Plenarprotokoll 17/162
Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
162. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
I n h a l t :
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord-
neten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Peter
Röhlinger, Jerzy Montag und Hans-
Joachim Fuchtel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wahl der Abgeordneten Carola Stauche als
Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Absetzung der Tagesordnungspunkte 3, 19,
29 sowie 31 b und c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . .
Tagesordnungspunkt 27:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Bekämpfung des Rechts-
extremismus
(Drucksache 17/8672) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Michael Hartmann (Wackernheim)
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . .
Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 4:
Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Rentenversicherung stärken und solida-
risch ausbauen – Solidarische Min-
destrente einführen
(Drucksache 17/8481) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .
Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . .
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . .
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . .
Peter Weiß (Emmendingen)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .
19203 A
19203 A
19203 B
19203 D
19203 D
19204 A
19204 B
19205 D
19207 B
19208 B
19209 C
19211 A
19213 A
19214 B
19214 D
19215 D
19217 A
19218 B
19219 B
19220 D
19221 D
19223 A
19223 B
19225 C
19225 D
19227 A
19229 A
19229 C
19230 B
19230 D
19232 B
19234 C
19236 D
19238 C
Inhaltsverzeichnis
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . .
Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . .
Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .
Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 31:
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Vertrag vom 2. Dezember
2010 über die Errichtung des Funktio-
nalen Luftraumblocks „Europe Cen-
tral“ zwischen der Bundesrepublik
Deutschland, dem Königreich Belgien,
der Französischen Republik, dem
Großherzogtum Luxemburg, dem Kö-
nigreich der Niederlande und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft
(FABEC-Vertrag)
(Drucksache 17/8726) . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Axel Troost, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE: Finanzmärkte verbrau-
chergerecht regulieren – Finanzwächter
und Finanz-TÜV einführen
(Drucksache 17/8764) . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht über die Höhe des steuerfrei zu
stellenden Existenzminimums von Er-
wachsenen und Kindern für das Jahr
2012 (Achter Existenzminimumbericht)
(Drucksache 17/5550) . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Übereinkommens vom
17. März 1992 zum Schutz und zur Nut-
zung grenzüberschreitender Wasserläufe
und internationaler Seen
(Drucksache 17/8725) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 32:
a) – Zweite und dritte Beratung des vom
Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Gesetzes zur Änderung des
Umsatzsteuergesetzes
(Drucksachen 17/8320, 17/8798) . . . .
– Bericht des Haushaltsausschusses ge-
mäß § 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/8804) . . . . . . . . . . . . .
b–h)
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
schusses: Sammelübersichten 390, 391,
392, 393, 394, 395 und 396 zu Petitionen
(Drucksachen 17/8590, 17/8591, 17/8592,
17/8593, 17/8594, 17/8595, 17/8596) . . .
Zusatztagesordnungspunkt 2:
Antrag der Abgeordneten Dietmar Nietan,
Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD: Verleihung des Status als EU-Bei-
trittskandidat an Serbien aussprechen
(Drucksache 17/8763) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 5:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Hochqualifizierten-Richt-
linie der Europäischen Union
(Drucksache 17/8682) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . .
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . .
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . .
Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 6:
Große Anfrage der Abgeordneten Franz
Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: Der de-
mografische Wandel in Deutschland –
Handlungskonzepte für Sicherheit und
Fortschritt im Wandel
(Drucksachen 17/6377, 17/8372) . . . . . . . . . .
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19239 B
19239 D
19241 C
19241 C
19243 A
19245 A
19245 C
19246 D
19248 B
19249 C
19250 B
19250 B
19250 B
19250 C
19250 D
19250 D
19251 A
19251 A
19251 D
19252 A
19253 D
19255 A
19256 B
19257 C
19259 A
19260 C
19262 A
19262 D
19264 A
19265 A
19265 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 III
Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . .
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .
Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . .
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . .
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 9:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU und
zur Änderung des Börsengesetzes
(Drucksache 17/8684) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .
Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 8:
Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller
(Köln), Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Juristische
Aufarbeitung der Gewalt und politischer
Neuanfang für den Jemen
(Drucksache 17/8587) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .
Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 11:
a) Bericht des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung
gem. § 56a GO-BT: Technikfolgenab-
schätzung (TA)
TA-Projekt: Gefährdung und Verletz-
barkeit moderner Gesellschaften – am
Beispiel eines großräumigen und lang-
andauernden Ausfalls der Stromversor-
gung
(Drucksache 17/5672) . . . . . . . . . . . . . . .
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht zur Risikoanalyse im Bevölke-
rungsschutz 2011
(Drucksache 17/8250) . . . . . . . . . . . . . . .
c) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht über die Methode zur Risiko-
analyse im Bevölkerungsschutz 2010
(Drucksache 17/4178) . . . . . . . . . . . . . . .
Stephan Mayer (Altötting)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .
Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 10:
a) Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot
Erler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD: Deutsches Engage-
ment beim Einsatz von Polizistinnen
und Polizisten in internationalen Frie-
densmissionen stärken und ausbauen
(Drucksache 17/8603) . . . . . . . . . . . . . . .
b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Mehr Mitsprache des Parlaments bei
Auslandseinsätzen der Bundespolizei
(Drucksache 17/8381) . . . . . . . . . . . . . . .
Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .
Armin Schuster (Weil am Rhein)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . .
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
19266 C
19268 A
19269 A
19270 B
19272 A
19272 C
19273 C
19274 A
19275 B
19276 B
19277 C
19278 D
19279 D
19279 D
19280 D
19282 C
19283 C
19284 B
19285 A
19286 C
19286 D
19287 C
19288 D
19290 A
19291 B
19292 B
19293 B
19293 C
19293 C
19293 D
19295 A
19296 C
19297 C
19298 C
19299 C
19301 A
19301 A
19301 B
19302 D
19304 B
19305 B
19306 A
19306 C
19307 C
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Tagesordnungspunkt 13:
a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Jürgen Klimke, Erika Steinbach,
Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Marina Schuster,
Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Tourismus als Chance für die
Einhaltung der Menschenrechte
nutzen
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:
Menschenrechte in der Tourismus-
wirtschaft achten, schützen und ge-
währleisten
(Drucksachen 17/8347, 17/6458, 17/8736)
b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth,
Kornelia Möller, Katrin Werner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Menschenrechte in der Touris-
muspolitik konsequent durchsetzen
(Drucksache 17/8762) . . . . . . . . . . . . . . . .
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 12:
Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf,
Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD: Den demographischen Wandel bei
den Aufwendungen für Leistungen zur
Teilhabe in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung besser berücksichtigen
(Drucksache 17/8602) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . .
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . .
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 15:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung des Allge-
meinen Eisenbahngesetzes
(Drucksachen 17/8364, 17/8787) . . . . . . . . . .
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . .
Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 14:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Werner, Annette Groth, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Vom Anspruch zur Wirklichkeit:
Menschenrechte in Deutschland schützen,
respektieren und gewährleisten
(Drucksachen 17/5390, 17/6929) . . . . . . . . . .
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . .
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die geodätischen Referenz-
systeme, -netze und geotopographischen
Referenzdaten des Bundes (Bundesgeorefe-
renzdatengesetz – BGeoRG)
(Drucksachen 17/7375, 17/8634) . . . . . . . . . .
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19308 C
19308 D
19308 D
19310 A
19311 B
19312 B
19313 A
19313 D
19315 B
19316 B
19316 C
19317 C
19318 D
19319 C
19320 A
19320 D
19322 A
19322 D
19323 A
19323 C
19324 B
19325 A
19325 C
19326 D
19327 C
19327 C
19328 D
19330 D
19331 A
19332 A
19332 D
19333 C
19334 D
19335 A
19335 D
19336 D
19337 B
19338 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 V
Tagesordnungspunkt 16:
a) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungsarmut
durch Alphabetisierung und Grundbil-
dung entgegenwirken
(Drucksache 17/8765) . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie
Hein, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Niemanden abschreiben – An-
alphabetismus wirksam entgegentre-
ten, Grundbildung für alle sichern
(Drucksache 17/8766) . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 20:
a) Antrag der Fraktion der SPD: zu dem
Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates
über die Konzessionsvergabe
KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11
hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6
des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von
Lissabon (Grundsätze der Subsidiari-
tät und der Verhältnismäßigkeit)
Ausschreibungspflicht bei Dienstleis-
tungskonzessionen ablehnen – Kommu-
nale Daseinsvorsorge sichern
(Drucksache 17/8761) . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem
Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates
über die Konzessionsvergabe
KOM(2011) 897 endg.; Ratsdok. 18960/11
hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6
des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von
Lissabon (Grundsätze der Subsidiari-
tät und der Verhältnismäßigkeit)
Klares Signal zum Schutz der kommu-
nalen Daseinsvorsorge setzen
(Drucksache 17/8768) . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .
Manfred Nink (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . .
Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 21:
Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,
Sabine Zimmermann, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Bundesmittel zur Finanzierung
der Grundsicherung im Alter und bei Er-
werbsminderung 1 : 1 an Kommunen wei-
terreichen
(Drucksache 17/8606) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 22:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Oliver Krischer, Dr. Valerie Wilms, Hans-
Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraft-
stoffen aus Teersanden bei der Umsetzung
der Kraftstoffqualitätsrichtlinie berück-
sichtigen
(Drucksachen 17/7956, 17/8759) . . . . . . . . . .
Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tagesordnungspunkt 23:
Antrag der Abgeordneten Niema Movassat,
Sevim Dağdelen, Stefan Liebich, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Die deutschen Kolonialverbrechen im ehe-
maligen Deutsch-Südwestafrika als Völ-
kermord anerkennen und wiedergutma-
chen
(Drucksache 17/8767) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . .
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . .
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . .
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19339 A
19339 B
19339 C
19339 D
19340 A
19341 C
19342 C
19343 B
19344 A
19344 D
19345 A
19345 C
19346 D
19347 C
19348 B
19349 B
19349 C
19350 C
19351 D
19352 B
19353 A
19354 A
19354 B
19355 C
19356 A
19357 A
19358 B
19359 A
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Tagesordnungspunkt 24:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einfuhr
und Verwendung von Asbest und asbest-
haltigen Produkten in Deutschland umfas-
send verbieten
(Drucksachen 17/7478, 17/8758) . . . . . . . . . .
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Anträge:
– Bildungsarmut durch Alphabetisierung
und Grundbildung entgegenwirken
– Niemanden abschreiben – Analphabe-
tismus wirksam entgegentreten,
Grundbildung für alle sichern
(Tagesordnungspunkt 16 a und b)
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . .
Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . .
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . .
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . .
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19360 A
19360 B
19361 C
19363 A
19364 B
19365 A
19365 C
19366 D
19367 A
19367 C
19368 C
19369 C
19371 B
19372 A
19373 B
19374 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19203
(A) (C)
(D)(B)
162. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
Beginn: 9.00 Uhr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19367
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Bildungsarmut durch Alphabetisierung und
Grundbildung entgegenwirken
– Niemanden abschreiben – Analphabetismus
wirksam entgegentreten, Grundbildung für
alle sichern
(Tagesordnungspunkt 16 a und b)
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Lesen
und Schreiben sind grundlegende Voraussetzungen, um
sich im alltäglichen Leben zurechtzufinden und zu be-
haupten. Vielen Menschen in unserem Land bereitet das
leider Probleme.
Wie die Ergebnisse der durch den Bund geförderten
„leo. – Level-One-Studie“ zeigen, sind 7,5 Millionen
Menschen in Deutschland sogenannte funktionale An-
alphabeten und haben somit Probleme, selbst kürzere
Texte zusammenhängend zu lesen oder zu schreiben.
Darüber hinaus haben 4 Prozent der Erwerbstätigen
nicht nur Probleme mit mehreren Sätzen, sondern sogar
mit einzelnen Wörtern. Und weitere 13 Millionen Bür-
ger haben Probleme mit gebräuchlichen Wörtern – also
eine allgemeine Leseschwäche. Diese zählen formal je-
doch nicht zur Gruppe der Analphabeten.
Die Zahlen zum Analphabetismus zeigen, dass es die-
ses Problem gibt, das wir auch ernst nehmen. Doch ist
mir hierbei eine differenzierte Betrachtung wichtig: Dem
Eindruck, wir seien eine Nation von Analphabeten,
möchte ich ausdrücklich entgegentreten, denn dieser ist
fatal und auch falsch. Deutschland ist eine global agie-
rende und eine der führenden Bildungsnationen der Welt
mit einem hohen Bildungsstandard.
In der heutigen Debatte darf es nicht ausschließlich
darum gehen, Fachkräfte zu qualifizieren. Die Bekämp-
fung des Analphabetismus ist mehr. Dahinter steht auch
der Grundgedanke humanistischer Bildung: sich nämlich
an den Interessen, den Werten und der Würde des einzel-
nen Menschen zu orientieren und damit das menschliche
Dasein zu verwirklichen und zu verbessern.
Die vorliegenden Anträge bieten daher in der Sache
durchaus berechtigte Lösungsansätze, enthalten jedoch
nichts wesentlich Neues. In der Sache sind wir uns hier
ja alle einig, nur über das „Wie“ gibt es unterschiedliche
Ansichten. Eine Mehrheit der Vorschläge verkennt die
bisherige Arbeit der Bundesregierung.
So hat die Bundesregierung das Thema Alphabetisie-
rung und Grundbildung bereits seit längerem auf ihrer
Agenda. Der dabei bereits eingeschlagene Weg wird
nicht nur fortgeführt, sondern das Engagement im
Kampf gegen Analphabetismus sogar noch ausgebaut.
Hervorzuheben sind hierbei die Initiativen in der früh-
kindlichen Förderung, beispielsweise die Aktion „Lese-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 01.03.2012
Beck (Reutlingen),
Ernst-Reinhard
CDU/CSU 01.03.2012
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 01.03.2012
Brinkmann (Hildesheim),
Bernhard
SPD 01.03.2012
Burchardt, Ulla SPD 01.03.2012
Friedhoff, Paul K. FDP 01.03.2012
Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 01.03.2012
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 01.03.2012
Dr. Harbarth, Stephan CDU/CSU 01.03.2012
Hintze, Peter CDU/CSU 01.03.2012
Kaczmarek, Oliver SPD 01.03.2012
Kipping, Katja DIE LINKE 01.03.2012
Körper, Fritz Rudolf SPD 01.03.2012
Korte, Jan DIE LINKE 01.03.2012
Krellmann, Jutta DIE LINKE 01.03.2012
Kressl, Nicolette SPD 01.03.2012
Ludwig, Daniela CDU/CSU 01.03.2012
Luksic, Oliver FDP 01.03.2012
Marks, Caren SPD 01.03.2012
Nord, Thomas DIE LINKE 01.03.2012
Philipp, Beatrix CDU/CSU 01.03.2012
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 01.03.2012
Pronold, Florian SPD 01.03.2012
Rupprecht (Weiden),
Albert
CDU/CSU 01.03.2012
Süßmair, Alexander DIE LINKE 01.03.2012
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 01.03.2012
Anlagen
19368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
start – Drei Meilensteine für das Lesen“, das größte
Leseförderungsprogramm in der Geschichte der Bundes-
republik. Darüber hinaus wurden vielfältige Forschungs-
vorhaben gestartet sowie weitere Projekte, die sich nicht
nur an Kinder, sondern vor allem auch an die erwerbs-
tätige Bevölkerung richten.
All den Unkenrufen der Opposition zum Trotz: Die
Aktivitäten der Bundesregierung wurden in einer Anhö-
rung des Bildungsausschusses von unabhängigen Exper-
ten gelobt, die ihr bescheinigten, dass der Bund sich der
Aufgabe angemessen annimmt.
Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihren Anträgen for-
dern, ist ein breites Aktionsbündnis von Bund, Ländern
und Kommunen sowie Vertretern der Zivilgesellschaft.
Die Idee ist gut, doch auch diese wurde bereits aufge-
griffen und in Teilen bereits realisiert. So gaben bei-
spielsweise Bundesministerin Professor Dr. Annette
Schavan und KMK-Präsident Dr. Bernd Althusmann
Ende 2011 den Startschuss für eine Nationale Strategie
zur Verringerung der Zahl funktionaler Analphabeten.
Der nächste Schritt muss nun die weitere und stärkere
Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Vertreter sein. Doch
auch diese Idee ist nichts Neues, und an ihrer Realisie-
rung wird gearbeitet.
Nichtsdestotrotz sind die Länder gefordert, sich noch
stärker zu engagieren. Gefragt sind konzertierte Aktio-
nen, die auf bereits gewonnenen Erkenntnissen für viel-
versprechende Maßnahmen aufbauen. Dabei erscheint es
mir wichtig, dass zielgenaue und bedarfsorientierte An-
gebote auf der Ebene der allgemeinen und der berufsbe-
gleitenden Bildung geschaffen werden; Letzteres übri-
gens auch im Hinblick auf die Qualifizierung von
Fachkräften. Zur Erforschung von Maßnahmen wurde
Ende 2011 ein neues Projekt beschlossen, das mit 20 Mil-
lionen Euro vom Bund gefördert wird.
Um den Betroffenen besser als bisher konkrete Ange-
bote zu unterbreiten, müssten die entsprechende Infra-
struktur geschaffen werden und die Programme ausge-
baut und sinnvoll miteinander verknüpft werden. Die
Unionsfraktion würde die Ausrufung einer „Nationalen
Dekade Alphabetisierung“, einer Imagekampagne oder
auch die Einrichtung sogenannter Clearingstellen zur
Abstimmung zwischen Bund und Ländern begrüßen.
Was gilt es zukünftig zu vermeiden? Meiner Ansicht
nach insbesondere Aktionen, die schlicht nur mehr Geld
binden und dieses mit der Gießkanne ausschütten und so
ineffektiv verpuffen. Auch gehören Maßnahmen dazu,
deren Erfolg zweifelhaft ist und die viele Bevölkerungs-
gruppen außen vor lassen.
Wichtig ist mir, dass der Stigmatisierung Betroffener
entgegengewirkt wird. Egal welche Projekte existieren:
Wenn die Betroffenen nicht zu einer Teilnahme ermutigt
werden, bleiben alle Anstrengungen erfolglos. Der Ab-
bau von Ressentiments ist hier ebenso wichtig wie das
breite gesellschaftliche Engagement.
Eine der wichtigsten zu beantwortenden Fragen bei
allen Forschungs- und Förderungsprojekten ist, warum
es im Leben einiger Menschen offensichtlich zur Verrin-
gerung der Lese- und Schreibkompetenzen kommt. In
Anbetracht der frühkindlichen Förderung und dem ganz-
heitlichen Besuch der Grundschule scheint der Analpha-
betismus, zumindest für in Deutschland Geborene, teil-
weise unerklärlich. Doch zeigt dies, dass auch nach dem
Schulabschluss die Lust und die Bereitschaft zum Ge-
brauch der Sprache gefördert werden müssen.
Chancen und Risiken bieten aus meiner Sicht dabei
die neuen Medien: Einerseits eröffnet sich hier eine
Möglichkeit, Betroffene zu erreichen und so zugleich
nicht nur deren Sprach- sondern auch die Lesekompe-
tenz beispielsweise über den Umgang mit der sogenann-
ten Social Media zu steigern. Andererseits bestehen Ri-
siken durch den immer intensiveren Gebrauch neuer
Medien, in denen Rechtschreibung oft vernachlässigt
wird und diesbezüglich kontraproduktiv wirkt. Dies wird
durch die Möglichkeit zur Kommunikation mittels But-
tons und somit ohne Sprache begünstigt.
Weitere Anstrengungen sind unbestreitbar. Die Bun-
desregierung hat mit ihren Projekten den richtigen Weg
eingeschlagen. Jetzt sind die Länder und die Gesell-
schaft gefordert, durch größere Sensibilität und erhöhtes
Interesse Analphabeten aus dem Randbereich der Ge-
sellschaft herauszuholen und sie erfolgreich zu integrie-
ren. Wir als Bund werden dies wie gewohnt unterstützen
und darüber hinaus Impulse setzen.
Axel Knoerig (CDU/CSU): Bereits am 9. Juni 2011
haben wir uns im Plenum mit Alphabetisierung und
Grundbildung beschäftigt. Damals lag ein Antrag der
Sozialdemokraten vor. Heute bringen nun die Fraktionen
von Bündnis 90/Die Grünen und Linken das gleiche
Thema wieder auf den Tisch.
Die SPD-Forderung eines „Grundbildungspaktes“
zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird zwar von
den Grünen und der Linken nicht aufgenommen. Den-
noch wird eine umfassende Zusammenarbeit zwischen
Bund, Ländern und Kommunen von der gesamten Oppo-
sition gefordert, die im Endeffekt auf dasselbe hinaus-
läuft, egal wie man diese Konstruktion nun beim Namen
nennt.
Der Antrag der Linken setzt dem aber noch eine
Krone auf:
Ein Zehnjahresprogramm zur Umsetzung des Plans
zur Alphabetisierung und Grundbildung soll in Angriff
genommen werden. Zielvorgaben, Zuständigkeiten, fi-
nanzielle Mittel und Zeitpläne sollen unverzüglich vor-
gelegt werden. – Der Schwefelgeruch des Plansozialis-
mus schwebt über dem Hohen Hause!
Ich kann vor solchen Vorhaben nur warnen. Was nut-
zen Zielvorgaben, wenn die Ergebnisse der Projekt-
förderungen nicht zwischenzeitlich evaluiert und gege-
benenfalls korrigiert werden? Der Bund wird hier mal
wieder als Zahlmeister eingespannt, ohne dass die In-
strumente auf Effektivität geprüft werden. Ein Zehnjah-
resplan ist völlig überflüssig und in diesem Zeitrahmen
in der Koordination von Bund, Ländern und Kommunen
auch nicht durchführbar. Der 17-Punkte-Katalog des An-
trages der Linken ist im deutschen Bildungsföderalismus
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19369
(A) (C)
(D)(B)
über mehrere Wahlperioden hinaus überhaupt nicht rea-
lisierbar.
Im Gegensatz dazu hat die Bundesregierung längst
mit umfassenden Maßnahmen vorgesorgt. Bereits seit
30 Jahren fördert das BMBF Projekte, die sich dieses
Themas widmen. Die vom Ministerium in Auftrag gege-
bene Level-One-Studie der Universität Hamburg von
2011 verweist auf die erschreckend hohe Zahl von
7,5 Millionen Menschen, die funktionale Analphabeten
sind. Der Begriff „funktionaler Analphabetismus“ trägt
den Realitäten Rechnung. Er bezieht sich auf die indivi-
duellen Lese- und Schreibkenntnisse und bedeutet die
mangelnde Beherrschung der Schriftsprache.
Die Ursachen für diese Defizite können sehr unter-
schiedlich sein:
Während der Schulzeit sind Lernrückstände entstan-
den.
Schwierige Lebensumstände haben die Aneignung
von Lesekompetenzen erschwert.
Psycho-organische Beeinträchtigungen, fehlende Pra-
xis oder ein Migrationshintergrund haben zu Benachtei-
ligungen beim Erwerb der Lese- und Sprachkompeten-
zen geführt.
Was bedeutet das für die Betroffenen? Dieses
„Manko“ bedeutet eine immense tägliche Belastung,
diese gesellschaftlich nicht akzeptierte Schwäche zu ka-
schieren. Als direkte Folge entwickelt sich ein negatives
Selbstbild, das geradewegs in die soziale Isolation führt.
Aus diesem Teufelskreis kommt man schließlich ohne
fremde Hilfe nicht mehr heraus!
Bildung ist die Grundlage für die persönliche Ent-
wicklung und soziale Teilhabe. In der Bildungsrepublik
Deutschland soll die Chancengleichheit verbessert wer-
den. Die Bundesregierung hat diesbezüglich in dieser
Legislaturperiode schon viel auf den Weg gebracht. Zu
nennen ist hier der Förderschwerpunkt des BMBF: „For-
schung und Entwicklung zur Alphabetisierung und
Grundbildung Erwachsener“. Insgesamt 30 Millionen
Euro stellt das Ministerium zwischen 2007 und 2012 für
diese Maßnahme zur Verfügung.
Auch den geforderten gesamtgesellschaftlichen Kon-
sens zu dieser Thematik hat die Bundesregierung längst
hergestellt: Grundlage dafür ist die „Nationale Strategie
zur Verringerung der Zahl funktionaler Analphabeten“,
deren Förderbedingungen das BMBF am 8. Februar
2012 veröffentlicht hat. 20 Millionen Euro werden bis
2015 bereitgestellt.
Die neue Initiative hat das Ziel, betroffene Erwach-
sene besser in die Arbeitswelt zu integrieren und ihre
fachlichen Fähigkeiten zu fördern. Erfolgen soll dies
mittels arbeitsplatzorientierter Forschung und Entwick-
lung auf dem Gebiet der Alphabetisierung und Grundbil-
dung.
Ich möchte an dieser Stelle nur die wichtigsten För-
derschwerpunkte neben den bereits erwähnten anspre-
chen: Dazu gehören Öffentlichkeitskampagnen – 5 Mil-
lionen Euro für 2012 –, das Rahmencurriculum für
„Alphakurse“ – 2,1 Millionen Euro bis 2015 –, die Lern-
plattform www.ich-will-lernen.de – unbefristet, 800 000
Euro pro Jahr –, die Bildungsprämie – bis zu 500 Millio-
nen Euro bis 2015 –, Alphabetisierungskurse im Rah-
men von Integrationskursen für erwachsene Migranten
an Volkshochschulen – unbefristet, 42,2 Millionen für
2011 – und die Prävention „Lesestart“ – 26 Millionen
Euro bis 2018.
Das sind die vielfältigen Leistungen der schwarz-gel-
ben Bundesregierung zur Alphabetisierung und Grund-
bildung. Und die lassen sich sehen!
Entscheidend ist dabei: Die Maßnahmen richten sich
an alle Altersgruppen und beziehen sich immer spezi-
fisch auf die jeweilige Lernsituation der Betroffenen.
Die Maßnahmen sind kurativ und präventiv. Nur so kann
eine optimale Unterstützung gewährleistet werden.
Aber der Staat kann es nicht alleine richten, wir brau-
chen dazu eine breite zivilgesellschaftliche Unterstüt-
zung. Deshalb lehnen wir den staatlichen Dirigismus der
Linken strikt ab. Wir brauchen kein bürokratisches
Monster eines Zehnjahresplans, das in seinen Planungs-
exzessen an den Realitäten vorbeigeht.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Eine Vorbemer-
kung vorweg: Ich persönlich finde es sehr bedauerlich,
dass wir die Debatte zur Auseinandersetzung mit dem
Analphabetismus und der Verbesserung der Grundbil-
dung einmal mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit
führen bzw. unter Umständen sogar nur zu Protokoll ge-
ben. Hier geht es immerhin um das Grundrecht auf Bil-
dung und Qualifikation; über 7,5 Millionen Menschen
sind in gravierender Weise davon betroffen. Hinzu kom-
men noch viele Angehörige, Familien, Kollegen,
Firmen. Und wenn Sie nicht nur auf die 7,5 Millionen
funktionalen Analphabeten, sondern auf die über 20 Mil-
lionen Menschen mit massiven Grundbildungsdefiziten
abheben, wird das Erfordernis einer breiten gesellschaft-
lichen und das heißt auch einer intensiven, umfassenden,
sich vertiefenden parlamentarischen Diskussion immer
drängender. Nun denn: Wir von der SPD bleiben hierzu
am Ball. Die Debatte muss ja auch noch aus dem Aus-
schuss zurück in den Bundestag.
Wir haben bereits ein sehr aufschlussreiches Fachge-
spräch im Bildungsausschuss durchsetzen können, und
wir waren auch diejenigen, die schon vor fast einem Jahr
einen Antrag „Alphabetisierung und Grundbildung in
Deutschland fördern“ ins Parlament eingebracht haben.
Wir freuen uns, dass jetzt auch die anderen Opposi-
tionsfraktionen mitziehen und mit ihren Anträgen hel-
fen, dass dieses bildungspolitische Tabu endlich immer
weiter aufgebrochen wird. Viel zu lange Zeit hat man die
Augen verschlossen und so getan, als ob Analphabetis-
mus ein Thema in unterentwickelten Ländern ist, in fer-
nen Kontinenten und nur weit weg von hochmodernen,
hochindustrialisierten und hochgebildeten Gesellschaf-
ten und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland
existiert. Nach der sehr verdienstvollen Leo-Studie, die
jetzt schon ein Jahr vorliegt, wissen wir allerdings, dass
Analphabetismus kein exotisches Thema ist, sondern aus
19370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
(A) (C)
(D)(B)
der Mitte unserer Gesellschaft kommt und über 14 Pro-
zent unserer erwerbsfähigen Bevölkerung betrifft. Nur
frage ich mich jetzt: Wann wird das Thema auch bei den
Regierungsfraktionen aufgegriffen? Wann bringen Sie
Ihre Anträge und Initiativen ein? Die betroffenen Men-
schen hätten es verdient.
In den Anträgen, die jetzt von Bündnis 90/Die Grünen
und von der Fraktion Die Linke eingereicht wurden, se-
hen wir viel Übereinstimmung in Beschreibung, Analyse
und Bewertung zu unserem eigenen Antrag aus dem Mai
2011. Wir sind eigentlich sicher, dass auch die Regie-
rungsfraktionen dem beitreten können bzw. sollten. Die
Unterscheide zeigen sich tatsächlich in den Konsequen-
zen und Maßnahmen, die hieraus abgeleitet werden müs-
sen. Hier ist das, was die Bundesregierung über die For-
schung hinaus anbietet und eingeleitet hat, eben doch zu
zaghaft und unentschlossen. 10 Millionen Euro in zwei
Jahren für eine große Informations-, Aufklärungs- und
Motivationskampagne können nur ein Einstieg sein. Die
Mittel der Bildungsprämie mit zu aktivieren, ist für diese
Zielgruppe, die ja eher ein sehr geringes bis in wenigen
Fällen mittleres Einkommen hat, nicht zielführend, wie
auch die Anhörung im Bildungsausschuss gezeigt hat.
20 Millionen Euro für drei Jahre, also unter 7 Millionen
Euro im Jahr, für die Förderung arbeitsplatzorientierter
Alphabetisierung und Grundbildung sind angesichts ei-
ner Zahl von 7,5 Millionen Betroffenen auch zu zöger-
lich und ohne entscheidende Durchschlagskraft.
Die SPD-Bundestagsfraktion bleibt deshalb bei ihrer
Forderung nach einem umfassenden Alpha-Pakt für
Grundbildung. Bund, Länder und Kommunen sowie die
Sozialpartner und die Bundesagentur für Arbeit müssen
gemeinsam und entschlossen handeln, um Menschen mit
unzureichender Grundbildung zu unterstützen. Allein
der Bund soll dafür mittelfristig mindestens 50 Millio-
nen Euro aus dem Bildungshaushalt für sehr konkrete
Alphabetisierungs- und Grundbildungsmaßnahmen im
Jahr bereitstellen, beginnend mit 25 Millionen Euro in
2012. Entsprechende Anträge hatte die SPD-Bundes-
tagsfraktion im Rahmen der Haushaltsberatungen ge-
stellt.
Wir brauchen dieses starke Signal des Bundes an die
Länder und die Kommunen, damit diese sich in ihren
Anstrengungen nicht alleingelassen fühlen, sondern
Bund, Länder und Kommunen hier tatsächlich Hand in
Hand in den Aufbau eines Programmes eintreten, das
über einen Zehnjahreszeitraum an die Gesamtaufwen-
dungen heranreicht, wie sie zum Beispiel in Großbritan-
nien in Alphabetisierung und Grundbildung investiert
worden sind, nämlich durchschnittlich 360 Millionen
Euro über 10 Jahre. Auch wenn hier genauere Zahlen
sehr schwer zu ermitteln sind, dürften die Kommunen
und die Länder aktuell in Deutschland noch unter
100 Millionen Euro jährlich bereitstellen.
Auch die Bundesagentur für Arbeit war bisher noch
sehr zurückhaltend, obwohl über 55 Prozent der Betrof-
fenen erwerbsfähig sind. Es hat uns gefreut, dass die
Vertreter des DIHK für die Wirtschaft und der DGB für
die Gewerkschaften in unserem Fachgespräch die Not-
wendigkeit einer Förderung auch aus der Arbeitslosen-
versicherung ausdrücklich anerkannt haben, ganz in dem
Sinne, dass die Arbeitslosenversicherung eben auch
Qualifikations- und Bildungsversicherung, das heißt Be-
schäftigungsversicherung zum Auftrag hat.
Andere Punkte, die wir nach dem Fachgespräch im
Bildungsausschuss durch die Experten noch besser er-
kannt haben und hier zuspitzen möchten, sind:
Erstens. Es besteht ein großer Bedarf dafür, dass in
konkreten Schritten mindestens 100 000 Kursplätze für
Alphabetisierung bereitgestellt werden, damit die Be-
troffenen eine realistische Chance auf gesellschaftliche
Teilhabe erhalten. Zurzeit können nur circa 20 000 Men-
schen an Alphabetisierungskursen teilnehmen. Dies ist
eine große Aufgabe für die Länder und Kommunen. Der
Bund sollte sie dabei nachdrücklich unterstützen. Denn
100 000 Plätze erfordern nach den Berechnungen der
Fachleute rund 250 Millionen Euro jährlich! Die Linke
beschreibt diese Verfünffachung als wenig ambitioniert,
jedoch ist dies nun wirklich das Gegenteil. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von links, das ist wirklich sehr am-
bitioniert. Es ist im Übrigen auch sehr teuer. Aber es
muss nun einmal sein. An dieser Stelle ist Ihr Hinweis
auf Großbritannien durchaus richtig und wichtig. Nur,
ohne tatkräftige finanzielle Unterstützung dieser Natio-
nalen Strategie durch die Bundesregierung wird dieses
keinen Erfolg haben.
Zweitens. Auch das hat das Fachgespräch gezeigt:
Für einen quantitativen Aufwuchs der Teilnehmerzahlen
müssen die Strukturen der Alphabetisierungsarbeit aus-
gebaut werden. Es gibt bislang keinen akademischen
Ausbildungsgang „Alphabetisierungspädagogik“. Erst-
mals werden in 2012 einige wenige Studenten und Stu-
dentinnen den Weiterbildungsstudiengang an der Päda-
gogischen Hochschule Weingarten absolvieren. Da sich
auch in der Weiterbildung ein Generationenwechsel
vollzieht, werden qualifizierte Kursleiter und -leiterin-
nen für die Grundbildungsarbeit fehlen. Mit ProGrund-
bildung liegt ein Konzept für eine grundlegende Qualifi-
zierung vor, die aber von den Kursleitenden nicht selbst
finanziert werden kann. Darüber hinaus müssen Bil-
dungsträger in die Lage versetzt werden, über die Ver-
netzung mit anderen lokalen Einrichtungen, zum Bei-
spiel kommunalen Ämtern oder Beratungsstellen, und
durch gezielte Stadtteilarbeit die Betroffenen zu errei-
chen. Die aufsuchende Bildungsarbeit erfordert perso-
nelle Ressourcen, die bislang in zu geringem Maße zur
Verfügung stehen. In diesem Sinne wollen wir unseren
Antrag vom Mai 2011 nach dem Fachgespräch inhaltlich
präzisieren und nachschärfen.
Drittens. Konkret hat die Auseinandersetzung mit den
Experten weiter gezeigt: Die Bundesbildungsministerin
sollte für eine langfristige finanzielle Unterstützung der
wichtigsten Alphabetisierungsträger sorgen, damit sie
ihre wertvolle Arbeit dauerhaft leisten können. Es kann
nicht sein, dass der Bundesverband für Grundbildung
und Alphabetisierung e. V. auf Sponsoren angewiesen
ist, um seine Arbeit kontinuierlich fortzuführen. Solche
Träger brauchen Planungssicherheit.
Viertens. Bestätigt und bestärkt sehen wir uns schließ-
lich im Einsatz für Alphabetisierung und Grundbildung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19371
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als Aufgabe einer präventiven Beschäftigungsförderung.
Wir fordern deshalb ein Umdenken bei der Bundesagen-
tur für Arbeit, die sich aktiv in den Pakt für Alphabeti-
sierung und Grundbildung einbringen muss. Denn Al-
phabetisierung bei Erwachsenen und zumal bei
mehrheitlich Erwerbstätigen ist eben nicht vorrangig all-
gemeine Bildung, sondern dient der Herstellung der Be-
schäftigungsfähigkeit und ist deshalb auch Teil der akti-
ven Arbeitsmarktpolitik.
Wir erwarten insbesondere auch von der Wirtschaft in
diesem Zusammenhang ein besonderes Engagement.
Denn angesichts des drohenden Fachkräftemangels kann
es sich auch die Wirtschaft nicht leisten, dass aktuell
14,5 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter von
wichtigen Arbeitsprozessen ausgeschlossen bleiben,
weil sie kaum lesen und schreiben können. Um auch die-
ses zu sagen: Das Programm der Regierung zur Förde-
rung von Projekten mit dem Förderschwerpunkt „Ar-
beitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung
Erwachsener“ macht sehr viel Sinn und wird von uns
auch voll unterstützt. Nur das kann eben nicht fast alles
sein.
Wenn Deutschland ernsthaft den Anspruch einer „Bil-
dungsrepublik“ hat, muss die Bekämpfung des Analpha-
betismus endlich auf die bildungspolitische Agenda ge-
setzt werden. Das nächste Jahrzehnt muss im Zeichen
einer nationalen Alphabetisierungsstrategie stehen. Al-
phabetisierung ist eine Gemeinschaftsaufgabe jenseits
von politischen Ideologien und verfassungsrechtlichen
Zuständigkeiten. Wir dürfen die Probleme der 7,5 Mil-
lionen funktionalen Analphabeten nicht länger verdrän-
gen, nur weil die Menschen, die es betrifft, keine Lobby
haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Im Gegen-
teil: Das Tabu des Analphabetismus muss jetzt fallen
und die Betroffenen müssen eine Chance bekommen,
„Gesicht“ zu zeigen und Unterstützung zu erhalten, in
ihrem Interesse und im Interesse der Allgemeinheit.
Deshalb hoffen wir, dass es in dieser Frage keine Regie-
rungsfraktion oder Oppositionsfraktion gibt, sondern wir
uns zusammen engagieren und die Bundesregierung wie
die Landesregierungen, die Kommunen und die Sozial-
partner treiben, hier mutige Schritte zu wagen. Das sind
uns die 7,5 Millionen wert.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Ergebnisse der
Leo-Studie vom Frühjahr 2011 zum Analphabetismus in
Deutschland haben uns alle überrascht und gleicherma-
ßen erschrocken. Mit 7,5 Millionen funktionalen An-
alphabeten und 300 000 Menschen, die noch nicht ein-
mal ihren Namen schreiben können, hatte wohl niemand
gerechnet. Angesichts solcher Erkenntnisse erscheint
das seit 2003 formulierte Ziel der Vereinten Nationen,
mit einer Dekade der Alphabetisierung bis 2013 welt-
weit die Analphabetenquote zu halbieren, umso bedeu-
tender – auch und gerade in Deutschland.
Man könnte erwarten, diese erschreckenden Zahlen
hätten die Bundesregierung und die Öffentlichkeit auf-
geschreckt, vielleicht sogar für das Anliegen sensibili-
siert. Doch das Thema ist leider relativ schnell wieder
verhallt. Wie konnte es dazu kommen?
Selbstverständlich ist das Thema funktionale An-
alphabeten schwierig. Weder Unternehmen, die aktiv
Alphabetisierungsmaßnahmen betreiben, noch die Be-
troffenen selbst äußern sich hörbar und öffentlich. Es
bräuchte gerade deswegen eine Politik, die sich unbe-
quemen Themen widmet, sie auf die öffentliche Agenda
setzt und Handlungsmaßnahmen in Angriff nimmt. Bun-
desbildungsministerin Schavan hat – wie bei zahlreichen
anderen Themen – lediglich eine große Pressekonferenz
angesetzt und gab große Versprechen ab. Doch was ist
nun nach nahezu einem Jahr davon übrig geblieben?
Nichts, faktisch nichts hat sich an der Situation dieser
Menschen geändert. Das Thema ist erneut im Sande
verlaufen. Es ist tragisch, aber diese Entwicklung
Schavan’scher Ankündigungen ist leider typisch. Die
Leidtragenden sind jedes Mal die Betroffenen.
Auch die im Dezember getroffene Vereinbarung von
Bund und Ländern brachte nicht den erhofften großen
Wurf. Man einigte sich auf eine öffentlichkeitswirksame
Kampagne sowie länderübergreifende Kooperation und
Vernetzung. Das ist natürlich gut und wichtig. Doch kon-
zentrieren sich die Maßnahmen auf die Länder: kein
neues Projekt der Bundesregierung, keine Zusammenar-
beit mit Sozialpartnern, mit der Bundesagentur für Ar-
beit oder anderen Aktiven in dem Bereich. Stattdessen
hat im vergangenen Jahr das BMBF der seit 2003 jähr-
lich stattfindenden Fachtagung Alphabetisierung, die
vom Bundesverband Alphabetisierung organisierte Platt-
form der gesamten Alphabetisierungs- und Grundbil-
dungsarbeit in Deutschland, die Förderung gestrichen.
So geht das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition. Wir von der SPD-Fraktion schenken dem
Thema Alphabetisierung größere Aufmerksamkeit. Wir
haben als erste Fraktion nach der Studie einen Antrag
mit konkreten Handlungsmaßnahmen und Zahlen in den
Bundestag eingebracht. Wir wollen in Zusammenarbeit
mit den Ländern und den Kommunen einen Grundbil-
dungspakt schließen, der die Anzahl der Analphabeten
halbieren soll. Wir nehmen dabei im Gegensatz zur Bun-
desregierung alle gesellschaftlichen Kräfte mit: Wirt-
schaftsverbände, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kir-
chen wie auch die Medien sollen daran beteiligt werden.
Wir wollen 25 Millionen Euro in diesem Jahr und mittel-
fristig 50 Millionen Euro jährlich für diesen Grundbil-
dungspakt bereitstellen. Unser Ziel ist ein zügiger Aus-
bau der Kursplätze auf 100 000 pro Jahr. Das sind
konkrete Projekte. Damit könnten wir substanziell die
Situation dieser Menschen verbessern. Der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen geht, das will ich ausdrücklich
festhalten, in die richtige Richtung. Doch setzt unser An-
trag im Vergleich selbst nach fast einem Jahr der Debatte
immer noch Maßstäbe: Wir haben uns klar positioniert
und dies an konkreten Zahlen festgemacht.
Eine wichtiger Punkt noch zum Schluss: Die Exper-
ten des im Ausschuss durchgeführten Fachgespräches
haben vor allen Dingen einen Wunsch formuliert: Sie
wollen keine kurzfristige Projektförderung mehr, bei der
von Jahr zu Jahr neu entschieden wird, ob die Arbeit
weitergeführt und das Personal gehalten werden kann.
Sie brauchen langfristige Strukturen und Planungs-
sicherheit. Ich finde, damit haben sie recht und es ist un-
19372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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terstützungswert. Dieses Thema ist zu wichtig, als dass
dessen Finanzierung jedes Jahr am seidenen Faden hän-
gen sollte. Um das zu ermöglichen, muss der Bund aktiv
werden und den Ländern Hilfe leisten. Und auch dafür
müssen wir an das Kooperationsverbot in der Bildungs-
politik ran und langfristige Finanzierungsmöglichkeiten
schaffen. Die SPD hat auch hierfür bereits Vorschläge
gemacht.
Patrick Meinhardt (FDP): Es ist gut, dass wir im
Deutschen Bundestag das Thema Grundbildung und
Alphabetisierung immer weiter oben auf die bildungspo-
litische Agenda setzen. Eines sage ich aber gleich: Die-
ses Thema darf nicht in einen parteipolitischen Schlag-
abtausch heruntergezogen werden. Vielmehr ist es
notwendig, dass über die Partei- und Fraktionsgrenzen
hinweg eine gemeinsame Zielrichtung klar wird: Deutsch-
land braucht einen Masterplan Alphabetisierung.
Wir haben viele Organisationen und Institutionen, die
in vorbildlicher Art und Weise schon heute aktiv sind.
Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle die exzel-
lente Arbeit des Bundesverbands für Alphabetisierung
und Grundbildung und der Stiftung Lesen erwähnen.
Diese beiden Organisationen sind Vorreiter in der Sensi-
bilisierung für Analphabetismus und für Lesen in
Deutschland.
Beiden sei von dieser Stelle aus ein herzliches Danke-
schön für Ihren unermüdlichen Einsatz gesagt.
Recht hat Herr Dr. Jörg Maas, der Hauptgeschäftsfüh-
rer der Stiftung Lesen, wenn er formuliert: „Lesen muss
als zentrale Schlüsselqualifikation in der Bildung und
Ausbildung der nächsten Generation verankert werden.
Hierfür ist ein Netzwerk, eine Allianz von vielen Part-
nern nötig.“ Deswegen setzt die Initiative der Bundesre-
gierung mit 26 Millionen Euro für das Programm „Lese-
start“ genau an der richtigen Stelle an. In den kommenden
acht Jahren werden 4,5 Millionen Lesestart-Sets verteilt.
So sollen Kinder dafür begeistert werden zu lesen. Aber
mindestens genauso wichtig ist es, Eltern für das Vorle-
sen zu begeistern. Denn eine bildungspolitische Binsen-
weisheit muss im Land der Dichter und Denker wohl
wieder in Erinnerung gerufen werden: Nur dort, wo ge-
lesen wird, entwickelt sich auch ein bildungspositives
Umfeld. Deswegen gilt: Das Geld ist wichtig, aber viel
wichtiger ist es, dass Lesen wieder eine Selbstverständ-
lichkeit in Deutschland wird.
Darüber hinaus ist es bildungspolitisch dringend er-
forderlich, alle Anstrengungen zu intensivieren, um die
Schulabbrecherquote in Deutschland deutlich zu reduzie-
ren. Hier sind die Länder in der Pflicht, die sie bedauerli-
cherweise äußerst unterschiedlich wahrnehmen. Während
unter der alten Landesregierung in Baden-Württemberg
die Schulabbrecherquote seit Beginn der Qualifizie-
rungsinitiative von 6,3 auf 5,6 Prozent, in Bayern von 7,2
auf 6,4 Prozent und in Hessen von 8,1 auf 7 Prozent mit
vielen Projekten unter harter Arbeit Schritt für Schritt re-
duziert werden konnte, sieht es in SPD-geführten Bun-
desländern ganz anders aus: In Berlin erhöhte sich die
Quote von 9,9 auf 11,5 Prozent, in Brandenburg von 11,7
auf 13 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern von
12,1 auf skandalöse 16,8 Prozent.
Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen
Schulabbruch und der verstärkten Gefahr des Analpha-
betismus. Umso unverständlicher ist es, dass Länder hier
nicht bereit sind, alle notwendigen Kraftanstrengungen
zu unternehmen. Hier erwarte ich eine bildungspoliti-
sche Trendwende der Landesregierungen, die dieses
Thema so sträflich vernachlässigen.
Spätestens seit der Leo-Studie im vergangenen Jahr
sollte ein bildungspolitischer Ruck durch Deutschland
gehen. Bis vor wenigen Monaten gingen wir alle davon
aus, dass wir 4 Millionen funktionale Analphabeten ha-
ben. Jetzt wissen wir: Es ist die erschreckende Zahl von
7,5 Millionen Betroffenen. Damit dürfen wir uns nicht
zufriedengeben. Das muss der Motor für neue Kraftan-
strengungen in der Bildungspolitik werden. Hier müssen
wir alle an einem Strang ziehen.
Die Bundesregierung und die Fraktionen von FDP und
CDU/CSU stellen sich dieser Verantwortung: Ein 20-Mil-
lionen-Programm zur arbeitsplatzorientierten Forschung
und Entwicklung für Grundbildung, zudem weitere akti-
vierte 35 Millionen aus dem Europäischen Sozialfonds,
24 Verbundvorhaben mit über 100 Einzelmaßnahmen mit
einer Gesamtfördersumme von über 30 Millionen Euro
und die millionenschweren Mittel, die über die Bundes-
agentur zur berufsbezogenen Eingliederung zur Verfü-
gung stehen, machen eines deutlich: Diese Bundesregie-
rung, diese Regierungsfraktionen kümmern sich um die
Sorgen der Menschen, die nicht richtig lesen und schrei-
ben können, und setzen diese in konkrete Bildungspolitik
um.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist es, dass wir in
allererster Linie ein gesellschaftspolitisches Klima schaf-
fen müssen, in dem Analphabetismus enttabuisiert und
alle gesellschaftlichen Institutionen dafür sensibilisiert
werden. Es ist keine Schande, nicht richtig lesen und
schreiben zu können. Es ist aber eine Schande, wenn wir
als Gesellschaft zulassen, dass Menschen dies verbergen,
weil sie sich schämen.
Als eine kurzfristige Maßnahme haben wir in den
Haushaltsberatungen durchgesetzt, dass der Posten
„Qualitätsentwicklung und Strukturverbesserung der all-
gemeinen Weiterbildung“ um sage und schreibe 60 Pro-
zent auf 13,5 Millionen Euro erhöht worden ist. Damit
werden wir eine Konferenz zur Aufarbeitung der UNO-
Alphabetisierungsdekade für Deutschland finanzieren,
die auch Perspektiven für die Zukunft aufzeigen soll.
Wir werden eine öffentlichkeitswirksame, breit ange-
legte Kampagne intensivieren, und es ist damit möglich
geworden, das Vorbildprojekt iChance fortzuentwickeln
und damit Menschen unkompliziert digital die Möglich-
keit zu geben, sich zu informieren. Denn das muss unser
weiteres zentrales Ziel sein: Menschen unkompliziert
und ohne Stigmatisierung die Möglichkeit zu eröffnen,
für sich selbst den bestmöglichen Weg zu finden. Das
brillante Motto: „Schreib dich nicht ab! Lern Lesen und
Schreiben!“ macht deutlich, dass dieses Geld bildungs-
politisch hervorragend angelegt ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012 19373
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Funktionale Analphabeten müssen eine zweite und
dritte Chance erhalten. Wir brauchen eine gewaltige ge-
meinsame Kraftanstrengung von Kommunen, Ländern,
Bund, Unternehmen, Vereinen und Initiativen. Umso
wichtiger ist es, dass wir ein Weiterbildungserfolgspro-
jekt dieser Bundesregierung, die Bildungsprämie, jetzt
öffnen. Seit der Verdreifachung der Prämie von 150 auf
500 Euro, haben wir statt 7 000 Prämien im Jahr 2009
inzwischen 175 000 Prämien ausgegeben und deswegen
auch den Haushaltsansatz für dieses Jahr noch einmal er-
höht. Diese Prämie kann von jetzt ab auch für Maßnah-
men der Alphabetisierung und Grundbildung genutzt
werden. Dies wird die Möglichkeit für einen weiteren
Schub öffnen und ist deswegen eine wichtige Weichen-
stellung dieser Bundesregierung.
Der Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabeti-
sierung und Grundbildung, Herr Peter Hubertus, bringt
es auf den Punkt, wenn er sagt: „Als Wissenschaftsge-
sellschaft können wir es uns schlichtweg nicht leisten,
dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung wegen unzu-
reichender Grundbildung im Alltag und auf dem Ar-
beitsmarkt benachteiligt ist.“
Jetzt wird es wichtig, das Thema Grundbildung und
Alphabetisierung in alle bildungspolitischen Netzwerke
in der Bundesrepublik Deutschland einzuspeisen. Es
muss fester Bestandteil der Qualifizierungsinitiative für
Deutschland werden, es muss in der Allianz für Bildung
ein klarer Schwerpunkt sein und in den Bildungsbünd-
nissen vor Ort fest integriert sein. Deswegen begrüßen
wir es, dass es gemeinsam vom Bund mit den Kultusmi-
nistern den Impuls für eine „Nationale Strategie zur Al-
phabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ gibt.
Nur so schaffen wir es, Öffentlichkeit zu schaffen und
einen Masterplan Alphabetisierung auf den Weg zu brin-
gen. Hier steht noch eine bildungspolitische Herkules-
aufgabe vor uns. Das Fundament dafür ist umsichtig ge-
legt.
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Als vor einem
Jahr die Studie zum funktionalen Analphabetismus in
Deutschland vorgelegt wurde, gab es ein großes Erschre-
cken. Mehr als 14 Prozent der erwachsenen erwerbsfähi-
gen Bevölkerung in unserem Land kann nicht richtig le-
sen, schreiben und rechnen. Das ist ein Skandal, den
man in diesem Ausmaß nicht vermutet hatte. Bis dahin
ist man von 4 Millionen betroffener Menschen ausge-
gangen, nun sind es fast doppelt so viele.
Um das Ausmaß deutlich zu machen: der Bundestag
hat rund 580 Abgeordnete im erwerbsfähigen Alter.
Wenn er den Durchschnitt der Bevölkerung repräsentiert
– was wahrscheinlich nicht der Fall ist – könnten 84 von
uns nicht richtig lesen und schreiben. Ich mache diesen
Vergleich nicht aus boshafter Unterstellung, sondern
weil an diesem Befund des Analphabetismus auch
schlimm ist, dass eine unzureichende Grundbildung in
Deutschland als selbstverschuldeter Mangel angesehen
wird. Damit aber werden die Betroffenen stigmatisiert,
wird nicht nach den tiefer liegenden Ursachen geforscht,
wird das ganze Problem unter den Teppich gekehrt und
eben zu wenig dagegen getan.
Fakt aber ist: Unter den von Analphabetismus Betrof-
fenen haben fast die Hälfte einen Schulabschluss,
12 Prozent sogar einen höheren Bildungsabschluss.
Warum also sollte der Deutsche Bundestag hier eine
Ausnahme bilden.
Das Bundesministerium hat nun endlich eine Natio-
nale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung
angekündigt. Die UN-Dekade zur Alphabetisierung
hatte zum Ziel die Zahl der Analphabeten weltweit zu
halbieren. Nun, fast am Ende der zehn Jahre zeigt die
Studie, dass erheblicher Handlungsbedarf auch in
Deutschland da ist. Andere europäische Staaten können
aber schon Ergebnisse im eigenen Land aufweisen.
Deutschland hat sich bisher auf Fachtagungen, Beratung
und Internetangebote beschränkt. Das reicht nicht aus.
Sind wir über die Ursachen von mangelhafter Grund-
bildung denn überhaupt im Bilde? Oder ist es vielmehr
nicht so, dass gar nicht bemerkt wird, wenn jemand
dabei Schwierigkeiten hat? Ist unsere PISA-Fixierung
dabei nicht auch hinderlich, weil Analphabetismus auch
nach der abgeschlossenen Schulausbildung entstehen
kann, weil die Betroffenen ihre Schulkenntnisse wieder
verlernen? Welchen Anteil haben anregungsarme beruf-
liche Tätigkeiten dabei, und was bedeutet es, wenn man
jahrelang von Erwerbstätigkeit ausgegrenzt ist? Welche
konkreten Ziele gibt es? Wer setzt sie um?
Für mich sind nach dem Fachgespräch im Ausschuss
mehr Fragen entstanden als schon Antworten gegeben
wurden. Nun fordern wir aber nicht erst eine weitere
Studie, obgleich es auch diese geben muss, sondern er-
warten, dass schnell wirksame Gegenstrategien greifen.
Dazu gehört für uns natürlich die Forderung, dass nie-
mand ohne eine gefestigte Grundbildung die Schule
verlassen soll. Dazu müssen Lehrende in Studium und
Weiterbildung besser vorbereitet werden. Sie müssen in
der Lage sein, zu merken, wenn jemand nicht gut lesen,
schreiben, rechnen lernt. Das sieht man offensichtlich
nicht nur an schlechten Zensuren. Sie brauchen die nö-
tige Zeit für eine angemessene Förderung. Wir brauchen
mehr gut qualifizierte Kursleiterinnen und Kursleiter
und eine bessere Finanzierung von deutlich mehr Kursen
als heute zur Verfügung stehen. Wir brauchen eine
öffentlich finanzierte und leicht zugängliche Bildungs-
beratung, die Betroffenen helfen kann, geeignete Ange-
bote zu finden. Wir brauchen niedrigschwellige Ange-
bote, die auch ganz im Privaten greifen.
Wir brauchen die Aufmerksamkeit in den Unterneh-
men und ihre Bereitschaft, Beschäftigten eine entspre-
chende Qualifizierung zu ermöglichen, ohne dass sie im
Betrieb schief angesehen werden. Wir brauchen ein
öffentliches Klima, das Analphabetismus nicht als
Tabuthema behandelt, sondern als gesellschaftliches
Problem, nicht nur als Problem des einzelnen.
Ziel muss es sein, nun endlich innerhalb von zehn
Jahren die Zahl der Betroffenen zu halbieren. Damit wir
uns am Ende des Zeitraumes nicht wieder schulter-
zuckend eingestehen müssen, dass wir nicht so recht
vorangekommen sind, wollen wir, dass jährlich der
Stand der Entwicklung festgestellt und öffentlich dar-
gelegt wird.
19374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 162. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. März 2012
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Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
„Level-One-Studie“ zum Analphabetismus in Deutsch-
land hat einen der größten bildungspolitischen Skandale
offengelegt: Analphabetismus ist im technologisch hoch
entwickelten Land der Dichter und Denker kein
Randphänomen weniger, sondern ein existenzielles Pro-
blem viel zu vieler. Deswegen ist es so wichtig, dass wir
uns als Bundestag mit darum kümmern, das Problem zu
lösen.
Das Ausmaß des Analphabetismus ist erschreckend:
Rund 7,5 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter
sind funktionale Analphabeten. Sie sind also nicht in der
Lage, den Sinn eines einfachen Textes zu verstehen. Ihre
sozialen, beruflichen, ökonomischen und kulturellen
Teilhabechancen sind massiv eingeschränkt. Das alltäg-
liche Leben der Betroffenen ist häufig geprägt von
Scham, Vertuschung und Ignoranz der Gesellschaft.
Die FAZ hat den Umgang mit funktionalen Analpha-
beten zutreffend mit der Schlagzeile „durchgereicht und
weggelogen“ beschrieben. Dringend notwendig ist daher
eine Enttabuisierung des Themas. Besonders das
Bildungswesen, Sozialpartner und die Medien sind zu
einem verantwortungsvollen Umgang aufgefordert.
Angesichts immer höherer Anforderungen im Ar-
beitsleben werden die Chancen von Menschen mit man-
gelnder Grundbildung immer schlechter. Hier haben
Erwachsenenbildung, Volkshochschulen und Bundes-
agentur für Arbeit eine wichtige Funktion. Die Arbeit-
geber sind zudem aufgefordert, diese Menschen gezielt
zu unterstützen und die Weiterbildung auszubauen. Die
Bundesregierung hat es aber versäumt, die Förderung
der Weiterbildung gerade für Menschen mit niedrigem
Einkommen zu verbessern. Hier müssen Sie dringend
liefern!
Wir benennen in unserem grünen Antrag wirkungs-
volle Maßnahmen, die Staat und Zivilgesellschaft ergrei-
fen müssen: Bei den Alphabetisierungskursen legen wir
Wert auf einen deutlichen Ausbau, verbunden mit ÖA-
Kampagnen, auf Qualitätssicherung und Zielgruppen-
orientierung. Wichtig ist uns, dass Alphabetisierungs-
angebote Genderaspekte stärker berücksichtigen. Dies
betrifft den überdurchschnittlich hohen Anteil männ-
licher Analphabeten. Ebenso gilt es, etwa in den Integra-
tionskursen, gerade Frauen mit Migrationshintergrund
kultursensibel anzusprechen.
Mit Blick auf besonders benachteiligte Gruppen ist es
absolut falsch, dass Programm „Soziale Stadt“ kaputtzu-
sparen. Richtig wäre, in diesem Rahmen niedrigschwel-
lige Angebote zur Alphabetisierung und Grundbildung
stärker zu verankern. Dies haben die Sachverständigen
bei der Anhörung des Bildungsausschusses bestätigt.
Dort herrschte Unverständnis, warum der Pakt für
Alphabetisierung so wenig vorankommt und öffentlich
kaum wahrnehmbar ist. Das muss sich ändern!
Bestürzend ist, dass Analphabetismus viele junge
Menschen betrifft, die gerade erst die Schule verlassen
haben – der übergroße Teil mit Schulabschluss: So sind
20 Prozent der 18- bis 29-Jährigen funktionale Analpha-
beten oder sehr schwach in Rechtschreibung. Dies zeigt
Versagen und Mängel unseres Bildungssystems. Das
muss sich ändern!
Eine frühzeitige Sprachbildung, individuelle Förde-
rung von Anfang an bis hin zur Jugend- und Schulsozial-
arbeit sind daher unverzichtbar. Bildungsarmut darf in
Deutschland nicht weiterhin stärker als in anderen
OECD-Ländern vererbt werden.
Das Ziel ist klar: Keine Schülerin und kein Schüler
darf die Schule ohne ausreichende schriftsprachliche
Kompetenzen und ohne solide Grundbildung verlassen.
Dies ist nicht nur eine volkswirtschaftliche Konsequenz
aus dem demografischen Wandel, sondern vor allem die
Umsetzung fundamentaler Rechte auf Bildung und Teil-
habe.
Der Nationale Pakt für Alphabetisierung und Grund-
bildung darf kein Placebo sein, sondern muss endlich
klare, ambitionierte Zeit- und Zielpläne erhalten. Wir
sollten uns – als Konsequenz aus der Anhörung – dabei
an erfolgreichen nationalen Strategien wie der in Groß-
britannien orientieren. Im Vergleich dazu sind die
Aktivitäten der Bundesregierung leider qualitativ und
quantitativ ein Tropfen auf den heißen Stein. Öffentlich-
keitswirksame Kampagnen wären ein Anfang und das
Mindeste, sie ersetzen aber kein strategisches Gesamt-
konzept.
Bis zur „Bildungsrepublik“ Deutschland ist auch an
dieser Baustelle noch viel zu tun. Bessere Perspektiven
der Betroffenen müssen uns allen ein Ansporn zu ent-
schlossenem Handeln sein. Bund und Länder dürfen die-
sen Bildungsskandal nicht verwalten, sondern müssen
Lösungen gestalten.
162. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 27 Bekämpfung des Rechtsextremismus
TOP 4 Mindestrente
TOP 31,18 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 32, ZP 2 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 5 EU-Hochqualifizierten-Richtlinie
TOP 6 Demografischer Wandel in Deutschland
TOP 9 EU-Richtlinie zum Wertpapierhandel
TOP 8 Jemen
TOP 11 Bevölkerungsschutz
TOP 10 Einsatz von Polizisten in Friedensmissionen
TOP 13 Menschenrechtsschutz im Tourismus
TOP 12 DemografischerWandel in der Rentenversicherung
TOP 15 Eisenbahngesetz
TOP 14 Menschenrechte in Deutschland
TOP 17 Bundesgeoreferenzdatengesetz
TOP 16 Bildungsarmut
TOP 20 Vergabe von Dienstleistungskonzessionen
TOP 21 Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung
TOP 22 Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus Teersand
TOP 23 Kolonialverbrechen in Deutsch-Südwestafrika
TOP 24 Verwendung von Asbest
Anlagen