliegenden Antrag auch auf, diesen Vorschlag auf EU-
Ebene zu unterstützen.

Natürlich sind hier wirtschaftliche Interessen der Öl-
industrie berührt. Unternehmen in Kanada planen zur-
zeit, das Teersandgeschäft deutlich auszuweiten. Bisher
geht ein Großteil der Lieferungen in die USA. Dies soll
sich in Zukunft ändern: Die Förderung soll in den kom-
menden Jahren verdreifacht und das gewonnene Öl
schon bald auch verstärkt nach Asien und Europa gelie-

fert werden. Entsprechend tritt die kanadische Erdöl-
lobby bei den europäischen Regierungen derzeit mit
Nachdruck auf. Selbst der kanadische Botschafter hat
die Mitglieder des Umweltausschusses des Bundestags
noch vor der Abstimmung im Ausschuss über unseren
Antrag angeschrieben und für eine Ablehnung des Vor-
schlags der EU-Kommission geworben.

Bei der Bundesregierung und großen Teilen der Ko-
alitionsfraktionen waren die Ölindustrie und die kanadi-
sche Regierung offensichtlich auch erfolgreich: Anstatt
das Vorhaben der Kommission zu unterstützen, wie dies
immerhin zwölf andere EU-Mitgliedstaaten getan ha-
ben, enthielt sich die Bundesregierung der Stimme. Dass
der Vorschlag der Kommission keine Mehrheit gefunden
hat, ist ohne Zweifel auch die Folge der unklaren deut-
schen Haltung. Schwarz-Gelb hat es wieder einmal ver-
säumt, ein wichtiges Zeichen für den internationalen
Klimaschutz zu setzen. Alle hier vertretenen Fraktionen
haben sich im vergangenen Dezember über den Austritt
Kanadas aus dem Kioto-Protokoll empört. Dies wäre die
Chance gewesen, auf den Austritt Kanadas eine politi-
sche Reaktion folgen zu lassen. Doch bisher wurde sie
vertan. Außerdem steht der Ausstieg Kanadas aus dem
Kioto-Protokoll sicherlich auch in direkten Zusammen-
hang mit erwartbar weiter steigenden CO2-Emissionen
des Landes aus der Teersandgewinnung und der daraus
folgenden Unmöglichkeit, die Klimaziele des Landes
einzuhalten.

Es ist offensichtlich, dass sich Wirtschaftsminister
Rösler und die Hardliner in der Bundesregierung auch
bei diesem Thema durchgesetzt haben. Wir wissen, dass
es in der Koalition durchaus Kräfte der Vernunft gab
und wohl auch gibt, die unserem Antrag inhaltlich
folgen wollen. Die Beratungen im Umweltausschuss
schienen mir zwischenzeitlich sogar auf einem guten
Weg zu sein. Am Ende setzten sich dann doch die
Freunde der Ölindustrie in den Koalitionsfraktionen
durch, und es kam nicht zu einem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen. Immerhin erklärt die FDP, den grünen
Antrag nur aus Koalitionsräson abzulehnen, und drei
Abgeordnete der CDU enthielten sich. Damit wurde der
Antrag mit denkbar knapper Mehrheit im Umweltaus-
schuss abgelehnt.

Nichtsdestotrotz habe ich bei den Beratungen im Um-
weltausschuss durchaus den Eindruck gewonnen, dass
doch inhaltlich in weiten Teilen Konsens besteht. Ich
würde mich daher freuen, wenn sich hier im Deutschen
Bundestag doch noch eine Mehrheit für unseren Antrag
finden würde und bitte Sie hiermit um Ihre Zustimmung.

Das verbinde ich mit dem Appell an die Bundesregie-
rung: Verabschieden Sie sich von Ihrer unwürdigen
Position der Enthaltung und unterstützen Sie den Vor-
schlag der Kommission, wenn er im Juni diesen Jahres
auf der Tagesordnung des Umweltrats steht. Zeigen Sie
wenigstens an dieser Stelle einmal, dass Klima- und
Umweltschutz bei Ihnen nicht nur Themen für Sonntags-
reden sind. Ein Land, welches sich selbst als Vorreiter in
der Klima- und Energiepolitik bezeichnet, darf bei sol-
chen Fragen nun wirklich nicht im europäischen Brem-
serhäuschen sitzen. Alles andere als eine Zustimmung

Zu Protokoll gegebene Reden





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


zum Entwurf der Kommission wäre ein neuerlicher Tief-
punkt der deutschen Klimapolitik.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716229600

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8759,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7956 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der SPD-
Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die deutschen Kolonialverbrechen im ehema-
ligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord
anerkennen und wiedergutmachen

– Drucksache 17/8767 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die folgenden Kolleginnen und Kollegen: die Kolle-
gen Fischer und Dr. Götzer für die Unionsfraktion, die
Kollegin Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion, die Kol-
legin Schuster für die FDP-Fraktion, der Kollege
Movassat für die Fraktion die Linke und der Kollege
Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1716229700

Wir debattieren hier heute in erster Lesung den An-

trag der Linken zur Anerkennung und Wiedergutma-
chung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen
Deutsch-Südwestafrika.

Ich muss Ihnen sagen, der Antrag reiht sich gerade-
wegs in die Reihe von Anträgen der Linken zum Thema
Afrika ein, für die ich wenig Verständnis habe. Vielmehr
stelle ich mir die Frage, ob es nicht derzeit dringendere
afrikapolitische Themen gibt, die einer Befassung durch
den Deutschen Bundestag bedürfen. Als Beispiele nenne
ich die Unterstützung und Stabilisierung der neuen Re-
gierung im Südsudan oder der seit 20 Jahren ungelöste
Konflikt in Somalia.

Ich spreche Sie, Herr Kollege Movassat, direkt an:
Wir waren gemeinsam auf verschiedenen Reisen in den
unterschiedlichsten Ländern des afrikanischen Konti-
nents. Wir haben vor Ort die Probleme, aber auch die
vielen guten Lösungsansätze der jeweiligen Regierun-
gen und deren Partner gesehen. Dabei haben wir aber
auch gesehen, dass es für die internationale Gemein-
schaft noch viel zu tun gibt. Und trotz der vielen Aufga-

ben, die wir auf unseren gemeinsamen Reisen vor Ort
gesehen haben, schreiben Sie so einen Antrag? Der
Antrag dient nur dazu, ihre verqueren politischen An-
sichten in Bezug auf den von Ihnen so gern genannten
„Neokolonialismus“ aufzuzeigen und Ihre eigenen Be-
dürfnisse zu befriedigen! Für diese Verweigerung ge-
genüber den außen-, entwicklungs- und menschen-
rechtspolitischen Bedürfnissen und Gegebenheiten auf
dem afrikanischen Kontinent fehlt mir jedes, aber wirk-
lich jedes Verständnis.

Aber nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen. Der Antrag
ist eine Mischung aus altbekannten Forderungen, aber
auch aus Feststellungen Ihrerseits, die rein völkerrecht-
lich einfach nicht erfüllbar sind. Viele Forderungen ha-
ben Sie auch schon im Rahmen einer Kleinen Anfrage an
die Deutsche Bundesregierung gestellt, die auch vollum-
fassend und ausführlich beantwortet wurde. Nicht zu-
letzt dieser Umstand lässt mich an der Ernsthaftigkeit
des Antrages und Ihrem wirklichen Interesse an der Sa-
che zweifeln.

Sie fordern in Ihrem Antrag unter Punkt 5 des Fest-
stellungsteils die Betonung der besonderen historischen
und moralischen „Verantwortung Deutschlands gegen-
über dem heutigen Namibia und der namibischen Bevöl-
kerung“ und unter Punkt 3, „die Nachfahren der vom
Völkermord betroffenen Herero, Nama, Damara und
San um Entschuldigung“ zu bitten. Die Bundesregie-
rung hat sich vor dem Hintergrund der deutschen kolo-
nialen Vergangenheit wiederholt zu dem schweren histo-
rischen Erbe und der daraus resultierenden ethisch-
moralischen Verantwortung Deutschlands gegenüber
Namibia bekannt und die damaligen Geschehnisse zu-
tiefst bedauert. So bat die damalige Entwicklungshilfe-
ministerin Wieczorek-Zeul am 14. August 2004 „um Ent-
schuldigung im Namen der gesamten deutschen
Regierung“. Auch der Deutsche Bundestag hat das Son-
derverhältnis Deutschlands zu Namibia unter anderem
in seinen Entschließungen vom April 1989 und Juni
2004 bekräftigt. Können Sie mir einen Grund nennen,
warum der Deutsche Bundestag eine erneute Entschlie-
ßung verabschieden sollte? Ich kann Ihnen sagen: Nein!
Die Entschließungen von 1989 und 2004 gelten weiter-
hin uneingeschränkt.

Weiterhin sprechen Sie auch immer wieder von einer
fälligen Anerkennung des „begangenen Völkermordes“
nach der Konvention der Vereinten Nationen von 1948
durch die Deutsche Bundesregierung. Die Konvention
vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestra-
fung des Völkermordes ist für die Bundesrepublik
Deutschland am 22. Februar 1955 in Kraft getreten. Mit
dem Beitritt zu diesem wichtigen Regelwerk hat die Bun-
desrepublik Deutschland ihre feste Überzeugung unter
Beweis gestellt, dass Völkermord verhütet und verfolgt
werden muss. Allerdings gilt die Konvention nicht rück-
wirkend. Das heißt: Die damaligen Geschehnisse – so
schlimm sie aus heutiger Sicht auch erscheinen – stell-
ten nach damals geltendem Völkerrecht keine Verletzun-
gen völkerrechtlicher Verpflichtungen dar. Bewertungen
historischer Ereignisse nach rechtlichen Bestimmungen,
die im Zeitpunkt dieser Ereignisse für Deutschland nicht





Hartwig Fischer (Göttingen)



(A) (C)



(D)(B)


in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nicht
vorgenommen.

Auch sprechen Sie in Ihrem Antrag den Punkt an,
dass Deutschland sich seiner kolonialen Vergangenheit
in aller Klarheit und Deutlichkeit stellen muss. Die Bun-
desregierung wird ihrer besonderen Verantwortung für
Namibia durch eine intensive Zusammenarbeit mit die-
sem Land gerecht. So erhält Namibia von Deutschland
die höchsten Pro-Kopf-Entwicklungsleistungen in
Afrika. Die Höhe aller deutschen Zusagen seit 1990 an
Namibia liegt bei über 700 Millionen Euro. Die Ent-
wicklungszusammenarbeit konzentriert sich vorwiegend
auf die ländliche Bevölkerung in dem besonders von Ar-
mut betroffenen Norden des Landes.

Die Bundesregierung hat zudem die sogenannte Son-
derinitiative ins Leben gerufen, in deren Rahmen Nami-
bia 20 Millionen Euro für Hilfsmaßnahmen zur Verfü-
gung gestellt werden. Diese Initiative beinhaltet vor
allem Projekte in den Siedlungsgebieten derjenigen na-
mibischen Volksgruppen, welche im Kolonialkrieg be-
sonders betroffen waren.

Besonders interessant fand ich Ihre Forderungen
nach einem Parlamentarierdialog mit der namibischen
Nationalversammlung und der Einrichtung einer
deutsch-namibischen Parlamentariergruppe. Wie Sie
wissen, dienen gerade die Parlamentariergruppen des
Deutschen Bundestages dem Kontakt mit den Parlamen-
tariern und den Parlamenten der Partnerländer. So be-
findet sich zum Beispiel in der kommenden Woche eine
Delegation, bestehend aus Mitgliedern der namibischen
Nationalversammlung, zu Besuch in der Bundesrepublik
Deutschland. Neben vielen Treffen mit Abgeordneten
des Deutschen Bundestages finden auch Gespräche mit
Vertretern des Auswärtigen Ausschusses und der Parla-
mentariergruppe SADC-Staaten statt. Auch bei der letz-
ten Reise der Parlamentariergruppe SADC-Staaten im
Jahre 2009 gab es einen intensiven Austausch mit der
namibischen Nationalversammlung. Wie Sie sehen, gibt
es also bereits einen intensiven beiderseitigen Aus-
tausch.

Und ich muss Ihnen sagen: Zur Errichtung einer
deutsch-namibischen Delegation kann die Linke, dem
Sprichwort „Handeln ist besser als Reden“ folgend, sel-
ber den ersten Schritt machen. Der Vorsitzende der Par-
lamentariergruppe SADC-Staaten ist MdB Stefan
Liebich, Mitglied der Fraktion Die Linke. Herr Liebich
kann gerne bei unserem Bundestagspräsidenten, Herrn
Dr. Norbert Lammert, den Antrag stellen, das Land Na-
mibia aus der Parlamentariergruppe SADC-Staaten he-
rauszulösen und dafür eine eigene deutsch-namibische
Parlamentariergruppe zu gründen. Ich selber habe in
der vergangenen Wahlperiode als Vorsitzender der Par-
lamentariergruppe West- und Zentralafrika bei unserem
Bundestagspräsidenten, Herrn Dr. Norbert Lammert,
den Antrag gestellt, die Parlamentariergruppe aufgrund
der zu großen Anzahl an Partnerländern in zwei Grup-
pen zu spalten. Diesem Antrag ist entsprochen worden,
und somit gibt es seit Beginn der 17. Wahlperiode die
Parlamentariergruppe der französischsprachigen Staa-
ten West- und Zentralafrikas und der englisch-/portugie-

sisch-sprachigen Staaten West- und Zentralafrikas. Sie
sehen, einem gut begründeten Antrag Ihrerseits steht
also nichts im Wege.

Ich habe hier nur wenige Ihrer Forderungen erwähnt,
bin aber auf die Beratung und die Begründung dieses
Antrages in den Ausschüssen gespannt. Ich möchte es
aber nicht missen, zum Ende meiner Rede auch eine
Forderung an die Fraktion Die Linke zu stellen: Hören
Sie endlich auf, allein ideologisch-motivierte Anträge in
Bezug auf Afrika einzubringen. Nehmen Sie endlich die
aktuellen politischen und gesellschaftlichen Probleme
und Gegebenheiten des afrikanischen Kontinents wahr,
um dann gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu su-
chen.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1716229800

Wir lehnen den Antrag der Linken im Wesentlichen

aus zwei Gründen ab:

Erstens führt die Fraktion Die Linke für ihre Begrün-
dung des Straftatbestands „Völkermord“ die Konven-
tion vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Be-
strafung von Völkermord ins Feld. Diese ist, wie die
Bundesregierung bereits mehrfach ausgeführt hat – so
bereits auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke
zu Umständen der Rückführung von Gebeinen von Op-
fern deutscher Kolonialverbrechen nach Namibia und
der Entschuldigungs- und Versöhnungsfrage –, für die
Bundesrepublik Deutschland am 22. Februar 1955 in
Kraft getreten. Sie gilt nicht rückwirkend.

Zweitens hat die namibische Regierung die Frage der
Wiedergutmachung bisher nicht im Rahmen eines offi-
ziellen Dialogs mit der Bundesregierung thematisiert.
Sie hat sich die vom namibischen Parlament mit Ent-
schließung vom 26. Oktober 2006 unterstützten Ent-
schädigungsforderungen der Herero bisher nicht zu ei-
gen gemacht. Trotz zahlreicher enger Kontakte mit
Vertretern der namibischen Regierung fand bislang
keine inhaltliche Diskussion über etwaige Entschädi-
gungsforderungen statt.

Deutschland steht vorbehaltlos zu seiner Verantwor-
tung als ehemalige Kolonialmacht des heutigen Nami-
bia. Diese Verantwortung hat auch der Bundestag in
richtungweisenden Entschließungen unterstrichen: 1989,
als er die Bundesregierung aufforderte, mit dem unab-
hängigen Namibia eine Sonderbeziehung zu entwickeln
und zu pflegen, und 2004, als er in einer weiteren Ent-
schließung der Opfer des Kolonialkrieges gedachte und
seinen Willen bekräftigte, die guten bilateralen Bezie-
hungen zu Namibia zu vertiefen.

Diese sind heute, 22 Jahre nach der Unabhängigkeit
Namibias, in der Tat sehr eng. Sie gründen auf der ge-
meinsamen Kolonialzeit und der daraus erwachsenden
Verantwortung Deutschlands, sowie auf der engen kul-
turellen Verbindung mit den über 20 000 deutsch spre-
chenden Namibiern. Sie erwachsen auch aus der aktiven
diplomatischen Unterstützung der namibischen Unab-
hängigkeit durch Deutschland als Mitglied der westli-
chen Kontaktgruppe in den 80er-Jahren, und aus zwei
Jahrzehnten bilateraler Entwicklungspartnerschaft.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


Diese Entwicklungspartnerschaft hat ein Volumen
von bislang insgesamt circa 700 Millionen Euro. Damit
ist Namibia das Land in Afrika mit den höchsten deut-
schen Zuwendungen pro Einwohner.

Kennzeichnend für das deutsche Engagement ist je-
doch nicht nur die staatliche Entwicklungshilfe, sondern
auch die große Vielfalt privater Initiativen und Aktivitä-
ten von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen.
In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere auf
die wertvolle Arbeit der Hanns-Seidel-Stiftung verwei-
sen, die bereits seit 1978 mit eigenem Standort in Wind-
huk hauptsächlich Projekte zur Verbesserung demokra-
tischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie zur
wirtschaftlichen Entwicklung fördert. Auch hier sind
Personengruppen, die Benachteiligungen aus der Kolo-
nialzeit oder der Zeit der Apartheid erfahren haben, eine
der wichtigsten Zielgruppen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen,
sind die demokratisch legitimierten Parteien im Bundes-
tag, die Bundesregierung und private Einrichtungen da-
rum bemüht, die privilegierten Beziehungen zu Namibia
weiter auszubauen, die den Weg in eine gemeinsame,
verantwortungsvolle Zukunft weisen.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1716229900

Als ich im Jahr 2004 als Bundesministerin für wirt-

schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Tag
des einhundertjährigen Gedenkens der blutigen Nieder-
schlagung des Aufstandes der Herero, Nama und
Damara durch deutsche Kolonialtruppen nach Namibia
gereist bin, wurde mir das Ausmaß der noch immer tief
sitzenden Trauer durch viele Begegnungen eindringlich
bewusst. Die Erinnerung an die Gräueltaten der kaiser-
lichen Kolonialtruppen ist in Namibia und besonders in
den Generationen der Herero, Nama und Damara noch
immer präsent.

Die kaiserlichen Kolonialtruppen begingen einen
Völkermord an den Herero, der fast ihre gesamte Volks-
gruppe ausgelöscht hat. General von Trotha, der den
Befehl zur Erschießung auch von Kindern und Frauen
gegeben hatte, müsste sich heutzutage vor dem Interna-
tionalen Strafgerichtshof verantworten.

Nahezu das gesamte Volk der Herero kam damals auf
der Flucht in der Omaheke-Wüste um, wurde erschos-
sen, erschlagen, erhängt oder verdurstete. In Lagern mit
unbeschreiblichen Lebensbedingungen starben Zehn-
tausende durch Krankheiten, durch Folgen von Zwangs-
arbeit – alles mit Wissen und Duldung der Reichsregie-
rung.

Die Sozialdemokraten im Reichstag haben damals,
leider erfolglos, gegen die Gräueltaten protestiert.
August Bebel stellte in seiner Rede im Reichstag damals
fest: „Das Recht zum Aufstand, das Recht zur Revolu-
tion, hat jedes Volk und Völkerschaft, die sich in ihren
Menschenrechten aufs alleräußerte bedrückt fühlt.“

Es ist auch heute, 108 Jahre später, richtig und not-
wendig, an die Toten von damals zu erinnern und sich
der geschichtlichen Verantwortung Deutschlands für
den begangenen Völkermord zu stellen.

Was hat die damalige Bundesregierung aus Anlass
des 100-jährigen Gedenkens unternommen?

In meiner Rede anlässlich der Gedenkfeier in Oka-
karara sagte ich: „Wir Deutsche bekennen uns zu unse-
rer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verant-
wortung und zu der Schuld, die Deutsche damals auf
sich geladen haben“, und ich sagte aus meiner christli-
chen Überzeugung heraus: „Ich bitte Sie im Sinne des
gemeinsamen ,Vater unser‘ um Vergebung unserer
Schuld.“ Diese Vergebung bekundeten gleich nach mei-
ner Rede auch der damalige Landwirtschaftsminister
Hifikepunye Pohamba, der heutige Präsident Namibias,
sowie der Vertreter der Herero, Kuaima Riruako.

Nach meiner Reise sollten allerdings auch konkrete
Initiativen folgen, die die damalige Bundesregierung in
die Wege geleitet hat. Dazu zählte einerseits die Ver-
dopplung der Leistungen innerhalb der Entwicklungs-
zusammenarbeit innerhalb von fünf Jahren sowie ande-
rerseits die Gründung einer Versöhnungsinitiative.
Hierfür wurden zusätzliche Mittel in Höhe von 20 Mil-
lionen Euro zur Verfügung gestellt. Das Geld sollte vor
allem für die kommunale Entwicklung in Gebieten ein-
gesetzt werden, in denen heute Nachfahren der Volks-
gruppen leben, die besonders unter der deutschen Herr-
schaft leiden mussten. Sie sollten die Lebensqualität der
Menschen in diesen Regionen und ihre beruflichen
Chancen verbessern. Hierzu zählte beispielsweise die
Errichtung von Gemeindezentren, die Förderung der
Landwirtschaft und der kleinbäuerlichen Viehzucht so-
wie die weitere Verbesserung der ländlichen Infrastruk-
tur. Die Folgen von Kolonialismus, Unterdrückung und
Apartheid sollen überwunden werden.

Den meisten der Nachfahren der getöteten Herero,
Nama und Damara geht es nicht um eine finanzielle
Entschädigung oder eine materielle Wiedergutma-
chungsleistung. Sie wollen, dass die Ungerechtigkeit,
die sie erfahren haben, als solche anerkannt und gewür-
digt wird. Wir sollten auch in Zukunft auf diesem Gebiet
nicht nachlassen und Namibia im Rahmen der Entwick-
lungszusammenarbeit ausreichend unterstützen.

Wir sollten nachhaltige finanzielle Entwicklungs-
zusammenarbeit für Namibia bereitstellen und die
damals bereits von mir geforderte Versöhnungsinitiative
endlich in die Praxis umsetzen. Dies wurde in den letzten
zwei Jahren offenbar verschleppt. Es bleibt zu hoffen,
dass nach dem Besuch des Afrikabeauftragten des Aus-
wärtigen Amts, Walter Lindner, vor wenigen Wochen
jetzt die direkte Unterstützung für die betroffenen Regio-
nen verwirklicht werden kann.

Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland
und Namibia verlangen nach einem angemessenen und
respektvollen Umgang mit dem Andenken an die Opfer
der deutschen Verbrechen Anfang des 20. Jahrhunderts
im heutigen Namibia. Dazu gehört ein enger Dialog
zwischen den Regierungen, aber auch ein regelmäßiger
Austausch zwischen den Abgeordneten beider Parla-
mente. Was möglich ist, ist ein Blick in eine gemeinsame
Zukunft, in der zusammen Projekte verwirklicht werden
können und Deutschland seiner Verpflichtung dem na-
mibischen Volk gegenüber nachkommt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)


Besonderer Dank gilt Bischof Zephania Kameeta für
sein langjähriges und nachhaltiges Engagement in allen
Fragen zu diesem Thema.

Die Bundesregierung hat den Besuch einer Delega-
tion der Herero, die im September 2011 in Berlin die Ge-
beine ihrer verschleppten Vorfahren aus der Charité zu-
rückholte, völlig instinkt- und perspektivlos behandelt.
Insbesondere das Auftreten der Staatsministerin im Aus-
wärtigen Amt, Cornelia Pieper, hat zu einer schweren
Belastung der Beziehungen geführt. Es bleibt zu hoffen,
dass die Beziehungen, die durch die katastrophale Ver-
haltensweise der Bundesregierung belastet wurden,
durch den Besuch des Afrikabeauftragten im Auswärti-
gen Amt, Walter Lindner, wieder verbessert werden
konnten.

Es wäre an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag in
einer gemeinsamen Resolution diese von mir noch ein-
mal dargestellten Positionen betont. Wir sind jedenfalls
zur Formulierung eines gemeinsamen Antrags bereit.


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1716230000

Zwischen 1904 und 1907 – vor über 100 Jahren –

wurden im Namen des Deutschen Kaiserreichs schreck-
liche Gräueltaten an den Volksstämmen der Herero,
Nama und Damara verübt. Wer die Berichte von damals
liest, ist heute noch tief erschüttert und betroffen über
die Menschenverachtung, mit der die Kolonialtruppen
gegen Teile der Bevölkerung vorgingen. Dieses Kapitel
ist ein furchtbares und beschämendes Kapitel deutscher
Vergangenheit in Afrika. Deshalb ist es richtig und so
wichtig, dass dieses Kapitel nicht in Vergessenheit gerät.
Die Erinnerung an diese Ereignisse muss wach bleiben
und das Bewusstsein dafür geschärft werden.

Aber – und das sage ich an die Adresse der Linken –,
anders als dies Ihr Antrag beschreibt, ist sich Deutsch-
land seiner historischen und moralischen Verantwor-
tung für Namibia sehr wohl bewusst.

Basierend auf der gemeinsamen Entschließung des
Deutschen Bundestages von 1989, wurde das Funda-
ment gelegt für eine enge und vertrauensvolle bilaterale
Partnerschaft mit Namibia. Dies war zu einem Zeit-
punkt, als der Staat Namibia noch südafrikanisches
Mandatsgebiet war. Mit der Entschließung von 2004
wurde die Bedeutung der historischen und moralischen
Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia noch-
mals bestätigt und bestärkt.

Mit der Unabhängigkeit Namibias von der südafrika-
nischen Mandatsherrschaft im Jahr 1990 wurde diese
besondere Beziehung realisiert. Die Resolution 435, die
durch die intensive Unterstützung des damaligen Außen-
ministers Hans-Dietrich Genscher zustande kam und
nach langwierigen Verhandlungen von den Vereinten
Nationen verabschiedet worden ist, hat die Grundlage
hierfür gelegt.

Deutschland leistete erhebliche finanzielle Starthilfe
und begleitet Namibia seitdem beratend als größtes
Geberland der bilateralen Entwicklungszusammenar-
beit. In 2010 war Namibia mit 15,80 Euro pro Kopf das
Land, das weltweit die höchste Leistung pro Einwohner

erhält. Der Umfang an substanzieller und effektiver Ent-
wicklungszusammenarbeit summiert sich mittlerweile
auf knapp 700 Millionen Euro.

Unmittelbar nach der namibischen Unabhängigkeit
1991 wurde ein deutsch-namibisches Kulturabkommen
abgeschlossen. Die bilateralen Beziehungen erfreuen
sich eines reichen aktiven Kultur-, Bildungs- und Sprach-
austauschs. Die Wirtschaftsbeziehungen sind gut. Es be-
steht kein Zweifel: Wir haben mit Namibia sehr enge,
sehr gute bilaterale Beziehungen auf allen Ebenen.

Vor diesem Hintergrund der vertrauensvollen Verbin-
dung mit Namibia hinterfrage ich die Motivation des
Antrags; nicht, weil ich anzweifle, dass es in unser aller
Verantwortung liegt, dass diese grausame Vergangen-
heit nicht vergessen wird – im Gegenteil!

Den Opfern unter den verschiedenen Bevölkerungs-
gruppen aus der oft blutigen und menschenverachtenden
afrikanischen Kolonialzeit, die die deutsche Geschichte
mit zu verantworten hat, gilt auch heute unser Gedenken
und unsere Trauer.

Ich frage mich deshalb, weil die Forderung nach
Reparationszahlungen bis heute nicht vonseiten der
namibischen Regierung in offiziellen Gesprächen an die
Bundesregierung herangetragen worden ist. Die nami-
bische Regierung hat sich die Parlamentsentschließung
vom Oktober 2006, die Entschädigungsforderungen der
Herero zu unterstützen, gegenüber der Bundesregierung
nicht zu eigen gemacht.

Im Gegenteil: Bei Gesprächen mit der namibischen
Regierung im Oktober 2006, wo das Thema Repara-
tionszahlungen zur Sprache gekommen war, bestand
darüber Einigkeit, dass die Entwicklung der bilateralen
Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit der ein-
zig richtige Weg sei.

Denn der Kern der Debatte zum Umgang mit der
deutschen Kolonialvergangenheit konzentriert sich auf
folgende Frage: Wie können wir unserer historischen
Verantwortung am besten gerecht werden?

Mehr als 100 Jahre nach den für uns so beschämen-
den Vorgängen der deutsch-kaiserlichen Kolonialherr-
schaft kann man diese Frage nicht so beantworten, als
wäre diese Zeit erst gestern gewesen. Wir müssen für uns
heute die Frage beantworten, wie wir am besten das
heutige Namibia als Ganzes in seiner Entwicklung un-
terstützen. Wir wollen die Gesellschaft in Namibia nicht
spalten. Das ist der ganzheitliche Ansatz für die Zukunft,
für den sich meine Fraktion immer eingesetzt hat, und
das ist auch der geeignete Weg.

In der Frage, wie wir unserer kolonialen Vergangen-
heit am besten gerecht werden können, waren und sind
sich übrigens alle Bundesregierungen einig gewesen. Es
gilt Namibia in seiner ganzheitlichen Entwicklung zu-
kunftsgerichtet und integrativ zu unterstützen. Diesen
Ansatz hat Deutschland auf allen Ebenen konsequent
verfolgt. Denn dass es gelungen ist, eine deutsch-nami-
bische Freundschaft zu entwickeln, ist eine der großen
kulturellen und auch politischen Leistungen unserer bei-
den Nationen und auch der jeweiligen Regierungen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


Ich plädiere deshalb für einen integrativen und zu-
kunftsgerichteten Ansatz. Nur so können die aktuellen
Probleme Namibias effektiv bearbeitet werden. Laut
UNDP hat Namibia bei der Einkommensverteilung welt-
weit den höchsten Gini-Koeffizienten. Dies ist ein statis-
tisches Maß zur Darstellung von Ungleichheit. Fast
30 Prozent der Menschen leben am Tag von 1 Dollar
oder weniger. Die Verbreitung von HIV/Aids ist mit
13,1 Prozent mit die höchste in Subsahara-Afrika. Die
Arbeitslosenquote ist mit 37 Prozent sehr hoch und hat
sich in den letzten Jahren kaum verbessert.

Um diese gravierenden Probleme anzugehen, hat die
Nationale Planungskommission Namibias 2004 Ent-
wicklungsziele festgelegt, die in der Vision 2030 be-
schrieben sind: Ziel ist es, für das namibische Volk
„Wohlstand, zwischenmenschliches Miteinander, Frie-
den und politische Stabilität“ zu schaffen. Dieses Ziel
unterstützt die Bundesregierung durch ihre Maßnahmen.

Den Antrag der Linken werden wir daher ablehnen.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716230100

Lassen Sie es mich klar und unmissverständlich aus-

sprechen: Sklaverei und Kolonialismus waren und sind
in all ihren Formen und Ausprägungen ein Verbrechen!

An diesen Verbrechen von schier unvorstellbaren
Ausmaßen beteiligte sich auch Deutschland, und zwar
an zentraler Stelle. Insofern kann es in Afrika nur
zynisch anmuten, wenn die Bundesregierung heute in
vielen ihrer Reden zur Vorstellung ihres Afrika-Konzepts
von einem „relativ leichten kolonialen Gepäck“
Deutschlands zu sprechen pflegt!

Ein ganzer Kontinent wurde hier in Berlin 1884/85,
nur einen Steinwurf von diesem Hause entfernt, auf-
geteilt – und das ohne die Beteiligung auch nur eines
einzigen Menschen aus Afrika. Intakte afrikanische Ge-
meinwesen wurden brutal zerschlagen. Es ging um Ent-
mündigung und Erniedrigung mit dem einzigen Ziel der
Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen zum eigenen
wirtschaftlichen Nutzen.

Weiß war die Hautfarbe des Terrors, von Gewalt und
Vernichtung. Am 4. November 1904 notierte General-
leutnant von Trotha, der auch den bekannten Vernich-
tungsbefehl gegen die Herero in der ehemaligen Kolonie
Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, gege-
ben hatte – ich zitiere –: „Ich kenne genug Stämme in
Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang,
dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit kras-
sem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben
war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständi-
schen Stämme mit Strömen von Blut.“

An den Folgen dieses kolonialen Erbes, das ja eben
nicht nur, aber doch auch von deutschem Boden aus-
ging, und seiner Bewältigung trägt Afrika noch heute
schwer. In diesem Kontext steht unser Antrag, über den
wir heute sprechen.

Es ist absolut unbestritten, dass die deutschen Kolo-
nialtruppen zwischen 1904 und 1908 in Deutsch-Süd-
westafrika einen Völkermord nicht nur planten, sondern

auch umsetzten! Es ist unbestritten, dass sie die Rücken-
deckung dazu von der Berliner Reichsregierung hatten.

Von der Mehrheit der Fachhistoriker über internatio-
nale Organisationen wie der UNO bis zur deutschen und
internationalen Presse: Sie alle erkennen diesen Völker-
mord an, sie alle kennen die historischen Fakten. Die
Bundesregierung jedoch verweigert bis heute die offi-
zielle Anerkennung dieses Völkermords. Das ist beschä-
mend!

Es geht also heute um nicht weniger, als um die not-
wendige Grundlage für echte Versöhnung zwischen
Namibia und Deutschland. Versöhnung lässt sich nicht
einseitig diktieren. Deutschland muss den ersten Schritt
tun, Verantwortung für diese Verbrechen übernehmen
und eine offizielle Entschuldigung aussprechen! Dafür
ist die Zeit mehr als reif.

Im neuen Afrika-Konzept der Bundesregierung spre-
chen Sie von einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“.
Aber eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ ist an Vo-
raussetzungen gebunden. Sie lässt sich nicht einfach
proklamieren. Auch Versöhnung lässt sich nicht einseitig
diktieren. In einem einstimmigen Beschluss hat die
namibische Nationalversammlung 2006 den deutschen
Völkermord benannt. Noch heute warten wir auf den
bitter notwendigen Dialog hierüber. So wenig Sie dies
wollen – die darin angesprochene Frage der Wiedergut-
machung lässt sich davon nicht ausnehmen.

Die Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft
sind in Namibia bis heute spürbar. Bis heute fehlen den
Herero, Nama, Damara und San die notwendigen Mittel,
um sich eine eigenständige wirtschaftliche Grundlage
aufbauen zu können. Wiedergutmachung muss genau
hier ansetzen und diese strukturellen Nachteile ausglei-
chen.

Im Herbst letzten Jahres kam es zu einem denkwür-
digen Ereignis: Nach über 100 Jahren kam eine hoch-
rangige namibische Delegation der Nachfahren der
Opfer nach Berlin, um 20 geraubte Schädel von Opfern
des deutschen Völkermords heimzubringen. Sie wurden
ursprünglich zu rassistischen Forschungszwecken nach
Deutschland verbracht.

Die Bundesregierung verhielt sich völlig respektlos:
Die Delegation und der mitreisende namibische Jugend-
minister wurden nicht offiziell empfangen. Staatsminis-
terin Pieper hielt bei der Übergabe eine Rede. Es fiel
kein Wort der Entschuldigung für den begangenen
Völkermord, und gleich nach ihrer Rede verließ sie den
Saal, ohne sich den Minister Namibias anzuhören. Ich
schäme mich für das Verhalten dieser Bundesregierung.

Eine rapide Verschlechterung der Beziehungen
zwischen unseren beiden Ländern war die Folge. Im
Dezember wurde der deutsche Botschafter von Nami-
bias Präsident Pohamba wegen dieses Vorfalls vor die
Tür gesetzt. Wir begrüßen deshalb die Reise des Afrika-
beauftragten des Auswärtigen Amts von Anfang Fe-
bruar. Immerhin hat er sich – wenn auch spät und unter
Druck – für dieses Verhalten der Bundesregierung ent-
schuldigt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


Es ist höchste Zeit, dass der Bundestag dieses Thema
in die eigenen Hände nimmt. Deshalb haben wir heute
diesen Antrag eingebracht. Ich kann an Sie nur appellie-
ren: Halten Sie diese Frage aus dem üblichen Parteien-
gezänk heraus! Stimmen Sie unserem Antrag zu!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfach
und immer wieder mit den Verbrechen der deutschen
Kolonialherren an den Völkern der Herero und Nama
Anfang des 20. Jahrhunderts in dem damaligen Süd-
westafrika, dem heutigen Namibia, befasst. Fast alles,
was im Antrag der Linken steht, war auch schon Thema
von Diskussionen und Anträgen.

Trotzdem ist es richtig und wichtig, dass sich das
deutsche Parlament erneut mit diesem dunklen Kapitel
der deutschen Geschichte beschäftigt und mit den Gräu-
eltaten der damaligen deutschen Kolonialherrschaft
auseinandersetzt. Das wurde Ende letzten Jahres einmal
wieder deutlich anlässlich der doch sehr unwürdigen
Umstände und Vorfälle während des Besuchs einer gro-
ßen hochrangigen Delegation aus Namibia, die nach
Berlin gekommen war, um die in der Kolonialzeit nach
Deutschland verschleppten Schädel von Menschen der
Herero und Nama nach Hause nach Namibia zurückzu-
holen. Auch die Berichterstattung in Namibia über den
Ablauf des mehrtägigen Besuchs und über die Überga-
beveranstaltung in Berlin macht dies erforderlich.

Wir wollen und müssen die politische und moralische
Verantwortung übernehmen für das historische Unrecht,
den Vernichtungskrieg an den Herero, Nama und an An-
gehörigen anderer Volksgruppen, das in deutschem Na-
men in Namibia geschehen ist. Historiker haben seit lan-
gem belegt, dass der Vernichtungskrieg ein Kriegsver-
brechen und Völkermord war. Das sollten wir in aller
Klarheit anerkennen. In früheren Erklärungen des Deut-
schen Bundestages fehlte diese Klarheit. An der letzten
Erklärung zum 100. Jahrestag dieser Verbrechen hatte
ich selber mitgewirkt, war aber mit dem Ergebnis unzu-
frieden.

Die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-
Zeul, hatte dann bei einem Besuch in Namibia im August
2004 als Vertreterin der deutschen Regierung bei den
Gedenkfeiern für die Schlacht am Waterberg und die ge-
töteten Menschen eine klarere Sprache gesprochen und
sich bei den Nachfahren der Herero, Nama und anderen
Volksgruppen entschuldigt. In Namibia war die Rede auf
große Zustimmung gestoßen. In Deutschland war die of-
fizielle Reaktion verhaltener. Teilnehmer der Delegation
aus Namibia haben dies jetzt, Ende letzten Jahres, be-
dauert und eine eindeutigere Erklärung gefordert.

Der Antrag der Linken berücksichtigt nicht, dass es
einiges von dem, was jetzt gefordert wird, schon damals
gegeben hat.

Von der Bundesregierung wurden Mittel für die Ein-
richtung und den Betrieb einer Gedenkstätte am Ort des
Geschehens der Verbrechen in Namibia zur Verfügung

gestellt. Diese Gedenkstätte am Waterberg in Okakarara
wurde überwiegend auch angenommen.

Es gab auch schon den jetzt geforderten Austausch
von Parlamentsdelegationen aus Namibia und Deutsch-
land. Ich habe an zwei solcher Treffen teilgenommen.

Auch der Dialog mit der Zivilgesellschaft wurde an-
gestoßen. So wurde eine viertägige große Konferenz im
Überseemuseum in Bremen im November 2004 durchge-
führt, bei der Vertreter aus Namibia und Deutschland
zum Teil sehr heftig und intensiv diskutierten.

Es gab sogar bereits einen Fonds für Namibia, mit
dem ein Jugend- und Kulturaustausch mit Bevölke-
rungsgruppen unterstützt wurde, aber mit dem auch
Landreformen im Siedlungsgebiet von Herero und Nama
einschließlich Landaufkauf zugunsten von Nachfahren
der Opfer der Verbrechen gefördert werden sollte.

Bevor nun neue Initiativen gestartet werden, sollte
zunächst mit allen Beteiligten geklärt werden, woran es
gelegen hat, dass Diskussionen, Dialoge und Kulturaus-
tausch sich nicht erwartungsgemäß entwickelt haben
und offenbar aus der Förderung von Landreformen und
Landaufkauf wenig oder gar nichts geworden ist. Die
aufgetretenen Probleme und Schwierigkeiten müssen of-
fengelegt und diskutiert sowie bei der Planung neuer
Initiativen und Projekte berücksichtigt werden. Dies
aber fehlt in dem Antrag der Linken. Es fehlt auch eine
Abklärung der vorgeschlagenen Vorhaben mit Regie-
rung und Parlament in Namibia.

Es trifft zwar zu, wie in dem Antrag angeführt, dass
das gesamte Parlament in Namibia in einem Beschluss
gefordert hatte, dass die Opfer der deutschen Verbre-
chen entschädigt werden sollen. Aber die namibische
Regierung hat immer auch geltend gemacht, dass ein-
zelne Volksgruppen im Land nicht bevorzugt werden
sollten.

Ohne Einbeziehung der namibischen Regierung und
der Parlamentsmehrheit ist es kaum möglich, vernünf-
tige und machbare Lösungen für die offenen Fragen zu
finden. Namibia ist ein unabhängiger, souveräner Staat,
und seine Vertreter müssen an allen Überlegungen für
neue Stiftungen und Projekte im Land beteiligt werden,

In der nächsten Woche besucht eine namibische Dele-
gation der Parlamentariergruppe der SADC-Staaten
den deutschen Bundestag, unter anderem, um über den
deutsch-namibischen interparlamentarischen Dialog zu
sprechen. Diesen geplanten Austausch begrüßen wir
sehr.

Ein umfassender und ergebnisoffener Dialog zur ge-
meinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit kann jetzt
wieder begonnen und muss geführt werden, aus dem
dann gemeinsame Initiativen zur Versöhnung erwachsen
können. Partnerschaftlich mit der namibischen Seite –
ausdrücklich gemeint ist damit das gesamte Parlament
und nicht nur die Regierung – sollten wir eine neue
Agenda für Versöhnung entwickeln. Das bedeutet aber
auch, dass man Inhalte und Ergebnisse eines solchen
deutsch-namibischen Parlamentarier- und Regierungs-
dialogs nicht vorwegnimmt oder gar einseitig diktiert.

Zu Protokoll gegebene Reden





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)


Ich habe Verständnis für all diejenigen und zähle
mich selbst zu denen, die ungeduldig geworden sind und
sagen, dass den vielen Worten und jahrelangen Debatten
endlich Taten folgen müssen. Doch Aussöhnung ist of-
fenbar ein schwieriger und langwieriger Prozess. Und
jede Stimme will gehört werden – nicht nur die, die am
lautesten ist.

In diesem Sinne beraten wir Anträge zur Anerken-
nung der deutschen Kolonialverbrechen als Völkermord
im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und deren Kon-
sequenzen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716230200

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/8767 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Einfuhr und Verwendung von Asbest und as-
besthaltigen Produkten in Deutschland umfas-
send verbieten

– Drucksachen 17/7478, 17/8758 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch diese Reden zu Protokoll. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing für
die Unionsfraktion, Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Frak-
tion, Dr. Lutz Knopek und Serkan Tören für die FDP-
Fraktion, Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke und
Dorothea Steiner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1716230300

Dem Ziel, Menschen und Umwelt vor Schadstoffen zu

schützen, fühlt sich die Bundesregierung in ihrem gan-
zen Handeln verpflichtet. Auf allen politischen Ebenen
– sei es im nationalen, europäischen oder internationa-
len Rahmen – orientiert sie sich auf überzeugende Weise
stets an dem Ziel, Risiken zu erkennen, zu reduzieren und
nach Möglichkeit gar nicht erst entstehen zu lassen.
Dies schließt chemische Substanzen wie chrysotilhalti-
gen Asbest (Weißasbest) ausdrücklich ein – ein Stoff, der
im Mittelpunkt des vorliegenden Antrags der Grünen
steht. Gesundheit und Wohlbefinden jedes Einzelnen so-
wie eine intakte Natur bilden die Eckpfeiler des erfolg-

reichen Handelns der Regierungskoalition im Politikfeld
Umwelt und Gesundheit.

Dies ließe sich durch unzählige Beispiele belegen, an
dieser Stelle möchte ich ein aktuelles und für den zu de-
battierenden Antrag äußerst relevantes herausgreifen:
das Rotterdamer Übereinkommen zum internationalen
Handel mit bestimmten gefährlichen Chemikalien. Die-
ses listet im Anhang III sogenannte gefährliche Chemi-
kalien auf. Das Herzstück des Übereinkommens ist, dass
ein Land, welches diese Chemikalien in ein anderes
Land einführen will, umfassende Informationen vorle-
gen muss. Diese Regelung ermöglicht dem Importland,
auf Basis vollständiger Informationen eine gesicherte
und begründete Entscheidung über den zu importieren-
den Stoff zu treffen.

Deutschland setzt sich mit Nachdruck für die Auf-
nahme von Chrysotil in die Liste der gefährlichen Che-
mikalien des Rotterdamer Übereinkommens ein. Dieses
Bemühen wird von der EU nach Kräften unterstützt, die
das Übereinkommen im Jahr 2004 umgesetzt hat. Ziel
ist, den Handel und den Einsatz von Weißasbest auf in-
ternationaler Ebene zu reglementieren – bislang schei-
terte die Aufnahme an anderen Staaten.

Das Engagement der Bundesregierung ist bemer-
kenswert und wird zu Recht auch von der Opposition ge-
würdigt: So fordern die Grünen in ihrem Antrag auf
Seite 1 die Bundesregierung auf, „sich im Rahmen der
internationalen Gemeinschaft weiterhin aktiv für die
Aufnahme von Chrysotilasbest in die Rotterdamer Kon-
vention einzusetzen“.

Unabhängig von diesen Bemühungen auf internatio-
naler Ebene sind EU-weit im Rahmen von REACH seit
2006 und national seit 1993 krebserzeugende Asbest-
fasern verboten. Von diesem grundsätzlichen Asbestver-
bot in der EU erlauben die EU-Verordnung REACH und
die deutsche Chemikalien-Verbotsverordnung Ausnah-
men: Ausgenommen sind die wenigen Anwendungen, für
die bislang weder asbestfreie Ersatzstoffe noch Alter-
nativtechnologien existieren. Vorausgesetzt werden
allerdings strenge Arbeitsschutzvorgaben in den Pro-
duktionsprozessen.

Einige EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutsch-
land, machen von dieser Ausnahmemöglichkeit Ge-
brauch – beispielsweise für die Nutzung von asbesthalti-
gen Diaphragmen in Elektrolyseanlagen zur Herstellung
von Chlor. Innerhalb dieses rechtlichen Rahmens wird
der Import von Chrysotil nach Deutschland zwei Unter-
nehmen gestattet: Solvay Chemicals GmbH in Rheinberg
und Dow Deutschland Anlagengesellschaft mbH in
Stade.

An dieser Stelle setzt der Antrag der Grünen an: Die
Fraktion verlangt den Stopp der Einfuhr von chrysotil-
haltigem Asbest und asbesthaltigen Produkten, das voll-
ständige Verbot von Asbest in Deutschland sowie die
Streichung entsprechender Ausnahmeregelungen. Diese
Forderung lehnen wir als unverhältnismäßig ab, und ich
will Ihnen erklären, warum:

Die Ausnahmeregelungen für die Verwendung von
Weißasbest in der Produktion, von der die beiden oben





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


genannten Unternehmen profitieren, erfolgt auf Basis
geltenden europäischen und deutschen Rechts. Die Bun-
desregierung hat die EU-Kommission fristgerecht über
die Gründe für die Nutzung der Ausnahmemöglichkeit
unterrichtet. Darüber hinaus erfolgt der Import von
Chrysotil nach Deutschland bereits freiwillig durch die
beiden Unternehmen entsprechend der Regelung im Rot-
terdamer Übereinkommen.

Beide Unternehmen arbeiten am Asbestausstieg und
an der Entwicklung von Alternativen, wobei die Produk-
tion beider Unternehmen auf völlig unterschiedlichen
Verfahren beruht. Das Unternehmen Solvay wird ab
2013 auf asbestfreie Produktion umgestellt haben. Dow
forscht intensiv an der Substitution des Stoffes, diese ist
jedoch derzeit noch nicht möglich. Auf dem Weg zur er-
folgreichen Substitution verwendet Dow den Asbest al-
lein bei der Produktion von Chlor, es wird kein Asbest
hergestellt, und kein Asbest verlässt das Werksgelände.

Die vorgeschriebenen Schutzvorgaben im Umgang
mit Asbest werden von den Unternehmen eingehalten.
Eine konkrete Veranlassung – beispielsweise in Form ei-
nes Unfalls nach unsachgemäßem Umgang – liegt nicht
vor und dient nicht als Begründung für den vorliegenden
Antrag. Es sind auch keine Vollzugsdefizite zu beanstan-
den.

Der Antrag richtet sich faktisch gegen ein einzelnes
Unternehmen, gegen Dow. Dieses Unternehmen wird ab
2013 als einziges Unternehmen in Deutschland die Aus-
nahmeregelung zur Einfuhr und Verwendung von Asbest
nutzen (müssen). Wo, wenn nicht hier, stellt sich die
Frage der Verhältnismäßigkeit von Gesetzesänderun-
gen?

Soweit zum geltenden Recht, der Rechtmäßigkeit der
bestehenden Ausnahmeregelungen und damit verbunde-
ner Rechtssicherheit für Unternehmen, Arbeitsplätze
und Wertschöpfung in Deutschland.

Sollte es zukünftig im Rahmen der europäischen
REACH-Verordnung zu einer Beendigung der As-
bestausnahmen kommen, wird Deutschland diese in na-
tionales Recht umsetzen. Eine entsprechende Überprü-
fung mit wissenschaftlicher und sozioökonomischer
Bewertung läuft derzeit bei der europäischen Chemika-
lienagentur ECHA. Diese Überprüfung auf EU-Ebene
gilt es aufmerksam zu verfolgen und abzuwarten. Das
ambitionierte europäische Chemikalienrecht wurde
2006 im Zuge von REACH nicht ohne Grund auf EU-
Ebene harmonisiert und zentralisiert.

Unabhängig von der Entwicklung in Brüssel fordere
ich Dow abschließend auf, weiterhin hartnäckig an der
Substitution von Asbest zu forschen und entsprechende
Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen mit großem
Engagement fortzusetzen. Die Ausnahme vom Asbest-
verbot ist keine Dauerlösung.

Zusammenfassend stelle ich fest: Die Bundesregie-
rung setzt sich national und international für einen opti-
malen Umwelt- und Gesundheitsschutz beim Umgang
mit Asbest ein. Sie nimmt das Thema ernst; denn von
Chemikalien dürfen keine negativen Auswirkungen auf
Mensch und Umwelt ausgehen. Deutschland wird sich

weiterhin gemeinsam mit der EU für die Aufnahme von
Chrysotil in das Rotterdamer Übereinkommen einsetzen.
Die Aufnahme von Asbest in die Gefahrstoffliste des
Übereinkommens ist richtig und wichtig.

Schnellschüsse und Panikmache machen wir uns je-
doch nicht zu eigen. Wenn die Grünen dies tun wollen,
sollen sie dies gerne tun, wenn sie so ihre Rolle als Op-
position verstehen. Wir setzen auf verantwortungsbe-
wusstes sachliches Handeln. Deshalb lehnen wir den
Antrag der Grünen ab.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1716230400

Der Umgang mit der Einfuhr und Verwendung von

Asbest und asbesthaltigen Produkten in Deutschland ist
ein anschauliches Beispiel dafür, dass die schwarz-gelbe
Bundesregierung leider noch immer versucht, Umwelt-
schutz und Industriepolitik gegeneinander auszuspielen.
In solchen Fällen hilft bekanntlich nicht Panikmache auf
dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
sondern Aufklärung und Sachlichkeit.

Worum geht es? Letzte Woche Mittwoch, am 22. Fe-
bruar 2012, erschien im „Stader Tageblatt“ als großer
Aufmacher ein Artikel mit der reißerischen Überschrift:
„Droht der Dow Stade das Aus?“ Die FDP-Bundestags-
abgeordneten Serkan Tören und Lutz Knopek haben das
niedersächsische Chemieunternehmen Dow Chemical
besucht und dabei einen Angstwahlkampf gegen Rot-
Grün gestartet.

Hintergrund der Aufregung ist der heute zur Debatte
stehende Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion, der
ein umfassendes Import- und Nutzungsverbot von Asbest
fordert. Es ist unverantwortlich, wie ein fachlich derart
hochkomplexes Thema instrumentalisiert wird, um par-
teitaktisch den Wahlkampf einzuläuten.

Richtig ist, dass bereits 1993 – also zur Regierungs-
zeit von Bundeskanzler Helmut Kohl – in Deutschland
die Herstellung und Verwendung von Asbest endgültig
untersagt wurde. Seit dem 1. Januar 2005 gilt das
Asbestverbot auch europaweit, und das aus guten Grün-
den. Denn Asbest zählt seit über hundert Jahren zu den
gesundheitsgefährdenden Stoffen. Bereits um 1900
wurde die Asbestose als Krankheit entdeckt. 1943 wurde
Lungenkrebs als Folge von Asbestbelastungen als Be-
rufskrankheit anerkannt, und seit 1970 wird die Asbest-
faser offiziell als krebserzeugend bewertet.

Trotz dieser Erkenntnis wird aber noch immer Asbest,
insbesondere Chrysotil, der sogenannte Weißasbest, in
Deutschland in Ausnahmefällen verwendet, und das
trotz der bekannten hohen Gesundheitsrisiken. Bereits
im Jahr 2006 wurden in der REACH-Verordnung, der
EU-Chemikalienverordnung, die EU-weit geltenden Be-
schränkungsmaßnahmen für die Herstellung, das In-
Verkehr-Bringen und die Verwendung von Asbestfasern
und asbesthaltigen Erzeugnissen beschlossen.

Der Deutsche Bundestag widmet sich diesem Thema
heute nicht zum ersten Mal. Bereits im Mai 2010 hat die
Bundesregierung eine Antwort auf eine Kleine Anfrage
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Einfuhr von
Asbestfasern und asbesthaltigen Produkten gegeben.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)


Schon vor knapp zwei Jahren wurde die Bundesregie-
rung vom Parlament gefragt, ob es Hinweise gäbe, dass
bei einer Nichterteilung der Ausnahmegenehmigung für
die Firma Dow Chemical mit einem Abbau von Kapazi-
täten und damit Arbeitsplätzen im Werk Stade zu rech-
nen sei. Eine Antwort genau auf diese berechtigte Frage
ist die schwarz-gelbe Bundesregierung schuldig geblie-
ben. Auch das müssten meine Kollegen von der FDP-
Fraktion wissen.

Deshalb ist es wichtig und richtig, erneut parlamen-
tarisch auf das weiterhin vorhandene Problem der Ver-
wendung von Asbest in Deutschland hinzuweisen und
diese kritisch zu hinterfragen.

Im Sinne der Sachlichkeit und Transparenz möchte
ich gerne die Hintergründe des heutigen Themas noch
einmal klarstellen. Die Ausnahmen zur Einfuhr und Nut-
zung von asbesthaltigen Rohstoffen beruhen auf einer
bis zum 31. Dezember 2010 bestehenden Regelung der
Chemikalien-Verbotsverordnung. Durch eine befristete
Ausnahmeregel konnte die Einfuhr von asbesthaltigen
Stoffen zur Herstellung von chrysotilhaltigen Diaphrag-
men für die Chlor-Alkali-Elektrolyse genehmigt werden.
Was heißt das? Als Diaphragma wird in der Elektroche-
mie die Trennwand zweier Halbelemente genannt. Bei
der Chlor-Alkali-Elektrolyse werden die wichtigen
Grundchemikalien Chlor, Wasserstoff und Natronlauge
aus Natriumchlorid erzeugt. Es gibt hierbei drei techni-
sche Verfahren: das Diaphragma-, das Amalgam- und
das Membranverfahren.

Die Nutzung der Ausnahmeregelung war nur zuläs-
sig, wenn asbestfreie Ersatzstoffe, Zubereitungen oder
Erzeugnisse nicht auf dem Markt angeboten wurden
oder ihre Verwendung zu einer unzumutbaren Härte
führte.

In Deutschland sind zwei Anlagen genehmigt wor-
den: zum einen die Anlage der Firma Solvay Chemicals
GmbH in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen. Diese Aus-
nahmegenehmigung ist bis zum 31. Dezember 2012 be-
fristet. Nach Angaben der Firma Solvay Chemicals
GmbH ist eine Verlängerung der Genehmigung nicht
notwendig, da Maßnahmen zur Entwicklung von Alter-
nativen ergriffen worden sind und eine entsprechende
Umstellung bis 2012 abgeschlossen werde.

Zum anderen wurde die Anlage der Firma Dow
Chemical Company in Stade in Niedersachsen geneh-
migt. Diese Ausnahme wurde unbefristet genehmigt, al-
lerdings unter der Voraussetzung des jederzeit mögli-
chen Widerrufs. Einen Genehmigungswiderruf für Dow
Chemical macht die Bundesregierung von den Prüf-
ergebnissen der EU-Kommission abhängig. Bis Juni
2011 musste Deutschland als EU-Mitgliedstaat einen
umfassenden Bericht an die EU-Kommission über die
Gründe der bisherigen Nutzung der Ausnahmeregelung
sowie das Datum zum Auslaufen der Ausnahmeregelung
geben.

Betrachtet man die Situation der beiden Unterneh-
men in Deutschland, werden die Unterschiede schnell
klar: Solvay Chemicals in Rheinberg hat Maßnahmen
zur Entwicklung von Alternativen ergriffen und befindet

sich im Umstiegsprozess, der bis 2012 abgeschlossen
sein soll.

Die Firma Dow Chemical hält eine Umstellung even-
tuell und frühestens im Jahr 2025 für möglich. Damit
wäre Dow Chemical ab 2013 das einzige Unternehmen
in Deutschland, das weiterhin die Notwendigkeit sieht,
den gefährlichen Asbest einzusetzen, und dem es nicht
gelungen ist, einen Ersatz für den gesundheitsgefähr-
denden Stoff zu finden. In der Stellungnahme, die die
Firma Dow Chemical am 9. Januar 2012 an den Wirt-
schaftsausschuss des Deutschen Bundestages geschickt
hat, werden die genauen technischen Unterschiede,
warum aus Sicht der Firma keine asbestfreien Dia-
phragmenmaterialien eingesetzt werden können, erläu-
tert. Das habe ich mir selbstverständlich sehr genau an-
gesehen. Es heißt dort aber auch, dass Dow Chemical
seit mehr als 40 Jahren Forschungs- und Entwicklungs-
arbeiten unternimmt, um Asbest zu ersetzen. Genau
dieses Bemühen wollen wir mit der Zustimmung zum
Antrag unterstützen. Aus umweltpolitischer Sicht muss
in Anbetracht der mit dem Einsatz von Asbest verbunde-
nen Gefahren für die menschliche Gesundheit die Sub-
stitution Priorität haben und müssen schnellstmöglich
notwendige Maßnahmen zur Umstellung ergriffen wer-
den. Vielleicht hat es bisher am nötigen Druck gefehlt,
Asbest als gefährlichen und gesundheitsgefährdenden
Stoff zu ersetzen.

Wenn wir auch in Zukunft auf sichere Arbeitsplätze
setzen wollen – und das ist ausdrücklich Position und
Engagement der SPD-Bundestagsfraktion; ich kann Ih-
nen nur unser aktuelles industriepolitisches Papier zur
Lektüre empfehlen –, dann können das nur Arbeitsplätze
sein, die auch den Erkenntnissen des Gesundheitsschut-
zes entsprechen. Selbstverständlich sind wir immer für
angemessene Übergangsregelungen. Aber die beiden
Firmen in Deutschland wussten und wissen doch selbst,
dass Ausnahmegenehmigungen nur für einen begrenzten
Zeitraum gelten, sonst wären es keine Ausnahmen, son-
dern die Regel.

Daher sehen wir keinen Grund, warum beispiels-
weise die Formulierung des Antrags abgelehnt werden
sollte, dass sich der Deutsche Bundestag dafür einsetzt,
dass auch innerhalb der Europäischen Union und welt-
weit alle Anstrengungen unternommen werden, um per-
spektivisch – ich betone: perspektivisch – ein komplettes
Verbot des Abbaus und der Nutzung von Asbest zu errei-
chen.

Leider scheiterte im Juni 2011 erneut der Versuch,
Chrysotilasbest in die Gefahrstoffliste der Rotterdamer
Konvention aufzunehmen. Verhindert wurde dies unter
anderem von Kanada, dem Hauptexporteur von Chryso-
tilasbest. Interessanterweise importiert auch Dow
Chemical aus Kanada. Das Rotterdamer Übereinkom-
men zum internationalen Handel mit bestimmten gefähr-
lichen Chemikalien ist das erste internationale Vertrags-
werk zum Import und Export von Chemikalien. Es
erstreckt sich auf Industriechemikalien sowie auch auf
Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel. Die
Konvention wurde am 10. September 1998 in Rotterdam
angenommen und trat am 24. Februar 2004 in Kraft.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)


Als wir am 8. Februar 2012 im Umweltausschuss den
Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion beraten haben,
bestätigte auch die CDU/CSU, dass die Forderung nach
einer Aufnahme von Asbest in die Gefahrstoffliste der
Rotterdamer Konvention richtig und wichtig sei. Wir
würden uns freuen, wenn diese gemeinsame Haltung
international weiter vorangebracht würde. Dementspre-
chend unterstützen wir die Forderung des Antrags, dass
die Bundesregierung sich im Rahmen der internationa-
len Gemeinschaft weiterhin aktiv für die Aufnahme von
Chrysotilasbest in die Rotterdamer Konvention einset-
zen soll, auch nach dem erneuten Scheitern im Juni ver-
gangenen Jahres.

National wie international gilt: Umweltschutz und
zukunftsorientierte Industriepolitik müssen Hand in
Hand gehen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt
werden, schon gar nicht auf dem Rücken der Menschen,
die in diesen Branchen arbeiten.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1716230500

Die Industrie ist eine der tragenden Säulen der deut-

schen Wirtschaft. Gerade in der Finanz- und Wirt-
schaftskrise hat sich gezeigt, dass eine starke Industrie
unerlässlich ist für Wohlstand und Wachstum. Der che-
mischen Industrie kommt dabei eine besondere Rolle zu,
da sie die für Innovationen benötigten Werkstoffe und
Materialien produziert. Das Erfolgsgeheimnis unserer
chemischen Industrie wiederum liegt in den integrierten
Verbundstandorten, die es ermöglichen, aus relativ we-
nigen Grundstoffen eine ganze Bandbreite von indus-
triellen Produkten herzustellen. Diese elementaren Zu-
sammenhänge sollte man sich unbedingt noch einmal
vergegenwärtigen, bevor man über den vorliegenden
Antrag der Grünen diskutiert.

Ein ohne Zweifel gut funktionierender Verbundstand-
ort ist das Werk von Dow Chemical in Stade. Grundlage
aller Produktionsprozesse dort ist die Herstellung von
Chlor und Natronlauge. Natronlauge entsteht dabei als
Koppelprodukt der Chlor-Alkali-Elektrolyse in einem
festen Verhältnis pro produzierter Tonne Chlor. Dazu
setzt Dow in Stade zwei verschiedene Verfahren ein: das
Asbestdiaphragmaverfahren und das Membranverfah-
ren. Etwa 1 Million Tonnen Chlor werden jährlich durch
das Diaphragmaverfahren erzeugt und circa 550 000
Tonnen durch das Membranverfahren. Der Grund für
den parallelen Einsatz dieser beiden Verfahren liegt in
der dabei entstehenden unterschiedlich stark konzen-
trierten Natronlauge. Das Koppelprodukt des Diaphrag-
maverfahrens ist eine etwa 10-prozentige Lauge; das
Membranverfahren produziert eine etwa 33-prozentige
Natronlauge. Alle nachfolgenden Produktionsprozesse
sind genau auf diese beiden Laugenkonzentrationen
ausgerichtet.

Das Diaphragmaverfahren ist daher von existenziel-
ler Bedeutung für den Standort Stade. Das Produktions-
verfahren wurde von Dow eigens für die nachgeschalte-
ten Chlorohydrinprozesse entwickelt. Diese sind nur mit
einer 10-prozentigen Natronlauge möglich. Das Mem-
branverfahren, das kommerziell verfügbar ist und das
gerne als Beste Verfügbare Technik angeführt wird, ist

hingegen auf die Produktion von 50-prozentiger Lauge
ausgerichtet und kommt für nachgeschaltete Chlorohyd-
rinprozesse nicht infrage.

Eine Alternative zum Einsatz von Asbest wäre der
Austausch der Asbestdiaphragmen durch Kunststoffdia-
phragmen, wie dies etwa bei Solvay in Rheinberg ge-
schieht. Eine Besonderheit des Doweigenen Verfahrens
ist jedoch die geringe Stromdichte, mit der die Elektro-
lyse betrieben wird. Alle Versuche seit den 70er-Jahren,
für dieses Verfahren kunststoffbasierte Substitute zu ent-
wickeln, sind bislang gescheitert. Eine Asbestsubstitu-
tion wäre daher derzeit nur im Rahmen eines Anlagen-
neubaus mit geschätzten Kosten von etwa 1 Milliarde
Euro möglich. Anschließend lägen die energetischen Be-
triebskosten gegenüber dem derzeitigen Verfahren je-
doch um 10 bis 15 Prozent höher.

Was genau beantragen nun die Grünen? Lesen wir
einmal nach: Der Deutsche Bundestag fordert die Bun-
desregierung auf, so der Wortlaut des Antrags, sämtli-
che Ausnahmeregelungen zur Einfuhr und Nutzung von
asbesthaltigen Rohstoffen im Rahmen der Chemikalien-
verbotsverordnung umgehend zu streichen. Bestehende
befristete Genehmigungen zur Nutzung sollen für einen
Übergangszeitraum bis Ende 2012 weiter gelten können.

Vor dem Hintergrund meiner vorherigen Ausführun-
gen dürfte jedem hier im Hause klar sein, dass ein Erfolg
des Grünen-Antrags das sofortige Aus für den Dow-
Standort in Stade bedeutet. Denn zum einen es ist weder
technisch noch administrativ möglich, bis Ende des Jah-
res die bestehende Produktion umzustellen. Allein die
behördlichen Genehmigungsverfahren würden so lange
dauern, und selbstverständlich müsste dann die Anlage
selbst noch gebaut werden. Zum anderen ist es fraglich,
ob sich eine solche Investition überhaupt betriebswirt-
schaftlich rechnen würde. Das Alleinstellungsmerkmal
des Standortes Stade im weltweiten Dow-Standortwett-
bewerb ist die energetisch günstige Herstellung von
10-prozentiger Natronlauge. Entfällt dieser Vorteil,
stellt sich automatisch die Standortfrage.

Wer einen solchen Antrag stellt, wer 1 500 Arbeits-
plätze infrage stellt, sollte daher gute Gründe dafür ha-
ben. Während in der schriftlichen Antragsbegründung
ausschließlich die Rede ist von möglichen mit dem Ein-
satz von Asbest verbundenen Gefahren für die menschli-
che Gesundheit, hat man sich mündlich mittlerweile von
dieser Argumentation verabschiedet. Im „Stader Tage-
blatt“ war nachzulesen, dass die Grünen keine Risiken
für die Arbeiter im Werk Stade sehen. Vielmehr ginge es
den Grünen um die Arbeitsbedingungen beim Asbestab-
bau in Kanada. Eine Mitarbeiterin der Grünen lässt sich
im „Tageblatt“ zitieren mit der Aussage, dass es sich um
eine Abwägungsfrage handele und dass den Grünen die
Folgen des Abbaus in Kanada wichtiger seien als die
Energieeinsparungen durch das Asbestdiaphragmaver-
fahren in Deutschland.

Wie bereits dargestellt, ignoriert diese Argumentation
die betriebswirtschaftlichen Folgen für den Standort
Stade. Zudem wird ohne weitere Substanziierung be-
hauptet, dass der Asbestabbau in Kanada unter widri-
gen Bedingungen geschehen würde. Kanada aber ist

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Lutz Knopek


(A) (C)



(D)(B)


keine Bananenrepublik, sondern ein hoch entwickeltes
Industrieland und Mitglied der OSZE, das über ein ent-
sprechendes staatliches Arbeitsschutzregime verfügt.
Wer allein auf Verdacht und Zuruf deshalb 1 500 Ar-
beitsplätze und eine erhebliche regionale Wertschöpfung
zur Disposition stellt, handelt nicht verantwortlich.

Lassen sich mich daher zusammenfassen: Die Aus-
nahmeregelung in der europäischen Chemikalienverord-
nung REACH zum Einsatz von Asbest in der Chlorelek-
trolyse wurde in dem Bewusstsein geschaffen, dass in
der chemischen Industrie verantwortungsvoll und unter
höchsten Sicherheitsstandards mit diesem unzweifelhaft
gefährlichen Stoff umgegangen wird. Das bestreiten
auch die Antragsteller nicht länger. Ein relevantes Ri-
siko aus dem Einsatz von Asbestdiaphragmen gibt es
also nicht. Zudem wird in regelmäßigen Zeitabständen,
wie gerade jetzt, von der Europäischen Kommission
überprüft, ob es asbestfreie Substitute gibt, die wirt-
schaftlich einsetzbar sind. Der Anreiz zu diesbezügli-
chen Forschungsanstrengungen ist also ebenfalls gege-
ben. Damit ist der Antrag der Grünen vollständig
entkräftet.

Was dennoch übrig bleibt, ist Folgendes: Für die
Grünen sind 1 500 Arbeitsplätze in Deutschland weni-
ger wichtig als das moralisch erhöhende Gefühl, ver-
meintlich etwas für den Umwelt- und Gesundheitsschutz
am anderen Ende der Welt getan zu haben, ohne dass die
vermeintlichen Nutznießer dieser Wohltat dies über-
haupt wollten oder gar gefragt wurden. Man könnte es
auch so umschreiben: Wir malen uns die Welt, wie sie
uns gefällt.

Für uns Liberale ist eine solche Geisteshaltung un-
verantwortlich: unverantwortlich, weil sie die berech-
tigten Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer ignoriert; unverantwortlich aber auch, weil sie sich
um die mit einer Asbestsubstitution einhergehenden öko-
logischen Abwägungen drückt. Wir bekennen uns daher
ausdrücklich zum Chemiestandort Stade.

Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie und Indus-
trie, Michael Vassiliadis, hat vor kurzem an die Politik
appelliert, mehr Loyalität zum, wie er es nannte, indus-
triellen Netz in Deutschland zu zeigen. Mit Blick auf die-
sen Antrag kann man abschließend feststellen: Recht hat
er!


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1716230600

Sicherlich ist es ungewöhnlich, dass ich als Innen-

politiker in der Debatte zu einem umweltpolitischen An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen das Wort ergreife. Al-
lerdings hat der vorgelegte Antrag unmittelbare Auswir-
kungen auf meinen Wahlkreis und seine wirtschaftliche
Zukunft. Dort nutzt die Firma Dow am Produktionsstand-
ort Stade ein Verfahren zur Produktion von Chlor für die
direkte Verarbeitung im Werk, bei dem in einem ge-
schlossen System Asbest eingesetzt wird. Für diesen As-
besteinsatz besteht eine Sondergenehmigung, die entzo-
gen werden müsste, sollte der heutige Antrag denn so
beschlossen werden.

Der Einsatz von Asbest, so wie er heute am Chemie-
standort Stade geschieht, ist unter wirtschaftlichen und
umweltpolitischen Gesichtspunkten vernünftig und rich-
tig. Alle treten für einen schonenden Umgang mit den
vorhandenen Ressourcen ein. Der Einsatz von Asbest im
Stader Chemiewerk hat zur Folge, dass der ohnehin
schon sehr hohe Stromverbrauch auf das Notwendigste
begrenzt wird. Zudem ist der ganze Produktionsprozess
in Stade so aufgebaut, dass bei einem Verbot von Asbest
der ganze Standort neu konzipiert werden müsste. In ei-
nem Chemiewerk ist in der Regel alles von allem abhän-
gig. So auch in Stade. Wenn nun der Produktionsprozess
geändert wird, dann hat dies Auswirkungen auf das
ganze Werk. Für den Chemiestandort Stade würde dies
bedeuten, dass dieser komplett umgekrempelt werden
müsste. Es geht hier um die Summe von etwa 1 Milliarde
Euro. Ob Dow bereit wäre, dieses Geld in die Hand zu
nehmen, um die nötigen Umbaumaßnahmen durchzufüh-
ren, ist nicht sicher. Es ist somit nicht ausgeschlossen,
dass das Werk aufgrund des Asbestverbots geschlossen
wird. Direkt wären 1 500 Menschen von einer solchen
Schließung betroffen. Dazu kommen noch einige hundert
Menschen im Bereich der Zulieferer und natürlich die
Angehörigen. Sie sehen also, welche Bedeutung Dow für
Stade hat. Sicherlich ist dies nicht das einzige wirt-
schaftliche Standbein in der Region Stade. Dennoch
hätte der Wegfall der Arbeitsplätze verheerende Auswir-
kungen für die gesamte Region.

Auch uns Liberalen liegen der Umweltschutz und die
Sicherheit der Menschen am Herzen, und Asbest ist
zweifelsohne gefährlich. Allerdings sollte man die wirt-
schaftlichen Folgen seiner Entscheidungen bedenken,
zumal sich die Verantwortlichen der Firma Dow sich der
Gefahren des Asbests sehr wohl bewusst sind. Von die-
sem besonderen Verantwortungsbewusstsein für Mitar-
beiter und Umwelt konnten sich mein Kollege Knopek
und ich uns kürzlich bei einem gemeinsamen Besuch
beim Stader Dow-Werk ein Bild machen. Dort wird alles
getan, um die möglichen Gefahren für Mensch und Na-
tur auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Asbest
wird dort in einem geschlossenen System verwendet und
anschließend verbrannt. Die Gefahr, dass Asbest aus
dem Chemiewerk entweicht, ist somit nahezu ausge-
schlossen.

Was die Reaktionen vonseiten der SPD zum Thema
Dow angeht, bin ich ein wenig erstaunt. Der Abgeord-
nete Klingbeil verweist darauf, dass die SPD im Bundes-
tag für Deutschland eine erfolgreiche Industriepolitik
will und hierfür auch die Weichen stellt, so seine Äuße-
rungen im „Stader Tageblatt“. Dennoch stimmte die
SPD im Umwelt- und im Landwirtschaftssauschuss für
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, und im Wirt-
schaftsausschuss enthielt sie sich der Stimme. Wenn so
also die Weichen für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik
gestellt werden, dann landet der deutsche Zug irgend-
wann auf dem Abstellgleis. Bündnis 90/Die Grünen sind
da wenigstens konsequent. Sie haben in allen zuständi-
gen Ausschüssen für den Verbotsantrag gestimmt. Viel-
leicht sollte sich die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen mit den Parteifreunden in Stade über die

Zu Protokoll gegebene Reden





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


Auswirkungen ihrer in Berlin getroffenen Entscheidun-
gen einmal austauschen.

Abschließend kann ich nur sagen, die SPD redet von
Wirtschaft und handelt wirtschaftsfeindlich und Bünd-
nis 90/Die Grünen scheinen nicht mal ansatzweise eine
Idee von Wirtschaftspolitik zu haben.

Als Koalition mit wirtschaftspolitischem Verstand
können wir einem solch wirtschaftsfeindlichen Antrag,
der Arbeitsplätze vernichtet, nicht zustimmen. Die christ-
lich-liberale Koalition wird den Antrag ablehnen.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716230700

Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Einfuhr und

die Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produk-
ten in Deutschland umfassend zu verbieten. Außerdem
soll sich der Bundestag dafür einsetzen, dass europa-
und weltweit der Abbau und die Nutzung von Asbest ver-
boten wird.

Sieht man sich die Folgen der durch Asbest verur-
sachten Schäden für die Betroffenen an, so ist der An-
trag aus Sicht der Fraktion Die Linke ohne Zweifel in
den allermeisten Positionen sinnvoll. Asbest ist hoch ge-
fährlich und löst Krebs aus, wenn es in die Lunge gerät.
2005 mussten in der Bundesrepublik 1 540 Todesfälle
durch Asbest offiziell festgestellt werden. Tatsächlich
werden es noch erheblich mehr sein.

Die Asbestgewinnung liegt weltweit bei 2,2 Millionen
Tonnen jährlich. Davon wurden 2009 in die Bundesrepu-
blik 38 Tonnen legal mit Ausnahmegenehmigungen ein-
geführt. Es gibt jedoch etliche Produkte ausländischer
Hersteller, mit denen unbekannte Mengen in die Bundes-
republik gelangen. Es handelt sich hier beispielweise um
Dichtungsmaterialien oder um Thermoskannen mit
Wärmedämmung aus Asbest. Es sind übliche Ge-
brauchsgegenstände für den Alltag von Handwerkern
und Verbrauchern. Die im Antrag genannten Vollzugs-
defizite des Chemikalienrechts müssen deshalb unbe-
dingt beseitigt werden. Diese illegalen Importe dürfen
keinen weiteren Schaden mehr anrichten.

Bei den Ausnahmeregelungen des legalen Imports be-
steht eine ganz andere Situation. Hier werden keine Ver-
braucher unbekannten Gefahren ausgesetzt, sondern es
werden zwei eng begrenzte Industrieanwendungen er-
möglicht. Die zeitlich begrenzten Ausnahmegenehmi-
gungen sind an strikte Auflagen geknüpft.

Es sind zwei Industrieunternehmen, die Asbest zur
Chlorgewinnung benötigen. Das Unternehmen der
Solvay-Gruppe sieht sich in der Lage, den Asbest durch
andere Stoffe zu ersetzen. Es wird das auch kurzfristig
umsetzen. Das Unternehmen der Dow Chemical schließt
einen Ersatz als technisch nicht möglich aus, da ihre
Produktionsmethode eine andere sei. Das Produktions-
verfahren müsse beim Verzicht auf Asbest vollständig
neu aufgebaut werden. Die zulässige Arbeitsplatzbelas-
tung liegt bei Dow Chemical um den Faktor 100 unter
dem zulässigen Grenzwert, und die Montage des Asbests
wird von Robotern vorgenommen.

Durch die Nichtverlängerung der Ausnahmegenehmi-
gung wären im Stader Werk rund 1 500 Arbeitsplätze ge-
fährdet. Die Sicherheit der mit dem Umgang von Asbest
betrauten Arbeitnehmer ist aber gewährleistet, und auch
die Verglasung der Asbestabfälle ist ein akzeptabler Ent-
sorgungsweg. Ein Verbot, welches nach einer realisti-
schen Fristsetzung von vier Jahren in Kraft tritt, würden
wir unterstützen. Ein sofortiges Verbot ist jedoch unan-
gebracht, und daher wird sich die Fraktion Die Linke
bei diesem Antrag enthalten.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1716230800

Noch immer wird Asbest in Deutschland verwendet.

Es finden sich wieder vermehrt Produkte im Handel, die
Asbest erhalten: billige Thermoskannen aus China und
Dichtungsringe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ja
dies ist illegal, Gesetze helfen hier nicht weiter. Aber es
bedarf dringend einer Stärkung der Vollzugsbehörden.
Die sind häufig überhaupt nicht in der Lage, die notwen-
digen Kontrollen durchzuführen. Deshalb fordern wir
die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern
Maßnahmen zu ergreifen, um diese Defizite abzubauen
und die Einfuhr von asbesthaltigen Produkten nach
Deutschland wirksam zu verhindern.

Aber Asbest kommt nicht nur im Rahmen illegaler
Einfuhren nach Deutschland, nein auch ganz legal. Im
Rahmen der Chemikalienverbotsverordnung gibt es eine
befristete Ausnahmeregel zur Einfuhr von asbesthalti-
gen Stoffen zur Herstellung von chrysotilhaltigen Dia-
phragmen für die sogenannte Chlor-Alkali-Elektrolyse.
Diese Ausnahmeregelung war damals bei der Einfüh-
rung des Asbestverbotes richtig, um der chemischen In-
dustrie die Möglichkeit zu geben, umzustellen. Denn
auch wir Grüne betreiben, anders als Sie immer gerne
behaupten, verantwortungsvolle Industriepolitik und
wollen prinzipiell den Unternehmen Möglichkeiten ge-
ben, behutsam auf neue Vorschriften umzustellen.

Was wir nicht wollen, ist, allein den Partikularinte-
ressen eines einzigen Unternehmens gerecht zu werden.
Denn es gibt zwar mehrere Unternehmen, die Chlor-Al-
kali-Elektrolyse betreiben, aber nur Dow in Stade hat
nicht ausreichend Maßnahmen ergriffen, um erfolgreich
Substitutionsstrategien umzusetzen und asbestfreie Dia-
phragmen zu nutzen. Genau deshalb fordern wir in unse-
rem Antrag die Bundesregierung auf, nicht weiter von
der Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen.

Wenig überraschend haben Sie, werte Kollegen von
den Koalitionsfraktionen, uns vorgeworfen, wir wären
verantwortungslos, wir würden Arbeitsplätze vernich-
ten, es gäbe doch gar keine Gefahr, alles sei so sicher,
bis hin zu kaum bekannten FDP-Abgeordneten aus
Stade, die schlankweg behaupten, wir hätten uns nicht
informiert und daher keine Ahnung.

Da kann ich Ihnen nur sagen, wir haben uns infor-
miert und wir haben Ahnung, mehr als Sie augenschein-
lich. Lassen Sie uns doch noch mal kurz die Fakten an-
führen:

Erstens. Asbest ist ein hochgefährlicher Stoff; das
wird hier wohl niemand bestreiten wollen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)


Zweitens. Der Asbest, den die Firma Dow Chemical
in Stade verwendet, wird in Kanada unter katastropha-
len Bedingungen mit massiven Gesundheitsschäden für
die Arbeiter vor Ort abgebaut. Ich empfehle Ihnen da
den NDR-Beitrag „Die Asbestfalle“. Asbest kann man
nämlich nicht gefahrlos abbauen, und ja, uns Grünen
bedeutet auch der Schutz von Mensch und Umwelt vor
Asbestgefahren in Kanada etwas.

Drittens. Natürlich sind die Risiken für die Arbeite-
rinnen und Arbeiter bei Dow in Stade vergleichsweise
gering aufgrund hoher Sicherheitsstandards, aber sie
sind weiterhin da und sollten nicht geleugnet werden.

Viertens. Es gibt Alternativen, das haben Konkurren-
ten von Dow wie Solvay Chemicals bewiesen. Deren
Produkte sind zwar etwas teurer und etwas energieinten-
siver. Aber sollte es uns das nicht wert sein, mit Blick auf
die katastrophalen Folgen von Asbest?

Jetzt sagen Sie, ja, aber in Deutschland ist es alles si-
cher, und wir wollen doch die Kosten- und Energievor-
teile nutzen. Natürlich setzt sich die Bundesregierung
für ein weltweites Asbestverbot ein, aber Kanada will ja
nicht. Da kann ich Ihnen sagen, warum Kanada nicht
will: Solange wir noch freudig für Chemiefabriken in
Deutschland den kanadischen Asbest kaufen und einfach
ignorieren, welche schweren Folgen der dortige Abbau
für Mensch und Umwelt hat, müssen wir uns nicht wun-
dern, dass die Kanadier weiterhin in großem Umfang
den Asbest auf den Markt drücken wollen. Auch hier
gilt: Die Nachfrage bestimmt das Angebot!

Von CDU/CSU und FDP haben wir ja nichts anderes
erwartet. Aber dass auch Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, auf diesen Zug aufspringen,
hat uns schon gewundert. Sie haben doch in letzter Zeit
immer zum Ausdruck gebracht, dass Sie sich für die bes-
seren Grünen in Sachen Umwelt- und Energiepolitik
halten. Jetzt zeigen Sie mit Ihrer Verweigerung, dem An-
trag zuzustimmen, wie es wirklich um Ihre umweltpoliti-
sche Kompetenz bestellt ist. Mit dem scheinheiligen Ar-
gument, in Deutschland passiert den Arbeiterinnen und
Arbeitern ja nichts, daher wollen wir doch die Arbeits-
plätze nicht gefährden, werfen Sie sämtliche Gedanken
an Umweltschutz über Bord. Umwelt- und Gesundheits-

schutz außerhalb Deutschlands scheint Sie nicht zu inte-
ressieren, dabei dachte ich immer, die internationale So-
lidarität hätte so einen besonderen Stellenwert bei
Ihnen.

Wir Grünen haben schon immer Ökologie und Öko-
nomie gemeinsam gedacht. Wir wollen eine nachhaltige
Wirtschaft, die die Umwelt schont und zukunftssicher ist.
Wirklich langfristig werden die Arbeitsplätze in Stade
bei Dow nur gesichert, wenn Asbest erfolgreich substitu-
iert wird. Dow spielt ein riskantes Spiel, wenn sie wei-
terhin darauf setzen, eine singuläre Ausnahmegenehmi-
gung für die Nutzung des hoch gefährlichen Asbests zu
erhalten, nicht nur mit der Gesundheit der Menschen,
sondern auch mit dem zukünftigen Profil des Unterneh-
mens.

Daher fordern wir: Umstieg jetzt – Einfuhr und Ver-
wendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten in
Deutschland müssen im Sinne des Gesundheits- und
Umweltschutzes in Deutschland und weltweit umfassend
verboten werden.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1716230900

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8758,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7478 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf morgen, Freitag, den 2. März 2012,
9 Uhr.

Die Sitzung ist geschlossen.