Protokoll:
15166

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 166

  • date_rangeDatum: 17. März 2005

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:06 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 15/166 unser Land: Deutschlands Kräfte stärken Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem OCCAR-Geheimschutz- übereinkommen vom 24. September 2004 (Drucksache 15/4979) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 28. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Bundesrepublik Nigeria über die Förderung und den gegensei- tigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 15/4980) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 15484 B 15496 B 15502 C 15506 D 15509 D 15515 A 15527 C 15527 C Deutscher B Stenografisc 166. Si Berlin, Donnerstag, I n h a Beileid zum Tode des früheren Bundes- ministers für Arbeit und Sozialordnung, Mitglied des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments Walter Arendt . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Volker Kröning . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler: Aus Verantwortung für 15483 A 15483 B 15484 B Peer Steinbrück, Ministerpräsident (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . 15521 A undestag her Bericht tzung den 17. März 2005 l t : Dr. Gesine Lötzsch (fraktions- los) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalan- lagen (Drucksache 15/4978) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- 15526 C 15527 C zes zu dem Vertrag vom 17. Oktobe 2003 zwischen der Bundesrepubl Deutschland und der Republik Guat mala über die Förderung und de r ik e- n II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 gegenseitigen Schutz von Kapitalan- lagen (Drucksache 15/4981) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Angola über die Förderung und den gegenseiti- gen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 15/4982) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 1. Dezem- ber 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- gen (Drucksache 15/4983) . . . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 15/4984) . . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gashydratfor- schung fest in die Forschungen „System Erde“ und „Neue Technologien“ inte- grieren (Drucksache 15/3814) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: „Meer für Morgen“ – Impulse für die maritime Verbundwirt- schaft (Drucksache 15/5099) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 15527 D 15527 D 15528 A 15528 A 15528 A 15528 B eines Gesetzes zur Reform des Reisekos- tenrechts (Drucksachen 15/4919, 15/5127) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften (3. SprengÄndG) (Drucksachen 15/5002, 15/5129) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bun- des-Apothekerordnung und anderer Gesetze (Drucksachen 15/4784, 15/5093, 15/5108) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ehemaligen Soldaten der Nationa- len Volksarmee das Führen ihrer frühe- ren Dienstgrade erlauben (Drucksachen 15/3357, 15/4949) . . . . . . . e) Dritter Bericht des Ausschusses für Wahl- prüfung, Immunität und Geschäftsord- nung: zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes (AbgG) Überprüfung auf Tätigkeit oder politi- sche Verantwortung für das Ministe- rium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Drucksache 15/4971) . . . . . . . . . . . . . . . f)– j) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 192, 193, 194, 195 und 196 zu Petitionen (Drucksachen 15/5039, 15/5035, 15/5036, 15/5037, 15/5038) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zu- geleiteten Streitsachen vor dem Bundes- verfassungsgericht (Drucksache 15/5114) . . . . . . . . . . . . . . . 15528 A 15528 D 15529 C 15529 B 15529 C 15529 C 15530 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 III b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht – 1 BvR 357/05 (Drucksache 15/5113) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- ausschuss) zu dem Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes (Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455, 15/3510, 15/3871, 15/5121) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- ausschuss) zu dem Dritten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschrif- ten (Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634, 15/5122) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsaus- schuss) zu dem Zweiten Gesetz zur Ände- rung des Straßenverkehrsgesetzes und an- derer Gesetze (Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921, 15/5123) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Große Anfrage der Abgeordneten Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Förderung der Organspende (Drucksachen 15/2707, 15/4542) . . . . . . . . . . Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin BMGS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 15530 B 15530 B 15530 C 15530 D 15530 D 15531 A 15532 C 15534 A 15535 A 15536 A Marion Caspers-Merk (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) . . . . . . . . . . . . . Barbara Lanzinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Kirschner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 61. Tagung der Menschenrechtskom- mission der Vereinten Nationen – Reform und Normensetzung für einen verbesserten Menschenrechtsschutz (Drucksache 15/5118) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Holger Haibach, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Die 61. Tagung der VN-Menschenrechts- kommission als Chance zur Reform – Mehr Engagement für Menschenrechte weltweit (Drucksache 15/5098) . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage Ratsdok. 11922/1/04 REV 1 (Drucksachen 15/4001 Nr. 1.1, 15/4757) d) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Nepal – Menschenrechte schützen und Gewalt beenden – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrich Heinrich, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter 15537 D 15538 B 15538 C 15539 D 15541 A 15542 B 15542 C 15542 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 und der Fraktion der FDP: Einhaltung der Menschenrechte in Nepal (Drucksachen 15/4397, 15/3231, 15/4899) e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Rainer Funke, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäi- schen Menschenrechtskonvention (Drucksachen 15/4405, 15/4898) . . . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Men- schenrechte in der Volksrepublik China einfordern (Drucksachen 15/4402, 15/4953) . . . . . . . g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Ab- geordneten Holger Haibach, Dr. Martina Krogmann, Melanie Oßwald, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Presse- und Meinungsfreiheit im Internet weltweit durchsetzen – Jour- nalisten, Menschenrechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schützen (Drucksachen 15/3709, 15/5040) . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die mandatsgebundene Begleitung VN-mandatierter Friedens- missionen durch Menschenrechtsbe- obachter (Drucksache 15/4946) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gröhe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 15542 D 15542 D 15543 A 15543 A 15543 B 15543 C 15544 D 15546 B 15547 D 15548 D 15550 A Dr. Werner Hoyer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen (Drucksachen 15/3211, 15/4553) . . . . . . . . . . Renate Gradistanac (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Angela Schmid (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Haupt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, Hubert Hüppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Forschungsförderung der Europäi- schen Union unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten (Drucksache 15/4934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Rachel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Dominke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 15550 C 15551 D 15553 C 15553 D 15554 D 15556 C 15557 D 15558 C 15559 D 15559 D 15561 B 15562 B 15563 A 15564 B 15565 B 15565 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 V Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Drucksachen 15/4736, 15/5112) . . . . . . . . . . Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BMVEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef Parr, Ulrike Flach, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplan- tationsdiagnostik (Präimplantations- diagnostikgesetz – PräimpG) (Drucksache 15/1234) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung hier: Sachstandsbericht Präimplanta- tionsdiagnostik – Praxis und rechtliche Regulierung in sieben ausgewählten Ländern (Drucksache 15/3500) . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erika Ober (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, 15566 D 15567 A 15568 A 15569 B 15570 B 15571 A 15572 A 15573 D 15573 D 15574 A 15575 B 15576 C 15578 A 15579 B Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- ordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt- Bohlig, Volker Beck (Köln), weiteren Abge- ordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ein- führungsgesetzes zum Bürgerlichen Ge- setzbuche (Drucksachen 15/4134, 15/5132) . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Funke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Große Anfrage der Abgeordneten Gitta Connemann, Dr. Wolfgang Bötsch, Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Situation der Breiten- kultur in Deutschland (Drucksache 15/4140) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD, der Abge- ordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN sowie der Abgeordneten Cornelia 15580 B 15580 C 15581 C 15584 B 15585 B 15585 D 15587 A 15587 B 15588 C 15589 D 15590 D 15592 A 15593 A VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Impulse für eine internationale Aus- richtung des Schulwesens – Den Bildungs- standort Deutschland auch im Schulbe- reich stärken (Drucksachen 15/4723, 15/5097) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Grundstückverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes (Drucksache 15/4535) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Zum Beginn der Dekade „Wasser zum Leben“ der Verein- ten Nationen (Drucksache 15/5115) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Die Wahlrichtlinien der Ent- wicklungsgemeinschaft der Staaten im süd- lichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen auch in Simbabwe (Drucksache 15/5117) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Impulse für eine internationale 15594 C 15594 D 15595 A 15595 C 15595 D 15597 A Ausrichtung des Schulwesens – Den Bildungsstandort Deutschland auch im Schulbereich stärken (Tagesordnungs- punkt 12) Gesine Multhaupt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundstückverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 13) Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Kurt Segner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zum Beginn der Dekade „Was- ser zum Leben“ der Vereinten Nationen (Ta- gesordnungspunkt 14) Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Heinrich (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) . . . . . . . . . . Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15597 B 15598 B 15599 D 15600 C 15601 B 15602 B 15603 B 15604 C 15605 A 15605 D 15607 B 15608 B 15609 B 15610 A 15610 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 VII Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die Wahlrichtlinien der Ent- wicklungsgemeinschaft der Staaten im süd- lichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen auch in Simbabwe (Tages- ordnungspunkt 15) Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 15611 B 15613 B 15615 B 15616 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15483 (A) (C) (B) (D) 166. Si Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    3) Anlage 5 4) Redebeitrag wird als Anlage zum Stenografischen Bericht der 167. Sitzung abgedruckt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15597 (A) (C) (B) (D) bei der jungen Generation, sich verstärkt an Förderpro- grammen im Jugend- und Bildungsbereich zu beteiligen: Nachbarstaaten konkret in der Bildungsplanung und For- schungsforderung zu verbessern. mokratischen Abgeordneten im europäischen Parlament zielen, die guten Beziehungen zu unseren europäischen Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Impulse für eine in- ternationale Ausrichtung des Schulwesens – Den Bildungsstandort Deutschland auch im Schulbereich stärken (Tagesordnungspunkt 12) Gesine Multhaupt (SPD): „In die Ferne, um Neues kennen zu lernen, und zu- rück in die Heimat, um das Erlebte weiter zu erzäh- len und das Gewohnte mit „europäischen“ Augen zu sehen.“ Mit dieser Anleitung zum Reisen werben die sozialde- Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Andres, Gerd SPD 17.03.2005 Bulmahn, Edelgard SPD 17.03.2005 Carstensen (Nordstrand), Peter H. CDU/CSU 17.03.2005 Deittert, Hubert CDU/CSU 17.03.2005* Ernstberger, Petra SPD 17.03.2005 Göppel, Josef CDU/CSU 17.03.2005 Haack (Extertal), Karl Hermann SPD 17.03.2005 Hilsberg, Stephan SPD 17.03.2005 Minkel, Klaus CDU/CSU 17.03.2005 Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.03.2005 Probst, Simone BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.03.2005 Seib, Marion CDU/CSU 17.03.2005 Dr. Thomae, Dieter FDP 17.03.2005 Dr. Winterstein, Claudia FDP 17.03.2005 Anlagen zum Stenografischen Bericht Neugierig machen auf die vielen Möglichkeiten die Eu- ropa für Jugendliche bereithält; gemeinsam Hand anle- gen und mitbauen am Haus Europa; Lust bekommen auf die europäischen Förderprogramme; Fremdsprachen ler- nen und ausländische Schulen und Hochschulen besu- chen. Das sind unsere konkreten Ideen und Ziele, wie wir Schüler, Studierende und Erwachsene motivieren, auch einmal über den nationalen Tellerrand hinauszusehen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 einen europäi- schen Bildungs- und Forschungsraum zu schaffen. Auch von außen – zum Beispiel seitens der USA oder von Asien her – soll ein einheitliches, eben „europäisches“ Bildungssystem erkennbar werden. Die Grundlagen für späteres Leben, Lernen und Arbeiten werden in den all- gemeinbildenden, den Berufsbildenden und den weiter- führenden Schulen und Hochschulen gelegt. Deshalb setzt der vorliegende Antrag mit seinen Forderungen zu Recht an einer europäischen und internationalen Aus- richtung des Bildungssystems an. Wenn Europa immer enger zusammenwächst, sind die Förderung von Mobili- tät, der Austausch von Lehrkräften und Jugendlichen, das Intensivieren von Fremdsprachenerwerb, das Einführen von vergleichbaren Schul- und Bildungsstrukturen sowie das Anerkennen von Bildungsabschlüssen, und eine ziel- gerichtete Finanzierung von grenzüberschreitenden Ju- gendbegegnungen wesentliche Ziele einer europäischen und internationalen Ausrichtung unseres Bildungssys- tems. Aktuell befinden sich circa 10 Prozent der Menschen in Ausbildung und Bildung in den verschiedenen euro- päischen Ländern. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle, dass dieser Anteil erheblich gesteigert werden muss, wenn wir das ehrgeizige Ziel der Lissa- bon-Strategie erreichen wollen, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dyna- mischsten wissensbasierten Raum der Welt zu machen. Die rot-grüne Bundesregierung unterstützt im Rah- men ihrer Zuständigkeit zielgerichtet die nationale Um- setzung der auf EU-Ebene vereinbarten Maßnahmen. Eine Verbesserung des Istzustandes kann jedoch nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen gelingen. Bund, Länder und freie Bildungs- träger müssen neben ihren Bemühungen um zunehmende Europäisierung und Internationalisierung in Hochschu- len und beruflicher Bildung auch den Schulbereich ver- stärkt in den Blick nehmen. Hier sind insbesondere die Länder gefordert, eine Ausweitung der Angebote an Schulen mit europäischer Ausrichtung, frühzeitige An- gebote für Fremdsprachenunterricht und Förderung des internationalen Schüleraustauschs verantwortlich zu rea- lisieren. In diesem Zusammenhang begrüßen und unter- stützen wir die vielfältigen Aktivitäten von Bund und Ländern in der Bund/Länder-Kommission, die darauf ab- 15598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Durch Personalabbau bei Lehrkräften, Psychologen und Sozialpädagogen mit der Folge, dass Integrations- maßnahmen, Ausländerförderungen und Sprachförde- rung gerade auch bei Schulkindern wegfallen, wie es beispielsweise die amtierende niedersächsische Landes- regierung in meinem eigenen Bundesland praktiziert, werden gerade eben nicht Impulse für eine zunehmend europäische Ausrichtung unseres Schulsystems gegeben. Ein gutes Beispiel hingegen ist der gerade zustande ge- kommene Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein. Hier wird konkret verabredet, den grenzüberschreitenden Austausch von Schülern, Auszubildenden, Studierenden und Berufstätigen zu fördern, um ihnen Praktika und Hospitationen im europäischen Ostseeraum zu ermögli- chen. Ich komme zum Schluss. Ein Europaprojekt an einer Schule am Bildungsstandort Deutschland mit seiner Partnerschule in Kopenhagen, Barcelona oder Warschau, ein freiwilliges soziales Jahr im bosnischen Kinderheim, ein Studienaufenthalt in Italien, ein Betriebspraktikum in Polen das sind alles Beispiele, wie wir junge Menschen neugierig, aber auch fit machen für den internationalen Wettbewerb um die „besten Köpfe“. Mit Ihrem Engage- ment in den von Ihnen regierten Bundesländern können Sie diesen spannenden Prozess in Europa ganz konkret durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Schulen unterstützen. Im Interesse der vielen Begegnungen der jungen Generation sind Sie aufgefordert, Ihre Länderak- tivitäten voranzubringen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Der vorlie- gende Antrag „Impulse für eine internationale Ausrich- tung des Schulwesens – den Bildungsstandort Deutsch- land auch im Schulbereich stärken“ wird zusammen eingebracht von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Er geht zurück auf eine Initiative der FDP aus dem Fe- bruar 2003, mit der die FDP die Bundesregierung auffor- dern wollte, die Bereitschaft von staatlich anerkannten oder genehmigten Schulen, ausländische Schülerinnen und Schüler aufzunehmen, grundsätzlich zu unterstützen und die entsprechenden Verwaltungsvorschriften so zu gestalten, dass beim Vorliegen der entsprechenden Vo- raussetzungen eine schnelle, unbürokratische Erteilung der Aufenthaltsbewilligung erfolgen kann. In der dama- ligen Debatte, die zu Pfingsten 2003 in diesem Hause stattfand, sprachen sich Vertreter aller Fraktionen dafür aus, eine solche internationale Ausrichtung im Schulwe- sen in Deutschland zu befördern. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Erstens. Die Bedeutung von Internationalität auch im Schulwesen wird ernsthaft von niemandem bestritten werden. Sprachen lernen, andere Länder kennen lernen, sich in anderen Kulturen bewegen können, den Aus- tausch zwischen Jugendlichen und jungen Menschen fördern, Weltoffenheit, globales Bewusstsein und Ver- antwortung ausbilden sind Bildungsziele, die in der Zu- kunft noch viel wichtiger werden, als sie es schon in der Vergangenheit waren. Wenn wir uns wünschen, dass deutsche Jugendliche Internationalität durch ein weltof- fenes Schulwesen in anderen Ländern erfahren, sind wir erst recht verpflichtet, ausländischen Jugendlichen diese Weltoffenheit auch in unserem Schulwesen entgegenzu- bringen. Im Bereich der Europäischen Union gibt es diese europäische Internationalität bereits. Über die Eu- ropäische Union hinaus sehen wir uns verpflichtet, auch jungen Menschen anderer Staaten dieser Welt Zugang zu unserem Bildungswesen und den Austausch zu ermögli- chen. Zweitens. Bildung ist ein öffentliches Gut und Bil- dung ist zugleich ein Gut, das in staatlicher wie freier Trägerschaft angeboten wird. Die Vermittlung von Bil- dung ist zudem ein Arbeitsfeld, das in der Wissensge- sellschaft der Zukunft noch mehr Anteil an der gesamt- staatlichen Wertschöpfung haben wird, als es schon jetzt der Fall ist. Auch in Deutschland haben wir dem interna- tionalen Bildungsbedürfnis konkrete Angebote zu ma- chen: im staatlichen Bereich, in den engen Grenzen, dass natürlich staatliche Mittel in erster Linie für den Bil- dungsanspruch auch der hier geborenen Kinder und Ju- gendlichen einzusetzen sind; im freien und privaten Be- reich in der Form, dass internationales Interesse an diesen Schulen angeboten und in Deutschland wahrge- nommen werden kann und dass Bildungsinstitutionen in Deutschland ihren Anteil am wachsenden so genannten Bildungsmarkt mit sichern und ausbauen können. Dies ist nicht nur gut für die Sicherung und den Ausbau von Arbeitsplätzen in diesem Bereich. Dies ist umso mehr verantwortbar, als die deutschen Bildungseinrichtungen hier auch ein hohes Niveau, eine gut organisierte und ab- gesicherte schulische Ausbildung anbieten können und daher das Interesse von ausländischen Kindern, Jugend- lichen und ihren Familien an den in Deutschland ange- botenen Bildungsgängen und Schulen auch eine Bestäti- gung für den Bildungsstandort Deutschland generell ist. Um es konkret zu sagen: Natürlich würden wir uns alle darüber freuen, wenn von den 20 000 Internatsplät- zen in Deutschland, von denen aktuell 5 000 unbesetzt sind, über die schon hier unterrichteten 1 500 Schülerin- nen und Schüler hinaus weitere diese Bildungsangebote wahrnehmen würden. Natürlich sollten wir zusammen daran arbeiten, dass von den rund 40 Trägern, die sich im Bereich der freien und privaten Schulen mit der Aus- bildung von Nicht-EU-Bürgern befassen, auch mehr als die bisher nur zehn Träger die Aus- und Weiterbildung für Nicht-EU-Bürger tatsächlich durchführen, ihre Bil- dungsangebote erfolgreich umsetzen könnten. Experten sprechen davon, dass auch hier rund 2 000 Plätze wahr- genommen werden können im Bereich der Sprachenaus- bildung, des Deutschzertifikats unterschiedlicher Stufen, im Bereich der allgemeinen Abschlüsse, was Abitur und die Fachhochschulreife angeht, im Bereich der berufs- qualifizierenden Schulen, was zum Beispiel Fremdspra- chenkorrespondenz betrifft und im Bereich der Weiter- bildung, was zum Beispiel Abschlüsse als Betriebswirt im Wellnessbereich etc. einschließt. An dieser Stelle konnten wir seinerzeit in der Debatte zu Pfingsten 2003 breite Übereinstimmung im Haus fest- stellen. Dies hat die SPD ermutigt, einen fraktionsüber- greifenden Antrag anzustreben, der gerade die Bereit- schaft und das Bewusstsein, diese Internationalität des deutschen Bildungswesens weiterzuentwickeln, über den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15599 (A) (C) (B) (D) bis dahin vorliegenden Antrag der FDP hinaus in den Mittelpunkt der Diskussion stellen wollte. Wir freuen uns, dass wir hierfür letztlich auch die FDP mit gewinnen konnten, damit es gemeinschaftlichen Rückhalt dafür gibt, dass die Marketingaktivitäten im Bereich der beruf- lichen Bildung und der Hochschulen in Kooperation mit den Ländern auch im Bereich der allgemeinbildenden Schulen ausgedehnt werden können. Wir stehen hinter dem Konzept der Europäisierung des Schulwesens mit dem System der bilingualen deutsch-französischen Part- nerschulen und freuen uns, dass es erste Ansätze hierfür auch im deutsch-tschechischen Bereich gibt. Wir nehmen mit Genugtuung auf, dass auch auf EU-Ebene in der nächsten Generation der Bildungsprogramme ab 2007 ein besonderer Schwerpunkt auf die Förderung der Mo- bilität und des Fremdsprachenerwerbs im schulischen Bereich gelegt werden soll. Diese drei Akzente sollen beispielhaft verdeutlichen, was Internationalisierung des Schulwesens meint und welche verstärkenden Initiativen Bund wie Länder in Deutschland hierzu ergreifen können. Zugleich hat die SPD zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen und der FDP die Erwartung, dass in Zukunft mehr Erkenntnisse auf Ebene des Bundes und der Länder über den Stand der Europäisierung und Internationalisierung des Schul- wesens gewonnen werden. Wenn wir ehrlich sind, müs- sen wir zusammen feststellen, dass wir hierzu leider viel zu wenig exaktes Material vorliegen haben, was Daten über Mobilität und Austausch von Deutschen ins Aus- land und umgekehrt angeht. Gerade wenn wir eine ziel- führende Verbesserung in diesem Bereich erreichen wol- len, ist es unumgänglich, hier zu einer klareren Datengrundlage zu kommen. Bei aller Zustimmung und Unterstützung für eine In- ternationalisierung des Schulwesens dürfen wir nicht verkennen, dass im Bereich des Ausländerrechtes natür- lich auch Probleme liegen, die mit klarer Steuerung, kla- rer Gesetzgebung und ebenso konsistentem wie konse- quentem Verhalten angegangen werden müssen. Auch hierauf hatte die FDP in ihrem Ursprungsantrag hinge- wiesen und mit Recht moniert, dass es leider noch keine deutsche Tradition gibt, auch im Bildungswesen insge- samt Internationalisierung als Zukunftsförderung und nicht als Bedrohung anzusehen. Hierzu musste ehrlich- keitshalber jetzt festgestellt werden, dass der Fortschritt in diesem Bereich nur in sehr kleinen, sehr kalkulierten und sehr auf Sicherheit bedachten Schritten erreichbar ist. Machen wir uns doch zusammen klar: Als die FDP Pfingsten 2003 ihren Antrag ins Parlament einbrachte, hatten wir noch kein Zuwanderungsgesetz in Deutsch- land. Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Schulbesuchs war im Ausländerrecht kein Bestand. Alleine in einer Verwaltungsvorschrift wird dies geregelt. Mittlerweile ist die Entwicklung hier weitergegangen. Immerhin ha- ben wir ein Zuwanderungsrecht vorliegen, das erstmals in einem eigenen Abschnitt ausdrücklich den Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung enthält, nämlich in den § 16, in dem es um Studium, Sprachkurse und Schulbesuche geht, und im § 17, in dem es um sonstige Ausbildungs- zwecke geht. Gerade der Aufenthalt zum Zweck des Stu- diums hat nicht zuletzt durch die Beharrlichkeit der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen deutliche Verbesserun- gen für die Studentinnen und Studenten erbracht. Im Be- reich der Schulbesuche müssen wir nüchtern konstatie- ren, dass die Aufnahme in das Gesetz ein Fortschritt ist, die bisherige Verwaltungshandhabung gleichwohl noch sehr enge Grenzen sieht. Mit dem gemeinsamen Antrag wollen SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und die FDP deshalb die Bundesregierung nachdrücklich dazu auffordern, bei der Formulierung der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu Regelungen zu kommen, die im Interesse einer zunehmenden internatio- nalen Öffnung des Schulwesens liegen. Ziel muss es sein, in einem ersten Schritt bei vorliegender allgemei- ner Erteilungsvoraussetzung positive Ausnahmen zum Zwecke der Erlangung des Hochschulzugangs oder zur Erlangung einer Berufsausbildung zu ermöglichen. Dies läge auch im Geiste des gemeinsam beschlossenen Zu- wanderungsgesetzes, das immerhin bei der abschließen- den Abstimmung im Bundestag am 1. Juli 2004 mit fast allen Stimmen des Hauses gegen zwei Stimmen aus der Fraktion der CDU/CSU und gegen zwei Stimmen der fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden ist. Jetzt kommt es darauf an, im ersten Schritt hin zu mehr Internationalität in unserem Schulwesen konkrete Brü- cken zu bauen, ohne dem illegalen Zugang, dem Miss- brauch von Bildungsmotivation durch Geschäftemacher und Bildungsschleppern Vorschub zu leisten und ohne falsche Gettobildung im Bildungsbereich Türen zu öff- nen; denn gerade eine solche Gettobildung würde sich mit der internationalen Ausrichtung des Schulwesens nicht vertragen. Auf der anderen Seite müssen und wollen wir aber auch darauf bestehen, dass in dem Bemühen um klare Grundsätze, einheitliches Verhalten und hilfreiche Struk- turen für bildungsmotivierte Nicht-EU-Ausländer in Deutschland stete Fortschritte erreicht werden. Hierin waren wir uns im Jahr 2003 doch alle einig. Hierin kön- nen wir auch heute in der gemeinsamen Beschlussfas- sung einen weiteren Baustein setzen. Ich fordere auch die CDU/CSU auf, diesem gemeinsamen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zuzustimmen, um damit ein klares Zeichen zu setzen, was wir von der Bundesregierung, aber auch den Landesregierungen er- warten, in der Weiterentwicklung des Bildungsstandorts Deutschland und der fairen und bildungsfreundlichen Unterstützung für Bildungswillige, Bildungsmotivierte und Bildungsangebote machende Institutionen in Deutschland mit Blick auf die internationale Ausrich- tung des Schulwesens. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ich muss Ihnen etwas ganz offen bekennen: Ihr Antrag hat mir reichlich Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe ihn eifrig studiert, gründlich darüber nachgedacht und sorgfältig gewogen. Ich habe aber dennoch nicht verstanden, in welche Richtung die Reise nun eigentlich gehen soll. Ich würde aber gerne nachvollziehen können, was Sie mit Ihrem Antrag eigentlich beabsichtigen. 15600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Da gibt es zwei mögliche Interpretationen: Entweder Sie sind mit der bestehenden Rechtslage nach dem Zu- wanderungskompromiss total zufrieden. Dieser Ein- druck entsteht bei mir, da Sie in Ihrem Antrag bei Ihren Forderungen einfach nur mit großer Akribie die Anwen- dungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Zuwanderungsgesetz wiedergeben. Die Passagen zum Beispiel, in denen die Ausnahmen für einen Schulbesuch von Ausländern festgelegt werden, haben Sie einfach eins zu eins abgeschrieben. Wollen Sie also auch nicht mehr als das, was im Zu- wanderungskompromiss ohnehin geregelt ist? Dort ha- ben wir nämlich geregelt, den Schulbesuch von Auslän- dern nur in bestimmten wohldosierten Ausnahmen zuzulassen. Diese Regelungen geben Sie wörtlich wie- der. Erschöpft sich also Ihr Antrag in der Widergabe der bestehenden Rechtslage? Dann frage ich Sie: Wozu ein solcher Antrag? Ist es nicht reichlich profan, zu etwas aufzufordern, was der tatsächlichen Situation bereits ent- spricht? Nein, es ist mehr als das. Es schadet. Ein An- trag, der lediglich Selbstzweck ist, schadet. Er ver- schwendet Ressourcen, unser aller Zeit und schafft über- flüssige Bürokratie. Die sollte aber bei uns allen ins Visier genommen und keinesfalls gefördert werden. Man merkt, dass Sie Ihren Antrag vor einiger Zeit gemacht haben, vor der fulminanten Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler; denn sonst hätten Sie sicher den seit Dienstag so vielzitierten Satz des Philosophen Montes- quieu beachtet: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen.“ Oder – jetzt komme ich zu der zweiten Interpretation – Ihr Antrag ist so zu verstehen, dass Sie getroffene Kom- promisse aufkündigen wollen. Dann ist Ihr Antrag in der Tat keineswegs überflüssig, sondern enthält ein Novum, eine Intention, die deutlich über die Gesetzeslage hin- ausgeht. Dafür spricht auch einiges; denn in Ihrer For- mulierung taucht ganz versteckt das Wörtchen „zuneh- mend“ auf. Es heißt nämlich: „… zu Regelungen zu kommen, die im Interesse einer zunehmenden internatio- nalen Öffnung des Schulsystems liegen“. Und Sie be- nennen es als Ihr Ziel, Ausnahmen zu ermöglichen. Wir haben aber bereits Ausnahmen geregelt. Dann muss ich das doch wohl so verstehen, dass Sie immer mehr Aus- nahmen schaffen wollen. Sie wollen also den Ausnahmecharakter unterwan- dern. Sie wollen die Ausnahme zur Regel machen. Mehr noch: Sie schreiben, eine Aufenthaltserlaubnis solle er- teilt werden, wenn es sich um Angehörige von Staaten handelt, mit denen keine Rückführungsschwiergkeiten bestehen. Das kann prinzipiell jedes Land sein. Das In- nenministerium hat aber zum Zuwanderungskompro- miss festgelegt, dass nur in wenigen – genau genommen in elf Staaten – eine Ausnahme möglich sein soll. Diese Länder sind auch namentlich aufgeführt. Eine Verallge- meinerung, wie im Antrag vorgesehen, würde diesen be- grenzten Katalog also unüberschaubar ausweiten. Haben Sie das eigentlich mit Ihren Kollegen vom Innenaus- schuss besprochen? Dieser friedfertig wirkende Antrag mit den guten Ab- sichten schnürt das sorgsam gebündelte Zuwanderungs- paket wieder auf und davor kann ich nur warnen. Wir ha- ben um dieses Gesetz lange gerungen und wir haben jede einzelne Regelung sorgfältig geprüft und bewusst so ge- setzt. Sie gefährden diesen Kompromiss, indem Sie – ver- mutlich unbeabsichtigt – Zuwanderung durch die Hinter- tür ermöglichen, indem Sie die Ausnahmen ausweiten und sie zur Regel küren. Oder aber Ihr Antrag beabsich- tigt eben nicht ein Mehr als die bestehende Gesetzeslage. Dann allerdings wären wir wieder bei der ersten Variante. Es ist Ihr Antrag. Bitte sagen Sie mir, wie er zu verstehen ist. Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, dass er entwe- der dem Gebot Montesquieu zuwiderläuft oder aber im Widerspruch zum Zuwanderungskompromiss steht. Ich kann allerdings weder die eine noch die andere Ausle- gung gutheißen. Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Wir sprechen heute über einen Antrag, der gemeinsam von den Frak- tionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP verantwortet und befürwortet wird. Wir sprechen über eine stärkere internationale Ausrichtung des Schul- wesens. Es geht um den Bildungsstandort Deutschland. Und daher wird jeder fragen: Das ist doch eine gute Sache! Warum macht die Union dabei nicht mit? Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich ganz klar für eine Stärkung des Bildungsstandortes Deutschland aus. Auch wir sehen in der wachsenden europäischen und in- ternationalen Ausrichtung des Bildungssystems eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen an die Bil- dungspolitik. Bildung ist für die Union ein entscheiden- der Standortfaktor. Für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Weiterentwicklung der Bundesre- publik ist es von elementarer Bedeutung, den Bildungs- standort Deutschland insgesamt attraktiver zu gestalten. Daher haben wir uns auch schon bei der Debatte im Juni 2003 dafür ausgesprochen, Schülerinnen und Schü- lern von außerhalb der EU einen Schulbesuch in Deutschland zu ermöglichen. Es gibt gute Gründe, die Möglichkeit des Schulbesuchs in Deutschland zu er- leichtern. Die Internatsschüler in England und in der Schweiz haben sich zu einem Wirtschaftsfaktor für viele Regionen entwickelt. Darüber hinaus gibt es auch lang- fristig positive Effekte für den Standort Deutschland. Viele der jungen Menschen, die einen Schulbesuch im Ausland absolvieren, werden in einigen Jahren in Wirt- schaft und Politik ihres Heimatlandes in herausgehobe- nen Positionen tätig sein. Gerade in Zeiten der verstärk- ten Vernetzung der internationalen Märkte und des Zusammenrückens in Europa ist es wichtig, schon früh funktionierende Netzwerke zu knüpfen. Es spricht nichts dagegen, bereits in der Schule damit zu beginnen. Ich denke, wir sind alle darin einig, dass die Grund- lage für späteres Leben, Lernen und Arbeiten besonders in den Schulen gelegt wird. Daher ist es wünschenswert, schon dort anzusetzen und auf eine internationale Aus- richtung zu achten. Auch die Union sieht die Bedeutung einer internationalen Orientierung des Bildungswesens für den anstehenden Wettbewerb um die „besten Köpfe“ auf internationalem Parkett. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15601 (A) (C) (B) (D) Doch die CDU/CSU-Fraktion verliert darüber hinaus auch nicht den Überblick über bestehendes Recht in Deutschland. Und das scheint etwas, was die Antragstel- ler in ihrem gut gemeinten Eifer zu übersehen scheinen. Es sind vor allem zwei Punkte, die wir kritisch sehen und die wir daher nicht mit unterschreiben wollen: Erstens. Der Antrag übergeht die Länderkompetenz im Bereich der Schulen. Wieder einmal wird versucht, über den Bund Einfluss auf die Bildungshoheit der Län- der zu nehmen und in Landesentscheidungen hineinzure- gieren. Der Antrag versucht, dies mit verbalen Arabes- ken wie „in enger Abstimmung mit den Ländern“ und „in Kooperation mit den Ländern“ zu überdecken. Ja, es wird sogar die Formulierung verwendet: „Er bittet daher die Länder“. Doch in letzter Konsequenz lautet die For- derung des Antrages, dass der Bund sich in die Länder- kompetenz der Schulen einmischen möge, um dort die Internationalisierung voranzutreiben. So funktioniert das nicht! Zweitens. In den Forderungen werden Gegenstände des Aufenthaltsgesetzes berührt. Dem Wortlaut nach wer- den Formulierungen der vorläufigen Anwendungshin- weise des Innenministeriums (Stand: 22. Dezember 2004) zitiert. Doch der Kontext des Antrags legt die Vermutung nahe, dass eine erhebliche Ausdehnung der geltenden Rechtslage intendiert ist. Das wird Ihnen die Kollegin Kristina Köhler aus dem Innenausschuss in ihrem Rede- beitrag noch ausführlich darlegen. Sie haben sich in Ihrem Antrag einem wichtigen Thema gewidmet. Leider können wir es in dieser Form nicht unterstützen. Dennoch sollten wir die Punkte festhalten, in denen wir uns einig sind: Bildung ist ein entscheidender Standortfaktor. Für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Weiter- entwicklung der Bundesrepublik ist es wichtig, den Bil- dungsstandort Deutschland insgesamt attraktiver zu ge- stalten. Eine europäische und internationale Ausrichtung un- serer Bildungseinrichtungen in Deutschland ist begrü- ßenswert. Dies sollte schon bei den Schulen beginnen. Es ist wichtig, im „Ringen um die besten Köpfe“ auch ausländische Schüler an deutsche Schulen zu bringen. Gerade die vorhandenen und unbesetzten Plätze in privat geführten Internaten bieten dabei ein großes Po- tenzial, das genutzt werden sollte. Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der heute abzustimmende Antrag verfolgt ein vielleicht eher unspektakuläres, aber dennoch wichtiges politisches Ziel: Wir wollen Schülerinnen und Schülern aus Län- dern außerhalb der EU den Schulbesuch in Deutschland erleichtern. Das ist ein gutes Ziel, und zwar nicht nur in ökonomischer Hinsicht. In unserer globalisierten Gegen- wart kann man nicht genug auf den internationalen Aus- tausch setzen, vor allem wenn es um junge Menschen geht. Wer einmal in anderen Ländern gelebt und gelernt hat, kann sich meist auch später auf Neues, vielleicht recht Fremdes besser einlassen. Das ist eine Grundvo- raussetzung für gegenseitigen Respekt und internationa- len Austausch. Im Bereich der Berufsbildung haben wir dafür jetzt gemeinsam die Weichen gestellt. Teile der Ausbildung können im Ausland absolviert und im Inland anerkannt werden. Ähnliches gilt für den Bologna-Prozess. Aller- dings muss hier die Vergleichbarkeit des in anderen Län- dern Gelernten noch gesichert werden. Im vorliegenden Antrag geht es um den umgekehrten Weg: den Austausch nach Deutschland hinein. Deswe- gen greift er bestimmte migrationspolitische Aspekte auf. So soll der Zugang zur schulischen Ausbildung in Deutschland nur dann möglich sein, wenn für die mate- rielle und soziale Absicherung der Schülerinnen und Schüler gesorgt ist und wenn gleichzeitig mit ihrer Rückkehr fest gerechnet werden kann. Deswegen verstehe ich auch nicht die Vorbehalte der Union gegen diesen Antrag. Schauen wir uns an, wer da- von profitiert: Einerseits natürlich diejenigen Schülerin- nen und Schüler aus Nicht-EU-Staaten, bei denen in der Regel wohlhabende Eltern für die Finanzierung des Auf- enthaltes in Deutschland aufkommen werden. Das ist doch genau die Art von Zuwanderung, der sogar ein Herr Beckstein offen gegenübersteht! Andererseits profitieren vor allem private Bildungsin- stitutionen, also Internate und berufliche Schulen in Deutschland. Sie können in Zukunft ihre Angebote ver- stärkt auf die ausländische Klientel ausrichten. Ziel un- seres heutigen Antrages ist es, die Rahmenbedingungen für private Bildungsträger erheblich zu verbessern. Aus grüner Sicht lösen wir mit diesem Antrag natür- lich nicht die zentralen bildungspolitischen Probleme in unserem Land. Die liegen, wie wir alle schon lange und nicht erst seit PISA wissen, unter anderem in der Inte- gration der in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten. Die Kompromisse im Zuwanderungsgesetz nehmen zwar die sprachliche und kulturelle Integration als Recht und Pflicht eines jeden Einwandernden auf. Wir Grünen halten aber – das ist ja bekannt – die Rah- menbedingungen für Integrationskurse noch nicht für ausreichend. Ich hoffe, wir können nach den ersten Er- fahrungen mit diesen Kursen noch an der einen oder an- deren Stelle nachjustieren, und setze dabei auf Ihre kon- struktive Mitarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union! Was ebenso fehlt, ist eine umfassende Qualitätssiche- rung, die auch die privaten Schulen berücksichtigt. Der- zeit haben sie zwar einen besseren Ruf als die öffentli- chen Schulen. Dass sie wirklich besser sind, müssen sie erst noch beweisen. PISA jedenfalls kann das nicht bestä- tigen. Umso dringender ist es, dass ausländische Schüle- rinnen und Schüler – ebenso wie die deutschen – sich bei ihrer Entscheidung für einen Schulbesuch in Deutsch- land an klaren Qualitätskriterien orientieren und eine ge- eignete Schule für sich aussuchen können. Nichts wäre schlechter für unseren Bildungsstandort Deutschland, als wenn schwarze Schafe in der Bildungslandschaft die im 15602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Antrag geforderten Erleichterungen für pure Abzocke missbrauchen würden! Der neue Anlauf in der Föderalismusfrage, der wohl jetzt in Angriff genommen wird, stimmt mich optimis- tisch, dass wir auch in Sachen Qualitätssicherung im Bil- dungswesen eine effiziente Lösung hinbekommen wer- den. Wie auch immer diese Lösung aussieht – die Länder haben jedenfalls große Verantwortung dafür, dass inlän- dische wie ausländische Schülerinnen und Schüler eine qualitativ hochwertige Ausbildung erhalten – egal an welcher Bildungsinstitution sie lernen und sich ausbil- den lassen. Abschließend möchte ich betonen: Die Einführung qualitätssichernder Instrumente geschieht immer noch viel zu langsam. Dabei müssen wir hier das Rad gar nicht neu erfinden, auch wenn die KMK immer diesen Anschein erweckt! Andere Länder – besonders in Skan- dinavien – betreiben seit Jahren und Jahrzehnten eine er- gebnisorientierte Bildungspolitik. Ein Blick über den Tellerrand kann hier enorm helfen und die Arbeit wohl- möglich immens vereinfachen. Wir drehen mit diesem Antrag an einem wichtigen, aber dennoch kleinen Rad der Bildungspolitik. Ich hoffe, wir werden – zum Nutzen unseres Bildungswesens! – auch wieder mal gemeinsam an großen bildungspoliti- schen Rädern drehen können. Anlass hierzu hätten wir genug! Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundstückverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes (Tagesord- nungspunkt 13) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Das Problem des verstärkten Flächenkaufs bzw. der Pacht durch zahlungs- kräftige schweizerische Landwirte im deutsch-schweize- rischen Grenzgebiet besteht seit geraumer Zeit. Es kon- zentriert sich auf bestimmte Grenzregionen, wie zum Beispiel die Landkreise Waldshut, Schwarzwald-Baar und Konstanz. Während der durchschnittliche jährliche Erwerb von Flächen in den Jahren 1993 bis einschließ- lich 2002 mit rund 38 Hektar – bzw. 53 Hektar bei Pacht – relativ niedrig war, ist ein sprunghafter Anstieg seit dem Jahr 2003 zu verzeichnen. Insgesamt werden derzeit circa 3 500 Hektar von Schweizer Bauern bewirtschaftet, in einzelnen Landkrei- sen sind es bis zu 20 Prozent der Ackerfläche. Schweizer Landwirte profitieren von den Subventionssystemen ih- res Landes stärker und erreichen auf dem Schweizer Markt für ihre Agrarprodukte einen bis zu dreifach höhe- ren Marktpreis im Vergleich zu ihren deutschen Kolle- gen. Das erlaubt ihnen, die Kauf- oder Pachtpreisange- bote ihrer deutschen Kollegen wesentlich zu überbieten, was für expansionswillige deutsche Betriebe zu Proble- men führt. Dass ein deutsch-schweizerisches Grenzproblem be- steht, ist, wie ich festgestellt habe, auch unter Kollegen hier im Hause nicht strittig, sondern einzig und allein, welcher Weg zur Lösung dessen beschritten werden kann und soll. Gemeinsam mit dem Bundesrat und insbesondere dem Land Baden-Württemberg hat die Bundesregierung bereits verschiedene Ansätze zur Lösung des Problems geprüft. Sowohl der deutsch-schweizerische Regierungsaus- schuss für Wirtschafts- und Finanzfragen als auch die von ihm eingesetzte gemischte und ressortübergreifende Ex- pertenkommission haben versucht, geeignete Lösungs- vorschläge und ihre Umsetzungsmöglichkeiten zu erar- beiten. So wurde unter anderem nach Art. 26 des Grenzver- kehrsabkommens von 1958 die so genannte Gemischte Kommission einberufen, um zu prüfen, inwieweit die Zollbefreiung der im deutschen Grenzgebiet geernteten Erzeugnisse bei Einfuhr in die Schweiz ganz oder teil- weise eingeschränkt werden kann. Doch sowohl dieser Vorschlag als auch der, dass deutsche Landwirte für in Grenzregionen erwirtschafte Produkte bei Einfuhr in die Schweiz von Abgaben befreit werden, wurde von der Schweiz abgelehnt. Mit der uns heute zur Diskussion vorliegenden Geset- zesinitiative des Bundesrates zur Änderung des Grund- stücksverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsge- setzes soll eine Preisschwelle, bei deren Überschreitung einem Grundstückskaufvertrag die Genehmigung ver- sagt bzw. ein Landpachtvertrag beanstandet werden kann, festgelegt werden. Zurzeit liegt diese Grenze nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bei 150 Prozent. Die von Schweizer Landwirten gezahlten Preise beliefen sich in der Vergangenheit auf 125 bis 149 Prozent des Grundstücksverkehrswertes. Um für die deutschen Landwirte in diesen Regionen die Möglichkeit zum Flä- chenerwerb zu verbessern, soll nach dem Vorschlag des Landes Baden-Württemberg bzw. des Bundesrates die Landesregierung ermächtigt werden, die Schwelle auf 120 Prozent des ansonsten üblichen Wertes festzusetzen. Begründet wird dies vor allem mit dem Ziel des Erhalts der Agrarstruktur. Der vorliegende Gesetzentwurf ist unserer Meinung nach nicht geeignet, dieses regional begrenzte Problem zu lösen. Es bestehen unsererseits vor allem verfassungs- rechtliche Bedenken im Hinblick auf das in Art. 14 Grundgesetz verankerte Eigentumsrecht. Die vom Bun- desrat gewünschte Beschränkung der Verfügungsfreiheit der betroffenen Grundstückseigentümer auf einen eng begrenzten Preisrahmen ist unzumutbar. Außerdem liegt eine Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 definierten Gleichbehandlungsverbotes vor, denn die Umsetzung des Gesetzentwurfes würde zu einer verfas- sungswidrigen Ungleichbehandlung zwischen Grund- stückseigentümern, die ihr Grundstück an Schweizer Landwirte verkaufen oder verpachten wollen, und Grund- stückseigentümern, die dasselbe Rechtsgeschäft mit deut- schen Landwirten tätigen wollen, führen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15603 (A) (C) (B) (D) Auch die im Rechtsgutachten von Professor Dr. Ferdinand Kirchhof dargelegten Argumente reichen nach unserer Meinung nicht aus, um die eben erwähnten verfassungsrechtlichen Bedenken auszuräumen. Außerdem drängt sich die Frage auf: Wird es neben der Festlegung eines Schwellenwertes für bestimmte Re- gionen in Höhe von 120 Prozent zukünftig in Einzelfäl- len auch noch eine Feststellung eines „groben Missver- hältnisses“ seitens der zuständigen Landesstellen geben, wenn der Verkaufspreis in dieser Größenregion liegt? Mit dieser Festlegung wird das Ermessen der für die Überwachung des landwirtschaftlichen Grundstücksver- kehrs zuständigen Stellen auf null reduziert – auch das ist nicht Ziel unserer Politik. Abschließend möchte ich noch die Frage an den Bun- desrat stellen: Wollten Sie wirklich Geschäfte in Zukunft auch dann versagen, wenn sich für das betroffene Grundstück überhaupt kein deutscher Landwirt interes- siert? Die starke Zunahme von Kauf bzw. Pacht deutscher Flächen seitens der Schweizer Landwirte ist ein akutes Problem, welches sich, wenn nicht politisch darauf re- agiert wird, in den nächsten Jahren noch verschärft. Aus diesem Grund unterstützen wir alle Bemühungen, die zu einer Entschärfung des Problems beitragen. Klar sollte Ihnen jedoch auch sein: Aus Respekt vor dem bundes- deutschen Grundgesetz werden wir nur einen Gesetzent- wurf unterstützen, der nicht das Risiko beinhaltet, Grundrechte zu verletzen. Lassen Sie uns gemeinsam Alternativen prüfen, in- wiefern seitens der EU, des Bundes bzw. des Landes Re- gelungen gefunden werden können, um den Landwirten Unterstützung zu gewähren. Kurt Segner (CDU/CSU): Seit rund 30 Jahren erfah- ren die deutschen Landwirte entlang der Schweizer Grenze leidvoll, was es heißt, ihre berufliche Existenz an der Nahtstelle unterschiedlicher Agrarsysteme behaup- ten zu müssen. In keiner anderen Region Deutschlands müssen sich Landwirte einem derart ungleichen Wettbe- werb um den Produktionsfaktor Boden stellen. Seit rund 30 Jahren kaufen und pachten Schweizer Landwirte in immer größerem Umfang landwirtschaftliche Flächen in der deutschen Zollgrenzzone. Dies wird begünstigt durch erstens das Zollabkom- men von 1958, zweitens die Marktstützungsmaßnahmen der Schweiz, die ihnen im Vergleich zu Landwirten in der EU bis zu dreifach höhere Erlöse garantieren und drittens das schweizerische Direktzahlungssystem, das ihnen bis zu dreifach höhere Prämien gewährt, wenn sie die Fläche mindestens seit dem 1. Mai 1984 bewirt- schaften. Vor diesem Hintergrund zahlen Schweizer Landwirte Kauf- und Pachtpreise, mit denen sie jedes Angebot deutscher Landwirte überbieten. Wenn Schweizer Land- wirte zwischen 20 und 49 Prozent über dem ortsüblichen Preis zahlen, dann übersteigt dies die finanzielle Leis- tungsfähigkeit unserer Landwirte bei weitem. In den zurückliegenden 30 Jahren sind über 3 300 Hek- tar landwirtschaftliche Fläche, weit überwiegend Acker- land, in Schweizer Bewirtschaftung übergegangen. Seit 1993 hat sich die von Schweizer Landwirten gekaufte Fläche mehr als verdoppelt. Die gepachtete Fläche, die bereits 1985 ein hohes Niveau von 1 500 Hektar erreicht hatte, ist seither um weitere 850 Hektar gestiegen. Allein in den beiden zurückliegenden Jahren betrug der Flä- chenverlust nahezu 500 Hektar. Wie so oft sagen Zahlen zur Dramatik einer Entwick- lung nicht alles aus. Fakt ist aber, dass der bisherige Flä- chenverlust der durchschnittlichen Flächenausstattung von 83 landwirtschaftlichen Betrieben entspricht. Ange- sichts dieser Dimension besitzt die Problematik eine ganz erhebliche Sprengkraft, die über die regionale Be- troffenheit weit hinausreicht. Um auf Betriebsgrößen zu wachsen, die ihnen auf überschaubare Zeit das betriebliche Überleben sichert, wären die landwirtschaftlichen Betriebe in Baden- Württemberg dringend auf die Aufstockung mit diesen Flächen angewiesen. Die Landwirte wollen auch vom Strukturwandel in der Landwirtschaft der Region profi- tieren und Zukunftsperspektiven entwickeln können! Stattdessen müssen sie sich mit den durch die Flächen- verluste ausgelösten Existenzsorgen herumschlagen. Die Unsicherheit, ob bei durchschnittlich zwei Dritteln Pacht- flächenanteil an der Betriebsfläche ein Pachtvertrag ver- längert wird oder ob eine größere Pachtfläche demnächst an einen zahlungskräftigen Schweizer Landwirt fällt, ver- hindert jede vernünftige, langfristige Betriebsplanung. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind viel- schichtig und haben jeweils eine eigene, Besorgnis erre- gende Dynamik erlangt: Der anhaltende Verlust an Pachtflächen bringt immer mehr Betriebe in akute Existenznöte. Schon jetzt haben zahlreiche Schweine haltende Be- triebe in der Region allergrößte Schwierigkeiten, in zu- mutbarer Entfernung genügend betriebseigene Flächen zur Gülleausbringung vorzuhalten. Viele dieser Betriebe sehen sich um den Lohn jahre- langer Anstrengungen gebracht. Das Herauskaufen oder -pachten von Flächen aus großen Bewirtschaftungseinheiten verschlechtert die Produktions- und Arbeitsbedingungen der baden- württembergischen Betriebe zusehends. Der Verlust potenzieller Aufstockungsflächen schmä- lert die Wachstumschancen der einheimischen Betriebe. Ohne Wachstumschancen gibt es keine Investitionsbe- reitschaft. Ohne Investitionsbereitschaft verlieren die Betriebe den Anschluss an die Entwicklung und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit. Ohne Investitionen gibt es keine Modernisierung und ohne Modernisierung keine Hofnachfolge. Der Effekt der öffentlichen Mittel, die das Land Ba- den-Württemberg für die Flurneuordnung eingesetzt hat und einsetzt, geht zunehmend an den Landwirten vorbei. 15604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Die Landesregierung Baden-Württembergs hat in der Vergangenheit alle Anstrengungen zur Lösung des Kon- flikts unternommen. Erstens. In der Verwaltungspraxis wurden alle rechtli- chen Möglichkeiten des Grundstück- und des Land- pachtverkehrs ausgeschöpft. Aber aufgrund der gegen- wärtigen Rechtslage gelingt eine Steuerung im Sinne der deutschen Landwirte immer seltener. Deshalb ist die Ge- setzesinitiative des Landes Baden-Württemberg unver- zichtbar! Zweitens. Die Landesregierung hat immer wieder das Gespräch mit der Schweiz gesucht. Die Regierungen der angrenzenden Kantone sollten auf ihre Landwirte mäßi- gend einwirken. Nach kurzzeitigem Rückgang erreichte der Umfang der von Schweizer Landwirten gekauften und gepachteten Flächen nicht nur den alten Stand, son- dern ging darüber hinaus. Drittens. Das Land hat die Bundeslandwirtschaftsmi- nisterin wiederholt gebeten, sich bei den Eidgenossen für eine Selbstbeschränkung einzusetzen. Doch leider konnte Rot-Grün keinen Erfolg erzielen. Nach Ansicht des Auswärtigen Amtes sei die Agrar- politik der Schweiz auf eine Annäherung an die Bedin- gungen der EU gerichtet. Diesem Ziel einer Annähe- rung, die die Situation in der Zollgrenzzone entspannt, sind wir bis heute keinen einzigen Schritt näher gekom- men. Viertens. Der Bundesrat hat am 2. April 2004 in einer auf Initiative Baden-Württembergs gefassten Entschlie- ßung die Bundesregierung aufgefordert, den Grund- stück- und Landpachtverkehr an der Schweizer Grenze von den Wirkungen des am 1. Juni 2002 in Kraft getrete- nen Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU, ihren Mitgliedsstaaten und der Schweiz auszunehmen. In Verhandlungen mit der Schweiz sollte eine Ände- rung des bilateralen Zollabkommens von 1958 erreicht werden. Diesem Entschluss ist die Bundesregierung nach meiner Beobachtung nicht mit Nachdruck nachge- kommen. Die Bemühungen waren deshalb nicht von Er- folg gekrönt. Nachdem alle Versuche fehlgeschlagen sind, hatte das Land Baden-Württemberg den vorliegenden Gesetz- entwurf eingebracht. Er zielt darauf ab, in das Grund- stückverkehrsgesetz und das Landpachtverkehrsgesetz – beides Gesetze zum Schutz der einheimischen Agrar- struktur – eine Verordnungsermächtigung aufzunehmen. Die Rechtsprechung definiert bislang den Schwellen- wert für die Annahme eines groben Missverhältnisses zwischen Kaufpreis und Verkehrswert bei 150 Prozent. Die Länder sollen nun in die Lage versetzt werden, diesen Schwellenwert auf 120 Prozent des Verkehrswer- tes absenken zu können. Mit dieser Ermächtigung kann die bisher bestehende Regelungslücke, die zur ungesunden Verteilung von Grund und Boden führte, geschlossen werden. Der Schwellenwert von mindestens 120 Prozent mu- tet deutschen Landwirten immer noch zu, mit einem Ge- bot bis an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähig- keit zu gehen. Ich bin der Meinung, dass seine Einführung auf nationaler Ebene ein wirksames Mittel ist, wieder faire Wettbewerbschancen herzustellen. Ich bedauere sehr, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung Bedenken verlauten lässt. Damit die Landwirte vor Ort aber den Glauben an die Handlungsfähigkeit der Politik nicht verlieren, sollten wir daher über alle Parteigrenzen hinweg eine tragfähige Lösung finden. Im Interesse der betroffenen Landwirte, die akut in ihrer Existenz bedroht sind, sollten wir ge- meinsam ein schnellstmögliches Ergebnis erzielen. In diesem Sinne bedanke ich mich jetzt schon bei al- len Parteien für die Gesprächsbereitschaft. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Als Bauer kann ich durchaus verstehen, dass die deutschen Bauern an der Grenze zur Schweiz verärgert darüber sind, wenn ihre Kollegen aus der Schweiz sehr hohe Preise für landwirtschaftliche Flächen in Deutsch- land bieten und damit den deutschen Grenzbauern das Mitbieten schwer oder gar unmöglich machen. Das ist sicherlich ein Problem, für das man eine Lösung finden muss. Ich ärgere mich als Nicht-Baulandbesitzer auch oft über die Flächenkonkurrenz der Baulandbauern, die immer einen unvernünftig hohen Preis bieten. So etwas gibt es immer wieder in den verschiedensten Konstella- tionen. Als Abgeordneter des Bundestages muss ich aller- dings einen etwas anderen Blick auf die Sache haben, als im vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates zum Ausdruck kommt. In der Problembeschreibung des Ge- setzentwurfes heißt es, dass zwischen 1993 und 2002 jährlich 78 Hektar und 2003 310 Hektar an schweizer Landwirte verpachtet oder verkauft worden seien. Zum Vergleich: Die landwirtschaftliche Fläche in Deutschland beträgt insgesamt 17 Millionen Hektar. Da- von gehen jährlich 47 000 Hektar verloren, nicht an Schweizer, sondern wegen des fortschreitenden Flächen- verbrauchs – übrigens ein riesiges Problem, dessen sich der Bundesrat meines Wissens bisher leider noch nie an- genommen hat. Wir sprechen hier also von einem winzi- gen Teil der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland, der nicht an deutsche, sondern an Schweizer Bauern ver- pachtet oder verkauft wird. Ich betone das nur, um die Größenordnungen klarzumachen, von denen wir hier re- den. Dafür will der Bundesrat das bewährte Grund- stücksverkehrsgesetz und das Landpachtverkehrsgesetz ändern. Ich will damit deutlich machen, dass wir aufpassen müssen, bei aller individuellen Betroffenheit die Verhält- nismäßigkeit der Mittel nicht aus dem Auge zu verlieren. Ich glaube, wir sind als Bundesgesetzgeber gut beraten, uns bei unserer Arbeit nicht von einer allzu stark isolier- ten und eingeengten Perspektive leiten zu lassen, son- dern immer den Blick für das Ganze zu behalten und nicht damit zu beginnen, jedem sein eigenes Gesetz zu schreiben. Das führt zu nichts. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15605 (A) (C) (B) (D) Daher haben wir auch große Bedenken, ob eine Ge- setzesänderung vertretbar ist, die nur an den – ohne Frage berechtigten – Interessen einer sehr kleinen Gruppe orientiert ist, die aber von der Bundesregierung erstens als verfassungsrechtlich bedenklich und zweitens als außenpolitisch, das heißt bezüglich der Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz, bei denen es durchaus noch andere Interessen zu wahren gilt, proble- matisch eingestuft wird. Es ist noch nicht einmal ausge- schlossen, dass dieser Gesetzentwurf gegen das Freizü- gigkeitsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz verstößt. Auf solche Unwägbarkeiten können und dürfen wir uns nicht einlassen. Gleichzeitig ist selbst unter den deutschen Bauern an der Schweizer Grenze die Interessenlage keineswegs einheitlich: Während die einen Land günstig kaufen oder pachten wollen, hoffen die anderen auf günstige Ge- schäfte mit Schweizer Landwirten, um sich beispiels- weise ihre Altersversorgung zu sichern. Wir haben verabredet, dieses Thema in einer inter- fraktionellen Arbeitsgruppe zu beraten, um zu einer Lö- sung des Problems zu kommen. Ich kann mir gut vorstel- len, dass sich eine Lösung finden lässt, jedoch auf einem geeigneteren Weg, als ihn der Bundesrat vorschlägt. Ernst Burgbacher (FDP): Als Vorsitzender der süd- badischen FDP kenne ich die Problematik von Land- pachten und Landkäufen durch Schweizer Landwirte im südbadischen Raum seit geraumer Zeit. Diese Land- käufe und Landpachten von Schweizer Landwirten in unserer Region stellen für unsere Bauern eine ernst zu nehmende Existenzgefährdung großen Ausmaßes dar. Hier ist Handeln, und zwar rasches Handeln, dringend geboten. Auch wenn das Problem des Grundstücks- und Land- pachtverkehrs bereits seit 30 Jahren existiert, hat es sich in den letzten Jahren durch verschiedene Änderungen der Rahmenbedingungen deutlich verschärft und zuneh- mend bedrohlichere Ausmaße angenommen. Auf Initiative des Landes Baden-Württemberg hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundstücksverkehrs- und Landpachtverkehrsgesetzes vorgelegt. Ich unterstütze diese Gesetzesinitiative nach- drücklich. Die FDP-Bundestagsfraktion steht an der Seite unserer Landwirte. Die bestehenden Ungerechtig- keiten zulasten unserer Bauern dürfen nicht länger hin- genommen werden. Ursache für die massiven Wettbe- werbsverzerrungen ist eine hoch subventionierte Landwirtschaft in der Schweiz, die es Schweizer Land- wirten ermöglicht, baden-württembergische Landwirte bei Erwerb und Pacht von landwirtschaftlichen Flächen aus dem Feld zu schlagen. Ich habe mich in dieser Angelegenheit bereits im Jahr 2003 aktiv eingeschaltet und die zuständigen Stellen auf die Schwierigkeiten, denen sich unsere südbadischen Landwirte ausgesetzt sehen, hingewiesen und Abhilfe angemahnt. Im Sommer letzten Jahres hatte ich den da- maligen zuständigen EU-Kommissar Fischler ange- schrieben, um ihn für diese Thematik zu sensibilisieren. Mehrfach hatte ich mich mit Anfragen an die Bundesre- gierung gewandt. Ich hatte an Bundeslandwirtschaftsmi- nisterin Renate Künast geschrieben und sie eindringlich aufgefordert, sich vor Ort ein Bild von der Lage zu ma- chen. Doch trotz eines Besuchs in der Schweiz, bei dem sie sich über Hühnerhaltung informierte, hat es die zu- ständige Ministerin nicht für nötig befunden, auch das Gespräch mit den Landwirten in Baden-Württemberg zu suchen und sich persönlich einen Eindruck von der Situa- tion unserer Bauern und ihrer Familien zu verschaffen. Ein Besuch vor Ort und das Gespräch mit südbadi- schen Landwirten im Grenzgebiet hätte ihr sicher die Augen geöffnet, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann. Ich habe mich oft mit betroffenen Landwirten un- terhalten und stehe in regelmäßigem Austausch mit dem Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverband. Die Tatenlosigkeit der rot-grünen Bundesregierung ist unverständlich und völlig inakzeptabel. Auch das Ver- halten von Bundesaußenminister Fischer war eine bittere Enttäuschung für die betroffenen Landwirte. Erst Ende November letzten Jahres hatte dieser dem baden- württembergischen Ministerpräsidenten Teufel schrift- lich versichert, dass ihm an einer Lösung des Problems gelegen sei. Doch entgegen diesen – wie wir nun wis- sen – leeren Versprechungen hat die Bundesregierung eine negative Stellungnahme zum Gesetzentwurf abge- geben. Die von der Bundesregierung geäußerten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des baden-württembergischen Gesetzentwurfs sind durch ein Rechtsgutachten von Pro- fessor Kirchhof von der Universität Tübingen entkräftet worden. Professor Kirchhof kommt zu dem Ergebnis, dass der Gesetzentwurf zur Änderung des Grundstücks- verkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes den Vorgaben für Rechtsverordnungsermächtigungen des Art. 80 Abs. 1 GG genüge und sich im Einklang mit den Grundrechten der Art. 14 und 12 GG halte. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass wir zu einer raschen und möglichst unbürokratischen Lösung des Problems kommen. Wie und auf welchem Wege dies ge- schieht, erscheint mir im Augenblick eher sekundär. Viele unserer Betriebe in Südbaden sind in ihrer Exis- tenz bedroht. Wichtig ist, dass hier zügig Abhilfe ge- schaffen wird, um diese Bedrohung abzuwenden. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zum Beginn der De- kade „Wasser zum Leben“ der Vereinten Natio- nen (Tagesordnungspunkt 14) Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Nächsten Dienstag, am 22. März, am Weltwassertag, beginnt die UN-Dekade „Wasser für das Leben“. Damit unterstrei- chen die Vereinten Nationen ihre Entschlossenheit, das Thema Wasser im Blickpunkt zu behalten. Es muss ge- lingen, den Anteil der Menschen ohne Zugang zu 15606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) sauberem Trinkwasser und ohne Zugang zu sanitären Basiseinrichtungen bis 2015 zu halbieren. Wir möchten mit dieser Debatte zum Gelingen beitra- gen. Wieder einmal sind wir es, die dieses Thema in den Bundestag gebracht haben. Schon vor zweieinhalb Jah- ren waren es die Regierungsparteien, die die Wasser- frage erörtert und mit einem Antrag deren Bedeutung für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstrichen haben. Eines haben wir bereits damals deutlich gemacht: Wasser ist kein beliebiges Wirtschaftsgut, Wasser ist ein öffentliches Gut. Wir haben bereits damals deutlich ge- macht, dass der Zugang zu sauberem Trinkwasser ein Menschenrecht ist. Das bestreitet in diesem Hause sicher niemand. Dennoch überlegen Sie einmal, wenn Sie vier Tage alle Wasserhähne und sanitären Einrichtungen in Küche und Bad einmal nicht benutzen, vier Tage den Wasserkasten in der Ecke einmal nicht anrühren, vier Tage einmal versuchen, Wasser zur Befriedigung der Grundbedürfhisse im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße zu finden. Nur vier Tage – dies ist nämlich ungefähr die Zeit, die ein Mensch ohne Wasseraufnahme überleben kann. Diese Tatsache unterstreicht unsere Abhängigkeit von den natürlichen Lebensgrundlagen und unsere Verletz- barkeit, eine Verletzbarkeit, die wir in unserer Überfluss- gesellschaft, in der sauberes Trinkwasser eine Selbstver- ständlichkeit ist, häufig verdrängen. Machen wir es uns eigentlich ausreichend klar, ist es uns überhaupt bewusst, dass die Versorgung mit saube- rem Trinkwasser und eine effiziente Abwasserentsor- gung die Grundvoraussetzung für soziale und wirtschaft- liche Entwicklung ist? Stört es uns denn überhaupt nicht, dass noch immer mehr als eine Milliarde Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser sind? Immer noch ha- ben mehr als 2,5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu einer geregelten Abwasserentsorgung. Schenken wir die- sen Menschen doch unser Gehör. Sie alle sind arm! Sie alle haben dieses gemeinsame Merkmal, egal ob Sie in Südasien, in Lateinamerika oder ob Sie in Afrika südlich der Sahara leben. Armut und der Mangel an sauberem Trinkwasser bzw. an sanitären Basiseinrichtungen gehen Hand in Hand. Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend. 1,8 Mil- lionen Menschen sterben pro Jahr an den Folgen von Durchfallerkrankungen. Insbesondere Kinder sind durch unhygienische sanitäre Zustände bedroht. Alleine am heutigen Tag sind wieder 4 000 Kinder weltweit an den Folgen von verunreinigtem Trinkwasser qualvoll zu- grunde gegangen. In Afrika gehen nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation 40 Milliarden Arbeitsstun- den pro Jahr durch die Beschaffung von Trinkwasser verloren – 40 Milliarden! Diese Zeit wird gerade Mäd- chen und Frauen weggenommen. Wegen ihrer Pflichten bei der Beschaffung von Trinkwasser können sie nicht zur Schule gehen. Analphabetismus hat einen fatalen Bezug zur Wasser- und Abwasserfrage. Deshalb sind das Trinkwasserziel der Millenniums- Deklaration und das Sanitärziel des Johannesburg-Ak- tionsplanes Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige Bekämpfung der Armut! Mit unserem heutigen Antrag wollen wir fünf Jahre nach der Verabschiedung der Millenniums-Entwick- lungsziele erstmals Bilanz ziehen. Wo stehen wir heute? Die Weltgesundheitsorganisation WHO und das UN- Kinderhilfswerk UNICEF haben im August 2004 eine Zwischenbilanz über die Erreichung der Millenniums- Entwicklungsziele bei der Trinkwasserversorgung und bei der Entsorgung von Abwässern vorgelegt. Basierend auf den Ausgangswerten von 1990 und den Zahlen von 2002 kommen die UN-Organisationen zu folgendem Ergebnis: Die Weltgemeinschaft ist zwar auf einem guten Weg, das Trinkwasser-Ziel der Millen- niums-Deklaration zu erreichen, ohne eine deutliche Kraftanstrengung wird das Ziel im Bereich der Abwas- serentsorgung jedoch um eine halbe Milliarde Menschen verfehlt. Unabhängig von den Durchschnittswerten zeigt die Bilanz aber Licht und Schatten. Die Unterschiede zwi- schen den Regionen, zwischen Stadt und Land und zwi- schen Arm und Reich sind gewaltig. Immerhin haben zwischen 1990 und 2002 1,1 Milliarden Menschen erst- mals Zugang zu sicherem Trinkwasser erhalten. Immer- hin haben eine Milliarde Menschen im selben Zeitraum erstmals Zugang zu einer geregelten Abwasserversor- gung erhalten. Dies sind beeindruckende Zahlen, die je- doch durch das gleichzeitige Bevölkerungswachstum re- lativiert werden. Was bleibt also zu tun? Angesichts der enormen menschlichen Opfer, die ein Verfehlen der Entwick- lungsziele im Bereich der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung zur Folge hätte, dürfen wir mit unseren Bemühungen nicht nachlassen. Im Gegenteil, trotz der gewaltigen Steigerungsraten müssen wir unsere Anstrengungen im Bereich der Trinkwasserversorgung verstärken. Unser Hauptaugenmerk muss dabei den ärmsten Ländern und den ärmsten Bevölkerungsschich- ten in den städtischen Slums und den ländlichen Regio- nen gelten. Wir müssen unsere Anstrengungen im Be- reich der Abwasserentsorgung – auch mit Beteiligung der Privatwirtschaft – deutlich intensivieren. Eine Ana- lyse der Weltgesundheitsorganisation hat ergeben, dass jährlich 11,3 Milliarden US-Dollar zusätzlich investiert werden müssten, um im Jahr 2015 die Millenniumsziele im Wasser- und Sanitärbereich zu erreichen. Die Investi- tion lohnt sich auf jeden Fall. Durch die Eindämmung von Seuchen könnten die Ge- sundheitskosten in den betroffenen Ländern deutlich ge- senkt werden. Die Zeitersparnis bei der Beschaffung von Trinkwasser könnte in höhere Produktivität, höhere Bil- dung und mehr Freizeit umgewandelt werden. Auf die- ser Grundlage kommt die Weltgesundheitsorganisation pro investierten Dollar auf eine Gewinnspanne zwischen 3 und 34 US-Dollar. Uns, der rot-grünen Bundesregierung sind diese Zu- sammenhänge klar. Deutschland ist mit rund 350 Millio- nen Euro jährlich der zweitgrößte Geber im Wassersek- tor weltweit. Der Wassersektor ist ein Schwerpunkt in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit 27 Län- dern. Diese Anstrengungen zeigen greifbare Erfolge. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15607 (A) (C) (B) (D) Wir sollten, statt immer zu klagen und Kassandra zu spielen, solche Erfolge herausstreichen. Tansania und Vietnam gehören zu denjenigen Län- dern, die in ihren Regionen die größten Fortschritte bei der Versorgung mit sauberem Trinkwasser gemacht ha- ben. Das belegen die Zahlen des Entwicklungspro- gramms der UN. In Tansania konnte der Anteil der Be- völkerung mit Zugang zu sauberem Trinkwasser von 38 Prozent auf 69 Prozent gesteigert werden. In Vietnam wurde ebenfalls eine Steigerung von 55 Prozent auf 78 Prozent erreicht. In beiden Ländern ist der Wasser- sektor ein Schwerpunkt der bilateralen Entwicklungszu- sammenarbeit mit Deutschland. Unser Antrag geht gerade auf diejenigen Länder ein, in denen der Wassersektor in der Entwicklungszusam- menarbeit einen Schwerpunkt bildet. Wir werden dafür kämpfen, dass in diesen Ländern die Millenniumsziele im Wasser- und Sanitärbereich erreicht werden. Mit un- seren Forderungen unterstreichen wir: Es ist uns Ernst mit der Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele, wir tauchen nicht ab angesichts von Herauforderungen und Unwägbarkeiten. Mit unseren Forderungen unter- streichen wir auch, dass es uns Ernst ist mit der Bekämp- fung der weltweiten Armut und dem Schutz unserer na- türlichen Lebensgrundlagen. Wir befinden uns dabei in Übereinstimmung mit UN-Generalsekretär Kofi Annan, der anlässlich des Weltwassertages 2004 die zentrale Be- deutung der Wasserfrage für die Armutsbekämpfung und für eine nachhaltige Entwicklung betonte. Mit der beginnenden UN-Dekade „Wasser für das Le- ben“ unterstreicht die Weltgemeinschaft nochmals diese Aussage und konzentriert ihre Kräfte in diesem Bereich. Kofi Annan kann sich unserer Unterstützung bei seinen Bemühungen sicher sein. Abschließend möchte ich noch einmal auf die ent- wicklungspolitische Debatte vom Juni 2002 zurückkom- men. Die Oppositionsparteien haben sich bei der damali- gen Abstimmung zu unserem Wasser-Antrag enthalten. Inhaltlich hatten Sie weder durch einen eigenen Antrag noch in einem Ihrer Debattenbeiträge etwas Konstrukti- ves beizutragen. Zu einer Zustimmung zu richtigen Schritten konnten Sie sich nicht durchringen. Das Fehlen eigener inhaltlicher Konzepte entschuldigte der Kollege Hedrich damit, die Opposition wolle der überladenen Tagesordnung keine weiteren Punkte hinzufügen. Diese Ausrede wird Ihnen heute niemand abnehmen. Bei ei- nem einzigen Thema unter diesem Tagesordnungspunkt hätten Sie wirklich in der Lage sein können, etwas Eige- nes auf die Beine zu stellen. Leider Fehlanzeige! – Viel- leicht aber auch ein Ausdruck Ihrer klammheimlichen Zufriedenheit mit unserer Arbeit bei der Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele und des Johannesburg- Aktionsplanes. Wir erwarten auf jeden Fall gelassen Ihre Vorschläge in den bevorstehenden Beratungen. Wandeln Sie Ihre klammheimliche Zustimmung in eine konstruktive um. Ulrich Petzold (CDU/CSU): Ich kann mich bei dem vorliegenden Antrag des Eindrucks nicht erwehren: Hier hat jemand gerade noch rechtzeitig mitbekommen, dass am 22. März, am Weltwassertag, die von den Vereinten Nationen ausgerufene Dekade „Wasser zum Leben“ be- ginnt, und er möchte noch ein wenig davon politisch profitieren. Doch die allzu große Hast und Eile, die wir bei der Einbringung des Antrages erlebt haben, tut einem Antrag selten gut. So wird in dem Antrag das Wasser- problem leider weitgehend auf die soziale Frage einge- engt, während andere Aspekte eher vernachlässigt wer- den. Bereits in den 80er-Jahren war von den VN eine De- kade der „Trinkwasserversorgung und Hygiene“ ausge- rufen worden. Allerdings, so muss man heute konstatie- ren, nur mit mäßigem Erfolg. Statt des angestrebten hundertprozentigen Versorgungsgrades wurde trotz einer bemerkenswerten Mobilisierung nationaler und interna- tionaler Investitionsmittel der Bevölkerungsanteil in den Entwicklungsländern mit direktem Zugang zu sauberem Trinkwasser lediglich auf 70 Prozent erhöht. Aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Verstädterung konnte mit diesem Programm die absolute Zahl von Menschen ohne qualitativ und quantitativ ausreichende Wasserversorgung und sanitäre Anlagen nicht oder nur unwesentlich verringert werden. Deshalb bin ich gegen- über der überschwänglichen Begeisterung, mit der der Antrag den Beginn der Dekade feiert, eher etwas skep- tisch. Die bescheidenen Ergebnisse der Dekade in den 80er-Jahren sollten uns eher zum Überlegen als zu Schnellschüssen veranlassen. Daher meine Fragen an Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition: Warum wurde in dem Antrag nicht mehr auf demographische Trends wie Bevölke- rungsentwicklung und Wanderungsbewegungen einge- gangen? Wieso kommen die ökologischen Faktoren wie Klimaveränderungen, Versteppung, Wüstenbildung und Versalzung von Böden, wenn überhaupt, nur in Neben- sätzen vor? Grundwasserbildung und Oberflächenwasserrückhal- tung durch Ökosysteme dürfen in einem solchen Antrag ebenfalls nicht fehlen, soll in ihm auch nur ansatzweise die Problematik der Wasserversorgung aufgezeigt wer- den. Wasserversorgung ist damit ein zutiefst ökologi- sches Problem. Die Zahl der Länder, in denen eine Wasserentnahme über dem erneuerbaren Angebot erfolgt, ist durchaus lang und wird von Libyen angeführt, in dem fast viermal so viel Wasser entnommen wird, wie durch Niederschlag erneuert wird. Darüber hinaus entnehmen viele Länder einen so hohen Anteil am erneuerbaren Wasserangebot, dass natürliche Ökosysteme keine Chance haben. Doch Wasser, welches man ökologischen Systemen zur Nut- zung für den Menschen zu viel entnimmt, wird erst dem System und dann dem Menschen fehlen. Durch die Urbanisierung und Industrialisierung der Entwicklungsländer in einer frühindustriellen Form wird das Problem der Wasserverschmutzung, das wir aus der Übergangsgesellschaft Osteuropas kennen, immer aku- ter. Agrarchemikalien, die in den Industrieländern längst verboten sind, belasten das Wasser und zerstören die 15608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Bodenstrukturen, sodass eine Regenerierung von Ab- wässern nicht mehr erfolgt. Die ökologische Dimension von Wasserverschmut- zung und Wasserverknappung ist auf internationaler Ebene erkannt. Gleichwohl weichen die Meinungen er- heblich voneinander ab. In einigen Entwicklungsländern besteht weiterhin die Einschätzung, dass der Norden in internationalen Verhandlungen zu einer Überakzentuie- rung ökologischer Aspekte tendiere, die er selbst aber nicht umsetze und deren Realisierung die Länder des Sü- dens überfordere. Deshalb müssen wir die wassersparenden Technolo- gien, die bei uns entwickelt wurden, auch bei uns einset- zen. Es kann nicht sein, dass eine abwasserfreie Auto- waschanlage zwar bei uns den blauen Umweltengel bekommt, aber der Einsatz in der Praxis regelmäßig scheitert, weil die Kommunen anscheinend auf das Ab- wasser aus den Waschanlagen für die kommunalen Klär- anlagen angewiesen sind. Oder denken Sie daran, wel- che Probleme bei uns Kleinkläranlagen bereitet werden. Der Einsatz von Endomykorrhizapilzen – bei uns zu Pra- xisreife gebracht –, mit denen man Wasser- und Dünge- mittel sparend Landwirtschaft betreiben kann, kommt bei uns nicht voran, weil sich die Einsatzkosten erst in nachfolgenden Jahren rechnen. Wenn wir nicht bereit sind, unsere modernsten Wassertechnologien bei uns selbst einzusetzen, wie sollen andere uns glauben und unsere Technologien anwenden? Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass das Beschließen weltweiter Aktionsprogramme allein kein Königsweg für den Aufbau nationaler Handlungskapazi- täten im Wassermanagement ist. Es wäre wünschens- wert, das Aktionsprogramm einer neuen Wasserdekade mit der Verabschiedung eines politisch, möglichst auch rechtlich verbindlichen Übereinkommens zu verbinden. Mit einem völkerrechtlich verbindlichen Übereinkom- men, das bindende Berichts- und Kontrollmechanismen, eine verbesserte und sichere Finanzierung sowie eine wissenschaftliche Begleitung beinhaltet, könnte unserer Auffassung nach der neuen Dekade auch in ökologi- schen Fragen am ehesten zum Erfolg verholfen werden. Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Klaus Töpfer, der Direktor des UN-Umweltprogramms, sagt bereits seit Jahren: Die Frage, wie wir auf der Welt mit Wasser umge- hen, wird an vielen Orten über Krieg und Frieden mitentscheiden. Aber die Wasserprobleme, denen unsere Welt gegen- übersteht, müssen nicht nur Ursache für Spannungen sein; sie können auch als Katalysator für Zusammenar- beit wirken. Zwei Drittel der größten Flüsse der Welt durchfließen mehrere Staaten, mehr als 300 Flüsse über- queren nationale Grenzen. Erstmalig brachten die Vereinten Nationen 2003 ei- nen Weltwasserentwicklungsbericht heraus. Der Bericht beschreibt die Ausgangssituation der Weltwasserkrise und analysiert die globalen Süßwasservorkommen. Er befasst sich mit den Herausforderungen für die Siche- rung von Gesundheit und Ernährung einer wachsenden Bevölkerung und dem Wassermanagement zugunsten ei- ner nachhaltigen Bewirtschaftung und Ordnungspolitik. Die Welt steuert nach Einschätzung der Vereinten Na- tionen auf eine dramatische Wasserkrise zu. Mitte dieses Jahrhunderts haben demnach im schlimmsten Fall 7 Mil- liarden Menschen, im günstigsten Fall 2 Milliarden mit Wasserknappheit zu kämpfen. Die weltweite Wasserkrise sei die größte Bedrohung für das Überleben der Menschheit, lautet die eindringli- che Warnung dieses ersten Welt-Wasser-Berichts der Vereinten Nationen. Während in den reichen Industrie- staaten Wasser verschwendet wird, bringt das Bevölke- rungswachstum in den trockenen Gebieten der Erde – im Nahen Osten, in Nordafrika und Südasien – akute Was- serknappheit mit sich. Eine einzige Toilettenspülung in den Industrieländern verbraucht so viel Wasser, wie eine Person in einem Entwicklungsland pro Tag für Waschen, Trinken und Kochen zur Verfügung hat. 1,1 Milliarden Menschen, etwa ein Sechstel der Welt- bevölkerung, haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. In den Entwicklungsländern versickern 90 Prozent der Abwässer ungeklärt oder werden in Flüsse abgeleitet. Verschmutztes Trinkwasser und mangelhafte Abwasser- entsorgung sind die Ursache für 80 Prozent aller Krank- heiten in Entwicklungsländern. Täglich sterben 6 000 Kinder an Krankheiten, die durch unsauberes Wasser übertragen werden. „Diese Krise ist eine Krise des Wassermanagements, verursacht im Wesentlichen durch unsere falsche Be- wirtschaftung von Wasser“, heißt es im Welt-Wasser-Be- richt. Deutschland hat diese dramatische Situation schon seit längerer Zeit erkannt und ist nach wie vor mit etwa 350 Millionen Euro jährlich der größte europäische Ge- ber im Wassersektor, weltweit der zweitgrößte. Auch bei den Ausgaben der Weltbank hat der Wassersektor hohe Priorität. Ein erheblicher Teil des jährlichen Weltbank- budgets fließt daher in Projekte für Wassermanagement, Wasserversorgung, häusliche Hygiene, Abwasserbe- handlung, Hochwasserschutz und Abfallwirtschaft. Der Schwerpunkt liegt zunehmend auf sektorüber- greifenden Projekten, in denen neben Umweltaspekten auch sozioökonomische Aspekte wie Hygieneerziehung berücksichtigt werden. Im Rahmen eines Fraunhofer Weltbankprojektes befasst sich die Arbeitsgruppe „Was- ser, Abwasser und Abfall“ mit diesem Themenkomplex. Gemeinsam mit Unternehmen verbindet das Fraunhofer Institut technologische Expertise und innovative Ansätze in den Bereichen Wassermanagement, Wasserversor- gung, Abwasserreinigung und Abfallwirtschaft für Pro- blemlösungen in ausgewählten Zielländern. Weltweit ist die Entwicklungshilfe rückläufig. Nur private Investitionen können die riesigen Bedarfe an In- frastrukturinvestitionen decken. Für private Unterneh- men wird dementsprechend ein Wachstum des Marktes von derzeit circa 90 Milliarden Euro auf 450 Milliarden Euro im Jahre 2010 erwartet. Gefordert sind Investitio- nen in schwierigem Umfeld, also im besten Sinne des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15609 (A) (C) (B) (D) Wortes unternehmerisches Handeln im weltweiten Wett- bewerb. Der Wandel des Weltwassermarkts hin zum Betrei- bergeschäft hat in Deutschland mit dem Ausverkauf des deutschen Wasseranlagenbaus bereits erste Spuren hin- terlassen. Bei einer Beibehaltung des Status quo wird die deutsche Wasserwirtschaft ebenso wie im Energiebe- reich erhebliche Chancen auf den Weltmärken verpas- sen. Hier setzen meine Fragen und Forderungen an die Bundesregierung an. Hier sehe ich auch ein wesentliches Defizit im Antrag von Rot-Grün, der uns gestern anläss- lich des Beginns der Dekade „Wasser zum Leben“ vor- gelegt wurde. Wenn wir uns als größter europäischer Ge- ber im internationalen Wassersektor hervortun, muss doch auch die Frage erlaubt sein, welchen Anteil deut- sche Technologien und die deutsche Wasserwirtschaft insgesamt an diesem Auftragsvolumen haben. Mir sind Klagen aus der deutschen Wasserwirtschaft bekannt, dass durch die Kleinteiligkeit der kommunalen Wasserpolitik in Deutschland viel zu wenig Potenzial entwickelt wurde, um sich bei internationalen Aus- schreibungen erfolgreich zu beteiligen. Ein weiterer Grund für erfolglose Beteiligungen bei Ausschreibungen ist der Mangel an Erfahrungen und nachgewiesenen Pro- jekten im internationalen Wassergeschäft. Wie schätzt die Bundesregierung die Möglichkeiten ein, im Rahmen des Wiederaufbaus in den Tsunami-Katastrophengebie- ten bei Projekten im Wassersektor, die von deutschen Geldern finanziert werden, deutsche Anbieter zu bevor- zugen, um endlich auch Referenzprojekte vorweisen zu können? Denn eines ist sicher: Die deutsche Wasserwirt- schaft besitzt hervorragende Voraussetzungen, um kurz-, mittel- und langfristig beim Wiederaufbau, der Erweite- rung oder der Erstellung der Infrastruktur in der Wasser- ver- oder Abwasserentsorgung in den betroffenen Staa- ten mitzuwirken. Die deutsche Wasserwirtschaft hat ihre Unterstützung angeboten. Die Bundesregierung sollte diese Hilfsbereitschaft nicht mit unnötig komplizierten Ausschreibungsgrundsätzen und einem starren Örtlich- keitsprinzip behindern, sondern die Entbürokratisierung vorantreiben. Ich sagte zu Beginn meiner Rede, dass die Wasserpro- blematik auch als Katalysator für die Zusammenarbeit dienen kann. Hier haben wir die Chance, die internatio- nale Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Unter- nehmen und die interkommunale Zusammenarbeit in Form von Public Private Partnerships zu fördern, um die Ressource Wasser, die die Vereinten Nationen in den Mittelpunkt dieser Dekade gestellt haben, nachhaltig zu erhalten und für alle verfügbar zu machen. Ulrich Heinrich (FDP): Meiner Rede möchte ich ein Zitat von Kofi Annan voranstellen: Die Verfügbarkeit von Wasser ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis und deshalb ein Grund- recht. Verseuchtes Wasser bedroht die körperliche Gesundheit, aber auch die Gemeinschaft der Men- schen. Es ist ein Verstoß gegen die Menschen- würde. Diesem Zitat stimmen wir ausdrücklich zu. Wir wol- len deshalb auch dazu beitragen, dass die vorhandenen Ressourcen sparsam und ökonomisch genutzt werden und gleichzeitig der Zugang zum Lebensmittel Nummer eins für alle ermöglicht wird. Wasser muss allen Menschen frei, aber nicht kosten- los zur Verfügung stehen. Das bedeutet, Wasser hat ei- nen Preis. Nur so wird mit dem vorhandenen Wasser sorgsam umgegangen und nur so kann die Ressource Wasser auch in Zukunft gesichert werden. Es kostet Geld, Wasser aufzubereiten, Wasserleitungen zu legen und Abwasser zu reinigen. Es steht jedem Staat frei, durch Subventionen die Kosten für Bedürftige abzumil- dern. Doch die öffentliche Hand hat nur die Aufgabe, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um das öffentliche Gut Wasser zu verteilen, die Gesundheits- standards festzulegen und die Reserven nachhaltig zu schützen. Die private Wirtschaft ist es, die kosteneffi- zient und -transparent Investitionen und Dienstleistungen rund um das Wasser anbieten kann. So muss beispiels- weise die technische Ausführung für die Wasseraufbe- reitung, Verteilung und Abwasserreinigung in einer Re- gion durch öffentliche Ausschreibung an private Firmen vergeben werden. Die überragende Bedeutung des Wassers möchte ich Ihnen anhand einiger Zahlen verdeutlichen. Jedes zweite Klinikbett weltweit wird von jemandem gebraucht, der durch schmutziges Wasser krank geworden ist. Täglich sterben 6 000 Kinder an Krankheiten, die durch fehlende sanitäre Anlagen verursacht werden. Hier wird deutlich, dass nicht nur der Zugang zu sauberem Wasser lebens- notwendig ist, sondern auch die Entsorgung und Aufbe- reitung des Abwassers eine große Herausforderung dar- stellt. Und noch zwei Zahlen: 40 Prozent der Welternte wächst auf künstlich bewässertem Land. Dafür werden 70 Prozent des weltweit verbrauchten Süßwassers benö- tigt. Aus diesem Grund ist es so dringend notwendig, in den Gebieten, die ohne zusätzliche Bewässerung Nah- rungsmittel produzieren können, die Produktion zu stei- gern und alle Möglichkeiten des modernen Landbaus zu nutzen. Ich unterstreiche hier ausdrücklich, alle Mög- lichkeiten, auch die der Grünen Gentechnik. Heute schon haben wir hier Züchtungen, die aufgrund ihrer Salzresistenz auf Flächen angebaut werden könnten, die bislang nicht agrarisch genutzt werden konnten. Der zweite Bereich, den ich ansprechen möchte, ist die Schaffung von neuen Anbaugebieten. Die Wissen- schaft hat festgestellt, dass die Dürre der Sahelzone durch veränderte Temperaturen im Atlantik verursacht wurde und die wiederum durch die Luftverschmutzung der Amerikaner und Europäer. Deshalb sind wir aufge- fordert, insbesondere den Ausstoß an CO2 drastisch zuverringern und aktiv gegen weitere Versteppungen und Verkarstungen vorzugehen. Dies kann durch eine pro- gressive Wiederaufforstungspolitik und mit moderner Landbewirtschaftung erreicht werden. Zum Schluss möchte ich ein paar Anmerkungen zu ihrem Antrag machen. Sie stellen fest, dass sich die Bun- desregierung stark im Bereich Wasser engagiert. Das ist gut und wird zu Recht gelobt. Wir können Ihren Antrag 15610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) im Grundsatz auch akzeptieren. Um ihm zuzustimmen, müssten jedoch drei Veränderungen vorgenommen wer- den. Erstens. Sie fordern, dass auf die Entwicklungsländer bei der Liberalisierung des Wassersektors im Rahmen der GATS-Abkommen kein Druck ausgeübt werden soll. Diese Liberalisierung ist jedoch notwendig für Investiti- onen und die Entwicklung dieses Dienstleistungsberei- ches. Nicht der Staat ist der effektivste Verteiler von Wasser, sondern die private Wirtschaft. Zweitens. Ihrem Antrag fehlt die ökonomische Be- trachtung der sozialen, ökologischen und finanziell nachhaltigen Wasserversorgung. Drittens. Es gibt keinerlei Bezug zur Versteppung und Desertifikation in Ihrem Antrag und die Verbindung und Verzahnung zu anderen Umweltbereichen, zum Beispiel dem Wald als Reservoir für Grundwasser, wird völlig vernachlässigt. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Anfang diesen Jahres fand in Brasilien, in Porto Alegre, das 5. Weltso- zialforum statt. Ich habe an diesem Treffen teilgenom- men und auf zahlreichen Veranstaltungen miterlebt, wie sehr die Frage des Zugangs zu sauberem und gesundem Wasser die Menschen vor allem der Länder des Südens bewegt. Der Zugang zu Wasser – so die übereinstim- mende Aussage – ist ein Menschenrecht. Uns sollte vor allem die Frage beschäftigen, wie wir hier in Deutsch- land und in Europa dazu beitragen, dass dieser Zugang für alle Menschen auf der Welt gewährleistet wird. Ich kann einerseits die im Antrag formulierten Ziele unter- stützen, will aber andererseits die Initiatoren des Antra- ges auffordern, sehr genau darauf zu achten, was mit ih- rem Antrag geschieht. Bundeskanzler Schröder hat heute in seiner Regie- rungserklärung unter großem Beifall der SPD-Fraktion gesagt, dass die Bolkestein-Richtlinie so nicht in Kraft treten wird. Der Aussage hier vor dem Deutschen Bun- destag muss aber auch eine wirksame Einflussnahme in Brüssel folgen. In vielen Ländern des Südens sind die Bedingungen von Wasserver- und Abwasserentsorgung prekär. Durch die fehlende Wasserver- und Abwasserentsorgung wer- den die nahen Ressourcen übernutzt und verseucht. Da- mit wird ein teuflischer Kreislauf in Gang gesetzt. Die Bedingungen verschlechtern sich immer mehr. Wasser- knapphheit und schlechte Wasserinfrastruktur behindern die Entwicklung in den Ländern des Südens gravierend. Aber auch Industrieländer haben zunehmend mit Was- serknappheit und schlechter Infrastruktur zu kämpfen. Deshalb ist es so entscheidend, dass das öffentliche Gut Wasser nicht den Verwertungsinteressen von Kartellen und Konzernen ausgeliefert wird. Hier sehen wir als PDS eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik. Immer wieder seit der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 hat die internationale Staatengemeinschaft ihren Willen bekräftigt, die internationalen Wasserressourcen zu schützen. Das Problem besteht allerdings in Folgendem: So- wohl Staaten als auch Entwicklungshilfeinstitutionen setzen auf die „Washington Consensus“-Strategie priva- ter Investitionen. Was ist die Folge? Kredite werden an die Beteiligung großer Konzerne des Privatsektors ge- kuppelt. Die lukrative städtische Versorgung wird priva- tisiert. Die Konzerne sitzen gegenüber den Gemeinden am längeren Hebel und können es sich leisten, perma- nent die Verträge zu brechen. Bei Konflikten vor Ort droht die Gefahr, dass die Entwicklungsländer den Kür- zeren ziehen und Strafen zahlen müssen. In Bolivien und Südafrika wurden private Unternehmen aus den Versor- gungsgebieten verjagt. In Uruguay wurde per Volksab- stimmung eine Verfassungsänderung angenommen, in deren Ergebnis die Privatisierung von Wasserressourcen verboten wurde. Wir als PDS sind der Auffassung, dass es nicht der richtige Weg sein kann, dass deutsche Entwicklungshil- fegelder als Garantie und Stütze in internationale Vorha- ben deutscher Unternehmen fließen. Die bessere und vor allem auch nachhaltigere Alternative ist die konsequente Unterstützung regional entwickelter Projekte mit einem Minimum an notwendiger Technik und einem Maximum an Anpassung an die konkreten Bedingungen vor Ort. Der richtige Weg heißt aus unserer Sicht Hilfe zur Selbsthilfe statt kommerzielle Freundschaftsdienste für die Wasserkonzerne. Der Zugang zu sauberem und gesundem Wasser ist ein Menschenrecht. Tun wir alles, um dieses Menschen- recht weltweit zu verwirklichen. Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- desministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Am kommenden Dienstag, am 22. März, wird der UNO-Generalsekretär Kofi Annan die UNO- Wasserdekade ausrufen. Deswegen ist es gut, dass der Deutsche Bundestag diese Debatte heute führt. Wasser zum Leben – was für uns in Deutschland eine Selbstverständlichkeit ist, ist in vielen Entwicklungslän- dern immer noch eine Vision. Vielerorts fehlt es an einer sicheren Versorgung mit sauberem Wasser. Etwa 1,3 Mil- liarden Menschen sind hiervon betroffen. Doppelt so viele haben keine ausreichende Abwasserentsorgung. Über 95 Prozent aller Abwässer aus Industrie und Land- wirtschaft werden nicht geklärt und verschmutzen wert- volles Trinkwasser. Es ist daher mehr als berechtigt, wenn die Vereinten Nationen von einer „ernsthaften Wasserkrise“ sprechen. Die Folgen dieser Krise liegen auf der Hand: Das Leben der Menschen steht auf dem Spiel. Tag für Tag sterben 6 000 Menschen an vermeid- baren Krankheiten, die durch verunreinigtes Wasser übertragen wurden. Hinzu kommen enorme volkswirt- schaftliche Schäden. Die Tatsache, dass Frauen und Kin- der das Wasser über weite Strecken hinweg holen müs- sen, bedeutet verlorene Zeit, für die Schule, für die Arbeit. Nach Unicef-Schätzungen bedeutet dies bei- spielsweise den Verlust von 40 Milliarden Arbeitsstun- den jedes Jahr. Wasser ist ein Schlüssel für die Zukunft der Men- schen. Sauberes Wasser bedeutet Gesundheit, Nahrung, Wohlergehen. Wasser ist ein wichtiger Faktor im Kampf gegen die Armut. Wasser ist eine wichtige Ressource für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15611 (A) (C) (B) (D) die Landwirtschaft. Ohne Wasser keine Zukunft – das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Daher ist es sehr wichtig, dass anlässlich des Welt- wassertages am kommenden Dienstag, dem 22. März, der UNO-Generalsekretär zugleich die internationale Wasserdekade der Vereinten Nationen ausruft. Die Zeit bis 2015 muss zu einem Jahrzehnt des Wassers werden. Jedem muss klar sein, dass nachhaltige Entwicklung und sichere Wasserversorgung eng miteinander verknüpft sind. Dabei ist natürlich auch der Beitrag der Bundesregie- rung gefragt, und der kann sich sehen lassen, schließlich ist Deutschland mit rund 350 Millionen Euro pro Jahr nach Japan der zweitgrößte Geber im Wasserbereich. Lassen Sie mich einige wesentliche Punkte der deut- schen Entwicklungszusammenarbeit im Wassersektor skizzieren. Erstens. Zurzeit kooperieren wir mit 27 Ländern schwerpunktmäßig im Wasserbereich. Wir unterstützen unsere Partnerländer darin, den Wassersektor zu refor- mieren und die verantwortlichen Institutionen zu stärken. Es geht angesichts der immer noch hohen Wasserverluste um eine verbesserte landwirtschaftliche Bewässerung, um den Ausbau der Infrastruktur, darum, sauberes Trink- wasser zu den Menschen zu bringen, und schließlich auch darum, die sanitäre Basisversorgung zu verbessern. Nur so werden die wasserinduzierten Krankheiten zu- rückgehen. Wir fördern angepasste Bewässerungssys- teme und den Aufbau von Wassernutzungsgruppen. Zweitens. Ein weiterer Schwerpunkt unserer interna- tionalen Wasserpolitik liegt auf dem grenzüberschreiten- den Wassermanagement. Es werden internationale Dia- loge initiiert und Flussgebietskommissionen unterstützt, in denen Flussanrainerstaaten gemeinsam das Flusswas- ser managen. Dies dient der Prävention von Konflikten, die es unter Umständen bei Verknappung des Wassers geben könnte. Wasser ist unersetzlich für den Menschen. Es ist ein Menschenrecht. Ermutigend ist, dass einige Länder wie Tansania oder Tschad beachtliche Erfolge bei der Was- serversorgung erzielen konnten. Aber die Erreichung der Wasserziele bis 2015 ist deshalb noch kein Selbstläufer. Dass die Vereinten Nationen die Wasserdekade ausrufen, verdient deshalb unsere volle Unterstützung. Daher be- grüße ich sehr den vorliegenden Antrag. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die Wahlrichtlinien der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen auch in Simbabwe (Tagesord- nungspunkt 15) Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag zu dieser späten Stunde mit Afrika befasst. Wir von der SPD-Fraktion haben den vorliegenden Antrag erarbeitet, in dem wir, also der Bundestag, – unsere Regierung, die Europäische Union, aber auch unsere Partnerstaaten im südlichen Afrika dazu auf- fordern, die Grundsätze der Entwicklungsgemein- schaft der Staaten im Südlichen Afrika, also der SADC, für rechtsstaatliche, freie und faire Wahlen zu unterstützen, – in dem wir mit Hochachtung und Respekt zur Kenntnis nehmen, dass die Wahlen im Jahr 2004 in Botswana, Namibia und Mosambik weitgehend unter Beachtung und Einhaltung dieser Wahlgrundsätze stattgefunden haben, was die Akzeptanz ihrer Ergebnisse durch die Bevölkerung in diesen Ländern, aber auch deren An- sehen in der Welt und die Bedeutung der SADC deut- lich erhöhte, – und in dem wir die Machthaber in Simbabwe auffor- dern, bei den anstehenden Wahlen am 31. März 2005 peinlich genau auf die Einhaltung dieser Grundsätze zu achten. Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, für die- sen Antrag alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zu gewinnen. Das erhöht die Bedeutung unserer Initia- tive. Es zeigt zugleich, dass der Deutsche Bundestag sich um die Belange in Afrika kümmert. In der Debatte des Deutschen Bundestages über Afrika vor rund einem Jahr hat unser leider viel zu früh verstorbener Kollege und Freund Hans Büttner, der die Parlamentariergruppe SADC-Staaten des Deutschen Bundestages und den Gesprächskreis Afrika der SPD- Bundestagsfraktion vor mir leitete, auf die geradezu schicksalhafte Verbindung zwischen Afrika und Europa hingewiesen. In jener Debatte warb er – und dann auch die Sprecherinnen und Sprecher der anderen Fraktionen, aber auch der Bundsregierung – eindringlich um Hilfe, um Unterstützung und Kooperation für die Menschen und Staaten Afrikas und betonte die besondere Verant- wortung gerade Europas aufgrund der kolonialen Ver- gangenheit. Hintergrund jener Verantwortung war das, was in der Öffentlichkeit unseres Landes, aber auch der Öffentlichkeit Europas das Bild Afrika prägte: Afrika, der „sterbende Kontinent“, der Kontinent der Katastro- phen, der Diktaturen und der Korruption, der Kontinent von Völkermord und Bürgerkriegen, Afrika, der Konti- nent, in dem gerade auch durch Hunger, Armut und Aids jeden Tag unzählige Menschen sterben. Diese Verantwortung besteht auch heute. Ganz ohne Zweifel. Europa und Afrika sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Darauf haben nicht nur wir hier im Bundestag, darauf haben auch Bundeskanzler Schröder, Bundespräsident Rau, Bundespräsident Köhler, aber durch Reden, Initiati- ven und politisches Handeln, beispielsweise im Rahmen von NEPAD, auch Bundesministerin Wieczorek-Zeul und ihre Afrika-Beauftragte, Frau Staatssekretärin Eid, immer wieder hingewiesen. Afrika steht im Fokus der Aufmerksamkeit des Außenministeriums, jetzt auch im 15612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Zentrum neuer Initiativen der künftigen EU-Präsident- schaft Großbritannien und der G 8. Dabei hat sich – und das lohnt sicherlich, hier deutlich hervorgehoben zu werden – unser Blick auf Afrika wei- ter geschärft und konzentriert: Wir sehen heute neben der Notwendigkeit zur Hilfe, Unterstützung und Koope- ration von außen gerade auch den entschlossenen Willen von immer mehr Engagierten und Aktiven in allen Be- reichen, auch von politisch verantwortlichen Politikern in Afrika selbst, – sich auf die eigene Kraft zu besinnen, – durch Änderungen im eigenen Land zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, von Wirtschafts- kraft und Zukunftssicherung beizutragen und damit der eigenen Bevölkerung Zukunft und Chancen zu garantieren, – durch Kooperation auf regionaler und gesamtafrikani- scher Ebene mehr Wirkung im Kampf um Frieden und Gerechtigkeit und gegen Hunger, Krankheiten und Elend zu erreichen. Diese Entwicklung, dieses neue Selbstbewusstsein, diese Entschlossenheit machen Mut und fordern unsere Kooperation und unsere Unterstützung in besonderer Weise. Die Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im Südli- chen Afrika, SADC, ist eine solche regionale Gemein- schaft, die sich neben der Förderung von Wirtschaft und Entwicklung eben auch und gerade die Förderung demo- kratisch-rechtsstaatlicher Strukturen und freier und fairer Wahlen zum Ziel gesetzt hat. Sie tut das aus dem glei- chen Antrieb heraus, aus dem auch wir diese Ziele teilen, aus der Erkenntnis nämlich, dass eine friedliche, eine ge- rechte und zukunftsfähige Gesellschaft beides braucht wie wir die Luft zum Atmen. Diese SADC-Gemeinschaft hat im vergangenen Au- gust ganz konkrete Grundsätze erarbeitet, die genau dar- legen, was alles zu freien und fairen Wahlen gehört: Das sind insbesondere – regelmäßige Wahlen, an denen alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gleichberechtigt teilnehmen können, ebenso wie – in der Vorbereitungsphase und in den Zeiten des Wahlkampfs faire und gleiche Bedingungen für Kan- didaten, Gruppen und Parteien, was sich gerade auch im Zugang zu den Medien zeigt, aber auch – ein fairer Wahlprozess selbst und die – Sicherstellung der ehrlichen Auszählung der abgege- benen Stimmen. Außerdem legen diese Grundsätze fest, dass die Wahlbeobachtungskommission SEOM der SADC-Orga- nisation bei Bedarf ein Mandat zur Wahlüberwachung bekommen soll, aufgrund dessen sie dann nach dem Maßstab der Grundsätze und der übrigen vertraglichen Grundlagen von SADC die Wahlen nicht nur beobachtet und prüft, sondern auch bewertet und der SADC-Ge- meinschaft darüber berichtet, ob Wahlvorbereitungszeit, Wahldurchführung und Wahlauszählung wirklich den Anforderungen von freien und fairen Wahlen genügen. Wie schon erwähnt, sind diese Wahlgrundsätze von allen, ich wiederhole, von allen Mitgliedstaaten von SADC beschlossen worden. Kein Land hat Vorbehalte angemeldet. Botswana, Mosambik, Namibia haben in ih- ren Wahlen im Herbst und Winter des letzten Jahres diese Grundsätze angewandt und – soweit dies gesagt werden kann – auch erfüllt. Das ist eine große Leistung und hat ganz ohne Zweifel dazu beigetragen, dass einer- seits die Bevölkerung selbst die Ergebnisse der Wahlen akzeptiert. Zum anderen haben diese freien und fairen Wahlen ebenfalls ganz ohne Zweifel viel zum wachsen- den Respekt vor diesen Staaten des südlichen Afrika in aller Welt beigetragen und den Wert ihrer Stimme in der Völkergemeinschaft erhöht. In den letzen Monaten hat Angola, ebenfalls Mit- gliedstaat von SADC, erklärt, seinen Wahlgesetzen die Wahlgrundsätze der SADC zugrunde zu legen. Auch das begrüßen wir. Nächster Prüfstein sind jedoch die Wahlen am 31. März 2005 in Simbabwe. Auch dieses wunderschöne Land mit seinen vielen tüchtigen Menschen, die jeden für sich einnehmen, der sie besucht, hat, wie wir alle wissen, seit Jahren unendlich viele Probleme. Dazu ge- hören große Schwierigkeiten im Innern, die, nicht zuletzt verursacht durch die Regierung und ihr nahe stehende Gruppen und Verbände, zur tiefen Spaltung der Gesell- schaft, zu Unterdrückung und Gewalt geführt haben. Auch Simbabwe hat im vergangenen August den Wahlgrundsätzen von SADC zugestimmt. Deshalb ist es nicht mehr als recht und billig, die Geltung dieser Grundsätze auch vor und während der kommenden Wah- len anzumahnen und auf ihre Einhaltung zu drängen. Das tun wir mit dem vorliegenden Antrag. Was wir jetzt, also schon in der Vorbereitungszeit der Wahlen, aus Simbabwe hören, muss allerding große Sor- gen bereiten: – Willkür der Polizei gegenüber Kandidatinnen und Kandidaten von Gruppen, die nicht zur Regierungs- partei gehören, – Behinderung ihrer Veranstaltungen bis hin zur Gewalt, Einschüchterung von Kandidaten und Sym- patisanten, – Behinderung des Zugangs zu staatlichen und anderen Medien, damit zugleich Beschneidung des Rechts der Wahlwerbung. Das sind nur einige der Klagen, die aus Simbabwe zu hören sind. Auch die Informationen über die Wahlbeobachtung und -überwachung stimmen uns sorgenvoll: – Da wird das SADC-Parlament, also das SADC-Fo- rum durch die simbabwische Regierung von der Wahlbeobachtung ausgeschlossen, weil der Bericht über die letzten Wahlen berechtigterweise kritisch ausgefallen ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15613 (A) (C) (B) (D) – Da werden von der simbabwischen Regierung nur ausgesuchte Länder und Organisationen zur Wahlbeo- bachtung eingeladen und das auch noch zu einem so späten Zeitpunkt, dass die Phase des Vorwahlkampfes mit Beeinträchtigungen, Gewalt und Einschüchterung nicht mehr überwacht werden kann. Das alles erfüllt uns mit großer Sorge. Sinn unseres Antrags und auch unseres heute wohl einstimmig zu fas- senden Bundestagsbeschlusses ist es, diese Sorge zum Ausdruck zu bringen und sie unseren Partnern in Afrika deutlich vorzutragen. In unserem Antrag fordern wir deshalb die Bundesre- gierung auf, mit unseren Partnern in Europa und Afrika für die Durchführung freier und fairer Wahlen einzutre- ten – auch noch in letzter Minute, also bis hin zum Schluss des Wahlgangs am 31. März. Wir wollen da- rüber gerade auch mit unseren Freunden in Südafrika re- den, also in dem stärksten und einflussreichsten Land der Region, das in den letzten Tagen mit unterschied- lichen Stellungnahmen Beobachtermissionen nach Sim- babwe geschickt hat: Die Verantwortlichkeit für demo- kratische, freie und faire Wahlen wiegt umso schwerer, als wir alle wissen, dass nur solche Wahlen darüber ent- scheiden können, wer in Simbabwe am gesellschaft- lichen Dialog über die Zukunft dieses wunderschönen Landes mit seinen begabten und tüchtigen Menschen be- teiligt sein kann. Dabei unterstützen wir alle Bemühun- gen, Beobachtermissionen in ausreichender Zahl nach Simbabwe zu entsenden. Ich denke, es ist wichtig, dass auch wir darüber hi- naus auf der uns gegebenen parlamentarischen Ebene jede Möglichkeit ergreifen, um auf die Notwendigkeit der Einhaltung der Grundsätze von SADC hinzuweisen. Wir werden das tun. Wir treten auch dafür ein, nach den Wahlen einen Pro- zess der Wahlbewertung in Gang zu setzen, der nicht al- lein die Beobachtungen und Bewertungen der von der simbabwischen Regierung ausgesuchten Missionen ein- bezieht, sondern gerade auch die im Lande tätigen Nichtregierungsorganisationen mit Verantwortlichen aus SADC-Staaten und der Europäischen Union an einen Tisch bringt, um zu klaren und belastbaren Ergebnissen zu kommen. Diese Bewertung wird dann ganz ohne Zweifel die Kooperation mit Simbabwe ebenso beein- flussen wie etwa die Frage von Sanktionen. Lassen Sie mich nochmals unterstreichen, was ich ein- gangs gesagt habe: Europa und Afrika sind aufeinander angewiesen. Kooperation, aber auch die gleichberech- tigte Auseinandersetzung um Probleme und Zukunftsfra- gen gehören dazu, die Entwicklung von Demokratie, freien und fairen Wahlen eingeschlossen. Das unterstrei- chen wir mit unserem Antrag. Ich freue mich über Ihre Zustimmung. Arnold Vaatz (CDU/CSU): Der heutige Tag steht ganz im Zeichen des Jobgipfels. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Deutsche Bundestag sich heute – wenn auch in kleiner Runde und zu später Stunde – auch mit der Situation in Simbabwe beschäftigt. Ich freue mich, dass es uns – wie bereits im Sommer letzten Jahres – wieder gelungen ist, kurzfristig einen ge- meinsamen Antrag zu Simbabwe in den Deutschen Bun- destag einzubringen. Um auf die bedrückenden Zustände in diesem kleinen Land aufmerksam zu machen, ist dies dringend erforderlich. Denn Simbabwe findet hierzu- lande keine Beachtung mehr, wie ich nach Sichtung der internationalen Pressespiegel der letzten Wochen traurig feststellen musste. Dabei stehen in diesem Land unmittelbar – und das ist ja auch der Anlass unseres Antrages – die Parlaments- wahlen vor der Tür. Robert Mugabe macht sich daran, am 31. März 2005 eine Zweidrittelmehrheit zu errei- chen. Dann ist für ihn der Weg frei, die Verfassung end- gültig auf sich zuzuschneidern. Um dieses Ziel zu errei- chen, ist ihm jedes Mittel recht. Bevor ich auf unseren konkreten Anlass – die Parla- mentswahlen und die Einhaltung der SADC-Wahlkrite- rien durch das Mugabe-Regime – eingehe, lassen Sie mich kurz einige Anmerkungen zur allgemeinen Situa- tion in Simbabwe machen; denn anders wird die diaboli- sche Strategie eines Herrn Mugabe leider nicht deutlich. Die wirtschaftliche Situation ist weiter verheerend. Dazu nur drei Zahlen zur Jahreswende 2004/05: Die In- flationsrate liegt bei 200 Prozent. Die Arbeitslosenquote bei 70 Prozent und 80 Prozent der simbabwischen Fami- lien leben an oder unter der Armutsgrenze. Die ver- meintliche Landreform ist außerhalb Simbabwes schein- bar überhaupt kein Thema mehr. Hier hat Robert Mugabe innerhalb kurzer Zeit – in nur vier Jahren – unumkehrbare Tatsachen geschaffen; Deshalb wohl auch der von der regierenden ZANU-PF gewählte – zynische – Begriff des „fast track“-Umsied- lungsprogrammes. Dahinter verbirgt sich – und so muss man das benennen – rassistisch motiviertes Handeln: Es ist ausdrückliche simbabwische Regierungspolitik, aus- schließlich weiße Farmer zu enteignen. Mit der Enteig- nung von 4 200 der 4 500 landwirtschaftlichen Betriebe sind diese Maßnahmen jetzt so gut wie abgeschlossen. Um sich überhaupt das Ausmaß dieser Aktion bewusst machen zu können, hier noch eine Zahl: Wir sprechen hier über 11,5 Millionen Hektar enteignetes Land. Und schließlich noch eine letzte Anmerkung zu die- sem Thema: Wie wir alle wissen, sind diese Güter – an- ders als die vermeintlich revolutionäre ZANU-PF immer propagiert hat – natürlich nicht dem simbabwischen Volk zugute gekommen. Auf Kosten des Volkes haben sich natürlich wieder Partei- und Regierungsfunktionäre bereichert. Dies hat übrigens eine von Mugabe einberu- fene Kommission zur Evaluierung der Landreform fest- gestellt. Natürlich ist dieser Bericht bis heute nicht ver- öffentlicht. Allein das Thema „Landreform“ zeigt, was George Orwell in seinem Roman „Animal Farm“ in be- drückender Weise dargestellt hat: Wenn kommunistische so genannte Befreiungsbewegungen an die Fleischtöpfe kommen, bleibt für das einfache Volk nicht einmal die Brosame übrig. In Simbabwe haben sich mit den Sorgen und Nöten in der Vergangenheit nur noch die so genannten Nichtregie- rungsorganisationen NGOs beschäftigt. Damit soll jetzt 15614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) mit dem so genannten „NGO Act 2004“ auch Schluss sein. Kernpunkt dieses Gesetzes ist, dass sich die Nicht- regierungsorganisationen jetzt staatlich registrieren las- sen müssen. Eine für die Fortsetzung der Arbeit notwen- dige Registrierung ist ausgeschlossen, sobald – ich zitiere wörtlich – „die Förderung und der Schutz von Menschenrechten und Fragen politischer Gouvernanz“ Gegenstand der Arbeit der Organisationen ist. Die Konsequenz ist offensichtlich: Die im Bereich der politischen Bildung tätigen Organisationen müssen das Land verlassen. Das Mugabe-Regime will nämlich auch weiterhin ungehindert schalten und walten. Wir müssen leider konstatieren, dass Mugabe weiter- hin fest im Sattel sitzt. Dies ermöglicht es ihm, wie die letzten Monate zeigen, seine Partei nach seinen Vorstel- lungen umzugruppieren. Bei näherer Betrachtung muss man leider feststellen, dass es sich um nichts weiter als klassische Verteilungskampfe in einer diktatorischen Einheitspartei handelt. Dies belegt die Berufung der dienstältesten Ministerin Joice Mujuru zur zweiten Vize- präsidentin. Dabei handelt es sich um eine Konzessions- entscheidung Mugabes an seinen verdienten politischen Weggefährten, den ehemaligen Armeechef Solomon Mujuru, der Ehemann der Ministerin ist. Allein diese Personalie verdeutlicht, dass von der Staatspartei ZANU-PF auch in Zukunft für das Land Simbabwe nichts zu erwarten sein wird. Lassen Sie mich jetzt auf unseren konkreten Anlass, die unmittelbar bevorstehenden Parlamentswahlen, ein- gehen. In diesen Zusammenhang möchte ich mich ausdrück- lich bei der mauritischen Regierung bedanken, die zur- zeit den Vorsitz der SADC-Länder – Entwicklungsge- meinschaft der Staaten im Südlichen Afrika – inne hat. Auf besonderes Drängen von Mauritius haben sich die SADC-Staaten im Sommer vergangenen Jahres auf ihrem Gipfeltreffen einstimmig auf die so genannten „SADC Principles and Guidelines governing democratic elections“ – kurz gesagt: die Mindeststandards für die Durchführung freier und fairer Wahlen geeinigt. Diese gilt es jetzt auch in Simbabwe durchzusetzen. Dabei – und das möchte ich hier ganz deutlich betonen – dürfen diese Maßstäbe nicht nur am Wahltag selbst an- gelegt werden. Das würde zu kurz greifen! Nein, ent- scheidend ist bereits die schon angelaufene Phase der Wahlvorbereitung. Hier meine ich insbesondere den Wahlkampf. Und das, was wir da aus Simbabwe mitge- teilt bekommen, lässt das Schlimmste befürchten. Wie sieht der Wahlkampf tatsächlich aus? Allein in den letzten Tagen wurden mehr als 100 Fälle von Men- schenrechtsverletzungen festgestellt, die direkt der Re- gierung beziehungsweise der ZANU-PF zuzurechnen sind. Die Bandbreite reicht von Nötigungen bis hin zu schweren Körperverletzungen des politischen Gegners. Auch vor Vergewaltigungen wird nicht zurückge- schreckt. Dass die Rechnung aufgeht, belegen Hilferufe der einzigen Oppositionspartei, des Movement for De- mocratic Change MDC: Teile des Landes sind für den MDC aufgrund des geschilderten Terrors zu so genann- ten „No-go-Areas“ geworden. Das heißt, hier kann die Opposition überhaupt keinen Wahlkampf führen, da sie sowie ihre Anhänger und Sympathisanten um Leib und Leben fürchten müssen. Die Einschüchterung der Opposition hat mit der In- haftierung des Oppositionspolitikers Roy Bennett unter fadenscheinigen Gründen einen weiteren Höhepunkt er- reicht. Wegen einer Rangelei im Parlament wurde Roy Bennett Ende letzten Jahres auf einen bloßen Parla- mentsbeschluss hin für ein Jahr in ein Arbeitslager weg- gesperrt. Über die Unverhältnismäßigkeit – glaube ich – brauchen wir hier nicht länger zu sprechen. Es liegt auf der Hand, dass mit dem Verschwindenlassen Roy Bennetts von der politischen Bühne ein unliebsamer Regimekritiker ausgeschlossen werden sollte. Dies ist dem Regime leider gelungen, auch wenn in dieser Wo- che ein simbabwisches Gericht entschieden hat, dass Roy Bennett „ebenso aus seiner Zelle heraus“ für die Parlamentswahlen kandidieren könne! An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei Herrn Bundestagspräsident Thierse für seinen Brief vom November 2004 an den simbabwischen Parlamentspräsi- denten bedanken. Dass seine Forderung nach Überprü- fung der Verhältnismäßigkeit von Roy Bennetts Inhaftie- rung leider nicht aufgenommen worden ist, belegt das gerade von mir erwähnte Urteil auf zynische Art und Weise. Dass Mugabe mit dem MDC im Grunde genommen Katz und Maus spielt, zeigt auch ein noch prominenterer Vorfall. Am 15. Oktober 2004 wurde der MDC-Partei- vorsitzende Morgan Tsvangirai vom höchsten Gericht vom Vorwurf des Landesverrates freigesprochen. Dieses in der internationalen Presse ganz überwiegend positiv, ja sogar fast euphorisch aufgenommene Urteil ist bei nä- herer Betrachtung so überraschend nicht. Der umgehend durch die SADC-Staaten und Europa gereiste Tsvangirai sollte der Weltöffentlichkeit ein demokratisches und rechtsstaatliches Simbabwe vorgaukeln. Was dabei völ- lig in den Hintergrund getreten ist, ist die Tatsache, dass gegen Morgan Tsvangirai noch ein weiteres Hochver- ratsverfahren läuft. Ich bin gespannt, – und darauf, liebe Kollegen, sollten wir achten –, was daraus nach den Wahlen wird! Auch die vom Mugabe-Regime unlängst durchge- führten Maßnahmen zur Organisation der Wahl lassen nichts Gutes erwarten: Kurz vor Weihnachten wurden sämtliche Wahlkreise neu zugeschnitten. Schon jetzt ist absehbar, dass dadurch der MDC mindestens drei Direktmandate verlieren wird. Wie schon bei den letzten Parlamentswahlen hat sich auch diesmal das Mugabe- Regime eine erhebliche Verfügungsmasse an Wähler- stimmen verschafft. In den von ihm kontrollierten Wählerlisten befinden sich nach Aussage des MDC 800 00 Verstorbene und 300 000 Doppelregistrierungen. Das entscheidende Kriterium aber ist, dass die nach den SADC-Richtlinien vorgesehene Einladung von Wahlbeobachtern nur – ja ich möchte das einmal so for- mulieren – sehr selektiv erfolgt ist: Weder das dafür an sich zuständige „SADC-Parlamentary Forum“ noch die Afrikanische Union haben eine Einladung zur Wahlbeo- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 15615 (A) (C) (B) (D) bachtung erhalten. Von der EU oder beispielsweise von den USA brauche ich hier gar nicht weiter zu sprechen. Stattdessen hat Mugabe aus der nicht afrikanischen Welt China, Russland und den Iran eingeladen. Ich denke, wir sind uns hier alle einig darin, dass freie und faire Wahlen nach den Wahlrichtlinien der SADC in Simbabwe nur stattfinden können, wenn eine ordentliche Wahlbeobachtung gewährleistet ist. Ich möchte heute am Vorabend der Parlamentswahlen noch kein abschließen- des Urteil fallen. Aber das von mir Geschilderte lässt das Schlimmste befürchten. Was können wir als Deutscher Bundestag mit unseren europäischen Partnern aus der Ferne zur Verbesserung der Lage dort im südlichen Afrika beitragen? Meines Er- achtens gibt es nur einen Weg: Wir müssen Südafrika an seine Rolle als Ankermacht im südlichen Afrika, das heißt an seine regionalpolitische Verantwortung für sei- nen Nachbarn Simbabwe, nicht nur erinnern, sondern dies vom südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki auch einfordern. Denn dieser verzichtet bisher auf jede öffentliche Kri- tik an dem Mugabe-Regime. Diese von Thabo Mbeki als „stille Diplomatie“ verkaufte Politik ist jedoch nicht auf- gegangen: Die von ihm propagierten Verhandlungen zwischen ZANU-PF und MDC sind nämlich längst ge- scheitert. Umso unverständlicher ist der jüngste Kom- mentar des südafrikanischen Präsidenten zu den simbab- wischen Parlamentswahlen. Es klingt wie Hohn, wenn er meint, dass es sich hierbei um freie Wahlen handeln würde und keinerlei Beschränkungen der Opposition zu registrieren seien. Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, sich kurz- fristig, – das heißt noch vor den Wahlen –, bei der süd- afrikanischen Regierung dafür einzusetzen, dass diese für die Einhaltung der SADC-Richtlinien in Simbabwe eintritt. Mehr ist gegenwärtig von dieser Stelle in realis- tischer Selbsteinschätzung leider tatsächlich nicht mög- lich. Aber ich denke, wir sind uns alle darüber einig: Heute haben wir hier im Deutschen Bundestag das Thema „Simbabwe“ aufgerufen, um auf die bevorstehenden Parlamentswahlen hinzuweisen, und ich bin mir sicher, wir werden sehr bald gemeinsam das Thema wieder er- örtern. Denn Robert Mugabe muss aufgezeigt werden, dass wir Simbabwe nicht aus den Augen verlieren. Nicht zuletzt sind wir das der demokratischen Opposition in Simbabwe schuldig. Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen): Auf unserer Ausschussreise in verschiedene Staaten im südlichen Afrika haben wir selbstverständlich die Situa- tion in Simbabwe bei allen Begegnungen explizit ange- sprochen. Unsere Gesprächspartner zeigten sich ent- täuscht und besorgt über die katastrophale politische und wirtschaftliche Entwicklung Simbabwes. Immerhin ge- hörte dieses Land früher zu den großen Hoffnungsträ- gern in Afrika. Die gewaltsamen Landbesetzungen sowie die illegalen Enteignungen und Vertreibungen von Farmern haben dazu beigetragen, dass die landwirtschaftliche Produk- tion weit gehend daniederliegt. Die Besetzer der Farmen sind nicht in der Lage, das fruchtbare Land ertragreich zu bestellen. Anstelle der weißen Farmer sind häufig Regie- rungsmitglieder und andere systemtreue Honoratioren getreten, von denen einige gleich mehrere große Farmen besitzen und Ländereien brach liegen lassen. Die gesamte wirtschaftliche Lage hat sich dramatisch verschlechtert. Die Situation der Bevölkerung ist zum Teil zum Verzweifeln. Die Grundversorgung ist längst nicht mehr gesichert. Viele hungern. Menschenrechts- verletzungen sind an der Tagesordnung. Von rechtsstaat- lichen Verhältnissen kann keine Rede mehr sein. Die Re- gierung bekämpft die politische Opposition mit Milizen, Militärkräften und Jugendgruppen, die gewalttätig nicht nur gegen den politischen Gegner vorgehen. Aber wir haben eben in unseren vielen Gesprächen auch erfahren müssen, dass unsere Sicht von der Bevöl- kerung im südlichen Afrika, besonders bei ärmeren Be- völkerungsschichten, keineswegs geteilt wird. Mugabe wird dort von sehr vielen weiterhin als Held der Befrei- ung vom Kolonialismus und der Durchsetzung der Un- abhängigkeit Afrikas geradezu gefeiert. Das gilt nicht nur in Simbabwe unter Druck der Regierung, sondern auch in vielen anderen Ländern der Region. Die Landreform und auch die Besetzungen werden ungeachtet der eingetretenen ökonomischen Katastrophe von vielen als im Prinzip richtig angesehen. Diese Ein- stellung ist für uns nur schwer verständlich. Aber sie ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Landreform und die häufig versprochene Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Armen nicht vorankommen. Die Lebens- verhältnisse der Bevölkerung der afrikanischen Staaten haben sich häufig nur wenig verbessert. Immer noch scheinen die Weißen, die wahren Herrn im Land, und die, denen der Reichtum zugute kommt. Die koloniale Vergangenheit bleibt wach. Das sind die Hintergründe, die eine politische Isola- tion des Präsidenten in Simbabwe und seines Regimes so schwer machen und verhindern. So hat die Afrikanische Union – AU – jüngst eine Re- solution gegen Simbabwe mit Mehrheit abgelehnt. Hinzu kommt, dass die Proteste der Industriestaaten we- gen Korruption, staatlicher Gewaltrepression, Folter und Mord in Simbabwe als wenig glaubhaft angesehen wer- den, wenn dieselben Staaten mit anderen Machthabern und Ländern beste Beziehungen in der Vergangenheit unterhalten hatten und auch noch unterhalten, in denen ähnliche Verhältnisse herrschen. In diesem Zusammenhang ist auch kritisch anzumer- ken, dass trotz aller Vorwürfe gegen das Regime Mu- gabe simbabwische Polizisten im Kosovo eingesetzt werden! Was ist nun zu tun? – Die bevorstehenden Wahlen in Simbabwe geben An- lass zu ernster Besorgnis, aber auch eine Möglichkeit, die Zustände in Simbabwe zu problematisieren und zu handeln. Berichte über die erhebliche und eskalierende 15616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 (A) (C) (B) (D) Gewalt gegen die Opposition, gegen die Regionen, in denen vorwiegend oppositionell gewählt wird, und in- zwischen auch innerhalb des Regierungslagers selbst weisen deutlich aus, dass von freien Wahlen nicht die Rede sein kann. Die Gewalt macht auch nicht Halt ge- genüber ausländischen Journalisten, wie zum Beispiel die „taz“ am 23. Februar berichten musste. Insofern ist es richtig, dass wir heute klar und in gro- ßer Gemeinsamkeit vom Deutschen Bundestag aus auf die Notwendigkeit hinweisen, die von den afrikanischen Staaten der SADC selbst formulierten und vertraglich vereinbarten demokratischen Standards für Wahlen ein- zuhalten, und dass wir Robert Mugabe deutlich sagen, wir nehmen nicht hin, dass diese Standards in keiner Weise bisher eingehalten werden. Wir stellen uns an die Seite der Opposition, wenn es schrieben. Wir sind uns alle einig in der Zielrichtung un- seres gemeinsamen Antrages. Wir müssen erkennen, dass sich die afrikanischen Staaten sehr schwer tun, einen anderen afrikanischen Staat zu kritisieren. Das kann nur kulturell und vielleicht aus einer gemeinsamen kolonialen Vergangenheit erklärt werden. Das macht die Sache aber nicht einfacher. Es er- schwert politisches Handeln in Afrika zum Wohle der Menschen. Wir müssen aber als Deutsche und Europäer immer wieder klar machen, dass die Lösung der afrika- nischen Probleme nur durch Afrikaner vorgenommen werden kann. Wir müssen an die Verantwortung der Staaten für die gesamte Region apellieren. Erster Adressat ist natürlich Simbabwe selbst. Aber es ist zu befürchten, dass hier Hopfen und Malz verloren ist; auch Sanktionen haben ja bisher keine diesbezügli- gilt, faire Chancen für freie Wahlen zu fordern. Wir unterstützen auch die Kräfte im Regierungslager, die für bald oder spätestens für die Zeit nach Mugabe de- mokratische Reformen und die Herstellung von Rechts- staatlichkeit wollen und sich schon heute häufig unter großem persönlichen Risiko dafür einsetzen. Und in die- sem Sinne stimmen wir dem Antrag voll und ganz zu. Aber ich sage in der längeren Perspektive auch, dass eine wirksame Abkehr der verheerenden Politik von Mu- gabe, gerade weil sie leider eben auch Unterstützung ge- nießt und deshalb weder umfassende noch „smarte“ Sanktionen hier greifen, nur erreicht werden kann, wenn in anderen Staaten Afrikas durch erfolgreiche Landrefor- men und Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Ar- men und Ärmsten sichtbare Alternativen entstehen, an denen die Massen im südlichen Afrika sich orientieren können. An solchen friedlichen, gewaltfreien und rechtsstaat- lichen Alternativen können und sollten wir mitwirken. Zum Beispiel im nahen Namibia. Dr. Rainer Stinner (FDP): Die Fakten in Simbabwe sind bekannt und von meinen Kollegen hinreichend be- che Verbesserung gebracht. Zweiter Adressat sind die einzelnen Staaten der SADC. Hier ist Südafrika das Schlüsselland. Aber auch die anderen Länder sind in der Verpflichtung, selbst gesetzte Maßstäbe einzuhalten. Drittens ist die SADC als Organisation gefordert. Ge- nauso wie wir von Europa verlangen, die Probleme aufdem Balkan aktiv zu lösen, genauso wie wir von der ara- bischen Welt einen aktiveren Beitrag zur Lösung des Nahost-Problems erwarten, genauso wie wir die Afrika- nische Union auffordern, das Morden in Darfur zu unter- binden, genauso müssen wir die SADC als Organisation auffordern, hart und unmissverständlich das Mitglieds- land Simbabwe zur Einhaltung der gemeinsamen Regeln zu bewegen. Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der SADC. Es stehen weitere Wahlen an und die Durchset- zungsfähigkeit der SADC steht auf dem Spiel. Das müs- sen wir diesen Ländern deutlich sagen. Wir Europäer sind zu einem Beitrag zur Verbesserung der Situation auf diesem geplagten Kontinent bereit. Aber dieser Beitrag ist nur vertretbar, wenn wir den deutlichen Willen und das deutliche Handeln dieser Länder erkennen können, selbst ihren Beitrag zu leisten. Dazu gehört auch die un- missverständliche Kritik an Simbabwe, auch wenn das manchem noch so schwer fallen mag. 166. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1516600000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, sich zu erheben.


(Die Anwesenden erheben sich)

Im Alter von 80 Jahren ist am 7. März 2005 Walter

Arendt gestorben. Er war von 1961 bis 1980 Mitglied
des Deutschen Bundestages und von 1961 bis 1969 zu-
gleich Abgeordneter im Europaparlament. Von 1969 bis
1976 amtierte er als Minister für Arbeit und Sozialord-
nung in den Kabinetten Brandt und Schmidt.

Walter Arendt war seiner Heimat im Ruhrgebiet eng
verbunden. Wie schon sein Vater ergriff er den Beruf des
Bergmanns. Nach seiner Zeit als Soldat und der an-
schließenden Kriegsgefangenschaft studierte er an der
Akademie für Arbeit in Frankfurt am Main sowie an der
Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Er enga-
gierte sich in der IG Bergbau, deren Vorsitz er 1964
übernahm. In der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-
lands nahm Walter Arendt zahlreiche Funktionen wahr.
Als einer der führenden Energie- und Sozialexperten hat
er sich stets für den Erhalt der deutschen Montanindus-

Rede
trie engagiert.
Sowohl als Parlamentarier wie später auch als Minis-

ter blieb Walter Arendt seinen Wurzeln und seinen Wer-
ten verpflichtet. Es war ihm ein Anliegen, insbesondere
die Interessen von Bergleuten und sozial Benachteiligten
zu vertreten. In seiner Zeit als Mitglied der Bundesregie-
rung reformierte er das Betriebsverfassungsgesetz,
führte kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen ein und
verbesserte die soziale Absicherung von Kriegsopfern.
Walter Arendt hat das Gesicht unserer sozialen Markt-
wirtschaft entscheidend mitgeprägt.

Sie haben sich zu Ehren Walter Arendts erhoben; ich
danke Ihnen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktlis
ten Punkte zu erweitern:
tzung

den 17. März 2005

.00 Uhr

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergeb-
nisse der Sitzung der Bund/Länder-Kommission für Bil-
dungsplanung und Forschungsförderung am 14. März
2005 – Auswirkungen auf Wissenschaft und Forschung

(siehe 165. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 24)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen

(Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weite-

rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: „Meer für
Morgen“ – Impulse für die maritime Verbundwirtschaft
– Drucksache 15/5099 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 25)

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses


(6. Ausschuss)

Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streit-
sachen vor dem Bundesverfassungsgericht
– Drucksache 15/5114 –

text
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor
dem Bundesverfassungsgericht – 1 BvR 357/05
– Drucksache 15/5113 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)


ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: DNA-Reihentests auf sichere Rechts-
grundlage stellen
– Drucksache 15/4695 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

ZP 5 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuord-
des Gentechnikrechts
cksache 15/4834 –
verbundene
te aufgeführ-

SPD
brach
nung
– Dru


(Erste Beratung 158. Sitzung)







(A) (C)



(B) (D)


Präsident Wolfgang Thierse

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

(10. Ausschuss)

– Drucksache 15/5133 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß
Helmut Heiderich
Ulrike Höfken
Dr. Christel Happach-Kasan

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abg. Helmut
Heiderich, Peter H. Carstensen (Nordstrand), Marlene
Mortler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU: Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollstän-
digen
– Drucksachen 15/4828, 15/5134 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß
Helmut Heiderich
Ulrike Höfken
Dr. Christel Happach-Kasan

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.

Darüber hinaus sollen folgende Tagesordnungspunkte
umgestellt werden: Tagesordnungspunkt 8 – Menschen-
rechte – nach Punkt 4, Tagesordnungspunkt 10 – Arznei-
mittelgesetz – nach Punkt 7, Tagesordnungspunkt 5 – Än-
derung des Einführungsgesetzes zum BGB – nach Punkt 9
sowie die Gesetzentwürfe unter Tagesordnungspunkt 20
nach Punkt 21.

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Sodann möchte ich nachträglich dem Kollegen
Volker Kröning, der am 15. März seinen 60. Geburtstag
feierte, die besten Wünsche des Hauses aussprechen.


(Beifall)

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundeskanzler
Aus Verantwortung für unser Land: Deutsch-
lands Kräfte stärken

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1516600100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vor fast genau zwei Jahren habe ich im Deut-
schen Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Die
Agenda 2010 ist die Antwort auf zwei große Herausfor-
derungen, denen unsere Gesellschaft wie viele andere
Gesellschaften in Europa ausgesetzt ist: zum einen der
Herausforderung, die mit der Globalisierung unserer
Wirtschaft und damit der Globalisierung des Wirtschaf-
tens zusammenhängt, und zum anderen einem radikal
veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft.

Mir liegt daran, dass klar wird: Die Agenda 2010 ist
ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen So-
zialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt
unserer Gesellschaft zu sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie ist ein notwendiges Instrument; denn der Zusammen-
halt unserer Gesellschaft lässt sich nur dann sichern,
wenn wir zu Veränderungen in der Politik bereit sind.
Die Veränderung schafft die Möglichkeit des Bewah-
rens; denn das, was über Generationen in Deutschland
von einer jetzt älter gewordenen Generation aufgebaut
worden ist, hat es verdient, bewahrt zu werden.

Aber genauso klar muss sein – angesichts der letzten
Debatten muss das immer wieder deutlich gemacht
werden –: Der soziale Zusammenhalt unserer Gesell-
schaft ist kein Luxus, den man in schwieriger werdenden
Zeiten beiseite schaffen könnte.


(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Solidarität in einer Gesellschaft – das Einstehen der
Starken für die Schwachen, der Gesunden für die Kran-
ken und der Jungen für die Alten – ist gewiss eine Tu-
gend. Sie ist aber zugleich auch Voraussetzung des öko-
nomischen Erfolgs in den entwickelten Gesellschaften
Europas.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft
infrage stellt, wer soziale Kohäsion als überflüssiges
Zierwerk in guten Zeiten betrachtet, der stellt eben nicht
nur wichtige Errungenschaften von Politik und Gesell-
schaft in unserem Land infrage, nein, er ist vielmehr da-
bei, den inneren Frieden zu zerstören. Der innere Frieden
ist nicht zuletzt ein ökonomisches Datum, eine Voraus-
setzung auch dafür, erfolgreich und effizient zu produ-
zieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Agenda 2010 ist gewiss ein anspruchsvolles Re-
formprogramm, das – der Name bringt das schon zum
Ausdruck – weit über die gegenwärtige Legislatur-
periode hinausreicht. Die Agenda 2010 will Wirklichkeit
gestalten und sie will verändern. Sie ist deshalb mit
einem Reformbegriff verbunden, der sich eben nicht in
Gesetzesbeschlüssen – ob im Bundestag oder Bundes-
rat – erschöpft, sondern bei dem es darum geht, die
Wirklichkeit in Deutschland zu verändern. Deshalb ist es
so wichtig, dass als Teil der Reformen, die mit dem Be-
griff „Agenda 2010“ bezeichnet werden, nicht zuletzt
die Umsetzung dieser Reformen gemeint ist und keines-
wegs nur das Beschließen von entsprechenden Gesetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Der Gesetzesbeschluss – so begriffen bei der Gesund-

heitsreform, bei der Rentenreform, vor allen Dingen aber
bei der Arbeitsmarktreform – ist die Voraussetzung für
den Reformprozess; er ist der Anfang, aber keineswegs
dessen Ende.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich
darauf eingehe, welche Wirkungen die Agenda 2010
entfaltet hat, ist es schlicht unumgänglich, Bemerkungen
zur Lage auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Es ist gar
keine Frage, dass die Zahlen, mit denen wir konfrontiert
worden sind, uns alle bedrücken müssen. Mehr als
5 Millionen Arbeitslose, die im Februar gezählt worden
sind, sind die ernsthafteste Herausforderung, vor der un-
sere Gesellschaft steht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber klar muss auch sein: Gerade wenn man das als
ernsthafte Herausforderung begreift – und das tun wir
alle –, dann ist es erforderlich, aufklärerisch tätig zu wer-
den, was denn diese Zahlen im Einzelnen begründet. Wir
haben steigende Zahlen der Erwerbstätigen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir rechnen 2005 mit mehr als 300 000 zusätzlichen Er-
werbstätigen. 2004 waren es 140 000. Ich erwähne das
nicht, um die andere Zahl zu relativieren, die ich genannt
habe. Ich sage aber, dass der Reformprozess, den wir in
Gang gesetzt haben und der in etlichen Bereichen gerade
zwei Monate alt ist, gleichwohl zu greifen beginnt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es bleibt dabei: Niemand darf über die Zahl von über
5 Millionen gezählten Arbeitslosen hinwegsehen oder
sie sogar zu bagatellisieren versuchen. Es ist wichtig,
den Menschen in Deutschland, die nicht zuletzt wegen
dieser Zahl Verunsicherung spüren, zu erklären, wie sie
denn zustande kommt. Allein im Januar dieses Jahres
sind 360 000 Menschen zusätzlich in die Arbeitslosen-
statistik gekommen. Das waren nun keineswegs neue
Arbeitslose, sondern es waren Menschen, die bislang in
der Sozialhilfestatistik geführt worden sind. Es waren
Menschen, die – obwohl erwerbsfähig – keinerlei Ange-
bote an Erwerbsarbeit bekommen haben. In den großen
Städten Deutschlands ist die Zahl der erwerbsfähigen
Sozialhilfeempfänger – das ist eine Zahl des Statisti-
schen Bundesamtes, nicht meine – im Durchschnitt um
sage und schreibe 95 Prozent reduziert worden. Dies
sind Menschen, die keine Arbeit hatten und die man in
die Sozialhilfe gedrängt hatte, ohne ihnen eine Perspek-
tive zu geben. Durch die Zusammenlegung von Arbeits-
losenhilfe und Sozialhilfe gelingt es uns zunächst, deut-
lich zu machen, dass wir sie als Menschen begreifen, die
nicht vergessen sind,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


als Menschen begreifen, die wir brauchen und denen wir
über Qualifizierung und Angebote eine Perspektive für
ein Leben ohne staatliche Unterstützung geben wollen.
Ich weiß, dass das ein ungemein schwieriger Prozess
sein wird. Aber es ist einer, der schon aus dem Grund
unternommen werden muss, weil die Hälfte dieser Men-
schen Jugendliche unter 25 Jahre sind. Es kann doch
nicht richtig sein, dass wir sie einfach in der Sozialhilfe
abgedrängt liegen lassen, zwar notdürftig versorgt, aber
ohne Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben. Ich
will das jedenfalls nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben mit den Reformen, die gemeinhin als
„Hartz-Reformen“ bezeichnet werden, den ernst ge-
meinten und ernsthaften Versuch gemacht, diese und an-
dere Menschen in die Arbeitsmärkte einzugliedern. Wir
setzen auf das Prinzip des Förderns, aber auch des For-
derns. Diejenigen, um die es geht, werden Angebote er-
halten – es sind nicht immer solche, die sie erwarten –,
das zu tun, zu dem sie in der Lage sind, um für sich und
ihre Familien ein Einkommen und Auskommen durch
Arbeit zu schaffen. Wir haben deutlich gemacht, dass zu-
mutbare Arbeit in Deutschland auch von denjenigen ge-
leistet werden muss, die sich in Deutschland legal auf-
halten. Das werden wir durchsetzen. Die Hartz-
Reformen, die wir eingeleitet haben, sind zu genau die-
sem Zweck gemacht worden.

In diesem Zusammenhang ein Wort zur Bundes-
agentur für Arbeit: Die frühere Bundesanstalt für Ar-
beit mit mehr als 90 000 Beschäftigten war eine Organi-
sation, bei der 10 Prozent derer, die dort tätig gewesen
sind, mit Vermittlung in den Arbeitsmarkt beschäftigt
waren, 90 Prozent der dort Tätigen dagegen mit der Ver-
waltung von Arbeitslosigkeit. Das war kein Zustand, der
aufrechterhalten werden konnte. Die Zusammenlegung
der beiden sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und So-
zialhilfe hat den Zweck, diesen Zustand zu beenden.
Man kann ihn nur beenden, wenn sich die Art und
Weise, wie diese Agentur arbeitet, von Grund auf ändert,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


wenn Vermittlung und nicht Betreuung im Vordergrund
steht.

Wir sind vorangekommen. Im Januar mussten Hun-
derttausende von Anträgen auf Arbeitslosengeld II ge-
prüft und beschieden werden. Erinnern wir uns: Manch
einer hat geglaubt, dass das von denen, die in der Agen-
tur beschäftigt sind, nicht zu leisten sei. Aber es ist doch
geleistet worden. Ich finde, an dieser Stelle ist auch ein
Wort des Dankes wegen des Arbeitseinsatzes dieser Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter angebracht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden erreichen, dass die Zusammenarbeit zwi-
schen Kommunen und den Agenturen vor Ort besser als
in der Vergangenheit wird. Aber auch das ist eine Um-
stellung, die bewältigt werden muss. Wir werden und
wir müssen erreichen, dass sich die Motivation der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – es sind über 90 000 –






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

ändert, dass sie wegkommen von Betreuung und hin-
kommen zur aktiven Vermittlung derer, die ihnen anver-
traut sind.

In diesem Zusammenhang Folgendes: Es ist leicht,
über diejenigen zu lästern, die diese Arbeit zu tun haben.
Ich kenne nicht viele Unternehmen großen Zuschnitts,
die eine so gewaltige Umstellung dessen, was sie Kern-
geschäft nennen, in dieser Zeit mit diesen Erfolgen er-
reicht haben. Ich wiederhole: Ich kenne nicht viele Un-
ternehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer über den Arbeitsmarkt spricht, muss über Aus-
bildung in Deutschland reden. Wir haben in diesem
Haus vielfach darüber diskutiert und auch gestritten. Wir
sind schließlich dazu gekommen, zu sagen: Es ist nicht
zuletzt die Verantwortung der Wirtschaft, für den eige-
nen Nachwuchs zu sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lasst mich deutlich sagen: Wer nicht ausbildet, sägt sich
ökonomisch den Ast ab, auf dem er morgen zu sitzen
hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin froh darüber, dass es durch eine Kraftanstren-
gung, und zwar eine gemeinsame von Regierung und
Wirtschaft, gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsver-
träge auch in den Betrieben deutlich zu steigern. Ich bin
froh darüber, dass es uns gelungen ist, allen, die ausbil-
dungsfähig sind, auch ein Angebot zu machen. Dieser
Prozess muss weitergehen. Die Aufgabe, Ausbildungs-
plätze zu schaffen, ist nicht zu Ende seit dem letzten
Jahr; sie beginnt in diesem Jahr, und zwar heute und
morgen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin all denen, die sich auf der Seite der Wirtschaft
wie auf der Seite der Politik, insbesondere dem Präsi-
denten des DIHK und – lassen Sie mich das so sagen –
Franz Müntefering,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


die Mühe gemacht haben, dankbar für den Erfolg, der in
diesem Pakt steckt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieser Erfolg ist erzielt worden und er ist gewiss nicht
durch Sie von der Opposition zustande gekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist ein Erfolg und wir müssen daran anknüpfen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir haben im Zusammenhang mit der Agenda dann
darüber zu reden, was denn aus den Reformen im
Gesundheitssektor geworden ist. Wenn man sich das
einmal anschaut, dann stellt man doch fest, dass das, was
wir übrigens gemeinsam gemacht haben – das wird ja
gelegentlich gerne vergessen; jedenfalls dann, wenn es
eng wird –,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


positive Wirkungen entfaltet hat. Damit komme ich zu
den Krankenkassen, denn wir müssen darüber reden, wie
wir es hinbekommen, dass die richtigen Konsequenzen
gezogen werden. In 2003 haben die Krankenkassen ei-
nen Verlust von nahezu 3 Milliarden Euro gemacht, in
2004 – das steht inzwischen fest – einen Gewinn von
4 Milliarden Euro. Ich sage hier ohne Wenn und Aber:
Dieser Gewinn von 4 Milliarden Euro muss zu großen
Teilen in Form von Beitragssenkungen und damit in
Form von Senkung der Lohnzusatzkosten weitergegeben
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Er muss weitergegeben werden in Form von Beitrags-
senkungen und nicht – das sage ich bewusst, obwohl ich
zu Neid nun wirklich unfähig bin – in Form einer Erhö-
hung der Gehälter der Kassenvorstände.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wird, meine Damen und Herren – das ist auch ein
gemeinsamer Beschluss; ich hoffe, wir vertreten ihn
auch gemeinsam –, zum 1. Juli dieses Jahres zur Um-
finanzierung bei Krankengeld und Zahnersatz kommen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war nicht gemeinsam! Das habt ihr alleine gemacht!)


– Ich höre schon wieder: „Das habt ihr alleine ge-
macht!“.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja!)

Das ist aber Teil der Gesundheitsreform, meine Damen
und Herren, und wird dazu führen, dass die Betriebe er-
neut 4,5 Milliarden Euro an Lohnzusatzkosten weniger
zahlen müssen. Ich hoffe, das wird dort auch bemerkt
und zu Einstellungen führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist ja interessant, dass dann, wenn, wie in diesem
Fall, die eine Forderung erfüllt wurde, sogleich die
nächste nachgeschoben wird. Das kann doch nicht sein.
Die Unternehmen haben, wenn ich in diesem Bereich al-
les zusammennehme, fast 10 Milliarden Euro an poten-
ziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt
zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen,
auch und gerade der mittelständischen. Die Folge davon
dürfen doch nicht Verlagerungsandrohungen sein, son-
dern die Antwort darauf muss sein, dass mehr Einstel-
lungen vorgenommen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Zum Arbeitsmarkt gehört auch die Diskussion, die in

den letzten Tagen sehr intensiv in der Presse – das habe
ich sehr wohl mitbekommen – um die Frage geführt
wurde, wie es sich mit dem Kündigungsschutz verhält.
Ich finde, meine Damen und Herren, man sollte sich ein-
mal klar machen, was auf diesem Sektor geleistet wor-
den ist und welche Wirkungen das hat, jedenfalls haben
sollte. Wie ist denn die Lage? In Betrieben unter zehn
Mitarbeitern werden diejenigen, die ab Januar 2004 ein-
gestellt wurden, in Bezug auf die entsprechenden Kündi-
gungsschutzregelungen nicht mitgezählt. Schauen wir
uns jetzt einmal an, welche Möglichkeiten es auf dem
deutschen Arbeitsmarkt gibt. Es wird ja immer gesagt, er
sei kaum flexibel. Das ist vielleicht auch interessant für
diejenigen, die uns zuhören bzw. zuschauen, das wirk-
lich einmal aufgearbeitet zu bekommen:

Unabhängig vom Alter der Person kann jedes Unter-
nehmen jeden zwei Jahre lang befristet einstellen.

Wenn es sich um einen Existenzgründer handelt – es
wird ja zu Recht viel darüber geredet –, dann sind Ein-
stellungen mit einer Befristung von bis zu vier Jahren
möglich. Das heißt, Existenzgründer können jeden vier
Jahre lang befristet einstellen, ohne dass es für die Be-
treffenden irgendeine Form von Kündigungsschutz gäbe.

Schließlich zur Situation der älteren Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer, die uns ja alle besonders be-
wegt: Für Personen ab 50 Jahren existiert so gut wie kein
Kündigungsschutz, denn für die ersten zwei Jahre be-
steht die Möglichkeit, sie befristet einzustellen. Für Per-
sonen ab dem 52. Lebensjahr gibt es keine gesetzlichen
Regelungen mehr in Bezug auf befristete Einstellung.
Sie können also unabhängig von den Regelungen für be-
fristete Arbeitsverhältnisse jederzeit eingestellt und ent-
lassen werden, da ein Kündigungsschutz für diese Perso-
nengruppe nicht mehr existiert.

Meine Damen und Herren, das sollte eigentlich dazu
führen, dass das Gerede darüber, es habe keinen Sinn,
einen älteren Arbeitnehmer einzustellen, weil man bei
einem schwächeren Betriebsergebnis ihn nicht entlassen
kann, nun endlich aufhört. Hier ist ein Popanz aufgebaut
worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will in dem Zusammenhang eines deutlich ma-
chen: Wer geglaubt hätte – wir haben ja alle erwartet,
dass es so kommt –, dass die Lockerung des Kündi-
gungsschutzes im eben dargestellten Sinne bei den älte-
ren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei denen
über 50, zu einer massiven Einstellungswelle in den Be-
trieben führte, der sieht sich getäuscht. Das muss ich lei-
der sagen.

Wir haben also in dem Bereich keinen Kündigungs-
schutz mehr. Trotzdem liegt die Beschäftigtenquote bei
den älteren Arbeitnehmern bei nur sage und schreibe
40 Prozent. Dabei geht es um die, die über 55 sind. Ich
füge hinzu, meine Damen und Herren: Welche Vergeu-
dung von Wissen, von Erfahrung, von Fähigkeiten, auch
von Kreativität wird da volkswirtschaftlich betrieben!
Das können wir auf Dauer doch nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich wäre ja sehr dankbar, wenn angesichts dieser
Lage, beim Kündigungsschutz mit gleichem Nachdruck
und mit den gleichen großen Schlagzeilen darauf hinge-
wiesen würde, dass jetzt nicht nur die Möglichkeit be-
steht, sondern dass es die Pflicht von Unternehmen ist,
auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht zu verzichten, sondern sie in den Produktionspro-
zess einzubeziehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das zweite große Thema, das mit der Diskussion um
die angeblich mangelnde Flexibilität auf dem Arbeits-
markt immer zusammenhängt, ist die Frage der betrieb-
lichen Bündnisse. Ich würde raten, einmal einen Blick
in die Wirklichkeit zu werfen und nicht ständig neue
ideologische Popanze aufzubauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Wirklichkeit in Deutschland – übrigens keineswegs
nur bei den großen Unternehmen – ist doch so, dass die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerk-
schaften und ihre Betriebsräte sehr wohl in der Lage
sind, betriebliche Bündnisse zu schließen, wenn es die
Notwendigkeit dazu gibt, um ihre Arbeitsplätze zu erhal-
ten. Sie sind zum Verzicht immer noch bereit gewesen.
Ich würde mir wünschen, die gleiche patriotische Ein-
stellung, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer haben, wäre auf der anderen Seite auch gegeben.


(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Übrigens funktionieren die betrieblichen Bündnisse
keineswegs nur, wenn es darum geht, die Arbeitsplätze
in bestehenden Betrieben zu retten. Nein, wer nicht mit
Scheuklappen durch die Gegend läuft, der kann sehr
wohl mitbekommen, wie zum Beispiel im Osten unseres
Landes durch betriebliche Bündnisse Ansiedlungs-
erfolge erreicht worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich nenne sie Ihnen gleich. Als es um die Frage ging, wo
BMW investiert, ob in Tschechien, in der Slowakei oder
in Deutschland, ist ein betriebliches Bündnis über Ar-
beitszeit- und Entgeltbedingungen geschlossen worden,
das die Ansiedlung in Deutschland überhaupt erst mög-
lich gemacht hat. Das zeigt doch, dass es funktioniert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich könnte mit der gleichen Berechtigung Porsche nen-
nen und auch andere Automobilfirmen, um die es geht,
zum Beispiel Opel in Eisenach. Aber ich will eine An-
siedlungsentscheidung nennen, die jüngst nur zustande
gekommen ist und zustande kommen konnte, weil die
Gewerkschaft flexibel genug war – es handelt sich übri-
gens um Verdi –, ein solches betriebliches Bündnis abzu-
schließen. Ich meine die Ansiedlung von DHL in Leip-
zig, ein interessanter Vorgang.






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir

bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren
gesagt haben – gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts
bewegt –, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinrei-
chende Öffnungsklauseln gibt. Meine Bitte ist: Lasst uns
auf die Einsichtsfähigkeit der Beschäftigten, ihrer Be-
triebsräte, ihrer Gewerkschaften setzen, die diese Ein-
sichtsfähigkeit nachgewiesen haben, und lasst uns – es
ist ja üblich geworden, sich auf Montesquieu zu bezie-
hen –


(Heiterkeit bei der SPD)

auch in diesem Fall sagen: Ein Gesetz, das nicht notwen-
dig ist, unterbleibt besser.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die
Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexi-
bilisierung in den Betrieben weiterzugehen. Das ge-
schieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht
kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen
Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage
stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die
Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und
in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Som-
mer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich
wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen,
aber Sie kennen sie alle. Deswegen denke ich, dass wir
weiter auf die Bereitschaft zur Flexibilität, die bereits
nachgewiesen worden ist, setzen sollten; die Zahl der
Beispiele ließe sich vermehren.

Teil der Agenda war auch, die Lohnnebenkosten da-
durch zu begrenzen, dass die Rentenversicherungsbei-
träge stabil bleiben. Entgegen allen Unkenrufen haben
wir das geleistet, meine Damen und Herren. Das war nur
durch eine Reihe von Reformschritten möglich, die
schon wieder in Vergessenheit geraten sind; ich weiß
nicht, warum. Es ist doch wohl so, dass die Beiträge nur
deshalb stabil gehalten werden konnten, weil wir die Ka-
pitaldeckung neben die Umlagefinanzierung gestellt ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


20 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich eine
Zusatzversorgung – meistens eine betriebliche – ge-
schaffen; 20 Millionen Menschen haben eine Kapitalde-
ckung aufgebaut und damit das Verhältnis zwischen der
solidarischen Umlagefinanzierung und der eigenen Vor-
sorge zugunsten der eigenen Vorsorge verändert.

Meine Damen und Herren, durch die Reformen hat
sich die Rentenbezugsdauer verändert, weil wir es ge-
schafft haben, beim realen Renteneintrittsalter ein Jahr
draufzulegen. Das reicht nicht. Auch hier gilt: Es ist viel-
leicht notwendig, über die Frage nachzudenken, ob das
nominale Renteneintrittsalter erhöht werden muss; aber
viel wichtiger als diese Diskussion ist die Anstrengung
zur Erhöhung des realen Renteneintrittsalters. Diese An-
strengung muss fortgesetzt werden, übrigens auch aus
ökonomischen Gründen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Lohnzusatzkosten für die Rente konnten übrigens
nur stabil gehalten werden, weil wir massiv Geld über
die – viel gescholtene – Ökosteuer in die Rentenkasse
geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen warne ich diejenigen, die das oberflächlich
kritisieren; eine Veränderung hätte nämlich negative Fol-
gen für die Stabilität der Beiträge und damit für die Sta-
bilität der Lohnzusatzkosten.

Ich füge hinzu: Wir sind es doch gewesen, die dafür
gesorgt haben, dass das Prinzip der nachgelagerten
Besteuerung durchgesetzt wurde, ein Prinzip, bei dem
es darum geht, dass diejenigen, die aktiv beschäftigt
sind, in Bezug auf ihre Beiträge deutlich entlastet wer-
den. Das wird so sein, meine Damen und Herren, und
das wird Auswirkungen auf die Stabilität der Beiträge
und der Lohnzusatzkosten haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer fair ist, wer die Sorgen, die es angesichts der Ar-
beitslosenzahlen ohne Zweifel gibt, ernst nimmt und wer
auf der anderen Seite kein Zerrbild von Deutschland
zeichnen will, der muss darauf hinweisen, dass diese Re-
formschritte – im Übrigen international höchst beachtet
und gewürdigt – positive Erfolge gezeigt haben. Es ist
keineswegs so, dass wir ökonomisch gesehen in einem
Jammertal lebten. Im Gegenteil: Die Auftragseingänge
im verarbeitenden Gewerbe sinken nicht, sie steigen. Im
Januar hat der Export gegenüber dem Vorjahr um
9,5 Prozent zugenommen, und das in einer Situation, in
der wir durch die Euro/Dollar-Relation wahrlich nicht
bevorzugt werden, in einer Situation, in der international
inzwischen eingesehen wird, dass in den letzten Jahren
unter den G-8-Staaten allein Deutschland real mehr An-
teil auf den internationalen Märkten gewonnen hat. Das
ist doch ein Zeichen von Kraft, die in der Volkswirt-
schaft steckt, und nicht von Schwäche.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir würden einen riesigen Fehler machen, wenn wir
es zuließen, dass ein Zerrbild der Lage Deutschlands ge-
zeichnet würde. Wir haben Probleme – keine Frage.
Aber wir haben auch die Kraft – das ist nachgewiesen –,
mit diesen Problemen fertig zu werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das, was sich
mit der Agenda verbindet, wirklich Wirkungen zeitigt
und dass wir gut daran tun, unbeirrt und mit aller Kraft,
über die wir verfügen, diese Reformen Wirklichkeit wer-
den zu lassen und die Arbeit der Umsetzung anzugehen.
Genau das tun wir.






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Gleichwohl muss ich sagen: Es ist richtig, dass wir

auch darüber nachdenken, welche zusätzlichen Impulse
wir – wenn es geht, gemeinsam – geben können. Die in-
ternationale Situation, was den Wettbewerb angeht, hat
sich ungeachtet der Kraft der deutschen Wirtschaft nicht
verbessert, nicht nur wegen der Erweiterung der Euro-
päischen Union, aber auch wegen der Erweiterung der
Europäischen Union. Das führt naturgemäß dazu, dass
wir uns zu überlegen haben, wie wir auf dem Gebiet der
Steuerpolitik weiter vorgehen.

Bevor ich dazu Bemerkungen und Vorschläge mache,
will ich auf eines hinweisen. Wie ist denn die Steuerde-
batte verlaufen? Durch die drei Stufen der Steuerreform
sind den Unternehmen und den privaten Haushalten
56 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt worden.
Man muss das angesichts der ständigen Forderungen im-
mer wieder sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben den Spitzensteuersatz, der bei unserem
Amtsantritt 1998 bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent ge-
senkt. Wir haben eine uralte Forderung des Mittelstan-
des, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die
Unternehmensteuer der Personengesellschaften – das ist
bekanntlich die Einkommensteuer –, erfüllt. Großes Lob
haben wir dafür nicht bekommen, obwohl wir es ver-
dient gehabt hätten. Obwohl die Sache richtig war, hat es
nie ein Lob gegeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist eine enorme Erleichterung gerade für den Mittel-
stand, dass die Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer
angerechnet wird.

Wir haben im Übrigen – das sage ich an die Adresse
der Skeptiker – auch kräftig am unteren Ende gearbeitet.
Die Reduzierung des Eingangsteuersatzes von 25,9 auf
jetzt 15 Prozent ist von uns – ich darf sagen: von euch –
geleistet worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Diesen Erfolg sollte man sich nicht kaputtmachen las-
sen. Die Folge dessen ist, dass Deutschland in diesem
Bereich eine Steuerquote hat, die im unteren Drittel des
europäischen Geleitzuges liegt.

Wir haben indessen – das wird den einen oder ande-
ren schmerzen – ein Problem bei den Kapitalgesell-
schaften. Das ist das Problem relativ hoher nomineller
Steuersätze. Damit verbunden haben wir ein anderes
Problem: Wegen der hohen nominellen Steuersätze wird
immer wieder der Versuch unternommen, die eigentlich
fälligen Steuern durch exorbitante Verrechnungspreise
auf der einen Seite und Gewinnverlagerungen auf der
anderen Seite nicht zahlen zu müssen. Wenn die Diffe-
renz zu groß ist, hat das zwei Folgen: Es wird versucht,
sich bei jeder sich ergebenden Chance vor der Bezah-
lung der Steuern zu drücken. Das wiederum führt zu
mangelnden Einnahmen bei den öffentlichen Haushal-
ten.

Ich schlage deswegen vor, dass wir uns miteinander
– wir brauchen den Bundesrat dazu – darauf einigen, den
Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 19 Prozent zu
senken. Es muss glasklar sein, dass es dabei darum geht,
die Finanzierung so zu gestalten, dass das Steuerauf-
kommen durch das Schließen von Steuerschlupflöchern
nicht kleiner, sondern größer wird, die Finanzierung also
aufkommensneutral gemacht wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will andeuten, in welche Richtung meiner Meinung
nach eine solche Finanzierung gehen sollte. Ich glaube,
es ist angemessen, zwischen der Belastung der Unter-
nehmen und derer zu unterscheiden, denen die Unter-
nehmen gehören. Mit der Einführung des Halbeinkünf-
teverfahrens haben wir das getan: Man kann die
Besteuerung der Aktionäre im Rahmen des Halbeinkünf-
teverfahrens verändern, also die Steuerbelastung der Ak-
tionäre vergrößern und dafür die Steuerbelastung der
Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb ste-
hen, kleiner machen. Ich glaube, es ist auch angemessen,
auf das zurückzukommen, was wir im Jahre 2003 mit-
einander diskutiert haben, nämlich die Frage, ob die
Mindestbesteuerung nicht zur Senkung der Unterneh-
mensteuersätze – ich sage es ausdrücklich – erhöht wer-
den kann. Schließlich glaube ich, dass wir beim Abbau
von Steuersubventionen, den wir nicht so weit geschafft
haben, wie es objektiv notwendig ist, endlich Ernst ma-
chen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass wir bei den
Steuersparmodellen die Verlustverrechnungen deutlich
beschränken und auf diese Weise Raum für das schaffen,
was aus Wettbewerbsgründen für unsere Unternehmen
notwendig ist – was wir also machen müssen, was wir
aber im Interesse der Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte aufkommensneutral gestalten müssen. An-
ders, meine Damen und Herren, wird es nicht gehen,
aber so könnte es gehen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Bitte ist: Machen Sie mit bei dieser so wichtigen
Operation.

Ich glaube, dass man darüber hinaus das verändern
muss, was ich eingangs meiner Ausführungen zur Steu-
erpolitik erwähnt habe, nämlich die Anrechnung der
Gewerbesteuer. Als wir diese Operation seinerzeit
durchgeführt haben, haben wir gesagt: Mit der Operation
erreichen wir, dass wir die Gewerbesteuer bis zu einem
Hebesatz von 390 Punkten voll anrechnungsfähig ma-
chen. Es gibt jetzt eine interessante Entwicklung: In dem
Moment, in dem man den Spitzensteuersatz senkt, ent-
stehen Folgen negativer Art für die Anrechnung der Ge-
werbesteuer auf die Einkommensteuer. Der Satz liegt
jetzt bei ungefähr 340 Punkten. Ich finde, im Interesse






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

der Förderung des Mittelstandes sollten wir den alten
Zustand wiederherstellen. Das geht, wenn man den An-
rechnungsfaktor der Gewerbesteuer von jetzt 1,8 Prozent
auf 2 Prozent erhöht. Ich bin für eine solche Maßnahme
und hoffe auf tätige Mitarbeit im Bundesrat, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schließlich geht es mir um eine Frage, die im Bundes-
rat gelegentlich schon diskutiert worden ist und hinsicht-
lich deren ich glaube, dass man endlich Nägel mit Köp-
fen machen muss. Wir reden ja sehr intensiv über
Neugründungen und über die Frage, wie wir Neugrün-
dungen von Betrieben erleichtern können. Das ist auch
richtig so. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir
diejenigen erhalten können, die es schon gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In den nächsten Jahren wird es eine große Anzahl von
Betriebsübergängen – man nennt sie auch Erbschaf-
ten – geben. Ich beziehe mich – damit dies völlig klar
ist – nicht auf private Erbschaften, sondern auf die Über-
gänge von Betrieben, insbesondere von kleinen und
mittleren.

Ich bin dafür – ich weiß, Herr Ministerpräsident, dass
auch Bayern dafür ist –, dass wir das Modell umsetzen,
über das diskutiert worden ist, nämlich bei einem Be-
triebsübergang jedes Jahr 10 Prozent der an sich fälligen
Erbschaftsteuer abzuziehen, wenn dieser Betrieb erhal-
ten wird. Ich weiß, dass sowohl in Bayern als auch in
Nordrhein-Westfalen, meine Herren Ministerpräsiden-
ten, darüber diskutiert worden ist. Ich finde, das kann
und soll man machen. Ich weiß, dass die betroffenen
Kollegen in den Ländern dafür geradestehen müssen.
Denn die Steuern, die da anfallen, sind Steuern der Län-
der.


(Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP)

– Die Maßnahme ist absolut sinnvoll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung wird einen solchen Gesetzes-
vorschlag unterstützen und, wenn Sie uns bitten, auch
selber einbringen. Aber klar ist natürlich, dass es dann
im Bundesrat kein Gewürge geben darf, sondern dass
Sie sicherzustellen haben, dass das auch läuft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn es geht ja nicht, solche Gesetze im Bundesrat ein-
zubringen und sie später abzulehnen. Soweit ich weiß,
hat die Staatsregierung das nach dem Motto getan: Wir
bringen ein, wenn die Ablehnung gesichert ist. Das kann
ja nicht der Fall sein.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie uns also diese Maßnahme, auf die der Mittel-
stand in Deutschland wartet, bitte schön auch wirklich
machen!

Wir schlagen zusätzlich vor, dass wir die Mittel-
standsbank des Bundes in den Stand versetzen, innovati-
ven Mittelständlern für die Förderung von Innovationen
Kredite in Höhe von 2 Prozent unter dem Marktzins zu
gewähren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das, glaube ich, wäre ein Paket zur Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit, das sofort auf den Weg gebracht
werden könnte, ohne dass man auf etwas verzichtet, ein
Paket, das wir ohnehin machen müssen und zu dem der
Sachverständigenrat gebeten worden ist, Vorschläge zu
machen.

Wir haben in der Tat das Problem, dass wir in einem
vereinigten Europa außerordentlich unterschiedliche
Steuersätze – ich rede über die direkten Steuern – und
außerordentlich unterschiedliche Bemessungsgrund-
lagen haben. Wir arbeiten sehr daran – das ist schwer
genug; das ist übrigens nicht nur auf die neuen Mitglie-
der bezogen; es gibt auch ältere Mitglieder, die da
Schwierigkeiten machen –, eine gemeinsame Bemes-
sungsgrundlage für die direkten Steuern zu schaffen. An-
gesichts der Entscheidungsprozesse in Europa ist das
erstens nicht leicht und zweitens wird es dauern. Das
liegt nicht an uns. Aber wenn ich mir einige andere Län-
der anschaue, dann weiß ich, was da an Arbeit bevor-
steht. Ich sage es noch einmal: Das ist keineswegs nur
auf die neuen Mitglieder bezogen, die ab 1. Mai letzten
Jahres dabei sind. Auch große ältere Mitgliedstaaten
– ich denke an Inseln und Ähnliches – haben da ein er-
hebliches Verweigerungspotenzial; das muss man ein-
fach so sehen.

Ich bin dafür, dass man dies einbezieht und dass man
den Sachverständigenrat auf dieser Grundlage bittet,
möglichst rasch – ich hoffe, bis zum Herbst dieses
Jahres – Konkretes dazu vorzulegen, wozu der Sachver-
ständigenrat schon einen Vorschlag gemacht hat, näm-
lich wie man auf der Basis gemeinsamer Bemessungs-
grundlagen zu einer rechtsformneutralen Besteuerung
der Unternehmen kommen kann. Das ist ein wichtiger
Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Fachleute nennen das Dual Income, also die Tren-
nung bei der Steuer zwischen betrieblicher und privater
Sphäre ohne Ansehung der Rechtsform des Unterneh-
mens. Daran wird gearbeitet. Diese Vorschläge sollen bis
Ende oder besser bis Herbst dieses Jahres vorliegen.

Wir werden dann miteinander darüber reden müssen,
wie wir diese umsetzen. Dabei ist eines zu berücksichti-
gen: Wenn man sich das vorstellt, erkennt man, dass man
in der Besteuerung zu bestimmten Sätzen kommen wird.
Es kann sein, dass die kleinen und mittleren Unterneh-
men, wenn man bestimmte Sätze vorsieht, dann unter






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Umständen höher besteuert werden, als das gegenwärtig
der Fall ist. Das wäre falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen wird man sehr genau betrachten müssen, um
was es dabei geht. Der Sachverständigenrat ist gebeten
worden, ein Sondergutachten vorzulegen; dies wird er
sicherlich auch tun.

Meine Bitte ist, diese Dinge rasch in Angriff zu neh-
men. Alle meine Vorschläge verbauen nicht den Weg in
eine grundsätzlich erneuerte Unternehmensbesteuerung
nach dem skizzierten Muster. Wir sollten uns darauf ver-
ständigen, sie jetzt zu realisieren.

Lassen Sie mich noch eine Bemerkung daran an-
knüpfen, meine Damen und Herren: Wenn wir dies mit-
einander tun – angesichts der Situation der öffentlichen
Haushalte auf allen Ebenen wird es eine gewaltige Kraft-
anstrengung sein –, dann erwarte ich, dass nicht gleich
die nächste Forderung nachgeschoben wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn die Politik einen Rahmen geschaffen haben wird,
der wirklich auskömmlich ist, dann sollte endlich das
ständige Gerede von der Verlagerung von Betriebsstätten
und Arbeitsplätzen aufhören und in Deutschland inves-
tiert werden. Diese Erwartung richte ich an die deutsche
Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der zweite Bereich, über den wir uns verständigen
müssen, betrifft die kurzfristige Verstärkung der
Investitionen. Die langfristigen strukturellen Grundla-
gen sind durch die Reform-Agenda angelegt; aber wir
müssen kurzfristig etwas tun, meine Damen und Herren.
Ich will jetzt nicht in alle Einzelheiten gehen.


(Lachen bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Nun warten Sie ab; wie Sie gemerkt haben, erwähne
ich genügend Konkretisierungen.

Wir müssen schneller zu Existenzgründungen kom-
men, als es gegenwärtig der Fall ist. Um nur ein Beispiel
zu nennen: Mit einer Novelle des GmbH-Gesetzes kön-
nen wir zu einer substanziellen Absenkung des für die
Gründung notwendigen Mindestkapitals kommen. Wir
werden ein elektronisches Handelsregister einführen, da-
mit Neugründungen binnen Tagen realisiert werden kön-
nen und nicht Monate brauchen. Dieser Punkt hat sehr
viel mit Bürokratieabbau zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Des Weiteren müssen wir jede Anstrengung unterneh-
men, um bei der Verkehrsinfrastruktur mehr als bis-
lang vorgesehen zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Deshalb werden wir jährlich 500 Millionen Euro zusätz-
lich im Haushalt mobilisieren, um ein Zweimilliarden-
programm für die nächsten vier Jahre aufzulegen, das
die Verkehrsinfrastruktur verbessert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem Bereich nutzen wir nicht alle Möglichkei-
ten, um auch privates Geld zu mobilisieren. Deshalb
halte ich es für wichtig, zu prüfen, ob es möglich ist,
durch Finanzierungen über private Gesellschaften nach
österreichischem Vorbild zu einer Verstetigung der Infra-
strukturinvestitionen zu kommen.


(Beifall bei der SPD)

Wir werden mit dem von den Fraktionen vorbereite-

ten Beschleunigungsgesetz versuchen, im Bereich der
Public Private Partnership privates Kapital in Milliar-
denhöhe zu mobilisieren,


(Beifall bei der SPD)

um konkrete Projekte wie die A 1 in Nordrhein-West-
falen und die A 4 in Thüringen zusammen mit der Wirt-
schaft schneller umzusetzen, als es bei knappen öffentli-
chen Mitteln möglich wäre.

Wir werden ein Planvereinfachungsgesetz vorlegen,
das hilft, diese Investitionen schneller zu realisieren, als
es gegenwärtig der Fall ist. Dies werden wir nicht auf
einen Teil unseres Landes beschränken und es auch auf
Investitionen in Stromnetze ausdehnen, die wir in der
nächsten Zeit dringend brauchen und die ebenfalls zügi-
ger ausgebaut werden müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, auf
die sich die Koalitionsfraktionen unter Mithilfe des
einen und anderen geeinigt haben, werden wir mehr
Rechtssicherheit für die Energieversorger erreichen.
Wir werden erreichen – das ist von den Energieversor-
gern mitgeteilt worden –, dass bis zum Jahre 2010 sage
und schreibe 20 Milliarden Euro in neue Kraftwerke, in
die Ertüchtigung alter Kraftwerke und in die Netze in-
vestiert werden. Das ist eine Entwicklung, die ich für
außerordentlich positiv ebenso wie für außerordentlich
notwendig halte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nach
meiner Meinung wichtig ist und über den – auch zu
Recht – viel gestritten worden ist. Ich meine die Frage:
Wie geht es mit der Grünen Gentechnik weiter? Wir
werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen, das zu-
sammen mit dem ersten Gesetz einen vernünftigen
Rechtsrahmen für Investitionen in diesem Bereich dar-
stellt.

Ich weiß, meine Damen und Herren, dass in diesem
Gesetz bezogen auf die Haftungsfragen nicht alles so ist,
wie sich das die Wirtschaft, die investieren soll und will,
vorgestellt hat. Viele haben gesagt: Die Haftung sollen






(A) (C)



(B)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

die öffentlichen Hände übernehmen. Aber ist das wirk-
lich der richtige Weg? Können wir bei allem, was von
der Wirtschaft neu begonnen wird, die Risiken wirklich
so verteilen oder ist es nicht sinnvoll, zu sagen: Wir wol-
len einen vernünftigen Rahmen setzen; wir erwarten
aber auch, dass ihr auf der Basis dieser gesetzlichen Re-
gelungen zu Fonds kommt, die die Haftung unter euch
regeln?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mein Eindruck ist jedenfalls, dass manchmal merkwür-
dig argumentiert wird, wenn man einerseits alles und je-
des dem Staat überlassen will, jedenfalls dann, wenn
man selbst betroffen ist, andererseits aber immer über
Staatsfreiheit und Staatsferne redet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass mit beiden Gesetzesvorhaben ein fai-
rer Ausgleich und Planungsregelungen geschaffen wor-
den sind, die Investitionen ermöglichen. Ich weiß, dass
ein großes deutsches Unternehmen demnächst Ausbrin-
gungen machen wird. Ich bin im Übrigen bereit – wir ha-
ben das schon im Bundesrat angekündigt –, den gesetzli-
chen Rahmen zu setzen und die Aktionen auf der Basis
dieses gesetzlichen Rahmens auch wirklich zu gestalten
und nach zwei Jahren zu überprüfen. Wir werden sehen,
ob wir in diesem Bereich unter dem europäischen Ge-
sichtspunkt zu Veränderungen kommen müssen oder
nicht. Vor einem sollten wir uns aber hüten, nämlich da-
vor, die Zurückhaltung im gesamten Bereich der Gen-
technik – es geht übrigens auch um Rote und Weiße
Gentechnik – einseitig zu verteilen.

Ich erinnere an die Debatten zum therapeutischen
Klonen hier im Deutschen Bundestag, wo ich quer durch
alle Fraktionen des Deutschen Bundestages – ich sage
das mit allem Respekt – ein Maß an Zurückhaltung er-
lebt habe, das ich jedenfalls nicht für richtig halten
konnte. Ich will das nur so sagen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da sind wir einer Meinung! Ich teile Ihre Auffassung!)


– Ich weiß, Herr Gerhardt, dass wir da einer Meinung
sind. Es ist auch nicht schlimm, wenn auch wir einmal
einer Meinung sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will das hier nur sehr deutlich sagen, damit nicht der
Eindruck entsteht, die Sensibilität in diesem Bereich
– um es freundschaftlich zu sagen – sei nur in der Mitte
des Hohen Hauses vorhanden, also nur bei den Grünen,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig! Ganz wichtig!)


und die anderen seien nur darauf aus, das wirtschaftlich
Vernünftige zu tun.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das musste jetzt einmal gesagt werden!)

Ich denke, wir wollen eine vernünftige Balance fin-
den. Mit den Gentechnikgesetzen I und II ist sie fürs
Erste gefunden. Also lassen Sie uns nicht Debatten von
gestern führen, sondern darauf setzen, dass jetzt die Aus-
bringung geschieht und wir in diesem Bereich weiter-
kommen. Wir werden dann sehen, ob wir nach zwei Jah-
ren zu Veränderungen des gesetzlichen Rahmens
kommen müssen oder nicht. Jedenfalls sollte begonnen
werden. Ich denke, das ist die Aufgabe, die vor uns liegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden im Übrigen – weil ich beim Thema
Investitionen bin – dafür sorgen, dass das CO2-Gebäu-desanierungsprogramm bis 2007 auf dem jetzigen Ni-
veau – das sind insgesamt 720 Millionen Euro, die nach
bisherigen Erfahrungen Investitionen in Höhe von etwa
5 Milliarden Euro auslösen – weitergeführt werden
kann. Das ist durchfinanziert und das kann hier gesche-
hen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen
und vor allen Dingen der Handwerksbetriebe geht es um
den Erhalt von immerhin 60 000 Arbeitsplätzen und
– wo möglich – um die Neuschaffung weiterer Arbeits-
plätze. Das ist in der Situation, in der wir uns befinden,
wahrlich nichts, was auf die leichte Schulter genommen
werden könnte.

Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Be-
merkungen zu dem machen, zu welchen neuen Impulsen
es vor dem Hintergrund der Diskussion über die Agenda
2010 und der Aufgaben der Bundesagentur auf dem Ar-
beitsmarkt nach meiner Auffassung kommen muss.

Ich glaube, dass diejenigen, die da seinerzeit im Ver-
mittlungsausschuss besonders tätig waren, inzwischen
eingesehen haben, dass wir die Hinzuverdienstmög-
lichkeiten von Langzeitarbeitslosen noch einmal über-
prüfen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir hatten seinerzeit Vorschläge gemacht. Ich will übri-
gens sagen: Ich gehe sehr respektvoll mit den Gegenvor-
schlägen um. Auch sie enthalten diskussionswürdige
Überlegungen. Das kann man nicht bestreiten. Denn wir
müssen der Gefahr widerstehen, dass wir über Transfer-
leistungen einerseits und Hinzuverdienstmöglichkeiten
andererseits dafür sorgen, dass Menschen zu lange in
diesen Beschäftigungsverhältnissen bleiben. Das ist ein
wichtiger Gesichtspunkt, den diejenigen eingebracht ha-
ben, die damals skeptisch waren, und den man nicht mit
leichter Hand wegwischen darf. Ich glaube, es lässt sich
ein vernünftiger Mittelweg finden. Wir sollten gemein-
sam daran arbeiten. Denn auch da brauchen wir eine Zu-
stimmung des Bundesrates, wenn wir das verändern
wollen – wofür ich bin.

Den entscheidenden Punkt werden wir in der nächs-
ten Zeit bei der Stärkung der Vermittlungsaktivitäten
– zunächst für die unter 25-Jährigen – leisten müssen.

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen: Diejenigen, die unter das SGB II fallen – das
sind diejenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen –,
haben einen Rechtsanspruch entweder auf einen Ausbil-
dungsplatz, auf eine Maßnahme der Qualifizierung oder
auf einen Arbeitsplatz. Wenn wir bei den Langzeit-
arbeitslosen mit aller Kraft beginnen, können wir es
schaffen, diesen Rechtsanspruch zu realisieren. Wir ha-
ben dafür etwa 7 Milliarden Euro in der Bundesagentur
zur Verfügung. Wir sollten dieses Bemühen auf diejeni-
gen ausdehnen, die unter das SGB III fallen, die also Ar-
beitslosengeld I beziehen oder keine Leistungen bekom-
men, weil sie noch bei den Eltern sind und diese
Leistungen aus diesem Sicherungssystem bekommen.

Mir geht es darum – ich bin mir mit dem Wirtschafts-
und Arbeitsminister völlig einig –, dass wir die Kräfte
der Bundesagentur auf zwei Bereiche konzentrieren.
Zum Ersten müssen wir es schaffen, den Jungen eine
Perspektive zu geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist übrigens auch aus demographischen Gründen
notwendig. Wenn wir es nicht schaffen, die mehr als
600 000 jungen Leute unter 25 Jahren aus der Perspek-
tivlosigkeit herauszuholen, dann werden wir das bitter
bereuen, weil uns in kürzester Zeit die Arbeitskräfte feh-
len werden, die wir brauchen, um weiter Wachstum ge-
nerieren zu können. Das ist der Zusammenhang. Es wäre
auch eine ökonomische Katastrophe, diese Leute in der
Anonymität zu lassen und ihnen keine Perspektive zu
geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Zweiten müssen wir uns auf die älteren Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer – auf die über 55- oder
über 58-Jährigen – konzentrieren, speziell im Osten.
Auch hier müssen wir die Vermittlungstätigkeiten ver-
stärken. Wir werden das tun. Wir müssen auch mit denen
zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft Zusatzbeschäf-
tigung bereitstellen können und sollen. Wir stellen uns
zum Beispiel vor, 250 Millionen Euro zu mobilisieren,
um in Bereichen, die besonders gut sind, mehr zu tun.
Formen des Wettbewerbsdenkens wie Best Practice sind,
glaube ich, auch in diesem Bereich angemessen und ver-
nünftig und sollten ausgebaut werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mich mit der Frage der befristeten Beschäf-
tigung auseinander gesetzt. Gelegentlich wird über Fle-
xibilität auf dem Arbeitsmarkt diskutiert, ohne wirklich
zu den Punkten zu kommen. Es gibt einen Punkt, wo ich
selber meine, dass wir bei der Befristung etwas tun müs-
sen: Wir müssen die befristete Beschäftigung erleich-
tern, in dem wir das absolute Verbot der Vorbeschäfti-
gung aufheben. Ich glaube, diese Entwicklung ist richtig
und vernünftig.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)


Ich plädiere dafür, dieses Verbot auf zwei Jahre zu be-
schränken, damit Kettenarbeitsverträge nicht unbegrenzt
möglich sind.

Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusam-
menhang – auch das betrifft den Arbeitsmarkt – auf et-
was hinweisen, was uns allen Sorgen macht, nämlich die
in letzter Zeit evident gewordene Umgehung der Verein-
barungen, die wir anlässlich der Erweiterung der Euro-
päischen Union getroffen haben, was die Schutzfristen
für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Umgehung
der Entsenderichtlinie angeht. Im Fleischerhandwerk
und zunehmend auch im Baunebengewerbe – bei den
Fliesenlegern, aber auch in anderen Bereichen – haben
wir den Tatbestand, dass Sicherungsvorschriften für die
deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch
Flucht in Scheinselbstständigkeit und Ähnliches umgan-
gen werden und damit unserer Volkswirtschaft schwers-
ter Schaden zugefügt wird,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


übrigens auch den betroffenen ausländischen Arbeitneh-
mern, die nicht menschenwürdig beschäftigt werden.
Wir müssen dazu kommen – auch hier braucht es die Zu-
sammenarbeit von Bund und Ländern –, dass wir mit
dem Aufbau von Taskforces, wie das so schön heißt, un-
nachsichtig alle legalen Möglichkeiten nutzen, um die-
sem Treiben Einhalt zu gebieten. Wir brauchen nicht nur
Recht und Ordnung im Inneren, wir brauchen auch
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt; auch dort
müssen wir sie herstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sa-
gen zu einer Diskussion über ein europäisches Vorhaben,
das nicht nur in Deutschland die Menschen bewegt, son-
dern auch in unseren Nachbarländern: Ich meine die
Dienstleistungsrichtlinie. Klar ist zunächst: Die Fehl-
entwicklungen, die ich eben skizziert habe, haben mit
der Dienstleistungsrichtlinie nichts zu tun: weil sie noch
nicht gilt. Und ganz klar ist auch: So wie Herr
Bolkestein, der ehemalige EU-Kommissar, sie sich vor-
gestellt hat, wird sie nicht in Kraft treten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin mir darüber mit dem französischen Präsidenten
völlig einig – mit anderen im Übrigen auch –: Wir kön-
nen nicht zulassen, dass es über die Dienstleistungsfrei-
heit, für die man im Prinzip durchaus sein sollte, zu
Sozialdumping in Deutschland kommt, dass Sicherheits-
standards, die wir aus guten Gründen für unsere Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer aufgebaut haben, miss-
achtet werden, und wir können nicht zulassen, dass die
freien Wohlfahrtsverbände und diejenigen, die die Pflege
von Alten und Kranken verantworten, in die Situation






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

gebracht werden, dass sie nicht mehr mitkönnen, weil sie
kaputtkonkurriert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das kann nicht Sinn der Dienstleistungsfreiheit in
Europa sein und das wird es mit uns auch nicht geben.
Ich bin frohen Mutes, dass man das sowohl im Europäi-
schen Parlament als auch in der Europäischen Kommis-
sion noch einsehen wird.

Meine Damen und Herren, ich will mich über das hi-
naus einem weiteren Thema widmen: Das ist die Frage,
wie wir mit dem umgehen, was wir in Zukunft einerseits
im Bildungssektor und andererseits im Bereich von
Forschung und Entwicklung machen müssen. Ich
glaube, wir finden sehr schnell eine Übereinstimmung in
diesem Hohen Hause – ich hoffe, auch in der deutschen
Öffentlichkeit – darüber, dass das Wohl und Wehe der
deutschen Volkswirtschaft, die Chance, in Deutschland
Wohlstand zu erhalten und, wo immer es geht, zu meh-
ren, von unserer Fähigkeit abhängt, Geld zu mobilisie-
ren, um in die Zukunft zu investieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen weg von Vergangenheitssubventionen, hin
zu Zukunftsinvestitionen. Wenn man sich die Situation
in Europa anschaut, stellt man fest, dass Deutschland,
was die Forschungs- und Entwicklungsausgaben angeht,
besser ist als der Durchschnitt, besser ist als die großen
Industrienationen, mit denen wir in erster Linie zu kon-
kurrieren haben, aber deutlich schlechter als zum Bei-
spiel die Skandinavier. Es ist völlig klar: Wenn wir oben
bleiben wollen, wenn wir Spitze bleiben wollen in der
Weltwirtschaft, dann müssen wir mehr in Forschung und
Entwicklung investieren. Und wir müssen es jetzt tun –
wir können es nicht auf die lange Bank schieben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb sage ich: Wer über Subventionsabbau redet, der
kann, wenn er ernst genommen werden will, nicht da-
rüber hinwegsehen, dass er zur Förderung von For-
schung und Entwicklung die Eigenheimzulage herge-
ben muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das musste ja kommen!)


Und kommen Sie mir jetzt nicht mit „Damit finanzieren
wir eine große Steuerreform!“. Im ersten Jahr würden
die Einsparungen bei gerade einmal 300 Millionen Euro
liegen; damit wäre das wirklich schwierig. Ich sage: Das
ist eine Subvention, durch deren Streichung in Zukunft
zwischen 6 und 8 Milliarden Euro mobilisiert werden
können. Das einzig Vernünftige, was man tun kann, ist,
diese Mittel zu nehmen und sie samt und sonders in For-
schung und Entwicklung auf der Bundesebene einerseits
und in Bildungsinvestitionen auf der Landesebene ande-
rerseits zu stecken.


(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb muss das Gewürge im Vermittlungsausschuss
aufhören. Die Mittel für die Eigenheimzulage müssen
ausschließlich für Forschung und Entwicklung sowie für
Investitionen in Bildung eingesetzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang sage ich in aller Klarheit:
Ich halte es wirklich für höchst bedenklich, wie mit den
4 Milliarden Euro verfahren wird, die wir für die Ganz-
tagsbetreuung zur Verfügung stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ein Skandal ist das!)


Ich halte das für unverantwortlich, und zwar aus folgen-
dem Grund: Investitionen in diesem Bereich – in Betreu-
ung – sind objektiv notwendig zur Förderung der Kinder,
die in den Familien das Maß an Förderung, das an sich
erforderlich ist, nicht erfahren. Es gibt viele Gründe da-
für, die man leider immer wieder feststellen muss. Wer
über PISA redet – das ist bedauerlicherweise ja fast
schon wieder vergessen –,


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Vielleicht bei der SPD vergessen! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist überhaupt nicht vergessen!)


der muss als Erstes darüber sprechen, wie wir es schaf-
fen, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Zuge-
hörigkeit eine Lebenschance zu geben. Das läuft über
Bildung. Wenn es nicht anders geht, dann läuft das eben
über Bildung und Betreuung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Einer der größten Fehler, den wir machen könnten – ich
hoffe, das werden die Ökonomen zunehmend begrei-
fen –, wäre, nicht zu erkennen, dass wir ohne Investi-
tionen in Betreuung volkswirtschaftlich in ungeheure
Schwierigkeiten kämen, weil wir dadurch das Potenzial
von Frauen und somit auch das der deutschen Wirtschaft
nicht zureichend nutzen könnten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Investitionen in Ganztagsbetreuung sind nicht nur
eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit – das sind sie
auch –, sie sind vor allen Dingen auch eine Frage der
blanken ökonomischen Vernunft. Niemand in den Be-
trieben darf glauben, dass er das Arbeitskräftepotenzial,
das wir schon in dieser Dekade brauchen, allein über
eine gesteuerte Zuwanderung, für die ich bin, realisieren
kann. Niemand darf das glauben. Das würde die Integra-
tionsfähigkeit unserer Gesellschaft überstrapazieren. Es
bleibt also dabei: Sowohl aus Gerechtigkeitsgründen als
auch aus Gründen der ökonomischen Vernunft müssen
wir und müssen auch die Betriebe in Betreuung investie-
ren, weil dieses Potenzial sonst nicht genutzt werden
kann. Das wäre schädlich für unsere Volkswirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Im Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit der

Kommunen habe ich heute in der „Financial Times
Deutschland“ – ich bitte die anderen um Entschuldi-
gung – eine interessante Zahl zur Entwicklung der
Gewerbesteuer gelesen, die ja den Kommunen zusteht.
Sie beträgt inzwischen mehr als 28 Milliarden Euro und
damit 4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Man
hat mir aufgeschrieben, dass das Nachkriegsrekord ist
und im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von
18 Prozent bedeutet.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Nun habe ich eine Bitte an die Herren Ministerpräsiden-
ten: Reden Sie mit Ihren Innenministern darüber, dass
wenigstens ein Teil dieses erheblichen Zuwachses von
den Kommunen in notwendige Investitionen gebracht
und nicht nur kameralistisch behandelt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist im Übrigen nicht alles. Wenn 95 Prozent der
bisherigen Sozialhilfeempfänger in das Arbeitslosen-
geld II überführt werden – das hat das Gesetz ermög-
licht; ob das immer mit aller Sensibilität ausgelegt wor-
den ist, will ich dahingestellt sein lassen; ich neige
schließlich nicht zu kräftigen Worten –,


(Heiterkeit bei der SPD)

dann steht jedenfalls fest, dass auch in diesem Bereich
gewaltige Einsparungen zu verzeichnen sind, die genutzt
werden sollten, damit in die Sanierung von Schulen, da-
mit in die Sanierung von kommunalen Einrichtungen,
damit in die Sanierung von kommunalen Straßen inves-
tiert werden kann. Wir haben die Möglichkeit, Investi-
tionen in diesem Bereich loszutreten und damit neuen
Schwung in die Investitionstätigkeit zu bringen. Diese
müssen wir auch nutzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu den Zukunftsinvestitionen wird gehören – das ist
wirklich schwierig –, die Pflegeversicherung in Ord-
nung zu bringen. Wir wollen das bis zum Herbst dieses
Jahres machen. Wir als Koalition wollen ein gemeinsa-
mes Programm vorlegen, das auf der einen Seite Klar-
heit und Sicherheit in die Finanzierung bringt sowie ein
angemessenes Verhältnis zwischen ambulanter und sta-
tionärer Betreuung ermöglicht und das auf der anderen
Seite etwas für diejenigen tut, die mit am schwersten
dran sind, nämlich die Demenzkranken. Wir müssen in
diesem Bereich etwas tun. Wir wollen hier eine große
Anstrengung unternehmen. Das wird nur gehen, wenn
wir uns möglichst auf ein gemeinsames Konzept eini-
gen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will noch ein Wort zu dem sagen, was meines Er-
achtens die Entsprechung des Reformprogramms für die
sozialen Sicherungssysteme und der Verbesserung der
Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ist. Ich meine
die Föderalismusreform. Ich glaube, wir sollten einen
neuen Anfang machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist eine Legende, dass die Bundesregierung – ja, ich –
von vornherein gegen diese Reform gewesen wäre. Aber
Legenden sind manchmal langlebig. Ich sage Ihnen ganz
klar: Mich interessieren in diesem Zusammenhang nicht
Kompetenzen, sondern mich interessiert, was passiert.
Das gilt ausdrücklich auch für den Bildungsbereich. Ich
sage hier klar: Wir brauchen in dieser Frage einen neuen
Anlauf. Die Kommission, die Sie, Herr Ministerpräsi-
dent Stoiber, und Herr Müntefering geleitet haben, hat
gute Ergebnisse vorzuweisen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


85 bis 90 Prozent waren konsensfähig. Ich frage mich,
warum wir nicht zumindest diese umsetzen; aber bitte
schön!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Ich sage für die Bundesregierung: Ich werde jeden
Vorschlag – auch auf dem schwierigen Gebiet der Kom-
petenzen für die Bildung – unterstützen, auf den Sie sich
mit Ihrem Kovorsitzenden einigen. Sie können sicher
sein: Wir beide setzen das auch durch. Ob Sie das mit Ih-
ren Kollegen Ministerpräsidenten hinbekommen, ist eine
andere Frage.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte das für notwendig, weil es bei einer Födera-
lismusreform wirklich darum geht, das, was wir auf dem
Gebiet der Sozialpolitik und der Wirtschaft geleistet ha-
ben und weiter leisten werden, durch eine Entsprechung
im Staatsaufbau zu ergänzen, die zu mehr Klarheit in den
Kompetenzen und damit auch in den Verantwortlichkei-
ten und die zu mehr Effizienz in unserem föderalen
Staatsaufbau führt. Das brauchen wir, wenn wir voran-
kommen wollen. Ich werde zu denen gehören, die einen
solch neuen Ansatz, für den ich ausdrücklich werbe, mit
aller Kraft unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, eines ist deutlich geworden: Wir sind in ei-
ner wirklich schwierigen Situation, was die Arbeits-
marktzahlen angeht. Man kann sie partiell erklären. Aber
selbst wenn man sie erklärt, wie ich das getan habe,
bleibt die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Das ist die He-
rausforderung in unserem Land. Alle, die sich zu diesen
Fragen geäußert haben, haben gesagt: Das ist kein kon-
junkturelles Problem. Ich glaube, in dieser apodiktischen
Form ist das nicht ganz richtig. Es ist auch ein konjunk-
turelles Problem, aber nicht in erster Linie. Das gebe ich
zu. Es ist mehr ein strukturelles Problem. Aber auf die-
ses strukturelle Problem haben wir mit dem, was in der






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

Agenda 2010 steht, und dem, was ich an neuen Impulsen
vorgeschlagen habe, reagiert.

Eines muss dabei klar sein – das erwähne ich zum
Schluss ausdrücklich noch einmal –: Wir sind in
Deutschland und in Europa verglichen mit anderen Welt-
regionen deswegen in einer vergleichsweise guten Situa-
tion, weil wir ein europäisches Sozialmodell in unter-
schiedlichen Formen in der Europäischen Union erhalten
haben, das den Menschen zweierlei ermöglicht, nämlich
die Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand und die Teilhabe
an den Entscheidungen über die politischen Prozesse.
Ich glaube, wir würden einen schwerwiegenden Fehler
machen, wenn wir aus sehr kurzfristigen Erwägungen
heraus, weil uns wirklich Sorgen bedrücken, das Prinzip
des Sozialstaates und damit das Prinzip des Zusammen-
halts unserer Gesellschaft über Bord werfen würden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wäre ein schwerer Fehler.
Was wir auf den Weg gebracht haben und was wir

vorhaben, ist nicht einfach. Zum Teil kann es die Koali-
tion aus eigener Kraft schaffen. Dort, wo sie das kann,
wird sie es tun. Zum anderen Teil braucht sie wegen un-
terschiedlicher Mehrheitsverhältnisse hier und im Bun-
desrat die Zusammenarbeit all derer, die an dieser Zu-
sammenarbeit interessiert sind, weil sie unser Land
voranbringen wollen. Ich bin zu einer solchen Zusam-
menarbeit bereit und ich hoffe, dass wir hier im Deut-
schen Bundestag einen guten Anfang gemacht haben.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Die Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich – Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1516600200

Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der CDU/CSU-

Fraktion, Kollegin Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1516600300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, wir hier im Saal und viele Menschen im Lande
sind sich einig, dass wir in dieser Woche eine bemer-
kenswerte Rede des Bundespräsidenten gehört haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)


Bemerkenswert an dieser Rede des Bundespräsidenten
war nicht allein, dass er alle entscheidenden Politikfelder
erfasst hat, dass er die Probleme klar benannt und ein-
deutig die Richtung für die Antworten angegeben hat,
sondern bemerkenswert war für mich, dass die Rede
zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland
groß und stark gemacht hat und was Deutschland jetzt in
diesen Tagen und Monaten wieder braucht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist nämlich eine Politik mit Ordnung – nicht ir-
gendeiner Ordnung, sondern der Ordnung der Freiheit,
der Ordnung der sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

An der Rede des Kanzlers heute war nicht allein auf-

fällig, dass er zum wiederholten Mal über die Tatsache
gesprochen hat, dass auch die Umsetzung der Reformen
als Reformen anzusehen sind, dass er Belehrungen, Pro-
phezeiungen, Beschönigungen und Beschuldigungen
vorgebracht hat, dass er es manchmal auch an Ernsthaf-
tigkeit vermissen ließ


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der SPD: Überhaupt nicht zugehört!)


und dass er viele Einzelmaßnahmen genannt hat – das ist
alles schön und gut –; auffällig war auch, dass er nicht
zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland
braucht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht nämlich um die Frage, mit welcher Ordnung
der Freiheit wir im 21. Jahrhundert die Zukunft dieses
Landes gestalten wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Genau darin besteht der Unterschied zwischen Repara-
turmaßnahmen und dem Glauben an die Kraft der sozia-
len Marktwirtschaft und die Kraft der Freiheit, die den
Menschen erst mündig macht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Natürlich ist es auch kein Zufall, dass der Bundes-
kanzler heute bewusst kein Bekenntnis zu Studiengebüh-
ren und zu bestimmten Maßnahmen auf dem Arbeits-
markt – betriebliche Bündnisse, Kündigungsschutz,
Flexibilisierungen – abgelegt hat.


(Unruhe bei der SPD)

Das ist eine sehr durchsichtige Strategie und es ist ganz
klar, warum Sie so vorgehen. Sie wollen es nämlich uns
überlassen, die notwendigen Dinge anzusprechen,


(Lachen bei der SPD)

und mit einer Strategie nach dem Motto „Mit denen
würde es nur noch schlimmer“ durch das Land ziehen.
Aber diese Strategie wird nicht aufgehen. Denn sie ist
schon in Schleswig-Holstein nicht aufgegangen. Dort ist
Rot-Grün abgewählt. Das wird sich fortsetzen, weil sich
die Menschen keine Angst mehr machen lassen. Sie ha-
ben nur noch eine Angst, und zwar davor, arbeitslos zu
werden. Diese Angst zählt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Unglaublich!)


Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen brauchen
wir ein umfassendes Konzept. Herr Bundeskanzler, Sie
haben gesagt, dass diese Zahl bedrückend ist. Aber wenn
das so ist – im Übrigen wären 4,8 Millionen genauso be-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

drückend –, dann muss man feststellen: Wir brauchen
ein Konzept, das alle wichtigen Bereiche umfasst, ein
Konzept, das weitere Strukturreformen in Angriff nimmt
und sich nicht im Klein-Klein verliert, ein Konzept, das
alles der einen Frage unterordnet, nämlich wie wir zu
mehr Arbeit kommen. Daran muss sich alles in diesem
Land ausrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen ran an die Realität! Die Realität heißt:

Die Welt verändert sich rasant. Bei einem schnellen
Wandel sind schnelle Antworten notwendig. Insofern le-
ben wir sozusagen in den zweiten Gründerjahren dieser
Bundesrepublik Deutschland und deshalb müssen wir
uns entscheiden, ob wir den Geist der Anfangsjahre der
Bundesrepublik Deutschland wieder aufnehmen oder ob
wir ihn aufgeben wollen. Ich meine, wir müssen diesen
Geist aufnehmen: den Geist der Freiheit, den Geist der
kleinen Einheiten, den Geist, der den Menschen etwas
zutraut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Zusammenhang besteht doch gerade darin, dass
dann, wenn wir diesen Geist nicht wieder vitalisieren, als
erstes die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, und zwar
sowohl in Bezug auf diejenigen, die Hilfe brauchen, als
auch auf diejenigen, die Leistung erbringen. Wer sich
nicht ausreichend zur Freiheit bekennt, wird den sozia-
len Zusammenhalt von Gerechtigkeit und Solidarität
in unserer Gesellschaft aufs Spiel setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn wir den sozialen Zusammenhalt wollen – er ist
doch gerade die große Leistung der sozialen Marktwirt-
schaft gewesen und muss auch die große Leistung einer
neuen sozialen Marktwirtschaft sein –, dann müssen wir
uns doch erst einmal mit der Realität vertraut machen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangt doch mal an!)


Es ist doch so: Die Wachstumsprognosen sind nicht so
wie erwartet. Dafür kann ich niemanden verantwortlich
machen, sondern das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Aber, Herr Bundeskanzler, wenn statt 1,6 Prozent
Wachstum nur 0,8 Prozent erwartet werden, wäre es
richtig gewesen, deutlich zu sagen, was das für den
Haushalt, die Zahlen, die nach Brüssel gemeldet werden,
und die eigenen Möglichkeiten bedeutet, und Sie hätten
sich Gedanken darüber machen müssen, was Sie heute
realistischerweise zur Zukunft des Bundeshaushaltes in
diesem Jahr sagen können. Das wäre das Erste gewesen;
das haben wir erwartet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen,

dass wir zwar ein Strukturproblem haben, dass wir es
aber bereits durch die durchgeführten Reformen eigent-
lich gelöst haben. Wenn Sie ehrlich dieser Meinung sind,
dann werden Sie Deutschland in den Untergang führen.
Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)

Wir haben weiterhin strukturelle Probleme; das ist die
Wahrheit. Sie selbst haben noch 1998 gesagt: Bei allem,
was wir tun, wollen wir uns am Abbau der Arbeits-
losigkeit messen lassen und dafür sorgen, dass jedes
Instrument auf den Prüfstand gestellt wird, um festzu-
stellen, ob es vorhandene Arbeitsplätze sichert oder Ar-
beitsplätze schafft. Das war die Zeit, in der Sie gesagt
haben: Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit si-
gnifikant zu senken, dann sind wir es nicht wert, wieder
gewählt zu werden. In dieser Zeit haben Sie die Realitä-
ten noch gesehen, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dass die Schaffung von Arbeitsplätzen erste Priorität

hat, ist angesichts der Zahlen klar. Die entscheidende
Frage ist: Wo sind denn zukunftsfähige Arbeitsplätze?
Ich habe von Ihnen dazu wenig gehört, und wenn, dann
nur sehr Bedauerliches. Das, was Sie zur Grünen Gen-
technik gesagt haben, klingt wie Hohn in den Ohren de-
rer, die sich dieser Technologie widmen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hier ist Ihr Wirtschaftsminister noch ehrlicher. Er hat
vor Vertretern der bayerischen Wirtschaft gesagt: Es ist
nicht verantwortbar, alles so zu belassen, wie es ist.
Recht hat der Mann. Aber er kann sich nicht durchset-
zen. Nun sind auch Sie noch umgefallen, obwohl Sie ei-
gentlich wissen, dass es nicht richtig ist. Es ist doch ein
Hohn, in einem einzigen Wirtschaftsbereich der Indus-
trie die gesamte Haftung aufzuzwingen, während in al-
len anderen Wirtschaftsbereichen die Verantwortlichkeit
besser aufgeteilt ist. Warum gerade in diesem Zukunfts-
bereich? So entstehen keine Arbeitsplätze.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Diskriminierung!)


Ich kann nur sagen – auch Herr Steinbrück fordert das
immer wieder ein –: Lassen Sie uns die Richtlinien der
Europäischen Union eins zu eins umsetzen! Hätten wir
das bei der Gentechnikrichtlinie gemacht, dann wären
wir heute weiter. In zwei Jahren – das ist heute die Hälfte
des Zeitraums, in dem sich das Wissen der Menschheit
verdoppelt – sind viele Betriebe abgewandert. Ange-
sichts dessen können Sie doch nicht sagen: Lassen Sie
uns abwarten und dann schauen wir einmal! Denn wir
wissen schon heute, welche Folgen das haben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei aller Freude über Investitionen im Energiebereich

wissen wir doch, dass wir keine konsistente Energiepo-
litik haben,


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wieso?)

dass es volkswirtschaftlicher Unsinn ist, vorzeitig aus
der Kernenergie auszusteigen,


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und dass wir keine dauerhafte Perspektive haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Wir wissen ebenfalls, dass 40 Prozent zusätzliche Kos-
ten auf jede Kilowattstunde, verursacht durch den Staat,
zu viel sind und dass die Lenkungsinstrumente – dort der
Emissionshandel, hier das Erneuerbare-Energien-Gesetz
und die KWK-Förderung – nicht zusammenpassen. Eine
konsistente Energiepolitik könnte weitaus mehr Arbeits-
plätze in Deutschland sichern als zurzeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Bundesumweltminister hat darauf verwiesen,
dass er mit seiner subventionierten erneuerbaren Energie
120 000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Das freut mich.
Aber Sie müssen sich einmal die Frage stellen: Wie viel
Arbeitsplätze hat dieser Mann schon verhindert? Das
sind mit Sicherheit sehr viel mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Pharmastandort Deutschland ist – das gilt ins-

besondere für die forschende Arzneimittelindustrie –
durch die Ausführung der Festbetragsregelung beein-
trächtigt. Wir bekennen uns zur Gesundheitsreform; aber
wir haben nicht beschlossen, dass die patentgeschützten
Medikamente benachteiligt werden. Der Pharmastandort
Deutschland ist international in Verruf geraten, mit nicht
absehbaren Folgen für die Bundesrepublik Deutschland
und die Arbeitsplätze in diesem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind natürlich dafür, dass Sie Public Private

Partnership endlich auf den Weg bringen. Darüber wird
doch seit mittlerweile drei Jahren diskutiert. Wir sind
auch dafür, dass Sie die Mauteinnahmen schneller zu
Ausgaben ummünzen. Es hat ja lange genug gedauert,
bis der Bundesverkehrsminister die Sache endlich auf
der Reihe hatte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

All das werden wir natürlich aktiv unterstützen. Wir sind
auch für ein CO2-Investitionsprogramm. Aber ich bitteSie inständig: Lassen Sie uns aus den Nachteilen des
Bisherigen lernen und lassen Sie uns effizienter vorge-
hen! Dann werden wir Sie selbstverständlich unterstüt-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wichtig sind die Arbeitsplätze der Zukunft – das sind
diejenigen Arbeitsplätze, die unseren Wohlstand sichern –
und wichtig ist natürlich auch, dass wir Einstellungs-
hemmnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt senken. Wir
müssen weiterhin überlegen, was Menschen daran hin-
dert, wieder in Arbeit zu kommen.

Ich sage Ihnen zu – eine entsprechende Verabredung
haben wir getroffen; das kam auch in Ihren heutigen
Aussagen zum Ausdruck –, dass wir daran mitwirken,
dass bei den Zuverdienstmöglichkeiten im Rahmen
von Hartz IV etwas geändert wird. Ich sage Ihnen aber
auch: Die überdimensionale Förderung von 1-Euro-Jobs
insbesondere für junge Leute wird in die Irre führen. Wir
müssen alles daransetzen, dass wir auf dem ersten Ar-
beitsmarkt mehr Beschäftigung bekommen. Deshalb
wollen wir etwas ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe irgendwo gehört, dass Sie jetzt Bürokratie

abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen wol-
len. Noch Ende letzten Jahres haben wir hier gesessen
und gerungen, ob wir die Geltungsdauer des Verkehrs-
wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein Jahr oder
vielleicht um zehn Jahre verlängern. Ich kann Ihnen nur
sagen: Machen Sie sich an die Arbeit! Das hätten wir
längst haben können. Natürlich können wir diese Rege-
lung auch auf Energieleitungen ausdehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben kein Wort zum Antidiskriminierungsge-

setz gesagt.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Bundeskanzler wird schon gewusst haben, warum.
Herr Steinbrück wird uns nachher erklären, wie er eine
Eins-zu-eins-Umsetzung mit Rot-Grün schaffen will.
Herr Steinbrück, halten Sie nicht einfach nur Reden im
nordrhein-westfälischen Landtag, sondern überzeugen
Sie fünf Sozialdemokraten aus Ihrem Landesverband!
Wir stimmen zu und Sie können eins zu eins umsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Bundeskanzler hat uns erklärt, dass es mit den

betrieblichen Bündnissen für Arbeit bei Opel, bei
Siemens und bei anderen so gut klappt. Das ist richtig.


(Klaus Brandner [SPD]: Nicht neidisch werden!)


Das ist besonders für diejenigen, die in den Schlagzeilen
sind, wichtig; man nutzt die Chance, in die Zeitung zu
kommen. Aber oft müssen die Kleinen über Wochen und
Monate daran arbeiten, dass die Gewerkschaften ihnen
zustimmen, wenn sie eine solche Regelung brauchen.
Wir wollen die Tarifautonomie überhaupt nicht angrei-
fen;


(Jörg Tauss [SPD]: Doch!)

vielmehr vertreten wir die Auffassung: Wenn die Mehr-
zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb
der Laufzeit eines Tarifvertrages mit der Betriebsleitung
einig ist, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag zur Er-
haltung von Arbeitsplätzen sinnvoll ist, dann soll ihnen
das unbürokratisch möglich sein. Trauen Sie den Leuten
vor Ort etwas zu! Dazu fordern wir Sie auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie wollen jetzt kleinste Schritte beim Kündigungs-

schutz gehen. Okay, die gehen wir natürlich mit. Ich er-
innere Sie aber an Ihre Rede zur Agenda 2010: Damals
haben Sie von einem Optionsmodell beim Kündigungs-
schutz gesprochen. Warum beschließen wir nicht heute
das, was Sie damals für richtig gehalten haben? Wir hal-
ten das immer noch für richtig. Deshalb werden wir wei-
terhin darüber reden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Absen-

kung – das sagen alle Sachverständigen – der zu hohen
Lohnzusatzkosten. Wir brauchen auch – dazu hätte ich
nun wirklich gern ein Wort von Ihnen gehört, weil dieses
Thema so allgegenwärtig ist und ja auch von Ihrem
neuen Vorsitzenden des Sachverständigenrates fast täg-
lich angesprochen wird – eine Entkopplung der Kosten
für die sozialen Sicherungssysteme von den Arbeitskos-
ten, ob es Ihnen passt oder nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Natürlich wollen auch wir, weil wir genauso für die
Gesundheitsreform eintreten wie Sie,


(Franz Müntefering [SPD]: Seit wann das?)

dass die Krankenkassenbeiträge sinken. Aber Sie müs-
sen doch auch Folgendes sehen: Der Schätzerkreis sagt
den Krankenkassen, dass ihre Ausgaben in diesem Jahr
um 1,9 Prozent steigen. Zugleich sind noch die Schulden
aus den vergangenen Jahren da und müssen erst einmal
abbezahlt werden. Da ist es doch klar, dass die Kranken-
kassen sich überlegen, ob sie die Beiträge senken, wenn
sie sie dann im gleichen Jahr vielleicht wieder erhöhen
müssten. Lassen Sie uns also vernünftig auf die Kassen
einwirken. Auch ich sage aber frei heraus: Ich finde es
unmöglich, wenn die Vorstandsvorsitzenden mancher
Krankenkassen offensichtlich vergessen haben, dass
man in solch einem Job soziale Verantwortung einbrin-
gen muss. Das sage ich ganz ausdrücklich. Lassen Sie
uns aber auch nichts Unmögliches von den Kassen ver-
langen. Es wäre nicht gut, wenn die Beiträge nach einer
Senkung ein halbes Jahr später wieder erhöht werden
müssten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Eier, eier, eier!)


Nun zu den Aussagen zur Pflegeversicherung, die
Sie hier gemacht haben. Ich hätte mir ehrlich gewünscht,
dass diese etwas konkreter ausgefallen wären. Wie soll
es denn nun gehen? Die Ministerin hat diese Woche
schon vier Vorschläge gebracht. Deswegen sind wir
schon ganz durcheinander.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind bereit, mit Ihnen zu-
sammenzuarbeiten, wenn Sie einen Gesetzentwurf auf
den Tisch legen, der der von allen Sachverständigen er-
hobenen Forderung Rechnung trägt, die Kosten für die
Pflegeversicherung ein Stück weit von den Arbeitskos-
ten zu entkoppeln.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist der Punkt!)


Das heißt auf Deutsch – Sie haben diesen Begriff ja nicht
in den Mund genommen –: Kapitaldeckung muss zu ei-
ner Säule der Pflegeversicherung werden. Wenn ein ent-
sprechender Entwurf vorliegt, werden wir versuchen,
mit Ihnen zusammenzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Frage, was Sie von der Bürgerversicherung hal-
ten, haben Sie in diesem Hause noch nicht beantwortet.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Bürgerzwangsversicherung!)


Es wäre mir recht gewesen, wenn das heute geschehen
wäre. Diese steht ja nun in totalem Widerspruch zu all
dem, was Not tut.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist eigentlich Ihr Pflegekonzept?)


Ich glaube, Sie sollten wirklich noch einmal darüber
nachdenken, ob es nicht gerechter wäre, die Krankheits-
kosten von Kindern, so wie wir das vorgeschlagen ha-
ben, von allen deutschen Steuerzahlern bezahlen zu las-
sen, als sie wieder denen in unserer Gesellschaft
aufzubürden, deren Verdienst unterhalb der Beitragsbe-
messungsgrenze liegt. Das ist unser Modell.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Weil in diesem Zusammenhang gleich wieder der
Vorwurf der Steuererhöhung fällt, lassen Sie mich sagen:
Jawohl, wir haben entgegen unserem Steuerkonzept 21,
das ganz klar sagt, welche Subventionstatbestände abge-
baut werden sollen


(Lachen bei der SPD)

– dagegen versuchen Sie ja schon wieder hinten und
vorne zu hetzen; seien Sie einmal ehrlich –, und auch
klar sagt, dass der Spitzensteuersatz auf 36 Prozent ge-
senkt werden soll, nun vor, diesen nur auf 39 Prozent zu
senken, um auf diese Weise die Krankheitskosten der
Kinder von den Gutverdienenden in diesem Lande be-
zahlen zu lassen. Das ist unser Beitrag zur sozialen
Gerechtigkeit, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Zusammenhang mit der Frage, wie die Benachtei-

ligung der deutschen Unternehmen im internationalen
Wettbewerb beseitigt werden kann, haben Sie sich heute
um ein Thema ein Stück weit herumgedrückt, das mit Si-
cherheit auf uns zukommt: Wie wird es angesichts euro-
päischer Regelungen in Zukunft um die Mitbestimmung
in Deutschland bestellt sein? Ich sage ausdrücklich, ich
teile nicht die Meinung des früheren BDI-Vorsitzenden
Rogowski, dass es sich hierbei um einen Irrläufer der Ge-
schichte handelt. Ich sage Ihnen, weil Sie vom europäi-
schen Sozialstaatsmodell gesprochen haben: Wenn wir
nur in Europa wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann
müssen wir uns überlegen, wie wir in Deutschland die
Mitbestimmung der Zukunft so europafest machen, dass
wir dadurch nicht abfallen und Wettbewerbsnachteile ha-
ben. Dazu habe ich heute ein Wort von Ihnen vermisst;
dieses Thema steht auf der Tagesordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dann stellt sich natürlich die Frage nach den Steuern.
Als Erstes muss ich Ihnen einmal sagen: Man darf die
Realitäten hier nicht völlig verkehren. Sie können nicht
über alles informiert sein, was im Parlament stattfindet,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

aber gestern fand zum Beispiel im Finanzausschuss die
Beratung über das Modell zur Erbschaftsteuer, so wie
Sie es hier dargestellt haben, statt. Sie wissen sicherlich
auch, wie die Regierungsfraktionen abgestimmt haben:
glatte Ablehnung.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber manchmal kann man in Nächten etwas lernen und
die Nacht scheint sehr lehrreich gewesen zu sein. Ich
sage Ihnen: Unsere Stimmen haben Sie. Es ist ein baye-
rischer Antrag, die Ministerpräsidenten der Union wer-
den das Modell unterstützen, wir haben es gestern be-
reits unterstützt. Also nichts wie ran; das können wir
machen.

Meine Damen und Herren, Sie haben weiter vorge-
schlagen, man solle ein Signal setzen bei der Körper-
schaftsteuer. Dazu sage ich Ihnen: Das hört sich gut an,
das finden wir okay, aber Sie müssen auch genau sagen,
wie es gegenfinanziert werden soll.


(Jörg Tauss [SPD]: Ihr!)

Es muss zum Schluss so sein, dass es der Wirtschaft in
Deutschland nutzt. Es darf uns nicht anschließend mehr
Kritik als Nutzen bringen. Wir sind im Grundsatz dazu
bereit, solche Überlegungen zu unterstützen. Das ist
keine Frage.

Dasselbe sage ich zu der Frage der Anrechnung der
Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Diese Überle-
gungen halten wir für vernünftig. Diesen Vorschlag kön-
nen Sie in ein Gesetz umsetzen und Sie können damit
rechnen, dass wir dem zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Aber jetzt müssen wir aufpassen. Wir haben nach wie
vor das Ziel einer großen, umfassenden Steuerreform,
bei der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer so
aufeinander abgestimmt werden, dass vor allen Dingen
die Personengesellschaften, das heißt die Familienunter-
nehmen, in Deutschland nicht die Leidtragenden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist der Punkt! Sehr richtig!)


Sie haben heute im Zusammenhang mit der Senkung des
Körperschaftsteuersatzes kein einziges Wort zu Perso-
nengesellschaften und Familienunternehmen gesagt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)


So geht das nun auf keinen Fall. Wenn die Gleichbe-
handlung garantiert wird, machen wir natürlich mit,
keine Frage, aber für uns ist eine vernünftige Gegenfi-
nanzierung Conditio sine qua non. Alles andere ist nicht
machbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt kommen wir auf den Punkt. Wir müssen dann

noch Spielraum haben – deshalb bestehen wir auch auf
der Eigenheimzulage – für eine wirklich umfassende
Steuerreform, und zwar nicht nur im Körperschaftsteuer-
bereich, so wie Sie es für den Sachverständigenrat sehen,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben es nicht verstanden! Das ist ja erschreckend!)


sondern auch im Einkommensteuerbereich. Die Men-
schen in diesem Lande wollen wieder verstehen, wer
wofür wie viel Steuern zahlt. Das geht nur, wenn das
Steuersystem einfacher und transparenter wird. Daran
werden wir weiter arbeiten und wir laden Sie herzlich
dazu ein, unser Steuerkonzept 21 zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, Sie haben auch über die Zukunft
der Bildung gesprochen. Wir sind dafür, dass mehr in
Bildung investiert wird.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Tatsache ist aber, dass der Haushalt der Frau For-
schungsministerin, was die eigentlichen Forschungs-
ausgaben in Deutschland anbelangt, gesunken und nicht
gestiegen ist.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Gestiegen ist er nur, weil das Forschungsministerium
Aufgaben übernommen hat, die sicherlich wichtig sind,
die aber von Haus aus nicht unbedingt in die Kompetenz
des Bundes gehören. Das ist die Wahrheit über den Zu-
stand des Haushalts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, bei der SPD ist im Augen-

blick die Einheitsschule wieder ganz groß in der Diskus-
sion.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Heute in Schleswig-Holstein!)


Weil der Bundeskanzler meinte, über PISA sprechen zu
müssen, muss ich ihn doch wirklich noch einmal daran
erinnern, dass die Länder Bayern und Baden-Württem-
berg, Sachsen und Thüringen – alle mit klassischen Mo-
dellen, die mit Einheitsschule aber auch gar nichts zu tun
haben – die ersten vier Plätze bei der PISA-Studie belegt
haben. Das spricht für das gegliederte Schulsystem.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein Nachbarland von Sachsen, das auf Platz drei liegt,
ist Brandenburg; es liegt auf Platz 15. Wissen Sie, woher
die Berater kamen, die den Brandenburgern ihr Schul-
system nahe gebracht haben? Aus Nordrhein-Westfalen!
Das heißt, es muss sich nicht nur in Brandenburg etwas
ändern, sondern auch in Nordrhein-Westfalen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeskanzler, Sie haben zum Thema Födera-

lismus gesprochen. Eines geht natürlich nicht – das ha-
ben Sie sicherlich auch nicht ernst gemeint –: an einer
Stelle zu widersprechen und diesen Punkt offen zu las-
sen, um später zu sehen, was man da machen kann, und
an einer anderen Stelle direkt beschließen zu wollen. Wir






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

sind ja großzügig und gutmütig, aber völlig dumm sind
wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Dass bei einer solchen Reform der bundesstaatlichen
Ordnung Dinge zusammenhängen –


(Jörg Tauss [SPD]: Wo ist Koch?)

wir haben zum Beispiel gesagt, dass das Umweltrecht
auf die Bundesebene gehoben werden kann, weil uns ein
einheitliches Gesetzbuch helfen kann, aber dafür muss
der Wettbewerb in den Bildungssystemen gestärkt wer-
den; das kann nicht einfach entkoppelt werden –, dass
wir nicht das eine machen können und das andere nicht,
das werden Sie verstehen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben überhaupt nichts verstanden!)


Wir können – das sage ich ausdrücklich – bei der Föde-
ralismusreform natürlich vorankommen und wir sollten
auch vorankommen. Aber dazu muss man eines akzep-
tieren, nämlich die Grundgesetzordnung. Sie ist so, wie
sie ist; geändert werden kann sie nur mit einer Zweidrit-
telmehrheit. Sie haben vor dem Verfassungsgericht bei
der Juniorprofessur verloren, dann sind Sie mit den Stu-
diengebühren auf die Nase gefallen. Ich weiß nicht, wie
viele Verfassungsgerichtsprozesse Sie noch verlieren
wollen. Aber ändern können wir die Ordnung nur ge-
meinsam. Es empfiehlt sich, die Realitäten anzuerken-
nen. Ich bin ganz sicher, dass man dann auch einen guten
Weg finden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu einem Thema haben Sie heute sicherheitshalber

gar nichts gesagt, nämlich zu den Schulden und zum
Stabilitätspakt. Sie haben uns gesagt, was Sie hier und
dort machen wollen, zum Beispiel bei der KfW. Das ist
alles prima. Aber Zinsverbilligungen kommen natürlich
bei irgendjemandem an. In Ihrem Kabinett heißt dieser
Mann Eichel. Er ist dafür verantwortlich, dass die
Maastricht-Kriterien eingehalten werden.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Oje!)

Nun arbeiten Sie nächste Woche wieder sehr daran, dass
die Maastricht-Kriterien aufgeweicht werden. Aber ich
kann Ihnen nur eines sagen: Wenn wir in den wichtigen
Stunden, wo wir über die Zukunft dieses Landes debat-
tieren, noch mehr Wechsel auf die Zukunft aufnehmen,
ohne uns um die Kinder und Enkel zu scheren, dann
brauchen wir über Bildung und Forschung nicht mehr zu
sprechen; dann versündigen wir uns.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Unglaublich!)


Deshalb wäre es angesichts der nach unten korrigier-
ten Wirtschaftsprognosen, des ganz knappen Haushalts,
den Herr Eichel aufgestellt hat – wie immer auf Kante
genäht –, und der zusätzlichen Ausgaben, die Sie uns
heute hier in Aussicht gestellt haben, schon interessant
zu erfahren, wie Sie das zusammenbringen wollen. Ent-
weder Sie rechnen nicht damit, dass die Kommunen die
Programme abrufen können – das ist natürlich auch eine
Möglichkeit: ein Programm aufzulegen, das keiner be-
nutzen kann, weil er selber so arm ist, dass er dazu nicht
die Erlaubnis erhält –, oder aber Sie müssen sagen, wie
Sie das finanzieren wollen. Darüber muss gesprochen
werden; denn so können wir die Dinge nicht hinnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat
heute einige Einzelmaßnahmen dargelegt. Ich habe dazu
Stellung genommen. Aber was fehlt, ist die ordnungspo-
litische Linie.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die hat er nicht!)


Der Bundeskanzler, die Bundesregierung ist bestenfalls
Reparateur, aber eben kein Architekt einer neuen sozia-
len Marktwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Mikrophysik!)


Deutschland hat sicherlich eine Reputation. Herr Bun-
deskanzler, Sie kommen mehr im Ausland herum als wir.
Wenn Sie dort zuhören – ich hoffe, dass Sie das tun –,
dann kennen Sie die Fragen, die man an unser Land stellt.
Eine Frage ist, ob wir noch die Kraft haben, Spitze zu
sein, oder ob wir immer weiter abfallen.

Morgen jährt sich zum 15. Mal der Jahrestag der ers-
ten freien Volkskammerwahl in der früheren DDR.
Dieser Tag war für viele, die hier sitzen, sehr bewegend.
Mit diesem Tag verbinde ich persönlich die Einsicht,
dass wir bei Veränderungen trotz aller damit verbunde-
nen Schwierigkeiten immer auch dazugewinnen können.
Aber das erfordert, dass wir einen roten Faden haben,
dass wir wissen, wo es langgeht, und die Richtung ken-
nen, dass wir eine Vision haben und dass wir die Kräfte
aktivieren, die uns stark machen. Dazu gehört für mich
die Freiheit; denn sie ist notwendig, damit Gerechtigkeit
und Solidarität entstehen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir werden heute Nachmittag miteinander sprechen.

Ich sage Ihnen zu: Wir werden die Gesetzesvorlagen, die
Sie einbringen, fair und konstruktiv prüfen.


(Jörg Tauss [SPD]: Na ja!)

Wir werden, wie wir das als Opposition immer gemacht
haben, klare Kriterien für unsere Prüfung anlegen. Ich
will sie hier ganz deutlich benennen:

Erstens. Vorrang hat alles, was Beschäftigung fördert
und nichts kostet. Das ist in der heutigen Zeit das Beste.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Was Beschäftigung fördert und etwas kos-

tet, muss mit Blick auf die Zukunft solide finanziert sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

Drittens. Was Beschäftigung gefährdet, das wird zu-

rückgezogen, geändert oder unterlassen. Auch das wer-
den wir einfordern, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn eine Politik des „Weiter so!“ verbietet sich an-

gesichts der Lage unseres Landes. Herr Bundeskanzler,
Sie sind Getriebener der Entwicklung und nicht Gestal-
ter der Entwicklung.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist das Bedauerliche für Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Damit wir gestalten können, brauchen wir Mut und

Kraft. Wir brauchen vor allem Mut und Kraft, der Wirk-
lichkeit ins Auge zu sehen und die Wahrheit zu erken-
nen. Wir müssen den Menschen in diesem Land etwas
zutrauen. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen. Die
Menschen müssen über die Wahrheit informiert werden.


(Lachen bei der SPD)

– Man erkennt an Ihren Zurufen, dass Ihnen das nicht
passt. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist inzwischen so,
dass die Wahrheit von Rot-Grün als Angriff


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


und die Wiederholung der Wahrheit von Rot-Grün als
Kampagne empfunden wird. So sind die Realitäten in
diesem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich kann Ihnen ganz klar sagen, wo das endet: In einer

Wagenburgmentalität,

(Zurufe von der SPD: Oh!)


zum Schluss wird der Überbringer der schlechten Nach-
richten beschimpft und die Dinge werden nicht so akzep-
tiert, wie sie sind. Sie erwecken nur den Eindruck, dass
Sie für die Zukunft gut gerüstet seien. Zu dieser Wagen-
burgmentalität gehört beispielsweise, dass Sie in Kiel
eine Koalition schmieden, obwohl Sie abgewählt sind.
Aber die Menschen werden sich dazu ihre Meinung bil-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben doch keine Mehrheit, Frau Merkel!)


Zur Wagenburgmentalität gehört auch die Art und
Weise, mit der der Außenminister mit seinen Schwierig-
keiten umgeht.

Aber diese Wagenburgmentalität hilft uns nicht wei-
ter. Deshalb haben wir Ihnen – darüber debattieren wir
heute – einen Pakt für Deutschland angeboten, einen
Pakt, in dem wir uns deutlich dafür aussprechen, den
Menschen in diesem Lande etwas zuzutrauen, sie nicht
zentralistisch zu dirigieren, sondern ihnen Spielräume zu
lassen, damit sie in diesem Land – ich betone: in diesem
Land – ihre Kräfte wieder entfalten können. Das ist Ver-
antwortung für Deutschland.
In diesem Sinne sage ich: An einem solchen Pakt für
Deutschland wirken wir gerne mit.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Abgeordneten der CDU/CSU erheben sich)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1516600400

Ich erteile dem Vorsitzenden der Fraktion der SPD,

Franz Müntefering, das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1516600500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren!
Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale
Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und
zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes,
die das Soziale beiseite drängen würden.

Das war die Botschaft von Bundeskanzler Schröder
beim Start der Agenda 2010 vor zwei Jahren. Für die
Koalition gilt das unverändert weiter. Wir wollen sozia-
len Fortschritt, Erneuerung und Zusammenhalt; das ist
das Ziel unserer Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers von
heute und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
sind weitere wichtige Schritte hin zur Lage Deutschlands
im Jahre 2010: hin zu Wohlstand für alle, zu sozialer Ge-
rechtigkeit und zu einer Politik der Nachhaltigkeit. Wir
sind in Deutschland mitten in diesem Prozess der Verän-
derung. Der ist nicht leicht; dafür braucht man Mut.
Manchen von denen, die ein Stück mitgegangen sind,
dauert es zu lange. Manche von denen, die ein Stück mit-
gegangen sind, trauen sich nicht, sich dazu zu bekennen.
Manche von denen wollen nichts damit zu tun haben.
Die Generalrevision von Rüttgers und die Bereitschaft
von Milbradt, gegen sich selbst zu demonstrieren, sind
noch nicht vergessen. Wenn endlich einmal einer aus der
Opposition sagen würde, wie sich das mit der Arbeits-
losenstatistik und Hartz IV verhält – das haben wir alle
miteinander beschlossen –, wäre das einfach einmal ein
Akt der Ehrlichkeit und der Wahrheit, die Sie, Frau
Merkel, eben eingefordert haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben ein Maß an Arbeitslosigkeit wie bei
Helmut Kohl 1998 und zudem die Veränderungen der
Statistik durch Hartz IV. Das ist wahr. Das ist viel. Das
auszusprechen macht schon einmal deutlich, wie man
die Zusammenhänge sieht. Wir jedenfalls werden den
Weg der Agenda 2010 weitergehen. Wenn Sie wollen,
können Sie mitgehen. Es geht dabei um die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Es geht um Recht und Ordnung am
Arbeitsmarkt. Es geht um gleiche Bildungschancen, um






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

die Potenziale der älter werdenden Gesellschaft. Es geht
um den Investitionsstandort Deutschland und es geht um
die Frage, wie sich Politik organisiert.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Wir haben uns alle vorgenommen, heute Morgen
nicht polemisch zu sein. Frau Merkel, ich hatte aber bei
Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie ein bisschen aus der
Spur waren, weil Sie sich gestern etwas in der Erwartung
dessen, was der Bundeskanzler sagen könnte, aufge-
schrieben haben, er Ihnen aber nun ein breites Konzept
dessen vorgelegt hat, was wir bereit und fähig sind zu
tun.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Breit ist richtig, Konzept fehlt!)


Darauf waren Sie nicht eingestellt und das hat Ihnen ein
bisschen die Sprache verschlagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen will ich in Abweichung von meinem Kon-
zept gerne auf ein paar Punkte eingehen, die Sie ange-
sprochen haben. Kommen wir zunächst zur Senkung
der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von
6,5 Prozent auf 5 Prozent. Eine solche Senkung bedeutet
11 Milliarden Euro weniger in der Kasse der Bundes-
agentur für Arbeit. Wenn Sie dann mit uns zusammen
ein Konzept vorlegen wollen, das ganz besonders die In-
teressenlage der unter 25-Jährigen im Blick hat – nach
der Melodie: am Ende dieses Jahres ist keiner von ihnen
mehr länger als drei Monate in Arbeitslosigkeit –, und
wenn Sie auf unserem Weg – der da heißt: die Maßnah-
men für die über 58-Jährigen sollen in Zukunft so lange
verlängert werden, bis sich der Ruhestand anschließt –
mitgehen wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass
der Bundesagentur für Arbeit das nötige Geld zur Verfü-
gung steht. Da kann man nicht gleichzeitig eben mal
11 Milliarden Euro aus populistischen Gründen strei-
chen wollen. Das passt doch alles nicht zusammen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben vorsichtshalber nichts zu der Notwendig-
keit von Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt
gesagt. Wir haben im letzten Jahr ein Gesetz zur Be-
kämpfung der Schwarzarbeit beschlossen. Die Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit, FKS genannt und beim Zoll ge-
bündelt, umfasst heute 5 300 und bald 7 000 Personen.
Die Schattenwirtschaft ist im letzten Jahr zum ersten
Mal seit 1975 gesunken. Sie ist noch zu hoch. Die FKS
hat im letzten Jahr Schäden in Höhe von 475 Millionen
Euro im Bereich der Steuern und der Sozialversiche-
rungsabgaben, die nicht entrichtet worden sind, aufge-
deckt. Sie hat 91 000 Strafverfahren und 52 000 Buß-
geldverfahren eingeleitet.

Sie sprechen darüber nicht gerne. Wenn wir dieses
Thema ansprechen, kommt bei Ihnen sofort die Sache
mit der Putzfrau. Uns geht es nicht um die Putzfrauen,
sondern darum, dass die illegale Tätigkeit in Deutsch-
land, die ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr
akzeptabel ist, mit allem Nachdruck bekämpft wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Menschen in diesem Land, die ehrlichen Arbeitneh-
mer und die ehrlichen Arbeitgeber, sollen sich darauf
verlassen können, dass sie nicht die Dummen sind. Die-
jenigen, die an den Gesetzen vorbeimarschieren, müssen
erfasst werden. Daraus müssen Konsequenzen gezogen
werden. Das wollen wir so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben etwas zur Pflegeversicherung gesagt, Frau
Merkel, und haben dafür plädiert, man müsse im Inte-
resse der Stabilität der Lohnnebenkosten andere Finan-
zierungsformen finden; Sie haben sich vorsichtig ausge-
drückt. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen – der
Bundeskanzler hat es deutlich gemacht –: Wir werden
uns dazu im Laufe dieses Jahres positionieren. Es gibt
im Bereich der Pflegeversicherung keine Lohnnebenkos-
ten. Diese 1,7 Prozent werden von den Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern allein gezahlt.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Auch das sind Lohnnebenkosten! – Gegenruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]: Sie können ja einen Feiertag opfern!)


Man sollte wissen, über was man miteinander redet.
Sie haben das Antidiskriminierungsgesetz ange-

sprochen. Bei uns in der ganzen Koalition – die Bundes-
regierung ist dabei – ist klar, dass es das Antidiskrimi-
nierungsgesetz geben wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das haben wir vereinbart. Es wird kommen, und zwar,
Frau Merkel, was den arbeitsrechtlichen Teil angeht,
eins zu eins, wie die EU das vorgeschrieben hat.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Nein!)

Da gibt es bei Ihnen eine interessante Entwicklung:

Wir haben in der letzten Woche eine Debatte über einen
Antrag geführt, den Sie eingebracht haben. Dieser
Antrag lautete: „Antidiskriminierungsgesetz zurückzie-
hen“.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, dieses schon! Genau richtig!)


Inzwischen heißt es bei Ihnen: Der Vorschlag der EU
soll eins zu eins umgesetzt werden. Das ist interessant.

Wir sagen Ihnen trotzdem: Dieses Antidiskriminie-
rungsgesetz wird es geben. Im arbeitsrechtlichen Teil
wird der Vorschlag eins zu eins umgesetzt und im zivil-
rechtlichen Teil sehen wir mehr vor, als von der europäi-
schen Ebene vorgegeben wurde, weil zum Beispiel auch
Behinderte in das Antidiskriminierungsgesetz einbezo-
gen werden sollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

So werden wir das nach der Anhörung deutlich verändert
gemeinsam vorlegen und so schnell wie möglich im
Deutschen Bundestag und im Bundesrat zur Beschluss-
fassung vorlegen.

Sie haben über die Gentechnik gesprochen. Wir alle
haben in den letzten Tagen Zeit gehabt, mit dem VCI
und großen bedeutenden Chemieunternehmen in
Deutschland zu sprechen. Alle miteinander sagen:


(Joachim Poß [SPD]: Hören Sie doch mal zu, Frau Merkel!)


Lasst uns einmal zwei Jahre schauen, was da läuft und
wie das mit der Haftungsfrage ausgehen wird! Dann
werden wir in zwei Jahren weitersehen. Das hat der Bun-
deskanzler angesprochen.

Deshalb lohnt es sich nicht, sich an dieser Stelle zu
echauffieren. Wir haben im ersten Gentechnikgesetz
klare Entscheidungen getroffen. Wir haben zwei Jahre
Zeit, um zu prüfen, ob etwas korrigiert werden muss.
Das sagen alle miteinander. Das zweite Gentechnik-
gesetz werden wir jetzt beschließen; denn auch da sind
wir einer Meinung. Das wird schnell vorangehen; bei der
Standortliste sind wir uns völlig einig.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber falsch entschieden! Das ist das Problem!)


Es gibt keinen Grund zu weiterer Aufregung.
Zur Erbschaftsteuer. Sie haben eben locker erzählt

– dafür haben Sie auf Ihrer Seite große Begeisterung
ausgelöst –, dass gestern der Antrag Bayerns angeblich
im Finanzausschuss des Bundestages abgelehnt worden
sei.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Unser Antrag! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Unser Antrag! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)


Der Antrag Bayerns stand gestern im zuständigen Aus-
schuss des Deutschen Bundestages, im Finanzausschuss,
überhaupt nicht zur Abstimmung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundes-
tages abgelehnt worden ist, war das gesamte Steuerkon-
zept der CDU/CSU, das sie in ihrem „Pakt für Deutsch-
land“ vorgeschlagen hatte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies habe ich klargestellt, Frau Merkel, weil Sie zum
Schluss so viel von der Wahrheit geredet haben. Sie ha-
ben immer haarscharf an ihr vorbei argumentiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karsten Schönfeld [SPD]: So wird die Öffentlichkeit belogen! Unglaublich!)


Dann haben Sie verlangt, der Kanzler solle etwas zu
den Schulden sagen. Der Kanzler hat deutlich gemacht,
dass wir einen Großteil der zusätzlichen Ausgaben für
Forschung und Entwicklung durch den Wegfall der
Eigenheimzulage finanzieren wollen. Diese Zulage hat
auch Sozialdemokraten immer gut gefallen; viele von
uns sagen: Es wäre schön, wenn wir sie behalten könn-
ten. Aber so zu tun, als gäbe es keine Vorschläge, ist
ebenfalls dicht an der Wahrheit vorbei gewesen. Wir
wollen Bildung, Forschung und Technologie fördern und
dies auch durch den Wegfall der Eigenheimzulage finan-
zieren. Machen Sie an dieser Stelle endlich mit! Das
wäre schon gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, Sie haben sich – –

(Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU] berät sich mit Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion)

– Sie hat ständigen Beratungsbedarf; das ist klar.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben sich sehr nebulös zu der Frage geäußert, ob
man neue Schulden machen kann. Sie sind heute so un-
klar geblieben wie auch schon in den letzten Wochen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Am 16. März wurden Sie, Frau Merkel, im „Handels-
blatt“ wie folgt wiedergegeben:

Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht auf der
einen Seite bei den Steuersätzen geben und mit der
anderen bei der Mindestbesteuerung wieder ein-
sammeln.

(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Richtig!)


Im selben Interview wurden Sie weiterhin zitiert:
Für eine steuerliche Realentlastung der Wirtschaft
haben wir nur sehr enge Spielräume.

(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Auch rich tig!)

Heute wollen Sie beides: Die Wirtschaft soll entlastet
werden, aber neue Schulden sollen wir auch nicht ma-
chen. Erklären Sie einmal, wie das gehen soll!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun zu Ihren Ausführungen zur Reform der bundes-
staatlichen Ordnung: In der Tat gab es in der Föderalis-
muskommission weitgehende Einigkeit zu vielen Punk-
ten, die wir auch wieder aufrufen und gemeinsam
beschließen können. Dabei ging es unter anderem da-
rum, die Zustimmungsrechte des Bundesrates so zu ver-
ändern, dass nicht mehr etwa 60 Prozent, sondern etwa
nur noch 30 Prozent der Gesetze einer Zustimmungs-
pflicht unterliegen. Dies soll dadurch geschehen, dass
die Gesetze stärker als bisher in materiell-rechtliche und
verfahrensrechtliche Teile aufgegliedert werden.

Wir hatten des Weiteren vereinbart, dass die Gesetz-
gebungskompetenzen klarer zugeordnet werden. Die
Länder können die Organisations- und Personalhoheit






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

für die bei ihnen und bei den Kommunen Beschäftigten
haben. Dies schließt Art. 33 Abs. 5 GG ein; die Grund-
sätze des Berufsbeamtentums können fortentwickelt
werden. Wer sich ein bisschen damit auskennt, weiß, wie
viel Musik darin steckt.

Die Länder können das gesamte Wohnungswesen ha-
ben, all das, was sozialen Wohnungsbau ausmacht; sie
bekommen auch das Geld, das dafür heute vom Bund
zur Verfügung gestellt wird. Die Länder können das Ver-
sammlungsrecht, das Ladenschlussrecht, das Gaststät-
tenrecht und den gesamten Bereich der Flurbereinigung
haben. All dies bedeutet eine deutliche Verlagerung von
Kompetenzen hin zu den Ländern.

Einige andere Kompetenzen sollen an den Bund ge-
hen, zum Beispiel die rechtliche Zuständigkeit für die
Erzeugung und Nutzung von Kernenergie, das Melde-
und Ausweiswesen sowie das Waffen- und Sprengstoff-
recht.

Außerdem soll es 15 Materien geben, bei denen zu-
künftig nicht mehr die Erforderlichkeitsklausel gilt. Das
heißt, dass die Länder nicht mehr nach Art. 72 Abs. 2 ei-
nen Anspruch auf Materien erheben können, die heute
im Grundgesetz der konkurrierenden Gesetzgebung zu-
geordnet sind. Dazu gehört zum Beispiel das gesamte
Arbeitsrecht.

Ferner war ein neuer Art. 104 b in der Diskussion, der
insofern interessant war, als er engen Bezug zu Dingen
hatte, die heute Morgen vom Kanzler, aber auch von
Frau Merkel angesprochen worden sind. Einige Länder
– als einen ihrer Vertreter kann ich den Ministerpräsi-
denten von Hessen sehr genau identifizieren – haben in
diesem Zusammenhang gefordert, dass im Grundgesetz
zukünftig stehen solle, der Bund dürfe Finanzhilfen an
die Länder bzw. Gemeinden nur für Vorhaben geben, die
nicht Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung der
Länder sind. Was heißt das? Darüber haben wir lange ge-
sprochen. Die Länder – speziell Hessen und die B-Län-
der – haben uns gesagt: Ihr sollt in das Grundgesetz
schreiben, dass ihr den Kommunen keine Hilfen mehr
geben könnt, so wie ihr das jetzt zum Beispiel bei den
Ganztagsschulen macht.

Die Begleitmusik des Herrn Koch – andere will ich
dafür nicht in Anspruch nehmen – war eindeutig: Er will
in seinem Leben nicht noch einmal erleben, so hat er ge-
sagt, dass der Bund Gelder an die Länder und die Kom-
munen im Rahmen eines Konzeptes gibt, mit dem man
so populär werden kann, wie das an dieser Stelle gesche-
hen ist. Das war seine Begründung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Wenn man sich den Abfluss der Gelder ansieht, kann
man sich erklären, was eigentlich passiert ist. Von der
1 Milliarde Euro, die im letzten Jahr zur Verfügung stan-
den, ist längst nicht alles abgeflossen. Das war in den
einzelnen Ländern aber sehr unterschiedlich. Hessen
standen 70 Millionen Euro zur Verfügung, abgerufen
worden sind aber nur 2,8 Millionen Euro.

(Karsten Schönfeld [SPD]: Das ist unglaublich! – Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Weil es so populär ist!)


– Ja, das ist unglaublich, und zwar erstens im Hinblick
auf die Interessen der Kinder sowie der Frauen und Müt-
ter,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und zweitens im Hinblick auf die Arbeitsplätze. Hier-
durch können konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Hand-
werker und kleine Unternehmen vor Ort geschaffen wer-
den.

Deshalb sage ich noch einmal das, was der Kanzler
schon angesprochen hat: Wer will, dass es vor Ort Arbeit
gibt, muss zum Beispiel dafür sorgen, dass diese Mil-
liarde, die auch in diesem Jahr zur Verfügung steht, für
den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen eingesetzt
wird. Das Geld steht zur Verfügung. Bitte nehmt es und
macht endlich etwas damit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es war einvernehmlich vereinbart, dass die Befugnis
zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerb-
steuer an die Länder fällt.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ach was!)

Einvernehmlich vereinbart war ein Steuertausch in dem
Sinne, dass die Zuständigkeit für die Versicherungsteuer
in Zukunft ganz bei den Ländern, aber die für die Kfz-
Steuer beim Bund liegt. Einvernehmlich vereinbart war,
dass das Finanzverwaltungsgesetz für die Steuerverwal-
tung im Sinne einer Präzisierung des Bundesrechtes in
Bezug auf die Auftragsverwaltung, die Koordinierung
der Prüfungsdienste und die Bündelung der Aktivitäten
zur Bekämpfung von Steuerkriminalität bearbeitet wird.
Einvernehmlich vereinbart war die Haftungsfrage in Be-
zug auf Europa. Einvernehmlich vereinbart war das Vor-
gehen von Bund und Ländern in Bezug auf den nationa-
len Stabilitätspakt. Einvernehmlich vereinbart waren
Mitwirkungsrechte von Bund und Ländern in Bezug auf
die nationale Interessenwahrnehmung in Europa. Ein-
vernehmlich vereinbart war ein Großteil der Maßnah-
men in Bezug auf die innere Sicherheit. Einvernehmlich
vereinbart war, dass ausdrücklich ins Grundgesetz auf-
genommen wird: Berlin ist die Hauptstadt der Bundes-
republik Deutschland.

Ich habe all diese Dinge noch einmal aufgezählt, weil
ich glaube, dass wir auch dann, wenn wir in Hinblick auf
Zusammenarbeit guten Willens sind, wissen müssen:
Nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft oder die Gesell-
schaft im Allgemeinen muss Bürokratie beiseite geräumt
werden. Auch die Demokratie muss sich so organisieren,
dass wir glaubwürdig sind und nicht unnötig Hürden
aufbauen, die vermeidbar sind. In diesem Sinne wäre
das, was wir unter dem Punkt „Bundesstaatliche Ord-
nung“ vereinbart haben, ein guter Schritt.

Meine herzliche Einladung an alle, die wirklich wol-
len, dass sich Demokratie zeitgemäß organisiert, lautet:






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering

Lassen Sie uns das machen, was ich jetzt angesprochen
habe. Im Laufe des Verfahrens werden wir sehen, ob wir
auch noch die Vereinbarungen in den Bereichen Bildung
und Umweltrecht hinbekommen; denn zumindest beim
Umweltrecht sind wir schon dicht dran. Alles andere
können wir miteinander machen. Das garantieren wir.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will abschließend ein wenig darauf eingehen, was
Sie, Frau Merkel, mit Worten zur Freiheit begonnen und
auch geendet haben. Sie haben dazu in der letzten Zeit
auch einige Artikel geschrieben. Ich habe mich gewun-
dert, dass sich andere in der CDU/CSU, die dazu sicher
auch das eine oder andere sagen könnten, dazu nie geäu-
ßert haben. Zwischen uns großen und kleinen demokrati-
schen Parteien ist doch ein Rest von Akzeptanz vorhan-
den. Ich wundere mich, dass Sie sich so äußern.

Sie berufen sich auf Hayek. In seinem Werk arbeitete
Hayek mit bestechender Logik und überzeugenden Ar-
gumenten heraus, dass es vor allem um die Gewährleis-
tung individueller Freiheit als Voraussetzung für Fort-
schritt und Prosperität einer Gesellschaft geht, also vor
allem um den gesetzgeberisch garantierten Schutz des
Bürgers vor staatlicher Willkür und ungerechtfertigtem
Zwang. Das klingt gut.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

In Hayeks Buch „Die Verfassung der Freiheit“ steht:
Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst
erfreulich. Sie ist einfach nötig.
Gerechtigkeitsüberlegungen (geben) keine Recht-
fertigung für eine „Korrektur“ des Marktergebnis-
ses ab.
… so muss ich offen zugeben, dass ich, wenn De-
mokratie heißen soll: Herrschaft des unbeschränk-
ten Willens der Mehrheit, kein Demokrat bin …


(Karsten Schönfeld [SPD]: Ganz toll!)

Man kann über solche Sachen diskutieren. Ich emp-

fehle Ihnen aber sehr, Frau Merkel, sich das genau zu
überlegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die CDU wird sich entscheiden müssen, ob sie an dieser
Stelle Hayek oder Ludwig Erhard will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist ein Unterschied. Mit Hayek gibt es keine soziale
Marktwirtschaft, mit Ludwig Erhard ja. Da hat es in den
letzten Tagen schwer gerumpelt; er hat sich mehrmals im
Grabe umgedreht. Darauf kann ich wetten.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/ CSU]: Der Philosoph Müntefering!)


Wir sind jetzt bei der Frage nach dem Verhältnis von
Freiheit und Staat. Sie wissen, dass wir Sozialdemokra-
ten nicht nur für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität
eintreten, sondern auch davon überzeugt sind, dass der
Staat eine Aufgabe hat und sie behalten muss. Diejeni-
gen von Ihnen, die ehrlich sind, werden das nicht bestrei-
ten. Die Frage ist: Wo ist die Grenze? Wie weit geht das?
Wie lösen wir das Spannungsverhältnis auf?

Wenn wir die Rolle des Staates ernst nehmen und von
den Grundwerten ausgehen, die uns alle miteinander
verbinden, müssen wir wissen, dass Freiheit, Gerechtig-
keit und Solidarität nicht trennbar sind. Einer der Grund-
werte alleine kann nicht funktionieren. Wir müssen sie
alle drei miteinander haben. Dazu hat Johannes Rau,
der damalige Bundespräsident, im Mai 2004 Bedenkens-
wertes gesagt:

Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienst-
leistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur
Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der Staat
schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und
Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökono-
mischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen
längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu legt er auch Regeln und Pflichten zu Gunsten
der Gemeinschaft fest. Damit schafft der Staat Frei-
räume gegen puren Ökonomismus und gegen das
alles beherrschende Dogma von Effizienz und Ge-
winnmaximierung.
Gewiss: Eigene Verantwortung und eigene Anstren-
gung sind notwendig und unverzichtbar. Mehr
Eigenverantwortung darf aber nicht heißen, dass
die Starken sich nur noch um sich selber kümmern
und die anderen sehen sollen, wo sie bleiben.
Solidarität der Schwachen mit den Schwachen –
das genügt nicht. Arbeitende für Arbeitslose, Junge
für Alte, Gesunde für Kranke, Nichtbehinderte für
Behinderte: Darauf bleibt jede Gesellschaft ange-
wiesen.

Johannes Rau hat sehr Recht.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1516600600

Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion,

Dr. Wolfgang Gerhardt.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1516600700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Um an meinen Kollegen Müntefering mit „Frei-
heit, Gleichheit und Solidarität“ anzuschließen: Die
Kombination unser aller Erbanlagen macht uns alle ein-
zigartig – wenige einzigartig begabt und viele einzigartig
durchschnittlich. Wenn Sie denen, die einzigartig begabt
sind, im Bildungssystem, in der steuerlichen Belastung
und in ihren Lebenschancen nicht gerecht werden, wenn
Sie eher eine Neid- und Vermeidungsgesellschaft gegen
sie mobilisieren,


(Joachim Poß [SPD]: Popanz!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

werden Sie der Gesellschaft nicht helfen, größte soziale
Sicherheit für alle herzustellen – im Sinne Ludwig
Erhards, über die marktwirtschaftliche Ordnung, nämlich
den Arbeitsplatz. Das ist der Kern des Denkunterschiedes
zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten. Wir
haben die gleiche Passion: Wir wollen Arbeitslosen hel-
fen. Uns trifft genau wie Sie jeder, der arbeitslos wird.
Aber wir haben nicht diese Staatsregulierungsall-
machtsanmaßungsmentalität, zu glauben, dass wir für
Tausende von Menschen die persönlichen Lebensent-
scheidungen besser treffen könnten – durch Gesetzge-
bung –, als sie das für sich selbst können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb will ich einmal auf den Kern der Debatte zu-

rückkommen: Ich glaube, dass bei über 5 Millionen
Arbeitslosen in der Öffentlichkeit heute nur ein be-
grenztes Interesse besteht, zu erfahren, wo sich das Gast-
stättenrecht im Zuge einer Föderalismusreform am Ende
wiederfindet, wo das Jagdrecht und wo vieles andere
mehr. Die Öffentlichkeit interessiert die große Antwort
und nicht das kleine Einzelne aus dem Instrumentenkas-
ten von Energiepolitik, von Sonderprogrammen – auch
nicht das 152. KfW-Programm –, Gewerbesteuerver-
rechnung, Verkehrsinfrastruktur. Die Öffentlichkeit inte-
ressiert, welchen Weg die Politik geht, um Vertrauen zu-
rückzugewinnen, und sie interessiert, ob wir überhaupt
noch wissen, wie Arbeitsplätze entstehen und wer sie in
Deutschland schafft.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie will einen Wiedererkennungswert in uns haben.

Deshalb, Herr Bundeskanzler, komme ich gleich auf
den Punkt: Sie sind mit einer Art Unfallkoffer durch Ihre
Regierungserklärung für Deutschland gelaufen. Sie ha-
ben Gewerbesteuerverrechnungsmodelle neu angebo-
ten. Das ist typisch deutsch: eine Steuer, die eigentlich
abgeschafft werden müsste, weil sie Arbeitsplätze ver-
hindert, zu erhalten, weil sie zum gedanklichen Hausgut
der SPD gehört;


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

die Mittelständler sie berechnen zu lassen, bürokratische
Instrumente einzuführen, um sie dann am Ende zu ver-
rechnen. Schaffen Sie sie doch ab! Das wäre ein Befrei-
ungsschlag für die Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen jetzt einmal – ich hoffe, dass die Öffent-
lichkeit zusieht – diejenigen ansprechen, die die meisten
Jobs schaffen und die meisten Jugendlichen ausbilden:
Das sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Sie
fühlen sich wenig getröstet durch Ihren Vorschlag, die
Körperschaftsteuer noch einmal – auf 19 Prozent – zu
senken. Für sie ist die Einkommensteuer die betriebliche
Steuer. Sie wandern auch nicht alle ins Ausland ab – sie
produzieren hier. Sie kennen ihre Betriebsangehörigen;
sie besprechen mit ihnen in der Mittagspause betriebli-
che Probleme. Sie empfinden die Gewerkschaftszentrale
eher als störend; die bei ihnen beschäftigten Arbeitneh-
mer sehen das auch so.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Geben Sie denen doch den Freiraum, den sie brau-

chen! Sie besuchen doch die gleichen Betriebe wie ich
auch. Dort erzählen Ihnen die Leute doch nichts anderes
als mir. Das betriebliche Bündnis ist doch kein Anschlag
auf die Organisationsmacht von Gewerkschaften, son-
dern eine Chance für Beschäftigung. Fürchten Sie sich
doch nicht vor Freiheit in den Betrieben!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir sollten einmal die betriebliche Wirklichkeit sehen:
Über 50 Prozent der Betriebe sind bereit, betriebliche
Bündnisse zu verabreden. Wenn das so gut klappt, wa-
rum halten Sie dann an einem Gesetz fest, das nicht
klappt? Wenn wir offensichtlich gesetzliche Bestimmun-
gen haben, die eigentlich entgegen dem sind, was die
Betriebe wollen und was die Volkswirtschaft weiter-
bringt, dann sollten Sie diese gesetzlichen Bestimmun-
gen doch beseitigen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Denken ist es, das den Menschen solche Be-
schwerden macht. Den Unternehmern hilft kein KfW-
Programm, jedenfalls nicht durchschlagend. Sie haben
uns auch nicht darum gebeten, bei der Gewerbesteuer-
verrechnung wieder etwas zu machen. Sie wollen eine
neue unternehmerische Chance haben, sich mit der Bil-
dung von Eigenkapital festigen zu können, und sie wol-
len durch eigene unternehmerische Entscheidungen mit
guten Steuer- und Sozialreformsignalen eine Zukunfts-
chance haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Nichts davon hat der Bundeskanzler heute angespro-

chen! Nichts – dabei sind das die entscheidenden Fragen
für Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Soziale Sicherungssysteme, Herr Bundeskanzler – Sie
wissen es doch genauso gut wie ich –, sind zu einer
Barriere gegen Arbeitsplätze geworden. Klaus von
Dohnanyi hat es so ausgedrückt; man muss es jeden Tag
wiederholen. Warum sträubt sich Ihre gesamte Partei,
das zur Kenntnis zu nehmen? Ein Befreiungsschlag nicht
nur für den Mittelstand, eine Chance für Beschäftigung
in Deutschland wäre ein Bekenntnis von uns allen hier,
uns nicht in Wahlkämpfen anzugreifen, sondern den
Menschen in Deutschland zu sagen: Wir haben die so-
ziale Sicherheit durch ständig positive Wachstumsraten
erheblich erhöht. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die
soziale Sicherheit neu zu organisieren und sie vom Fak-
tor Arbeit abzukoppeln. Wenn Sie diesen Weg nicht ge-
hen, dann werden Sie die hohe Arbeitslosigkeit nicht be-
seitigen. Da durch Arbeit und Beschäftigung eine
größere soziale Sicherheit als durch Hartz IV erreicht
wird, bekenne ich mich entsprechend dem Bundespräsi-
denten – „Vorfahrt für Arbeitsplätze“ – für diesen Weg der
Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme. Das muss
man in einer Regierungserklärung auch ausdrücken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

Sie haben eine Zukunftsorientierung in Bildung und

Forschung angesprochen. Frau Kollegin Merkel hat völ-
lig Recht,


(Hubertus Heil [SPD]: Nein!)

wenn sie sagt, es könne nicht über eine Zukunftsorientie-
rung in Forschung und Entwicklung sowie Bildung gere-
det werden, wenn in Maastricht gleichzeitig eine
Schneise in die Zukunftsorientierung geschlagen wird,
die es uns in Deutschland erlauben würde, mehr Schul-
den zu machen. Bei Maastricht geht es für mich und
meine Fraktion nicht nur um die Finanzen, die Kriterien
und die Einhaltung des Vertrages. Durch die deutsche
Verhaltensweise wird das Vertrauen der anderen in uns
zerstört. Vertrauen war im Grunde genommen immer das
größte Gut der deutschen Außenpolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Bundesaußenminister, hat irgendjemand im Bun-
deskabinett eigentlich einmal darüber nachgedacht, wel-
chen Vertrauensverlust die Bundesrepublik Deutschland
mit dieser Klempnerei am Maastricht-Vertrag erleidet?
Er geht weit über finanzpolitische Erwägungen hinaus.
Das ist ein Verlust des Image, des Ansehens der Bundes-
republik Deutschland. Sie zerstören das gute Image
Deutschlands mutwillig, das aufgrund der in der Welt
wahrgenommenen Leistungsbereitschaft der Nachkriegs-
generation vorhanden ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben in Ihrer schriftlichen Erklärung eine kurze

Replik im Hinblick auf veränderte Konjunkturaussich-
ten gemacht und gesagt,


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind ein super Ökonom, Herr Gerhardt!)


Sie würden sich dagegenwenden, dass die Forschungs-
institute jetzt kurzatmig Prognosen korrigieren. Das ist
eine bemerkenswerte Einlassung. Sie haben sie nicht
wörtlich so gemacht, aber ich erlaube mir einmal, das so
darzustellen.


(Joachim Poß [SPD]: Sie tun so, als wäre das gesagt worden!)


Ihr Bundesfinanzminister hat jedes Jahr den Haushalt
eingebracht und gesagt, der Aufschwung stehe vor der
Tür.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Letztes Jahr war er da!)


Das kann man in jeder Rede nachlesen. Sie haben jedes
Jahr eine Prognose abgegeben und wir haben gesagt,
dass sie am Ende nicht stimmen wird. Jedes Jahr hatten
wir Recht, sie haben nicht gestimmt. Auch dieses Jahr
wird sie nicht stimmen. Die anderen sind doch nicht
schuld daran, dass wir hier so schwache Wachstumsraten
haben. Sie setzen doch die Rahmenbedingungen, die zu
solch schwachen Wachstumsraten führen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ihr Misstrauen gegen Ihre eigenen Prognosen ist sehr
wohl begründet.
Zur Bildung. Ministerpräsident Steinbrück wird nach-
her reden.


(Hubertus Heil [SPD]: Gott sei Dank!)

In der Bildungspolitik gibt es eine beklagenswerte Si-
tuation: Durch die PISA-Studien für Deutschland wurde
nachgewiesen, dass die soziale Herkunft in keinem an-
deren Land so sehr über den Schulerfolg entscheidet wie
in der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde gesagt,
dass dagegen etwas getan werden muss. Einverstanden.
Bevor wir dagegen etwas tun, möchte ich nur den kurzen
Hinweis geben: Bildung ist Hausgut der Länder und liegt
in ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeit. Die Län-
der müssen sich messen lassen. Die PISA-Studie richtet
sich an sie und ihre Kultusminister, also an ihre politi-
sche Verantwortung. In keinem Bundesland ist die Ver-
knüpfung zwischen der sozialen Herkunft und dem
Schulerfolg so eng und problematisch wie in Nordrhein-
Westfalen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen das verfassungsrechtliche Hausgut der

Länder beachten, die hier eine Verantwortung haben. Ich
frage mich allerdings, ob die Einheitsschule die richtige
Antwort ist.


(Hubertus Heil [SPD]: Waren Sie nicht mal Bildungsminister? – Joachim Poß [SPD]: Popanz!)


Ich glaube, dass wir in diesem Land nur dann weiter-
kommen – auch mit der Beschäftigung –, wenn wir
Wettbewerb im Bildungssystem haben. Leistung ist
keine Körperverletzung.


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind Leistungsträger! Das sieht man an der Qualität Ihrer Argumente!)


Leistungsbereitschaft, das Heranführen an Prüfungen
und das Bestehen von Herausforderungen gehören zum
menschlichen Leben. Es ist entscheidend, Kinder in pä-
dagogisch verantwortbarer Weise dort hinzuführen.

Es wäre in der Föderalismuskommission nicht zum
Streit gekommen, wenn wir das beherzigt hätten, Herr
Müntefering, was wir immer sagen: Die Hochschulen
müssen autonom sein. Entlassen Sie sie doch in die
Autonomie und damit in den Wettbewerb!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Lassen Sie sie doch ihre Studentinnen und Studenten
selbst aussuchen! Lassen Sie sie doch über Studienge-
bühren so entscheiden, wie sie es wollen!

Die Frage ist doch nicht, ob der Bund oder die Länder
zuständig sind. Warum haben Sie solche Angst vor dem
Gebrauch der Freiheit durch die Wissenschaftler der
Hochschulen? Warum haben Sie denn bei Forschung
und Entwicklung eher das Bedürfnis, hinsichtlich der
Technikfolgenrisikoabschätzung Gesetze zu machen, die
die Forschung einschränken, als Wissenschaftlern in
Deutschland, die ihre Forschungsarbeiten mit Ethik und
klarem normativen Verhalten machen, einen Vertrauens-
vorschuss zu geben? Der Kern Ihres Problems bei dem






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

ganzen Bürokratisierungsvorgang ist, dass Sie den Men-
schen eher misstrauen als vertrauen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie das nicht überwinden, wird es in Deutschland
keine Beschäftigung geben. Das ist nicht nur eine Frage
der Bürokratie, sondern eine Frage der Einstellung.

Verschonen Sie uns mit Ihrer Lösung bei der Grünen
Gentechnik! Sie wissen, dass dieser Bereich ein Wachs-
tumsmarkt ist. Wir beide sind uns auch beim therapeu-
tischen Klonen und bei der Stammzellenforschung einig.
Sie wissen das genauso gut wie ich. Ihr Angebot, sich als
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dafür
einzusetzen, für die Grüne Gentechnik, die schon heute
verantwortbare Ergebnisse zeigt und für die sich in
Deutschland Forscher interessieren, die von diesem
Wachstumsmarkt profitieren wollen, einen Haftungs-
fonds einzurichten, um praktisch mit diesem Auffang-
netz die missratene Gesetzgebung zu korrigieren, kann
doch nicht die Lösung des Bundeskanzlers der Bundes-
republik Deutschland, einer großen Industrienation, für
einen Wachstumsmarkt sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das gilt auch für diejenigen, die anderer Meinung

sind als Teile der Koalition. Das gilt auch für uns. Das
nehme ich auch für mich in Anspruch. Wir beide haben
genauso gute und ethisch überzeugende Gründe, die me-
dizinische Forschung weiterzubringen, die das Leid von
Menschen lindern kann. Aber ich habe den Vorteil, dass
ich Vorsitzender einer Fraktion bin, die das weitestge-
hend mit mir teilt.


(Beifall bei der FDP)

Sie sind Chef eines Kabinetts, das diese Auffassung

so nicht teilt. Sie richten sich in Erklärungen oft – das
kann man gut beobachten – an Ihre eigenen Reihen, um
sie zu überzeugen, dass der Weg gegangen werden muss.
Das ist auch bei der Gentechnik der Fall, Herr Bundes-
kanzler. Sie haben mit der Agenda 2010 die richtige
Richtung vorgegeben. Sie haben diesen Prozess irrever-
sibel gemacht; das bleibt Ihr Verdienst. Aber dass Sie so
unglaubliche Anstrengungen unternehmen müssen, um
Ihren sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen
bare Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, wird für
mich immer unverständlich bleiben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass bei Ih-
nen und Ihrer Fraktion ein Minimum an volkswirtschaft-
lichen Kenntnissen darüber, wie Arbeitsplätze entstehen
und die Mechanismen auf dem Arbeitsmarkt funktionie-
ren, vorhanden ist.


(Joachim Poß [SPD]: Die Kenntnisse können Sie ja für sich reklamieren! – Ludwig Stiegler [SPD]: Gut, dass wir Sie haben!)


Das, was Sie persönlich an physischer Kraft verbraucht
haben, um diese Schmalspuragenda bis heute durchzu-
setzen, ist schon verwunderlich. Der Bundespräsident
hat gesagt, es dürfe keine Reformpause eintreten. Ich
füge hinzu: Sie hatten Ende des vergangenen Jahres die
Anwandlung, dass jetzt eine eintreten könne. Sie wissen
nun aber, dass das nicht möglich ist.

Erzählen Sie niemandem, die Zahl von über 5 Millio-
nen Arbeitslosen habe sich aus den Gesetzen von Hartz I
bis Hartz IV mechanistisch ergeben; die Menschen er-
führen jetzt endlich die Wahrheit. Nein, diese Arbeitslo-
senzahl – aus meiner Sicht ist sie in Wirklichkeit sogar
höher als die, die gemeldet wird – kannten Sie und wir
seit Jahren. Diese Arbeitslosen sind diejenigen, die sich
in der Drehtür zwischen Beschäftigungslosigkeit, Wei-
terbildungskursen und erneuter Arbeitslosigkeit befan-
den. Diese Menschen haben Sie aus diesen Wartehallen
nicht herausgelassen. Ihre Sozialpolitik war die Beglei-
tung von Arbeitslosigkeit. Sie waren eher bereit, die
Kompensation dafür zu erhöhen, als bei der Beschäfti-
gung in Deutschland einen Durchbruch zu erzielen.


(Zustimmung bei der FDP)

Daran hat Sie die Fraktion der FDP nicht gehindert.

Gehindert haben Sie an diesem Durchbruch die Bundes-
tagsfraktion der SPD und – das gilt insbesondere für Be-
reiche, in denen dieser Durchbruch gar kein Geld
kostet – ohne Ende die Grünen, und zwar bei Verkehrs-
baumaßnahmen und der Forschungsförderung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die KfW muss überhaupt kein Programm auflegen.

Es wäre schon eine Wohltat für die Bundesrepublik
Deutschland, wenn Sie Ihren Partner überzeugen könn-
ten, Vorfahrt für Arbeitsplätze zu geben.


(Hubertus Heil [SPD]: Rechts vor links!)

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1516600800

Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka

Fischer.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516600900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

man heute Morgen der Debatte folgt, so kann man fest-
stellen, dass sich alle Fraktionen zu Recht über das
Schicksal von über 5 Millionen Arbeitslosen tiefe Sorgen
machen. Diese Debatte wird von den Menschen verfolgt.
Es wurde zu Recht auch auf die Rede des Bundespräsi-
denten hingewiesen. Wenn man die Debatte sorgfältig
nachvollzieht, stellt sich allerdings die Frage, ob wir die
Frage der Zuhörerinnen und Zuhörer vor den Fernseh-
schirmen und am Radio beantworten können, nämlich ob
wir es gemeinsam packen werden. Das ist die entschei-
dende Frage, um die es geht.

Vieles von dem, was ich hier gehört habe, ist im We-
sentlichen parteipolitisch orientiert gewesen. Der Bun-
deskanzler hat heute in einer, wie ich finde, großen und
beeindruckenden Rede ein Angebot gemacht,






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


in dem Prozess der Reformen weiterzugehen. Lassen wir
für einen Augenblick die parteipolitische Kontroverse
hinter uns. Um was geht es denn gegenwärtig? Tun wir
als Vertreter von Parteien doch nicht so, als ob die eine
Seite immer nur Recht hätte und die andere Seite immer
nur auf der falschen Linie wäre! Wir müssen doch fest-
stellen, dass die Bundesrepublik Deutschland vermutlich
den tiefsten Wandel in den Sozialsystemen, in der Wirt-
schaft und auf dem Arbeitsmarkt seit ihrer Gründung
durchläuft. Das, was wir zu leisten haben – darüber müs-
sen wir uns streiten und dann auch die Entscheidungen
treffen –, ist, den Sozialstaat, der auf nationale Grenzen
und ein sich langsam integrierendes Europa ausgerichtet
war, für die Herausforderungen der Globalisierung fit zu
machen, sodass soziale Gerechtigkeit auch im 21. Jahr-
hundert ein Grundwert unserer Republik ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden daran gemessen werden, ob wir es ge-
meinsam packen. Ich möchte nicht wiederholen, was
von verschiedenen Rednern gesagt wurde und was der
Bundeskanzler in seiner beeindruckenden Rede darge-
stellt hat. Wir haben Hartz IV gemeinsam angepackt.
Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist uns damals im
Vermittlungsausschuss, in der großen Runde in jener
Nacht, gelungen, die Gemeinsamkeit herzustellen. Das,
was wir da geleistet haben, müssen wir den Menschen
immer wieder erklären.

Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik,
wir wollen, dass mit der Verwaltung von Arbeitslosig-
keit Schluss ist und dass die Menschen aus der Hoff-
nungslosigkeit herausgebracht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir sind gegenwärtig in der Mitte des Stromes. Das
müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Wir
wollen, dass junge Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfä-
hig sind – ich denke an über 100 000 Jugendliche, die,
bevor sie überhaupt richtig ins Arbeitsleben eingetreten
sind, bereits in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit an-
gekommen sind –, einen Anspruch darauf haben, inner-
halb von drei Monaten – der Wirtschaftsminister hat ge-
sagt, dass er das in diesem Jahr erreichen möchte – einen
Ausbildungsplatz zu bekommen oder eine Arbeit zu er-
halten. Das ist ein entscheidender Ansatz im Kampf ge-
gen die Jugendarbeitslosigkeit, aber auch gegen die
Hoffnungslosigkeit bei der jungen Generation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Zweite, worüber kaum geredet wird, sind die
Alleinerziehenden. Wir wissen doch, dass gut ausgebil-
deten Alleinerziehenden in der Vergangenheit ein Schein
für das Sozialamt gegeben und ihnen gesagt wurde: Ge-
hen Sie doch zum Sozialamt, Sie haben Anspruch auf
Sozialhilfe! Das war der Fall, wenn sie keinen Betreu-
ungsplatz hatten. Da reicht nicht ein Kindergartenplatz,
wo die Kinder nur vier oder fünf Stunden betreut wer-
den. Das ist der falsche Weg, mit dem Hartz IV Schluss
gemacht hat. Es geht entscheidend darum, dass wir eine
Ganztagsbetreuung bekommen. Eine Alleinerziehende,
die einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat einen An-
spruch auf Betreuung. Wo die Betreuung nicht funktio-
niert, ist die Bundesagentur in der Pflicht. Das ist richtig
und wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich frage mich in diesem Zusammenhang, was die
älteren Arbeitnehmer, die diese Debatte verfolgen,
denken werden. Wir reden über demographische Verän-
derungen, ein späteres Renteneintrittsalter und Alten-
arbeit. Das ist zwar alles richtig, aber sehr viele werden
mit 50 Jahren ausgesteuert und haben kaum noch eine
Chance, einen Arbeitsplatz zu finden.

Ich frage Sie: Wie können Sie, wenn die Freiheits-
rhetorik nicht hohl sein soll, an diesen Menschen vorbei-
gehen? Wir sind schließlich keine Repräsentanten einer
Deutschland AG; wir sind vielmehr die gewählten politi-
schen Repräsentanten, die sich auch und gerade um die
Sorgen und Bedrängnisse dieser Menschen Gedanken
machen und Lösungen anbieten müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das kann sich nicht darauf beschränken, Maßnahmen
nur dann durchzuführen, wenn es den Unternehmen
nützt.

Mit Hartz IV ist ein entsprechender Schwerpunkt ge-
setzt worden. Deswegen finde ich es richtig und wichtig,
dass wir dem Angebot des Bundeskanzlers folgen, die
Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, bei den 1-Euro-
Jobs die Entfristung herbeiführen – davon hängen viele
dieser Jobs in Ostdeutschland ab – und damit Möglich-
keiten für die über 55-Jährigen – seien wir doch ehrlich:
mehr und mehr sind auch schon 50-Jährige betroffen –
schaffen, um eine Trendwende zu erreichen. Wenn die
Wirtschaft dennoch meint, mit 50 sei Schluss, und
gleichzeitig, wie Herr Hundt, Rentenkürzungen fordert,
dann sägt wohl jemand an dem Ast, auf dem er sitzt. Er
sollte das füglichst unterlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In der heutigen Ausgabe einer Berliner Tageszeitung
ist nachzulesen, welche Angebote für einen aktivieren-
den Arbeitsmarkt die OECD empfiehlt. Das entspricht
genau dem, was wir mit Hartz IV gemeinsam – ich wie-
derhole: gemeinsam – angepackt haben.

Wir sind bereit, auch einen zweiten Schritt gemein-
sam mit Ihnen zu gehen. Frau Merkel schlägt einen Pakt
für Deutschland vor. Wir werden uns heute Nachmittag
zu einem gemeinsamen Gespräch treffen. Ich glaube
aber, dass ein Pakt für Deutschland nicht in der Weise
funktionieren wird, dass die Regierung Gesetzesvor-
schläge macht und die Opposition diese wohlwollend
prüft.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir haben ja Vorschläge gemacht!)

Das ist zwar huldvoll, aber es wird nicht reichen. Ich er-
kläre Ihnen auch, warum. Wir haben nämlich schlicht
und einfach eine bundesstaatliche Ordnung. Frau Merkel
als Partei- und Fraktionsvorsitzende kann das zwar so
sehen, für die Ministerpräsidenten gilt das aber nicht.
Denn die zweite Kammer steht mit in der bundesstaat-
lichen Verantwortung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wer regiert denn hier?)


Insofern wird es von entscheidender Bedeutung sein,
ob der Wille vorhanden ist, das Ganze gemeinsam anzu-
packen.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Angst vorm Regieren!)


– Um Angst geht es dabei überhaupt nicht. Das hat doch
mit Angst nichts zu tun. Zuerst sagen Sie, Sie seien tief
besorgt um die 5,2 Millionen Arbeitslosen. Wenn ich
aber davon rede, dass wir es gemeinsam anpacken soll-
ten, dann sprechen Sie von Angst. Das ist kleinste partei-
politische Münze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das nehmen uns die Menschen nicht mehr ab. Deswe-
gen spreche ich von der Ordnung der Freiheit. Ich bin
sehr dafür, das durchzudeklinieren. Parteien wie auch
Demokratien haben mit Interessen zu tun. Es geht aber
auch darum, Konsens über die widersprüchlichen Inte-
ressen herbeizuführen. Vielleicht – ich weiß es nicht –
definieren wir Freiheit in einem Punkt unterschiedlich.


(Zuruf von der FDP: In der Visaerteilung!)

Ich bin nämlich der Meinung, dass es Freiheit unter den
Bedingungen der sozialen Demokratie und der ökolo-
gischen Grenzen nur im Dreisatz gibt. Die Wettbewerbs-
fähigkeit, die auf Freiheit gründen muss, kann nicht
bedeuten, dass wir uns von dem sozialen Gerechtigkeits-
anspruch und der ökologischen Nachhaltigkeit verab-
schieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insofern halte ich nichts von Vorfahrtsregeln, aus denen
nicht deutlich wird, auf welcher Grundlage sie entstan-
den sind.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Vorfahrtsregeln für wen?)


Lassen Sie uns an dieser Stelle die Ordnung der Frei-
heit durchdeklinieren. Im Zusammenhang mit der Ord-
nung der Freiheit wird festgestellt, dass sich Deutsch-
land in einem traurigen Zustand befindet. Sie wissen
ebenso gut wie ich, dass wir ein binnenkonjunkturelles
Problem haben. Im Export ist unsere Wirtschaft hervor-
ragend aufgestellt. Wie sollte diese Leistung erbracht
werden, wenn das nicht der Fall wäre?
Die Ordnung der Freiheit heißt, dass wir durch die
Steuerreform gewaltige Entlastungen in Höhe von
50 Milliarden bis 60 Milliarden Euro für die Bürger und
Unternehmen erreicht haben. Die Unternehmensteuer-
sätze wurden gesenkt, genauso wie der Spitzensteuer-
satz. Der Eingangssteuersatz wurde halbiert. Darauf
wurde schon hingewiesen. Es ist richtig: Mit der Reform
der Körperschaftsteuer und einigen anderen Maßnah-
men wollen wir erreichen, dass das Steuersubstrat trotz
offener europäischer Konkurrenz im Wesentlichen in
Deutschland bleibt. Richtig ist ebenfalls, dass wir im
Herbst dieses Jahres eine umfassende Unternehmensteu-
erreform und, so glaube ich, ein einheitliches Unterneh-
mensbesteuerungsrecht brauchen. Das sind Punkte, in
denen wir uns im Grunde genommen einig sind. Wenn
dem so ist, dann sollten wir das den Menschen draußen
aber auch klar machen, um Vertrauen zu schaffen, und
nicht das Trennende in den Vordergrund stellen.

Ich komme zur Gesundheitsreform. Hier hat es mir
ehrlich gesagt den Atem verschlagen. Frau Merkel, be-
deutet Ordnung der Freiheit, dass Sie hier plötzlich Inte-
ressenvertreterin der Firma Pfizer sind, und das ausge-
rechnet bei der Festbetragsregelung?


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Popanz! – Michael Glos [CDU/CSU]: Wessen Interessenvertreter sind Sie? Unglaublich!)


Wenn man sich anschaut, wie viel Generika kosten, dann
kann man doch nicht allen Ernstes einerseits fordern
– dieses Lied hat Herr Gerhardt gerade wieder auf sehr
banale Weise gesungen – „Staat raus!“ und andererseits
die Interessen der Firma Pfizer gegen eine vernünftige
Begrenzung der Gesundheitskosten verteidigen. So wird
es nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insgesamt ergibt sich durch die Reduzierung der Ge-
sundheitskosten eine Entlastung in Höhe von 9 Milliar-
den Euro. Gemeinsam mit der Rentenreform sowie der
Umsteuerung am Arbeitsmarkt und in den sozialen Si-
cherungssystemen sind das doch gewaltige Entlastungen
für die Unternehmen. Ich bin sehr für Ordnung der Frei-
heit. Für mich ist aber der entscheidende Punkt: Wenn
ich Ordnung der Freiheit sage – –


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ordnung, Sie? Um Himmels willen! – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Visa! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)


– Was heißt Visa? Das können Sie doch alles im Unter-
suchungsausschuss klären. Ich habe Ihnen gesagt, wel-
che Fehler ich gemacht habe. Aber das ändert nichts an
den Fehlern, die Sie dabei sind zu begehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Herr Gerhardt, wenn Sie für die Ordnung der Freiheit
sind, dann frage ich Sie: Wozu brauchen wir dann noch






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung im Ge-
sundheitssystem?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Was machen wir dann mit der GKV und der Bürgerversicherung?)


– Ich komme gleich auf die Kopfpauschale und die Bür-
gerversicherung zu sprechen.

Es gibt in Nordrhein-Westfalen ein börsennotiertes
Unternehmen, das gutes Geld mit Apothekenmehrfach-
besitz verdient, aber nicht in Deutschland. Ich frage Sie:
Wozu brauchen wir noch das Mehrfachbesitzverbot? Wir
haben versucht, es zu öffnen. Wir hätten es gerne ganz
beseitigt. Aber ihr habt es verhindert. Frau Merkel und
Herr Gerhardt, lassen Sie es uns doch gemeinsam an-
packen, wenn Sie der Meinung sind, dass das weg soll.
Dann werden wir gemeinsam Erfolg haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie wollen Ihre Monopole haben und die anderen nicht!)


– Nein, Herr Gerhardt. Aber es ist schön, dass Sie so ge-
ständig sind


(Michael Glos [CDU/CSU]: Geständig sollten Sie sein!)


und zugeben, dass Sie die Kassenärztliche Vereinigung
und die Apotheken – deshalb halten Sie wohl am Mehr-
fachbesitzverbot fest – als Ihre Monopole begreifen. Das
ist meines Erachtens eine klare Ansage. Ich verfüge je-
denfalls über keine Monopole.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


An diesem Punkt kann ich Ihnen nur sagen: Wir ha-
ben doch enormen Erfolg mit der Änderung der Hand-
werksordnung erzielt. Es sind Neugründungen in enorm
großer Zahl erfolgt. Aber warum machen wir hier nicht
weiter? Wenn wir sehen, dass wir mit der Deregulie-
rung der Handwerksordnung Erfolg haben, brauchen
wir dann beispielsweise noch das Gebietsmonopol für
Schornsteinfeger? Hier können wir entbürokratisieren
und deregulieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Den Flächentarif wollen Sie aber erhalten!)


– Jetzt kommt der Flächentarif. Wenn Sie sich die Tarif-
struktur anschauen, dann wissen Sie doch, was los ist.

Wenn ich mir anschaue, was die Unternehmen in Ost-
deutschland sowie die Bündnisse für Arbeit in Ost und
West geleistet haben, und sehe, dass in manchen Fällen
das Management einfach nicht mehr da ist, obwohl bei
ihm die Verantwortung liegt, während sich die Beleg-
schaft – beispielsweise bei Karstadt und Opel – sehr ver-
antwortlich verhält, dann muss ich sagen: Ich bin froh,
dass wir Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaf-
ten haben, die dazu in der Lage sind. Wer will das in-
frage stellen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nun kommen Sie mit einem Gesetz zur Regelung der
betrieblichen Bündnisse. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen. Es wird über Entbürokra-
tisierung geredet. Die betrieblichen Bündnisse funktio-
nieren. Die Bedingungen, die der Bundespräsident mit
Hinweis auf Montesquieu gefordert hat, sind gegeben.
Dennoch wollen CDU, CSU und FDP ein Gesetz zur Re-
gelung der betrieblichen Bündnisse. Ich verstehe das
nicht. Vielleicht haben Sie andere Interessen. Womög-
lich wollen Sie nicht wirklich die Ordnung der Freiheit
realisieren, sondern Ihre Ideologie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Ohne Scham!)


Was die Bildung angeht, möchte ich in beide Rich-
tungen sagen: So kommen wir nicht voran. Es besteht
die Gefahr, dass wir uns in der Frage „Einheitsschule
oder dreigliedriges Schulsystem?“ wieder verhaken. Wa-
rum können wir das nicht hinter uns lassen? Der Verweis
auf PISA mit Bezug auf Bayern und Baden-Württem-
berg ist richtig. Aber, Herr Ministerpräsident, auch Sie
wissen: Sie haben, was die Anzahl an Abiturienten an-
geht, die schmalste Zugangsquote. Sie wissen, woran
das liegt.

Ich behaupte ja gar nicht, dass das Gesamtschulsys-
tem, wie es bei uns ausgestaltet ist, das bessere ist.


(Zurufe von der CDU/CSU und von der FDP: Aha!)


Aber ich frage nicht: Wo steht Bayern, wo steht Nord-
rhein-Westfalen, wo steht Hessen? Vielmehr frage ich:
Wer steht denn an der Spitze? Müssen wir das Rad neu
erfinden? Ich sage an die Linke gerichtet: Aus unserer
Sicht müssen wir akzeptieren, dass unser Platz an der
Spitze der Wettbewerbs-, das heißt auch der Leistungs-
fähigkeit ist.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, an der Spitze der Förderung der illegalen Einreise! Schengen!)


Exzellenz, Leistungsfähigkeit und Spitzenförderung sind
in Deutschland dringend notwendig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Richtung der Rechten sage ich: Es kann doch nicht
sein, dass unsere wichtigste Ressource, nämlich die
nächste Generation, vom Geldbeutel der Eltern abhängt
und dass es nicht möglich ist, gemeinsam ein Schulsys-
tem zu entwickeln, das nicht mehr auf ideologischer
Kontroverse und Grabenkämpfen gründet. Wir sollten
uns vielmehr etwa am finnischen Schulsystem orientie-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

Viele Eltern haben Angst, dass die Qualität der Schu-

len nachlässt, wenn der Spracherwerb – er ist das erste
Ziel, das wir erreichen müssen; Spracherwerb gilt zu
Recht als A und O der Bildung, gerade für Zuwanderer-
kinder – nicht mehr funktioniert. Besonders wichtig sind
daher eine möglichst schnelle vorschulische Betreuung
und ein vorschulischer Spracherwerb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Genau das hat bei Ihnen gefehlt! Da sieht man, was daraus geworden ist!)


Das ist zunächst zu gewährleisten. Warum können Bund
und Länder diesbezüglich keine gemeinsame Initiative
starten? Herr Ministerpräsident Stoiber, das hätte auch
den Effekt, dass Familie und Beruf viel besser miteinan-
der vereinbar wären.

Egal welche Schulform wir haben, wenn wir in die
Aus- und Fortbildung und in die individuelle Betreuung
der Schüler nicht mehr investieren, dann werden wir
– auch das ist ein greifbares Ergebnis von PISA – im
europäischen Vergleich nicht aufholen. Deswegen müs-
sen mehr Mittel in diesen Bereich fließen. Ich kann mir
nur an den Kopf greifen, wenn in der Diskussion über
eine Steuerreform gefordert wird, die Eigenheimzulage
nicht abzuschaffen. Wenn meine soeben vorgenommene
Analyse richtig ist, dann müssen die durch die Abschaf-
fung der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel in die
Bildung und in die Ausbildung fließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Peinlich!)


Späte Differenzierung, breiter Zugang, Leistung und
Spitzenförderung – in Bezug auf all das erwarten die
Menschen von uns doch, dass wir die Grabenkämpfe der
Vergangenheit vergessen und uns einigen. Warum kann
man das nicht im Rahmen der Bund/Länder-Gespräche
klären? Ich kann Ihnen hier nochmals versichern: Für
uns ist ein breiter Zugang – Stichwort Gerechtigkeit –
ein entscheidender Punkt;


(Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, rein nach Deutschland! Rein nach Schengen!)


aber wir wissen um die Bedeutung der Spitzenförderung.
Warum ist Ihre Seite nicht in der Lage, hier einen kon-
sensorientierten Vorschlag zu machen, damit wir mit
diesen Grabenkämpfen endlich aufhören, die nur zu
einer Blockade unseres Bildungssystems führen und
zum Schaden unseres Landes sind?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich habe die Debatte mit den Ministerpräsidenten ver-
folgt. Ich sage ganz offen: Ich bin vom Grundsatz her
nicht dagegen,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Grundsätze haben Sie keine, das stimmt!)


dass die Länder die alleinige Zuständigkeit für die
Bildung bekommen. Es gibt ein paar Länder, die in der
Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen; aber es gibt
viele Länder, die dazu nicht in der Lage sind.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Da, wo ihr regiert!)


– Nein, das ist doch absurd. Wenn man sich das Steuer-
aufkommen des Freistaates Sachsen anschaut, dann stellt
man fest, dass auch er dazu nicht in der Lage ist. Seien
Sie an diesem Punkt nicht so engstirnig! Sie wissen doch
ganz genau, dass alle ostdeutschen Länder, aber auch die
kleineren westdeutschen Länder – auch da regiert die
CDU, teilweise allein, teilweise in einer Koalition –
diese Aufgabe angesichts des Steueraufkommens nicht
bewältigen können.

Wenn man das machen will, ist die entscheidende
Frage, wie die Qualitätssicherung tatsächlich garantiert
wird, ohne dass Deutschland bildungspolitisch sozusa-
gen weiter provinzialisiert wird. Das ist die große Sorge,
die ich vor dem europäischen Hintergrund als Außen-
minister in die Debatte einbringe. Ich bin sehr dafür,
dass man das diskutiert und dass man die Initiative, die
der Bundeskanzler angesprochen hat, entsprechend auf-
nimmt. Wenn ich dann aber höre – Herr Stoiber, Sie wis-
sen das ja –, dass von Herrn Koch die Förderung von
Universitäten mit dem Argument abgelehnt wird, dass
kein Krach zwischen Darmstadt und Frankfurt entstehen
soll, dann kann ich dazu nur sagen: Das zeugt vom
Selbstverständnis eines Kleinstfürstentums, nicht einmal
mehr eines Duodezfürstentums. Das ist Provinzialismus
auf der unteren Ebene. Ich finde vielmehr, dass wir da
gemeinsam anpacken müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Als Außenminister möchte ich es nicht versäumen, im
Zusammenhang mit der Föderalismusreform eines klar
zu machen – das sage ich auch in Richtung der Oppo-
sition –: Jede weitere Einschränkung der Vertretungs-
kompetenz des Bundes in Europa ist gegen die Interes-
sen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das stimmt!)


Das hat nichts mit rot-grüner Parteipolitik zu tun. Wenn
die Länder weitere Versuche in diese Richtung unterneh-
men sollten, werde ich dagegenhalten, da ich das für völ-
lig gegen die Interessen unseres Landes gerichtet halte.
Auf diese Haltung müsste man sich doch einigen kön-
nen.

Nun kommen wir zum entscheidenden Thema, zum
Prinzip der Nachhaltigkeit.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Visafrage!)

Ich habe heute hören müssen, dass sich die CDU/CSU
davon verabschieden will.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wo?)

Man könnte ja geradezu meinen, umweltpolitische Maß-
nahmen seien die Wachstumsbremse schlechthin, wenn
man Ihnen zuhört. Zugleich ist mir aber auch aufgefallen,






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

dass Sie sich nicht mehr über die Ökosteuer auslassen.
Es war eine Zeit lang Ihr Steckenpferd, auf die Öko-
steuer einzudreschen. Mittlerweile scheinen Sie ganz
genau zu wissen, dass die Abschaffung der Ökosteuer
2 Prozentpunkte in der Sozialversicherung ausmachen
würde, die anderweitig finanziert werden müssten. Aber
auch Sie wissen nicht, woher dieses Geld genommen
werden sollte. Stattdessen betreiben Sie nun eine Kam-
pagne gegen eine vorsorgende Umweltpolitik. Denken
wir einmal an das, was der stellvertretende General-
sekretär der Vereinten Nationen, zuständig für den Um-
weltbereich, der ehemalige Umweltminister Klaus
Töpfer, heute sagt: Er redet über vorsorgende Umwelt-
politik, über Klimaschutz und über die gemeinsame glo-
bale Verantwortung in der einen Welt. Wenn ich mir
demgegenüber anhöre, was Frau Merkel sagt, fühle ich
mich bezüglich ihrer Ablehnung des Umweltschutzes in
die 70er-Jahre zurückversetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Umwelt ist heute einer der entscheidenden Produk-
tions- und Arbeitsplatzfaktoren. Sie dagegen fahren
Kampagnen gegen die erneuerbaren Energien. Dabei
tut eine neue Energiepolitik Not. Schauen Sie sich doch
einmal die Lage in Peking heute an: Im Sommer sehen
Sie dort die Sonne nicht mehr.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie in sechs Jahren gemacht?)


Schauen Sie sich die Umkehrung der Warenströme an
und die Absorption, die diese große Volkswirtschaft aus-
löst. Denken Sie auch daran, dass Indien auf diesem Weg
folgt. Vor diesem Hintergrund ist es doch absurd, als ent-
wickeltes Industrieland nicht auf erneuerbare Energieträ-
ger zu setzen und nicht den Ehrgeiz zu haben, bei dieser
Entwicklung an der Spitze zu stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insofern ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz von ent-
scheidender Bedeutung. Entsprechendes gilt für das
neue Energiewirtschaftsrecht, wodurch entsprechende
Investitionen ausgelöst werden.

Zu dem, was Sie im Zusammenhang mit der Gen-
technik sagen, kann ich Ihnen nur die Parole entgegen-
halten: Ordnung der Freiheit. Sie schlagen allen Ernstes
vor, eine Gemeinhaftung bei der Gentechnik einzufüh-
ren. Das kann doch nicht wahr sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sollten einmal zuhören! – Michael Glos [CDU/CSU]: Wer haftet denn eigentlich für Sie, für den Schaden, den Sie angerichtet haben?)


Ich bin sehr dafür – das sage ich Ihnen noch einmal –,
dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen.
Wir werden es aber nicht hinnehmen – wer diese Vorstel-
lung hegt, der wird auf entschiedenen Widerstand von
unserer Seite stoßen –, dass man sich bei der Genehmi-
gungspraxis an Amerika orientiert, zugleich deutsches
Haftungsrecht einfordert und nur ein Klagerecht wie in
China einräumt. Das wird nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin dafür – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, dass
wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Das
sage ich auch in Richtung der eigenen Fraktion. Es er-
gibt sich aus der Natur der Verantwortungsgesellschaft,
dass Verfahren manchmal umständlich sind und lange
dauern. Doch dann, wenn man eine Genehmigung hat
– es sei denn, man handelt grob fahrlässig –,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie Sie bei der Visaerteilung! Grob fahrlässig!)


wird Schadensfreistellung gewährt. Das ist der entschei-
dende Punkt. Wenn man nun aber der Meinung ist, in
diesem Bereich weniger bürokratisch zu handeln, dann
muss man die Ordnung der Freiheit auch durchdeklinie-
ren. Wenn also nun andere Vorgaben bei der Genehmi-
gung festgelegt werden, muss auch die Individualhaf-
tung im Vordergrund stehen. Das ist von entscheidender
Bedeutung. Deswegen bin ich sehr dafür, dass man auch
über diese Fragen ordnungspolitisch diskutiert. Aber
man muss die Entscheidungen dann schon treffen. Man
kann nicht auf der einen Seite Neuland betreten wollen
und auf der anderen Seite den Rückbehalt der Gemein-
haftung fordern. Das wird nicht funktionieren. Wenn
Unternehmerfreiheit durchdekliniert werden soll, dann
auch und gerade im Haftungsrecht und damit in Berei-
chen, wo es durchaus riskant werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, wir haben die Möglich-
keit, heute hier wirklich gemeinsam etwas zu packen
– davon bin ich fest überzeugt –,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nicht mit Ihnen!)


und zwar jenseits der parteipolitischen Kontroversen, die
sein müssen und die bleiben werden. Aber wir haben an-
gesichts der 5,2 Millionen arbeitslosen Menschen, vor
allen Dingen der jungen Menschen, aber auch der gro-
ßen Zahl älterer Menschen, die hoffnungslos geworden
sind, nicht nur die Chance, dieses Problem anzupacken,
sondern auch die Verpflichtung, dass wir es packen und
dass wir Freiheit verbinden mit sozialer Gerechtigkeit
und mit Nachhaltigkeit.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Bundeskanzler, unternehmen Sie etwas! Die Genossen bleiben sitzen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1516601000

Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates

Bayern, Dr. Edmund Stoiber.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Der Wahlverlierer!)







(A) (C)



(B) (D)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1516601100

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr

Bundeskanzler, Sie selbst und Ihre Mitstreiter haben in
den letzten Tagen für diese heutigen Stunden hohe
Erwartungen geweckt. Gemessen an diesen hohen Er-
wartungen, an den Hoffnungen und an den Kommenta-
ren, die wir gelesen haben, ist Ihre Regierungserklärung
eine Enttäuschung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben die reale Lage des Landes verdrängt, beschö-
nigt und verharmlost.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genauso ist es!)

Ihre Regierungserklärung belegt: Sie sind der Heraus-
forderung, die die Arbeitslosigkeit an uns stellt, nicht
gewachsen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Leere Worte! Nichts dahinter!)


Dort, wo konkretes Handeln notwendig wäre, bieten Sie
Unverbindliches.


(Joachim Poß [SPD]: Große Klappe!)

Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, nach sechs

Jahren Rot-Grün ist die Bilanz für Deutschland – und
um die geht es heute – eindeutig negativ. Deutschland
hat heute 5,2 Millionen registrierte Arbeitslose. Es hat
heute die schlechteste Arbeitsmarktbilanz seit Ende des
Zweiten Weltkrieges. Deutschland hat nach wie vor das
geringste Wirtschaftswachstum in Europa. Ich brauche
die Zahlen hier nicht darzustellen. Wir sind im Prinzip
ein Hemmschuh bei der ökonomischen Entwicklung Eu-
ropas geworden und das haben Sie entscheidend mitzu-
verantworten. Das ist die reale Bilanz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Unser Land verstößt mit Rekordschulden gegen den eu-
ropäischen Stabilitätspakt und ist damit der Hauptsün-
der.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschland hat die geringsten öffentlichen Investitio-
nen seit Gründung der Republik. Auch wenn Sie noch so
viele Zwischenrufe machen: Die Menschen draußen im
Lande spüren, dass in unserem Lande nicht mehr alles in
Ordnung ist. Und dafür tragen Sie die Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie versündigen sich an Deutschland!)


Sie haben sich lange mit Hinweisen auf die Weltwirt-
schaft herausgeredet. Aber nicht die Weltwirtschaft und
nicht die Konjunktur sind schuld an unseren Problemen,


(Joachim Poß [SPD]: Aber Stoiber!)

sondern die Regierung ist schuld daran, dass die wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland
nicht mehr stimmen.
Natürlich setzen wir uns heute Nachmittag zusammen
– das ist gar keine Frage – und vielleicht bringen wir
auch etwas zustande.


(Joachim Poß [SPD]: Sie wollten es doch!)

Aber ich sage Ihnen auch: Wer in Deutschland mehr Ar-
beit und mehr Wachstum haben will, der braucht in
Deutschland eine andere Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Schauen Sie doch nicht so verbissen!)


Vor sechs Jahren, Herr Bundeskanzler, sind Sie ange-
treten, um die makroökonomischen Bedingungen zu ver-
ändern. Ich erinnere mich an eine Ihrer Aussagen, als Sie
als Ministerpräsident darauf angesprochen worden sind,
warum die Arbeitslosenzahlen in Niedersachsen so hoch
seien. Sie haben auf diese Frage geantwortet: Erlauben
Sie mal, dafür sind die makroökonomischen Bedingun-
gen verantwortlich. Die werden in Bonn, von Kohl, ent-
schieden. Wenn ich die in der Hand habe, dann wird sich
alles wenden. – Jetzt sehen wir, wie es sich gewendet
hat, meine sehr verehrten Damen und Herren: Zum
Schlechteren hat es sich gewendet!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sind mit dem Ziel angetreten – Frau Merkel hat

das sehr treffend gesagt –, die Arbeitslosigkeit signifi-
kant zu senken. Weitere Äußerungen dazu will ich heute
gar nicht zitieren. Jetzt versuchen Sie sich damit heraus-
zureden, die Weltwirtschaftslage sei schwierig, die
Globalisierung mache es schwierig und deswegen
könne Ihre damalige Aussage heute keinen Bestand
mehr haben. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn versucht
wird, zentrale Aussagen so zu relativieren? Das werden
wir Ihnen nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Massenarbeitslosigkeit ist der Quell allen Übels

in unserem Lande; sie ist das zentrale Problem unseres
Landes, ökonomisch und gesellschaftlich. 5,2 Millionen
Arbeitslose in Deutschland sind aber auch staatspolitisch
nicht hinnehmbar. Der mit der Massenarbeitslosigkeit
einhergehende Verlust an Wohlstand, das Gefühl, von
dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, die
Ängste und Sorgen in Millionen von Familien – jede
vierte Familie in Deutschland ist von Arbeitslosigkeit
betroffen, jeder vierte der 26 Millionen Arbeitnehmer
hat gegenwärtig konkret Angst um seinen Arbeitsplatz –
verursachen die defätistische Stimmung.


(Joachim Poß [SPD]: Die Sie schüren!)

Das ist das zentrale Problem. Wenn sich Hoffnungslosig-
keit breit macht, dann steigt natürlich auch die Gefahr
von Protestverhalten und Radikalisierung, gerade auch
bei Wahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland staats-

politisch nicht hinnehmbar sind, haben CDU und CSU,
haben Frau Merkel und ich die Initiative ergriffen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)


Wir haben Ihnen geschrieben. Bemerkenswert ist schon,
dass Sie als Regierungschef sich erst dadurch gezwun-
gen sehen, hier zum Thema Arbeitslosigkeit Rede und
Antwort zu stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Herr Bundeskanzler, Sie haben heute hier nicht als Ge-
stalter, sondern als Getriebener gesprochen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Bis gestern galt Ihre Aussage von Ende letzten Jahres/
Anfang dieses Jahres: Wir, die Bundesregierung, die rot-
grüne Koalition, haben jedenfalls unser Möglichstes zur
Reduzierung der Arbeitslosigkeit getan. – Das war zu
wenig. Deswegen haben wir die Initiative ergriffen. Das,
was Sie heute vorgelegt haben, ist zu wenig, um die Pro-
bleme wirklich bewältigen zu können, auch wenn wir
miteinander reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Herr Stoiber ist kein Getriebener, sondern ein Gehetzter! Der Wahlverlierer 2002!)


Schauen Sie sich doch bitte einmal an, was Ihr Freund
Tony Blair in Großbritannien gemacht hat.


(Zurufe von der SPD)

Schauen Sie sich einmal an, wie Sozialdemokraten in
den Niederlanden, in Dänemark oder in Schweden ihren
Arbeitsmarkt entrümpelt und reformiert haben.


(Waltraud Lehn [SPD]: Schauen Sie sich mal an, wie die das gemacht haben! Das wäre nicht schlecht!)


Dort ist die Arbeitslosigkeit gesunken. In Deutschland
steigt die Arbeitslosigkeit.

Warum hat eigentlich Kollege Müntefering so barsch
und ablehnend auf das Angebot der Union reagiert?


(Joachim Poß [SPD]: Weil es eine dünne Suppe war! – Weiterer Zuruf von der SPD: Ladenhüter!)


Sie spüren genau, Herr Müntefering: Die für mehr Neu-
einstellungen notwendigen Veränderungen auf dem
Arbeitsmarkt sind mit der SPD nicht zu schaffen. Diese
Veränderungen sind mit der SPD nicht möglich, weil
Teile der Gewerkschaften und der eigenen Klientel das
nicht mitmachen würden. Sie alle spüren, dass die SPD
mit der Agenda 2010 in eine Zerreißprobe geführt wor-
den ist, die Sie nicht wiederholen wollen.

Ich erkenne ausdrücklich an – ich habe das schon vor
zwei Jahren gesagt –, dass die Agenda 2010 für die SPD
unbestritten ein weiter und steiniger Weg war. Aber ich
sage Ihnen auch ganz klar: Die Agenda 2010 ist zwar für
die SPD ein großer Schritt, aber für Deutschland ein viel
zu kleiner Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wollen wie doch mal hören, was Sie noch mehr machen wollen!)

Die Mehrheit unseres Volkes ist hinsichtlich der
Reform- und Veränderungsbereitschaft längst weiter
als die Regierung. Deswegen wird die Entfremdung zwi-
schen der Mehrheit der Bevölkerung und der rot-grünen
Regierung immer größer.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Das ist der Grund dafür, warum Sie bei Umfragen in

punkto Vertrauen und Lösungskompetenz immer weiter
abstürzen.

Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, Ihre man-
gelnde Reformbereitschaft im Inneren ist der wahre
Grund dafür, warum die Visaaffäre die Menschen so
aufregt. Das Versagen bei der innenpolitischen Heraus-
forderung Nummer eins, nämlich dem Arbeitsmarkt
– darüber reden wir heute –, verbunden mit dem Öffnen
der Tore nach draußen für Schwarzarbeiter und Billig-
lohnkonkurrenz, regt die Menschen zu Recht auf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Unterste Schublade!)


Es regt die Arbeitnehmerklientel der SPD zu Recht viel
mehr auf als die Klientel der Besserverdienenden bei den
Grünen. Das ist das zentrale Problem, mit dem Sie noch
große Schwierigkeiten bekommen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Demagogie und unterste Schublade! – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben offensichtlich nichts zum Inhalt zu sagen!)


Herr Bundeskanzler, wir kommen heute Nachmittag
zusammen. Ich appelliere daher an Sie, mehr und Kon-
kreteres auf den Tisch zu legen als das, was Sie hier ge-
boten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der SPD)


Sie sind der Bundeskanzler und haben die Richtlinien-
kompetenz. Sie und nicht in erster Linie die Opposition
haben etwas vorzulegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Kein konkreter Punkt bisher!)


Ich vermisse vor allem substanzielle Vorschläge für
die dringend notwendige Flexibilisierung des Arbeits-
marktes. Sie haben gesagt, die Flexibilisierung des Ar-
beitsmarktes sei praktisch schon vollendet. Wenn Sie
sich aber einmal den Arbeitsmarkt in der Europäischen
Union anschauen, dann können Sie erkennen, dass wir
die Unflexibelsten sind. Das ist auch ein Grund, warum
wir jeden Tag 1 200 Arbeitsplätze ans Ausland verlieren.


(Widerspruch bei der SPD)

Wir können nicht so weitermachen, dass wir die Flexibi-
lisierung des Arbeitsmarktes nicht angehen und auf Ne-
bengebiete ausweichen.






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Arbeitsplätze raus, Schwarzarbeiter rein!)


Ich vermisse konkrete Vorschläge

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)


für einen radikalen Abbau der Bürokratie. Ich vermisse
ebenfalls brauchbare Vorschläge zur Reduzierung der
Steuerlast und der Arbeitskosten in Deutschland.


(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt haben Sie die Gelegenheit!)


Das sind die Schlüssel für mehr Wachstum und Arbeits-
plätze. Eine entsprechende Agenda hat der Bundespräsi-
dent am Dienstag angemahnt und ihre Umsetzung einge-
fordert.


(Zuruf von der SPD: Und der Arbeitgeberpräsident!)


Es ist die Agenda einer Erneuerung und Wiederbelebung
der Kraft und der Dynamik der sozialen Marktwirt-
schaft.

Wir, CDU und CSU, wären sofort bereit, das umzu-
setzen, was der Bundespräsident angemahnt hat. Aber
was Sie, Herr Bundeskanzler, heute vorgestellt haben,
bleibt weit hinter dem zurück, was Deutschland braucht
und was für Deutschland erforderlich wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Jetzt sagen Sie doch mal was Konkretes!)


Das bestätigen auch die Erfahrungen mit Ihrer Politik
in den vergangenen Jahren. Lassen wir sie doch einmal
Revue passieren! Sie haben heute ein wunderschönes
Bild gezeichnet, nur nimmt Ihnen dieses Bild keiner
mehr ab. Wer sechs Jahre lang die Arbeitslosigkeit mit
Scheinlösungen wie JUMP-Programmen, Jobfloater,
Personal-Service-Agenturen und Ich-AGs bekämpfen
will, dem fehlt in der Tat die Kompetenz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wann werden Sie konkret? Das ist doch eine dünne Suppe, die Sie hier bieten!)


Wer sechs Jahre lang den Mittelstand und junge Exis-
tenzgründer mit bürokratischen Regelungen lähmt, der
hat keine Ahnung, wer die Jobmotoren in diesem Land
sind.


(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Wer sechs Jahre lang – und darüber hinaus, Herr Fischer –
Pharmazie, Chemie und Gentechnik effektiv – die
Zahlen belegen das – aus dem Lande vertreibt, der kann
nicht glaubwürdig von Forschung, Innovation und Zu-
kunftssicherung reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich weiß, wovon ich rede, weil ich um jeden Arbeitsplatz
in der Gentechnologie und in der Biotechnologie
kämpfe.
Wenn Sie – das einmal als kleiner Hinweis – mit Pro-
fessoren der Immunologie, die Krebsforschung betrei-
ben, reden, dann werden Sie hören, wie schwierig das
hier in Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder
England ist.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen bei den bürokrati-
schen Hindernissen, mit denen diese Menschen zu
kämpfen haben, ansetzen, nicht bei den Allgemeinplät-
zen, die Sie hier bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)


Das Haupthindernis für neue Arbeitsplätze ist der ver-
riegelte Arbeitsmarkt. Die Weltbank hat die Flexibilität
des Arbeitsmarktes in 145 Staaten der Erde untersucht.
Deutschland liegt weit abgeschlagen auf Platz 111. Das
ist eine Bilanz, Herr Bundeskanzler! Mehr Arbeitsplätze
schaffen heißt vor allen Dingen Einstellungshürden ab-
bauen und Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance ge-
ben.

Sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist unsere Losung.
Deshalb müssen wir betriebliche Bündnisse für Arbeit
auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen. Sie haben
vor zwei Jahren angekündigt, Sie würden das machen,
wenn die Gewerkschaften nicht großflächig dazu bereit
wären. Wir haben riesige Schwierigkeiten mit den Bünd-
nissen für Arbeit – vielleicht nicht bei Siemens, aber bei
den kleinen und mittleren Betrieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


– Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
die Basis verloren. Bei diesen Betrieben ist das zentrale
Problem – –


(Zurufe von der SPD)

– Ich brauche mich von Ihnen nicht auffordern zu lassen.
Ich lebe in dem Bundesland, in dem es die wenigsten Ar-
beitslosen gibt. Wenn es überall so wäre wie in Bayern,
dann wäre die Arbeitsmarktlage in Deutschland wesent-
lich besser. Das will ich auf Ihren Einwand hin einmal
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Ich bleibe dabei: Wir brauchen eine Reform unseres be-
schäftigungsfeindlichen Kündigungsschutzes. Sie, Herr
Bundeskanzler, verkennen die Lage völlig. Das ist ein
Haupthindernis für Neueinstellungen; diese Beschäfti-
gungsbremse muss weg. Sie berühmen sich doch immer
Ihrer guten Kontakte zur Wirtschaft und auch zu den Re-
präsentanten der Wirtschaft. Sie reden doch mit densel-
ben Menschen, mit denen ich auch rede. Es kann doch
nicht sein, dass die mir sagen, der Kündigungsschutz sei
eines der zentralen Einstellungshindernisse für die Ju-
gend,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Keiner sagt das!)

und man Ihnen etwas anderes erzählt. Gehen Sie an
diese Dinge ernsthaft heran! Zur Klarstellung muss ich






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)


deutlich sagen: Die Änderung gilt ja nicht für diejenigen,
die bereits in Lohn und Brot sind.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist es!)

Für die wollen und können wir nichts ändern. Wir wol-
len es für die Zukunft ändern. Aber Sie sind nicht bereit,
für die Zukunft etwas zu verändern. Stattdessen nehmen
Sie mehr Überstunden in Kauf. Dabei wären mehr Ein-
stellungen möglich, wenn der Kündigungsschutz anders
wäre – wie zum Beispiel in Österreich, in den Benelux-
staaten oder in England. Dort wurde die Arbeitslosigkeit
von 10 Prozent auf 4 Prozent gedrückt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Sozial ist, was Arbeit schafft. Deswegen brauchen wir
– Sie haben fairerweise dargestellt, was dafür und was
dagegen spricht – mehr Zuverdienstmöglichkeiten
beim Arbeitslosengeld II im Hinblick auf die 400-Euro-
Jobs und die 1-Euro-Jobs.


(Jörg Tauss [SPD]: Vermittlungsausschuss!)

Insofern gibt es in der Tat nicht nur eine Lösung. Ich bin
aber bereit, auch insofern Änderungen vorzunehmen.


(Lachen bei der SPD)

Das hat dann allerdings Auswirkungen. Aber das werden
wir heute Nachmittag besprechen.

Nun möchte ich ein Wort zu den Billiglohnkräften
aus Osteuropa sagen. Sie selbst haben das angespro-
chen. Sie haben gesagt, dass man das nicht zulassen
dürfe. Wir haben riesige Probleme, weil so genannte
Dienstleistungsunternehmen in Ostbayern und in vielen
anderen Teilen Deutschlands Metzgerarbeiten überneh-
men und damit angestammte Handwerksbetriebe in au-
ßerordentliche Schwierigkeiten bringen.


(Jörg Tauss [SPD]: Fragt eure Gewerbeaufsicht!)


Insofern geht es nicht um die Dienstleistungsrichtlinie.
Sie haben das heute richtigerweise differenziert darge-
stellt. Die Probleme liegen in der EU-Osterweiterung.
Wir haben Sie darauf aufmerksam gemacht und gesagt,
dass es, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußen-
minister, nicht reicht,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das interessiert den doch nicht! Der Außenminister interessiert sich nicht für das Wohl unseres Landes!)


die Arbeitnehmerfreizügigkeit für insgesamt sieben
Jahre zu begrenzen, sondern dass Sie das auch für die
Dienstleistungsfreiheit machen müssen. Sie haben das
letzten Endes abgelehnt und nur einen kleinen Kompro-
miss zugelassen. Jetzt haben wir die Probleme. Ich sage
Ihnen ganz offen: Wir hätten über diese Dinge auch ein-
mal im Bundestag reden müssen.

Das Problem Europas, das man im Zusammenhang
mit der Ratifizierung der Verfassung angehen muss, ist
doch die Frage: Ist es denn richtig, dass die Entscheidun-
gen in Brüssel ohne Beteiligung der deutschen Öffent-
lichkeit und auch ohne Beteiligung des Parlamentes
getroffen werden? Es weiß keiner, was da auf uns zu-
kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind beim Erweiterungskommissar Verheugen abge-
blitzt. Die Bundesregierung hat uns nicht unterstützt und
jetzt sagen Sie: Das Problem werden wir lösen. Das wer-
den Sie leider nicht mehr so ohne weiteres lösen können,
weil die Zeit über dieses Problem hinweggegangen ist.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Verschlafen!)

Neben der Deregulierung des Arbeitsmarktes brau-

chen wir eine wirkungsvolle Entlastung von Vorschrif-
ten und Bürokratie. Ausgerechnet die kleinen und mitt-
leren Unternehmen, die Jobmotoren unserer Wirtschaft,
müssen überproportional hohe Bürokratielasten tragen:
Statistikpflichten, komplizierte Steuerregelungen, Ge-
nehmigungsmarathons und ein dickes Regelwerk an Ar-
beitsrechtsvorschriften. Ich habe mir das einmal ange-
schaut – es ist ja immer interessant, wenn man sich die
Dinge im Gesetz ansieht –: Ab zwei Mitarbeitern in
Deutschland muss es nach Geschlecht getrennte Toilet-
ten geben; ab fünf Mitarbeitern besteht das Recht auf ei-
nen Betriebsrat; ab elf Mitarbeitern muss es einen Pau-
senraum geben; ab 16 Mitarbeitern besteht ein genereller
Anspruch auf Teilzeit und, und, und. Angesichts dessen
wollen wir die Leute ermutigen, sich selbstständig zu
machen und Arbeitsplätze zu schaffen? Sie sollten ein-
mal ernsthaft an diese Dinge herangehen und bereit sein,
darüber zu diskutieren; denn das passt nicht mehr in das
europäische Umfeld.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch längst geändert!)


Es kann doch nicht sein, dass ein großes Unterneh-
men wie die Firma Siemens Bürokratiekosten in der
Größenordnung seines Gewinns hat. Ein kleines Unter-
nehmen mit zehn oder 15 Mitarbeitern, ein Durch-
schnittsunternehmen, hat heute Bürokratiekosten in der
Größenordnung von 7 Prozent des Umsatzes bei einem
Gewinn von 1 Prozent oder höchsten 2 Prozent. Das ist
die Realität. Wenn wir so weitermachen und da nicht he-
rangehen – das sind die entscheidenden Fragen –, wer-
den wir den Jobmotor nicht anwerfen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In Ihrem Antidiskriminierungsgesetz kommt – das

sage ich ganz offen – der rot-grüne Bürokratiewahn voll
zum Durchbruch. Man sollte sich das einmal in der Pra-
xis anschauen – ich kann die ganzen Beispiele gar nicht
darstellen –: Wer einen Arbeitnehmer einstellt oder eine
Wohnung vermietet, muss in Zukunft beweisen können,
dass er niemanden diskriminiert hat.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bleiben Sie bei der Wahrheit, Herr Stoiber! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Natürlich wird das dazu führen. Sie reden wahrschein-
lich zu viel mit den Politikern. Reden Sie einmal mit den
Menschen, die davon betroffen sind! Die fühlen sich von






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)


dem Antidiskriminierungsgesetz außerordentlich gegän-
gelt und haben Angst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt diskutieren wir über eine Eins-zu-eins-Umset-

zung. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen auch hier: Die
CDU und die CSU haben frühzeitig gewarnt. Der Bun-
desrat hat vor einem Jahr eine Entschließung gegen die
dem Antidiskriminierungsgesetz zugrunde liegenden
europäischen Richtlinien gefasst. Hier haben wir wieder
ein zentrales europäisches Problem. Möglicherweise ist
im Bundestag nicht mit der notwendigen Schärfe da-
rüber diskutiert worden. Im Bundesrat haben wir über
diese Richtlinie außerordentlich hart und kontrovers dis-
kutiert und haben gesagt: Diese Richtlinie passt nicht.
Sie muss schon auf europäischer Ebene verändert wer-
den. Sie hätten eine solche Richtlinie verhindern können.
Aber Sie haben nichts dazu getan, diese Richtlinie zur
Antidiskriminierung auf EU-Ebene zu verändern. Jetzt
setzen Sie noch zulasten des Arbeitsmarktes drauf, wie
Frau Merkel schon dargestellt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht kommen wir bei den Lohnzusatzkosten zu
einem Ergebnis durch die Reduzierung der Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung. Ob das 1,5 oder 1 oder
0,7 Prozent sind – Herr Müntefering, da ist zweifelsohne
noch etwas drin –, werden wir heute Nachmittag konkret
bereden. Das brauche ich hier nicht im Einzelnen auszu-
führen.

Ein weiterer Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit,
der mir sehr wichtig ist, ist die Senkung der Energie-
kosten. Ich verstehe ja die stille Verzweiflung vieler in
der SPD über ihren grünen Koalitionspartner. Die Grü-
nen-Vorsitzende Frau Roth bringt das grüne Politikver-
ständnis trefflich zum Ausdruck: volle Emotion für
Nischenthemen der Politik, aber keine Antwort auf die
zentralen Probleme in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die ganze Liebe der Grünen gehört der mit zig Milliar-
den subventionierten Windradwirtschaft, die gerade ein-
mal 0,02 Prozent unseres Energiebedarfs deckt. Trotz-
dem raten Sie, Herr Außenminister, den Chinesen und
Indern, auf regenerative Energien zu setzen. Sie wissen
ganz genau, dass Sie hier Volksverdummung betreiben.
Die Chinesen haben ein Wirtschaftswachstum von
9 Prozent und ein Energiewachstum von 18 Prozent. Sie
erkaufen sich sozusagen ihr Wirtschaftswachstum mit
einem doppelten Energiewachstum. Ohne die Kernener-
gie wäre die Welt gar nicht mehr vor der CO2-Belastungzu retten. Aber da Sie gegen die Kernenergie sind, schla-
gen Sie einem Land wie China mit 1,3 Milliarden
Einwohnern Windräder vor. Für wie dumm halten Sie
eigentlich die Leute vor den Bildschirmen, meine Da-
men und Herren?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Zurück in die 70er-Jahre! – Weitere Zurufe von der SPD)

Sie reden zu wenig mit den energieintensiven Betrie-
ben. Wenn Sie mit der Zementindustrie, der Aluminium-
industrie, der Pharmaindustrie und der Automobilindus-
trie redeten, würden Sie feststellen, dass der Strompreis
in Deutschland nach dem in Italien der höchste ist. Die-
ser hohe Preis, der von Rot-Grün zu verantworten ist,
kostet Arbeitsplätze, die im Bereich der regenerativen
Energien gar nicht aufzufangen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die vierte Säule eines tragfähigen Konzepts für mehr

Arbeit – in dieser Reihenfolge sehe ich es – ist die Sen-
kung der Unternehmenssteuersätze. Die Absenkung
des Körperschaftsteuersatzes, die verbesserte Anrech-
nung der Gewerbesteuer und die erleichterte Unterneh-
mensnachfolge für den Mittelstand, Herr Bundeskanzler,
sind Ansätze, die in die richtige Richtung zeigen. Ich
hoffe, dass damit auch alle Vorstellungen in der SPD zur
Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung
der Vermögensteuer endgültig ad acta gelegt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber Sie wissen, dass dies viel Geld kostet. Was Sie

heute vorgeschlagen haben, geht in die Milliarden. Die
Vorschläge, die Sie zur Gegenfinanzierung unterbreitet
haben, gehen aber nicht in die Milliarden, sondern in
dreistellige Millionenzahlen. Da heißt es bei Ihnen wie-
der nur „hätte“, „sollte“, „könnte“. Damit ist unserem
Land nicht gedient. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei
1,4 Billionen Euro Staatsschulden – über 850 Milliarden
Euro Schulden des Bundes, über 400 Milliarden Euro
Schulden der Länder und über 150 Milliarden Euro
Schulden der Kommunen – ist es völlig unakzeptabel
und der jungen Generation gegenüber unmoralisch, Aus-
gaben mit Schulden weiterzufinanzieren, wie Sie es hier
machen wollen. Wir werden dies auf keinen Fall mit-
machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen, meine Herren, es war sehr interessant,

was der Bundespräsident gestern in diesem Zusammen-
hang gesagt hat. Diese Dimension muss man sich noch
einmal vor Augen halten: 1,4 Billionen Euro Staats-
schulden,


(Jörg Tauss [SPD]: Eine Billion von Ihnen!)

7,1 Billionen Euro Schulden insgesamt, wenn man die
Pensionsverpflichtungen hinzuzählt! Dies bedeutet, dass
jemand, der heute hier in Berlin geboren wird, mit fast
90 000 Euro Schulden auf die Welt kommt. Dies ist auf
die Dauer nicht mehr akzeptabel. Wo bleibt hier eigent-
lich die Nachhaltigkeit, die Sie im Umweltschutz immer
so nach vorne tragen? Zur Finanzpolitik gehört sie ge-
nauso.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine letzte Bemerkung zur Föderalismuskommis-

sion: Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie beim Wort. Sie
haben heute gesagt, es komme nicht auf die Kompeten-
zen, sondern auf die Sache an. Verzichten Sie bitte künf-
tig auf die Übergriffe in die Kulturhoheit der Länder;
dann sind wir uns schnell einig.






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)


Ich verwahre mich dagegen – das sage ich ganz deut-

lich –, dass von Ihnen und von Herrn Müntefering der
hessische Ministerpräsident sozusagen zum Buhmann
stilisiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist falsch. Ich stelle mich voll und ganz hinter
Roland Koch. Mit ihm und allen anderen Kollegen be-
kommen wir eine vernünftige Föderalismusreform hin. –
Was Herr Müntefering und ich als Vorsitzende hier zu-
stande gebracht haben,


(Jörg Tauss [SPD]: Hat Herr Koch verhindert! Abgewatscht durch Koch! Abgekocht!)


wurde von vielen zunächst als relativ kleinmütig angese-
hen. Aber als es gescheitert ist, wurden große Klagen
laut.

Eine Renovierung des Grundgesetzes dieser Art be-
kommen Sie meines Erachtens in den nächsten zehn Jah-
ren nicht mehr hin.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: An wem ist es denn gescheitert? – Zuruf von der SPD: Ihr seid die Blockierer!)


Sie müssen nämlich eines sehen: Die Ministerpräsiden-
ten verzichten auf Einflussmöglichkeiten im Bund, wenn
letzten Endes zwei Drittel aller Gesetze im Bundestag
verabschiedet werden. Wenn künftig das Ausländerge-
setz im Bundesrat nicht mehr aufgehalten werden
könnte, wenn Hartz IV vom Bundestag allein verab-
schiedet werden könnte, würden wir in Deutschland zu
schnelleren Entscheidungen kommen. Auch ich sehe
Deutschland in einer Krise, weil wir im Prinzip zu viel
im Vermittlungsausschuss behandeln und die Menschen
nicht mehr wissen, wer für dieses oder jenes die Verant-
wortung trägt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Nicht mehr blockieren! Sehr gut!)


Herr Bundeskanzler, Sie haben immer wieder mehr
oder weniger Sand ins Getriebe gestreut, weil Sie die
Zuständigkeit für die Bildungspolitik für sich bzw. die
Bundesregierung oder den Bund reklamieren.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, Sie! Das wäre ja noch schöner!)


Sie können nicht erwarten, dass die Ministerpräsidenten
letzten Endes auf ganz erhebliche Kompetenzen verzich-
ten.


(Hubertus Heil [SPD]: Warum nicht?)

Ich bin dafür und habe dafür gekämpft bis hin zur Än-

derung des Grundgesetzes bezüglich der Außenvertre-
tung,

(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben sich nicht durchgesetzt!)


bis hin zu mehr Kompetenzen für das BKA, bis hin zur
Übertragung der Zuständigkeiten im Umweltschutz auf
den Bund – das sind weit reichende Dinge –


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bleiben Sie bei der Wahrheit!)


bis dahin, dass der Bund viel weniger von der so genann-
ten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 des Grundgeset-
zes abhängig ist. Das wäre eine erhebliche Verbesserung
zugunsten des Bundes. Aber wenn Sie diese wollen – die
müssten Sie im Interesse Deutschlands und der Schnel-
ligkeit der Entscheidungen wollen –, müssen Sie auch
akzeptieren, dass die Länder nur dann mitmachen, wenn
im Bildungsbereich Wettbewerbsföderalismus stattfindet


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und damit die Länder, für die Bildungspolitik einen grö-
ßeren Stellenwert hat, auch bessere Ergebnisse erzielen.
Aber vielleicht ist hier noch nicht aller Tage Abend.

Angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen braucht
Deutschland in der Tat einen historischen Kraftakt. Was
Sie heute vorgelegt haben, ist für mich ungenügend. Ich
fordere Sie auf, zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch
die Wege einzuschlagen, die der Bundespräsident am
Dienstag angemahnt hat.


(Widerspruch bei der SPD)

Wir als konstruktive Opposition


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– da brauchen Sie gar nicht so zu lachen – bieten an, da-
für Verantwortung zu tragen.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich habe noch nichts Konstruktives gehört!)


Als der Herr Bundeskanzler noch zusammen mit seinem
Kollegen Lafontaine in der Opposition war, hätte er
nicht im Traum daran gedacht,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

der Regierung im Interesse Deutschlands die Hand zu
reichen. Da wurde nur blockiert. Wir tun das nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In dem Sinne hoffe ich auf ein vernünftiges Ergebnis.

Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1516601200

Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Nord-

rhein-Westfalen, Peer Steinbrück.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Abschiedsrede!)







(A) (C)



(B) (D)



(Nordrhein Westfalen)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn jemand das Angebot zu einem „Pakt für
Deutschland“ macht, dann erwarte ich, dass anschlie-
ßend entsprechende Reden gehalten werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dem Angebot zu einem solchen „Pakt für Deutschland“
entsprach die Rede von Frau Merkel nicht und die Rede
von Herrn Stoiber erst recht nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das waren keine staatspolitischen Reden. Das waren
Parteitagsreden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Lammert [CDU/ CSU]: Jetzt beginnt der ernsthafte Teil der Debatte!)


Die Standarderöffnungssätze, die ich heute noch ein-
mal von Herrn Stoiber gehört habe, lese ich sehr häufig
im Handbuch für Oppositionsredner.

Der erste Satz lautet: Gemessen an den Erwartungen,
Herr Bundeskanzler, war Ihre Rede eine Enttäuschung. –
Das ist wie e2–e4 im Schach. Das ist der Standarderöff-
nungssatz.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Satz lautet dann: Sie sind der Aufgabe
nicht gewachsen. – Welche Überraschung!

Der dritte Satz lautet: Deshalb brauchen wir eine an-
dere Regierung. – Dies ist ein rhetorisches Highlight, das
noch hinterhergeschoben wird.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In einer staatspolitischen Rede, Frau Merkel, hat man
es nicht nötig, den Untergang Deutschlands an die Wand
zu malen oder dem politischen Gegner zu unterstellen, er
wolle Deutschland dahin führen. In einer staatspoliti-
schen Rede glaubt man auch nicht, dass die anderen im-
mer in der Wagenburg säßen und man selber den Stein
der Weisen gepachtet habe.


(Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Jetzt kommt der Oberlehrer!)


Ich fürchte, dass die Verteilung von Deppen und Schlau-
bergern über die Parteien und die Fraktionen nicht so
eindeutig ist, wie Frau Merkel es heute dargestellt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vielmehr läuft sie entlang der Normalverteilung der Be-
völkerung.

Wer wie Frau Merkel glaubt, die Wahrheit für sich ge-
pachtet zu haben – nach dem Motto: Wir sagen die
Wahrheit, aber Sie sind immer empört und aggressiv,
wenn wir das tun –, gewinnt beim Publikum auch keine
Glaubwürdigkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von dieser Debatte soll – so jedenfalls die Erwartung
vieler, die uns zuhören – das deutliche Signal ausgehen,
dass wir hier im Deutschen Bundestag und darüber hin-
aus im Bundesrat erneuerungsbereit sind. Ich bin mir
nicht so sicher, ob wir dieser Erwartung bisher entspro-
chen haben.

Zur Sache also: Der Standort Deutschland muss sich
zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewähren. Er muss sich
anstrengen und er wird renoviert werden müssen, kein
Zweifel.

Ich fürchte, dass wir alle gemeinsam Versäumnisse
aus den 90er-Jahren zu beklagen haben, auf allen Seiten,
in allen politischen Parteien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass wir sträflich lange – bis zum PISA-
Schock – den Stellenwert der Bildung gemeinsam unter-
schätzt haben. Ich glaube, dass wir es über weite Teile
der 90er-Jahre versäumt haben, uns rechtzeitig darauf
einzustellen, wie ein Sozialstaatsmodell unter den Be-
dingungen des 21. Jahrhunderts aussieht. Ich glaube,
dass wir lange der Debatte ausgewichen sind, wie so-
ziale Gerechtigkeit neu zu definieren ist, insbesondere
mit Blick auf Generationengerechtigkeit; dabei spielt
der demographische Wandel eine erhebliche Rolle. Wir
haben uns auch zu wenig Gedanken darüber gemacht,
welche Rolle der Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts
spielt.

Da schleppt allerdings jeder seinen Ballast mit, Herr
Gerhardt, die FDP nicht viel anders als meine Partei.
Denn wenn wir über einen handlungsfähigen Staat in
einer sozialen Demokratie reden, dann reden wir in der
Tat über ein anderes Staatsverständnis, als es die FDP
hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bezogen auf die Debatten, die Sie selber geführt haben,
versuche ich mich daran zu erinnern, welche Impulse für
eine solche Debatte vor 30 Jahren Herr Flach und Herr
Maihofer gegeben haben und welche Impulse Sie heute
geben.

Der demographische Wandel mit sehr deutlichen
Folgen für die Finanzierung der vier Säulen unserer so-
zialen Transfers, eine zugegebenermaßen unzureichende
Wachstumsdynamik, ein internationaler Wettbewerb, in
dem das Kapital so mobil ist wie nie zuvor, in dem
Raum- und Zeitgrenzen durch moderne Informations-
und Kommunikationstechnologien ausgehebelt werden
und eine angespannte Haushaltslage bei unverändert
hohen Erwartungen an die staatliche Leistungsbereitstel-
lung – diese vier Faktoren führen unabweisbar zu not-
wendigen Strukturveränderungen und damit zu Refor-
men.






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen)


Aber der Standort Deutschland ist nicht so schlecht,

wie er geredet wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

In einer Meldung des „Handelsblatts“ vom 16. März
wird sehr abgewogen zitiert. Die Wirtschaftsprüfer von
Ernst & Young, das amerikanische Unternehmen
Citigroup, die Amerikanische Handelskammer in
Deutschland, der „Economist“ und die Ratingagentur
Standard & Poor’s kommen zu dem Ergebnis: Insgesamt
gehe Deutschland in die richtige Richtung. Der Blick
von außen zeige viel Positives; die Deutschen müssten
es nur noch merken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir geht deshalb durch den Kopf, ob wir es bei den
Reformnotwendigkeiten, die uns beschäftigen, nicht nur
mit strukturellen Defiziten zu tun haben, sondern
manchmal auch mit mentalen Einstellungen, die uns
hinderlich sind, das Notwendige pragmatisch zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind sehr verliebt in eine negative Selffulfilling Pro-
phecy. Wenn wir über Deutschland reden, erinnert das
gelegentlich an sadomasochistische Praktiken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ist das die Antwort auf 5,2 Millionen Arbeitslose?)


Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang
gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung ver-
dient; er bringt auch Erfolge. Angesichts erheblicher Wi-
derstände und vieler opportunistischer Pirouetten, die
ich auch und gerade bei der CDU in meinem Land, in
Nordrhein-Westfalen, häufig erlebt habe, ist das Stehver-
mögen des Bundeskanzlers in diesem Prozess eine Qua-
lität für sich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn man nicht grobschlächtig vorgeht, wenn man
die Betrachtung nicht grobkörnig vornimmt, sondern
versucht, sich ein genaueres Bild zu verschaffen, dann
verbieten sich Vereinfachungen, allerdings auch simple
Schlussfolgerungen, will sagen:

Erstens. Die realen Nettolöhne und -gehälter in
Deutschland sind nicht das Problem. Die realen Netto-
löhne und -gehälter vieler Menschen, die uns heute
wahrscheinlich zuhören, dürften seit Ende der 90er-Jahre
stagnieren; es dürfte nicht viel mehr geworden sein als
das, was die Menschen vorher cash in der Tasche hatten.
Das Problem in Deutschland sind die Bruttoarbeitskos-
ten. Aber dann soll man in seiner Rede auch so differen-
zieren.

Zweitens. Die Steuerquote in Deutschland ist nicht
das Hauptproblem. Sie ist im internationalen Vergleich
ziemlich moderat. Das Hauptproblem in Deutschland ist
die Steuer- und Abgabenquote und damit die Art der
Finanzierung unserer sozialen Transfers über eine Ab-
gabe auf den Produktionsfaktor Arbeit. Zugegebener-
maßen haben wir im internationalen Vergleich eine Be-
steuerung unserer großen Kapitalgesellschaften oder der
Körperschaften durch ein sehr intransparentes, sehr
komplexes Steuersystem.

Drittens. Die Gewinnentwicklung der DAX-notierten
Unternehmen – wenigstens im letzten Jahr, aber auch in
der Perspektive für dieses Jahr – lässt nicht auf durch-
weg so schlechte Rahmenbedingungen in Deutschland
schließen, wie Sie es in Ihren Beiträgen dargestellt ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass der Mittelstand größere Probleme hat, ist unbe-
stritten – übrigens auch durch einen Faktor, der weniger
politisch zu verantworten ist, nämlich durch das geän-
derte Finanzierungsverhalten des deutschen Bankensek-
tors insgesamt.

Viertens. Der Exportüberschuss ist kein Indiz für die
Schwäche der Bundesrepublik Deutschland.

Zur Flexibilität des Arbeitsmarktes bestätige ich
gerne, was vom Bundeskanzler und auch von Herrn
Müntefering heute schon angedeutet worden ist: Ich
habe in Nordrhein-Westfalen auf der konkreten betriebli-
chen Ebene keine Schwierigkeiten mit Bündnissen für
Arbeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei ist es egal, ob es große Unternehmen sind. Glau-
ben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede, bezogen auf ein
großes Automobilunternehmen in Bochum, bezogen auf
Karstadt, bezogen auf einen wichtigen Anlagenbauer
wie Babcock oder andere Firmen, sogar bezogen auf sol-
che, bei denen ein geordnetes Insolvenzverfahren an-
stand. Es gehört zur täglichen Aufgabe der Landesregie-
rung, zusammen mit Betriebsräten, Gewerkschaften und
dem Management – auch von kleineren und mittleren
Unternehmen – die Kärrnerarbeit zu leisten, um diese
Unternehmen zu stabilisieren und so viele Arbeitsplätze
wie möglich zu erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das funktioniert. Es funktioniert vielleicht sogar bis hin
zu einem Fußball- oder Handballverein; so weit kann es
gehen. Man macht es hinter den Kulissen. Man macht es
nicht auf dem offenen Marktplatz, weil man versucht,
diesen Firmen nicht zu schaden. Aber es funktioniert. In
den über 50 000 Tarifverträgen, die wir in der Bundes-
republik Deutschland haben, gibt es viele Klauseln, von
denen die Sozialpartner Gebrauch machen können, um
solche flexiblen Bündnisse zu realisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen finde ich – um bei dieser genaueren Be-
schreibung des Bildes von Deutschland zu bleiben –,
dass die angekündigten, teilweise erheblichen Dividen-
denerhöhungen vieler Unternehmen in Deutschland auch






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen)


die Frage nahe legen, ob sich nicht ein zusätzlicher
Spielraum für arbeitsplatzschaffende Investitionen in
Deutschland auftut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das alles sind Hinweise, die zu einer Differenzierung
einladen und grobschlächtige Beiträge, wie wir sie auch
heute gehört haben, verbieten. Es wäre ein großer Vor-
teil, wenn wir über diese Differenzierung stärker zu-
einander finden könnten.

Reformbedarf stellt sich mit Blick auf die Pflegever-
sicherung. Er stellt sich vor dem Hintergrund der demo-
graphischen Entwicklung auch mit Blick auf eine zu-
kunftssichere Altersversorgung; dafür sind weitere
Schritte notwendig. Er stellt sich mit Blick auf die Ge-
sundheitsfinanzierung und die beiden konkurrierenden
Modelle, die es dort gibt. Er stellt sich mit Blick auf die
Föderalismusreform, die Bund-Länder-Beziehungen. Er
stellt sich in meinen Augen auch mit Blick auf die Not-
wendigkeit, 23 Jahre nach der letzten Fortschreibung des
Energieprogramms gemeinsam einen neuen energiepoli-
tischen Rahmen zu finden. Er stellt sich schließlich auch
mit Blick auf die Vereinfachung des Steuersystems in
Deutschland, allerdings nicht nur mit der Fokussierung
auf Steuersätze, sondern auch auf die Gestaltung von
Bemessungsgrundlagen und Gewinnermittlungsmetho-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Von Frau Merkel ist vorhin darauf hingewiesen

worden, die CDU habe ein überzeugendes Steuer-
konzept 21. Ich kenne dieses überzeugende Steuerkon-
zept nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Haben Sie denn eins?)


Ich weiß, dass es erst ein bisschen Faltlhauser und dann
ein bisschen Merz geben soll.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Ha, ha!)

Ich weiß, dass Sie den Menschen einreden, man könne
den Einkommensteuerspitzensatz auf 36 Prozent redu-
zieren, obwohl wir alle in diesem Saal wissen, dass das
undenkbar und nicht finanzierbar ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben doch genau das Gegenteil behauptet!)


Ich weiß, dass Sie den sozialen Ausgleich bei Ihrem Prä-
mienmodell dadurch finanzieren wollen, dass Sie den
abgesenkten Steuersatz etwas zurücknehmen. Das heißt,
Sie finanzieren dieses Prämienmodell aus nicht gegen-
finanzierten Steuererleichterungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/ CSU]: Quatsch!)


Das ist eine erstaunliche Leistung.
Wir alle wissen – in dieser Passage kann ich mich
ausnahmsweise auf den Kollegen Stoiber beziehen –,
dass die öffentlichen Haushalte eine Absenkung des
Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent nicht überstehen
würden.


(Jörg Tauss [SPD]: Auch in Bayern nicht!)

– Auch in Bayern nicht. – Es ist völlig irrwitzig, den
Menschen im Augenblick solche Steuersenkungen zu
versprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Punkt ist: Sie wissen das, aber offenbar haben Sie
nicht die Souveränität, dies in einer solchen Debatte klar
zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn jemand von der FDP versucht, mir ökonomisch
nachzuweisen, dass Steuersenkungen eine Art Selbst-
finanzierungseffekt von eins zu eins haben, dann möchte
ich das angesichts der Erfahrungen in Schweden, Eng-
land und den USA endlich einmal empirisch belegt ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass das sehr intransparente und sehr
komplexe deutsche Steuerrecht reformbedürftig ist und
dass der verfahrenspolitische Vorschlag des Bundes-
kanzlers bzw. der Bundesregierung richtig ist, die Sach-
verständigen zu bitten, Entsprechendes bis Ende dieses
Jahres in Gang zu setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, dass die Lösung mit Blick auf die unter-
schiedlichen Steuersysteme für Personengesellschaften
– und damit für den Mittelstand – und Kapitalgesell-
schaften in einer rechtsformneutralen Besteuerung
der deutschen Unternehmen liegt. Ich glaube, dass das
richtig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist ja mal was!)


Denjenigen, die immer eilfertig sagen, wir müssten
das Reformtempo weiter steigern, und mit dem strapa-
zierten Bild einer ruhigen Hand darüber hinwegtäu-
schen, dass es auch einer Kärrnerarbeit bedarf, um sol-
che Reformen umzusetzen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


rufe ich zu: Geht es nicht auch um Augenmaß und Ba-
lance sowie um den Zusammenhalt dieser Gesellschaft
in einem rasanten ökonomischen und technischen Wan-
del? Anders ausgedrückt: Stellt man wichtige Leitplan-
ken der Sicherheit, wie zum Beispiel die Mitbestim-
mung, die Tarifautonomie und den Kündigungsschutz,
im 14-tägigen Turnus infrage, wenn man die Menschen
in diesem Wandel fordern muss?






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Sind wir nicht darauf angewiesen, den Menschen, die
ohnehin schon verunsichert sind und in diesem Wandel
eher verlieren und Verlustängste haben, einige Konstante
und Leitplanken der Sicherheit zu belassen und gehören
die von mir genannten fast konstitutiv wichtigen Säulen
der Sozialpartnerschaft nicht dazu? Sollte man nicht eher
die Finger davon lassen, als dies alle 14 Tage wieder
hochzuziehen?


(Beifall bei der SPD)

Verbindet man die Diskussion über wettbewerbsfähige
Steuersätze insbesondere für die Kapitalgesellschaften,
wie vor wenigen Tagen geschehen, mit der Drohung
einer Rentenkürzung, nach dem Motto: Die Gelegenheit
ist günstig?


(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)

Ich denke an eine allein erziehende Verkäuferin mit

ungefähr 1 000 Euro netto, um in meinem oft benutzten
Bild zu bleiben, der ich sehr mühsam erklären muss,
dass sie von ihrem verfügbaren Einkommen nach Lage
der Dinge demnächst bzw. schon jetzt mehr für Alter,
Pflege und Gesundheit ausgeben muss. Welche Garan-
tie kann ich ihr geben, dass in Deutschland aufgrund von
abgesenkten Unternehmensteuersätzen Investitionen ge-
tätigt und Arbeitsplätze geschaffen werden?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wollen Sie die Steuern erhöhen?)


Anders ausgedrückt: Wie wirkt auf diese Frau, die mit
1 000 Euro nach Hause kommt, die Tatsache, dass über
die von der Bundesregierung eingeleitete und von Ihnen
mitgetragene Modernisierung des Gesundheitssystems
die Bezüge von Vorständen in den gesetzlichen Kran-
kenversicherungen erhöht werden, von denen sie endlich
eine Reformrendite in Form abgesenkter Krankenversi-
cherungsbeiträge erwartet?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Reden wir in diesem Zusammenhang nur über die pa-
triotische Verantwortung der politischen Parteien, sich
zu einigen und Gemeinsamkeiten zu entwickeln, oder
reden wir auch über die patriotische Verantwortung un-
ternehmerischer Entscheidungsträger in der Bundesrepu-
blik Deutschland?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Richtig ist: Wirtschaft und Gesellschaft müssen dyna-
mischer werden. Wir müssen wieder neugieriger wer-
den. Wir müssen wahrscheinlich auch schneller und in-
novativer werden. Auch ein bisschen mehr Zuversicht
täte uns gut. Das sind die mentalen Barrieren, von denen
ich sprach. All das ist unbestritten.

Es ist in diesem Reformprozess aber auch nicht zu be-
streiten, dass die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft eher
zunehmen als abnehmen: zwischen Arm und Reich, wie
es die Armutsberichte ausweisen; zwischen Alt und Jung
vor dem Hintergrund der von mir genannten demogra-
phischen Entwicklung und der Abwägung zwischen Ge-
genwarts- und Zukunftsinteressen; zwischen bildungsna-
hen und bildungsfernen Schichten; zwischen denjenigen,
die einheimisch sind, und denjenigen, die zu uns kom-
men, also jenen, die die Fähigkeit haben müssen, zu inte-
grieren, und denen, die die Bereitschaft haben müssen,
sich integrieren zu lassen; zwischen Stadtvierteln, die
sozial abzustürzen drohen, und den so genannten besse-
ren Vierteln; zwischen denjenigen, die sich als digitale
Analphabeten herausstellen, weil sie mit Informations-
und Kommunikationstechnologien nicht umgehen kön-
nen, während es die anderen können.

Das sind die Fliehkräfte dieser Gesellschaft. Von die-
sen Fliehkräften war in der Rede am letzten Dienstag zu
wenig die Rede.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Er hat eine Lösung aufgezeigt, die Sie nicht angehen wollen!)


Die Aufgabe, den Reformbedarf zu definieren, ist schon
schwierig genug. Aber sie gelingt uns wahrscheinlich
gemeinsam. Damit jedoch die Frage zu koppeln, wie ich
den Kitt dieser Gesellschaft erhalte, ohne dass mir hinten
die Waggons des Zuges, der beschleunigt, aus dem Gleis
springen, ist etwas, was in der Rede am Dienstag nicht
angesprochen wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie mit Blick auf das wichtige Thema Bildung
und den damit verbundenen Schwierigkeiten – die PISA-
Ergebnisse bestätigen, dass es uns bisher nicht geglückt
ist, unser Bildungssystem so zu gestalten, dass diejeni-
gen, die aus bildungsferneren Schichten stammen, Auf-
stiegsmöglichkeiten erhalten –, glauben, uns mit dem
Kampfbegriff der Einheitsschule erschrecken zu können,
dann täuschen Sie sich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit das ein für alle Mal unmissverständlich ist: Ich
werde in Nordrhein-Westfalen weder die Realschule
noch das Gymnasium über die Köpfe der Betroffenen
und Beteiligten hinweg abschaffen.


(Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das können Sie auch gar nicht!)


Aber ich möchte gerne mit den Beteiligten – Kindern,
Eltern, Lehrern, Verbänden, Gewerkschaften und bil-
dungswissenschaftlichen Einrichtungen – die Frage dis-
kutieren, ob ein sehr stark gegliedertes Schulsystem
nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern nach Lage der
Dinge auch in Bayern ein zukunftsfähiges Schulsystem
ist, um beim Zugang zu Bildungsgütern Chancengerech-
tigkeit zu gewährleisten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen)


Wenn Sie versuchen, mit dem Kampfbegriff der Ein-
heitsschule diese Debatte zu tabuisieren, dann sage ich
Ihnen: Dies wird nicht gelingen.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Dieser Kampfbegriff soll nichts anderes als ein Denkver-
bot über die zukünftigen Schulstrukturen auslösen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen lasse ich mich in Nordrhein-Westfalen
gerne mit anderen Standorten vergleichen, zum Beispiel
mit Bayern, was den Anteil der Schulabgänger ohne
Schulabschluss betrifft. Ich lasse mich in Nordrhein-
Westfalen ebenfalls sehr gerne mit Bayern vergleichen,
was den Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife
betrifft. Damit habe ich keine Probleme. Ich rate uns in
dieser Debatte, weniger grobkörnig zu arbeiten, als das
auch heute teilweise der Fall gewesen ist.

Ich glaube, dass der Bundeskanzler in seiner Regie-
rungserklärung die richtigen Akzente gesetzt und die
Agenda 2010 konturiert hat. Es sind die richtigen Ak-
zente in der Arbeitsmarktpolitik; ich begrüße außeror-
dentlich, dass es gerade bei den Hinzuverdienstmöglich-
keiten zu weiteren Regelungen kommen wird. Ich
erinnere mich sehr genau daran, wer im Vermittlungs-
ausschuss und im Bundesrat gegen eine weiterreichende
Hinzuverdienstregelung gewesen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich auch sehr genau daran, wer mit uns
gemeinsam die Änderung der Arbeitslosenstatistik ver-
abschiedet hat, anschließend aber über diese Beteiligung
so erschrocken ist, dass er sie ignoriert.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe ein sehr gutes Langzeitgedächtnis dafür, wer im
Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungs-
gesetz die Praxisgebühr auf die politische Tagesordnung
gesetzt hat und wer anschließend, als es schwierig
wurde, nicht mehr dahintergestanden hat.


(Beifall bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Eintrittsgeld! Agenda 2010!)


Diese Erfahrungen habe ich mit Ihnen zu häufig ge-
macht.

Ich bin sehr froh über die Passagen in der Regierungs-
erklärung des Bundeskanzlers, in denen die Rede von
der Stärkung der Investitionskräfte ist, auch und gerade
mit Blick auf ein Beschleunigungsgesetz bei Public-Pri-
vate-Partnership-Modellen, zu denen wir in Nordrhein-
Westfalen etwas anbieten können. Das gilt auch für Pla-
nungsvereinfachungen und ähnliche wichtige Hinweise.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Ich erwarte eigentlich noch in dieser Woche vor dem
Hintergrund der Einigung über die Novelle des Energie-
wirtschaftsgesetzes klare Aussagen der Energiewirt-
schaft über Investitionen in Kraftwerke und Netze in der
Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich begrüße die Vorschläge zur Mittelstandsförderung.
Ich sage zu, dass das Land Nordrhein-Westfalen eine
solche Erbschaftsteuerregelung mit Blick auf die Verer-
bung von betrieblichem Vermögen im Bundesrat unter-
stützen wird, wohl wissend, dass mir dieses Gespräch
mit meinem Finanzminister erst noch bevorsteht.

Ich bin auch dankbar für die Bereitschaft, einen neuen
Anlauf zur Neuordnung der Bund-Länder-Beziehun-
gen zu nehmen. Ich will nicht in die Vergangenheitsbe-
wältigung einsteigen, sondern uns allen ganz allgemein
sagen: Der Eindruck, der sich bei den Menschen im De-
zember festgesetzt hat, war nicht der des Versagens der
SPD, der CDU/CSU, der Bundesregierung oder der Län-
der. Der Eindruck war der eines Politikversagens auf
ganzer Linie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Das fällt uns gemeinsam auf die Füße. Ich bin dafür,
dass wir die staatlichen Handlungsebenen stärken. Dies
bedeutet eine klare Entflechtung, eine klare Zuordnung
von Verantwortlichkeiten. Wir sollten dies nicht an dem
Bildungsthema, das sehr ultimativ in die Diskussion ein-
geführt worden ist, scheitern lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Von Herrn Koch!)


Um meine Position als Vertreter des Landes Nord-
rhein-Westfalen deutlich zu machen: Ich glaube, dass
man in Bezug auf den Wettbewerb von Standorten in der
Bundesrepublik Deutschland – Stichworte: Wissensge-
sellschaft und Technologiestandort – dem Bund nicht
schlechterdings jedwede Initiative im Bereich von Wis-
senschaft, Forschung und Technologie bestreiten kann.


(Beifall bei der SPD)

Umgekehrt wissen alle hier in diesem Hohen Hause,
dass die Kultushoheit ein Element der Staatlichkeit der
Länder ist, das man nicht aushebeln kann.


(Jörg Tauss [SPD]: Die ist heilig!)

Es müsste eigentlich möglich sein, zwischen diesen bei-
den Punkten einen Kurzschluss herzustellen, der uns in
die Lage versetzt, diese wichtige Föderalismusreform so
schnell wie möglich zu gestalten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Kurzschluss ist schlecht!)


Ich möchte etwas deutlich anerkennen, was in dieser
Regierungserklärung kein Schwerpunktthema war, uns
auf der kommunalen Ebene aber sehr beschäftigt. Wir
haben wegen der Entscheidungen, die getroffen worden
sind – auch in früheren Zeiten –, eine erfreuliche Stär-
kung der kommunalen Finanzkraft, wenn diese auch
vor dem Hintergrund erheblicher Probleme nach Lage
der Dinge noch nicht ausreicht und wir es nach wie vor
mit einer dramatischen Situation zu tun haben. Aber zu-
mindest anzuerkennen und, in aller Souveränität zuzuge-
ben, dass sich durch die günstigere Gewerbesteuerum-
lage, durch die Schließung von Steuerschlupflöchern,






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Peer Steinbrück (Nordrhein-Westfalen)


durch die Hartz-IV-Rendite, auf die es einen Rechtsan-
spruch gibt, und durch das 4-Milliarden-Euro-Programm
des Bundes für die Ganztagsbetreuung die Lage der
Kommunen deutlich verbessert hat, dürfte auch der Op-
position nicht schwer fallen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was die Verantwortung der Kommunalminister be-
trifft, insbesondere den Kommunen Investitionsspiel-
räume einzuräumen, die ein genehmigtes Haushalts-
sicherungskonzept oder sogar einen Nothaushalt haben,
ist dies eine der Aufgabenstellungen, die sich aus dieser
Regierungserklärung für die Länder ergeben. Die nehme
ich in meinem Gepäck gerne mit.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe manchmal den Eindruck, dass zum einen die

Art der öffentlichen Debatte und auch die Art, wie wir
politisch miteinander umgehen, mindestens ein so gro-
ßes Hindernis zur Realisierung von Reformen in der
Bundesrepublik sein könnten wie die Schwierigkeiten
selber. Ich glaube, wir müssen wahrnehmen, dass viele
Menschen uns so sehen. Das hat mit vielen Überzeich-
nungen zu tun.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Hören Sie doch geduldig zu und beweisen Sie Ihre
grenzenlose Bereitschaft, dies einfach einmal zu akzep-
tieren!


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Wir sind doch hier nicht im Seminar, sondern im Deutschen Bundestag!)


Ich habe Sie noch nicht ein einziges Mal angegriffen.
Das hat etwas zu tun mit Überzeichnungen und mit

Verzerrungen. Es hat auch etwas zu tun mit der Gering-
schätzung von Erfolgen. Es hat ferner damit zu tun, dass
wir das, was uns gelingt, zu schnell konsumieren, dass
wir wenig beständig sind, die Risiken überbetonen und
nach Lage der Dinge immer mit Bedenken an viele Pro-
jekte herangehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Wenn wir auch

sonst nichts haben, Bedenken haben wir“.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Wir finden immer Gründe, warum etwas nicht geht, und
wir suchen wenig nach Wegen, um es zum Gelingen
bringen zu können. Dieser Fragestellung sollten wir uns
politisch stellen; denn ich glaube, dass viele Menschen
wahrnehmen, dass wir dieser Einstellung verhaftet sind.

Hinzu kommt der Eindruck, dass der Umgang der po-
litischen Kräfte miteinander vom Publikum inzwischen
schon als Bestandteil des Problems gesehen wird. Dabei
gibt es sehr viele Rituale nach dem Motto „Die Deppen
und die Schlauberger sind sehr einseitig verteilt“ und es
gibt, wie ich finde, zu viele Schuldzuweisungen.

Frau Merkel, Sie haben dem Bundeskanzler vorge-
worfen, in seiner Regierungserklärung seien so viele
Schuldzuweisungen enthalten. Wie würden Sie denn die
Rede von Herrn Stoiber bewerten?


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie verteilen doch selbst immer Schuldzuweisungen! Das ist doch kein Beitrag dazu!)


Wenn diese Woche dazu beitragen könnte, diesen ver-
breiteten Eindruck zu korrigieren, dann wäre das ein
großer Gewinn für dieses Land.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Zugabe! – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Nichts über Antidiskriminierung! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Nicht ein einziges Wort zum Antidiskriminierungsgesetz!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516601300

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1516601400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. – Jeder kennt die
Geschichte von dem armen Vater, der seine Söhne mit
der Ziege auf die Weide schickt, damit sich die Ziege
richtig satt fressen kann. Die Ziege kommt jeden Abend
in den Stall zurück und meckert: „Ich sprang nur über
Gräbelein und fand kein einziges Blättelein“.

Arbeitsgeberpräsident Hundt erinnert mich an diese
Ziege. Können Sie sich vorstellen, dass Herr Hundt ir-
gendwann einmal erklärt: „Die Unternehmensteuern
können nicht weiter gesenkt werden; die Lohnnebenkos-
ten haben ein vernünftiges Niveau erreicht und der Kün-
digungsschutz ist ausreichend gelockert“? Man soll ja
nie „nie“ sagen, aber ich kann mir das nicht vorstellen.
Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass das jemand hier
im Saal glaubt.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Die rot-grüne Bundesregierung hat die Steuern dra-

matisch – ich würde sagen: unverantwortlich – gesenkt.
Diese Bundesregierung hat durch die Aufhebung der pa-
ritätischen Finanzierung – Stichwort: Krankengeld und
Zahnersatz – die Lohnnebenkosten für die Unternehmen
erheblich gesenkt und diese Bundesregierung hat den
Kündigungsschutz massiv gelockert, was der Bundes-
kanzler heute als besondere Heldentat dargestellt hat.

Doch was uns immer wieder als Verheißung angekün-
digt wurde, ist nie eingetreten. Es wurde von den Unter-
nehmen in Deutschland nicht mehr investiert und es
wurden in unserem Land nicht die angekündigten Ar-
beitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosig-
keit nimmt von Tag zu Tag zu.

Statt über die Wirkungen der Reformen nachzuden-
ken und sich die Frage zu stellen, was eigentlich schief
gelaufen ist, rennt die Bundesregierung kopflos von
einem Gipfel zum anderen. Alle Jahrhundertreformen
dieser Bundesregierung wurden in den Sand gesetzt und






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch

ich denke, wir können uns keine weitere derartige Jahr-
hundertreform leisten, weil sonst bald der Sand knapp
wird.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Es ist tollkühn, wenn die Bundesregierung immer

noch glaubt, dass Unternehmensteuersenkungen – wie
heute morgen vom Bundeskanzler angekündigt – zu
mehr Investitionen führen würden. Deutschland ist Ex-
portweltmeister. In den letzten fünf Jahren haben die
deutschen Exporte um 48 Prozent zugenommen. Das ist
der Beweis, dass wir auch mit relativ hohen Lohnkosten
in der Lage sind, Produkte weltweit zu verkaufen.

Unser Problem ist die Binnennachfrage. Diese müs-
sen wir stärken. Mit der Agenda 2010 haben Sie aber die
Binnennachfrage empfindlich gestört und geschwächt.
Die Umsetzung zweier Maßnahmen würde sofort Wir-
kung zeigen und umgehend Arbeitsplätze schaffen: Ers-
tens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen zur
Kasse gebeten wurden, die immer mehr von der Hand in
den Mund leben müssen, müssen besser gestellt werden.
Zweitens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen be-
günstigt wurden, die händeringend nach neuen Ab-
schreibungsmodellen suchen, müssen ihren Beitrag zur
Sicherung der Sozialsysteme leisten.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Zum ersten Punkt darf ich Ihnen ein Beispiel aus den

USA nennen. Nach dem Terroranschlag auf das World
Trade Center beschloss der US-Kongress aus Angst vor
einer Wirtschaftskrise, den Bezug des Arbeitslosengel-
des um 20 Wochen zu verlängern, um die Nachfrage an-
zukurbeln. Wenn die Bundesregierung das Arbeitslosen-
geld II in Ost und West angliche und jedem ALG-II-
Empfänger nur 55 Euro mehr zahlte, sodass jeder zumin-
dest 400 Euro in der Tasche hätte, dann wäre das ein so-
fort wirksames, unbürokratisches Konjunkturprogramm.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Bekanntlich sind Menschen, die wenig Geld haben, ge-
zwungen, zusätzliches Geld sofort auszugeben. Diese
55 Euro wären für jeden da. Ich könnte Ihnen viele spru-
delnde Quellen für die Gegenfinanzierung aufzählen.
Ein Beispiel: Sie haben zwar schon lange auf Parteitagen
die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Er-
höhung der Erbschaftsteuer beschlossen, aber nie umge-
setzt. Mindestens genauso wichtig ist die Forderung
nach Mindestlöhnen, die wir als PDS stellen. Wir dürfen
nicht länger zuschauen, wie die Löhne in diesem Land
den Bach heruntergehen.

Sie wissen sicherlich, wie die Geschichte mit der
Ziege ausgeht: Der Vater verlor alle seine Söhne und
stand mit der gefräßigen Ziege allein da. In diesem Sinne
kann ich die Bundesregierung nur davor warnen, der
ständig meckernden Ziege bzw. Herrn Hundt zu folgen.
Es sind nicht die Unternehmensteuern, die wir senken
müssen. Vielmehr schafft eine Erhöhung der Kaufkraft
der sozial Schwachen Investitionen und Arbeitsplätze.
Das wäre der richtige Weg.

Die Agenda 2010 ist ein Verarmungsprogramm für
große Gruppen der Bevölkerung. Inzwischen haben sich
schon viele Journalisten Selbstversuchen ausgesetzt, um
zu sehen, wie man unter ALG-II-Bedingungen lebt. Es
ist immer wieder als dramatisch und furchtbar bezeich-
net worden. Die Agenda 2010 ist der falsche Weg.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516601500

Ich schließe damit die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie

Zusatzpunkt 2 auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 28. August 1997 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Kirgisischen
Republik über die Förderung und den gegen-
seitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4978 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
OCCAR-Geheimschutzübereinkommen vom
24. September 2004
– Drucksache 15/4979 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 28. März 2000 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und der Bundesrepublik
Nigeria über die Förderung und den gegensei-
tigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4980 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Guatemala über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4981 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Angola über die Förderung und den ge-
genseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4982 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Volks-
republik China über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4983 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Demo-
kratischen Bundesrepublik Äthiopien über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4984 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann

(Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der FDP
Gashydratforschung fest in die Forschungen
„System Erde“ und „Neue Technologien“ inte-
grieren
– Drucksache 15/3814 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer

(Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne-

ter und der Fraktion der CDU/CSU
„Meer für Morgen“ – Impulse für die mari-
time Verbundwirtschaft
– Drucksache 15/5099 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5099 soll
zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen wer-
den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Reisekostenrechts
– Drucksache 15/4919 –

(Erste Beratung 160. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/5127 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Clemens Binninger
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/5127, den Gesetzent-
wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in der dritten Lesung mit dem gleichen Stim-
menverhältnis wie zuvor angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes
und anderer Vorschriften (3. SprengÄndG)

– Drucksachen 15/5002

(Erste Beratung 163. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/5129 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gerold Reichenbach
Reinhard Grindel
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/5129, den Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen
worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Bundes-Apothekerordnung
und anderer Gesetze
– Drucksachen 15/4784, 15/5093 –

(Erste Beratung 157. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit und Soziale Sicherung

(13. Ausschuss)

– Drucksache 15/5108 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann

Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/5108, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig, also mit den Stimmen des
ganzen Hauses, angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(11. Ausschuss)

Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van
Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksar-
mee das Führen ihrer früheren Dienstgrade
erlauben
– Drucksachen 15/3357, 15/4949 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Höfer
Ulrich Adam

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 15/3357 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der beiden
fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung des dritten Berichts des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung

(1. Ausschuss)

zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b
des Abgeordnetengesetzes (AbgG)

Überprüfung auf Tätigkeit oder politische
Verantwortung für das Ministerium für
Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit
der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik
– Drucksache 15/4971 –

Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis
genommen haben.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 192 zu Petitionen
– Drucksache 15/5039 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 192 ist einstimmig ange-
nommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 193 zu Petitionen
– Drucksache 15/5035 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Auch Sammelübersicht 193 ist einstimmig ange-
nommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 194 zu Petitionen
– Drucksache 15/5036 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 194 ist ebenfalls einstimmig
angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 195 zu Petitionen
– Drucksache 15/5037 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-

hält sich? – Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen
die Stimmen der FDP angenommen worden. Es gab
keine Enthaltungen.

Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 196 zu Petitionen
– Drucksache 15/5038 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.

Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
– Drucksache 15/5114 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen worden.

Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu der Streitsache vor dem Bundesverfas-
sungsgericht – 1 BvR 357/05
– Drucksache 15/5113 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)


Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzuge-
ben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevoll-
mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Enthaltungen? – Gegenstim-
men? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen worden.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Be-
schlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses er-
weitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als
Zusatzpunkt 6, Zusatzpunkt 7 und Zusatzpunkt 8 aufge-
rufen werden. Sind Sie damit einverstanden, dass wir so
verfahren? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

serung des vorbeugenden Hochwasserschutzes
– Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455,
15/3510, 15/3871, 15/5121 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf)

Minister Harald Schliemann (Thüringen)


Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht-
erstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Wir
können also gleich zur Abstimmung kommen. Der Ver-
mittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner
Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bun-
destag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen
ist. Dies gilt auch für die noch folgenden beiden Be-
schlussempfehlungen.

Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5121? –
Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Diese Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.

Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
– Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634,
15/5122 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Minister Rudolf Köberle (Baden-Württemberg)


Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs-
ausschusses auf Drucksache 15/5122? – Wer stimmt da-
gegen? – Gibt es Enthaltungen? – Auch diese Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen worden.

Zusatzpunkt 8:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und
anderer Gesetze
– Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921,
15/5123 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Röttgen
Minister Rudolf Köberle (Baden-Württemberg)


Wir stimmen nun ab über die Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5123.
Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Förderung der Organspende
– Drucksachen 15/2707, 15/4542 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1516601600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Meine Zeit ist vorbei, so sagten sie,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Oh! Hätte ich nicht gedacht!)

aber dann kamst du und schenktest sie mir neu. – Mit
diesen Worten hat eine Patientin ihre Gedanken zum
Ausdruck gebracht, die dringend auf eine Organspende
wartete. Ein Empfänger einer gespendeten Lunge hat im
Rückblick auf seine Erfahrungen seine Dankbarkeit ge-
genüber dem Spender bzw. der Spenderin folgenderma-
ßen zum Ausdruck gebracht: Ich denke sehr oft an mei-
nen Spender und bin von Herzen dankbar, dass er mir
das Gute hier gelassen hat. Ich danke den Ärzten und all
den vielen anderen, die um mich gekämpft und mir zu
neuem Leben verholfen haben.

Meine Damen, meine Herren, wir können die Gefühle
in dieser so genannten Wartestellung zwischen Leben
und Tod, die Hoffnung auf der einen Seite und die Dank-
barkeit auf der anderen Seite oft kaum fassen. Aber für
jeden könnte das Thema Organspende irgendwann eine
Rolle spielen. Vielen Menschen wird das erst bewusst,
wenn in ihrer eigenen Familie ein Familienangehöriger
auf eine Transplantation wartet – ein Schicksal, das circa
13 000 Menschen teilen.

Das Thema wird auch dann aktuell, wenn ein Ange-
höriger mit der Frage konfrontiert wird, ob der Verstor-
bene einer Organentnahme zugestimmt hat. Zwischen
der langen Warteliste auf der einen Seite und der von
80 Prozent der Bevölkerung bekundeten Spendenbe-
reitschaft auf der anderen Seite klafft eine große Lücke.
Nur 12 Prozent der Menschen hierzulande besitzen ei-
nen Organspendeausweis. Mangelndes Wissen über den
Hirntod und den Organspendeausweis, Ängste, aber
auch unzureichende Kenntnisse über die Bedeutung ei-
ner Spende für den Empfänger führen in der Bevölke-
rung oft zu Verunsicherung und zu Zurückhaltung.

Statt nun auf diese Situation zu reagieren und gezielt
und sensibel Aufklärung zu betreiben, hat die Bundesre-
gierung in der Zeit von 1998 bis 2004 die Mittel der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in die-
sem Bereich auf ein Viertel der Anfangsausgaben redu-
ziert.


(Detlef Parr [FDP]: Hört! Hört! Kein Wunder!)

Spendenbereitschaft fördern wollen und zugleich die
Aufklärung fast einstellen, das passt nicht zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Stimmt nicht!)


Nach den Todesfällen von zwei tollwutinfizierten Or-
ganspendeempfängern und neuen, aktuellen Pressebe-
richten breitet sich gerade jetzt wieder einmal weitere
Verunsicherung aus. Die Bundesregierung ist aufgefor-
dert, in dieser Situation einer Diskreditierung von post-
mortalen Transplantationen vorzubeugen und ein größe-
res öffentliches Bewusstsein für die postmortale
Organspende zu schaffen.

Auch unter den Ärzten ist mehr Information über das
Thema dringend erforderlich; denn 40 Prozent der 1 400
Kliniken mit Intensivstationen in unserem Land melden
nie einen Organspender bzw. machen bei der Rekrutie-
rung von Organen einfach nicht mit. Der ehemalige me-
dizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtrans-
plantation, Professor Martin Molzahn, kritisiert denn
auch zu Recht, wenn er sagt:

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation kann
ihre Arbeit und ihre Prozesse noch so gut organisie-
ren – wenn die Meldung aus dem Krankenhaus un-
terbleibt, werden wir unser Ziel einer deutlich hö-
heren Zahl von Organspenden nicht erreichen.

Die Ursachen für die ausbleibenden Meldungen sind
trotz Meldepflicht, die im Gesetz geregelt ist, vielfältig.
Manchmal sind überarbeitete Intensivmediziner nicht in
der Lage, die Aufgaben zusätzlich zu schultern, oder sie
scheuen einfach auch das Gespräch mit den nahen Ange-
hörigen des Verstorbenen.

Häufig mahnen aber auch die Klinikverwaltungen
ihre Ärzte aus Kostengründen zur Zurückhaltung. Das
Fallpauschalensystem hat den Kosten- und den Prozess-
druck in den Krankenhäusern verschärft. Insbesondere
kleine Krankenhäuser mit wenigen Intensivbetten spüren
dies. Die intensivmedizinische Betreuung des Hirntoten
und das Gespräch mit den Angehörigen erfordern viel
Zeit und Einfühlungsvermögen – Zeit, die es im Kran-
kenhaus immer weniger gibt, und Zeit, in der das Inten-
sivbett nicht für andere Patienten zur Verfügung steht.

Zwar ist nunmehr durch eine Vereinbarung die
Finanzierung der Organentnahme bei der Postmortal-
spende, auch wenn die Entnahme nicht zum Erfolg führt,
über eine Pauschale geregelt, doch ist diese Pauschale
nicht dynamisch, das heißt, sie passt sich nicht der Kos-
tenentwicklung an. Darüber hinaus ist sie bereits heute
nicht kostendeckend und weicht erheblich von der Er-
stattung bei Lebendspenden ab. Deshalb brauchen wir
uns nicht zu wundern, wenn die Postmortalspende in der
Bundesrepublik nicht in dem Umfang angenommen
wird, wie dies in anderen Ländern der Fall ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir plädieren deshalb für eine unabhängige, exakte

und zeitnahe Kalkulation und Anpassung dieser Pau-
schalen und für eine bessere Vernetzung der Kranken-
häuser mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation.
Wir brauchen für die Aufgabe der Organspende einen






(A) (C)



(B) (D)


Annette Widmann-Mauz

konkreten Ansprechpartner in jedem Krankenhaus mit
Intensivbetten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD])


Wichtig für die Akzeptanz der Organspende ist
schließlich, dass keine Regelungslücken bestehen und
zum Schutz der Organempfänger alle notwendigen
Vorkehrungen getroffen sind. Der Fall der tollwutinfi-
zierten Organspenderin ist bislang ein einzigartiges Er-
eignis und wird es hoffentlich auch bleiben. Aber er gibt
uns allen Gelegenheit, noch einmal aufmerksam die be-
stehenden Regelungen zu überprüfen und Regelungslü-
cken auszumachen.

Eine Regelungslücke springt dabei deutlich ins Auge:
Sieben Jahre nach In-Kraft-Treten des Transplantations-
gesetzes steht noch immer die Richtlinie über die Anfor-
derungen an die im Zusammenhang mit einer Organent-
nahme zum Schutz der Organempfänger erforderlichen
Maßnahmen aus. Das ist ein Versäumnis der Bundesre-
gierung, denn diese hätte im Wege der Rechtsaufsicht
die Bundesärztekammer schon längst auf die Schließung
dieser Regelungslücke hinweisen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach jüngsten Berichten, etwa der „Süddeutschen

Zeitung“ in der vergangenen Woche, und nach Aussagen
aus den Reihen der Bundesärztekammer scheint es auch
Interessenskollisionen bei der Organentnahme sowie
bei der Entnahme, Vermittlung und Verwertung von Ge-
webe im Bereich der DSO zu geben. Diese Hinweise
müssen wir im Interesse der Akzeptanz der Postmortal-
spende sehr ernst nehmen. Wir müssen Interessenskolli-
sionen ausschließen und die Gewebeentnahme klar re-
geln. Sonst leidet die Akzeptanz der Organspende und
dies können wir uns nicht leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen, meine Herren, wir alle sind aufgefor-

dert, uns zugunsten der Menschen, die auf eine Organ-
spende warten, zu engagieren. Ganz besonders aufge-
fordert ist die Bundesregierung. Sie muss ihre
Aufklärungsarbeit intensivieren. Sie muss Maßnahmen
initiieren, um die Meldepflicht in den Krankenhäusern
umzusetzen und damit die Zahl der Meldungen tatsäch-
lich zu erhöhen. Sie muss bestehende Regelungslücken
sofort schließen und aktuelle Entwicklungen, wie ge-
nannt, sorgfältig verfolgen und gesetzlich begleiten.

Dies ist dringend notwendig; –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516601700

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1516601800

– denn die Menschen, die auf ein Organ warten, ha-

ben keine Alternative.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516601900

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-

rin Marion Caspers-Merk.
Ma
Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1516602000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist eine gute Sache, dass wir heute hier anlässlich
einer Großen Anfrage der Opposition über das Thema
Organspende diskutieren; denn es ist in der Tat so: Or-
ganspende schenkt Leben. Das ist auch der Titel der In-
formationskampagne der Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung, BZgA. Wer sich zur Organspende
bereit erklärt, gibt anderen Menschen die Chance auf
mehr Lebensqualität, manchmal sogar die Chance auf
ein zweites Leben. Deswegen sollte man dieses Thema
auch mit dem gebotenen Ernst behandeln, liebe Kollegin
Widmann-Mauz; da helfen einseitige Schuldzuweisun-
gen nicht.


(Beifall bei der SPD – Julia Klöckner [CDU/ CSU]: Das war doch sehr ernst!)


Sie wissen ja: Es war damals eine gemeinschaftliche
Aktion, das Transplantationsgesetz hier im Deutschen
Bundestag zu verabschieden.


(Detlef Parr [FDP]: Das ist gut gelungen!)

Eine gemeinschaftliche Aktion war auch die Informa-
tionskampagne, die als Anschubhilfe ins Leben gerufen
worden ist. Die Organspende genießt in der Bevölkerung
hohe Akzeptanz. 80 Prozent der Bundesbürger bewer-
ten sie positiv. Dennoch stehen zu wenig Spenderorgane
zur Verfügung. Wir wissen, dass im Wesentlichen drei
Punkte in Angriff genommen werden müssen, bei denen
genau geschaut werden muss, welche Ebene welche
Aufgabe hat.

Erstens. Wir haben 1997 das Transplantationsgesetz
in den Deutschen Bundestag eingebracht und auch ge-
meinsam verabschiedet. Es hat die Spende, die Ent-
nahme und die Übertragung von Organen auf eine recht-
lich sichere Grundlage gestellt. Entgegen mancher
Forderung brauchen wir keine Änderung der gesetz-
lichen Grundlagen; denn das Gesetz hat sich bewährt.


(Beifall bei der SPD)

Das muss man einmal sagen und das war eine wichtige
Klarstellung. Zunächst musste an den Gesetzgeber die
Frage gerichtet werden, ob gesetzlicher Handlungs-
bedarf besteht. Das ist nicht der Fall. Das hat auch die
jüngste Expertenanhörung in der Enquete-Kommission
„Ethik und Recht der modernen Medizin“ bestätigt.

Zweitens. Die Stärkung der Spendebereitschaft ist
eine Gemeinschaftsaufgabe. Frau Kollegin Widmann-
Mauz, Sie machen es sich da zu einfach. Die Verantwort-
lichkeiten ruhen auf mehreren Schultern.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Auch auf der Bundesregierung!)


Damals ist verabredet worden: Bund, Länder, Kranken-
häuser und Ärzte haben hier ihre jeweilige Aufgabe zu
erledigen.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hat sie gesagt!)

Dabei gibt es ganz deutliche Unterschiede und Defizite,
die wir auch benennen müssen.


(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, dass eines ganz wichtig ist: Wenn wir eine

Meldepflicht ins Gesetz schreiben, kann es nicht ange-
hen, dass 40 Prozent der Krankenhäuser so tun, als gäbe
es diese Meldepflicht überhaupt nicht. Wer hat da die
Rechtsaufsicht? Das ist doch nicht der Bund. Die
Rechts- und Fachaufsicht liegt klar in der Zuständigkeit
der Länder. Deswegen will ich an dieser Stelle noch ein-
mal sagen: Es hat keinen Sinn, wenn wir immer neue
Gesetze oder eine Verschärfung der Gesetze fordern,


(Detlef Parr [FDP]: Das ist ein guter Satz!)

solange das Problem bei der Durchsetzung dieser gesetz-
lichen Regelungen liegt. Für die Durchsetzung liegt die
Verantwortung bei den Ländern. Ich appelliere an dieser
Stelle, diese Verantwortung auch wahrzunehmen.


(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen drittens mehr Öffentlichkeit für dieses

Thema. Information und Aufklärung sind Vorausset-
zungen für eine höhere Bereitschaft zur Organspende.
Wir als Bundesregierung haben hier unsere Hausaufga-
ben gemacht. Seit 1998 wurden bei der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung circa 6 Millionen Euro
zur Förderung der Bereitschaft zur Organspende ausge-
geben. Die Tatsache, dass am Anfang einer Kampagne,
wenn sie erst ins Werk gesetzt wird, mehr Geld investiert
werden muss, als wenn die Kampagne bereits läuft, ge-
gen die Bundesregierung zu wenden, ist nicht nur billig,
sondern führt auch in der Sache nicht weiter.


(Beifall bei der SPD)

Das Angebot der BZgA reicht von Informationsbro-

schüren über Angebote im Internet bis hin zu einem ge-
bührenfreien Informationstelefon, das zunehmend in
Anspruch genommen wird. Dieses Angebot wird ge-
meinsam von der BZgA und der Deutschen Stiftung Or-
gantransplantation bereitgestellt. Demjenigen, der Rat
im persönlichen Gespräch sucht, stehen also qualifizierte
Expertinnen und Experten Rede und Antwort. Für Infor-
mation und Aufklärung stehen auch in Zukunft ausrei-
chend Gelder zur Verfügung, weil die Bundesregierung
dieses Thema ernst nimmt und auch gerade angesichts
des Tollwutfalles und der dadurch ausgelösten öffent-
lichen Debatte alles dafür tun will, dass die Spenden-
bereitschaft nicht zurückgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben auf diesen Fall umgehend reagiert. Sie

wissen, dass wir im Ausschuss berichtet haben und dass
heute Nachmittag in unserem Hause ein Experten-
gespräch stattfindet. Es soll nochmals überprüft werden,
ob es hier Regelungslücken gab oder ob der Grund für
das Auftreten dieses Falles in mangelnder Zusammenar-
beit und nicht ausreichender Information lag. Eine erste
Auswertung der Expertengespräche in Hannover hat er-
geben, dass solche Fälle auch durch noch so große An-
strengungen des Gesetzgebers nicht zu verhindern sind.
Wir müssen uns also noch einmal zusammensetzen und
prüfen, ob die Vernetzung und Kommunikation nicht
noch verbessert werden kann.

Wir haben prompt reagiert und umfassend informiert.
Uns geht es darum, dass nicht ein Einzelfall so skandali-
siert wird, dass die Bereitschaft zur Organspende zu-
rückgeht. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung,
alles zu tun, dass die Spendenbereitschaft wieder steigt.
Deswegen sollte man diesen Einzelfall nicht dazu benut-
zen, die Organspende zu diskreditieren. Dass dies nicht
geschieht, dafür tragen alle Fraktionen im Bundestag
eine gemeinsame Verantwortung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Kauch [FDP])


Der wichtigste Punkt ist, diejenigen Schnittstellen,
die im Moment noch nicht ausreichend funktionieren, zu
benennen und diesbezüglich für Abhilfe zu sorgen. Ich
habe eben schon das Thema Meldepflicht der Ärzte an-
gesprochen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, die
Kooperation der jeweiligen Kliniken untereinander
neu zu organisieren. Die Berichterstattung in den Me-
dien zeigte, dass die Kooperation zwischen den Kliniken
teilweise nicht richtig und ausreichend funktioniert. Bei-
spielsweise sind Twinning-Projekte im europäischen
Ausland dadurch bedroht, dass alles zentral organisiert
wird. Wir müssen genau hinschauen, ob nicht sinnvolle
Initiativen durch eine falsch verstandene Zentralisierung
verhindert werden. Wir sind aufgefordert, dies gemein-
sam zu tun.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516602100

Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Rede-

zeit.

M
Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1516602200


Sehr gerne, Frau Präsidentin.
Ich möchte abschließend eine Hoffnung und eine

Bitte äußern. Wir nehmen dieses Thema ernst. Deswe-
gen bin ich über die Große Anfrage froh. Sie gibt uns
Gelegenheit, dieses wichtige Thema öffentlich zu disku-
tieren. Ich appelliere aber auch an Sie: Helfen Sie mit,
einseitige Schuldzuweisungen zu verhindern! Bund,
Länder und Kliniken müssen gemeinsam etwas dafür
tun, dass man mit Organspenden auch weiterhin Leben
schenken kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Kein Wort zur Richtlinie!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516602300

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.






(A) (C)



(B) (D)



Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1516602400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Derzeit

warten zwischen 12 000 und 13 000 Patientinnen und
Patienten auf ein Spenderorgan und, Frau Staatssekretä-
rin, auf die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwor-
tung. Die durchschnittliche Wartezeit beispielsweise auf
die Transplantation einer Niere beträgt etwa fünf Jahre.
Das Warten auf ein Herz oder auf eine Leber ist meistens
ein Wettlauf mit der Zeit, den viele Patienten nicht mehr
gewinnen. Bezogen auf die Einwohnerzahl werden in
Deutschland, besonders in Nordrhein-Westfalen, weit
weniger Organe transplantiert als in den meisten unserer
Nachbarstaaten.

Kein anderer medizinischer Bereich ist so abhängig
von der Mitwirkung der Bevölkerung wie die Organ-
spende. Wäre die erklärte Bereitschaft zur Spende so
groß wie die verbale Akzeptanz, hätten wir keine Eng-
pässe. Denn nach wie vor gibt es eine große Kluft zwi-
schen der prinzipiellen Bereitschaft zu einer Organ-
spende und dem Schritt zu einer schriftlichen Fixierung.

Nur 5,2 Prozent aller postmortalen Organentnahmen
erfolgten aufgrund eines Organspendeausweises. Münd-
lich bekundeter Wille und der von Angehörigen festge-
stellte mutmaßliche Wille der Verstorbenen sind die
Mehrheit: 67 Prozent der Bevölkerung gaben bei einer
Umfrage ihre ausdrückliche Akzeptanz an, als Organ-
spender zur Verfügung zu stehen. Doch nur bei 54 Pro-
zent aller potenziellen Organspender konnten Organe
entnommen werden. Durch die Angehörigen kam es oft
zu einer Ablehnung. Sie stehen unter dem starken psy-
chischen Druck, den mutmaßlichen Willen des Verstor-
benen festzustellen. Deshalb stellt sich die Frage: Wird
innerhalb der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten
wirklich alles Erdenkliche getan?

Durch massive Aufklärung der Bevölkerung und
durch Thematisierung in der Gesellschaft muss die Zahl
derjenigen erhöht werden, die ihre Einstellung zur Or-
ganspende schriftlich oder zumindest mündlich klar äu-
ßern. So kann Angehörigen diese schwere Entscheidung
abgenommen werden. Organspendeausweise sollten
verstärkt mit ausführlichen und sensibilisierenden Infor-
mationen für die Bevölkerung leicht zugänglich bereit-
liegen. Bankfilialen, Postschalter und Ämter bieten sich
insofern an. Wir Abgeordnete sollten mit gutem Beispiel
vorangehen und einen Organspendeausweis ausfüllen.
Schließlich ist er so klein, dass er in jede Brieftasche
passt. Wir sollten diese Fragen in unseren Wahlkreisen
öffentlich diskutieren; denn Ängste müssen abgebaut
werden. Das gelingt nur durch eine offene Auseinander-
setzung mit diesen Fragen.


(Beifall bei der FDP)

Wichtig ist, dass es bei der Zustimmungslösung

bleibt. Jeder Mensch muss das Recht haben, sich nach
Auseinandersetzung mit der Thematik bewusst für oder
auch gegen eine Bereitschaft zur Organspende zu ent-
scheiden. Er muss sogar die Möglichkeit haben, die
Beschäftigung mit dem Thema zu verweigern. Eine Wi-
derspruchslösung führt zur Verunsicherung der Bevölke-
rung und widerspricht dem Grundsatz der individuellen
Selbstbestimmung.

(Beifall bei der FDP)

Die Bereitschaft der Bevölkerung, einen Ausweis zu

tragen, muss gesteigert werden. Es muss aber auch die
Zahl der Krankenhäuser erhöht werden, die sich an der
Suche nach geeigneten Organspendern beteiligen. Im
Bundesdurchschnitt lag – das ist vorhin schon gesagt
worden – der Beteiligungsgrad der Krankenhäuser mit
Intensivstationen im Jahre 2001 bei ganzen 44 Prozent.
Dabei gibt es zwischen den Bundesländern große Unter-
schiede, obwohl das Transplantationsgesetz die Pflicht
zur Meldung beinhaltet. Die Antwort der Bundesregie-
rung auf die Große Anfrage der Union lässt dieses Pro-
blem ebenfalls ungeklärt. Aufklärung und sensibler Um-
gang mit diesen Fragen sind an dieser Stelle besser als
Zwangsmechanismen. Auch die geschaffenen finanziel-
len Anreize für die Krankenhäuser sind – das hat die An-
hörung in der Enquete-Kommission gezeigt – nicht maß-
geblich für eine erhöhte Beteiligung.

Die Bundesländer gehen auf Grundlage ihrer Ausfüh-
rungsbestimmungen sehr unterschiedlich mit der Umset-
zung des Transplantationsgesetzes um. Wir brauchen
eine intensive Aufklärung von Klinikpersonal und
Bevölkerung. Ärzte und Pflegekräfte sollten speziell
fortgebildet werden, um sensibilisiert und in der Lage zu
sein, im entscheidenden Fall mit den Angehörigen die
notwendigen einfühlsamen Gespräche zu führen. Die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung leistet
auf diesem Gebiet schon wertvolle Arbeit. Deshalb bin
ich über die hohen Kürzungen der Mittel schockiert.
Richtigerweise sollte die Arbeit der BZgA konsequent
gestärkt werden. Wir brauchen eine konzertierte Aktion
von Bund, Ländern, Krankenhäusern und Krankenkas-
sen.


(Beifall bei der FDP)

Eine abschließende Bemerkung. Heute wurde der

Zwischenbericht zur Organlebendspende der Enquete-
Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
dem Bundestagspräsidenten überreicht. Darin hat die
Mehrheit der Mitglieder verhalten signalisiert, dass die
Möglichkeiten, die sich durch eine vorsichtige Öffnung
der Regeln zur Organlebendspende ergeben, besser aus-
geschöpft werden könnten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie zum
Schluss nachdrücklich bitten: Gehen Sie diesen Schritt
mutiger mit! Heben Sie die Nachrangigkeit der Le-
bendspende gegenüber der postmortalen Spende auf!
Lassen Sie Überkreuzspenden zu! Das ist im Sinne vie-
ler Betroffener. Ihnen sollten wir verpflichtet sein; sie
würden es uns danken. Ich glaube nicht, dass die Gefahr
des Organhandels größer wird, wenn die entsprechenden
Rahmenbedingungen stimmen, wenn also zum Beispiel
eine Ethikkommission vorher ihre Zustimmung zu ei-
nem solchen Schritt geben muss.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516602500

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Selg.






(A) (C)



(B) (D)



Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516602600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Ich denke, dieses Thema eignet
sich ebenso wenig wie die Debatte heute Morgen für
parteitaktisches Gezänk. Die Bereitschaft zur Organ-
spende ist in Deutschland


(Detlef Parr [FDP]: Das gilt aber nicht für die letzte Rede!)


– nein, nein, Herr Parr, das war schon okay – auf einem
erschreckenden Niveau.

Die Große Anfrage der CDU/CSU zur Förderung der
Organspende, in der der Eindruck erweckt wird, dass die
Organspende nicht richtig im TPG, im Transplantations-
gesetz, verankert sei, geht in die falsche Richtung. Ziel
des Transplantationsgesetzes ist es vor allem, eine klare
und sichere Rechtsgrundlage für die Spende und Ent-
nahme menschlicher Organe, Organteile und Gewebe
zum Zwecke der Transplantation zu schaffen. Unter die-
ser Prämisse sollten wir das Transplantationsgesetz be-
urteilen. Ich denke, es besteht Konsens, dass mit dem
Transplantationsgesetz Rechtssicherheit geschaffen
wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

70 Prozent der Bevölkerung stehen einer Organspende

positiv gegenüber. Dennoch kam es – darauf weist die
Union hin und darauf wird auch in der Antwort der Bun-
desregierung hingewiesen – nach Einführung des Trans-
plantationsgesetzes zu keiner dauerhaften Zunahme der
Zahl der postmortalen Organspenden. 12 000 Menschen
warten im Durchschnitt sechs Jahre lang auf ein Organ.
Ich denke, das ist zu lange. Wir sollten dringend etwas
daran ändern.

Diese lange Wartezeit hat vielfältige Gründe; denn,
wie gesagt, 70 Prozent der Menschen würden spenden.
Ich glaube, es ist zu kurz gesprungen, einfach noch mehr
Geld für Öffentlichkeitsarbeit zu fordern. Denn die Bun-
desregierung und die Gesundheitsminister aller Länder
sind sich darin einig, dass die Zahl der realisierbaren
postmortalen Spenden in hohem Maße von der Zusam-
menarbeit zwischen Transplantationszentren und Kran-
kenhäusern sowie vom Engagement der Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter abhängt. 2003 engagierten sich
beispielsweise nur etwa 40 Prozent der bundesweit circa
1 400 Krankenhäuser mit Intensivstationen für die Ge-
meinschaftsaufgabe „Organspende“. Man muss sehr ge-
nau hinschauen; denn diesen Wert drücken vor allem die
Häuser der Grund- und Regelversorgung. Häuser der
Maximalversorgung engagieren sich zu mehr als
90 Prozent.

Ein wesentlicher Grund für die geringere Zahl an Or-
ganspenden liegt in der Inzidenz der Todesfälle nach
akuter Hirnschädigung. Diese Todesfälle treten sehr häu-
fig bei Straßenunfällen auf. In der Anhörung der En-
quete-Kommission zur Organspende wurde ein weiterer
Grund dafür genannt, dass sehr viel weniger Organe ge-
spendet werden, als dies eigentlich möglich wäre. Wir
haben in Deutschland die erweiterte Zustimmungsre-
gelung im Transplantationsgesetz verankert. Das heißt:
Liegt keine ausdrückliche Entscheidung des Betroffenen
zur Organspende vor, entscheiden die Angehörigen. Da
nur 12 Prozent einen Organspendeausweis besitzen, ent-
scheiden in mehr als 80 Prozent die Angehörigen. Jeder
kann sich vorstellen, dass Angehörige in einer solchen
Situation überlastet sind und sich im Zweifelsfall eher
gegen eine Organspende entscheiden. Aber brauchen wir
deshalb eine Widerspruchsregelung, wie sie in anderen
europäischen Ländern existiert?


(Detlef Parr [FDP]: Nein!)

Nach meiner Meinung wäre das nicht der richtige Weg.

Die Aufklärungsarbeit im Hinblick auf die Organ-
spende sollte stattdessen verstärkt auf den Hinweis ab-
zielen, dass die Angehörigen stärker entlastet werden
können, wenn der Wille des Einzelnen dokumentiert
wird. In der Beantwortung der Anfrage der Union durch
die Bundesregierung ist allerdings zu lesen, dass wir in
manchen Bereichen ein Umsetzungsproblem haben. Die
gesetzlichen Möglichkeiten sind letztendlich vorhan-
den. Deshalb freut es mich wirklich, dass die 77. Ge-
sundheitsministerkonferenz, also die Gesundheitsminis-
ter aller Länder, Handlungsbedarf erkannt hat. Daher
möchte ich darauf nicht näher eingehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Allerdings möchte ich kurz auf die Organlebendspende

eingehen. Ausgangspunkt ist die immer wieder gefor-
derte Ausweitung der Organlebendspende und die Dis-
krepanz zwischen Angebot und Bedarf. Zu beobachten
ist, dass die Zahl der Lebendspenden bereits seit Jahren
zunimmt. Heute stammen fast jede fünfte Niere und jede
zehnte Leber von einem Lebendspender. Organe und Or-
ganteile sollten aber nur von Angehörigen und anderen
Personen, die einem Spender durch persönliche Verbun-
denheit offenkundig nahe stehen, gespendet werden. Das
Ziel war es bisher vor allem, unkontrollierten Organhan-
del zu verhindern. Ich denke, das ist richtig so. Daran
sollten wir weiter festhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich halte es für wirklich wünschenswert, Vorschläge
zu einem verbesserten Organaufkommen zu machen. Ich
wünsche mir, dass wir hier gemeinsam, und zwar partei-
übergreifend, zu einem Konsens kommen. Ich glaube,
Aufklärung ist dringend notwendig. Aber dies kann
nicht nur durch mehr Geld und nicht nur dadurch geleis-
tet werden, dass wir die Zahl der Spenderausweise erhö-
hen.

Wie schon gesagt, jeden von uns kann es treffen, dass
er zum Organspender wird. Es kann aber auch jeden tref-
fen, dass er unverhofft in die Situation gerät, der Frage
nach einer Organspende durch einen Angehörigen ge-
genüberzustehen. Hier gilt es, sich zu Lebzeiten mit dem
Tod auseinander zu setzen und mit den Angehörigen da-
rüber zu reden.

Wir sollten versuchen, parteiübergreifend – wir tref-
fen uns heute Nachmittag im Ministerium – zu einer Lö-
sung zu kommen. Bei einem so wichtigen Thema sollte
wie auch heute Morgen in der Arbeitslosendebatte die






(A) (C)



(B) (D)


Petra Selg

Parteitaktik im Interesse der betroffenen Menschen au-
ßen vor bleiben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516602700

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1516602800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Uns geht es hier überhaupt nicht darum, dieses Thema
parteipolitisch zu instrumentalisieren. Wenn man sich ir-
gendwo getroffen fühlt, versucht man schnell abzulen-
ken.

Sie alle zitieren die Enquete-Kommission „Ethik und
Recht der modernen Medizin“. In ihr sind unter anderem
meine Kolleginnen Voßhoff und Lanzinger, Herr Kol-
lege Rachel und ich Mitglied; wir waren bei den Anhö-
rungen dabei. Hören Sie doch mit den Schuldzuweisun-
gen auf!


(Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hat doch niemand Schuld zugewiesen!)


Wir haben eine Große Anfrage gestellt. Eines fällt

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1516602900
Es ist schon sehr entlar-
vend, dass Sie keinen einzigen Satz über die Rechtsauf-
sicht Ihres Ministeriums gegenüber der Bundesärzte-
kammer bezüglich des Empfängerschutzes gesagt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Richtlinie steht seit sieben Jahren aus. – Es wäre
schön, wenn Sie einmal zuhörten; denn zu diesem
Thema hätten wir uns eine Antwort gewünscht. Es geht
um Ihre Rechtsaufsicht gegenüber der Bundesärztekam-
mer, und zwar nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen
gefallen ist.


(Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Wodarg, Sie reden doch nachher noch. Halten Sie
doch einmal die Luft an!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, es

gebe ausreichend Gelder für die Bundeszentrale für ge-
sundheitliche Aufklärung. Sie haben auch die DSO und
die Enquete-Kommission genannt. Aber in der Enquete
wurde am Montag von der Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung ganz klar zum Ausdruck gebracht,
dass Gelder fehlten und immer mehr Gelder gestrichen
würden. Wir fordern ja nicht einmal mehr Gelder, wie es
die Kollegin von den Grünen eben gesagt hat.


(Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt nicht!)


Aber wir sollten wenigstens bei den Geldern bleiben, die
bis dato zur Verfügung standen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles falsch, was Sie da erzählen!)


Als 1998 dieses Projekt startete, wurden über
4 Millionen DM zur Verfügung gestellt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516603000

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Abgeordneten Caspers-Merk?


Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1516603100

Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung

halten. Sie hat ja eben geredet und hätte dazu gern etwas
sagen können.


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Sie haben mich doch gerade gefragt!)


– Ich habe Sie nicht gefragt, ich habe etwas gesagt. Es ist
Ihr Problem, wenn Sie nicht zuhören, sondern mit ande-
ren schwätzen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie bei
diesem Thema zugehört hätten. Lassen Sie mich meine
Rede beenden; nachher können wir gerne darüber reden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ein bisschen arrogant!)


Sie haben vorhin erwähnt, dass die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung genügend Geld habe. In
der Anhörung wurde von der Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung ganz klar gesagt, dass Geld fehle.
In den vergangenen Jahren wurde viel Geld gestrichen.
Ich gebe zu, dass für die Initialzündung im Jahre 1998
mehr Geld gebraucht wurde. Im Jahr 2004 gab es aber
nur noch 540 000 Euro. Mit Verlaub, die Initialzündung
war dann doch etwas anderes. Insofern halten wir es
durchaus für erforderlich, hier etwas zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor knapp einem Jahr haben wir unsere Große An-

frage mit 47 Fragen eingebracht. Sie haben neun Monate
gebraucht, um sie zu beantworten. Ich erinnere mich
noch an die Debatte anlässlich der Einbringung unserer
Anfrage. Damals hieß es, dies sei eine Showeinlage der
Opposition, die Bundesregierung erstatte regelmäßig
Bericht. Ich habe das Protokoll dabei, aus dem hervor-
geht, was uns alles vorgeworfen wurde. Ich freue mich
sehr, dass Sie nun gesagt haben, eine solche Anfrage sei
auch für die Diskussion sehr wichtig.

Wir fordern nicht, dass das Gesetz geändert wird. Wir
wollen keine Widerspruchslösung und wir wollen auch
nicht die Subsidiarität auflösen, wie es die FDP verlangt.
Aber wenn ein Gesetz über Jahre besteht, dann ist es
sehr wichtig, dass man einmal hinterfragt, ob es die Ziele
erreicht hat, die es erreichen sollte. Unserer Meinung
nach kommt das Thema Organspende viel zu wenig in
der öffentlichen Debatte vor. Die Menschen müssten
schon in jungen Jahren mit dieser Thematik konfrontiert
werden; denn wenn die Angehörigen in einer Schocksi-
tuation für einen Verstorbenen entscheiden sollen, dann
sind sie zumeist emotional völlig überfordert.

In diesem Punkt hat uns die Antwort auf unsere
Große Anfrage enttäuscht. Zwar wurde viel beantwortet;






(A) (C)



(B) (D)


Julia Klöckner

die Antwort der Bundesregierung ist ja auch ziemlich
umfangreich, aber die Masse allein macht es nicht.

Wir vermissen nicht, dass Sie uns wie bei vielen an-
deren Beantwortungen das Gesetz erklären. Das kennen
wir auch so.


(Peter Dreßen [SPD]: Wer weiß! Manchmal lest ihr auch nichts!)


Es wurde unter einer Unionsregierung verabschiedet.

(Klaus Kirschner [SPD]: Nein!)


– Doch, das war so. Herr Seehofer war damals Minister.
Ich glaube, jetzt haben Sie ein kleines Problem.


(Peter Dreßen [SPD]: Das war eine gemeinsame Aktion!)


Wir bedauern aber sehr, dass Sie nichts aufzeigen,
womit wir wirklich die Probleme lösen, wo wir ansetzen
können. Wir haben beispielsweise nachgefragt, was wir
mit den Kliniken machen, die einen möglichen Organ-
spender nicht melden. Selbst darauf kam keine Antwort.
Bei ganz vielen Anfragen, die wir gestellt haben, weil
wir gerne gemeinsam weitergehen wollen, sind Sie mit
Ihrer Kooperation am Ende. Hier setzt unsere Kritik an.
Wir sagen nicht, dass Sie Organspenden verhindern. Das
würde auch niemand behaupten.

Es gibt aber zwei wichtige Punkte – auch Sie haben
vorhin die Anhörung der Enquete-Kommission er-
wähnt –, bei denen es hakt. Das eine Nadelöhr sind die
Krankenhäuser. Wir können noch so viel Aufklärung
leisten, aber wenn sich nur 40 Prozent der Krankenhäu-
ser, welche die Schnittstelle sind, an der Meldung der
potenziellen Organspender, der Hirntoten, beteiligen,


(Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun so, als würden wir irgendetwas Falsches erzählen!)


ist da irgendetwas falsch.

(Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)

– Jetzt hören Sie doch einmal zu. Wenn Sie darüber gar
nicht reden wollen, können wir hier gerne einpacken. Es
ist aber doch wichtig, das zu thematisieren. Wir themati-
sieren das in der Enquete-Kommission.


(Beifall bei der CDU/CSU – Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir auch thematisiert!)


Aber wir können doch gemeinsam darüber reden, wie
wir das besser hinbekommen können.


(Peter Dreßen [SPD]: Das ist kein Thema zum Streiten! Das müssen wir gemeinsam lösen können!)


Das ist auch ein Thema

(Peter Dreßen [SPD]: Aber nicht zum Streiten!)

in der Bundesärztekammer und bei den Krankenkassen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt, dem Bund. Ich
bin mit meinen 32 Jahren von den drei Krankenkassen,
in denen ich bisher Mitglied war, noch nie gefragt wor-
den, ob ich Organspenderin bin. Hier müssen wir einmal
nachhaken, warum diese nicht nachfragen und dann auf
der neuen Gesundheitskarte – wenn sie denn nun endlich
kommt – vermerken, ob das Mitglied Organspender ist
oder nicht bzw. sich dazu nicht äußern möchte. Auch
dies ist ein wichtiger Aspekt und hier gibt es viele Mög-
lichkeiten. Auch die Krankenkassen müssen an der Ge-
meinschaftsaufgabe Organspende beteiligt werden.

Sie schieben alles weg auf die Länderebene. Auch wir
sind verantwortlich. Hier geht es um Leben und Tod und
nicht um eine kurze, entspannte Debatte vor dem Wo-
chenende. Hier geht es um Menschen, die auf der Warte-
liste stehen und sterben müssen. Insofern kann man auch
einmal vom Bund in Richtung Länder schauen und sich
zusammenraufen.


(Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie doch gemacht! Die Gesundheitsministerkonferenz hat sich doch geeinigt!)


Es gibt im Bund viel zu tun. Hören Sie auf mit dieser
einseitigen Schuldzuweisung. Seien Sie froh, dass die
Union das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So eine Schärfe in der Debatte! Unfassbar!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516603200

Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin

Caspers-Merk das Wort.


Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1516603300

Frau Kollegin Klöckner, weil ich das für ein ernstes

Thema halte,

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wir auch!)


möchte ich die Dinge, die falsch sind, nicht stehen las-
sen. Ich habe vorhin bei der Kollegin Widmann-Mauz
nicht reagiert, weil ich es schade finde, dass sie den
Sachverhalt nicht kennt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da geht Ihr Telefon! Es geht sicher um Schleswig-Holstein!)


– Ich glaube, Ihr Zwischenruf ist dem Thema nicht ganz
angemessen. Ich bitte darum, im Zusammenhang vortra-
gen zu dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben vorhin in Ihrer Rede irrtümlich erwähnt,

der Bund habe seine Aufsichtspflicht gegenüber der
Bundesärztekammer verletzt. Frau Kollegin Widmann-
Mauz, Sie sind im Fachausschuss und müssten wissen,
dass die Bundesärztekammer eine privatrechtliche Ar-
beitsgemeinschaft in der Rechtsform eines nicht einge-
tragenen Vereins ist. Sie untersteht weder der Rechts-
noch der Fachaufsicht des Bundesgesundheits- und -so-
zialministeriums. Dort, wo Sie ein Versäumnis konstru-
ieren, haben wir gar keine Einwirkungsmöglichkeit.






(A) (C)



(B) (D)


Marion Caspers-Merk

Unsere Einwirkungsmöglichkeit besteht nur in unse-

rem Gaststatus, aufgrund dessen wir bitten und drängen,
die entsprechenden Richtlinien zu erlassen und hier kon-
kreter zu werden. Aber konstruieren Sie keine Aufsichts-
pflicht, wo keine ist. Ich wollte Sie vorhin nicht korrigie-
ren, weil es doch ein wenig peinlich ist, wenn man aus
dem Fachausschuss kommt und nicht weiß, dass wir
überhaupt keine Fach- und Rechtsaufsicht haben.

Frau Kollegin Klöckner, jetzt bitte ich Sie zuzuhören:
Wir haben vorhin ganz klar gesagt, dass es hier keine
einfachen Lösungen gibt. Das Entscheidende ist, die
Schnittstellen zu verbessern. Beim Thema Aufklärung
und Information ist der Bund gefordert. Die Länder sind
aber ebenfalls gefordert, genauso wie die Zusammen-
arbeit in den Kliniken. Die Hauptschwachstelle ist, dass
40 Prozent der Kliniken ihrer Meldepflicht nicht nach-
kommen;


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das habe ich doch gesagt!)


das habe ich in meiner Rede auch gesagt.
Ich bitte Sie also herzlich, dieses Thema im Interesse

der Menschen, die auf Organe warten, angemessen zu
behandeln.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wer macht es denn? Wer hat es auf die Tagesordnung gesetzt?)


Deswegen meine ich, die Richtigstellung musste sein.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516603400

Jetzt stehe ich vor der Frage, wer antwortet: Frau

Klöckner oder Frau Widmann-Mauz? – Frau Widmann-
Mauz.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1516603500

Frau Präsidentin! Frau Kollegin Caspers-Merk! Ich

als Mitglied des Fachausschusses und Sie als Mitglied
der Bundesregierung wissen, dass nach § 11 des Trans-
plantationsgesetzes das Bundesministerium für Gesund-
heit einen Vertrag zu genehmigen hat. In diesem Vertrag
sind auch die Grundlagen für den Schutz der Organemp-
fänger bei Organspende zu regeln. In diesem Vertrag
wird auf eine nicht bestehende Richtlinie der Bundes-
ärztekammer rekurriert. Wie können Sie einen Vertrag
genehmigen, wenn es die im Gesetz vorgeschriebene
Grundlage, nämlich eine Richtlinie, nicht gibt? Dann ist
es Ihre politische Aufgabe, auf die Bundesärztekammer
einzuwirken, damit diese Richtlinie erlassen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin jetzt seit sieben Jahren Mitglied dieses Fach-

ausschusses. Ich habe nichts davon gehört, dass die Bun-
desregierung und die sie tragenden Personen dieses Ge-
spräch mit der Bundesärztekammer gesucht hätten.
Vielmehr beschäftigen Sie sich erst jetzt damit, nachdem
ein schrecklicher Fall eingetreten ist. Das ist Ihre politi-
sche Verantwortung, aus der wir Sie auch in einer De-
batte zu einer Großen Anfrage nicht entlassen können.


(Beifall des Abg. Thomas Rachel [CDU/ CSU])


Es tut mir schrecklich Leid. Solche Dinge dürfen nicht
immer erst angegangen werden, wenn das Kind in den
Brunnen gefallen ist, sondern müssen kontinuierlich
überprüft und bearbeitet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Unanständig! – Klaus Kirschner [SPD]: Schwarz-Weiß-Malerei!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516603600

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang

Wodarg.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1516603700

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Zu dem, was wir in den letzten Minuten gehört
haben, kann ich nur sagen, dass vielen von uns im Deut-
schen Bundestag, als wir das Transplantationsgesetz
machten, bewusst war, dass die Bundesärztekammer
keine Institution ist, für die es irgendeine Fachaufsicht
gibt, sondern ein Verein, wie es die Staatssekretärin
sagte.

Zu Verträgen gehören immer zwei Partner. Man kann
jemanden, auf den man gar keinen Zugriff hat, nicht
dazu zwingen, Verträge zu machen oder auf Dinge ein-
zugehen, die überhaupt nicht existieren. Von daher kann
man das nur zurückweisen. Wir sollten daraus lernen
und in Zukunft die Bundesärztekammer nicht einspan-
nen, wo wir doch wissen, dass wir sie nicht beeinflussen
können, dass es keine Fachaufsicht gibt. Das gilt auch
für andere Gesetze. Diesen Fehler haben wir nicht nur
einmal gemacht.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Kollege Wodarg! Halten Sie sich an die eigenen Einlassungen im Ausschuss!)


Der Titel Ihrer Großen Anfrage lautet: „Förderung der
Organspende“. Die Bundesregierung hat sie sehr um-
fangreich beantwortet. Aber wenn Sie ein bisschen bes-
ser aufgepasst hätten,


(Detlef Parr [FDP]: Ist hier eine Lehrstunde?)

dann hätten Sie wahrgenommen, was die Bundesregie-
rung in ihrer Verantwortung zu diesem Thema schon al-
les geleistet hat und welche Informationen sie gegeben
hat. Dann hätten Sie auch die Broschüre des Robert-
Koch-Instituts zu diesem Thema lesen können und hät-
ten die meisten Fragen gar nicht zu stellen brauchen;
denn sie waren schon beantwortet.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Komisch, dass Sie aber nicht antworten konnten! – Detlef Parr [FDP]: Und dafür hat die Bundesregierung neun Monate gebraucht?)


– Das war lange vor diesem Termin, lange vor der Gro-
ßen Anfrage.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Wodarg

Die BZgA hat im ersten Jahr in der Tat sehr viel

finanziert, weil es darum ging, das Transplantationsge-
setz umzusetzen und Akzeptanz für dieses Gesetz herzu-
stellen. Wenn Sie immer das erste Jahr damit verglei-
chen, was jetzt ausgegeben wird, dann verzerren Sie das
Bild gewaltig.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dazu können wir noch ein paar andere Jahre heranziehen!)


Ich möchte aber jetzt auf die Konflikte zu sprechen
kommen, die wirklich eine große Rolle spielen, wenn es
darum geht, ob Menschen ihre Organe spenden wollen
oder nicht. Dies wird auf verschiedenen Ebenen ent-
schieden. Ein ganz wichtiger Raum ist das Kranken-
haus, in dem in den meisten Fällen nicht der Patient, der
vorab eine schriftliche Willenserklärung hinterlassen
hat, entscheidet – das sind nur sehr wenige –, sondern
die Angehörigen, die in dieser schrecklichen Situation
unter starkem Druck stehen. Die Angehörigen stehen
unter Druck. Sie brauchen Zeit, sie brauchen Raum, sie
brauchen Besinnungszeit. Sie sollten unabhängig infor-
miert werden. Sie sollten auch über das informiert wer-
den, was ihnen später an Gedanken alles kommen
könnte. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, damit sie
ihre Entscheidung später nicht bereuen. Ich denke, das
geschieht zu wenig. Wenn man die Berichte über die
Vorwürfe liest, die sich Angehörige machen – egal ob sie
so oder so entschieden haben –, dann muss man feststel-
len: Hier ist etwas zu tun. Wir müssen den Angehörigen,
um die Akzeptanz zu verbessern – ob nun für oder gegen
eine Organspende –, diesen Raum schaffen.

Wir haben auch bei den Ärzten in den Krankenhäu-
sern Konflikte: Der Arzt, der normalerweise für den
Patienten da ist, ihm helfen will, ihn retten will, hat es
schwer, plötzlich in eine andere Rolle zu schlüpfen –
„den Schalter umzulegen“, wie das in der Anhörung
hieß. Musste er eben noch alles dafür tun, um den Pa-
tienten zu retten, soll er jetzt plötzlich daran denken,
dass man Teile des Patienten brauchen kann, um jemand
anderem zu helfen. Das ist eine völlig andere Aufgabe.
Dieser Konflikt ist – das kann ich als Arzt sagen – kaum
zu lösen. Ich denke, wir müssen es auch respektieren,
wenn in einigen Krankenhäusern Ärzte davor zurück-
schrecken.

Nur weil der Deutsche Bundestag mit Zweidrittel-
mehrheit beschlossen hat, dass die Organspende auf eine
bestimmte Art und Weise geregelt wird, ist damit das
Gewissen der Ärzte noch keineswegs beruhigt. Es gibt
weiterhin Bedenken. Das Konstrukt des Hirntodes ist
– wie es in der Anhörung der Anästhesist Professor
Briegel formuliert hat und wie es auch der Transplanta-
tionsmediziner selbst sagt – widersprüchlich. Die Kon-
flikte, die mit dieser gesetzlichen Festlegung verbunden
sind, beschäftigen immer noch die Köpfe der Menschen.
Damit müssen wir ehrlich umgehen. Wenn wir das nicht
tun und wie die Transplantationsmediziner immer wie-
der sagen: „Das ist jetzt gesetzlich geregelt; damit wol-
len wir nichts mehr zu tun haben; das muss jetzt so ak-
zeptiert werden“, verdrängen wir diese Konflikte, anstatt
Akzeptanz zu schaffen. Dann ziehen sich Menschen zu-
rück und es kommt zu solchen Dingen, wie wir sie jetzt
in den Krankenhäusern beobachten.

Auch beim Pflegepersonal in den Krankenhäusern
gibt es riesige Konflikte: Stellen Sie sich vor, dass Sie je-
manden gepflegt haben, vielleicht als OP-Schwester so-
gar dabei gewesen sind, wie jemand operiert wurde, um
sein Leben zu retten, und nun akzeptieren müssen, dass
der Patient irgendwann, meistens nachts, explantiert
wird und dass der Patient, dessen Herz noch schlug, der
noch ganz normal aussah – wie immer, auch dann noch,
als die Diagnose „Hirntod“ gestellt wurde –, plötzlich
zum Objekt derjenigen wird, die ihm Material entneh-
men wollen, dass er kalt und blass und richtig tot wird,
gewissermaßen ein zweites Mal stirbt. Das ist etwas, was
nicht leicht zu verdauen ist; das kann man bei Interviews
mit Pflegekräften immer wieder sehen.

Wir müssen uns nicht nur über die Organspende un-
terhalten, sondern auch darüber, wie wir es schaffen kön-
nen, dass weniger Nieren benötigt werden. Wir müssen
mehr für Prävention tun. Die Leute nehmen sehr viel
Schmerzmittel. Jetzt soll sogar die Werbung für Medika-
mente ausgeweitet werden; jedenfalls wollen das eini-
ge – ich will das nicht. Es muss darüber aufgeklärt wer-
den, was die Ursachen für Nierenversagen sind. Der
Aufwand, den wir für Organtransplantationen betreiben,
und der Aufwand, den wir für Prävention betreiben, ste-
hen in einem krassen Missverhältnis: Ein Drittel der Nie-
ren, die versagen, und damit ein Drittel der Organtrans-
plantationen, die nötig werden, wären nicht erforderlich,
wenn wir mehr täten, um Diabetes vernünftig einzustel-
len, um Bluthochdruckerkrankungen vernünftig zu be-
handeln und um den Arzneimittelabusus, der zu Nieren-
schäden führt, zu verringern.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])

Ich denke, das sollten wir beim Präventionsgesetz ge-
nauso berücksichtigen wie bei der Diskussion zur Neure-
gelung der Organspende.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516603800

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara

Lanzinger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Barbara Lanzinger (CSU):
Rede ID: ID1516603900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-

legen! Ich freue mich, dass wir dank dieser Großen An-
frage heute im Plenum über Organspende debattieren
können. Auch ich denke, dass die Öffentlichkeitsarbeit
ein ganz wichtiger Punkt ist, um die Aufklärung, die wir
über dieses Thema brauchen, zu erreichen. Diese Große
Anfrage hat gezeigt, dass das Transplantationsgesetz zu
einem hohen Maß an Rechtssicherheit geführt hat und
eine unverzichtbare Grundlage für die Vertrauensbildung
der Bevölkerung bei den Themen Organspende und
Transplantation ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Barbara Lanzinger

Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass ein wesentli-

ches Ziel, das mit dem Gesetz verfolgt wird, nämlich die
Erhöhung der Anzahl postmortaler Spenden, nicht, wie
ursprünglich sicherlich gehofft, erreicht wurde. Ich frage
mich: Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht, weil wir
ein Stück weit zu wenig darüber sprechen – das ist heute
Gott sei Dank schon ein paar Mal angeklungen –, dass
dies kein abstraktes Gesetz ist, über dessen Auswirkun-
gen und Umsetzungen wir nachdenken müssen, sondern
ein Gesetz, welches ganz elementare Schicksale von
Menschen berührt. Es geht um die Schicksale Sterben-
der, die oft mitten aus dem Leben gerissen wurden, trau-
riger und zum Teil unter Schock stehender Angehöriger,
bangender und hoffender Schwerstkranker sowie deren
Angehöriger.

Die Werbung für mehr Organspenden bedarf deshalb
einer überaus großen Sensibilität sowie einer frühzeiti-
gen, behutsamen und beständigen Aufklärung. Es geht
um die Aufklärung, Schulung und Bewusstmachung vor
allem der jungen Menschen, des medizinischen Pflege-
personals, der Ärzte – es wurde schon angesprochen –
und der Bürgerinnen und Bürger, dass die Bereitschaft
zur Organspende nach dem eigenen unausweichlichen
Tod bedeutet, das Leben und die Lebensqualität eines
anderen Menschen zu verbessern oder das Leben sogar
retten zu können.

Dass unsere Gesellschaft zu wenig darüber aufgeklärt
ist, was ein Ja zur Organspende heißt, zeigt die einerseits
generell hohe Zustimmung zur Organspende und die an-
dererseits enttäuschende Zahl derer, die tatsächlich einen
Ausweis bei sich tragen; auch das wurde schon erwähnt.
Es gilt, diese Diskrepanz zu überwinden. Ich bedanke
mich für diese Anfrage; denn sie zeigt sehr deutlich, dass
einige Bundesländer hier einen sehr guten und richtigen
Weg gegangen sind, zum Beispiel Niedersachsen und
Bayern. In ihnen wurde das Thema Organspende bereits
fest im Unterricht verankert. Ich würde mir das auch in
anderen Bundesländern wünschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Detlef Parr [FDP]: Vorbildlich!)


Auch die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung
Organtransplantation erfolgte Einladung der Schülerin-
nen und Schüler sowie der Lehrer in Bayern in das
Transplantationszentrum Großhadern ist ein richtiger
und ganz wichtiger Weg, den es auch in anderen Bundes-
ländern fortzusetzen gilt.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Vorbildlich! – Detlef Parr [FDP]: Schade, dass Herr Stoiber schon weg ist!)


Es gilt in der Tat auch – das sage ich ganz bewusst
und ich weiß, dass das sicherlich umstritten ist –, darüber
nachzudenken, die Zustimmung zur und vielleicht sogar
auch die Ablehnung der Organspende in ein offizielles
Dokument aufzunehmen. So wäre jeder Einzelne ver-
pflichtet, sich zumindest einmal in seinem Leben mit
dem Thema Organspende und damit auch mit seiner
Endlichkeit auseinander zu setzen.

Ein weiteres Augenmerk bei der Aufklärung und
Information muss auf die Kliniken gerichtet sein, wie
das auch in der Großen Anfrage deutlich wird. So haben
einige Länder die Krankenhäuser mit Intensivbetten
durch ihre Ausführungsgesetze zum Transplantationsge-
setz dazu verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu
bestellen. Das zeigt deutlich, dass dies vorteilhaft ist.
Dies sind in der Regel und sinnvollerweise – wie bei mir
zu Hause in Amberg – Oberärzte der Intensivklinik oder
auch der Anästhesie. Diese sagen mir: Die Ärzte brau-
chen das Bewusstsein für die Organspende und den Wil-
len sowie die Bereitschaft, mit den Angehörigen zu re-
den.

Der Organspendeausweis allein hilft sicherlich nicht
über die psychologisch schwere Aufgabe hinweg,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau!)

zu erklären, dass ein hirntoter Mensch zwar den Ein-
druck erwecken kann, noch zu leben – Kollege Wodarg
hat es vorhin gesagt –, seine Organe jetzt jedoch einem
anderen Menschen das Leben retten könnten. Es ist ein
ungeheures Spannungsfeld. Die Angst vor dieser Ge-
sprächssituation ist sicherlich mit ein Grund dafür, dass
das Meldeverhalten in den Kliniken vielfach nicht so ist,
wie es sein sollte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein ganz wesentlicher Grund ist aber auch der bürokrati-
sche und finanzielle Aufwand, weil es für eine Klinik
ungeheuer viel bedeutet, einen Organspender am Leben
zu erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Seit Januar 2004 gibt es folgende neue Regelung, die

sehr zu begrüßen ist: Den Krankenhäusern wird jede Be-
mühung um eine Organspende vergütet, auch wenn die
Organe nicht übertragbar sind oder die Angehörigen
nicht zustimmen. So wird in Bayern der Transplanta-
tionsbeauftragte für jede Beratung entlohnt, nicht nur bei
erfolgreicher Transplantation. Dies schafft Anreize für
Aufklärung. Daran könnten sich auch andere Bundeslän-
der orientieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum Schluss ein mir sehr wichtiger Punkt. Letzte

Woche diskutierten wir hier im Plenum die Patientenver-
fügung, eine Vorausverfügung, die für den Fall der
Nichteinwilligungsfähigkeit festlegt, dass der Betroffene
in bestimmten Situationen nicht unnötig am Leben erhal-
ten werden muss.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516604000

Frau Kollegin, Sie können jetzt nur noch einen kurzen

Schlusssatz anfügen.

Barbara Lanzinger (CSU):
Rede ID: ID1516604100

Unterhalten wir uns mit den Menschen über die Or-

ganspende, stellen wir häufig die genau umgekehrte
Angst fest. Das ist eigentlich paradox. Diesen Widersinn
müssen wir aufheben. Wir müssen die Ängste und Nöte
der Menschen ernst nehmen.

Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig, zu vermit-
teln, dass es um Lebensrettung und den Lebenserhalt






(A) (C)



(B) (D)


Barbara Lanzinger

geht, eine Hilfe, die jeder von uns vielleicht einmal
braucht.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516604200

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner.

(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Würden Sie noch bekannt geben, dass Frau Simonis gescheitert ist? – Gegenrufe von der SPD: Nein, sie ist nicht gescheitert!)


– Ich denke, wir führen jetzt die Debatte zu diesem Ta-
gesordnungspunkt zu Ende. Danach können wir alles
Mögliche besprechen.


Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1516604300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch

sind wir bei der Großen Anfrage und der Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU
zum Transplantationsgesetz.


(Detlef Parr [FDP]: Wenn man Rot-Grün wiederbeleben will, ist das manchmal schwierig!)


Ich möchte eine Bemerkung zu Ihnen machen, Frau
Kollegin Klöckner. Das Transplantationsgesetz – das
können Sie den Kollegen Seehofer fragen – geht nicht
auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Es lagen damals drei Entwürfe vor. Obwohl die Meinun-
gen damals quer durch alle Fraktionen gingen, haben wir
1997 mehrheitlich ein Gesetz beschlossen. Ich kann Ih-
nen nur eines sagen: Dieses Gesetz hat sich bewährt. Es
hat eine bundeseinheitliche Grundlage für Spende, Ent-
nahme und Übertragung von Organen geschaffen, damit
schwerst- und todkranken Menschen geholfen werden
kann. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir dieses
Thema zum Gegenstand von Parteienstreit machen; da-
für eignet es sich nämlich nicht, das kann auf anderen
Feldern geschehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.

Mit dem Transplantationsgesetz – deshalb haben wir es
auch beschlossen – wurde ein hohes Maß an Rechtssi-
cherheit geschaffen. Das gilt sowohl für die Spender und
deren Angehörige als auch für die Empfänger und die
behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Die damals getrof-
fene Entscheidung zur erweiterten Zustimmungs-
lösung, nach der die Organentnahme nur in Betracht
kommt, wenn zuvor der Tod des Organspenders festge-
stellt ist und der Verstorbene zu Lebzeiten eingewilligt
hat oder – wenn keine Erklärung des Verstorbenen be-
kannt ist – die gesetzlich bestimmten nächsten Angehö-
rigen zustimmen, hat sich als richtig erwiesen. Dies kann
man nach fast acht Jahren seit In-Kraft-Treten des Geset-
zes als Bilanz ziehen.


(Beifall bei der SPD)

Aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große
Anfrage kann man erkennen, dass die unterschiedlichen
rechtlichen Voraussetzungen für die Organentnahme,
Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung – auch
das muss man einmal sehen –, kaum Einfluss auf die
Zahl der Transplantationen haben. So weist zum Beispiel
Mecklenburg-Vorpommern – ich nehme dieses Beispiel,
weil es den Unterschied deutlich macht – eine höhere
Anzahl an Organspendern je Million Einwohner auf als
beispielsweise Belgien, wo die Widerspruchsregelung
gilt.

Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den Lebend-
organspenden machen. Dazu möchte ich anführen, dass
ich die entschiedene Ablehnung jeglicher Anreizsysteme
sowie eines regulierten Organhandels durch die Mehr-
heit in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der
modernen Medizin“ – das ist meine Meinung – für rich-
tig halte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der FDP)


Die Enquete-Kommission empfiehlt, bei der Le-
bendspende keine finanziellen Anreize zuzulassen und
darüber hinaus den Handel mit Organen weiterhin zu
verbieten und unter Strafe zu stellen.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Ich halte auch die Auffassung des Präsidenten der
Bundesärztekammer – das ist keine Körperschaft des öf-
fentlichen Rechts –, Herrn Professor Hoppe, für richtig,
der sich in einem Interview gegen jede Ausweitung der
Lebendorganspende ausgesprochen hat. Diese sollten die
absolute Ausnahme bleiben. Ebenso gebe ich Herrn Pro-
fessor Hoppe Recht, wenn er dazu aufruft, der Gesell-
schaft noch stärker die Sinnhaftigkeit der Organspende
zu vermitteln.

Die Antwort der Bundesregierung belegt auch, dass
mit einer kontinuierlichen, umfassenden und sachlichen
Aufklärung der Bevölkerung ein wesentlicher Beitrag
zur Erhöhung der Organspendenbereitschaft geleistet
werden kann. Hier sind vor allem die Länder, die Kran-
kenhäuser – die Krankenhäuser haben die Meldepflicht;
das muss man immer wieder sagen – und die Kranken-
kassen gefordert. Das belegt die Antwort auf Ihre Große
Anfrage. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung hat bisher ihren Beitrag geleistet und wird dies
auch weiterhin im Rahmen der Kampagne „Organ-
spende schenkt Leben“ tun.

Frau Kollegin Widmann-Mauz und Herr Kollege
Parr, eines ist aber auch klar: Man kann nicht auf der ei-
nen Seite die Parole „Sparen, sparen, sparen“ ausgeben
– das gilt generell und auch für den Haushalt des Bundes-
ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung –,
auf der anderen Seite aber Mehrausgaben fordern. Das
passt einfach nicht zusammen. Man kann nicht selektiv
sagen, dass man an der einen Stelle nicht sparen will, ge-
nerell aber schon.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Klaus Kirschner

In diesem sensiblen Bereich der Organspende und Or-
gantransplantation werden Sie keinen Blumentopf ge-
winnen. Dieses Thema eignet sich nicht für die partei-
politische Auseinandersetzung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Sie an etwas erinnern, bei dem Sie genauso
die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen, wie wir das
tun werden. Die 77. Gesundheitsministerkonferenz der
Länder hat in einem Beschluss vom 18. Juni 2004 fest-
gestellt, dass die Verbesserung der Organspendesituation
eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern, GKV
und PKV ist. Als wesentlichen Beitrag zur Steigerung
der Zahl der Organspenden hat die Gesundheitsminis-
terkonferenz in diesem Beschluss eine engagierte Mit-
wirkung an der Organspende durch die Krankenhäuser
sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen
Transplantationszentren und den anderen Krankenhäu-
sern identifiziert. Die Länder sind hier gefordert – diese
nämlich sind für die Krankenhäuser zuständig –, für die
Umsetzung des Transplantationsgesetzes alles Notwen-
dige zu veranlassen. Das ist eine schwierige Situation für
das Personal. Das wissen wir alle. Wenn man aber mehr
Organspenden für notwendig erachtet, dann bietet das
Gesetz die Chancen dazu. Auf der anderen Seite aber
sind die Länder – das möchte ich noch einmal sagen –
die Aufsichtsorgane für die Krankenhäuser. Sie haben
dafür zu sorgen, dass die Meldepflicht, die dezidiert im
Gesetz steht, entsprechend wahrgenommen wird.

Organspende und -transplantation sind in vielen Fäl-
len die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu erhal-
ten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in
diesem Sinne sachlich, aber mit Empathie für die Betrof-
fenen darauf hinarbeiten, dass erkannte Defizite – das
zeigt die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große
Anfrage – ausgeräumt werden können und die Zahl der
Organtransplantationen gesteigert werden kann.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516604400

Ich schließe die Aussprache. Eine Abstimmung ist

nicht vorgesehen, weil es um die Beantwortung einer
Großen Anfrage ging.

Ich möchte all denen, die es noch nicht mitbekommen
haben, sagen, dass in Schleswig-Holstein bei der Wahl
der Ministerpräsidentin bzw. des Ministerpräsidenten
eine Stimmengleichheit von 34 zu 34 herrscht, also nie-
mand gewählt worden ist. Der Ältestenrat des Landtags
von Schleswig-Holstein ist zusammengetreten, um zu
beraten, wie man weiter verfährt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 h auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD

und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
61. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen – Reform und Nor-
mensetzung für einen verbesserten Menschen-
rechtsschutz
– Drucksache 15/5118 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Holger Haibach, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Die 61. Tagung der VN-Menschenrechtskom-
mission als Chance zur Reform – Mehr Enga-
gement für Menschenrechte weltweit
– Drucksache 15/5098–

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechts-
lage
Ratsdok. 11922/1/04 REV 1
– Drucksachen 15/4001 Nr. 1.1, 15/4757 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Holger Haibach
Thilo Hoppe
Rainer Funke

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe (16. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig,
Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christa Nickels,
Volker Beck (Köln), Thilo Hoppe, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Nepal – Menschenrechte schützen und
Gewalt beenden

– zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke,
Ulrich Heinrich, Daniel Bahr (Münster), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einhaltung der Menschenrechte in Nepal

– Drucksachen 15/4397, 15/3231, 15/4899 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)

Rainer Eppelmann
Thilo Hoppe
Rainer Funke

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention
– Drucksachen 15/4405, 15/4898 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Christoph Strässer
Hermann Gröhe
Rainer Funke

f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer
Funke, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Menschenrechte in der Volksrepublik China
einfordern
– Drucksachen 15/4402, 15/4953 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Neumann (Bramsche)

Hermann Gröhe
Thilo Hoppe
Rainer Funke

g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (16. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Holger Haibach, Dr. Martina
Krogmann, Melanie Oßwald, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Presse- und Meinungsfreiheit im Internet
weltweit durchsetzen – Journalisten, Men-
schenrechtsverteidiger und private Internet-
nutzer besser schützen
– Drucksachen 15/3709, 15/5040 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Christoph Strässer
Holger Haibach
Rainer Funke

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die mandatsgebundene Begleitung VN-
mandatierter Friedensmissionen durch Men-
schenrechtsbeobachter
– Drucksache 15/4946 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Bärbel Kofler.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1516604500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Der diesjährige Antrag der Regierungskoalition zur
61. Menschenrechtskonferenz in Genf konzentriert sich
auf zwei Themen: zum einen auf die Reform der Men-
schenrechtskommission der Vereinten Nationen, zum
anderen auf die Verantwortung multinationaler Unter-
nehmen bei der Wahrung und Durchsetzung von Men-
schenrechten.

Beide Themen sind für den Menschenrechtsschutz
von grundlegender und zukunftsweisender Bedeutung.
Es gilt jetzt, die richtigen Weichen zu stellen, damit wir
im Zusammenwachsen der Welt die Menschenrechte ef-
fektiv gewährleisten können.

Gerade die Reformvorschläge der Hochrangigen
Gruppe für Bedrohung, Herausforderung und Wandel
sind wegweisend für eine Neuorientierung der Men-
schenrechtskommission der Vereinten Nationen. Alle
Reformansätze, die wir in unserem Antrag unterstützen,
haben ein gemeinsames Ziel: die Menschenrechtskom-
mission in ihrer inhaltlichen Arbeit zu stärken und dem
Menschenrechtsschutz vor anderen politischen Interes-
sen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.

Um dies zu erreichen, unterstützen wir insbesondere
den Vorschlag der Hochrangigen Gruppe, die Menschen-
rechtskommission von den bisher 53 Mitgliedstaaten auf
eine universelle Mitgliedschaft aller Staaten der UN zu
erweitern. Eine universelle Mitgliedschaft führt zu einer
stärkeren Legitimität der Kommission. Gleichzeitig ent-
zieht sie den politischen Auseinandersetzungen über die
Zusammensetzung der Menschenrechtskommission den
Boden. Nur eine universelle Mitgliedschaft führt zu ei-
ner universellen Akzeptanz. Eine Mitgliedschaft von
Konditionen abhängig zu machen ist nicht hilfreich.
Eine Aufspaltung in gute und weniger gute Staaten wird
den Menschenrechtsschutz nicht beflügeln.

Die Universalmitgliedschaft ist ein wichtiger Schritt,
um die Menschenrechtskommission in ihrer politischen
Rolle aufzuwerten. Man kann einwenden, dass Entschei-
dungsprozesse einer universell besetzten Menschen-
rechtskommission langwieriger sein werden als bisher.
Eine universelle Kommission kann sich aber verstärkt
auf Sachfragen konzentrieren. Die Einbeziehung von
Nichtregierungsorganisationen in die Arbeit der Kom-
mission wird dabei auch in Zukunft unerlässlich sein.
Eine wohl erwogene Entscheidung der Kommission zum
Schutz der Menschenrechte, die eine allgemeine Akzep-
tanz genießt und durchsetzbar ist, ist das Ziel, das wir
auf diese Weise erreichen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch der empfohlene Jahresbericht der VN-Hoch-
kommissarin für Menschenrechte wird die inhaltliche
Arbeit der Kommission stärken. Er ermöglicht eine ver-
tiefte Erörterung der Ländersituation in der MRK und
stellt diese auf eine breitere und objektivierte Basis. Der






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler

Jahresbericht darf aber nicht als Ersatz für die Länderre-
solutionen der MRK dienen. Auch in einer reformierten
Menschenrechtskommission sollte das Instrument der
Länderresolution nicht fehlen. Uns ist sehr wohl be-
wusst, dass Länderresolutionen oft wenig Akzeptanz ge-
nießen und häufig mit Nichtbefassungsanträgen be-
kämpft werden. Grundsätzlich ist es dem globalen
Menschenrechtsschutz aber zuträglich, wenn das Spek-
trum der Mittel zur Kontrolle und Durchsetzung der
Menschenrechte breit angelegt ist.

Der Antrag der Opposition von CDU/CSU zur dies-
jährigen MRK widmet sich ebenfalls dem Thema der
Reformen der Vereinten Nationen. Es freut uns sehr,
dass Sie die Wichtigkeit dieses Themas erkannt haben.


(Lachen der Abg. Sabine LeutheusserSchnarrenberger [FDP] – Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Schon lange vor Ihnen!)


In einigen Punkten sind wir auch einer Meinung.
Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch – ich

habe schon darauf hingewiesen –, nämlich hinsichtlich
der Universalität der MRK-Mitgliedschaft. Wir unter-
stützen aus gutem Grund den Expertenvorschlag.

In Ihrem Forderungskatalog listen Sie zudem so viele
weitere Forderungen auf, dass man beinahe glauben
könnte, die Tagesordnung der Menschenrechtskonferenz
vor sich zu haben.


(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das kann man bei Ihrem Antrag wahrlich nicht!)


Leider sind diese Punkte inhaltlich kaum unterfüttert.
Vor allem Ihre letzte Forderung, dass die Bundesregie-
rung dem Bundestag bis Mai Bericht erstatten soll, kann
ich nicht nachvollziehen, da wir alle doch im Menschen-
rechtsausschuss vor und nach den MRK-Sitzungen stets
gut informiert werden. Wir werden Ihren Antrag daher
ablehnen.

Das zweite Thema unseres Antrags ist die Verant-
wortung international arbeitender Unternehmen bei
der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten.
Dieses Thema verdient besondere Aufmerksamkeit, da
in letzter Zeit vonseiten der Wirtschaft und im konstruk-
tiven Dialog mit Regierungen, Gewerkschaften, Arbeit-
geberverbänden und international arbeitenden Nichtre-
gierungsorganisationen vieles auf einen guten Weg
gebracht wurde. Dieses Thema fehlt im Antrag der Op-
position trotz seiner Aktualität leider völlig, obwohl
dazu bereits eine Anhörung im Menschenrechtsaus-
schuss stattgefunden hat.

Unumstritten ist, dass die universelle Wahrung der
Menschenrechte eine staatliche Aufgabe ist. Unbestrit-
ten ist heute aber auch, dass gerade multinationale Un-
ternehmen den Menschenrechten aus unterschiedlichen
Gründen und auf unterschiedlichen Ebenen verpflichtet
sind. Der globale, der wirtschaftliche und damit auch der
politische Einfluss eines Unternehmens geht mit der Ver-
antwortung für die sozialen Folgen einer globalen Wirt-
schaftstätigkeit einher. Dies gilt insbesondere in Län-
dern, in denen der Menschenrechtsschutz von staatlicher
Seite nicht hinreichend gewährleistet wird oder nicht
umgesetzt werden kann. Die Beispiele hierfür sind zahl-
reich. Man denke nur an China oder den Kongo. Die
Liste ist lang und kann beliebig fortgesetzt werden.

Unternehmen betreiben eine an wirtschaftlichen Inte-
ressen orientierte Informationsarbeit gegenüber Regie-
rungen in Fragen des Handels- und des Steuerrechts.
Warum also nicht auch eine entsprechende Informations-
politik, was die Förderung und den Schutz der Men-
schenrechte betrifft? Denn letztlich ist ein humanes und
rechtlich stabiles Arbeitsumfeld für ein Unternehmen
Grundvoraussetzung für die nachhaltige Wirtschaftlich-
keit seiner Arbeit. Das beweisen Beispiele. Wenn man
an das Aidspräventionsprojekt von Daimler-Chrysler in
Südafrika denkt, dann weiß man, dass die Wirtschaft
hier bereits auf einem guten Weg ist.

Ein Beispiel für die freiwillige Selbstverpflichtung
von transnationalen Unternehmen zum Schutz der Men-
schenrechte ist die Initiative des Global Compact.
Diese zeigt, dass sich Unternehmen zunehmend ihren
sozialen Pflichten stellen. Solche Initiativen zur freiwil-
ligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft werden auch
künftig unsere volle Unterstützung haben. Der Dialog
zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist dabei we-
sentlich und erfährt unsere Förderung.

Ein weiterer interessanter Ansatz ist der Entwurf
neuer UN-Normen zur Unternehmensverantwor-
tung. Mit diesem Katalog von 23 Normen wird grund-
sätzlich an der primären Verantwortung der Staaten für
den Menschenrechtsschutz festgehalten. Jedoch wird
auch den Unternehmen eine rechtliche Verpflichtung zu-
geordnet. In ihrem jeweiligen Einflussbereich sind auch
Unternehmen zur Wahrung und Förderung der Men-
schenrechte angehalten. Ein weltweit agierendes Unter-
nehmen trägt aufgrund seines weit reichenden Einflusses
folglich größere Verantwortung als ein Mittelständler.
Dazu gehört auch, dass ein Unternehmen keinen Nutzen
aus Menschenrechtsverletzungen anderer ziehen darf,
also nicht zum Komplizen werden darf. Auch wenn über
den UN-Normenentwurf zur Unternehmensverantwor-
tung im Einzelnen noch diskutiert wird, ist an der
Gültigkeit dieses grundsätzlichen Postulats nicht zu
zweifeln. Ein konstruktiver Dialog über die menschen-
rechtliche Verantwortung der Unternehmen wird daher
von uns im Rahmen der diesjährigen Menschenrechts-
konferenz aktiv begleitet werden.

In nächster Zeit gilt es neue Weichen für einen effek-
tiven Menschenrechtsschutz zu stellen. Lassen Sie uns
bitte alle konstruktiv daran mitarbeiten!

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516604600

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.

Hermann Gröhe (CDU):
Rede ID: ID1516604700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Das Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten
Nationen steckt in einer tiefen Krise. Das hat die VN-






(A) (C)



(B) (D)


Hermann Gröhe

Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour,
zu Beginn der diesjährigen Tagung der VN-Menschen-
rechtskommission am Montag dieser Woche unumwun-
den eingeräumt. Als Beispiel für ihre deutliche Kritik hat
sie das Versagen der Vereinten Nationen wie der Staaten-
gemeinschaft genannt, das anhaltende Blutvergießen im
sudanesischen Darfur zu beenden. Sie sprach davon, die
VN-Menschenrechtskommission sei ihrer „kollektiven
Verantwortung“ nicht gerecht geworden. Am gestrigen
Tag hat der VN-Sondergesandte für den Sudan, Pronk,
erklärt:

Die Dschandschawid-Milizen haben gedroht, dass
sie künftig Ausländer und UN-Konvois angreifen
werden. Deshalb haben wir alle Mitarbeiter in die
Hauptstadt abgezogen.

Gleichzeitig gehen die Vereinten Nationen nach neues-
ten Schätzungen davon aus, dass in den vergangenen
18 Monaten 180 000 Menschen durch Krankheit und
Hunger als Folge der gewaltsamen Auseinandersetzun-
gen ums Leben gekommen sind. Der VN-Koordinator
für humanitäre Hilfe, Egeland, hält 10 000 Tote pro Mo-
nat für eine „vernünftige Schätzung“. In diesen Zahlen
sei aber die Zahl der bei den Kämpfen zwischen Milizen
und Rebellen umgekommenen Menschen noch gar nicht
enthalten.

Während sich aber die UNO-Mitarbeiter aus Darfur
zurückziehen und das Morden, Vergewaltigen und
Brandschatzen anhält, wird man wohl auf eine eindeu-
tige Verurteilung der mit den arabischen Milizen koope-
rierenden Regierung in Khartoum durch die VN-Men-
schenrechtskommission erneut vergeblich warten
müssen. Vielmehr ging die Solidarität der afrikanischen
Staaten mit dem Regime in Khartoum so weit, dass sie
just in dem Moment, als die Gewalt in Darfur eskalierte,
den Sudan erneut als Vertreter des afrikanischen Konti-
nents in die VN-Menschenrechtskommission entsand-
ten.

Weil aber viele Mitglieder dieses wichtigsten Men-
schenrechtsgremiums der Völkergemeinschaft selbst
schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig sind,
finden sich stets Koalitionen zusammen, die die Men-
schenschinder vor einer eindeutigen Verurteilung be-
wahren.


(Rudolf Bindig [SPD]: Leider wahr!)

Wenn wir die VN-Menschenrechtskommission vor ei-

nem völligen Abgleiten in die Unglaubwürdigkeit und
damit in die Bedeutungslosigkeit bewahren wollen,
muss die Völkergemeinschaft die Kraft zu tief greifen-
den Reformschritten haben. Wir sollten als deutsches
Parlament ehrgeizige Ziele für einen derartigen Reform-
prozess formulieren, beschließen und damit der Bundes-
regierung mit auf den Weg geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Heute diskutieren wir zwei Anträge zur Reformbe-
dürftigkeit der VN-Menschenrechtskommission. Ge-
rade weil wir im Menschenrechtsausschuss des Bundes-
tages häufig an einem Strang ziehen, gestatten Sie mir,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktio-
nen, die Offenheit: Angesichts der dramatischen Situa-
tion innerhalb der VN-Menschenrechtskommission
bleibt Ihr Antrag bedauerlich unscharf und allgemein.
Dort werden keine Ziele benannt, deren Erreichung zu
einer durchgreifenden Stärkung des VN-Menschen-
rechtsschutzsystems führen würde.

So passt es eben überhaupt nicht zu Ihrer Aussage,
den parlamentarischen Einfluss in den VN-Menschen-
rechtsmechanismen stärken zu wollen, wenn der Deut-
sche Bundestag nach Ihrem Willen wahrlich nur sehr all-
gemeine, man könnte auch sagen: nichts sagende
Forderungen an die Bundesregierung richten soll. Die
Annahme Ihres Antrages wäre ein Zeichen der Resigna-
tion angesichts der dramatischen Situation in der Men-
schenrechtskommission.

Unser Antrag, der Antrag der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion, ist wesentlich konkreter und benennt ehrgei-
zige, aber lohnende Ziele. Wesentlich intensiver, als dies
in Ihrem Antrag geschieht, haben wir uns dabei mit den
Vorschlägen der von Kofi Annan eingesetzten Hochran-
gigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und
Wandel auseinander gesetzt. Wichtige Vorschläge der
Hochrangigen Gruppe finden unsere und auch Ihre Un-
terstützung. Dies gilt beispielsweise für den Vorschlag,
dass der Sicherheitsrat die Hohe Kommissarin für Men-
schenrechte an seinen Beratungen aktiver beteiligt, sie
vor Entscheidungen über Friedenseinsätze anhört und
sich von ihr regelmäßig über die Umsetzung der men-
schenrechtsbezogenen Bestimmungen der Sicherheits-
ratsresolutionen unterrichten lässt.

Bei anderen Vorschlägen der Hochrangigen Gruppe
haben wir dagegen Bedenken. Dies gilt auch – Sie, Frau
Kollegin Dr. Kofler, sprachen gerade diesen Punkt an –
für den Vorschlag, die Mitgliedschaft der VN-Men-
schenrechtskommission künftig auf alle VN-Mitglied-
staaten auszuweiten. Die Verwirklichung dieses Vor-
schlags, der in Ihrem Antrag eine gewisse Unterstützung
erfährt, würde die Kommission nach unserer Auffassung
nicht stärken, sondern ihre Arbeit weiter erschweren und
beispielsweise nahezu zwangsläufig zu einer Zurück-
drängung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Nichtregie-
rungsorganisationen führen.

Wir halten einen anderen Weg für angemessener. Wir
sprechen uns daher dafür aus, die Mitgliedschaft in der
Menschenrechtskommission an bestimmte grundlegende
Bedingungen zu knüpfen. Dies ist übrigens auch die Po-
sition von Human Rights Watch und von weiteren inter-
nationalen Menschenrechtsorganisationen. So sollen po-
tenzielle Mitglieder mindestens einen der beiden
internationalen Menschenrechtspakte ratifiziert haben;
zudem sollen sie uneingeschränkt zur Zusammenarbeit
mit dem Hochkommissariat bereit sein und beispiels-
weise eine so genannte Standing Invitation für alle Son-
derberichterstatter vornehmen.

Es darf nicht länger sein, dass in Genf die schlimms-
ten Regime Koalitionen schmieden, um sich gegenseitig
eine „weiße Weste“ zu bescheinigen. Deswegen brau-
chen wir das Instrument der Länderresolution. Dazu
bekennen auch Sie sich in Ihrem Antrag, ohne aber ein






(A) (C)



(B) (D)


Hermann Gröhe

einziges Land zu benennen, für das Sie dieses Instru-
ment für angemessen halten. Sie verzichten darauf. Da-
mit passen Sie sich aus meiner Sicht einer Leisetreterei
an, die auch die Menschenrechtspolitik der Bundesregie-
rung auszeichnet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn dies so weitergeht, bleibt jede Glaubwürdigkeit

auf der Strecke. Wer soll eine Menschenrechtskommis-
sion ernst nehmen, die sich zwar mutig zur Verurteilung
von Birma und Nordkorea aufrafft, die ihren größtmögli-
chen Konsens in der Verurteilung israelischer Siedlungs-
politik in den besetzten Gebieten findet, die aber zur
Lage im völlig zerbombten Grosny, zur anhaltenden Ver-
nichtung der tibetischen Kultur und zu weiteren
schwersten Menschenrechtsverletzungen in vielen Tei-
len der Welt kein Wort verliert? Das passt, wie ich sagte,
zur Leisetreterei einer Bundesregierung, die das
Waffenembargo gegen China in einer Zeit aufheben
will, in der Kriegsdrohungen gegen Taiwan laut werden
– Kollege Rose wird etwas dazu sagen –, und die zu den
schockierenden Bildern aus Istanbul, wo unschuldige
Demonstrantinnen, Frauen und Mädchen, niedergeknüp-
pelt wurden, kein Wort verloren hat. Solche Leisetreterei
ist unakzeptabel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist eben so, meine Damen und Herren, dass nir-
gends bei Rot-Grün ein so großer Graben zwischen eige-
nem Anspruch und konkretem Tun klafft wie gerade in
der Menschenrechtspolitik. Mit einem positiven Be-
schluss über unseren Antrag können wir ein Zeichen da-
für setzen, dass wir es ernst meinen mit einem entschie-
denen Dampfmachen für Menschenrechte und mit
entschiedenen Schritten hin zu einer ehrgeizigen Reform
der VN-Menschenrechtsschutzsysteme.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516604800

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516604900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bevor ich auf die in Genf tagende Menschenrechtskom-
mission zu sprechen komme, auf Ihre Anträge und Re-
formvorschläge und auch auf den Vorwurf der Leisetre-
terei, erlauben Sie mir ein paar sehr grundsätzliche
Anmerkungen: Es wird immer von der Unteilbarkeit der
Menschenrechte gesprochen. Das ist auch gut so. Jeder
Mensch, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts,
welcher Herkunft, sollte auf dieser Welt willkommen
sein und ihm sollte ein Leben in Freiheit und Würde er-
möglicht werden. Ihm stehen elementare Menschen-
rechte zu, auf die sich die Völkergemeinschaft im
Grundsatz geeinigt hat.

Diese Menschenrechte sollten auch nicht in die „ei-
gentlichen“, die klassischen bürgerlichen Menschen-
rechte auf der einen Seite und die „neuen“, die wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte
auf der anderen Seite aufgeteilt werden. Regierungen,
die nur die eine Sorte von Menschenrechten hochhalten
und die andere vernachlässigen, geraten in eine gefährli-
che Schieflage. Mit dem Hinweis auf ein funktionieren-
des Sozial- und Gesundheitssystem lässt sich eben nicht
die Inhaftierung und Folterung von Oppositionellen rela-
tivieren. Ich nenne als Beispiel Kuba. Der Hinweis auf
Presse- und Versammlungsfreiheit hilft nicht den Hun-
gernden, denen das Menschenrecht auf Nahrung vor-
enthalten wird. Statt auf dem einen oder dem anderen
Auge blind zu sein, sollten wir Parlamentarier beide Au-
gen weit aufmachen und uns mit Nachdruck für die Ver-
wirklichung aller Menschenrechte einsetzen. Das heißt
auch, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, egal,
von wem sie begangen werden, egal, ob dem möglicher-
weise handelspolitische Interessen entgegenstehen könn-
ten, und auch egal, ob der Menschenrechtsverletzer ein
staatlicher oder ein nicht staatlicher Akteur ist, zum Bei-
spiel ein Unternehmen.

Ich habe auf dem letzten Kirchentag in Berlin mit ei-
ner Näherin aus einer Freihandelszone in El Salvador auf
dem Podium gesessen. Sie hat von erniedrigenden Be-
dingungen berichtet. Sie hat in einem Zulieferbetrieb für
einen international bekannten Sportartikelhersteller ge-
arbeitet: 13 Stunden Arbeit pro Tag, zwei verordnete
Toilettengänge, erniedrigende Bestrafungen bei gerin-
gem Fehlverhalten oder Arbeitsfehlern, und das alles zu
einem Hungerlohn. Es ließ sich eine Fülle weitaus kras-
serer Beispiele benennen: Ich denke an Unternehmen,
die ihren Profit aus ausbeuterischer Zwangsarbeit oder
aus Kinderarbeit ziehen oder die beim Abbau von Gold
ganze Flüsse vergiften.

Für den Schutz der Menschenrechte sind in erster
Linie die Nationalstaaten verantwortlich. In der All-
gemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem
Jahre 1948 werden aber alle Individuen, die Organe der
Gesellschaft und auch die Wirtschaft in die Pflicht ge-
nommen. Deshalb ist es eigentlich auch nur folgerichtig,
transnationale Unternehmen, von denen einige eine Ka-
pitalstärke haben, deren Volumen das Kapital aller Staa-
ten Afrikas zusammen übersteigt, stärker in die Pflicht
zu nehmen. Die Vereinten Nationen, genauer gesagt die
MRK-Unterkommission zum Schutz und zur Förderung
der Menschenrechte, hat einen Entwurf für UN-Normen
für transnationale Unternehmen vorgelegt. Wir setzen
uns in dem heute vorliegenden Antrag dafür ein, dass auf
der Grundlage dieses Vorschlages sehr konstruktiv und
ernsthaft mit dem Ziel diskutiert wird, zu möglichst ver-
bindlichen UN-Normen für transnationale Unternehmen
zu kommen. Wir möchten, dass sich auch die Vertreter
der Bundesregierung in diesem Sinne noch deutlicher
positionieren und denjenigen Paroli bieten, die auf der
diesjährigen Tagung diesen Dialogprozess möglichst
schnell beerdigen wollen und allein auf freiwillige Initia-
tiven setzen.

Diese freiwilligen Initiativen, der Global Compact,
Verhaltenkodizes, Partnerschaften und anderes, sind
hochwillkommen, aber eben kein Ersatz für verbindliche
Menschenrechtsnormen, die für alle gelten müssen. Von
den 75 000 transnationalen Unternehmen sind bisher nur






(A) (C)



(B) (D)


Thilo Hoppe

2 Prozent dem Global Compact beigetreten und einen
wirkungsvollen Überprüfungsmechanismus für die Ein-
haltung der zehn Grundsätze gibt es nicht.

Wenn wir der Globalisierung ein menschliches Ant-
litz geben wollen, dann brauchen wir keine Versprechun-
gen, deren Einhaltung nicht überprüft werden kann, son-
dern dann brauchen wir starke ökologische und soziale
Leitplanken. Dazu könnten die UN-Normen für transna-
tionale Unternehmen ein wichtiger Baustein sein. So
weit zum Thema Unternehmensverantwortung.

Ich freue mich, dass Tom Koenigs auf der diesjähri-
gen Tagung der Menschenrechtskommission in Genf
sich für das Recht auf Wasser stark macht. Wir werden
darüber heute Abend anläßlich eines entsprechenden
Antrags noch ausführlicher diskutieren.

Ich begrüße auch sehr, dass er mit einer weiteren Ver-
anstaltung auf die Besorgnis erregende Lage der indige-
nen Völker aufmerksam macht. Die Tsunamikatastro-
phe hat gezeigt, dass einige der indigenen in Stämmen
lebenden Völker ein Wissen hüten, das uns verloren ge-
gangen ist: ein kostenloses Frühwarnsystem der beson-
deren Art. Am Verhalten der Tiere erkannten sie die he-
rannahende Katastrophe und zogen sich ins Hochland
zurück. Diesen „Eingeborenen“ sollten wir nicht mit der
Arroganz der Hochzivilisierten begegnen, sondern mit
Respekt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch unser Land sollte zum Schutz der indigenen Völ-
ker so schnell wie möglich die ILO-Konvention 169 rati-
fizieren. Ich hoffe sehr, dass ein entsprechender Koali-
tionsantrag möglichst noch parallel zu der in Genf
tagenden Menschenrechtskommission hier ins Parlament
eingebracht werden kann.

Die Flutkatastrophe hat die Aufmerksamkeit der
Weltöffentlichkeit auf Südostasien gelenkt. Dabei darf
die furchtbare Situation in Darfur – der Kollege Gröhe
hat sie auch schon mit eindrücklichen Worten hier be-
nannt – nicht in Vergessenheit geraten. Dort hat sich in
der Tat das Flüchtlingselend weiter verschlimmert. Ich
kann ihm nur zustimmen: Es ist ein Trauerspiel, dass auf
der letzten Tagung der MRK in Genf dazu keine deutli-
chen Worte formuliert wurden.

Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung sich stän-
dig bemüht, dieses Thema auf die Agenda des Weltsi-
cherheitsrates zu setzen. Doch wenn weiterhin einige
Nationen – ich nenne hier ausdrücklich China – die
schützende Hand heben, kommen wir in diesem Bereich
nicht weiter. Ich hoffe sehr, dass trotz aller Misserfolge
im letzten Jahr dieses Thema auch auf die Tagesordnung
der MRK in Genf gesetzt wird und dass es diesmal ge-
lingt, Blockadehaltungen aufzubrechen und zu deutli-
chen Worten zu kommen.

Das Thema Nepal kann ich aus Zeitgründen nur ganz
kurz streifen. Auch dort gibt es einen Besorgnis erregen-
den Bürgerkrieg, der von der Weltöffentlichkeit kaum
wahrgenommen wird. Wir haben dazu heute einen An-
trag eingebracht, der deutlich macht: Dieser Konflikt ist
nicht mit Waffengewalt zu lösen, auch nicht durch Waf-
fenlieferungen, wie sie einige europäische Nachbarstaa-
ten vornehmen. Wir brauchen hier ernsthafte Verhand-
lungen, auch unter Einbeziehung Indiens.

Jetzt zu den Vorschlägen zur Reform der MRK. Herr
Gröhe, unser Antrag ist keine Leisetreterei. Wir haben
alle wesentlichen Anregungen der Hochrangigen Gruppe
der Vereinten Nationen aufgenommen. Auch uns ist klar,
dass die Instrumente zum Schutz der Menschenrechte
geschliffen und verbessert werden müssen. Nur in einem
Punkt gibt es einen Dissens: Wir sehen ganz große
Schwierigkeiten darin, den Kreis praktisch einzugrenzen
und eine Qualifizierung für die Aufnahme in die Men-
schenrechtskommission zu fordern. Der Gedanke ist ver-
ständlich, aber bei der Umsetzung könnte es große Pro-
bleme geben, wenn wichtige Akteure diese Kriterien
nicht erfüllen, wenn beispielsweise die USA aufgrund
ihres Verhaltens in Guantanamo die Kriterien verfehlen.
Man kann nicht verschiedene Kriterien festlegen: Für die
Großen gibt es einen Extrabonus und für die Kleinen
werden hohe Maßstäbe angelegt.

Wir halten es für notwendig, mit allen Akteuren und
mit allen Staaten der Vereinten Nationen ins Gespräch zu
kommen. Wir hoffen, dass es dort mehr mutige Regie-
rungen gibt, die Rückgrat zeigen und trotz aller handels-
politischen oder machtpolitischen Verflechtungen deut-
lich Flagge zeigen für den Schutz der Menschenrechte.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516605000

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine

Leutheusser-Schnarrenberger.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1516605100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Die Menschenrechte befinden sich nicht erst jetzt,
mit Beginn der 61. Tagung der UN-Menschenrechts-
kommission in Genf, in der Defensive. Wir erleben das
seit Jahren. Das ist besonders durch den 11. September
2001 deutlich geworden; denn gerade beim internationa-
len Vorgehen gegen Terrorismus wird die Menschen-
rechtslage in bestimmten Staaten nicht unbedingt ange-
sprochen.

Wir erleben häufig das Phänomen, dass sich nationale
Parlamente in der Verurteilung von Menschenrechtsver-
letzungen in bestimmten Staaten zwar einig sind, die Re-
gierungen aber dennoch die in großer Übereinstimmung
beschlossenen Resolutionen und Anträge nicht zur
Kenntnis nehmen wollen oder sie durch Regierungshan-
deln sogar negieren.


(Beifall bei der FDP)

In Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Menschen-

rechtsschutzes haben wir auch hier im Deutschen Bun-
destag eine gewisse Krise. Hinsichtlich der Menschen-
rechtssituation in China zum Beispiel sind wir uns alle






(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

einig, dass sich der Bundestag, mit welchen Formulie-
rungen auch immer, geschlossen dafür aussprechen
muss, dass das EU-Waffenembargo gegenüber der
Volksrepublik China nicht aufgehoben werden soll.
Diese Einigkeit gilt auch für die europäischen Parlamen-
tarier. Wir alle kennen die Menschenrechtslage in der
Volksrepublik China, die leider nicht besser wird. Leider
spricht sich die Bundesregierung für das Gegenteil aus.
Sie betreibt innerhalb der EU eine andere Politik. Wie
sollen Menschenrechte international, in internationalen
Gremien mehr Gewicht erhalten, wenn es uns noch nicht
einmal hier in Deutschland gelingt, die Bundesregierung
politisch verantwortlich so an unsere Beschlüsse zu bin-
den, dass sie in europäischen und auch in internationalen
Gremien entsprechend auftreten kann? Von daher habe
ich überhaupt keine Hoffnung, dass bei dieser Tagung
der Menschenrechtskommission in Bezug auf China ein
großer Erfolg erreicht werden könnte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe mir die Mühe gemacht, sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen, in den Protokollen des Deutschen
Bundestages aus der 13. Legislaturperiode zu blättern.
Am 27. Juni 1996 haben wir über die Menschenrechts-
lage in China diskutiert. Joseph Fischer, heutiger Außen-
minister, war damals Sprecher der Grünen, die zu jener
Zeit in der Opposition waren. Er hat der Bundesregie-
rung vorgeworfen – in Worten, die ich jetzt zu meinen
eigenen Worten mache –:

Deswegen müssen wir mit den Chinesen unnach-
giebig über Menschenrechte, über tibetische Kultur
und über den Schutz von Minderheiten in China
sprechen. Wenn das Aufträge kostet, dann kostet es
eben Aufträge.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich unterstelle nicht, dass die Aufhebung des EU-

Waffenembargos in erster Linie betrieben wird, um Rüs-
tungsexporte zu promoten. Die Exporte in diese Region
nehmen seit 1998 zu, auch vonseiten der Bundesregie-
rung. Aber es zeigt, was für ein Auffassungswechsel
stattgefunden hat; allein die Regierungsverantwortung
kann nicht zu einer insgesamt vollkommen anderen Ein-
schätzung führen.

Ich könnte das auch in Bezug auf die Politik gegen-
über Tschetschenien darlegen. Auch da waren die Worte
von Herrn Fischer in der Opposition knallhart; heute
spielen die großen Probleme, mit der Ausweglosigkeit,
wie wir sie jetzt nach der Ermordung von Maschadow
sehen, keine Rolle. Dort stellt sich ebenfalls die Frage
nach der Unabhängigkeit der Justiz und danach, wie die
Menschen in der Russischen Föderation ihre Meinung
äußern können. Da werden mit Putin Umarmungen aus-
getauscht, aber diese Themen werden leider ganz nach
hinten verbannt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb ist es für die FDP sehr wichtig, dass versucht

wird, bei dieser 61. Tagung der Menschenrechtskommis-
sion in Genf Akzente zu setzen. Dazu gehören unver-
zichtbare Reformansätze; diese Einschätzung teilen
wir. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn es mit der
MRK so weitergeht, dann wird sie nicht nur ein Desas-
ter, sondern sie wird sich letztendlich selbst überflüssig
machen. Das wäre schlimm nach dem, was an Men-
schenrechtsmechanismen und -verteidigung erreicht
worden ist.

Wir halten den Antrag der CDU/CSU in diesen Punk-
ten, nicht nur weil er bedeutend konkreter ist, sondern
weil er meiner Meinung nach richtige Ansätze findet, für
sehr viel überzeugender. Die Argumente zu den Anfor-
derungen an die Mitgliedschaft in der UN-Menschen-
rechtskommission sind noch nicht alle ausgetauscht.

Denn: Auch der Europarat kennt sehr wohl Anforde-
rungen an eine Mitgliedschaft. Um Mitglied des Europa-
rates zu werden, müssen Mindestanforderungen erfüllt
werden.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!)

Zu fordern, dass internationale Pakte gezeichnet und

ratifiziert werden und dass es eine uneingeschränkte Zu-
sammenarbeit mit Berichterstattern gibt, damit Men-
schenrechtspolitik, die nur in der Öffentlichkeit stattfin-
det, funktionieren kann, ist in meinen Augen ein
richtiger Ansatz. Es lohnt sich, einen Konsens in Genf
und innerhalb der Delegation, die dorthin fährt, anzustre-
ben.

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516605200

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach.

Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1516605300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig:
Die 61. Tagung der Menschenrechtskommission wird
noch mehr im Zeichen der Reformdebatte stehen als die
Tagung im vergangenen Jahr. Heute liegen zwei Anträge
zu dieser Tagung vor. Mein Kollege Hermann Gröhe hat
die Vorschläge in unserem Antrag begründet, die ich für
wesentlich konkreter und nachvollziehbarer halte – diese
Meinung hat auch Frau Leutheusser-Schnarrenberger
geäußert – als die Vorschläge in dem Antrag der Koali-
tion.

Es ist wichtig, dass wir diese Diskussion nicht nur
formalistisch und mechanisch führen, sondern uns auch
mit der Frage beschäftigen, ob die Menschenrechtskom-
mission thematisch noch auf der Höhe der Zeit ist. Es
geht zum einen um die Frage, welche Länder dort vertre-
ten sein sollen, und zum anderen um die Frage, welche
Themen behandelt werden sollen.

Die Koalition spricht in ihrem Antrag beispielsweise
von der menschenrechtlichen Verantwortung transnatio-
naler Unternehmen. Dies ist sicherlich ein wichtiges
Thema, mit dem man sich beschäftigen muss. Aber ich
kann dann nicht verstehen, warum Sie im Ausschuss un-
serem Antrag zur Durchsetzung der Meinungs- und
Pressefreiheit für das Internet nicht zustimmen konnten.






(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach

Dies ist ein ganz entscheidendes Zukunftsthema, mit
dem wir uns gerade im Zusammenhang mit der Mei-
nungs- und Pressefreiheit zu beschäftigen haben werden.
Denn das Internet ist das Massenmedium der Zukunft.

Dieses Thema ist auch deshalb so wichtig, weil die
Durchsetzung von Meinungs- und Pressefreiheit immer
in einer bestimmten Relation zur Durchsetzung der Men-
schenrechte insgesamt steht. Es ist doch kein Zufall, dass
die größten Menschenrechtsverletzer zumeist diejenigen
sind, die die Meinungs- und Pressefreiheit, vor allem im
Internet, besonders stark einschränken. Es geht hier also
um die Frage, wie man grundsätzlich zu diesem Thema
steht.

Das Internet ist gerade in den Ländern, in denen der
Zugang zur Information eingeschränkt ist, die beste
Möglichkeit, an Informationen heranzukommen und
sich auszutauschen. Aus diesem Grunde kann ich es ein-
fach nicht verstehen, dass Sie im Ausschuss unseren An-
trag abgelehnt haben. Ihre Begründung für die Ableh-
nung, dass unser Antrag eine Aufzählung enthalten habe,
ist nicht stichhaltig. Wenn wir nämlich keine Aufzählung
vorgelegt hätten, dann hätten Sie uns vorgeworfen, keine
Beispiele genannt zu haben. Ihre Haltung ist also nicht
konsequent und auch nicht konsistent.

Es gibt Gründe, auch außerhalb der MRK an diesem
Thema festzuhalten, zum Beispiel auf dem Weltinforma-
tionsgipfel, der im November dieses Jahres in Tunis
stattfinden wird. Tunesien gehört zu denjenigen Län-
dern, die in besonderem Maße das Internet kontrollieren
und in besonderem Maße die Meinungs- und Pressefrei-
heit einschränken. Ich würde mir wünschen, dass die
Bundesregierung an dieser Stelle deutliche Worte findet.
Wenn Vertreter der Bundesregierung jetzt anwesend wä-
ren, würde ich sie auffordern, an diesem Thema weiter
festzuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, das Thema

Menschenrechte zu behandeln. Das Wissen über Men-
schenrechte ist in Deutschland nicht sonderlich weit ver-
breitet. Das wurde in den letzten Jahren in einigen Arti-
keln dargelegt. 76 Prozent der Bevölkerung halten die
Menschenrechte für wichtig, 40 Prozent sind bereit, sich
zu engagieren, aber nur wenige tun es. Ich glaube, dass
das Thema Internet in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle spielen sollte.

Man muss sich in Deutschland, in Europa und welt-
weit auf diesem Gebiet engagieren und die entsprechen-
den Themen zur Sprache bringen. Deswegen war die
Vorlage des sechsten Jahresberichts der Europäischen
Union zur Menschenrechtslage für uns wichtig. Es gab
im Ausschuss eine Erörterung und eine gemeinsame Be-
schlussempfehlung. Einen Absatz aus dieser Beschluss-
empfehlung halte ich für so wichtig, dass ich ihn gerne
vorlesen möchte:

Der Deutsche Bundestag begrüßt die Verabschie-
dung der Leitlinien für Menschenrechtsverteidiger
als wichtiges Instrument zur Stärkung des Rechtes
auf Verteidigung der Menschenrechte. Er bittet die
Bundesregierung, innerhalb der Europäischen Union
darauf hinzuwirken, dass gefährdete Menschen-
rechtsverteidiger durch die vorgesehenen Interven-
tionsmöglichkeiten der EU Hilfe und Unterstützung
für ihre wichtige Arbeit erhalten.

Wie passt das mit dem zusammen, was der Bundes-
außenminister zusammen mit den anderen europäischen
Außenministern in Bezug auf Kuba beschließt? Es soll
keine Einladung an Dissidenten an kubanischen Natio-
nalfeiertagen mehr geben. Das konterkariert all das, was
wir gemeinsam beschlossen haben, es konterkariert das
Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ so-
wie das Programm zum Schutz der Menschenrechtsver-
teidiger weltweit, das wir gemeinsam aufgelegt haben.
Ich finde, auch das ist keine besonders konsequente und
konsistente Handlungsweise.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Vielmehr ist es, denke ich, insgesamt ein falsches Zei-
chen.

In diesem Zusammenhang könnte man sicherlich das
Thema Chinapolitik erörtern. Im Hinblick auf die schon
fortgeschrittene Zeit will ich das aber unterlassen.

Deutschland sollte seine führende Rolle, die es ja ge-
denkt einzunehmen, wenn es sagt, die Achtung der Men-
schenrechte sei eine Querschnittsaufgabe in der gesam-
ten Politik, weiterhin ausfüllen. Das gilt zum Beispiel
auch – das Thema steht ja heute auf der Tagesordnung –
für die Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls zur
Europäischen Menschenrechtskonvention. Da geht es
um die Antidiskriminierung. Deutschland gehört zu den
Erstunterzeichnern, wie man, wenn man auf die Home-
page des Auswärtigen Amtes geht, sehr schnell feststel-
len kann. Das Auswärtige Amt rühmt weiterhin:

Es ist somit eine wesentliche Ergänzung zur EMRK
und bewirkt eine Stärkung ihres Kontrollmechanis-
mus.

Aha! Weiter heißt es:
Der außenpolitische Nutzen dieses Protokolls liegt
aus deutscher Sicht vor allem in der von ihm ausge-
henden Rechtsvereinheitlichung in Diskriminie-
rungsfragen in Europa.

Wir gehören also zu den Erstunterzeichnern. Warum ist
dann aber, so fragt man sich, in den letzten vier Jahren
mehr oder weniger nichts passiert?


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

In einem Schreiben von Frau Ministerin Zypries – also
aus einem anderen Ministerium, aber von der gleichen
Bundesregierung – an den Lesben- und Schwulenver-
band Deutschlands aus dem letzten Jahr heißt es aller-
dings:

Die Bundesregierung hält es daher zum jetzigen
Zeitpunkt zunächst für wichtig zu beobachten, wie
die weitere Entwicklung … (sein wird). … Über die
Frage der Ratifizierung wird danach zu einem spä-
teren Zeitpunkt entschieden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das ist
nicht besonders konsequent und konsistent. Ich kann uns






(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach

alle nur auffordern, bei der anstehenden MRK zu einer
gemeinsamen konsequenten und konsistenten Haltung in
menschenrechtlichen Fragen zurückzukehren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516605400

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf,

SPD-Fraktion.

Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1516605500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst möchte ich kurz etwas zum Thema China und
Waffenembargo sagen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ich erinnere Sie diesbezüglich an unseren Antrag aus
dem letzten Herbst, in dem wir ganz klar gesagt haben,
dass wir als SPD-Bundestagsfraktion an eine eventuelle
Aufhebung des Waffenembargos starke Bedingungen
knüpfen,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weiß das der Kanzler?)


die derzeit nicht erfüllt sind, und darauf hinweisen, dass
es auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit für
die Beibehaltung der geltenden Regelungen, also für das
Embargo, gibt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weiß das der Bundeskanzler? – Sabine LeutheusserSchnarrenberger [FDP]: Die Regierung ist das Problem!)


Bei unserer Entscheidung spielen die Menschen-
rechtssituation in China und der EU-Verhaltenskodex für
Waffenausfuhren eine entscheidende Rolle. Wir sehen
derzeit keine Ratifizierung und Umsetzung des VN-Pak-
tes über bürgerliche und politische Rechte, keinen Fort-
schritt bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen
im Bereich Menschenrechte und Privateigentum und
keine Stärkung der Autonomierechte für ethnische Min-
derheiten. Erschwerend kommt hinzu, dass nach dem
Beschluss des Volkskongresses vom Montag keine Rede
mehr von einer friedlichen Streitbeilegung mit Taiwan
sein kann.

Der Bundeskanzler kennt die Position des Bundesta-
ges. Ich bin sicher, dass das Bundeskanzleramt seine
Überlegungen zum Waffenembargo im Lichte der neuen
Situation überdenken wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516605600

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Hoyer?

Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1516605700

Bitte, gern.

Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1516605800

Frau Kollegin, worauf stützen Sie denn Ihren Opti-

mismus, wenn der Bundestag am 27. Oktober des letzten
Jahres diese Entscheidung getroffen hat, der Regierungs-
sprecher aber am selben Tage mit Blick auf die Beratung
des Bundestages sagt, die Position des Bundestages sei
dem Bundeskanzler bekannt, es sei aber auch die Posi-
tion des Bundeskanzlers bekannt und dieser habe nicht
die Absicht, sie zu ändern?


(Rudolf Bindig [SPD]: Das war im Oktober letzten Jahres!)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1516605900

Ich denke, dass sich die Situation insbesondere durch

den Beschluss des Volkskongresses am Montag entspre-
chend geändert hat, Herr Kollege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Eben! Sehr gut!)


Wir sind in der Vergangenheit schon auf die Länder-
anträge, die heute zur Debatte stehen, eingegangen. Des-
wegen möchte ich mich im Rahmen dessen, was ich jetzt
vortrage, mit dem 6. EU-Jahresbericht zur Menschen-
rechtslage aus dem Jahre 2004 beschäftigen. Dort wer-
den die Anstrengungen der EU beschrieben, in den
wichtigsten Bereichen der Menschenrechtspolitik welt-
weit voranzukommen. Die EU bekennt sich bezüglich
der externen, aber auch der internen Politik seit langem
zur Unteilbarkeit aller Menschenrechte und der demo-
kratischen Freiheiten. Sie hat sich im abgelaufenen Be-
richtszeitraum insbesondere mit den Themenbereichen
„Menschenrechte und Terrorismus“, „Rassismus“,
„Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, „Asyl und
Migration“, „Situation von Minderheiten“, „Menschen-
handel“, „Rechte des Kindes“ und „Menschenrechte der
Frauen“ befasst.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516606000

Frau Kollegin, ich bitte um Nachsicht. Würden Sie

dem Kollegen Pflüger Gelegenheit zu einer Zwischen-
frage geben?


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1516606100

Ich glaube, ich habe schon entsprechend geantwortet.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Er hat ja noch gar nicht seine Frage gestellt!)


Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Frage in die gleiche
Richtung geht wie die zuvor, und möchte jetzt meine
Rede zu Ende bringen.

Sehr spannend für mich war der Bereich „Menschen-
rechte und Wirtschaft“. In ihm wird die soziale Verant-
wortung von Unternehmen unterstrichen und sehr deut-
lich gemacht, dass die Wirtschaft weltweit dazu
beitragen kann und muss, den Herausforderungen der
Globalisierung wirksam zu begegnen. Außerdem war
der Themenbereich „Charta der Grundrechte“ interes-
sant. Dort wird zum Beispiel unsere positive Haltung






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Graf (Rosenheim)


zum Antidiskriminierungsgesetz in allen Einzelheiten
massiv unterstützt.

Ganz ehrlich, beim Durcharbeiten des Berichts fühlt
man sich in einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits
gibt es durchaus positive Entwicklungen, über die wir
uns wirklich freuen können. In diesem Bericht wird zum
Beispiel Kofi Annan zitiert, der die völlige Abschaffung
der Todesstrafe in 77 Staaten lobt und in Bezug auf
viele weitere Staaten von Moratorien oder De-facto-
Nichtanwendungen spricht. Andererseits relativiert sich
das durch andere Zahlen. So halten 66 Staaten weiterhin
an der Todesstrafe fest. Einige wie der Tschad, der
Kongo, der Libanon oder Afghanistan haben nach Mora-
torien wieder Hinrichtungen vollstreckt. Im Jahr 2003
seien in 28 Ländern mindestens 1 146 Menschen hinge-
richtet worden. In 63 Staaten seien mindestens
2 756 Menschen zum Tode verurteilt worden. Die wirk-
lichen Zahlen liegen wahrscheinlich wesentlich höher.
Schätzungen sprechen von 5 600 Hinrichtungen in 2003,
darunter Personen, die unter 18 Jahre alt oder geistig be-
hindert waren.

Der Bericht beschäftigt sich ausführlich mit der Rolle,
die China in dieser Statistik spielt.

Die EU hat auch nachdrücklich das Problem der To-
desstrafe in den USA angesprochen. Die Hinrichtung ju-
gendlicher Straftäter spielt hier eine große Rolle. Ich
hoffe, dass die Entscheidung des höchsten US-Gerichts
vom 1. März 2005, die Todesstrafe für Jugendliche als
„verfassungswidrig grausam“ zu verbieten, die Diskus-
sion um die Todesstrafe ganz allgemein anfacht. Tatsa-
che ist nämlich, dass die Anzahl der Vollstreckungen in
den USA in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Ich
finde allerdings in diesem Bericht keine Erwähnung des-
sen; ich bedauere das sehr.

Sehr begrüßenswert ist für mich, dass der Kampf ge-
gen den Menschenhandel, insbesondere den Frauen-
handel, ausführlich im Bericht gewürdigt wird. Der
Menschenhandel, mit dem wir uns auch in diesem Ho-
hen Hause in der letzten Zeit mehrfach beschäftigt ha-
ben, zuletzt im Zusammenhang mit der Novellierung des
Strafrechts, ist eine schlimme Menschenrechtsverlet-
zung. Die Umsetzung der im Bericht erwähnten Richtli-
nie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die
„Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer von Men-
schenhandel“ wird wahrscheinlich eine Änderung des
Zuwanderungsgesetzes nötig machen. Den Opfern soll
unter anderem der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu be-
ruflicher und allgemeiner Bildung eröffnet werden. Dies
ist übrigens seit langem eine Forderung der Opferver-
bände. Ich hoffe, dass Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, im Bundestag Ihrer Empa-
thie für die Opfer gerecht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich übrigens, dass mit der ehemaligen ös-
terreichischen Frauenministerin Helga Konrad eine hoch
kompetente Frau zur Sonderberichterstatterin „Men-
schenhandel“ ernannt worden ist.
Was wünsche ich mir für den nächsten Bericht?
Einerseits, dass in ihm wieder so ausführlich die Men-
schenrechtssituation in vielen Problemstaaten beschrie-
ben wird; andererseits aber auch, dass er sich mit der Si-
tuation im Inneren der EU stärker befassen möge.

Ein Beispiel: Zwar wird die Situation der Sinti und
Roma an mehreren Stellen angesprochen. Der Tatsache
aber, dass die Gruppe der Roma mit dem EU-Beitritt
vieler osteuropäischer Staaten und mit den Beitrittsvor-
bereitungen einer Reihe weiterer Staaten als transnatio-
nale Minderheit nicht mit anderen Minderheiten in
Europa vergleichbar ist, wird diese Erwähnung nicht ge-
recht. Derzeit gibt es eine Reihe von europäischen Staa-
ten, die deutlich weniger Einwohner haben, als die
Gruppe der Roma in Europa ausmacht. Menschenrechts-
verletzungen an Roma sind jedoch fast in jedem Staat,
insbesondere im Osten Europas, zu verzeichnen; oft ha-
ben sie einen rassistischen Hintergrund. Dies soll nur ein
besonders signifikantes Beispiel dafür sein, dass sich ein
Blick nach innen durchaus lohnt.

Man wird durch diesen Blick nach innen auch glaub-
würdiger. Im Gespräch mit Politikern aus Ländern, in
denen die Menschenrechte nicht den allerhöchsten Stel-
lenwert haben, habe ich es jedenfalls in der Vergangen-
heit oft als sehr angenehm empfunden, sagen zu können,
dass unser Menschenrechtsausschuss in Deutschland
eben nicht nur mit dem Finger auf Menschenrechtsver-
letzungen in anderen Staaten zeigt, sondern auch die
Entwicklungen im eigenen Land im Auge behält


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und so mit gutem Beispiel und ohne westliche Arroganz,
die man uns ja oft vorwirft, vorangeht. Warum sollen wir
diese positiven Erfahrungen nicht auf die EU übertra-
gen? Ich wünsche mir, dass Sie alle dies unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516606200

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Dr. Klaus Rose, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Klaus Rose (CSU):
Rede ID: ID1516606300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dass Sie jetzt so zahlreich gekommen sind, freut
mich, weil das Thema wichtig ist, weil der Redner nicht
unbekannt ist und weil Sie wahrscheinlich lieber in die-
sem Kreis als im stillen Kämmerlein über das Ergebnis
von Schleswig-Holstein diskutieren.


(Zurufe von der SPD: Es geht um Menschenrechte! – Hochmut kommt vor dem Fall!)


Das Hohe Haus hat schon häufig über die Menschen-
rechte diskutiert. Dies halte ich für gut. Es ist auch der
Bedeutung des Themas angemessen, dass wir heute wie-
der zeitnah zu der Tagung der Menschenrechtskommis-
sion in Genf hier über Menschenrechte reden. Meine






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Klaus Rose

Aufgabe ist es, die Themen nun noch einmal konkret an-
zusprechen.

Das Thema Menschenrechte wird im Zusammenhang
mit China besonders konkret. Manche von Ihnen haben
es nur gestreift. Gestern haben wir im Auswärtigen Aus-
schuss darüber beraten, welche neuen Erkenntnisse sich
aus den Beschlüssen des Volkskongresses für die Bun-
desregierung ergäben. Ich war ein bisschen entsetzt, dass
der Vertreter der Bundesregierung weniger auf die Men-
schenrechtslage, auf Fehlentwicklungen und Ähnliches
hingewiesen hat, sondern seinen Hauptsatz darin gese-
hen hat, darauf hinzuweisen, dass es wichtig sei, dass
sich Deutschland in einer strategischen Partnerschaft mit
China befinde. Meine Damen und Herren, ich war nicht
nur verwirrt, sondern enttäuscht und sogar entsetzt. Auf
genaues Nachfragen hat er erklärt, gemeint sei eine wirt-
schaftliche strategische Partnerschaft.

Aber habe ich nicht vorhin von den Vertretern der rot-
grünen Koalition gehört, dass man manchmal auf ein
Geschäft verzichten müsse? Hat man dies nicht auch frü-
her von Fischer gehört? War bei uns allen die Einschät-
zung nicht gang und gäbe, dass wir in diesen Fragen et-
was zurückhaltend sein könnten, wenn es um die
Betonung der Menschenrechte geht?

Am letzten Samstag fand vor dem Brandenburger Tor
aus Anlass eines Jahrestages eine Kundgebung von
Tibetern statt. Dort waren auch Vertreter der politischen
Parteien anwesend: jemand von der FDP, ein Grüner
vom Berliner Abgeordnetenhaus und ich für meine Frak-
tion. Aber von der SPD habe ich dort niemanden gese-
hen. Ich halte dies für sehr bedauerlich, weil Sie vor eini-
gen Jahren doch noch ganz anders geredet haben und
weil sich an der Lage der Tibeter in der Zwischenzeit
nichts verbessert hat.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Leider wahr! – Rudolf Bindig [SPD]: Die SPD redet viel mit Tibetern und unterstützt sie!)


Von Chinesen wird in Bezug auf religiöse und ethnische
Minderheiten nach wie vor gesagt: Uns steht das Recht
zu, über euch zu urteilen, euch ins Gefängnis zu werfen,
euch, nur weil ihr dem Dalai-Lama die Treue haltet, als
nicht zuverlässig zu betrachten und euch entsprechend
zu verklagen und einzusperren.


(Rudolf Bindig [SPD]: Wir stehen in regelmäßigem Kontakt mit dem Dalai-Lama!)


Meine Damen und Herren, wir müssen diese Themen
weiterhin deutlich und öffentlich machen. Wir müssen
das nicht nur mit den Tibetern, sondern auch mit den
Chinesen selbst deutlich ansprechen. Es sind nicht bloß
die Minderheiten innerhalb des chinesischen Volkes,
sondern es sind die Chinesen selbst, die von ihrer eige-
nen Regierung in Bezug auf die Menschenrechte
schlecht behandelt werden. Ich könnte dazu viele Bei-
spiele bringen, was mir aber von der Zeit her nicht mög-
lich ist.

Vorhin war von den internationalen Unternehmen die
Rede. Schauen Sie sich einmal den Bergbau in China
an. Dort gibt es die verrottetsten Bergwerke und Kohle-
gruben der Welt. Jedes Jahr werden Tausende von Toten
bewusst in Kauf genommen. Wenn die chinesische Re-
gierung mehr Geld in die Modernisierung des Bergbaus
stecken und damit Menschenleben retten würde, Geld,
das sie jetzt wieder für die Raketen gegen Taiwan zur
Verfügung stellt, würde sie etwas Gutes tun und auch mit
Blick auf die Menschenrechte viel erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Diese Dinge wollen wir beim Namen nennen. Der Be-
schluss des Volkskongresses – so sehr er in den eigenen
Reihen bejubelt werden mag – wird ein Bumerang. In
der gesamten Welt merkt man, dass hier eine Fehlent-
wicklung stattfindet. Auch wir im Deutschen Bundestag
sollten nicht stillhalten, sondern diese Ergebnisse angrei-
fen. Damit greife ich auch etwas auf, was gesagt wurde,
nämlich dass sich der Bundeskanzler in der Frage des
Waffenembargos jetzt plötzlich umstellt und etwas ernst
nimmt, was das Parlament schon lange will.


(Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: Das ist nicht gesagt worden!)


– Da bin ich aber sehr gespannt. Da muss er heute Vor-
mittag einen Schrecken bekommen haben, weil er die
Lage im eigenen Land nicht mehr im Griff hat. Aber ob
er sich in der Frage des Waffenembargos wirklich um-
stellt, wird sich herausstellen.

Schön wäre es; denn das würde zeigen, dass wir in der
Menschenrechtskommission die richtigen Anträge ge-
stellt haben.


(Jörg Tauss [SPD]: Nicht wie bei Kohl damals!)


Dass wir die FDP in ihrer Resolution zu China unterstüt-
zen, das möchte ich hier noch einmal betonen. Deshalb
wäre es besser, wir würden auch in diesen Fragen wieder
zu Gemeinsamkeit zurückkehren und im Interesse der
Menschenrechtssituation in allen Ländern der Welt die
richtigen Beschlüsse fassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516606400

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/5118 mit dem Titel „61. Tagung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen –
Reform und Normensetzung für einen verbesserten
Menschenrechtsschutz“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das
Erste war nach übereinstimmender Auffassung des Prä-
sidiums die Mehrheit. Damit ist dieser Antrag mit der
Mehrheit des Hauses angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 b. Hier geht
es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/5098 mit dem Titel „Die
61. Tagung der VN-Menschenrechtskommission als
Chance zur Reform – Mehr Engagement für Menschen-
rechte weltweit“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die-
ser Antrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 8 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über
den EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage,
Drucksache 15/4757. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann
ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 8 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/4899. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4397 mit dem
Titel „Nepal – Menschenrechte schützen und Gewalt be-
enden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –
Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenom-
men.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Druck-
sache 15/3231 mit dem Titel „Einhaltung der Menschen-
rechte in Nepal“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Mit der Mehrheit der Koalition ist die Be-
schlussempfehlung angenommen.

Tagesordnungspunkt 8 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/4898 zu einem Antrag der FDP-Frak-
tion mit dem Titel „Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls
zur Europäischen Menschenrechtskonvention“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4405
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.

Tagesordnungspunkt 8 f: Beschlussempfehlung des
gleichen Ausschusses zu dem Antrag der FDP-Fraktion
mit dem Titel „Menschenrechte in der Volksrepublik
China einfordern“ auf Drucksache 15/4402. Der Aus-
schuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition mehrheit-
lich angenommen.

Tagesordnungspunkt 8 g: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/5040 zu dem Antrag der CDU/CSU-
Fraktion mit dem Titel „Presse- und Meinungsfreiheit im
Internet weltweit durchsetzen – Journalisten, Menschen-
rechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schüt-
zen“ auf Drucksache 15/3709. Der Ausschuss empfiehlt,
diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich der Stimme? – Mit Mehrheit ist die Beschluss-
empfehlung angenommen.

Tagesordnungspunkt 8 h: Hier wird interfraktionell
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4946
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das
sieht so aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (12. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Renate Gradistanac,
Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-
ten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Kinder und Jugendliche wirksam vor sexuel-
ler Gewalt und Ausbeutung schützen
– Drucksachen 15/3211, 15/4553 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Michaela Noll
Ekin Deligöz
Klaus Haupt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.


(Unruhe)

– Es wäre schön, wenn diejenigen, die sich nun wegen
anderer wichtiger Termine an der Debatte zu diesem Ta-
gesordnungspunkt nicht beteiligen können oder wollen,
ihre dringenden Staatsgespräche außerhalb des Plenar-
saales fortsetzen würden.


(Nicolette Kressl [SPD]: Staatsgespräche gehören hierher!)


Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zu-
nächst die Kollegin Gradistanac für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Renate Gradistanac (SPD):
Rede ID: ID1516606500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Aktionsplan der Bundesregierung zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung wurde beispielhaft umgesetzt,
auch bei mir im Schwarzwald. Die Kampagne „Hinse-
hen. Handeln. Helfen!“ hatte das Ziel, das Bewusstsein
dafür zu schaffen, dass jede und jeder etwas gegen
sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen tun kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das fiel auch in meinem Landkreis Calw auf fruchtbaren
Boden. Auf Initiative eines Arbeitskreises gegen
sexuelle Gewalt und mit vorbildlicher Unterstützung des
Landrats wird eine Anlaufstelle für sexuell ausgebeutete
Kinder aufgebaut. In Zeiten, da bundesweit soziale






(A) (C)



(B) (D)


Renate Gradistanac

Einrichtungen gefährdet sind, freut es mich ganz beson-
ders, wenn es gelingt, Verbündete für dieses Thema zu
gewinnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Werte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe sehr, dass es
auch in Ihrer Heimat solch gute Beispiele gibt.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Nun also gilt es – das ist das Ziel des Antrags von

SPD und Bündnis 90/Die Grünen –, den Aktionsplan
stetig weiterzuentwickeln. Die kommerzielle sexuelle
Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist leider
– ich betone: leider – global ein Wachstumsmarkt. Das
kann man nicht nur im Internet beobachten. Ich verweise
hierzu auf die aktuelle Ausgabe der „Vogue Deutsch-
land“ vom März 2005. Schon lange handelt es sich nicht
mehr um ein individuelles Problem einzelner Täter oder
einzelner Ausbeuter von Kindern, es gibt eindeutig
kriminelle Strukturen. Darum fordern wir unsere Bun-
desregierung eindringlich auf: Sexuelle Ausbeutung von
Kindern und Jugendlichen muss strafrechtlich so ver-
folgt werden wie Delikte der organisierten Kriminalität.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sonderzuständigkeiten, erweiterte Ermittlungsbefug-
nisse und Zeuginnen- und Zeugenschutzprogramme
könnten dann angewandt werden. Prüfen Sie den Einsatz
weiterer Verbindungsbeamter in den Herkunftsländern
der Kinder und setzen Sie das dann auch bitte durch!

Das Auswärtige Amt muss zu diesem Thema dauer-
haft Aus- und Fortbildung betreiben.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das sieht man beim Thema Bulgarien!)


Es gilt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Aus-
landsvertretungen zu sensibilisieren und eine entspre-
chende Handreichung für den Einsatz zu entwickeln.
Wir gehen davon aus, dass die Not der sexuell ausgebeu-
teten Kinder in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes
Eingang finden wird


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Die Bundesregierung hat doch pädophile Aktionen erst möglich gemacht!)


und dass auch die Erkenntnisse der NGOs einbezogen
werden. Weltweit muss es einfach selbstverständlich
sein, dass das Kindeswohl Vorrang hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Die Visapraxis der Bundesregierung sagt etwas ganz anderes! Siehe Bulgarien!)


Die internationale Tourismuswirtschaft hat sich in
einem Verhaltenskodex zu ihrer Sozialverantwortung
bekannt. Ich gehe davon aus, dass sich auch die deutsche
Tourismuswirtschaft, die weltweit Marktführer ist, ihrer
Verantwortung bewusst ist. Umso erstaunlicher ist es,
dass sich kein Vertreter der deutschen Tourismuswirt-
schaft an einer Podiumsdiskussion anlässlich der inter-
nationalen Messe „Reisepavillon“ im Februar 2005 be-
teiligt hat. Einspringen musste der Präsident des
Österreichischen Vereins für Touristik. Er vertrat auf
dem Podium die Auffassung, dass ein verantwortungs-
bewusster Tourismus ohne Ethik mittelfristig nicht vor-
stellbar sei.

Die in den Chefetagen der Tourismuswirtschaft weit
verbreitete Meinung, dass der engagierte Einsatz gegen
die Ausbeutung von Kindern das Image schädige, ist
nicht nur widerlegbar, sondern auch hasenfüßig. Sabine
Minninger hat in einer beachtenswerten Diplomarbeit,
die nicht den Anspruch erhebt, repräsentativ zu sein,
festgestellt, dass fast drei Viertel der Befragten bei der
Buchung einer Reise einen Veranstalter bevorzugen wür-
den, der sich für den Schutz von Kindern einsetzt.
96 Prozent aller Befragten, so hat sie recherchiert, sind
der Meinung, dass die Tourismusbranche Reisende über
das Problem informieren sollte. Tourism Watch und die
Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen stellen in
der aktuellen – repräsentativen – Reiseanalyse 2005 fest:
39 Prozent der Befragten wünschen sich: Ja, die Reise-
branche sollte mehr für den Schutz von Kindern vor se-
xueller Ausbeutung durch Touristen tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Abschließend danke ich an dieser Stelle allen, die sich
unermüdlich für den Schutz von Kindern und Jugendli-
chen vor sexueller Ausbeutung einsetzen – national wie
international; das ist eine schwere Arbeit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516606600

Das Wort hat nun die Kollegin Angela Schmid, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Angela Schmid (CDU):
Rede ID: ID1516606700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Kinder sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesell-
schaft. Sie bedürfen daher unseres besonderen Schutzes.
Gleichwohl ist in den vergangenen Jahren eine Reihe
von schweren Sexualtaten bekannt geworden, die uns
alle schockierten.

Zu den abscheulichsten dieser Verbrechen gehört der
sexuelle Missbrauch von Kindern. Allein im Jahr 2002
hat die Polizei rund 16 000 Kinder als Opfer sexuellen
Missbrauchs registriert. Die Dunkelziffer liegt nach Ein-
schätzung von Fachleuten um ein Vielfaches höher.
Demnach sollen in Deutschland schätzungsweise
200 000 Kinder missbraucht werden. Diese Zahlen ma-
chen deutlich, dass das, was wir bisher getan haben,
nicht ausreichend war. Sie zwingen uns weiterhin zum
Handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Angela Schmid

Mit dem vorliegenden Antrag wird eine umfassende

Strategie zur wirkungsvollen und nachhaltigen Bekämp-
fung von sexueller Gewalt gegen Kinder gefordert. Ich
denke, in dieser Zielsetzung sind wir uns alle einig.
Auch wir wollen den strafrechtlichen Schutz von Kin-
dern und Jugendlichen verbessern und weiterentwickeln,
Prävention und Opferschutz stärken, die Hilfs- und Be-
treuungsangebote vernetzen und die internationale Zu-
sammenarbeit fördern.

Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Le-
gislaturperiode den Antrag „Gegen die sexuelle Ausbeu-
tung und den Missbrauch von Kindern“ eingebracht, der
sehr viele konkrete Forderungen enthält. Sie, meine Da-
men und Herren der Regierungskoalition, haben ihn sei-
nerzeit leider abgelehnt, weil er in vielen Punkten über-
holt sei.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir einen besseren haben!)


Umso erstaunlicher ist es, dass jetzt, zweieinhalb Jahre
später, inhaltlich fast genau die gleichen Forderungen
wieder aufs Papier gebracht wurden.


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Allerdings sind die Forderungen in Ihrem Antrag sehr
vage und allgemein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das sind wir von RotGrün ja gewöhnt!)


Konkrete gesetzliche Regelungen werden nicht gefor-
dert.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie ihn mal richtig lesen!)


– Frau Deligöz, in vielen Bereichen bleiben Sie mit Ih-
rem Antrag hinter unseren Forderungen zurück. Ich will
dies an einigen Beispielen verdeutlichen.

Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein durch
nichts zu rechtfertigendes Verbrechen. Das stellt auch
die Bundesregierung in ihrem „Nationalen Aktionsplan
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung“ fest.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch richtig!)


So selbstverständlich diese Erkenntnis auch ist, so wenig
hat sie bislang Eingang ins deutsche Strafgesetzbuch
gefunden. Auch nach der neuesten Reform des Sexual-
strafrechts durch die Bundesregierung ist der sexuelle
Missbrauch von Kindern nur ein Vergehen. Die Fraktion
von CDU und CSU fordert seit langem, hier ein eindeu-
tiges Zeichen zu setzen, um diese Taten der schlimmsten
Art endlich als ein Verbrechen zu brandmarken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das stand in unserem Jugendschutzantrag!)


– Genau, das haben wir auch in unserem Jugendschutz-
antrag dargelegt.
Die Verwerflichkeit dieser Gewalttaten muss im
Strafmaß deutlich zum Ausdruck kommen. Die ange-
drohten Strafen bei sexuellem Missbrauch von Kindern
sind daher nochmals zu verschärfen, und zwar dahin ge-
hend, dass nach deutschem Recht auch der Versuch eines
solchen Missbrauchs an Kindern strafbar ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zudem besteht ein wesentliches Defizit der geltenden

Rechtslage darin, dass Taten, mit denen pädophile Perso-
nen Kontakte mit Kindern knüpfen können, nicht zurei-
chend erfasst werden. So genannte Chaträume oder ähn-
liche Einrichtungen bieten für interessierte Personen ein
weltweites Forum zur Planung und Verabredung dieser
Straftaten. Mit unserem „Gesetzentwurf zur Verbesse-
rung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbre-
chen und anderen schweren Straftaten“ haben wir gefor-
dert, dass sowohl der sexuelle Missbrauch als auch
schon die Anbahnung von solchen Kontakten als Verbre-
chen eingestuft werden. Das haben Sie bis heute jedoch
abgelehnt. Insofern sind Ihre Strafverschärfungen im Se-
xualstrafrecht wohl eher als halbherzig zu bezeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch die DNA-Analyse wird im Strafverfahren künf-

tig nicht so konsequent wie möglich und nötig genutzt.
So kann beispielsweise einem Exhibitionisten der gene-
tische Fingerabdruck weiterhin nicht abverlangt werden,
selbst wenn zu befürchten ist, dass der Betreffende künf-
tig schwerwiegendere Straftaten verübt.


(Jörg Tauss [SPD]: Stimmt nicht!)

– Sie kommen doch auch aus Stuttgart, Herr Tauss. In-
formieren Sie sich einmal vor Ort. Es ist überhaupt kein
Problem, das statistisch nachzuweisen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ich wollte Sie gerade informieren! – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Er hat zu jeder Sache etwas zu sagen!)


– So ist es. – Es ist bewiesen, dass solche vermeintlich
harmlosen Straftaten oft der Einstieg in eine Täterkarri-
ere sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Informieren Sie sich einfach mal!)


Ebenso haben wir seit 2001 die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung gefordert, gegen die sich Ihre Koali-
tion immer ausgesprochen hat. Unser Ziel war es, eine
Handhabe gegen solche Sexualstraftäter zu schaffen, bei
denen die Gefahr weiterer schwerer Straftaten erst wäh-
rend des Strafvollzugs festgestellt wird. Erst durch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr
2004 hat sich die Regierungskoalition bewegt. So haben
Sie unnötig viel Zeit verloren.

Ich möchte noch eine weitere kritische Äußerung zum
Opferschutz machen. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag
unter anderem auf die massiv traumatisierten Kinder, die
häufig nicht in der Lage sind, eigene Interessen und Be-
dürfnisse wahrzunehmen. Ihr Antrag zielt darauf ab, sexu-
ell missbrauchte Kinder nicht nur als Subjekt des Gesche-
hens anzuerkennen, sondern auch durch Institutionen zu
schützen und aufzufangen. Wenn dem aber so ist, dann






(A) (C)



(B) (D)


Angela Schmid

sei an dieser Stelle die Frage gestattet, warum Sie unse-
rer Forderung, das Mainzer Modell im Strafverfahren
einzuführen, nicht gefolgt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Befragungen von Opferzeugen zeigen, dass mehr als

die Hälfte der Zeugen die Auswirkungen eines Prozesses
als negativ empfinden. Sie leiden noch Monate nach der
Tat unter einer Schwächung ihres Selbstwertgefühls und
nehmen sich in der Prozesssituation als schwach und un-
sicher wahr. Für die Kinderopfer muss eine solche Pro-
zesssituation noch weit schlimmer sein. Unser Anliegen
war es, kindliche Opfer von Sexualverbrechen in einem
gesonderten Raum durch den Vorsitzenden vernehmen
zu können. Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag
hätte ein deutliches Signal für mehr kindlichen Opfer-
schutz im Strafverfahren bedeutet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir alle wissen: Für die Opfer hat der Missbrauch

schwerwiegende Folgen für Körper und Seele. Sie leiden
meist ein Leben lang unter den Folgen des ihnen zuge-
fügten Leids. Das Strickmuster ist dabei immer gleich:
Die Täter setzen die Opfer mit Drohungen unter Ge-
heimhaltungsdruck und haben so die Möglichkeit, den
Missbrauch oftmals über Jahre hinweg unentdeckt fort-
zuführen. Sexueller Missbrauch ist in den seltensten Fäl-
len ein einmaliges Verbrechen. Aus diesem Grunde sind
Kinder- und Jugendtelefone als erste Anlaufstelle für
die Opfer sexueller Gewalt besonders wichtig.


(Jörg Tauss [SPD]: Die streicht ihr gerade!)

Derzeit gibt es bundesweit 95 solcher Kinder- und
Jugendtelefone. Seit 1998 sind lediglich 15 neue hinzu-
gekommen. Wir müssen den Ausbau von solchen Be-
treuungs- und Beratungsangeboten in Deutschland unbe-
dingt vorantreiben.

Kinder werden von Deutschen jedoch nicht nur im In-
land, sondern auch im Ausland sexuell missbraucht.
Nach Schätzungen von Terre des hommes beträgt die
Zahl der deutschen Sextouristen jährlich circa 10 000.
Kindersextouristen nutzen die Existenznöte der Kinder
und ihrer Familien skrupellos aus. Ein besonders wichti-
ger Aspekt bei der Bekämpfung von Sextourismus und
Kinderprostitution ist daher die stärkere und langfristi-
gere Beteiligung der Reisebranche an Präventionsaktio-
nen und Informationskampagnen. Wir begrüßen es daher
sehr, dass der Deutsche Reisebüro- und Reiseveranstal-
ter-Verband und verschiedene andere Organisationen ei-
nen Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern vor sexu-
eller Ausbeutung vereinbart haben. Die Umsetzung
dieses Verhaltenskodexes muss unbedingt weiter voran-
gebracht werden. Sie haben hier unsere volle Unterstüt-
zung.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Sexueller Missbrauch von Kindern wird zunehmend
zu einem grenzüberschreitenden Problem. Dieser Antrag
geht deshalb in die richtige Richtung. Ein wirksamer
Schutz ist nur durch internationale Zusammenarbeit aller
beteiligten Länder möglich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Haupt [FDP])


Ich darf insoweit erneut auf unseren Antrag „Gegen
die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kin-
dern“ aus der letzten Legislaturperiode verweisen. Auch
er sah vor, die Ausbeutung von Kindern im internationa-
len Rahmen zu bekämpfen. Leider haben Sie, meine Da-
men und Herren der Regierungskoalition, diesen Antrag
abgelehnt.

Festzuhalten bleibt: Der vorliegende Antrag ist ein
gutes Signal. Er geht in die richtige Richtung, aber er
bleibt in vielen Bereichen hinter unseren Forderungen
zurück.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516606800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz,

Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516606900

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten und ha-
ben eigene Rechte. Sie brauchen unseren Schutz und un-
sere Unterstützung; denn sie sollen in dieser Gesellschaft
ohne Gewalt und ohne sexuelle Übergriffe aufwachsen
können. Deshalb haben wir, Rot-Grün, das Recht auf ge-
waltfreie Erziehung gesetzlich verankert und deshalb ha-
ben wir ein Leitbild der Erziehung formuliert, wonach
seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erzie-
hungsmaßnahmen in diesem Land unzulässig sind. Lei-
der, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
haben wir von Ihrer Fraktion keine Unterstützung dafür
bekommen. Das bedauere ich heute noch.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen starke Kinder und nicht harte Gesetze!)


Das Schlimme ist, dass wir immer wieder betonen
müssen: Erziehung in diesem Land mag Elternsache
sein, aber Gewalt ist es nicht. Gewalt, egal wie und wo-
her, verletzt die Würde des Kindes.

Das Schlimme an dem sexuellen Missbrauch ist, dass
ein Großteil der Täter aus dem unmittelbaren Nahbe-
reich des Kindes kommt. Manche Statistiken sprechen
davon, dass 90 Prozent der Täter aus dem Bereich der
Verwandten, der Freunde und der vertrauten Menschen
aus dem unmittelbaren Nahbereich kommen. Unsere
Antwort darauf muss sein, dass wir Kinder stark machen


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und Erwachsene sensibel und aufmerksam machen, da-
mit sexuelle Gewalt von Anfang an keine Chance hat.
Wir wissen, dass laut Statistik 15 000 Fälle jährlich er-
fasst werden. Wir wissen aber gleichzeitig, dass die
Dunkelziffer in diesem Land um einiges höher ist als
diese 15 000 Fälle.

Diese Kinder leiden meist ein Leben lang unter trau-
matischen Folgen. Die Mädchen und Jungen fühlen sich






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz

schuldig, sie schämen sich für das Geschehen und wol-
len vielleicht sogar ihre Verwandten, Freunde, Brüder,
Geschwister und Väter schützen. Der Geheimhaltungs-
druck ist eine ständige Belastung. Die Kinder sind einge-
schüchtert durch Drohungen, sie haben Angst und sie le-
ben in Unsicherheit, dass das immer wieder passiert. Von
einer unbeschwerten Kindheit kann keine Rede sein. Sie
können vor allem kein Vertrauen fassen.

Gerade deshalb müssen wir alles tun, um unsere Kin-
der davor zu schützen. Gerade deshalb brauchen diese
Opfer Hilfe und Unterstützung. Das Kindeswohl muss
für uns bei allem, was wir tun, Vorrang haben.

Wir müssen auch die Täter konsequent verfolgen und
bestrafen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber, Frau Kollegin Schmid, an dieser Stelle muss ich
sagen: Wir müssen die Strafgesetze konsequent anwen-
den. Glauben Sie aber, dass man durch die Verschär-
fung des bestehenden Strafrechts – Kindesmissbrauch
ist eine Straftat in Deutschland – ein einziges Kind vor
Missbrauch schützt oder vor einem sexuellen Übergriff
rettet?


(Angela Schmid [CDU/CSU]: Das glauben wir!)


Ist das die Antwort? Ich sage Nein. Wir müssen auf un-
sere Kinder setzen und unsere Kinder stark machen.


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Auch das, aber das allein genügt nicht!)


Wir müssen präventiv herangehen und niedrigschwel-
lige Angebote unterbreiten. Strafrecht allein ist mir zu
wenig. Das ist mir nicht weitreichend genug.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Scheuer [CDU/ CSU]: Warum schließt das eine das andere aus?)


Die Übergriffe dürfen erst gar nicht stattfinden. Ich will
sie nicht verfolgen, sondern ich will, dass sie überhaupt
nicht stattfinden.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Starke Kinder und starke Gesetze, mehr wollen wir nicht!)


Es geht um Prävention, um Intervention und darum, Kin-
der in dieser Gesellschaft aufzuklären. Es geht auch um
die Multiplikatoren, die Polizei und die Justiz, Touris-
mus, Eltern und Kinder, um die Nachbarschaft, Freunde,
Lehrer und Erzieher. Es geht darum, dass wir in unserer
Gesellschaft füreinander Verantwortung übernehmen.

Deshalb fordern wir die niedrigschwelligen Angebote
wie Kinder- und Jugendtelefone. Wir wollen ein Infor-
mationszentrum zu Kindesmissbrauch. Wir wissen, dass
wir relativ wenig wissen, und deshalb wollen wir mehr
wissen, auch über die Täter, um unsere Kinder möglichst
gut vor ihnen zu schützen. Wir wollen regionale Netz-
werke, die es schon gibt. Meine Kollegin hat ein Beispiel
genannt.
Einen Punkt haben wir schon konsequent umgesetzt,
nämlich den Rahmenbeschluss Menschenhandel. Die
entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches sind
mittlerweile erarbeitet worden und am 19. Februar die-
ses Jahres in Kraft getreten. Denn wir nehmen das
Thema ernst und wollen Kinder und Jugendliche besser
vor sexueller Ausbeutung schützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Scheuer [CDU/ CSU]: Was sagen Sie denn zu dem Fall in Bulgarien, wo Pädophile Kinder nach Deutschland geholt haben?)


Die Familie sollte für alle Kinder ein Ort der Vertraut-
heit sein. Unsere Kinder sollten in dieser Gesellschaft
selbstbewusst aufwachsen können. Es geht darum, ihnen
Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Wir müssen ge-
meinsam daran arbeiten. Ich glaube, das Thema sollte
nicht nach parteipolitischen Interessen behandelt wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich wünschte mir, dass Sie heute den Mut aufbringen,
unserem Antrag zuzustimmen, statt lediglich festzustel-
len – auch wenn es gut gemeint ist –, dass nicht nur hin-
sichtlich der Ideologie eines verschärften Strafrechts,
sondern auch für die Kinder etwas getan werden muss.


(Angela Schmid [CDU/CSU]: Das eine schließt das andere nicht aus!)


Es geht um unsere Kinder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516607000

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDP-

Fraktion.

(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Der um reißt das Thema in drei Minuten!)


Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1516607100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

glaube, wir sind uns darin einig, dass sexueller Miss-
brauch von Kindern zu den abscheulichsten Verbrechen
gehört. Gegen die Scheußlichkeit solcher Untaten muss
alles Erdenkliche getan werden, um Kinder vor unvor-
stellbarer Erniedrigung, Demütigung und Qual zu be-
wahren.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Deutschland – Frau Kollegin Schmid hat schon
darauf hingewiesen – werden laut Polizeilicher Krimi-
nalstatistik jährlich etwa 20 000 Kinder Opfer sexueller
Übergriffe. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs; die
Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Nach repräsen-
tativen Erhebungen sind 8,6 Prozent der Mädchen und
2,8 Prozent der Jungen im Laufe ihres Lebens Opfer
sexueller Übergriffe geworden.

Ein Großteil dieser Taten kommt nicht zur Anzeige.
Zugleich ist das Engagement gegen diese Taten stark auf






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Haupt

die bekannten, rechtskräftig verurteilten Straftäter fokus-
siert. Damit bleibt ein Großteil des Problems verborgen,
ungelöst und ungesühnt.

Bekämpfungsstrategien können nur dann nachhaltig
wirksam sein, wenn sie auf Zivilcourage setzen und das
in unserer Gesellschaft leider übliche Wegschauen ein
Ende hat. Dazu kann und muss die Politik einen wichti-
gen Beitrag leisten.

Wichtige politische Aufgaben sind unter anderem:
präventive Maßnahmen auszubauen und einzubetten in
ein Netz ausreichender Hilfsangebote – das heißt die
stärkere Verzahnung von Prävention und Intervention –;


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

den Opferschutz und Zeugenschutz für Kinder im Straf-
verfahren zu verbessern und auch deren Familien einzu-
beziehen; die Möglichkeit der Opferhilfe für die Kinder
zu verbessern sowie effektivere opfer- und täterbezo-
gene Präventionsmaßnahmen zu realisieren. Ich glaube,
wir sind uns auch darin einig, das besondere Informa-
tionsmaßnahmen zur weiteren Sensibilisierung der brei-
ten Öffentlichkeit über sexuellen Missbrauch, sein We-
sen und seine verheerenden Folgen wichtig sind.

Viele Missbrauchsfälle könnten verhindert werden,
wenn sexuelle Übergriffe nicht übersehen oder bagatelli-
siert, sondern wahrgenommen und angezeigt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dazu gehört auch die altersgerechte Aufklärung der
Kinder über die Gefahren sexueller Ausbeutung. Im
Rahmen der Lehrpläne an den Schulen muss über die
Gefahren des Missbrauchs, aber auch über die Möglich-
keiten, sich dagegen zu wehren, aufgeklärt werden. Von
zentraler Bedeutung ist auch die Verbesserung der Aus-
und Weiterbildung derjenigen, die beruflich mit Kindern
zu tun haben, damit diese Personen Fälle von sexueller
Ausbeutung erkennen und rechtzeitig die notwendigen
Maßnahmen ergreifen können.

Es ist zu begrüßen, dass vorgestern 60 Reiseveran-
stalter in Tokio einen von UNICEF ausgearbeiteten
Verhaltenskodex gegen die sexuelle Ausbeutung von
Kindern unterzeichnet haben. Der Kindersextourismus
erfordert eine besondere, ressortübergreifende Bekämp-
fungsstrategie, die zudem auch die unterschiedlichen
Länder und Regionen einbezieht. Auch diese Bekämp-
fungsstrategie muss sowohl den Täterbereich als auch
den Opferbereich berücksichtigen. Abschreckung und
Strafe, aber auch Prävention, Information und Hilfe sind
hier notwendig.

Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch fügen
Kindern schwersten Schaden an Leib und Seele zu. Die
seelischen und womöglich auch die körperlichen Narben
bleiben lebenslang bestehen. Das Grundvertrauen der
betroffenen Kinder in andere Menschen wird zerstört.

Es ist eine Herausforderung an die ganze Gesell-
schaft, diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein
Ende zu setzen.

Danke.

(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516607200

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die

Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1516607300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

Erwachsene sind für das Wohlergehen der Kinder in un-
serer Gesellschaft verantwortlich. Wir wollen – zumin-
dest haben wir das in unserer Gesellschaft gemeinsam
beschlossen –, dass sie unbeschadet aufwachsen können.
Wir wollen sie vor Unheil schützen.

Eine besonders abscheuliche Form des Unheils sind
die sexuelle Gewalt und Ausbeutung. Es handelt sich da-
bei nicht um eine Naturgewalt, gegen die man machtlos
ist, oder ein Kavaliersdelikt, das man sich verzeiht. Nein,
sexuelle Gewalt und Ausbeutung fügen Kindern die
schlimmsten Verletzungen zu.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind bewusst geplant und sorgfältig vorbereitet. Zwei
Drittel der überwiegend männlichen Täter kommt aus
dem sozialen Umfeld. Es sind Verwandte und Bekannte,
also Väter, Stiefväter, Brüder, Onkel und Opas. Für die
betroffenen Kinder ist es extrem schlimm, genau dort
damit umgehen zu müssen. Die Opfer, die Kinder, haben
meistens unter schwerwiegenden seelischen und körper-
lichen Folgen zu leiden. Nicht wenige haben ihr Leben
lang daran zu tragen und werden es nicht los.

Mein Kollege Haupt hat schon gesagt, dass die Poli-
zeiliche Kriminalstatistik 2003 rund 20 000 angezeigte
Delikte ausweist, bei denen es um Kinder als Opfer se-
xueller Übergriffe geht. Wir wissen aber, dass die Dun-
kelziffer weitaus höher liegt. Deshalb ist es Aufgabe al-
ler hier, nicht nur der Kinderpolitikerinnen und
Kinderpolitiker, und draußen in der Gesellschaft – ich
würde mich sehr freuen, wenn sich die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition entschließen könnten, un-
seren Antrag zu unterstützen –, sexuelle Gewalt und
Ausbeutung durch eine umfassende Strategie zu be-
kämpfen. Genauso versteht sich unser Antrag. Er sieht
eine Gesamtstrategie gegen sexuelle Gewalt und Aus-
beutung vor.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben in den letzten Jahren Erfolge verzeichnen
können. Wir haben auch an den Konferenzen in Stock-
holm und Yokohama aktiv teilgenommen. Wir haben
zwei Aktionsprogramme umgesetzt, das letzte 2003, den
Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
vor sexueller Gewalt. Darauf bezieht sich unser gemein-
samer Antrag.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Aktionsplan umfasst vier Felder. Das eine ist der
strafrechtliche Teil. Im Strafrecht haben wir reformiert.






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


Es ist daher unfair, zu sagen, dort sei nichts geschehen.
Aber es spiegelte eine nicht vorhandene Sicherheit vor,
wenn wir die Strafen zunehmend verschärften.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn wenn es stimmte, dass schärfere Strafen helfen,
dann dürfte in den USA keine einzige Straftat in diesem
Bereich passieren. Dort gilt nämlich die Todesstrafe, das
heißt, die Straftat ist mit der Höchststrafe bewehrt.

Wir bekennen uns in der EU dazu, dass wir die Todes-
strafe nicht wollen. Aber auch die Todesstrafe kann nicht
verhindern, dass jemand zum Straftäter wird und eine
solche Straftat begeht. Deshalb ist es wichtig, dort, wo es
notwendig ist, Strafverschärfungen vorzunehmen – das
haben wir getan – und alle anderen Bedingungen zu ver-
bessern: Opferschutz, Prävention, die Effektivierung der
internationalen Zusammenarbeit und Strafverfolgung so-
wie die Vernetzung aller, die mit Kindern arbeiten und
zum Schutz der Kinder da sind. Das muss unser Anlie-
gen sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will, dass solche Taten erst gar nicht geschehen.
Ich will, dass sie so weit wie möglich verhindert werden.
Dazu hat die Kampagne „Hinsehen. Handeln. Helfen!“
im letzten Jahr beigetragen. Mit dieser Kampagne haben
wir versucht, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sen-
sibilisieren. Ich denke, das ist gelungen. Auch der Ratge-
ber „Mutig fragen – besonnen handeln“ geht genau da-
rauf ein.

Ich will noch auf die grenzüberschreitende sexuelle
Gewalt gegen Kinder eingehen, Stichwort: deutsch-
tschechische Grenze. Das Thema Opfer ist hoch sensi-
bel, weil es sich bei den Opfern häufig um Minderheiten
in diesem Land handelt. Aber wir vergessen dabei, die
Täter unter die Lupe zu nehmen. Unser Blick ist sehr
häufig zu opferzentriert. Wir brauchen die optimale Zu-
sammenarbeit. Dafür hat sich bereits 2002 eine Arbeits-
gruppe unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisa-
tionen gebildet. Es ist äußerst schwierig und sensibel, für
eine Verbesserung zu sorgen. Dabei spielen die für die
Polizei zuständigen Länder und der Bundesgrenzschutz
eine wichtige Rolle. Sie alle versuchen gemeinsam, die
Täter zu verfolgen. Die jetzige Rechtslage erlaubt be-
reits, die Täter da zu verfolgen, wo sie wohnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben bereits Maßnahmen ergriffen. Bei einigen
Maßnahmen sind wir dabei, sie umzusetzen. Ich erinnere
an die Bund/Länder-Koordinierungsgruppe zur Umset-
zung des nationalen Aktionsplans – als Kinderbeauf-
tragte bzw. als Mitglied der Kinderkommission gehöre
ich ihr an –; auch sie trägt dazu bei, dass auf diesem Ge-
biet ständig weitergearbeitet wird.

Wir waren uns einig – das haben alle Redebeiträge
gezeigt –: Sexuelle Gewalt muss grundsätzlich gesell-
schaftlich geächtet sein. Da gibt es keine Toleranzzone,
keine Grauzone, die offen lässt, was noch erlaubt ist und
was nicht. Gesetze können nur Krücken sein. Noch im-
mer erleben zu viele Kinder sexuelle Gewalt. Aber Kin-
der haben ein Recht, ohne Gewalt und ohne Missbrauch
aufwachsen zu können. Wir haben ihre eigenständige
Persönlichkeit und Würde zu respektieren. Das sage ich
als Kinderbeauftragte, die sich eigentlich längst mit Se-
niorenpolitik beschäftigen müsste. Es kann in diesem
Parlament und außerhalb von ihm nämlich niemals zu
viele Menschen geben, die sich mit Kinderbelangen und
vor allem mit dem Schutz von Kindern beschäftigen.

Ich rufe Sie alle auf: Machen Sie mit! Das Wert-
vollste, was wir haben, sind unsere Kinder. Die Weltkon-
ferenz in New York hat festgestellt: Kinder sind die Ge-
genwart, nicht erst die Zukunft. Wir müssen dafür
sorgen, dass sie gut aufwachsen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516607400

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-

schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 15/4553 zum Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt
und Ausbeutung schützen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/3211 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Diese Be-
schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Rachel, Dr. Maria Böhmer, Hubert Hüppe, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Forschungsförderung der Europäischen Union
unter Respektierung ethischer und verfas-
sungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten
– Drucksache 15/4934 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hierüber soll nach einer interfraktionellen Ver-
einbarung eine halbe Stunde diskutiert werden. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1516607500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Zum wiederholten Male diskutieren wir im
Deutschen Bundestag das Thema der embryonalen






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Rachel

Stammzellforschung. Bereits im Jahr 2002 wurde ein
wegweisender Beschluss gefasst. Dieser über Fraktions-
grenzen hinaus getroffene Beschluss war eine bio-
ethische Richtungsentscheidung. Der Bundestag hat
eindeutig festgestellt, dass die Zerstörung eines Embryos
zur Herstellung embryonaler Stammzellen gegen die
Menschenwürde des Embryos und dessen Recht auf
Leben verstößt. Daher wurde die Förderfähigkeit von
Projekten der Stammzellforschung auf bestehende
Stammzelllinien beschränkt, die bereits vor dem 1. Ja-
nuar 2002 gewonnen wurden.

Diese Entscheidung des Bundestages hatte auch Aus-
wirkungen auf die Europäische Union, denn auf Bitten
mehrerer EU-Staaten hat die EU ein Moratorium be-
schlossen, demzufolge bis zum Ende des Jahres 2003
keine Vorhaben finanziert werden, bei denen menschli-
che Embryonen verwendet werden sollen.

Darüber hinaus hat der Bundestag im Oktober 2003
an die EU-Kommission appelliert, auch nach 2003 von
der Förderung verbrauchender Embryonenforschung
Abstand zu nehmen. Leider sind die entsprechenden
Verhandlungen auf EU-Ebene über eine mögliche Ver-
längerung dieses Moratoriums gescheitert. Der Bundes-
regierung ist es bislang nicht gelungen, auf EU-Ebene
eine Lösung zu erwirken, die der deutschen Rechtslage
entspricht und die die Menschenwürde der Embryos res-
pektiert.

Nach dem Abbruch der Verhandlungen auf EU-Ebene
ist jetzt zu befürchten, dass im 7. EU-Forschungs-
rahmenprogramm, welches ab 2007 gelten soll, keine
Restriktionen mehr für die Finanzierung von verbrau-
chender Embryonenforschung vorgesehen sein werden.
Dies ist eine Entwicklung, die wir nicht widerspruchslos
hinnehmen dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrike Flach [FDP]: Das sollten Sie aber!)


Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn in man-
chen Mitgliedstaaten der EU andere Regelungen als bei
uns gelten, so besteht in Deutschland kein Bedarf an ei-
ner Revidierung der Entscheidung von 2002. Die Um-
stände haben sich nicht geändert, die ethische Bewer-
tung eines Embryos in Deutschland war nicht von der
Entwicklung der Gesetzgebung in den Nachbarländern
abhängig und darf es auch nicht werden. Daher muss
sich der Deutsche Bundestag strikt dagegen wenden,
dass zukünftig Forschungsvorhaben der Stammzellfor-
schung mit europäischen und damit letztlich auch deut-
schen Mitteln gefördert werden, zumal wenn dieser For-
schungsweg nach deutschem Recht sogar eine Straftat
darstellt.

Die gemeinsame Forschungsförderung ist ein Eck-
pfeiler der Zusammenarbeit in Europa und unverzichtbar
für Innovation und wirtschaftliche Entwicklung in der
EU. Sie muss daher auch im Bereich der Bioethik im
Einklang mit den grundlegenden Verfassungsgrundsät-
zen der Mitgliedstaaten stehen. Hier gibt es den Mehr-
heitsbeschluss des Deutschen Bundestages, dass ver-
brauchende Embryonenforschung gegen das Recht des
Embryos auf Leben verstößt und eine Instrumentalisie-
rung menschlichen Lebens darstellt, die eben von For-
schungszwecken nicht mehr gedeckt ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Wie sieht das denn die Frau Merkel?)


Es kann für eine breite Unterstützung und Akzeptanz der
dringend nötigen Forschungsprogramme der EU deshalb
nur schädlich sein, wenn diese am Maßstab des Grund-
gesetzes getroffene Werteentscheidung nicht respektiert
würde. Wir fordern daher die Bundesregierung nach-
drücklich auf, in den Verhandlungen auf EU-Ebene
dafür zu sorgen, dass sich dieser Respekt für das
menschliche Leben in den Richtlinien des 7. EU-For-
schungsrahmenprogramms niederschlägt.


(Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie irgendeinen entgegengesetzten Hinweis?)


Der Beschluss des Bundestages vom Januar 2002 hat
konkrete Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt. Dem-
nach dürfen nur die Forschungsvorhaben gefördert wer-
den, die bereits zu einem festen Stichtag existierten.
Auch in anderen Ländern wie den USA haben sich ent-
sprechende Stichtagsregelungen bewährt. Sie haben
auch die notwendige Grundlagenforschung in Deutsch-
land nicht beschädigt. Auch auf europäischer Ebene dür-
fen entsprechend dem heute vorliegenden Antrag der
CDU/CSU nur Forschungsvorhaben mit Stammzellli-
nien gefördert werden, die bereits zu einem festen Stich-
tag existierten.


(Jörg Tauss [SPD]: Steht im Gesetz!)

Das heißt, es könnte auch ein Stichtag sein, auf den sich
die Länder der Europäischen Union einigen. Es ist auf
jeden Fall ethisch nicht vertretbar, ab 2007 Projekte zu
fördern, für die menschliche Embryonen getötet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrike Flach [FDP]: Das tun die anderen Länder ja auch!)


Natürlich beinhaltet unsere Forderung nicht, dass wir
als Bundesrepublik Deutschland anderen Ländern unsere
Regelungen vorschreiben wollen.


(Ulrike Flach [FDP]: Was denn sonst?)

Natürlich können die im nationalen Rahmen ihre eigenen
Entscheidungen treffen. Im 7. Forschungsrahmenpro-
gramm der EU, welches die ethischen und verfassungs-
mäßigen Grundsätze aller Mitgliedstaaten berücksichti-
gen muss, ist jedoch eine Begrenzung unverzichtbar. Im
Übrigen ist es auch eine Frage der Chancengleichheit,
dass Forschungsarbeiten im Bereich der Biomedizin
nicht von der EU gefördert werden, sofern sich einzelne
Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Rechtsordnung nicht an
ihnen beteiligen können.

Das Europaparlament hat sich übrigens gerade in die-
sen Tagen mit einer Mehrheit von 307 zu 199 Stimmen
gegen die Förderung der verbrauchenden Embryonen-
forschung aus dem europäischen Haushalt ausgespro-
chen. Das entspricht genau unserem Antrag und dafür
setzen wir als CDU/CSU uns ein. Nach Meinung des Eu-
ropäischen Parlaments sollten die EU-Mittel stattdessen
auf viel versprechende Alternativen umgelenkt werden,






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Rachel

nämlich auf die adulte Stammzellforschung und auf die
Stammzellforschung im Bereich des Nabelschnurblutes.
Das ist genau der richtige Ansatz, den wir nachdrücklich
unterstützen.

Sehr geehrte Damen und Herren, das Konzept des
7. EU-Forschungsrahmenprogramms liegt in seinen kon-
kreten Ausführungen noch nicht auf dem Tisch. Das bie-
tet uns die Chance – und wir erwarten von der Bundes-
regierung, dass sie die Zeit nutzt –, dass wir uns
gemeinsam mit den anderen Staaten der EU, die die ver-
brauchende Embryonenforschung ablehnen, aktiv darum
bemühen, deren Förderung im EU-Forschungsrahmen-
programm zu verhindern. Eine Änderung des Stamm-
zellkompromisses, wie er hier im Deutschen Bundestag
beschlossen worden ist, praktisch durch die Hintertür
über die EU ist nicht akzeptabel und wird von uns abge-
lehnt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, das ist – das sage ich auch an
die hier zahlreich vertretenen Mitglieder der deutschen
Bundesregierung; man sieht daran, welchen Stellenwert
dieses Thema hat –


(Jörg Tauss [SPD]: Albern!)

nicht nur eine Frage des Embryonenschutzes, sondern es
geht auch darum, den erklärten Willen des Parlaments
zu respektieren.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516607600

Das Wort hat nun der Kollege René Röspel, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1516607700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Im Januar 2002 – Herr Rachel erwähnte es ein-
gangs – gab es im Deutschen Bundestag eine sehr große
fünfstündige Debatte über die Frage, ob an embryonalen
Stammzellen und an Embryonen in Deutschland ge-
forscht werden soll. Ein Journalist hat diese Debatte da-
mals – wie ich glaube, zu Recht – als Sternstunde des
Parlaments bezeichnet. Es standen damals drei unter-
schiedliche Anträge zur Wahl und die Mehrheit des
Deutschen Bundestages hat sich dafür entschieden, dass,
wie Margot von Renesse es einmal ausdrückte, für deut-
sche Forschung kein Embryo sterben solle. Es wurde
letztlich ein Kompromiss beschlossen, der im April 2002
im Stammzellimportgesetz seinen Ausdruck fand. Da-
nach darf in Deutschland an embryonalen Stamm-
zellen, die zu einem bestimmten Stichtag schon herge-
stellt waren, für die also kein neuer Embryo zerstört
werden musste, geforscht werden. Die deutsche Rechts-
und Gesetzeslage war damit seit dem Jahr 2002 klar.

Anders ist es auf europäischer Ebene. Dort gibt es das
6. EU-Forschungsrahmenprogramm – ein gutes Pro-
gramm. Als zentrales Instrument europäischer For-
schungsförderung sieht es die Zentralisierung, die Bün-
delung von Forschungsaktivitäten in Europa vor. Das ist
sinnvoll und vernünftig. Allerdings enthält dieses Pro-
gramm aus Sicht der Mehrheit des Bundestages auch das
Problem, dass mit diesen europäischen Mitteln eben
auch embryonale Stammzellforschung gefördert werden
kann und soll. Das hieße in der Konsequenz, dass mit
Geld, das unter anderem auch aus Deutschland stammt,
auf europäischer Ebene Projekte gefördert werden dürf-
ten, die nach deutscher Rechtslage nicht erlaubt, ja sogar
strafbar wären.

Wir haben deshalb im Januar 2002 gleichzeitig auch
beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, darauf
hinzuwirken – ich darf zitieren –,

dass auch auf europäischer Ebene bei den For-
schungsprojekten eine Beschränkung auf beste-
hende Stammzelllinien vorgenommen wird. Sie
wird aufgefordert, entsprechende Regeln für die
Stammzellforschung aus Mitteln der Europäischen
Union durchzusetzen.

Die Bundesregierung hat diesen Auftrag angenommen,
übrigens als einziges Land in der Europäischen Union,
und hat ihn sehr erfolgreich umgesetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will auch deutlich machen, dass der ehemalige
Parlamentarische Staatssekretär und jetzige Staatssekre-
tär Wolf-Michael Catenhusen großes Verhandlungsge-
schick bewiesen hat und auch erfolgreich war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Er hat es nämlich geschafft, innerhalb der Europäischen
Union ein Moratorium zu erreichen, durch das eine
Förderung von Forschung, die in Deutschland verboten
wäre, nicht stattfindet. Dieser Beschluss gilt auch weiter.

Allerdings hat sich bei den Rahmenbedingungen eini-
ges verändert. Wir haben in der Europäischen Union
zehn neue Mitgliedstaaten, deren Haltung noch nicht
klar ist. Wir haben mit Spanien und Portugal zwei Län-
der, die die Auffassung der Bundesregierung unterstützt
haben, bei denen aber die Regierung gewechselt hat und
jetzt eher eine andere Tendenz herrscht. Das heißt, die
Situation hat sich verändert; sie ist schwieriger gewor-
den.

Nicht verändert aber hat sich das Handeln der deut-
schen Bundesregierung,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


die entsprechend dem Auftrag, den wir ihr im
Januar 2002 erteilt haben, agiert und auf europäischer
Ebene versucht, dafür zu sorgen, dass keine Förderung
von embryonaler Stammzellforschung stattfindet bzw.
keine Embryonen zerstört werden. Das ist nicht einfach.
Die Schwierigkeit ist, dass in vielen europäischen Län-
dern eine andere Rechtslage herrscht. In Großbritannien
ist viel mehr erlaubt als nach deutschem Gesetz möglich.






(A) (C)



(B) (D)


René Röspel

Unsere Gesetzeslage wird sicherlich von der breiten
Mehrheit des Bundestages – es gibt ja in jeder Fraktion
unterschiedliche Positionen dazu; in fast jeder, bis auf
die FDP –


(Ulrike Flach [FDP]: Gott sei Dank, Herr Röspel!)


unterstützt.
Jetzt bringt die CDU/CSU einen Antrag ein, der im

Wesentlichen dem Antrag folgt, den wir im Juli 2003
quer durch alle Fraktionen hier beschlossen haben, und
der die Bundesregierung auffordert, ihr Handeln fortzu-
setzen. Wir haben es als rot-grüne Koalition nicht für nö-
tig gehalten, einen neuen Antrag zu stellen, weil wir se-
hen, dass das Verhalten der Bundesregierung weiterhin
im Sinne der Beschlusslage ist. Aber weil wir Ihren An-
trag inhaltlich im Wesentlichen unterstützen können


(Jörg Tauss [SPD]: Er ist überflüssig!)

– zumindest die Mehrheit unserer Fraktion; auch bei uns
gibt es unterschiedliche Positionen, das ist kein Geheim-
nis, entspricht aber guter demokratischer Gepflogen-
heit –, strecken wir unsere Hand aus und bieten Ihnen
an, im Rahmen des Ausschussverfahrens zu versuchen,
einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen, der die
Bundesregierung in Fortsetzung der mehrfach gefassten
Beschlüsse


(Jörg Tauss [SPD]: Ermuntert!)

– ermuntert – ermutigt und auffordert, sich auf europäi-
scher Ebene weiterhin dafür einzusetzen, dass embryo-
nale Stammzellforschung nicht gefördert wird. Das ist
ein schwieriges Unterfangen. Wir wünschen der Bundes-
regierung an dieser Stelle weiterhin viel Glück und Er-
folg dabei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516607800

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, FDP-

Fraktion.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1516607900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Röspel hat eben auf die Jahre 2002 und 2003 verwiesen.
Die FDP war damals anderer Meinung und es wird Sie
mit Sicherheit nicht erstaunen, dass wir selbstverständ-
lich auch heute anderer Meinung sind.


(Nicolette Kressl [SPD]: Doch, das erstaunt uns schon!)


Für uns ist die Ethik des Heilens der Maßstab, an dem
wir uns ausrichten. Angesichts dieses Maßstabes kann
Ihr heutiger Antrag natürlich nicht gut sein. Er ist sach-
lich falsch und er ist politisch schädlich.


(Beifall bei der FDP)

Erstens. Die Forschung an embryonalen Stammzel-

len gehört zu den vielversprechendsten Forschungsge-
bieten innerhalb der thematischen Schwerpunkte im EU-
Forschungsprogramm.


(Jörg Tauss [SPD]: Na ja!)

Eine sinnvolle Zusammenarbeit auf der Basis wissen-
schaftlicher Exzellenz kann nicht erfolgen, wenn Wis-
senschaftler einzelner Länder aufgrund ethischer Beden-
ken nicht an Forschungen teilnehmen können, bei denen
es auch um menschliche Embryonen geht.


(Jörg Tauss [SPD]: Zwei Anträge! Einen Popanz sollte man da nicht aufbauen!)


– Ja, Herr Tauss, aber so ist es. Wenn man Ihnen folgt,
wird es auf der EU-Ebene eine solche Forschung nicht
mehr geben. Das wollen wir Liberalen nicht.


(Beifall bei der FDP)

Ihr Antrag bedeutet das Aus für solche Projekte. Das

Irrwitzige dabei ist, dass Sie damit im Prinzip überhaupt
nichts erreichen. Denn natürlich wird es national in den
jeweiligen Nachbarländern weiter Forschung an über-
zähligen Embryonen geben. Das ist in Frankreich der
Fall, auch außerhalb des EU-Bereichs, in der Schweiz,
und selbstverständlich in Belgien, Skandinavien und
Spanien.


(Jörg Tauss [SPD]: Da geht Herr Rachel dann hin!)


Um es kurz zu sagen: Sie gehen hier mit einem symboli-
schen Akt ins Parlament, mit dem Sie auf EU-Ebene
nichts erreichen können.


(Beifall bei der FDP)

Zweitens. Sie behaupten, die Stichtagsregelung in

Deutschland habe sich bewährt. Sie hat sich nicht be-
währt. Diese Meinung haben wir immer wieder geäußert
und wir haben uns auch die Mühe gemacht, mit den be-
troffenen Forschern hier in Deutschland zu reden. Jeder
von ihnen hat uns bestätigt, dass man selbstverständlich
Stammzellmaterial braucht, das jenseits des derzeit fest-
gelegten Stichtages liegt.


(René Röspel [SPD]: Die sind noch lange nicht am Ende ihres Erkenntnisgewinns!)


In dieser Situation, mit der die Politik fertig werden
muss, muss diesen Forschern geholfen werden.

Drittens. Wenn man nationale ethische Standards im
Bereich der Stammzellenforschung als Kriterium der
Finanzierung aufstellt, dann müssen diese auch für alle
anderen EU-Forschungsvorhaben gelten. Aber das wol-
len Sie nicht. Sie handeln also ausgesprochen inkonse-
quent. Das würde im Endeffekt dazu führen, dass der ge-
samte EU-Forschungsbereich völlig anders geregelt
werden müsste, als dies zurzeit der Fall ist.

Meine Redezeit ist kurz. Daher fasse ich zusammen.
Ich bedauere es, dass wir uns heute erneut mit einem sol-
chen Antrag befassen müssen. Herr Rachel, ich hätte mir
gewünscht, dass Sie im Hinblick auf die EU zu weiterge-
henden und weiterführenden, für das Heilen in diesem
Lande besseren Ergebnissen gekommen wären.






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Flach


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das geht in die falsche Richtung! – Zuruf von der SPD: Das sind doch immer nur unbelegte Behauptungen!)


Ich sehe im Gegensatz zu Herrn Röspel nicht, dass die
Bundesregierung mit ihren alten Anträgen Erfolg gehabt
hat. Auch diesem Antrag wird mit Sicherheit kein Erfolg
beschieden sein. Deswegen blicken wir, obwohl wir uns
heute nicht durchsetzen werden, recht frohgemut in die
Zukunft.


(Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Aber richtig ist es trotzdem nicht! Die Bundesregierung war erfolgreich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516608000

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell,

Bündnis 90/Die Grünen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516608100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Debatten über Stammzellenforschung hat
dieses Hohe Haus in den letzten Jahren sehr oft erlebt.
Über Fraktionsgrenzen hinweg gab es mehrheitlich
Übereinstimmung, dass in der Abwägung zwischen den
grundgesetzlich geschützten Tatbeständen Forschungs-
freiheit und Menschenwürde die Wahrung der Men-
schenwürde Vorrang habe.

Es ist gut, dass sich diese ethische Position zuneh-
mend auch im internationalen Raum durchsetzt. Die
jüngste Deklaration der Vollversammlung der Vereinten
Nationen vom 8. März 2005, die eine klare Ächtung
aller Arten des Klonens von Menschen beinhaltet,


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch völlig ohne Belang, Herr Fell!)


ist ein wichtiger Schritt zur Wahrung der Menschen-
würde und fundamentaler ethischer Grundsätze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie enthält die richtige Botschaft: Die Ausbeutung von
Frauen ist abzulehnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag mit einer
fraktionsübergreifenden Mehrheit in diesem Sinne auch
gegen das Töten von Embryonen zu Forschungs-
zwecken ausgesprochen und dieses Verbot sogar gesetz-
lich fixiert hat.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!)

Dieses Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung
gibt es aber leider nicht in allen EU-Mitgliedsländern.
So droht nun in der Aufstellung des 7. Forschungsrah-
menprogramms der EU die unerträgliche Situation, dass
mit deutschen Steuergeldern indirekt Forschung finan-
ziert werden könnte, die in Deutschland verboten ist.
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass verbrau-
chende Embryonenforschung auch auf europäischer
Ebene keine Forschungsunterstützung erhalten darf. Do-
kumentiert wurde dies ausdrücklich mit dem Beschluss
des Bundestages vom 16. Oktober 2003. Es ist daher als
großer Erfolg zu werten, dass vor allem aufgrund des
Drängens der rot-grünen Bundesregierung bisher keine
EU-Forschungsmittel für verbrauchende Embryonenfor-
schung ausgereicht wurden. Dieser Erfolg ist umso hö-
her einzuschätzen, da er gegen den Willen des damaligen
Forschungskommissars Busquin und gegen das Drängen
von Ländern wie Großbritannien gelungen ist.

Daher ist der heute von der Union vorgelegte Antrag
im Kern mit unseren Vorstellungen vereinbar. Bereits im
Vorfeld hatten wir angeboten, einen interfraktionellen
Antrag gemeinsam einzubringen, damit dem gemeinsa-
men Anliegen auch das entsprechende politische Ge-
wicht zugrunde liegt. Wir wissen doch, wie stark der
Druck aus Großbritannien oder von Teilen der EU-Kom-
mission ist, die Menschenwürde von Embryonen der
Heilserwartung zu opfern. Wir halten es daher für ziel-
führend, auch weiterhin interfraktionelle Beschlüsse in
diesen ethischen Grundfragen zu fassen. In den Aus-
schussberatungen sollten wir diesen Versuch unterneh-
men.

Auch für die grüne Fraktion gilt: Eine Forschungsför-
derung für verbrauchende Embryonenforschung im
7. Forschungsrahmenprogramm der EU darf es nicht
geben. Wir sollten uns gemeinsam überlegen, ob dieser
Antrag nicht um die Ablehnung weiterer ethisch bedenk-
licher Forschungsmethoden erweitert werden sollte. Da-
mit meinen wir, dass nicht nur die Forschung an und mit
Embryonen, sondern auch die Nutzung menschlicher
Eizellen in der Forschung klarer geregelt werden muss.
Der Handel mit menschlichen Eizellen muss verboten
werden, unter anderem deswegen, weil ihm gesundheit-
lich problematische Behandlungen vorangehen.

Dabei beziehe ich mich auf die Entschließung des
EU-Parlaments vom 10. März 2005. Darin wird klar ge-
fordert, dass die Eizellspende zum Schutz der Spende-
rinnen streng reglementiert werden muss. Wir sollten
auch diesen wichtigen Aspekt in einen Antrag des Bun-
destages aufnehmen. Damit stärken wir das Ersuchen
des Europäischen Parlamentes an die Kommission, das
Klonen von Menschen von der Finanzierung im
7. Forschungsrahmenprogramm auszuschließen.

Meine Damen und Herren von der FDP, Frau Kolle-
gin Flach, uns vom Bündnis 90/Die Grünen geht es – um
das noch einmal ausdrücklich klarzustellen – nicht da-
rum, Hoffnungen auf Heilung unerfüllt zu lassen. Für
viele bisher schwer oder gar nicht zu behandelnde
Krankheiten wie Alzheimer müssen wir nach Heilungs-
möglichkeiten suchen.


(Ulrike Flach [FDP]: Schauen Sie sich das international einmal an, Herr Fell!)


Die Forschungsförderung bildet selbstverständlich einen
wesentlichen Ansatz. Die Frage ist aber, ob wir ausge-
rechnet in ethisch verwerflichen Forschungsmethoden
das Heil finden müssen. In den letzten Jahren hat sich






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Josef Fell

doch eine große Ernüchterung für die Erfolgsaussichten
von Therapiemöglichkeiten mit Stammzellen gerade bei
Krankheiten wie Alzheimer breit gemacht. Wir sollten
daher die Forschungsförderung vor allem für andere,
deutlich Erfolg versprechende Möglichkeiten einsetzen.


(Ulrike Flach [FDP]: Warum sehen das die anderen Länder anders, Herr Fell?)


Dort, wo Stammzelltherapien Aussicht auf Hei-
lungschancen geben, bieten ethisch unbedenkliche
Forschungen zum Beispiel mit adulten Stammzellen
oder mit Stammzellenlinien, die vor dem Stichtag ge-
wonnen wurden, genügend Möglichkeiten. Auch deswe-
gen bedauern wir sehr, dass der Forscher Ian Wilmut mit
deutschen Steuergeldern ausgezeichnet wurde, obwohl
er ethisch verwerfliche Forschungen wie das Klonen von
Menschen anstrebt.


(Beifall der Abg. Vera Dominke [CDU/CSU])

Bündnis 90/Die Grünen haben das in der Öffentlichkeit
und intern innerhalb der Regierung ausführlich kritisiert.

Wir haben viele Fragen an Ian Wilmut. Kann er es
ethisch vertreten, beschränkte Forschungsmittel für
ethisch verwerfliche Forschungsmethoden auszugeben,
obwohl sie mit Sicherheit keine Heilserwartung für die
Hunderte von Millionen von Menschen ergeben, die vor
allem in Entwicklungs- und Schwellenländern an Krank-
heiten sterben, für die es überhaupt noch keine Medika-
mente und erfolgreichen Behandlungsmethoden gibt?
Hält er es für mit Art. 12 der Richtlinie 2004/23/EG, die
klarstellt, dass Zahlungen – außer Entschädigungszah-
lungen – für Zell- und Gewebespenden in Europa nicht
akzeptabel sind,


(Ulrike Flach [FDP]: Darum geht es doch gar nicht!)


vereinbar, wenn Frauen für Eizellspenden eine IVF-Be-
handlung, eine Sterilisation, eine Zahnbehandlung oder
Geld angeboten wird?


(Ulrike Flach [FDP]: Ach was! So ein Unsinn!)


Wir setzen uns in diesem Hause wie auch im Europäi-
schen Parlament dafür ein, dass sich die Forschungsför-
derung auf EU-Ebene am ethischen Prinzip der Men-
schenwürde und an den Bedürfnissen der Menschheit
orientiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516608200

Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Dominke,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Vera Dominke (CDU):
Rede ID: ID1516608300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie Kollege Thomas Rachel ja schon mitgeteilt hat, hat
sich das Europäische Parlament vor einer Woche mit
großer Mehrheit gegen die Förderung der verbrauchen-
den Embryonenforschung ausgesprochen. Es hat eine
Resolution verabschiedet, nach der die Mitgliedstaaten,
in denen eine solche Forschung – wie etwa in Groß-
britannien – erlaubt ist, diese auch selbst finanzieren sol-
len. Aus Mitteln der EU sollen dagegen die ethisch
unbedenklichen Alternativen wie – Sie sagten es, Herr
Rachel – die adulte Stammzellforschung gefördert wer-
den.


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist aber schwierig, Frau Dominke!)


Diese Resolution begrüßen wir ausdrücklich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Leider können wir unseren Antrag damit aber noch

nicht ad acta legen, denn die Entscheidungssituation in
Europa ist viel komplizierter. In drei Wochen, am
6. April, will die EU-Kommission – so ist aus Brüssel zu
hören – einen Vorschlag für das 7. Forschungsrahmen-
programm vorlegen. Dieser geht dann zu zwei Lesungen
in das Europäische Parlament, das seinerseits Ände-
rungsanträge stellen kann. Die letzte Entscheidung trifft
dann der Ministerrat, der im günstigsten Fall die Ände-
rungsanträge des Parlamentes berücksichtigt. Noch offen
ist dabei aber, ob sich die Kommission in ihrem Vor-
schlag überhaupt zur Frage der Förderung der verbrau-
chenden Embryonenforschung und zur embryonalen
Stammzellforschung einlassen wird. Wenn sie das nicht
tut, bleibt dieser Komplex weiterhin ungeregelt – mit der
Folge, dass eine derartige Forschungsförderung durch
die EU nicht ausgeschlossen ist.


(Ulrike Flach [FDP]: Eben!)

Dieser Zustand besteht im Grunde genommen seit An-
fang 2004, seitdem das Moratorium ausgelaufen ist,
wie das auch im vorliegenden Antrag ausgeführt worden
ist. Dieser Zustand sollte unseres Erachtens nicht andau-
ern.


(Jörg Tauss [SPD]: Also Rachel nach Brüssel!)

In der Sache haben wir in diesem Hause – das ist

schon mehrfach angesprochen worden – bereits einige
Male unsere Position und unsere Haltung zur verbrau-
chenden Embryonenforschung mit großer fraktions-
übergreifender Mehrheit bestätigt. Es wird jetzt weiter-
hin darauf ankommen, ob und wie die Bundesregierung
dieses Votum des deutschen Parlamentes in Brüssel ein-
bringt und vertritt.


(Jörg Tauss [SPD]: Wie bisher!)

– Wenn das so ist, Herr Tauss, dann ist es ja gut. Nichts
anderes wollen wir.

Mit unserem Antrag wollen wir der Bundesregierung
noch einmal den erklärten Willen der Mehrheit des
Parlamentes, Frau Flach,


(Ulrike Flach [FDP]: Ja, damit müssen wir leben!)


mit auf den Weg geben. Wir erwarten, dass sich wie-
derum die Bundesregierung aktiv in diesem Sinne im






(A) (C)



(B) (D)


Vera Dominke

Ministerrat einbringt und nicht wie gerade jüngst beim
Beschluss des Wettbewerbsrates über die Richtlinie
zu Softwarepatenten abtaucht. Auch hier hatten wir im
Haus eine fraktionsübergreifende Mehrheit und der Ver-
treter der Bundesregierung hat nichts getan, um die Ent-
scheidung des Rates zu beeinflussen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der dänische Kollege stand mutterseelenallein auf wei-
ter Flur.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine unkorrekte Darstellung!)


Wir erwarten, dass die Bundesregierung als Vertrete-
rin dieses Staates, der einen nicht unerheblichen Anteil
der Mittel in die EU einbringt, die Politik Europas aktiv
und im Sinne der Beschlüsse des Bundestages mitgestal-
tet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516608400

Frau Kollegin Dominke, der Kollege Tauss möchte

Ihre Redezeit verlängern.

Vera Dominke (CDU):
Rede ID: ID1516608500

Herr Tauss, ausnahmsweise – das habe ich noch nie

getan – gestatte ich das einmal.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516608600

Und wir können sagen: Wir sind dabei gewesen.


(Heiterkeit im ganzen Hause)

Bitte schön.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1516608700

Frau Dominke, seitdem wir unser Computerspiel so

wunderbar abgeschlossen haben, hat sich Ihre Offenheit
mir gegenüber offensichtlich unglaublich erhöht; darü-
ber freue ich mich.

Die Frage wäre, ob Sie zur Kenntnis nehmen würden,
dass die Bundesregierung auch in der EU die Position
des Deutschen Bundestages in Sachen Softwarepatente
oder Patente für computerimplementierte Erfindungen
vertritt und dass im Moment nicht im Rat eine Entschei-
dung zu korrigieren ist, sondern dies nur im Europäi-
schen Parlament möglich ist und dass das Europäische
Parlament in seiner großen Mehrheit offensichtlich die
Position, die der Deutsche Bundestag und die deutsche
Bundesregierung vertreten, übernehmen wird. Haben Sie
diese Debatten auf europäischer Ebene schon mitbekom-
men?


Vera Dominke (CDU):
Rede ID: ID1516608800

Selbstverständlich, Herr Tauss, habe ich sie mitbe-

kommen.

(Jörg Tauss [SPD]: Wunderbar! Danke!)


Gleichwohl möchte ich das nicht so im Raume stehen
lassen.


(Jörg Tauss [SPD]: Meine Frage war, ob Sie das mitbekommen haben!)

– Herr Tauss, das ist doch jetzt ein bisschen daneben. Sie
bestätigen jetzt meine bisherige Haltung, Ihre Zwischen-
fragen abzulehnen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Dies wird heute eine Ausnahme bleiben.

Tatsächlich war es – ich habe noch eine Redezeit von
einer Minute; ich kann deswegen Ihre Frage im Rahmen
meiner Redezeit beantworten, wenn Sie keine Antwort
hören möchten – im Ministerrat möglich,


(Jörg Tauss [SPD]: Nein!)

die Ansiedelung dieses Themas von der Liste B, die
durchgewunken wird, in die Liste A zu übernehmen, wie
es der dänische Wirtschaftsminister versucht hat, wobei
er aber keine Unterstützung aus den anderen Staaten er-
fahren hat. Insofern hätte man an dieser Stelle, an der ein
Einfluss der Regierungen möglich war, handeln können.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht korrekt!)

Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung bei die-

sem Thema auch auf der europäischen Ebene für ethi-
sche Grundwerte unseres Landes aktiv einbringt. Ich
bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei um Un-
terstützung. Wir nehmen Ihr Angebot, Herr Kollege
Röspel, und Ihr Angebot, Herr Kollege Fell, gerne auf,
im Ausschuss zu einer gemeinsamen Position zu kom-
men. Das würde das Thema sicherlich befördern.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516608900

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1516609000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

EU-Forschungsrahmenprogramm ist das weltweit größte
Förderprogramm für Förderungsprojekte. Es wirkt auf
die Schaffung eines europäischen Forschungsraumes hin
und verbessert damit die globale Wettbewerbsfähigkeit
Europas. Ein zentraler Förderbereich ist dabei die Bio-
technologie. Darunter fallen auch die Stammzellfor-
schung – sowohl an tierischen als auch an menschlichen
sowie an adulten wie an embryonalen Stammzellen –
und als Unterpunkt die Forschung an humanen embryo-
nalen Stammzellen.

Für dieses Forschungsfeld gelten hier in Deutschland
als die beiden zentralen nationalen Regelungen das
Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz.
Beide Gesetze sind in diesem Hause umfangreich erör-
tert und einvernehmlich beschlossen worden. Wie mein
Kollege René Röspel bin ich der Auffassung, dass die
gemeinsame europäische Forschungsförderung mit die-
sen rechtlichen Grundlagen in Einklang stehen muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Carola Reimann

Wir haben in Deutschland mit dem Stammzellgesetz
eine klare und akzeptierte Regierung gefunden. Unsere
Wissenschaftler und Forscherteams halten sich an den
vorgegebenen gesetzlichen Rahmen.

Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach ist es
selbstverständlich – Herr Rachel hat es auch schon
angesprochen –, dass im Interesse der Chancengleich-
heit aller Mitgliedstaaten nur solche Forschungsprojekte
von der EU gefördert werden, an denen sich Forscher-
teams aus allen Mitgliedstaaten beteiligen können.
Angesichts der Tatsache, dass Deutschland einen be-
trächtlichen Anteil des finanziellen Gesamtvolumens
trägt – beim 6. EU-Forschungsrahmenprogramm sind es
etwa 20 Prozent von 17,5 Milliarden Euro –, bin ich der
Meinung, dass die Bundesrepublik auch einen entspre-
chenden Einfluss auf die Ausgestaltung des Programms
haben muss.

Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir
uns in diesem Punkt einig sind. Diese Einigkeit reicht
noch weiter; denn auch die Bundesregierung vertritt
diese Haltung. Sie setzt sich, wie sie es in der Vergan-
genheit schon unter Beweis gestellt hat, für die Berück-
sichtigung unserer nationalen rechtlichen und ethi-
schen Grundsätze ein.


(Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dies scheint beim Verfassen des Antrags von Ihnen
übersehen oder vergessen worden zu sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der Lektüre Ihres Antrags konnte ich mich des
Eindrucks eines Déjà-vu-Erlebnisses nicht erwehren.
Die Hirnforschung jedoch belegt, dass es Déjà-vus, wie
wir sie kennen oder zu kennen meinen, eigentlich gar
nicht gibt. Auch mein vermeintliches Déjà-vu-Erlebnis
war keines; denn nicht nur der Titel, sondern auch der
Inhalt Ihres Antrags ist nahezu wortgleich mit dem inter-
fraktionellen Beschluss, den wir hier im Bundestag am
16. Oktober 2003 gefasst haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung vertrat schon damals auf der
Basis dieses Beschlusses in Europa die Ansicht, dass
Forschungsarbeiten, an denen sich einzelne Mitglied-
staaten aus Rechtsgründen nicht beteiligen können, nicht
von der EU gefördert werden sollten. Hierfür hat sich die
Bundesregierung, wie ich finde, sehr engagiert einge-
setzt. Sie hat diese Haltung in allen Gesprächen vehe-
ment und erfolgreich vertreten. Dafür gebührt dem Mi-
nisterium und insbesondere Wolf-Michael Catenhusen
großer Dank; hier schließe ich mich den Worten von
René Röspel an. Im aktuellen Forschungsrahmenpro-
gramm werden deshalb auch nur solche Projekte geför-
dert, die nicht in Konflikt zu nationalen Gesetzgebungen
stehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, nun wol-
len Sie im Zusammenhang mit dem 7. EU-Forschungs-
rahmenprogramm eine Wiederauflage des Beschlusses
von 2003. Mir scheint es aber so, als wollten Sie den
Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung von ihren
damaligen Grundsätzen abgewichen sei.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist der eigentliche Hintergrund!)


Dem ist aber nicht so.

(Beifall bei der SPD)


Die Haltung der Bundesregierung ist nach wie vor un-
verändert. Dies wird auch im Zuge der Verhandlungen
zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm deutlich wer-
den; dessen bin ich sicher. Ich sehe keinen Anlass für ir-
gendeinen Zweifel.

Noch einmal zur Klarstellung, worüber wir reden:
Der Entwurf des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms,
auf den Ihr Antrag abzielt, wird voraussichtlich im April
von der Kommission vorgelegt werden. Es handelt sich
dabei, wie gesagt, um einen Entwurf und nicht um das
bereits beschlossene Programm. Mitte 2005 wird es
wahrscheinlich einen offiziellen Vorschlag der Kommis-
sion geben. Die Beratungen von Rat, Kommission und
Europäischem Parlament – wir haben vorhin gehört, wie
das Europäische Parlament dazu steht; auch hier gibt es
keinen Anlass zu Besorgnis – werden bis zur zweiten
Jahreshälfte 2006 andauern. Ende 2006 wird das 7. EU-
Forschungsrahmenprogramm voraussichtlich offiziell
starten. Es bleibt also noch eine ganze Menge Zeit, „kon-
zeptionelle Anregungen“, wie Sie sie fordern, einzubrin-
gen. Sie können sicher sein, dass dies, wenn es notwen-
dig sein sollte, vonseiten der Bundesregierung auch
getan werden wird.

Kolleginnen und Kollegen, der interfraktionelle
Beschluss vom Oktober 2003 ist unserer Ansicht nach
absolut aktuell. Aus diesem Grund bin ich der Auffas-
sung, dass es für die Wiederholung der damaligen Aus-
sagen in neuer Verpackung – aus meiner Sicht ist Ihr An-
trag nichts anderes – keinen Bedarf gibt. Natürlich
können wir dies tun. Man muss sich als Parlament je-
doch fragen, ob man seine eigenen Beschlüsse nicht ent-
wertet, wenn man sie immer wieder bekräftigen muss.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516609100

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/4934 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Drei-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

zehnten Gesetzes zur Änderung des Arznei-
mittelgesetzes
– Drucksache 15/4736 –

(Erste Beratung 160. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (10. Ausschuss)

– Drucksache 15/5112 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Julia Klöckner
Friedrich Ostendorff
Hans-Michael Goldmann

Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Verein-
barung eine halbstündige Debatte stattfinden. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
für die Bundesregierung der Parlamentarische Staats-
sekretär Dr. Thalheim.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dr
Dr. Gerald Thalheim (SPD):
Rede ID: ID1516609200


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir schließen heute die Beratungen zur dreizehnten
Novelle des Arzneimittelgesetzes ab. Ich bin überzeugt,
dass uns der Entwurf in der vom Ausschuss geänderten
Fassung einen großen Schritt weiterbringen wird. In dem
Gesetzentwurf werden, wie Sie alle wissen, Forderungen
aus der Tierärzteschaft und der Landwirtschaft aufge-
griffen. Die Umsetzung wird zu Erleichterungen in der
Praxis führen, insbesondere im Hinblick auf die Anwen-
dung von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln,
die keine Antibiotika sind. Diese können künftig für
31Tage abgegeben werden.

Zudem wird mit diesem Gesetz Gemeinschaftsrecht
umgesetzt. Mit der Änderung der so genannten Umwid-
mungskaskade wird EU-Recht im Bundesrecht veran-
kert. Darüber hinaus wird im Gesetzentwurf die
Stellungnahme des Bundesrates berücksichtigt; damit
werden die Interessen des Verbraucherschutzes und des
Tierschutzes gewahrt.

Das heute zur Entscheidung anstehende Gesetz
schafft auf diesem Gebiet eine klare Rechtslage. Es trägt
auf der einen Seite den berechtigten Interessen der Land-
wirtschaft und der Tierärzte Rechnung, auf der anderen
Seite wird dem vorbeugenden Verbraucherschutz beim
Thema Antibiotika der notwendige Stellenwert einge-
räumt. Das ist notwendiger, als wir bei der Verabschie-
dung der elften AMG-Novelle dachten. Gerade in jüngster
Zeit gab es wieder Informationen über Antibiotikarück-
stände in Fleisch- und Wurstwaren. Das muss uns alar-
mieren. Bereits mit der elften Novelle sind Verschärfun-
gen eingeführt worden. Sie haben aber offensichtlich
nicht zu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen.
Am Ende eines so intensiven und langen Diskussions-
prozesses lohnt es sich, ein wenig zurückzublicken. Ich
erwähnte bereits die elfte AMG-Novelle. Diese ist am
21. November 2002 vom Bundesrat verabschiedet wor-
den. Damals wurde beschlossen, Antibiotika nur noch
für sieben Tage an die Tierhalter abzugeben. Das Bun-
desratsvotum war eindeutig, nämlich 16 : 0. Alle Länder
waren damals dafür. Leider hat das einige Ländervertre-
ter nicht davon abgehalten, in den darauf folgenden Dis-
kussionen, beispielsweise in Bauernversammlungen
– ich habe einige miterlebt –, diese Entscheidung zu kri-
tisieren und dies der Bundesregierung anzulasten.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört!)


Um am Ende den Belangen der Landwirte Rechnung
zu tragen, haben wir intensiv über Flexibilisierungsmög-
lichkeiten diskutiert. Der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung enthielt solche Ansätze. Einige werden heute
Recht. Die Frage, die Siebentageregelung unter engen
Restriktionen zu flexibilisieren, ist vom Bundesrat nicht
aufgegriffen worden. Das erstaunt schon. Zuerst be-
schließt man diese Regelung mit einem Stimmenverhält-
nis von 16 : 0, dann wird dies kritisiert und es werden
Änderungen gefordert. Aber als die Bundesregierung
dann Änderungen vorschlug, lautete die Botschaft: Das
war alles nicht so ernst gemeint, wir bleiben beim alten
Recht, also der Siebentageregelung.

Ich kann diese Regelung nur begrüßen; denn dies
zeigt, dass die Bundesländer und die Verantwortlichen
aus den Gesundheitsministerien der Freiheit bei der An-
tibiotikavergabe den entsprechenden Stellenwert einräu-
men. Insofern bleibt es dabei. Ich kann nur sagen: Es ist
eine gute Entscheidung, die wir heute treffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, nach fast zweieinhalbjäh-
riger Diskussion lohnt es sich natürlich auch, darüber
nachzudenken, was wir nicht aufgreifen; auch das
möchte ich erwähnen. Eine Pflicht zur Aufstellung
eines Behandlungsplans wird es nicht geben. Die Tier-
ärzte unterliegen schon heute umfassenden Aufzeich-
nungspflichten. Man muss nicht erst einen französischen
Philosophen bemühen, um zu sagen, dass wir keinen zu-
sätzlichen Behandlungsplan brauchen. Er ist überflüssig.
Die Tierärzte sollen sich die Tiere anschauen und sie ent-
sprechend behandeln.

Um es mit einem tierärztlichen Begriff zu beschrei-
ben, Herr Goldmann: Der Behandlungsplan ist eine Tot-
geburt. Mit der Totgeburt „Behandlungsplan“ sollte das
gemacht werden, was Tierärzte und Landwirte üblicher-
weise mit Totgeburten tun.


(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Abdeckerei!)

Etwas anderes ist es bei der Problematik der

Bestandsbetreuung. Das ist ein vernünftiger Vorschlag.
Uns fehlen die grundgesetzlichen Möglichkeiten, das im
Arzneimittelgesetz zu verankern. Aber über diesen
Punkt sollten wir im Interesse der Landwirtschaft und im






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim

Interesse des Erhalts der Gesundheit der Tierbestände re-
den.

Ich kann nur hoffen und wünschen, dass dieses gute
Gesetz auch sehr schnell vom Bundesrat verabschiedet
wird, damit die Landwirte und die Tierärzte Rechtsklar-
heit bekommen und damit wir einen großen Schritt zu
unserem Ziel, dass Produkte aus Deutschland keine An-
tibiotikarückstände enthalten, vorankommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516609300

Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1516609400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch der

heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf heilt
nicht die schweren Fehler des Arzneimittelgesetzes von
2002. Im Gegenteil, von einem echten Durchbruch, auf
den die Tierhalter und die Verbraucherschützer jetzt
schon seit Jahren warten müssen, kann immer noch nicht
die Rede sein. Auch das angebliche Ziel von mehr Le-
bensmittelsicherheit und Verbraucherschutz durch Ver-
meidung von Antibiotikaresistenzproblemen in der
Humanmedizin wird nicht erreicht. Sie lassen mit der
Beibehaltung der Siebentageregelung die Tierhalter und
die Tierärzte in einer rechtlichen Grauzone zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Immerhin aber kann man attestieren, dass der langwie-
rige Produktions- und Diskussionsprozess in diesem Par-
lament zu einigen Änderungen geführt hat.


(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Dafür haben aber nicht Sie gesorgt!)


Es hat das in diesem Parlament seltene Ereignis gege-
ben, dass sich die Berichterstatter der einzelnen Fraktio-
nen – Sie, Herr Priesmeier, und meine verehrte Kollegin
Frau Julia Klöckner waren dabei – über die Inhalte eines
Gesetzes verständigen konnten. Der versendungsreife
Brief durfte dann aber von der linken Seite des Hauses
nicht unterzeichnet werden; das wurde seitens des Mi-
nisteriums blockiert. Damit wurde ein sinnvoller Prozess
zum Erliegen gebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Unerhört!)


Meine Damen und Herren, sei es drum! Inzwischen
finden sich einige wichtige Korrekturen. Der Staats-
sekretär hat sie angesprochen; man soll sie auch erwäh-
nen. Es gibt eine leicht flexibilisierte Handhabung bei
den nicht antimikrobiell wirksamen Stoffen; sie können
künftig für bis zu 31Tage abgegeben werden. Es gibt die
Möglichkeit, im Therapienotstand auch für Lebensmittel
liefernde Tiere Arzneimittel in öffentlichen Apotheken
herstellen zu lassen. Es gibt die Aufhebung des Abgabe-
verbotes für ungewidmete Arzneimittel.

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gutes Gesetz!)


Die Umwandlung der Genehmigungs- in eine Anzeige-
pflicht bei der Einfuhr von Arzneimitteln ist auch in
Ordnung; das will ich ausdrücklich bestätigen.

Aber das wesentliche Übel an der bestehenden Geset-
zeslage ist damit bei weitem nicht ausgemerzt. Ich habe
es schon angesprochen: Es bleibt bei der Siebentage-
regelung für die Aufbewahrung von Medikamenten.
Kann mir jemand in diesem Hause erklären, welchen
Unterschied es macht, ob die Medikamente sieben, acht
oder zehn Tage auf dem Hof bleiben? Hier sind willkür-
liche Grenzen gewählt worden, die nichts mit der Praxis
zu tun haben.

Man hat diese Siebentageregelung etwas aufgeweicht,
indem man die Formulierung der Leitlinien einer
Tierarzneimittelanwendungskommission übertragen
hat.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Die braucht kein Mensch!)


Tierarzneimittelanwendungskommission – schon der
Name lässt nichts Gutes erwarten. Sie trauen der Fach-
kompetenz der Tierärzte nicht. Sie unterstellen den Bau-
ern ein Interesse am Medikamentenmissbrauch


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


und verhindern die schnelle Umsetzung von Erfahrun-
gen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in
die Praxis. Es ist, wie es immer ist: Wenn man nicht
mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis, in
diesem Falle: eine Kommission. Dem eigentlichen Ziel,
einen Beitrag zur Verringerung des Medikamentenein-
satzes zu leisten, kommen Sie nicht nach. Ganz im Ge-
genteil, sie bringen die Landwirte und Tierärzte in
schwierigen Situationen in eine rechtliche Grauzone.
Wenn da einmal richtig kontrolliert würde, kämen die
entsprechenden Ergebnisse zum Vorschein.

Wir meinen, dass die Siebentageregelung so nicht sinn-
voll ist, und fordern, im Rahmen eines Behandlungsplans
bzw. eines Betreuungsvertrages zwischen Landwirt und
Tierarzt beide Gruppen in die Verantwortung zu nehmen,
um einen zielgerichteten Medikamenteneinsatz zu ge-
währleisten. Hierfür haben wir entsprechende Bedingun-
gen formuliert, die ich Ihnen kurz nennen will:

Erstens. Natürlich muss eine Dokumentation der an-
gewandten Untersuchungsverfahren, der Diagnose und
des verschriebenen Arzneimittels stattfinden; das ge-
schieht heute schon bei der Abgabe von Medikamenten.
Dennoch muss das hier wiederholt werden.

Zweitens. Eine spezielle Behandlungsanweisung für
den Tierhalter sowie Hinweise für die sachgerechte La-
gerung der Arzneimittel müssen gegeben werden; auch
das ist richtig.


(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das steht auf der Packung!)







(A) (C)



(B) (D)


Peter Bleser

Drittens. Die Dokumentation der Kontrolle der Arz-

neimittelanwendung und des Behandlungserfolges muss
ebenfalls geschehen.

Viertens. Auch die Dokumentation von eventuellen
Wiederholungsuntersuchungen und deren Ergebnissen
muss erfolgen, damit die Lebensmittelsicherheit gewähr-
leistet bleibt.

Der Schwerpunkt aber liegt auf dem Abschluss eines
Betreuungsvertrages, weil damit erstmals das Interesse
des Tierarztes an der Gesunderhaltung des Bestandes ge-
stärkt wird und nicht nur an der Abgabe von Medika-
menten oder an der Durchführung sonstiger Behand-
lungsmaßnahmen. Auch hier wollen wir Standards.
Dazu gehören natürlich die Dokumentation des Gesund-
heitszustandes der Tiere, die Prüfung der Dokumentation
der Arzneimittelanwendungen sowie eventueller Be-
handlungspläne durch den entsprechenden Veterinär, die
Prüfung der ordnungsgemäßen Lagerung der Medika-
mente beim Tierhalter durch den Tierarzt sowie die obli-
gatorische Festlegung der Bestandsbetreuung durch nur
einen Tierarzt.

Wenn wir das machten, würden wir allen gesellschaft-
lichen Gruppen und auch dem Tierschutz gerecht. Ich
appelliere noch einmal an die Bundesregierung, die
Koalitionsfraktionen, aber auch an die Bundesländer,
auch diesen letzten Mangel des Gesetzentwurfs zu behe-
ben. Dann hätten wir für alle Beteiligten etwas geschaf-
fen, was wir ursprünglich alle wollten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516609500

Das Wort erhält nun der Kollege Friedrich Ostendorff,

Bündnis 90/Die Grünen.


Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516609600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Worum geht es bei der dreizehnten Novelle des Arz-
neimittelgesetzes, über die wir heute beraten? Mit dem
im Jahr 2002 in Kraft getretenen Elften Gesetz zur Än-
derung des Arzneimittelgesetzes wurden neue Regeln
für den Umgang mit Tierarzneimitteln aufgestellt. Ziel
war es, im Sinne des vorsorgenden Verbraucherschutzes
und des Gesundheitsschutzes den Einsatz von Tierarz-
neimitteln auf ein therapeutisch notwendiges Mindest-
maß zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von An-
tibiotikaresistenzen zu vermeiden, die Qualität von
Tierarzneimitteln zu verbessern und die Sicherheit im
Umgang mit Tierarzneimitteln zu erhöhen.

Die Erfahrungen mit der Anwendung und dem Voll-
zug dieses Gesetzes haben uns aber inzwischen gezeigt,
dass bei einigen Regelungen offenbar Anpassungsbedarf
im Hinblick auf die Anwendbarkeit in der Praxis besteht.
Wir haben uns im Verbraucherausschuss frühzeitig die-
ser Probleme angenommen und ich glaube, für uns alle
sagen zu können, dass wir einen langen und intensiven
Diskussionsprozess hinter uns haben.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Wir sind auf die Kritik des Bundesrates und der Tierärzte
eingegangen. Wir haben Anhörungen durchgeführt und
eine interfraktionelle Arbeitsgruppe eingerichtet. Wir
mussten allerdings feststellen, dass sich die Tierärzte-
schaft als besonders betroffene Gruppe in der Bewertung
dieses Gesetzes offenbar alles andere als einig ist.

Auch der Bundesrat vertritt heute eine etwas andere
Meinung als vor einem Jahr. Wir begrüßen das. Ins-
besondere die ursprünglich von vielen Seiten als pra-
xisfremd kritisierte Siebentageregelung hat sich in-
zwischen offenbar als wesentlich unproblematischer
erwiesen als zunächst behauptet.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Verändert mal die Praxis!)


So schreibt der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum
vorliegenden Gesetzentwurf – ich zitiere –:

Bei der Umsetzung der 7-Tage-Regelung für Anti-
biotika wurden keine konkret nachweisbaren Pro-
bleme in der tierärztlichen Praxis festgestellt …

Das erstaunte uns. Ich denke, damit sollte die dickste
Kuh vom Eis sein und wir können zu einer zügigen Ver-
abschiedung der dreizehnten AMG-Novelle kommen.

Wir haben eine Reihe von Änderungen vorgenom-
men, die der Praxis Erleichterungen bringen, etwa bei
der Abgabe von Teilmengen – Herr Bleser wies darauf
hin –, der Anpassung der so genannten Umwidmungs-
kaskade an die EU-Richtlinie 2004/28/EG und der Auf-
hebung des Abgabeverbots umgewidmeter Arzneimittel.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Hat er alles gesagt!)


Was die zu bildende Sachverständigenkommission an-
geht, so brauchen wir uns an dieser Stelle über deren Zu-
sammensetzung nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, da
diese ohnehin erst durch eine nachfolgende Rechtsver-
ordnung festgesetzt werden wird.

Ich denke, die lange und schwierige Diskussion, die
wir über diese dreizehnte AMG-Novelle geführt haben,
sollte uns allen eine Warnung sein, die jetzt gefundene
weitgehende Einigkeit mit den Ländern nicht wieder in-
frage zu stellen. Das sage ich insbesondere mit besorg-
tem Blick auf das, was aus Richtung CDU/CSU zu hören
ist. Wir bemerken sehr wohl, dass Sie alles tun, um die
unionsgeführten Länder von der gefundenen vernünfti-
gen Linie wieder abzubringen. Frau Kollegin Klöckner,
Sie müssen langsam wirklich aufpassen, sich und den
Bundesrat nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Versuchen Sie erst einmal, dass das für Sie in Schleswig-Holstein klappt!)


Wir haben die Sache nun zwei Jahre lang in alle Rich-
tungen lang und breit diskutiert. Der Bundesrat wollte
erst so, dann anders, dann wieder so. Wir haben Ihnen
wahrlich genug goldene Brücken gebaut, um eine Lö-
sung zu finden. Das, was jetzt im Gesetzentwurf steht,
entspricht in den entscheidenden Punkten exakt den
Wünschen des Bundesrates.






(A) (C)



(B) (D)


Friedrich Ostendorff

Wenn ich jetzt höre, dass Sie, Frau Kollegin

Klöckner, alles daran setzen, die Länder in dieser Sache
zur Anrufung des Vermittlungsausschusses zu überre-
den, dann muss ich sagen, dass Sie damit Ihre persönli-
che politische Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht richtig zugehört!)


Ich hoffe, Sie folgen in diesem Punkt Edmund
Stoiber, der hier heute wörtlich sagte – ich zitiere –:

Auch ich sehe Deutschland in einer Krise, weil wir
im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behan-
deln …

Frau Klöckner, leisten Sie Ihren Beitrag zur Überwin-
dung der Krise und folgen Sie Herrn Stoiber,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich will aber nicht nach Bayern! Ich bleibe hier!)


indem Sie dafür sorgen, dass uns wenigstens bei diesem
Gesetz der Vermittlungsausschuss erspart bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der SPD)


– Wir haben Wilhelm Schmidt mit dabei. Es könnte also
gelingen.

Ich glaube, wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem
wir wirklich sagen sollten: Jetzt machen wir den Sack
zu. Die Praxis braucht vor allen Dingen eines, nämlich
Rechtssicherheit. Die praxisuntauglichste Regelung da-
für wäre die, die nicht beschlossen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Julia Klöckner [CDU/ CSU]: Das war ja eine starke Rede!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516609700

Ich erteile dem Kollegen Hans-Michael Goldmann,

FDP-Fraktion, das Wort.

Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1516609800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

denke, es ist die Absicht aller, Tiere gesund zu erhalten
bzw. zu heilen. Man braucht dafür eigentlich keinen
Bundestag oder Bundesrat, sondern nur gesunden Men-
schenverstand und gesunden fachlichen Verstand.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Der ist selten geworden!)


Tierärzte werden sehr vernünftig ausgebildet; Kollege
Priesmeier, wir beide kennen das ja. Die Ausbildung
dauert fünf Jahre, danach bildet man sich fort bzw. wei-
ter.

Hier aber geschieht etwas ganz Eigenartiges. Mit Un-
terstützung von Veterinärbeamten einiger Bundesländer
kommt der Gesetzgeber daher und sagt: Das, was euch
euer gesunder Menschenverstand und die Fachlichkeit
vorgeben, gilt nicht mehr; denn wir wollen das
nicht. – Insofern muss man sagen, dass dieses Gesetz an
der Ausgestaltung der Siebentageregelung scheitert,
weil sie – Kollege Priesmeier weiß das ganz genau; denn
er ist ja noch praktizierender Tierarzt – den Gesichts-
punkten Tierschutz, Praxisgerechtigkeit, Heilungsauf-
trag, Vorsorgeauftrag, vernünftiger Umgang mit Kosten
und vernünftiges Miteinander von Landwirten und Tier-
ärzten schlicht und ergreifend nicht gerecht wird. Das
wissen alle.

Wir wissen ganz genau, wie es zu dieser Regelung ge-
kommen ist. Zwei Ministerialbeamte, Veterinäre, aus
Nordrhein-Westfalen und Niedersachen, die schon im
Vermittlungsausschuss eine entscheidende Rolle spielen
wollten und die man sie auch spielen ließ, haben dafür
gesorgt, dass eine Siebentageregelung im Gesetz veran-
kert ist, die fachlichen Ansprüchen nicht gerecht wird
und auch dem Gedanken des Verbraucherschutzes nicht
Rechnung trägt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Kollege Ostendorff, ich bin sehr dafür, dass man Anti-
biotika nur in dem Maße einsetzt, wie es nötig ist. Aber
es ist schlicht ein Märchen, dass der Antibiotikaeinsatz
in der Tiermedizin Resistenzen befördert. Sie wissen
ganz genau, dass neueste Untersuchungsergebnisse das
Gegenteil belegen.

Herr Thalheim, es ist schade, dass Sie im Zusammen-
hang mit der Siebentageregelung nicht bereit waren, mit
uns einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Ich
weiß, dass das in den so genannten neuen Ländern etwas
anders aussieht. Natürlich sind für die Großbetriebe
keine Behandlungspläne notwendig; denn dort kommt
der Tierarzt jeden Tag vorbei. Aber bei kleineren Betrie-
ben, bei denen die Gefahr besteht, dass der Landwirt
kostenmäßig, fachlich und auch sonst überfordert ist,
wäre es besser gewesen, wenn man die Siebentagerege-
lung mit dem Behandlungsplan verknüpft hätte. Das sa-
gen auch alle vernünftigen Tierärzte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nun kommen Sie auf die besonders glorreiche Idee,

eine Tierarzneimittelanwendungskommission einzu-
setzen.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Eine Entmündigungskommission!)


Das ist an sich für jeden praktizierenden Tierarzt eine
schallende Ohrfeige. Man muss sich das einmal auf der
Zunge zergehen lassen: Die Tierärzte haben sich große
Mühe gegeben, studiert und sich fortgebildet, und dann
wird per Gesetz eine Tierarzneimittelanwendungskom-
mission vorgeschrieben, die eine Aufgabe übernimmt,
die im Grunde genommen mit dem Gesetz selbst gar
nichts zu tun hat, sondern eine wissenschaftliche He-
rausforderung ist. Es geht darum, Leitlinien zu entwi-
ckeln, die den Antibiotikaeinsatz begleiten. Nebenbei
bemerkt haben die Tierärzte das Wort „Tierarzneimittel-
anwendungskommission“ zum Unwort des Jahres ge-
wählt. Schon daran können Sie sehen, dass diese Kom-
mission eine gesetzgeberische Missgeburt ist.

Sie nehmen die Kommission ja selbst nicht ernst;
denn im Gesetz ist für die Kommission eine Mittelaus-
stattung in Höhe von 7 000 Euro vorgesehen. Wenn Sie






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann

sich einmal anschauen, wer in diesem Bereich tätig ist,
dann wird klar, dass diese Summe noch nicht einmal für
Fahrtkosten reicht, geschweige denn für Flugkosten oder
Sitzungsgelder. Diese Kommission ist wirklich nicht das
Papier wert, auf dem sie steht.

Einige Verbesserungen sind erreicht worden, Kollege
Ostendorff und Kollege Priesmeier. Wenn wir den Weg,
den wir nach der Anhörung gehen wollten, weitergegan-
gen wären – aber Sie beide sind zurückgepfiffen wor-
den –, könnten wir heute eine Novelle zur Änderung des
Arzneimittelgesetzes verabschieden, das fast allen Be-
langen der Praxis Rechnung trägt. Ich bedauere sehr,
dass es nicht zu dieser Regelung gekommen ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1516609900

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wilhelm

Priesmeier, SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1516610000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ich bin heute richtig froh,
dass das Fass, die dreizehnte Novelle, endlich zuge-
macht wird und wir einen gewissen Erfolg verbuchen
können, wenn auch letztlich nicht alle Wünsche der Be-
teiligten in Erfüllung gegangen sind. Ich will noch ein-
mal darauf hinweisen, warum es erst zur elften und an-
schließend zur dreizehnten Novelle gekommen ist.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Demnächst zur vierzehnten!)


Die Ausgangssituation war der Fechter-Skandal in
Bayern, der das Vertrauen der Verbraucher in tierische
Lebensmittel in Sachsen, Thüringen und Baden-
Württemberg – bis nach Österreich – schwer erschüttert
hat. Die damalige Gesundheitsministerin in Bayern, Frau
Stamm, hat monatelang, vielleicht sogar ein ganzes Jahr
lang – nach den Auskünften des Kollegen Pschorn weiß
man das nicht so genau – Hinweise auf diesen Miss-
brauch in der Schublade liegen gelassen und ist dem
nicht nachgegangen, was letztendlich zu ihrem Rücktritt
geführt hat. Die Reaktion erfolgte nach dem Motto: Da
läuft der Schuldige; da wird ein Gesetz gemacht. Mit der
elften AMG-Novelle hat man nach meiner Einschätzung
überreagiert.


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Das war der Ausgangspunkt. Dafür ist der Bundesrat mit
einem Votum von 16 : 0 verantwortlich, mit Sicherheit
nicht die Bundesregierung. Das wissen auch Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Selbstverständlich!)


Das Problem, das wir heute bei der Umsetzung und
Anwendung der dreizehnten Novelle haben, ergibt sich
sicherlich nicht nur aufgrund des Inhalts dieses Gesetzes
und der Vorgabe der Siebentagefrist. Die Gestaltungs-
möglichkeiten, die man zwischenzeitlich gefunden hat
– darunter muss man auch die Anwendungshinweise fas-
sen, die sich im Rahmen der Anwendung der elften No-
velle durch entsprechende Interpretation aus dem Um-
feld der LAGV ergeben haben –, haben dazu geführt,
dass es offensichtlich nun doch möglich ist, mit sieben
Tagen zurecht zu kommen, ohne den Verbraucherschutz,
die Sicherheit und die Rückstandsfreiheit tierischer Le-
bensmittel infrage zu stellen.

Das Problem, das wir weiterhin auf der Länderebene
haben werden – das wissen auch Sie, Herr Kollege
Goldmann –, betrifft die Überwachung.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Wenn man Regelungen flexibler gestalten will, muss
man in der Lage sein, diese Vorgaben zu überprüfen und
zu kontrollieren. Dazu ist die Länderebene offensichtlich
nur begrenzt in der Lage. Die Beamten haben mit aller-
größten Befürchtungen auf die Behandlungspläne rea-
giert. Sie hatten die Befürchtung, dass das gesamte Vete-
rinäramt unter Umständen eine Extraabteilung anmieten
muss, um die Überwachungspläne unterbringen und
kontrollieren zu können. Am Anfang war auch ich ein
Anhänger des Behandlungsplans. Aber die Aussage, die
in dem Behandlungsplan getroffen werden soll, ist nicht
viel weit reichender als das, was wir in dem normalen
Anwendungs- und Abgabebeleg auch haben.

Ein alternativer Lösungsansatz war die Indikationen-
liste, die nun Gott sei Dank vom Tisch ist. Ich halte auch
sie für nicht anwendungsfähig. Vor diesem Hintergrund
ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass es vielleicht doch
besser ist, die Siebentagefrist beizubehalten. Ob das bei
der fünfzehnten Novelle auch so sein wird – das Arznei-
mittelgesetz wird häufiger novelliert; die vierzehnte No-
velle ist schon in Bearbeitung, wenn auch aus anderen
Gründen –, lasse ich einmal dahingestellt.

Eine Sache ist natürlich auch klar: Das, was damals
von Bayern initiiert wurde und Bundesratsbeschluss war
– das ist hier schon angesprochen worden –, ist grund-
sätzlich richtig.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war gut!)

Nur, das AMG ist nicht die Rechtsgrundlage, mit der
man das juristisch umsetzen kann. Das steht außer Frage,
auch wenn man die höchstrichterlichen Rechtsprechun-
gen in anderen Bereichen betrachtet. Es liegt nicht in un-
serer Kompetenz, diesen Bereich hier im Bundestag zu
regeln. Denn Art. 74 des Grundgesetzes über die kon-
kurrierende Gesetzgebung bietet dafür keine Rechts-
grundlage. Wir haben ausschließlich den Verkehr mit
Arzneimitteln zu regeln, nicht die Gestaltung unter Um-
ständen privater Vertragsverhältnisse, wie es im Rahmen
der Bestandsbetreuung üblich ist.

Daher appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns gemein-
sam überlegen, welche Rechtsgrundlage wir gemeinsam
mit den Ländern finden können! Die Rechtsgrundlage,
für die dringend nötige Regelung dieses Bereichs kann
das AMG zwangsläufig nicht sein. Ich sehe eine ver-
nünftige Perspektive, dieses Vorhaben im Konsens mit






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wilhelm Priesmeier

den Ländern anzugehen. Denn zu dem Gesetzentwurf,
der von Bayern eingebracht worden ist, hat die Bundes-
regierung gesagt, dass sie das grundsätzliche Ansinnen
positiv bewertet.

Vor diesem Hintergrund halte ich es für vernünftig,
dieses noch einmal anzugehen. Wenn es uns im Interesse
auch anderer Aufgaben, die wir haben, gelingt, das um-
zusetzen, dann bedeutet das eine entscheidende Verbes-
serung der Qualität von tierischen Lebensmitteln, weil
wir den Gesundheitsstatus verbessern und auch die An-
wendung von Arzneimitteln in den Konzepten der inte-
grierten tierärztlichen Bestandsbetreuung weiter mini-
mieren können. Das ist unbestritten. Lassen Sie uns das
gemeinsam anpacken! Dann können wir der dreizehnten
Novelle mit ihren positiven Auswirkungen und ihren Er-
leichterungen ein Mehr an Sicherheit für die Verbraucher
und die Landwirte und ein neues Instrumentarium, mit
dem wir dieses regeln, hinzufügen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516610100

Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1516610200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Erst einmal ein herzliches Dankeschön an die Bericht-
erstatterkollegen. Lieber Wilhelm Priesmeier, Sie haben
uns aufgefordert, gemeinsam über das Thema nachzu-
denken. Wir haben aber schon die vergangenen zwei
Jahre darüber nachgedacht. Für uns mag das durchaus
witzig sein, sich zusammenzusetzen, aber für die Tier-
halter, die Tierärzte, die Tiere selber und für die Verbrau-
cher ist es alles andere als witzig, wenn wir zwei Jahre
lang im Bundestag zusammentreffen und der Einwurf
von Bayern zunächst als wunderbar bezeichnet wird,
aber dann wieder zurückgerudert werden muss.

Zu Beginn der Legislaturperiode saßen wir vier als
Vertreter der vier Fraktionen im Parlament beisammen
und haben uns auf die Punkte parteiübergreifend geei-
nigt, die in unserem Antrag enthalten sind und die auch
die FDP unterstützt hat. Wir haben uns auch über die
Flexibilisierung und die Änderung bzw. Öffnung der
Siebentageregelung geeinigt. Ich hätte gerne heute zur
Erinnerung die Reden aus jener Zeit noch einmal gehört.


(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Da waren wir beide noch ganz grün im Geschäft!)


– Da waren wir zwar noch jünger – das mag vielleicht
sein –, aber nicht dümmer. Insofern bedaure ich das sehr.

Wenn Sie ehrlich wären, lieber Kollege Ostendorff
und lieber Kollege Priesmeier, dann sollten Sie sagen,
dass es Ihnen wehtut, den Gesetzentwurf heute verteidi-
gen zu müssen; denn als Praktiker empfinden Sie doch
beide ganz anders.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Es heißt zwar „Gut Ding braucht Weile“, aber nicht
alles, was lange dauert, ist dann auch wirklich gut. Wir
befassen uns heute im Plenum zum fünften Mal mit der
dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes. In diesem
langen Arbeitsprozess wundert man sich manchmal über
nichts mehr. Sie wurden damals zurückgepfiffen, Kol-
lege Ostendorff. Von Regierungsseite hieß es seinerzeit,
Sie dürften den Brief, den wir im Sinne eines gemeinsa-
men Gesetzesvorhabens an die Ministerin senden woll-
ten, nicht unterschreiben. Wir wollten damit ein Zeichen
nach draußen setzen, dass wir ein Gesetz aus der Mitte
des Parlaments heraus schaffen. Wir könnten schon seit
über einem Jahr mit diesem Gesetz leben. Aber das war
Ihnen aufgrund des Koalitionsvertrags nicht möglich.
Auch der Kollege Priesmeier durfte nicht mitmachen.
Insofern war das Vorhaben versenkt.

Aber nach dem, was Sie heute ausgeführt haben,
scheint es diesen Brief nie gegeben zu haben. Das ist
wahrscheinlich das Los, wenn man in der Regierung ist.
Uns tut das sehr Leid; denn uns geht es um eine Verbes-
serung der Zustände und um die praxisgerechte Umset-
zung der Siebentageregelung.

Lob verdienen einige Verbesserungen, die von der
CDU/CSU, der FDP, den beiden Kollegen Priesmeier
und Ostendorff und auch vom Bundesrat – auch dafür
waren wir sehr dankbar – immer wieder gefordert wor-
den sind. Danach werden das Umfüllen von Arzneimit-
teln aus fertigen Gebinden, das fachgerechte Neuverpa-
cken und Kaskadenregelungen ermöglicht. Alles in
allem werden viele Maßnahmen möglich, die der Praxis
gerecht werden. Das verdient Lob. Herzlichen Dank!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Aber eigentlich geht es um die Siebentageregelung,
und zwar um deren Flexibilisierung, nicht um die Strei-
chung. Wir sind nach wie vor dem Verbraucherschutz
und dem Tierschutz verpflichtet. Es geht nicht darum,
dass leicht und locker Antibiotika eingesetzt werden sol-
len. Das ist auf keinen Fall beabsichtigt. Es geht uns
vielmehr darum, wie eine sachgerechte Anwendung si-
chergestellt und dokumentiert werden kann.

Wir wollen insofern keine ersatzlose Abschaffung der
Siebentageregelung, aber wir sind der Meinung, dass
eine praxisgerechtere Lösung durch entsprechende Kri-
terien des In-Verkehr-Bringens – das heißt: flexible tier-
ärztliche Behandlungspläne und Aufnahme von Betreu-
ungsverträgen je nach Tierhaltungsart – möglich sind.

Ehrlich gesagt bin auch ich nicht ganz glücklich über
den Bundesrat. Dass sich die Länder – das gilt vor allem
für unsere Kollegen aus dem Osten – durchgesetzt ha-
ben, die eine andere Tierstruktur haben, ist nachvollzieh-
bar, aber ich halte es für zu kurz gedacht.


(Ute Kumpf [SPD]: Eine Kuh ist eine Kuh und ein Schwein ist ein Schwein!)


– Eine Kuh ist eine Kuh. Schön, dass Sie das einwerfen.






(A) (C)



(B) (D)


Julia Klöckner


(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Die haben den Sack vorn und den Schwanz hinten! – Peter Bleser [CDU/CSU]: Und ein Ochs ist ein Ochs!)


– Und ein Ochs ist ein Ochs. Auch das mag sein.
Aber es hat durchaus mit der Tierhaltung zu tun, ob

Sie eine Kuh oder große Herde haben und ob Sie Mut-
terkuhhaltung auf der Weide betreiben oder ob die Kühe
im Stall sind. Das ist eine grundsätzliche Unterschei-
dung. Man merkt, dass Sie kein Praktiker sind.


(Jörg Tauss [SPD]: Doch! Wir haben einen ländlichen Wahlkreis! Wir haben sehr viele Kühe!)


Am besten lesen Sie etwas zu dem Thema nach und hal-
ten sich an dieser Stelle etwas zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Schlicht und ergreifend falsch, lieber Kollege

Priesmeier, ist meiner Meinung nach die Argumentation,
dass der Bund in diesem Bereich angeblich keine Rege-
lungskompetenz hat. Träfe das zu, dann wäre auch das
jetzt geltende Recht nach der elften Novelle verfassungs-
widrig. Denn es geht um die auch dort geregelten regel-
mäßigen tierärztlichen Begutachtungen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Siehste! Da hat sie tausendprozentig Recht!)


– Ich freue mich immer, wenn die FDP mich dabei unter-
stützt. – Das ist eine Auslegungsfrage und Sie wissen,
dass ich darin Recht habe.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das ist eine Frage des Behandlungsbegriffs! Das verwechseln Sie!)


Es geht hier nicht um die konkrete Ausgestaltung zum
Beispiel eines Behandlungsvertrags, sondern um die ge-
setzlich festzulegenden Anforderungen und deren Um-
setzung. Wenn man will, geht das. Ich weiß, dass Sie
gerne würden. Aber Sie durften nicht. Insofern dürfen
Sie jetzt nicht wollen. Mir ist schon klar, dass es so ist.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So ein Kokolores!)


– Sie waren ja zu Beginn der Gespräche gar nicht dabei,
als wir darüber diskutiert haben.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber wir reden miteinander, Frau Klöckner!)


Apropos Kompetenzfragen: Der Oberhammer ist
– darauf hat Kollege Goldmann schon hingewiesen – die
Tierarzneimittelanwendungskommission. Das ist eine
dreiste Kompetenzverschiebung. Letztlich ist sie nichts
anderes als eine Tierärzteentmündigungskommission.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jedenfalls sind ganze 7 000 Euro für die Arbeit der Ex-
perten vorgesehen. Das reicht vielleicht gerade einmal
für die Reisekosten. Meiner Meinung nach geht es hier
nur vordergründig um die Fortschreibung der Antibio-
tikaleitlinien. Diese wurden seit 1999 ständig fortge-
schrieben, und zwar auch ohne diese Kommission. Ob-
wohl Sie selbst Tiermedizin studiert haben, tun Sie nun
so, als gäbe es bis dato keine Leitlinien. Diese gibt es
doch. Ehrlich gesagt geht es dem BMVEL um etwas
ganz anderes: Ihnen geht es um einen Zugriff auf die
Tierarzneimittelgesetzgebung, die bisher in die Zustän-
digkeit der Gesundheitsministerin fällt. Nun möchte
Frau Künast das über die geschilderte Hilfskonstruktion
ändern.

Halten wir fest: Es gibt gute Ansätze. Die Arzneimit-
telanwendungskommission muss aus dem Gesetz-
entwurf herausgenommen werden. Die Siebentagerege-
lung muss flexibilisiert werden. Wir würden gerne
weiterhin zusammen mit Ihnen an der Novelle arbeiten,
und zwar lieber in dieser Legislaturperiode, als später
noch einmal ein Fass aufzumachen und von vorne zu be-
ginnen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516610300

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurf eines Dreizehnten
Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes,
Drucksache 15/4736. Der Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5112, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/
CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef

Parr, Ulrike Flach, Rainer Funke, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Prä-

(Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG)

– Drucksache 15/1234 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung
hier: Sachstandsbericht Präimplantations-

diagnostik – Praxis und rechtliche Regu-
lierung in sieben ausgewählten Ländern

– Drucksache 15/3500 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Detlef Parr von der FDP.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1516610400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte zuerst den anderen Fraktionen herzlich danken,
dass die FDP als Erste zu Wort kommen kann und dass
wir einmal fünf Minuten und nicht weniger haben. Ganz
herzlichen Dank.

Die FDP unternimmt heute ihren zweiten Versuch,
aufbauend auf einem Antrag und einem Gesetzentwurf
aus der vergangenen Wahlperiode, die Präimplanta-
tionsdiagnostik, PID – das ist eine Form der künstlichen
Befruchtung, um den Embryo vor der Einpflanzung auf
die Gefahr einer schwerwiegenden Erbkrankheit zu un-
tersuchen –, auch in Deutschland rechtlich abzusichern.
Damals bedurfte es noch großer Anstrengungen, zur An-
hörung Experten aus dem Ausland einzuladen. Dabei ist
doch der Blick zu unseren europäischen Nachbarn und
nach Übersee besonders wichtig, um Fehlentwicklungen
zu erkennen oder uns an Vorbildern zu orientieren. Wir
leben nämlich nicht auf einer Insel mit willkürlich ge-
setzten moralischen Schutzzäunen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir leben vielmehr im Herzen Europas nahezu ohne
Grenzen. Wir können leicht medizinische Leistungen in
Frankreich, Belgien und Italien in Anspruch nehmen. Es
ist doch absurd, wenn dort akzeptierte medizinische Ver-
fahren bei uns unter Strafe gestellt sind.

Es ist ein Verdienst des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung – danke, Kolle-
gin Flach! –, dass durch den vorliegenden Sieben-Län-
der-Vergleich zur Praxis und rechtlichen Regulierung
der PID eine gute Grundlage zur Fortsetzung der von der
FDP im Bundestag angestoßenen Debatte in diesem
Hause geschaffen worden ist.

Die Untersuchung – man kann sie natürlich unter-
schiedlich lesen – beweist aus unserer Sicht: Die FDP
hat ihren ersten Gesetzentwurf sehr sorgfältig überarbei-
tet. Sie hat im vorliegenden Gesetzentwurf vielen As-
pekten Rechnung getragen, die nach den praktischen Er-
fahrungen in den Vergleichsländern von hoher
Bedeutung sind. Wir wollen Rechtssicherheit für die be-
troffenen Paare und die Ärzte. Die PID muss aus der
rechtlichen Grauzone heraus.


(Beifall bei der FDP)

Wir wollen den Wertungswiderspruch auflösen, dass

PID zwar verboten ist, dass es den Eltern aber ermög-
licht wird, sich nach einer Pränataldiagnostik für einen
Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Wir wollen
die PID nur in engen Grenzen im Falle einer hohen
Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Erbkrank-
heit zulassen. Wir wollen die Diagnostik nur in Einzel-
fällen bei hoher Indikation nach vorheriger Billigung
durch eine Ethikkommission ermöglichen. Außerdem
wollen wir nur wenige lizenzierte Zentren in Deutsch-
land.


(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])

Wir verzichten auf einen Indikationskatalog. Wir

dürfen bestimmte Krankheitsbilder nicht stigmatisieren.

(Zuruf des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])


Die PID soll also eine Untersuchungsmethode bleiben,
Herr Kollege Hüppe, die einer überschaubaren Zahl von
Risikopaaren, die genetisch stark vorbelastet sind, vor-
behalten bleibt.


(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])

In die jetzt vorliegende Fassung hat die FDP auch die

Bedenken aus der Plenardebatte und der Anhörung zum
alten Gesetzentwurf aufgegriffen und eingearbeitet. Die
Festlegung der Kriterien für die Zulässigkeit der PID soll
– anders als zuvor – nicht durch die Bundesärztekam-
mer, sondern durch eine Rechtsverordnung der Bundes-
regierung bzw. durch uns selbst, also durch das Parla-
ment, erfolgen. Zudem wurde die Anregung des
Nationalen Ethikrates, eine jährliche Berichtspflicht vor-
zusehen, eingearbeitet.

Der TAB-Bericht zeigt einerseits die drohenden Ge-
fahren auf, wenn – die USA können dafür als Beispiel
angeführt werden – die PID ungeregelt praktiziert und
auf Indikationen ausgedehnt wird, die über die Erken-
nung des Risikos einer Erbkrankheit hinausgehen. Das
wollen wir nicht.


(Beifall bei der FDP)

Er zeigt andererseits die guten Erfahrungen unserer di-
rekten Nachbarn, zum Beispiel Frankreichs, mit strengen
Indikationsregelungen auf. Das wollen wir. Kassandra-
rufe über einen Dammbruch gehen offensichtlich ins
Leere.


(Beifall bei der FDP)

Bisher ist die Sichtweise der betroffenen Eltern viel

zu kurz gekommen. Der Leidensdruck und der Wunsch,
ein gesundes Kind zu bekommen, sind immens. Meist
haben die Eltern schon ein erkranktes Kind oder
Schwangerschaftsabbrüche nach einer PND hinter sich.
Diese Eltern wünschen sich mehrheitlich die PID. End-
lich gibt es auch dazu eine Studie. Die Arbeit der Uni-
versität Marburg bestätigt auch, wie wichtig die Aufklä-






(A) (C)



(B) (D)


Detlef Parr

rung über die Chancen und Risiken der Methode und die
Beratung sind. Eltern müssen ihre Entscheidung auf ge-
sicherter Grundlage treffen können.

Wir verstehen nicht, dass in Deutschland hingenom-
men wird, dass sich betroffene Eltern an Zentren im
Ausland wenden und dort die PID in Anspruch nehmen.
Dieser „Reproduktionstourismus“ ist eine traurige Reali-
tät. So sind zum Beispiel in Brüssel circa 20 Prozent der
nachfragenden Paare deutscher Nationalität. Niemand
von uns kann doch wollen, dass das so weitergeht.


(Beifall bei der FDP)

Ich komme zum Schluss. Eine Insellösung für

Deutschland ist daher nicht haltbar. Die Befürchtungen,
dass die Zulassung der PID negative Auswirkungen auf
Menschen mit Behinderungen haben könnte, nehmen
wir sehr ernst. Doch gerade betroffene Eltern kommen
meist aus einem unmittelbaren Umfeld von behinderten
Menschen und zeigen eine positive Einstellung zu Men-
schen mit Behinderungen. Auch dies bestätigt die Mar-
burger Studie. Zudem gibt die Gesellschaft den Eltern
schon mit der PND die Möglichkeit, zu entscheiden, ob
ein behindertes Kind ausgetragen werden soll oder nicht.

Ich bin auf die Neuauflagen unserer Debatte ge-
spannt. Ich wünsche mir nach den zunehmend positiven
Expertisen und Abstimmungsergebnissen in anderen
Gremien eine offenere und unvoreingenommenere Aus-
einandersetzung im Interesse der betroffenen Paare. Sie
dürfen wir mit ihren Sorgen nicht länger alleine lassen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516610500

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Erika Ober von

der SPD-Fraktion.

Dr. Erika Ober (SPD):
Rede ID: ID1516610600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute steht
mit dem Gesetzentwurf der FDP wieder die Präimplanta-
tionsdiagnostik auf der Tagesordnung. Ich persönlich
finde es gut, dass über dieses wichtige und auch schwie-
rige Thema an dieser Stelle debattiert wird. Lieber Herr
Parr, es ist kein Thema, das fraktionsweise abzuhandeln
ist.


(Detlef Parr [FDP]: So ist es!)

Deshalb ist es auch klar, dass Sie als Einbringer des Ge-
setzentwurfes hier als Erster reden durften.


(Detlef Parr [FDP]: Herzlichen Dank!)

Als Erstes weise ich ausdrücklich darauf hin, dass die

Rechtslage klar geregelt ist. Wir brauchen zum jetzigen
Zeitpunkt keinen neuen Gesetzentwurf, der eine Rechts-
verordnung zum Ziel hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Was wir brauchen, ist eine breite und öffentliche Sach-
diskussion darüber, wie wir zukünftig mit dem Thema
Präimplantationsdiagnostik umzugehen haben. Aus die-
sem Grunde begrüße ich die heutige Debatte. Ich denke,
dass eine Rechtsverordnung, wie sie die FDP in ihrem
Entwurf vorschlägt, der Komplexität des Themas nicht
ganz gerecht wird. Ihr Entwurf greift für meine Begriffe
zu kurz. Ihm fehlt die nötige formelle Weitsicht.

Ich komme zum derzeitigen Stand: Es ist in Deutsch-
land nicht erlaubt, befruchtete Eizellen außer zur Herbei-
führung einer Schwangerschaft zu erzeugen. Konkret
heißt das: In Deutschland ist es erlaubt, Eizellen zu be-
fruchten und diese in die Gebärmutter einzusetzen. Es ist
aber nicht erlaubt, sie vorher auf chromosomale Stö-
rungen zu untersuchen. Eine chromosomale Störung ist
zum Beispiel die Verdopplung von Chromosomen, was
in über 50 Prozent der Fälle zu Fehlgeburten führt. Da-
gegen ist eine genetische Untersuchung während einer
schon bestehenden Schwangerschaft erlaubt. Wir müs-
sen früher oder später die Frage beantworten, warum in
Deutschland die Entnahme, Befruchtung und Implanta-
tion von Eizellen in die Gebärmutter erlaubt ist, nicht
aber die vorherige genetische Untersuchung der befruch-
teten Zellen in der Petrischale.


(Detlef Parr [FDP]: Das müssen wir bald tun!)

Was kann Präimplantationsdiagnostik? Unter Prä-

implantationsdiagnostik versteht man medizinische Ver-
fahren zur Untersuchung einer künstlich befruchteten
Eizelle. Diese Eizelle wird im Rahmen einer In-vitro-
Fertilisation aus dem Eierstock der Frau nach einer Hor-
monbehandlung gewonnen und außerhalb des Mutterlei-
bes befruchtet. Alle befruchteten Eizellen müssen nach
circa drei Tagen reimplantiert werden. Präimplantations-
diagnostik – Sie haben es gesagt – ist in vielen europäi-
schen Ländern unter unterschiedlichsten Bedingungen
möglich. Den Sachstandsbericht zur Präimplantations-
diagnostik haben Sie angesprochen. Darin werden die
Regelungen in sechs europäischen Ländern und in den
USA dargestellt und miteinander verglichen. Dieser
muss ausgewertet werden.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was möchten Sie denn?)


Wie begründen wir gegenüber den Menschen, die
sich ein Kind wünschen, aber eine schwere gesundheitli-
che Vorbelastung aufweisen, dass wir nicht das erlauben,
was in anderen Ländern möglich ist? Ich sehe als Folge
der Erfahrungen aus anderen Ländern die Notwendig-
keit, über diese Frage weiter zu debattieren. Wichtig ist
dabei auch die Analyse der gesellschaftlichen Realität.
Ich wiederhole es noch einmal: Bei chromosomalen Stö-
rungen kommt es im Verlauf der Schwangerschaft in
über 50 Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt. Weil die
Präimplantationsdiagnostik nicht erlaubt ist, wird aus-
weichend oder als Notlösung in Deutschland zunehmend
eine Polkörperchenuntersuchung der weiblichen Ei-
zelle vorgenommen.


(Detlef Parr [FDP]: Das ist keine Lösung!)

Hier ist es nur möglich, den halben Chromosomensatz,
nämlich den der Mutter, zu untersuchen. Im Gegensatz
dazu wird bei der Präimplantationsdiagnostik der






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Erika Ober

gesamte Chromosomensatz untersucht. Die Polkörper-
chendiagnostik liefert also Aufschluss über die mütterli-
che Seite und hat demzufolge nur eine begrenzte
Aufschlussrate, nämlich 50 Prozent.

Bei schwerwiegender gesundheitlicher Vorbelastung
der Eltern oder eines Elternteiles wird möglicherweise
um die 15. Schwangerschaftswoche eine Pränataldia-
gnostik durchgeführt, insbesondere bei einem Wunsch-
kind. Das müssen wir wissen. Das heißt, bei entspre-
chender Disposition der Eltern kann eine Untersuchung
des Embryos nicht außerhalb des Mutterleibes, sondern
frühestens um die 15. Schwangerschaftswoche erfolgen,
also bei schon bestehender und fortgeschrittener
Schwangerschaft. Die Untersuchung im Mehrzellensta-
dium – wir reden hier von 16 Zellen – vor der Implanta-
tion ist verboten.

Uns allen ist klar: Es geht bei der Präimplantations-
diagnostik um ein sehr schwieriges Thema. Wir wissen,
dass es sehr unterschiedliche Meinungen zum Thema
Präimplantationsdiagnostik gibt, die unsere Aufmerk-
samkeit und unseren Respekt verdienen. Bekannt ist das
Votum der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages aus
dem Jahre 2002: Hier wird uns mehrheitlich eine Präzi-
sierung der Regelungen von Präimplantationsdiagnostik
zu diagnostischen Zwecken aufgegeben.

Der Nationale Ethikrat hat im Januar 2003 für eine
eng begrenzte und verantwortungsvolle Zulassung der
Präimplantationsdiagnostik votiert. Der Ethikrat sieht
kein verfassungsrechtliches Verbot vorgegeben. Viel-
mehr wurde ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
konstatiert.

Darüber hinaus wenden sich viele einzelne Menschen
und Gruppen aus der Gesellschaft an uns Mitglieder des
Deutschen Bundestags, um ihre Meinungen und Erfah-
rungen an uns heranzutragen. Die einzelne Meinung hat
Respekt verdient und der Gesetzgeber hat die Aufgabe,
die gesellschaftliche Realität mitsamt der vorhandenen
Meinungsvielfalt in seine Beschlüsse einzubinden. Dies
bedeutet, das Für und Wider abzuwägen und aus gegebe-
nem Anlass auch das Bestehende zu überdenken.

Ich halte es für falsch, eine Entscheidung zur Prä-
implantationsdiagnostik immer wieder aufzuschieben.
Dem steht auch entgegen, dass wir ständig mit neuen In-
formationen aus der Biotechnologie rechnen müssen.
Hier ist eine Abwägung nötig, aber um Missverständnis-
sen vorzubeugen, sage ich gleich dazu: Man muss nicht
alles machen, was geht.

Der heute vorliegende Entwurf verzichtet auf eine
konkrete inhaltliche Regelung. Er fordert eine Rechts-
verordnung und will die inhaltliche Auseinandersetzung
um ethische Fragen anderen zuweisen. Damit werden
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ih-
rer eigenen Forderung nach mehr Rechtsverbindlichkeit
nicht gerecht.

Wir müssen anerkennen, dass wir vor einem großen
Widerspruch stehen und dafür lieber früher als später
eine rechtliche Lösung finden müssen.

(Detlef Parr [FDP]: Wir sind für Änderungen und Verbesserungen offen!)


– Lassen Sie uns diskutieren, Herr Parr! – Es verdichtet
sich, dass eine Ausformulierung über den zukünftigen
Umgang mit Präimplantationsdiagnostik in Deutschland
benötigt wird. Wir brauchen einen rechtsverbindlichen
Rahmen, der die realen Lebensumstände der Menschen
besser berücksichtigt. Wir sollten Verantwortung zeigen
und den Rahmen für Präimplantationsdiagnostik präzi-
sieren. Das geht aus meiner Sicht mit einem formellen
Gesetz und nicht mit einer Rechtsverordnung. Sinnvoll
wäre meiner Meinung nach die Einbettung einer Rege-
lung zur Präimplantationsdiagnostik in einen Gesamt-
kontext der Reproduktionsmedizin. Eine ausschließlich
strafrechtliche Regelung, wie wir sie jetzt im Embryo-
nenschutzgesetz haben, wird der Gesamtproblematik si-
cher nicht gerecht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516610700

Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe von der

CDU/CSU-Fraktion.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1516610800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Prä-

implantationsdiagnostik ist eine Untersuchungsmethode,
um menschliche Embryonen auf ihre erblichen Eigen-
schaften hin zu untersuchen. Die FDP spricht in ihrem
Gesetzentwurf ganz unbefangen von „Erbkrankheiten“.
Es geht also um eine Selektion von erbkrankem Nach-
wuchs und das Ergebnis der PID ist die Tötung von
menschlichem Leben, weil es krank oder behindert ist.

Nach dem von der FDP vorgelegten Gesetzentwurf
wird eine künstliche Befruchtung nicht durchgeführt,
weil ein Paar sonst keine Kinder bekommen könnte, son-
dern allein aus dem Grund, um Kinder nach genetischen
Merkmalen auszusuchen.


(Dr. Erika Ober [SPD]: Unsinn!)

Ziel der künstlichen Befruchtung darf es aber eben nicht
sein, menschliches Leben zu erzeugen, um es zu testen,
sondern Ziel muss sein, dass es zur Welt kommt, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die FDP – gerade auch Herr Parr wieder – behauptet,

sie wolle die PID eng begrenzen. Der Bericht des Büros
für Technikfolgenabschätzung, den wir heute mit bera-
ten, hat mehrere Länder untersucht, in denen die PID
schon praktiziert wird. Er zeigt, wie schwer es ist, PID
zu begrenzen, wenn sie erst einmal zulässig ist. Der Be-
richt belegt, dass jede neue Einsatzmöglichkeit von
PID zu Druck führt, sie auch zuzulassen. PID wird im
Ausland sogar zur Geschlechtswahl aus sozialen Grün-
den eingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, wird in
der Petrischale getötet.






(A) (C)



(B) (D)


Hubert Hüppe


(Detlef Parr [FDP]: Wir haben doch klar gesagt, dass wir das nicht wollen! Das ist doch keine sachliche Diskussion!)


– Ich komme gleich dazu. – In Großbritannien dürfen
seit November Embryonen aussortiert werden, die ein
erhöhtes genetisches Risiko für Darmkrebs haben.


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Das Risiko auf Darmkrebs ist nicht geschlechtsspezifisch! Das ist wirklich alles zusammen!)


In anderen Ländern wird auf ein erhöhtes Brustkrebsri-
siko untersucht und danach selektiert. Mit anderen Wor-
ten: Man tötet in diesen Ländern Embryonen auch dann,
wenn man gar nicht weiß, ob diese Menschen später ein-
mal erkranken oder behindert sein werden. Nur der Ver-
dacht reicht aus. Inzwischen gibt es sogar einen Test auf
niedrige Intelligenz. Wer hat eigentlich noch eine
Chance, geboren zu werden, wenn bald mithilfe des
DNA-Chips Tausende von Erbanlagen in einem Durch-
gang geprüft werden können?

Ich glaube, dass – jetzt komme ich zu Ihnen, Herr
Parr – die FDP mit einer Ausweitung der PID rechnet,
wenn diese erst einmal zugelassen ist. So schreiben Sie
selbst, dass man – so wörtlich – „bis auf weiteres nur mit
wenigen hundert Fällen“ rechnet. Also kalkulieren Sie
doch offensichtlich die Ausweitung der PID ein. So
heißt es auch in Ihrer Begründung, deutsche Paare füh-
ren immer häufiger nach Belgien. Heute haben Sie ge-
sagt, das wolle man diesen Paaren ersparen.

Natürlich weiß die FDP, wenn sie den Bericht gelesen
hat, wie liberal die PID in Belgien praktiziert wird. Au-
ßer der Geschlechtswahl aus sozialen Gründen, also „so-
cial sexing“, ist dort alles möglich. Wenn die FDP den
PID-Tourismus nach Belgien zum Kronzeugen macht,
dann ist es die logische Konsequenz, über kurz oder lang
in Deutschland PID für alles zu erlauben, was in Belgien
möglich ist.


(Dr. Erika Ober [SPD]: Das wollen wir gerade nicht!)


– Die Leute würden ja weiterhin nach Belgien fahren,
wenn sie die Indikation, die sie hier haben möchten, in
Deutschland nicht bekommen. Dieses Argument kann
nicht gelten, Frau Ober.


(Christine Lehder [SPD]: Was Sie sagen, ist aber doch was ganz anderes!)


Die FDP will PID einführen, damit es vorbelasteten
Paaren möglich gemacht wird – so wörtlich –, „eigene
genetisch gesunde Kinder zu bekommen“ und späte Ab-
treibung nach Pränataldiagnostik zu verhindern. Ich
kann diesen Wunsch einiger betroffener Paare sehr gut
verstehen. Aber was sind die Erfahrungen aus dem Aus-
land? Die Datensammlung der European Society of
Human Reproduction and Embryology, die im
Schlussbericht der Enquete-Kommission berücksichtigt
wurde, enthält die Daten von 1 561 Patientinnen mit
über 2 000 Behandlungszyklen. Danach – hören Sie ge-
nau zu – entstanden aus 26 783 entnommenen Eizellen
gerade einmal 309 Schwangerschaften, die zu 215 Ge-
burten von 279 Kindern führten. Zur Kontrolle der PID
wurde bei 42 Prozent aller Föten eine invasive Pränatal-
diagnostik vorgenommen. Dabei wurden sieben Fehldia-
gnosen festgestellt, die vier Spätabtreibungen zur Folge
hatten. Außerdem gab es – weil es heißt, man wolle
Abtreibungen verhindern – 15 Abtreibungen durch so
genannten selektiven Fetozid bei Mehrlingsschwanger-
schaften. Das heißt, durch die Bauchdecke der Schwan-
geren wird eine Spritze mit Kaliumchlorid in das Herz
des Fötus gestochen, um ihn zu töten. 6,6 Prozent der
nach PID geborenen Kinder wiesen Fehlbildungen auf,
waren also behindert. Bei 42 Prozent der Geburten traten
Komplikationen auf, drei davon mit Todesfolge.


(Dr. Erika Ober [SPD]: Das hat mit PID nichts zu tun!)


Mit anderen Worten: Nur jede siebte Frau, die eine
PID vornehmen lässt, kann überhaupt mit der Geburt ei-
nes Kindes rechnen. Diese Zahlen zeigen, dass PID bei
der übergroßen Mehrheit gerade nicht garantiert, ein ge-
sundes Kind oder überhaupt ein Kind zu bekommen.
PID ist auch keine Garantie gegen Abtreibungen nach
Pränataldiagnostik.

Angesichts dieser Daten dürfen aber auch das Wohl-
ergehen und die Gesundheit der Frauen nicht unbeachtet
bleiben, die nach mehreren körperlich und seelisch be-
lastenden Behandlungen weiterhin kinderlos bleiben.
Man kann annehmen – das ist auch meine persönliche
Erfahrung –, dass es diesen Frauen hinterher wesentlich
schlechter ging, als wenn sie sich gar nicht auf das Ver-
fahren eingelassen hätten.

Meine Damen und Herren, erstaunlich ist, wer die
Einführung der PID befürwortet: die FDP-Fraktion, die
Forschungsministerin, die Gesundheitsministerin und
der Bundeskanzler – nach der heutigen Aussage, dass er
auch fürs Klonen ist, kein Wunder –,


(Ulrike Flach [FDP]: Therapeutisches Klonen! – Christine Lehder [SPD]: Das ist ja wirklich skandalös!)


vor allem wenn es sich, wie immer betont wird, nur um
100 oder 200 Paare handeln soll, die betroffen sind. Er-
staunlich finde ich das deswegen, weil es zahlenmäßig
weitaus größere Patienten- und Behindertengruppen
gibt, die zum Teil viel größere Probleme haben. Diese
Gruppen wären froh, wenn sie nur einen Bruchteil dieser
Aufmerksamkeit für ihre Probleme erhalten würden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Erika Ober [SPD]: Das hat mit dem Thema nichts zu tun, aber wirklich nichts!)


Ich habe den Verdacht, dass es vielen Befürwortern
darum geht – ich unterstelle das nicht jedem, aber
einigen –, das Embryonenschutzgesetz insgesamt zu
knacken, auch um durch die PID an überzählige
Embryonen in Deutschland zu gelangen, die es jetzt
nicht gibt.


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Das ist eine miese Unterstellung! – Zuruf der Abg. Ulrike Flach [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Hubert Hüppe

– Frau Flach, Sie haben doch Anträge gestellt, in denen
Sie die verbrauchende Embryonenforschung auch in
Deutschland befürworten. Wenn Sie dagegen sind, dann
sagen Sie es bitte jetzt. Ich wäre damit zufrieden. Aber
ich glaube nicht, dass Sie dies tun werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Sie wollten doch nichts unterstellen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516610900

Herr Kollege Hüppe, kommen Sie bitte zum Schluss.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1516611000

Meine Damen und Herren, wir werden gegen den An-

trag stimmen, weil mit ihm eine Tür geöffnet werden
soll, die wir vielleicht nie mehr schließen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516611100

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516611200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Parr, Ihre Fraktion schlägt vor, das Embryonen-
schutzgesetz zu ändern und die so genannte Präimplanta-
tionsdiagnostik in, wie Sie sagen, eng begrenzten Fällen
zuzulassen. Wir werden dem nicht zustimmen. Ich sage
Ihnen, warum.

Das alles hört sich viel zu einfach an. Man muss sich
vergegenwärtigen, was dieses Verfahren allein schon auf
der individuellen Ebene bedeutet. Eine Frau, die durch-
aus auf natürlichem Wege schwanger werden kann,


(Detlef Parr [FDP]: Schwanger geworden ist!)

muss sich, damit das von Ihnen vorgeschlagene
Verfahren überhaupt greifen kann, zunächst einmal der
In-vitro-Befruchtung unterziehen. Das macht man
nicht einfach im Vorbeigehen. Dieses Verfahren bedeutet
eine Hormonbehandlung, damit eine Überzahl von
Eizellen heranreift, und einen operativen Eingriff, mit
dem diese Eizellen entnommen werden. Es bedeutet fer-
ner die gezielte und gewollte Erzeugung von überzähli-
gen Embryonen im Glas – man will ja selektieren –, die
Vernichtung der Embryonen mit der unerwünschten ge-
netischen Ausstattung


(Zurufe von der SPD: Nein!)

und schließlich die Implantation derjenigen Eizellen, die
man für geeignet hält.

Wie groß ist anschließend die Wahrscheinlichkeit ei-
ner Schwangerschaft? Wir alle wissen sehr genau, dass
die so genannte Baby-take-home-Rate bei der In-vitro-
Befruchtung äußerst gering ist.


(Detlef Parr [FDP]: Lassen wir es die Frauen doch selbst entscheiden!)

Es kann also sein, dass die Frau nach all diesen Maßnah-
men kein Kind bekommt. Ich finde, das sollte man sich
erst einmal klar machen. Es werden hier Hoffnungen ge-
weckt. Aber der Preis, der dafür zu zahlen ist, und die
Enttäuschung, die sich aus einem Fehlschlag ergeben
kann, werden zu sehr aus den Augen verloren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Deshalb soll es also verboten bleiben?)


Ich halte den Vergleich mit der Abtreibung nicht für
richtig. Herr Parr, wenn ich Sie recht verstanden habe,
dann haben Sie gesagt, dass man im Rahmen einer beste-
henden Schwangerschaft nach der Pränataldiagnostik die
Wahl habe, die Schwangerschaft weiterzuführen oder
nicht. Das stimmt so nicht. Es ist ein Unterschied, ob
Embryonen in der Petrischale erzeugt werden, zu denen
die Frau oder das Paar keine persönliche Beziehung hat,


(Detlef Parr [FDP]: Sehr wohl! Das beweist die empirische Untersuchung!)


oder ob eine Frau bereits etwa 17 Wochen schwanger ist
und ein Kind in ihrem Körper heranreifen fühlt. In die-
sem Fall ist das Gefühl der persönlichen Bindung
ungleich stärker. Vor allem aber werden bei einer natür-
lichen Schwangerschaft eben keine überzähligen
Embryonen erzeugt, die man anschließend vernichtet.

Es besteht auch ein rechtlicher Unterschied. Denn die
Abtreibung ist ein Abwehrrecht, bei dem der Staat auf
seinen Schutzanspruch wegen der Unzumutbarkeit für
die Frau zum Teil verzichtet. Die rechtliche Regelung ist
bekanntlich immer noch so, dass eine Abtreibung als
rechtswidrig angesehen wird, aber straffrei bleibt.

Was Sie wollen, ist ein Anspruch der Frau auf eine
genetische Selektion, auf ein genetisch gesundes Kind.
Das ganze Verfahren soll noch nicht einmal rechtswidrig
sein. Das würde schon eine sehr gravierende rechtliche
Veränderung bedeuten, auf die wir uns nicht verständi-
gen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Herr Parr, es mag ja sein, dass Sie eine solche neue
Regelung auf vergleichsweise wenige Fälle beschränken
wollen; aber ich sage Ihnen, dass das nicht machbar sein
wird. Es wird zu einer Indikationsausweitung kommen.
Das ist im Übrigen auch die Erfahrung in all den Län-
dern, in denen diese Regelung zunächst in eng begrenz-
ten Fällen eingeführt wurde. Wenn es tatsächlich eine
Rechtsverordnung gäbe, in der das Justizministerium be-
stimmte Krankheitsbilder beschreibt, bei denen eine sol-
che Diagnostik und Selektion zulässig wäre, dann muss
ich fragen: Was bedeutet das eigentlich für die Men-
schen, die diese Krankheit haben? Haben Sie darüber
schon einmal nachgedacht?


(Detlef Parr [FDP]: Hören Sie doch auf den Mukoviszidose-Verein! Dann wissen Sie, wie sie reagieren!)







(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender

Das führt doch zur Stigmatisierung bestimmter Krank-
heitsbilder. Wie soll man dann in Zukunft in der Gesell-
schaft über diese Art der Behinderung reden? Das kann
ich mir nicht vorstellen.

Sie sprechen so ohne weiteres von „genetisch belaste-
ten Paaren“. Wir reden von Menschen mit Krankheiten,
mit denen man offensichtlich erwachsen wird und bei
denen die Lebensqualität so hoch ist, dass man sich Kin-
der wünscht und sich in der Lage fühlt, sie auch ins Le-
ben zu begleiten. Gleichzeitig soll man einen Katalog
von Krankheiten verabschieden, bei deren Vorliegen der
Embryo vernichtet werden darf. Das halten wir für
ethisch nicht vertretbar.


(Detlef Parr [FDP]: Gilt das für alle Grünen?)

Wir fürchten uns auch vor den Folgen, die ein solcher
Mechanismus für den Umgang mit behinderten Men-
schen in unserer Gesellschaft hätte. Wenn es erst einmal
heißt, dass man eine Auslese betreiben kann, die dazu
führt, dass solche Menschen gar nicht erst geboren wer-
den, dann werden wir, so glaube ich, für ein solidari-
sches Miteinander mit Menschen mit Behinderungen
weniger Platz denn je haben. Wir wollen gerade das Ge-
genteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516611300

Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1516611400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits in

der letzten Legislaturperiode haben wir über das Thema,
das wir heute beraten, diskutiert. Der Fortschritt von
Wissenschaft und Forschung bringt für uns die Ver-
pflichtung, neue Entwicklungen immer wieder zu prü-
fen. Es muss geklärt werden, wie sie sich generell auf die
Situation der Menschen und auf die Entwicklung der Ge-
sellschaft auswirken. Maßstab ist für mich und uns dabei
die Würde des Menschen von Anfang an. Das christ-
liche Menschenbild steht für den Schutz des Menschen-
lebens in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Das
gilt auch für Grenzsituationen des Lebens – gleichgültig,
ob es sich um eine Behinderung, eine schwere Erkran-
kung, das Leben vor der Geburt oder die Situation des
Sterbens handelt. Das christliche Menschenbild steht ge-
gen eine „Verzweckung“ des Menschen und gegen eine
Unterscheidung von „lebenswertem“ und „lebensunwer-
tem“ Leben. Es steht auch gegen eine Reduzierung von
Menschen auf ihre Nützlichkeit.

Menschliches Leben entsteht nach überwiegender
Auffassung mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle.
Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigen-
ständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkeiten.
Deshalb hat der frühe Embryo in jedem Fall bereits An-
spruch auf einen besonderen Schutz der Rechtsordnung.
Die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht in diesem
Stadium eine Gendiagnostik und damit in der Konse-
quenz entweder den Transfer des Embryos oder seine
Vernichtung – das heißt: Selektion.

Die PID ist in Deutschland nach den Regelungen des
Embryonenschutzgesetzes nicht zulässig. Die Vorstel-
lung, die Anwendung der PID sei gesetzlich beschränk-
bar, wird von Fachleuten bestritten. So spricht der Deut-
sche Ärztinnenbund in seiner Stellungnahme von einer
„Türöffnerfunktion“. Indikationen, Listen nicht akzep-
tabler Erkrankungen, nach denen gefahndet wird, wür-
den bald ergänzt, erweitert und schließlich ganz abge-
schafft werden. Gesetzliche Einschränkungen werden
keinen Bestand haben können. Wer kann denn Eltern ge-
genüber auf Dauer begründen, welche Krankheiten oder
Behinderungen zumutbar sind und welche nicht?


(Detlef Parr [FDP]: Lesen Sie den Bericht einmal, der widerspricht allem, was Sie da sagen! – Gegenruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht! – Gegenruf des Abg. Detlef Parr [FDP]: Aber vielem von dem!)


Die Erfahrungen in anderen Ländern, in denen es solche
Begrenzungen zunächst gegeben hat, zeigen, Herr Kol-
lege Parr, dass diese auf Dauer nicht haltbar sind und
dass auch gesunde Menschen die PID zum Beispiel für
eine Wunschkindproduktion nutzen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das kann man klar regeln!)

Auch bei der Entwicklung der Pränataldiagnostik hat
man in Deutschland anfangs von einer begrenzten Zahl
von 175 Paaren gesprochen. Heute sind es mehr als
70 000. Das muss man einfach wissen.

Eine Zulassung der PID kann auch nicht mit der
Rechtssituation für den Schwangerschaftsabbruch ge-
mäß §§ 218 ff. StGB begründet werden. Die Ausnahmen
von der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrü-
chen betreffen Situationen, in denen es um einen Kon-
flikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und dem
Recht der Schwangeren auf Leben und physische und
psychische Unversehrtheit geht. Die Straffreiheit des
Schwangerschaftsabbruchs wird damit gerechtfertigt,
dass der Konflikt für die Frau „nicht auf eine andere für
sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“, wie es
im Gesetz heißt. Letztlich geht es um die Abwägung des
Lebensrechts der Mutter und des Lebensrechts des Kin-
des. Das ist bei der PID nicht der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Einführung der PID fördert die Gefahr, in Kate-

gorien von „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“
Leben zu denken und zu handeln. Bereits heute müssen
sich Eltern behinderter Kinder fragen lassen: Hat denn
das sein müssen? Der soziale Druck auf Eltern und ins-
besondere auf Frauen, die Kinder mit Behinderungen zur
Welt bringen, würde sehr groß werden.

Durch die Zulassung eines solchen Verfahrens würde
sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Menschen mit
Behinderung verändern. Dies träfe dann aber alle Men-
schen, die aufgrund von Schwangerschafts- oder Ge-
burtskomplikationen sowie aufgrund von Erkrankungen
und Unfällen im späteren Leben behindert sind. Das sind
80 bis 90 Prozent der Behinderten. Auch die PID, die






(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn

Präimplantationsdiagnostik, kann kein gesundes und
nicht behindertes Kind garantieren.

Die PID ist grundsätzlich mit einer In-vitro-Fertilisa-
tion verbunden; meine Vorrednerin hat es angesprochen.
In Anhörungen im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend wurde wiederholt bestätigt, dass
diese mit großen physischen und psychischen Belastun-
gen insbesondere für die Frau verbunden ist. Gesund-
heitliche Risiken sind nachgewiesen. Zudem ist – auch
das wurde vorhin gesagt – die Anwendung der IVF sehr
ineffizient. Ich kenne keinen Frauenverband, der für die
PID ist. Der Deutsche Ärztinnenbund und der Deutsche
Frauenrat zum Beispiel sprechen sich nachdrücklich ge-
gen die PID aus.

Der Wunsch von Eltern, das Risiko einer schweren
genetischen Erkrankung oder einer Behinderung des ei-
genen Kindes weitgehend auszuschließen, rechtfertigt
kein Verfahren, das menschliches Leben auf den Prüf-
stand stellt. Auch eine begrenzte Zulassung der Prä-
implantationsdiagnostik führt zu einer Aufkündigung
des Wertekonsenses in unserer Gesellschaft. Die Men-
schenwürde steht nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht
zur Disposition. Daher ist es notwendig, klare ethische
Grenzen zu setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516611500

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 15/1234 und 15/3500 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Abweichend von der Tagesordnung soll die Vorlage auf
Drucksache 15/1234 federführend an den Ausschuss für
Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig,
Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Einführungsgesetzes zum Bür-
gerlichen Gesetzbuche
– Drucksache 15/4134 –

(Erste Beratung 138. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/5132 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Marco Wanderwitz
Jerzy Montag
Rainer Funke
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Alfred Hartenbach.

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1516611600


Ich bedanke mich sehr herzlich, verehrter Herr Präsi-
dent, und grüße Sie ganz herzlich. Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt den Ge-
setzentwurf der Koalitionsfraktionen. In diesem Entwurf
wird genau das geregelt, was wir bereits im Zusammen-
hang mit der Mietrechtsreform im September 2001 ge-
wollt haben. Weil ich das damals als rechtspolitischer
Sprecher gewollt habe, rede ich heute zu diesem Thema;
denn es war einer meiner Herzenswünsche, dass dies so
kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Mietrechtsreform hat die Kündigungsfrist zu-
gunsten der Mieter geändert: Seit September 2001 kön-
nen Mieter grundsätzlich mit einer dreimonatigen Frist
kündigen. Diese Kündigungsfrist kann von den Vertrags-
parteien nicht verlängert werden. Dieses so genannte
Abweichungsverbot gilt allerdings nicht für Verträge, in
denen die Parteien vor dem 1. September 2001 andere
Kündigungsfristen vereinbart haben.

Ob eine solche Vereinbarung auch dann vorliegt,
wenn ein Formularmietvertrag lediglich den alten Geset-
zeswortlaut wiedergibt, war umstritten. Nach dem Wil-
len des Rechtsausschusses des Bundestages sollte in die-
sen Fällen das Abweichungsverbot gelten. Das heißt, es
sollten die neuen Kündigungsfristen Anwendung finden.
Der Rechtsausschuss ist davon ausgegangen, dass der
Gesetzeswortlaut dies deutlich zum Ausdruck bringt. So
haben es auch verschiedene Instanzgerichte gesehen,
beispielsweise das Landgericht Hamburg, das im Jahr
2002 entschieden hat, dass längere Kündigungsfristen in
Altverträgen nur dann gelten, wenn sie individuell
vereinbart worden sind. Der Bundesgerichtshof hat
allerdings im Juni 2003 entschieden, dass auch bei For-
mularverträgen, die nur die bestehende Gesetzeslage
wiederholen, eine vertragliche Vereinbarung im Sinne
der Übergangsvorschrift vorliegt und in diesen Fällen
die alten Kündigungsfristen weiter gelten.

Die Koalitionsfraktionen haben daraufhin das Für und
Wider einer Regelung, wie sie ursprünglich vom Rechts-
ausschuss beabsichtigt war, erneut umfassend abgewo-
gen. Das Ergebnis ist der vorliegende Gesetzentwurf,
mit dem die Übergangsvorschrift so auf Altmietverträge
angewendet werden kann, wie es der Rechtsausschuss
von Anfang an gewollt hat. Zukünftig werden also Kün-
digungsfristen in Altmietverträgen nur dann zu beachten
sein, wenn die entsprechende Formularklausel etwas an-
deres als eine bloße Wiederholung der früher geltenden






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

gesetzlichen Regelungen enthält oder wenn es sich um
eine individuelle Vereinbarung handelt.

Wie ich bereits eingangs sagte, begrüßt die Bundesre-
gierung den vorliegenden Gesetzentwurf. Er verhilft
dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers wieder zur
Geltung und sorgt für Rechtsklarheit und für Rechtssi-
cherheit. Damit kommen zahlreiche Mieter, die bislang
nur mit einer sechs- oder zwölfmonatigen Frist ihre Ver-
träge kündigen können, in den Genuss der kurzen
dreimonatigen Kündigungsfrist. Wir stärken damit die
Mietermobilität, wie wir es auch schon mit der Einfüh-
rung der neuen kurzen Kündigungsfrist getan haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir helfen damit den Mietern, auf die Erfordernisse
des modernen Arbeitsmarkts zu reagieren, der ihnen im-
mer wieder auch Ortswechsel oder, wie Sie sagen, mehr
Mobilität abverlangt.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Agenda 2010!)

Ich bin mir sicher, dass die wenigen Vermieter, die

von der Regelung noch betroffen sind, sich leicht darauf
einrichten und gut damit werden umgehen können. Es ist
richtig, dass für den Vermieter die in manchen Altmiet-
verträgen vorgesehenen längeren Kündigungsfristen
günstiger waren. Aber ich meine, dass wir mit den Kün-
digungsfristen der Mietrechtsreform einen angemesse-
nen Interessenausgleich gefunden haben, der nach Maß-
gabe dieses Gesetzentwurfs auch auf Altmietverträge
übertragen werden sollte. Ein großer deutscher Vermie-
terverband, ein Wohnungsverband, macht dies auch bei
Altmietverträgen für alle Mieter so.

Die Rechte der Vermieter sind dabei ausreichend
geschützt; denn immer dann, wenn die Parteien eine in-
dividuelle Vereinbarung getroffen oder aber eine Formu-
larklausel vereinbart haben, die von der seinerzeitigen
Gesetzeslage abweicht, bleibt es bei den so vereinbarten
Kündigungsfristen. Wir geben also dem Gestaltungswil-
len der Parteien Vorrang vor der gesetzlichen Regelung.


(Rainer Funke [FDP]: Sie müssten doch rot werden, wenn Sie so lügen!)


– Ich bin schon rot, Herr Funke. – Damit schützen wir
das Vertrauen der Vertragsparteien dort, wo es berechtigt
ist, nämlich bei den echten Vereinbarungen über die
Kündigungsfrist. Wo nur zur Information der Parteien
auf eine gesetzliche Regelung verwiesen wird, kann ich
dagegen ein solches schutzwürdiges Vertrauen nicht er-
kennen. Deshalb ist es in diesen Fällen richtig, wenn die
kurzen Kündigungsfristen der Mietrechtsreform gelten.

Dieses hübsche lindgrüne Papier, welches einen Ent-
schließungsantrag der FDP-Fraktion enthält, sollte man
zwar lesen, weil der Entschließungsantrag sehr gut die
politische Haltung der FDP wiedergibt. Ich bitte Sie
aber, diesem Antrag nicht zuzustimmen, wohl aber unse-
rem Gesetz.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516611700

Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1516611800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stünker
hat gestern den vorliegenden Gesetzentwurf der Regie-
rungsfraktionen im Rechtsausschuss als Restant aus der
vergangenen Wahlperiode des Deutschen Bundestages
bezeichnet.


(Ute Kumpf [SPD]: Da hat er Recht gehabt!)

Restant kommt vom lateinischen Wort restare, das

„übrig bleiben“ bedeutet. Ich hatte mich gefragt, worin
die Aktualität dieses Wortes liegt.


(Jörg Tauss [SPD]: Lasst uns Neuem zuwenden!)


Angesichts der heute Nachmittag und jetzt noch stattfin-
denden Kuriositäten in Schleswig-Holstein sehe ich je-
doch, wo Ihre Restanten sind.


(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind hier im Deutschen Bundestag!)


Ich würde allerdings nicht sagen, dass es sich bei dem
Gesetzentwurf um einen Restanten, also um etwas Üb-
riggebliebenes, etwas Zurückgebliebenes oder noch zu
Lösendes handelt.


(Zuruf des Abg. Joachim Stünker [SPD])

– Wir sind gerade bei Ihrem Restanten, Herr Kollege
Stünker.


(Joachim Stünker [SPD]: Ich muss bei Ihnen einen bleibenden Eindruck gemacht haben!)


Ich glaube vielmehr, dass es sich bei dem Gesetzent-
wurf um so etwas wie einen Rückläufer handelt. Den
Rückläufer haben Sie vom VIII. Zivilsenat des Bundes-
gerichtshofs bekommen, verkündet am 18. Juni 2003
und mit dem Stempel „untauglich und handwerklich
schlecht gemacht“ versehen. Anstatt nun in sich zu ge-
hen, haben Sie sich auf das Gleis der Gerichtsschelte be-
geben. Trotzig wird das Ganze jetzt noch einmal ver-
sucht.


(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe Sie nicht beschimpft!)


– Sie nicht, Herr Staatssekretär. – Ich glaube, das Gleis
führt ins Leere. In diesem Fall ist das ein weiterer Bei-
trag zum Niedergang der deutschen Wohnungswirt-
schaft.


(Jörg Tauss [SPD]: Na sag mal!)

An deren Sarg wird aber vonseiten der Regierung schon
länger gebastelt. Ein paar der benutzten Nägel werde ich
noch einmal ans Licht holen.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie haben wohl zu viel Karl May gelesen!)







(A) (C)



(B) (D)


Marco Wanderwitz

Bleiben wir zunächst aber beim einschlägigen Urteil

des BGH und bei der Sachlage, auch wenn es Ihnen weh
tut. Sie haben im Jahre 2001 einseitig die Vermieter
schlechter gestellt und damit die wichtige Balance im
deutschen Mietrecht zwischen Vermieterinteressen, die
sich im Übrigen direkt aus der Eigentumsgarantie des
Grundgesetzes ergeben, und den eigentumsähnlichen
Rechten der Mieter empfindlich gestört.

Zu Recht wurde schon damals in der Debatte hier im
Hohen Hause darauf hingewiesen, dass insbesondere die
höhere Mobilität der Menschen in unserer Zeit – der
Staatssekretär hat es angesprochen – kürzere Kündi-
gungsfristen bei Mietverträgen erfordert. Das ist ohne
Frage richtig. Ich füge allerdings hinzu, dass dies auch in
Zukunft nicht alle Menschen betreffen wird und viele
Menschen immer noch sehr lange Mietverträge haben.
Klar ist aber auch, dass in weiten Teilen der Bundesre-
publik heutzutage der Wohnungsmangel einem Überan-
gebot gewichen ist. Dieser Trend wird sich auch weiter-
hin verstärken. Deshalb reden wir ja beispielsweise über
Stadtumbau und -rückbau.

Dennoch wollen wir bei der Gestaltung des Miet-
rechts den Prozess des demographischen Wandels be-
rücksichtigen. Wir wollen beispielsweise den sozialen
Mix in den Wohnquartieren weiterhin sicherstellen und
nicht nur die Substanz herunterwirtschaften, sondern
auch investieren, um eine hohe Qualität zu sichern. Des-
halb gehört es zur Wahrheit, dass man neben die höhere
Mobilität der Mieter auch die Problematik der Weiter-
vermietbarkeit der Immobilien auf der Vermieterseite
setzt. Bei einer dreimonatigen Kündigungsfrist aufseiten
der Mieter ist man sicher am unteren Ende dessen ange-
langt, was auf der anderen Seite dem Vermieter zuzumu-
ten ist.

Man muss sich die Frage stellen, warum man dem
Vermieter im Gegenzug für den Fall, dass er sich aus
wirtschaftlichen Gründen – mit denen ist auch mietersei-
tig die Mobilität begründet – umorientiert, eine bis zu
neunmonatige Kündigungsfrist aufzwingt. Aber das war
und ist Ihre Entscheidung, und zwar allein Ihre Entschei-
dung. Auch hier ist Ihr beliebter Ausspruch „Mehrheit
ist Mehrheit“ sicherlich wieder sehr passend.

Dass Sie allerdings eine Rückwirkung vorgesehen ha-
ben, was man bei Dauerschuldverhältnissen ohne Zwei-
fel kann, halte ich angesichts der gewählten Form für be-
denklich und im Zusammenhang mit den gerade
erwähnten Eigentumsrechten nach wie vor auch für ver-
fassungsrechtlich bedenklich. Sie wollten nämlich na-
hezu alle vor Ihrer Reform 2001 abgeschlossenen alten
Mietverträge mit den neuen Kündigungsfristen verse-
hen. Was aber wollten die Vertragsparteien bei Vertrags-
schluss? Sie wollten bewusst die jeweils gewählten
Kündigungsfristen vereinbaren oder die Geltung der da-
maligen gesetzlichen Kündigungsfristen. In letzterem
Falle kann man noch am ehesten sagen: Sie haben zwar
gewusst, wie diese zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses
lauteten, haben aber eine spätere Änderung der Geset-
zeslage einkalkuliert. Ich sage ganz bewusst „einkalku-
liert“. Das betrifft nämlich auch die betriebswirtschaftli-
che Kalkulation der Vermieter, etwa bei Investitionen,
die sich über längere Zeiträume amortisieren müssen.

Ansonsten ist es aber anders. Es ist nämlich einzig die
Sache der Vertragsparteien, in welcher Form sie die
Kündigungsfristen festgehalten haben. Ich muss mir an
dieser Stelle wieder einmal die Frage stellen, ob Ihnen
der Wert von Privatautonomie und Vertragsfreiheit ei-
gentlich bewusst ist


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

und ob er Ihnen etwas wert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Vertragsfreiheit ist eines der konstitutiven Ele-
mente unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung. Ich
frage mich wirklich, warum Sie an allen Ecken versu-
chen, sie kaputtzumachen.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir sind im Gegensatz zu Ihnen sogar vertragsfähig!)


Ich kann Ihnen auch an dieser Stelle einen kurzen
Ausflug in das Antidiskriminierungsgesetz und seine
mietrechtlichen Auswirkungen nicht ersparen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das hat aber einen Bart, was Sie jetzt sagen!)


– Ich beschränke mich auf den zivilrechtlichen Teil und
dabei auf das, was heute zur Debatte steht.

Sie wollen für die so genannten Massengeschäfte
– wie auch immer man diesen Begriff am Ende auslegt –
die freie Wahl des Vertragspartners faktisch aufheben.
Das Anwenden aller in der einschlägigen EU-Richtlinie
benannten Diskriminierungsmerkmale ist aber ausdrück-
lich nicht für das Zivilrecht vorgesehen. Sie wollen also
ohne Not ein Mehr an hoheitlichem Eingriff.

Was passiert nun in diesem konkreten Bereich, falls
Ihr Gesetzentwurf in Kraft tritt? Wie kann ein Vermieter
noch einen Vertrag abschließen, ohne Gefahr zu laufen,
vor Gericht gezerrt zu werden? Kann er beispielsweise
eine junge Familie mit drei Kindern gegenüber einem al-
lein stehenden älteren Herrn oder einem ausländischen
Mitbürger bevorzugen?


(Wolfgang Spanier [SPD]: Das wird er können!)


– Er kann es – entgegen allen gegenteiligen Bekundun-
gen – nicht.


(Wolfgang Spanier [SPD]: Warten Sie doch einmal ab!)


Er kann es deshalb nicht, weil gerade Kinder nicht als
Diskriminierungsmerkmal vorgesehen sind. Er kann es
nicht, weil er sich sonst der Gefahr aussetzt, dass er die
Beweislast dafür trägt, dass in diesem Beispiel keine Al-
tersdiskriminierung und keine Diskriminierung nach
ethnischer Herkunft oder Rasse vorliegen.


(Wolfgang Spanier [SPD]: Sie kennen doch nur den Entwurf, nicht das Gesetz!)







(A) (C)



(B) (D)


Marco Wanderwitz

Nun kann man jeden Vertrag gleich mit Anwalt und Zeu-
gen aushandeln und dokumentieren. Das wird Deutsch-
land bestimmt retten.

Das einzig taugliche Kriterium ist dann noch die wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit des Mieters. Das ist ein
objektives Kriterium; nach ihm darf man dann wählen.
So viel zum Thema „soziale Wärme in Deutschland un-
ter Rot-Grün“!


(Beifall bei der CDU/CSU)

An dieser Stelle noch ein offenes Wort von einem Ab-

geordneten aus dem Freistaat Sachsen: In der ehemali-
gen DDR war Privateigentum – auch an Immobilien –
nicht vom Staat gewünscht. Diejenigen, die privates Ei-
gentum hielten, wurden nach besten Kräften bekämpft,
unter anderem dadurch, dass man ihnen gegen ihren Wil-
len Mieter in die Wohnungen gesetzt hat.


(Wolfgang Spanier [SPD]: Wollen Sie Parallelen ziehen?)


Wenn wir in diesem Gleis weiterfahren, auf das Sie sich
unter anderem mit dem Antidiskriminierungsgesetz be-
geben, sind wir auf einem Weg, der mich ein Stück weit
an dieses Verhalten erinnert.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Welches Verhalten meinen Sie denn?)


Das würde im Übrigen nicht nur private Vermieter, son-
dern auch Genossenschaften und Wohnungsgesellschaf-
ten betreffen. Ich glaube, damit werden wir nicht weit
kommen.

Ich will ganz kurz zwei weitere Themen ansprechen.
Auch das Thema Graffiti betrifft die Wohnungswirt-

schaft. Seit Jahren, seit ich mich hier entsinnen kann
– die Kollegen, die schon länger dabei sind, können es
schon ein Stückchen länger –, reden wir hier über dieses
Thema. Wir alle sind uns sehr einig. Einigen wenigen
– oder besser gesagt: einem Einzelnen, der heute nicht
unter uns ist – gelingt es aber, dieses Gesetz und die Ver-
besserungen zu blockieren, die insbesondere den volks-
wirtschaftlichen Schaden reduzieren würden.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was für einen volkswirtschaftlichen Schaden denn?)


– Den volkswirtschaftlichen Schaden kann ich Ihnen er-
läutern, Herr Hacker. Von ihm war auch schon in den
Anhörungen die Rede.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Haben Sie denn schon einmal eine Strafanzeige erstattet?)


Wir haben jede Menge Sachbeschädigungen und jede
Menge daraus entstehende Schäden. Sie kommen derzeit
nicht zuletzt deshalb so oft vor, weil der Verfolgungs-
druck so gering ist. Wir könnten sie verringern.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Anzeige erstatten!)


Kommen wir zum Thema zurück!

(Beifall bei der SPD)

Was hat Ihnen der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichts-
hofes zu diesem Gesetz ins Stammbuch geschrieben? Ich
hoffe, dass Sie das Urteil gelesen haben. Es ist lesens-
wert. Er hat Ihnen sinngemäß gesagt, dass die Formulie-
rung des Rechtsausschusses, in dem auch zum damali-
gen Zeitpunkt schon Rot-Grün die Mehrheit gestellt hat,
nicht zu mehr Rechtssicherheit auf diesem Gebiet führt,
sondern dass – jetzt zitiere ich –

das Ziel der Mietrechtsreform verfehlt wurde,
durch eine verständliche und transparente Gestal-
tung des Mietrechts dem Rechtsfrieden zu dienen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, das ist überdeutlich; so etwas
muss einen doch eigentlich zum Nachdenken bringen.
Ich zitiere weiter aus dem Urteil:

Die vom Rechtsausschuss vorgenommene Unter-
scheidung zwischen echten und unechten Vereinba-
rungen würde die Notwendigkeit nach sich ziehen,
die tatsächlichen Umstände des lange zurückliegen-
den Vertragsschlusses aufzuklären.

Haben Sie auch das gelesen?

(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)


– Ich glaube, nicht.

(Jörg Tauss [SPD]: Doch!)


Sie sind auf der Suche nach einer Formulierung, um den
Kranken ins beabsichtigte Korsett zu zwingen, fündig
geworden. Bei Vereinbarung durch Vertrag – jetzt zitiere
ich aus Ihrem Gesetzentwurf –

gilt dies nicht, wenn die Kündigungsfristen des
§ 565 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Bürgerlichen Gesetz-
buches in der bis zum 1. September 2001 geltenden
Fassung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen
vereinbart worden sind.

Meine Damen und Herren, wir hatten im parlamenta-
rischen Verfahren auch ein erweitertes Berichterstatter-
gespräch zu dem Thema, so eine Art kleine Anhörung.
Genau dabei schrieb Ihnen der Vertreter des Deutschen
Mietgerichtstages, Professor Dr. Derleder, ins Stamm-
buch, dass die Formulierung in Form einer doppelten
Negation missglückt sei. Herr Rechtsanwalt Schönleber
führte als Sachverständiger des Deutschen Anwaltver-
eins aus,


(Wolfgang Spanier [SPD]: In der Sache hat er es befürwortet!)


dass eine neuerliche Änderung für Verunsicherung sor-
gen werde und es sich bei der gewählten Unterscheidung
um eine künstliche handele, die gesetzlich konstruiert
werde durch eine Art Zweistufigkeit der Allgemeinen
Geschäftsbedingungen. Das klingt nicht nach vorbehalt-
loser Unterstützung. Nun ist die große Frage: Was macht
man mit so einer Expertenanhörung? Wir hatten verein-
bart, diese Expertenanhörung noch einmal auszuwerten.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist das Mindeste!)







(A) (C)



(B) (D)


Marco Wanderwitz

Das ist nicht geschehen. Jetzt haben wir das Thema auf
der Tagesordnung; ich nehme das zur Kenntnis – so viel
zum geordneten parlamentarischen Verfahren.

Nach alledem bleibt der CDU/CSU-Fraktion nur die
Ablehnung des Gesetzentwurfes, weil er wie die zu-
grunde liegende Mietrechtsreform in weiten Teilen
– auch in der Sache – den Realitäten des Wohnungs-
marktes nicht gerecht wird,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

weil er handwerklich schlecht ist und neuen Streit, neue
Unsicherheit, neue Prozesse – vielleicht bis hin zu einer
neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung – provozieren
wird.

Ein kurzer Satz zum Entschließungsantrag der FDP-
Fraktion zu dieser Thematik: Wir halten diesen Antrag
in weiten Teilen für begrüßenswert. Aber gerade vor
dem Hintergrund der Sachverständigeneinlassungen und
als ausdrückliche Aufforderung an die Bundesregierung
wollen wir, dass der gesamte Komplex noch einmal auf
den Prüfstand gestellt wird. Hier müssen in Größenord-
nungen Veränderungen erfolgen. Deshalb halten wir den
Antrag der FDP für noch nicht weitgehend genug und
enthalten uns zu diesem Antrag der Stimme.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516611900

Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig

vom Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte wieder zur Sache kommen: Mei-
nes Wissens stehen heute weder das Antidiskriminie-
rungsgesetz noch die Graffitibekämpfung auf der Tages-
ordnung,


(Daniela Raab [CDU/CSU]: Diese Menetekel schweben über uns!)


sondern das Mietrecht, speziell der Umgang mit den Alt-
mietverträgen und mit den Kündigungsfristen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich finde es sehr wichtig, dass wir zu diesem schwieri-
gen Punkt gekommen sind, der uns schon bei der letzten
Mietrechtsnovelle beschäftigt hat. Es ist wichtig, dass
nicht nur Neumietverträge dem Mieter eine Kündigungs-
frist von drei Monaten ermöglichen, sondern auch die al-
ten Formularmietverträge. Das ist in Zeiten der hohen
Mobilität, die wir unserer Gesellschaft heute zumuten,
einfach notwendig – sei es, weil jemand woanders kurz-
fristig Arbeit angenommen hat, sei es, dass ältere Men-
schen in ein Heim umziehen müssen. Kündigungsfristen
von neun – damals sogar zwölf – Monaten führten oft-
mals dazu, dass die Betroffenen über längere Zeit dop-
pelt Miete zahlen müssen. Von daher begrüße ich es sehr,
dass es jetzt gelungen ist, diese Nachbesserungen, die
wir tatsächlich seit der letzten Legislaturperiode schul-
dig sind, heute abzuschließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich muss auch sagen, dass in dem Berichterstatterge-
spräch, das wir in Form einer kleinen Anhörung durch-
geführt haben, sehr wohl eine deutliche Unterstützung
dafür zum Ausdruck kam. Natürlich ist der Punkt strit-
tig; das ist völlig klar. Dennoch bin ich der Meinung,
dass es richtig ist, dass sich Rot-Grün bereits in der letz-
ten Legislaturperiode und auch jetzt wieder in ganz kla-
rer und eindeutiger Weise dazu bekannt hat.

Ich möchte Ihnen sagen, dass ich die Asymmetrie,
die wir damit bewusst eingeführt haben, für zumutbar
halte. Ich bin mir wohl bewusst, dass das für die Seite
der Eigentümer kein Spaziergang ist. Aber wenn ein Ei-
gentümer die Entscheidung fällt, dass er sein Haus oder
seine Wohnung anders verwenden will, dann sind län-
gere Kündigungsfristen – drei Monate bei einer Mietver-
tragslaufzeit bis fünf Jahre, später sechs und neun Mo-
nate – völlig angemessen; schließlich plant er ja
langfristig. Der Unterschied zwischen Vermieter und
Mieter ist real, weshalb es hier angemessen ist, Unglei-
ches auch ungleich zu behandeln und nicht so zu tun, als
seien Vermieter und Mieter gleich.


(Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


In diesem Sinne werbe ich bei allen Beteiligten dafür,
hier die Kirche im Dorf zu lassen und nicht so zu tun, als
sei das unzumutbar.

Die kurze Redezeit, die ich habe, möchte ich nutzen,
um ein paar Takte zu dem FDP-Antrag zu sagen, der
mich ziemlich erschreckt hat. Was Sie, Herr
Wanderwitz, eben gesagt haben – im Grunde halten Sie
ihn für begrüßenswert, aber er gehe Ihnen nicht weit ge-
nug; so ähnlich war das eben zu verstehen –, hat mich
schon irritiert. Ich erinnere mich noch genau daran, dass
die Mietrechtsreform 1996/97, die seinerzeit unter Ihrer
Regierung durchgeführt werden sollte – Rainer Funke
weiß das sehr genau, da er damals aktiv daran beteiligt
und verantwortlich war –, daran gescheitert ist, dass zu-
mindest die CSU die Forderung nach einer wirklich har-
ten Neoliberalisierung des Mietrechts, die von der rech-
ten Seite des Hauses gekommen ist, für nicht
verantwortbar gehalten hat. Nur dadurch haben wir die
Gelegenheit bekommen, das Mietrecht zu novellieren.
Einige der älteren Kollegen hier wissen das sehr wohl.

Zu den drei Forderungen, die Sie hier jetzt noch ein-
mal aufgegriffen haben, möchte ich ein paar deutliche
Worte sagen:

Als Erstes fordern Sie wieder die symmetrischen
Kündigungsfristen. Ich glaube, dazu haben wir von un-
serer Seite – von Rot-Grün – zur Genüge gesagt, dass
wir das für nicht akzeptabel halten.

Als Zweites wollen Sie die Möglichkeit einräumen,
die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen wieder auf
30 Prozent anzuheben. Damit ignorieren Sie wirklich die
zwischenzeitliche Entwicklung. Die breite Schicht der






(A) (C)



(B) (D)


Franziska Eichstädt-Bohlig

arbeitenden Menschen erhält keine nennenswerten Ein-
kommenserhöhungen mehr. Daneben gibt es eine hohe
Zahl von Arbeitslosen. In dieser Situation zu sagen, es
sei zumutbar, von heute auf morgen eine Mieterhöhung
von 30 Prozent zu verkraften, halte ich für sehr freide-
mokratisch. Wir stimmen deutlich und entschlossen da-
gegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch Ihrem dritten Punkt, die Schonfrist bei Miet-
rückständen, die wir auf zwei Monate erhöht haben,
wieder auf einen Monat zurückzuführen, stimmen wir
nicht zu. In der letzten Legislaturperiode hat es ausführ-
liche Diskussionen darüber gegeben, ob die Ausweitung
der Schonfrist für die Mieter, die Probleme mit ihren
Mietrückständen haben, notwendig ist. Wir wissen sehr
wohl, dass das ein sehr großes Problem für die Eigentü-
mer ist; das will ich überhaupt nicht leugnen. Ich denke
hier aber auch daran, dass die betroffenen Sozialämter
– heute und in Zukunft wahrscheinlich überwiegend die
Arbeitsagenturen oder die Arbeitsgemeinschaften – Zeit
brauchen, um das Problem zu lösen, damit die Miete
überwiesen werden kann. Ich finde es nicht gut, dass die
FDP hier wieder zu harten Zeiten zurück will; denn es
war ein großer Erfolg, dass wir diese Verlängerung ge-
schafft haben. Gerade auch für die Vermieter wurden da-
durch sehr viel stabilere Verhältnisse geschaffen.

In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag sehr ent-
schieden ablehnen und sehr genau darauf achten, wie die
CDU/CSU stimmt. Am liebsten wäre es mir, wenn wir
über alle drei Punkte getrennt abstimmen, damit wir se-
hen können, ob die CDU/CSU auf einmal wieder neoli-
beral geworden ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516612000

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1516612100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesem
Reparaturgesetz – Frau Eichstädt-Bohlig, so ist es von
Ihnen selbst bezeichnet worden – hätten Sie heute die
Möglichkeit gehabt, die verunglückte Mietrechtsreform
von 2001 zu korrigieren. Stattdessen machen Sie alles
nur noch schlimmer. Sie schaffen die asymmetrischen
Kündigungsfristen nicht ab. Nein, Sie weiten sie sogar
noch auf Altmietverträge aus, und zwar in einer Weise,
von der nur ein Vertragspartner profitiert. Hingegen sol-
len Vereinbarungen zum Nachteil des Vermieters unver-
ändert wirksam bleiben. Die Ungleichbehandlung von
Mietern und Vermietern erreicht damit ein neues Aus-
maß. Vermieter haben bei Ihnen von Rot-Grün nichts zu
lachen. Die nächste böse Überraschung für Vermieter
steht in Form des Antidiskriminierungsgesetzes schon
bereit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Jetzt fangen Sie auch noch an!)


– Das ist leider die reine Wahrheit. Das muss man ein-
mal sagen dürfen, Herr Hacker.

Die FDP geht einen anderen Weg. Frau Eichstädt-
Bohlig hat das kritisiert. Ich bin der Meinung, dass dies
der richtige Weg ist. Wir sprechen uns für eine einheitli-
che Kündigungsfrist von drei Monaten für Vermieter und
Mieter aus. Die Zeiten, in denen Mieter auf zusätzlichen
Schutz durch lange Kündigungsfristen angewiesen
sind, sind vorbei. Die Situation am Wohnungsmarkt
– das wissen Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, am besten – ist
entspannt. Angebot und Nachfrage haben sich ausgegli-
chen. Die allgemeinen Lebensbedingungen gehen in
Richtung mehr Flexibilität. Durch das soziale Mietrecht,
das ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Kün-
digung verlangt, sind Mieter ohnehin hinreichend ge-
schützt.


(Beifall bei der FDP)

Bezahlbaren Wohnraum schafft man nicht dadurch,

indem man Vermieter verschreckt.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Bezahlbaren Wohnraum schafft man, indem man Kapi-
talanlegern Anreiz zu Investitionen bietet und die At-
traktivität des privaten Wohnungsbaus steigert. Daher
schlägt Ihnen die FDP zu Recht Länderöffnungsklauseln
zur Erhöhung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen
auf 30 Prozent vor. Sie haben es bereits erwähnt; darauf
brauche ich nicht mehr einzugehen.

Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün: Hören Sie endlich damit auf, den Vermie-
tern immer neue Belastungen aufzuerlegen! Legen Sie
Ihre ideologischen Scheuklappen ab!


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das schaffen sie nicht!)


Bekennen Sie sich endlich zu einem fairen Ausgleich
von Vermieter- und Mieterinteressen und lassen Sie auch
wieder einmal den Markt sprechen! Der Markt ist das
beste Regulativ für Mieter und Vermieter und im Übri-
gen auch für den Mietzins.


(Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516612200

Das Wort hat zum Abschluss dieser Debatte der Kol-

lege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion.

Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1516612300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Dass wir bei der Mietrechtsreform im Jahre 2001 die
Kündigungsfristen verändert haben, war ein großer Fort-
schritt. Für die Mieter gelten generell drei Monate und
für die Vermieter drei Monate, nach fünf Jahren






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Spanier

Mietdauer sechs Monate und nach acht Jahren neun Mo-
nate Kündigungsfrist. Ich glaube, diese Regelung der
Kündigungsfristen war wichtig und ist sozial ausgewo-
gen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


weil wir langjährigen, zuverlässigen Mieterinnen und
Mietern damit einen besonderen Schutz gewähren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rainer Funke [FDP]: Warum sind nur Mieter schützenswert?)


Herr Wanderwitz, Sie haben gesagt, diese Neurege-
lung der Kündigungsfristen sei einer der Sargnägel für
die Wohnungswirtschaft. Entschuldigen Sie, das ist blü-
hender Unsinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ein gro-
ßer Wohnungsverband mit immerhin 7 Millionen Woh-
nungen diese Regelung bereits vor der Mietrechtsreform
in seine Musterverträge aufgenommen hatte. Sollte die-
ser Verband den ersten Nagel für seinen eigenen Sarg
tatsächlich selbst eingeschlagen haben? Das glauben Sie
doch selbst nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lassen wir doch die Leute selbst entscheiden!)


Es ist auch begründet worden, warum die Kündi-
gungsfristen für die Mieter verkürzt wurden – das muss
ich nicht im Einzelnen wiederholen –: Der Mobilität,
die Sie alle in Ihren Reden immer wieder fordern, muss
man auch beim Mietrecht Rechnung tragen. Über Mo-
nate doppelte Mieten zu zahlen ist ein entscheidendes
Hindernis, wenn man zum Beispiel zum ersten Mal in ei-
ner Nachbarstadt einen Job annehmen will. Auch beim
Wechsel ins Pflegeheim waren lange Kündigungsfristen
immer ein Hindernis und stellten eine große finanzielle
Belastung für die Betroffenen dar.

Wir haben auch den Vermietern durchaus Entgegen-
kommen gezeigt und den zwölfmonatigen Kündigungs-
schutz damals abgeschafft. Es war von Anfang an klar,
dass wir die neuen Regelungen auch für möglichst viele
Altmietverträge haben wollen. Es ist damals – das kann
man im Ausschussprotokoll nachlesen – auf eine ent-
sprechende Klarstellung im Gesetz verzichtet worden,
aber in der Begründung ist deutlich gemacht worden,
dass auch die Formularverträge Berücksichtigung fin-
den sollten. Das heißt, der Wille des Gesetzgebers war
eindeutig, auch wenn es – das ist richtig – keine gesetzli-
che Regelung gab. Nach dem Urteil des Bundesgerichts-
hofs tun wir nichts anderes, als unseren ursprünglichen
Willen als Gesetzgeber hier noch einmal klarzustellen
und das, was wir für richtig halten, ins Gesetz zu schrei-
ben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Noch einmal: Das, was wir damals für richtig gehalten
haben, halten wir auch heute nach wie vor für richtig.

Frau Eichstädt-Bohlig ist bereits auf den Entschlie-
ßungsantrag der FDP eingegangen; aber ich möchte,
dass dieser Antrag, der uns heute vorliegt, aus dem Halb-
dunkel der Beratungen des Rechtsausschusses voll ins
Licht der Öffentlichkeit gezogen wird.


(Beifall bei der SPD – Rainer Funke [FDP]: Wieso Halbdunkel?)


Was Sie, Herr Funke, verlangen, ist nichts anderes, als
den Kündigungsschutz für die Mieterinnen und Mieter
drastisch zu beschneiden, ja zu verstümmeln,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


den Spielraum für Mieterhöhungen drastisch anzuheben
– Sie wollen höhere Mieten – und außerordentliche,
fristlose Kündigungen zu beschleunigen.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Aber nicht mit uns!)


Das würde das Ende des sozialen Mietrechts bedeuten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich will noch einmal betonen: Die Mietwohnung ist ein
Wirtschaftsgut. Als Wirtschaftsgut liegt Ihnen, Herr
Funke, die Mietwohnung sehr am Herzen. Sie ist aber
auch ein Sozialgut. Das vergessen Sie hierbei.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sehr gewundert habe ich mich über den Beitrag von
Herrn Wanderwitz. Wenn Sie hier frank und frei sagen,
Sie enthalten sich nur deshalb, weil Ihnen der Antrag
nicht weit genug geht – ich habe gedacht, Sie enthalten
sich, weil Sie noch nicht Stellung beziehen wollen –,


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Unerhört ist das!)


dann weiß ich nicht, was Sie darüber hinaus noch wol-
len. Wollen Sie jetzt den Mieterschutz ganz abschaffen?
Wollen Sie auf alle Kappungsgrenzen verzichten und da-
mit jeglicher Mieterhöhung Tür und Tor öffnen? Dass
Sie am Ende noch den Begriff von der sozialen Wärme
in den Mund genommen haben, ist schon fast ein Trep-
penwitz.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516612400

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den

Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Einfüh-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

rungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf Druck-
sache 15/4134. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5132, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 15/5135. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und
Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Gitta Connemann, Dr. Wolfgang Bötsch, Günter
Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Situation der Breitenkultur in Deutschland
– Drucksache 15/4140 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1516612500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz nach

meiner Wahl zur Vorsitzenden der Kultur-Enquete gab
ich einer großen Tageszeitung ein Interview und sah
mich mit folgender Frage, die übrigens völlig ernst ge-
meint war, konfrontiert: „Frau Connemann, Sie kommen
doch vom Land. Gibt es denn da überhaupt Kultur?“


(Jörg Tauss [SPD]: Hat Sie ernsthaft jemand so etwas gefragt?)


– Das hat mich ernsthaft jemand gefragt.

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie haben doch uns!)

– Deswegen bin ich auch so froh, heute zu Ihnen spre-
chen zu dürfen, Frau Hiller-Ohm.

Es stimmt: Ich lebe in einer ländlichen Region, wie
16 Millionen Menschen in Deutschland. In meiner ost-
friesisch-emsländischen Heimat gibt es keine kulturellen
Leuchttürme. Bei uns zu Hause gibt es keine feste
Bühne. Das nächste Staatstheater ist mehr als
60 Kilometer entfernt. Von einem Opernhaus können wir
nur träumen. Doch deshalb diesem Raum, meiner Hei-
mat, die Kultur abzusprechen zeugt entweder von Un-
kenntnis oder von einem verengten Kulturbegriff.

Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, dass sich die be-
deutendste Orgellandschaft Europas in meiner Heimat
befindet. Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, wie viele
Menschen sich kulturell vor Ort engagieren, sei es in
Chören, in plattdeutschen Theatergruppen, in Spiel-
mannszügen oder in Heimat- und Kulturvereinen.

Eine Nachfrage ergab, dass dies dem Reporter durch-
aus bewusst war. Für ihn waren diese Aktivitäten aber
keine Kultur. Sein Kulturbegriff beschränkte sich auf die
institutionalisierte und professionelle Kultur, die so ge-
nannten kulturellen Leuchttürme. Das ist ein verengter
Kulturbegriff, mit dem er leider nicht alleine steht. Des-
halb bin ich auch für das Bekenntnis unseres Bundesprä-
sidenten Köhler zur Laienkultur anlässlich der Verlei-
hung der Zelter Medaille sehr dankbar.

Der Bundespräsident hat erkannt, dass das ehrenamt-
liche Engagement von nahezu 7 Millionen Menschen
unverzichtbar für die Pflege der Kultur in unserem Land
ist. In Chören, Orchestern, Schauspielgruppen und Kul-
turvereinen wird tagtäglich gelebt, was sich die Gesell-
schaft wünscht und die Politik in ihren Sonntagsreden
einfordert: Engagement, Leistungsbereitschaft, Team-
geist, Disziplin, Zuverlässigkeit und vieles mehr, ver-
bunden mit einem hohen Zeitaufwand, und das alles
ohne Entgelt. Im Gegenteil: Chorsänger, Amateurschau-
spieler und Musiker zahlen Beiträge und finanzieren
Konzerte und Veranstaltungen aus eigener Tasche.

Aber damit nicht genug: Vereinsvorsitzende müssen
unter anderem im Sozialversicherungs-, Gemeinnützig-
keits- und Urheberrecht Detailkenntnisse besitzen. Bei
Verstößen haften sie mit ihrem privaten Vermögen. Das
ist für Ehrenamtliche nicht zu schaffen und schreckt
Menschen davon ab, sich zu engagieren.

Die vielen Menschen, die im Bereich der Breitenkul-
tur Außergewöhnliches leisten, haben es verdient, ernst
genommen zu werden. Trotzdem haben sie bisher nicht
die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen angemessen
wäre. Deshalb haben wir von der CDU/CSU die Große
Anfrage eingebracht.

Wir wollen mit dieser Anfrage Aufmerksamkeit er-
zeugen und die Erstellung eines Berichts über die aktu-
elle Situation der Breitenkultur in Deutschland errei-
chen. Wir geben damit der Bundesregierung die Chance,
Stellung zu beziehen. Wie steht die Bundesregierung zur
Breitenkultur? Was wird sie zukünftig für sie tun?

Gründe, sich zu engagieren, gibt es genug:
Erstens. Wer „Kultur für alle“ fordert, der muss auch

„Kultur von allen“ fördern. Hochkultur und Breitenkul-
tur dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt wer-
den. Sie stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern
ergänzen sich.


(Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Gitta Connemann

Zweitens. Wer eine Spitze will, muss auf eine breite

Basis bauen. Wir brauchen eine lebendige Breitenkultur.
Wir brauchen sie, um unseren talentierten Nachwuchs
zu entdecken und ihn fördern zu können. Wir brauchen
sie, um Kultur für viele zu öffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Drittens. Kultur stiftet Identität; Breitenkultur sichert

Pluralität. Unsere kulturelle Zugehörigkeit wächst aus
regionalen, nationalen und europäischen Kontexten. Es
gilt, die Vielfalt und damit die Breite des Angebotes zu
bewahren. Zu dieser Breite zählt auch die Laienkultur.

Viertens. Breitenkultur war und ist Bürgerkultur. Nir-
gendwo kommt der Geist der Selbstbestimmung und der
Solidarität so gut zum Ausdruck wie im kulturellen
Engagement. Wenn wir die Bürgergesellschaft wirklich
stärken und beleben wollen, dürfen wir nicht die kultu-
rellen Quellen des bürgerschaftlichen Engagements ver-
siegen lassen. In letzter Zeit mehren sich aber gegentei-
lige Anzeichen. Es droht uns ein Generationenbruch. Die
Folgen nachlassender Förderung in Schulen, Musikschu-
len, Chören, Vereinen und Freizeiteinrichtungen sind
überall spürbar. Wir brauchen deshalb Informationen
darüber, wo der Schuh drückt, wo gesetzgeberischer
Handlungsbedarf besteht. Gegenwärtig haben wir es
leider noch immer mit einer Terra incognita zu tun. Des-
halb gibt es unsere Große Anfrage.

Wir brauchen verlässliche Zahlen über Umfang und
Art des Engagements in der Breitenkultur. Wir brauchen
Auskunft über Ausmaß und Ursache von Nachwuchs-
problemen. Wir brauchen Erfahrungswerte in Fragen des
Einkommensteuerrechts, beispielsweise zur Praxis der
Übungsleiterpauschale. Frau Kollegin Griefahn, ich bin
froh, dass Sie mir insoweit zustimmen. Wir brauchen
Auskunft über Reformbedarf im Vereinsrecht, beispiels-
weise über Regelungen zur vereinfachten Erlangung des
Status der Gemeinnützigkeit. Wir brauchen Informatio-
nen über die Praxis des derzeitigen Haftungsrechtes,


(Monika Griefahn [SPD]: Wir brauchen Geld für die Initiativen!)


beispielsweise über positive Effekte einer Ausnahmere-
gelung für kleine Vereine. Die Liste ließe sich verlän-
gern.

Wir sind uns aber sicherlich im Grundsatz einig. Der
Staat wird keine flächendeckende Kulturversorgung leis-
ten können. Wir sind uns, so hoffe ich, auch in einem
Punkt der Problemlösung im Grundsatz einig. Wollen
wir unserer Kultur auch in Zukunft Ehre machen, brau-
chen wir eine neue Kultur des Ehrenamtes.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie sind spät aufgewacht, Frau Kollegin!)


Mit den Bürgerinnen und Bürgern kann man, so haben
wir zu lernen, nicht nur Staat, sondern auch Kultur ma-
chen. Deshalb lautet meine Aufforderung an Sie, die Da-
men und Herren von der Koalition, und an die Bundesre-
gierung: Nehmen Sie unsere Große Anfrage zur
Breitenkultur ernst! Nehmen Sie die Breitenkultur in
Deutschland ernst!

(Monika Griefahn [SPD]): Das ist Länder-

sache!)

– Gemeinnützigkeitsrecht, Steuerrecht und Urheberrecht
sind Bundesangelegenheit, liebe Frau Kollegin Griefahn.
Das dürfte selbst Ihnen nicht entgangen sein.

Wir wissen, dass die Beantwortung unserer Großen
Anfrage mit Arbeit verbunden ist. Aber insoweit geht es
frei nach Valentin: Kunst ist schön, macht aber viel Ar-
beit. Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung endlich
an diese Arbeit macht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516612600

Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Dr. Christina

Weiss.

D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1516612700


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich finde es sehr wichtig, dass sich der Deutsche
Bundestag mit einem kulturpolitischen Thema beschäf-
tigt, das für den gesellschaftlichen Kanon von sehr gro-
ßer Bedeutung ist. Millionen Bürgerinnen und Bürger
engagieren sich – darin stimme ich Ihnen völlig zu, Frau
Connemann – in der Breitenkultur quer durch alle Spar-
ten,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


entweder ehrenamtlich oder hauptberuflich, aber immer
künstlerisch aktiv, ideenreich und kreativ. Breitenkultur
bildet also durchaus den Humus, der Spitzenleistungen
in der Kultur erst möglich macht.

Zur Definition des Begriffs „Breitenkultur“ werden
Sie in unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage einiges
lesen können. Wichtig erscheinen mir in der heutigen
Debatte zwei Aspekte: Erstens. Breitenkultur ermöglicht
Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Ausbil-
dung eine aktive Teilhabe an kulturellen Prozessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zweitens. Die Förderung der Breitenkultur ist eine kul-
turpolitische Strategie, um mehr Bürgerinnen und Bür-
ger für Kunst und Kultur zu interessieren und auch zur
Teilhabe zu befähigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Wesentliche Träger der Breitenkultur sind vor diesem
Hintergrund die Laienkulturvereine und die Laienkultur-
initiativen, aber auch – um nur einige zu nennen – die
Volkshochschulen, die Stadtbibliotheken, die Stadtteilbi-
bliotheken, die Kunst- und Musikschulen, die soziokul-
turellen Zentren und die Geschichtswerkstätten.






(A) (C)



(B) (D)


Staatsministerin Dr. Christina Weiss

Ich bin über den Zeitpunkt, den Sie für diese Debatte

gewählt haben, etwas überrascht und verwundert. Nach-
dem Ihre Große Anfrage zur Breitenkultur im November
vergangenen Jahres in meiner Behörde eingegangen war,
habe ich dem Präsidenten des Bundestages umgehend
mitgeteilt, dass sie Anfang Juli dieses Jahres beantwortet
wird. Kritik an dieser Planung ist mir bisher nicht zu Oh-
ren gekommen. Der Zeitrahmen lässt sich gar nicht en-
ger fassen, weil die Anfrage, wie Sie wissen, aus
57 Einzelfragen besteht, die zum Teil sehr umfänglich
und mitunter etwas vage formuliert sind. Aber ange-
sichts der Spannbreite der einzelnen Fragen und ange-
sichts der Komplexität des erbetenen Datenmaterials ist
die Beteiligung einer Reihe von Ressorts auch in den
Ländern vonnöten. Ebenso ist es natürlich sinnvoll, In-
stitute und Verbände einzubeziehen. Vor diesem Hinter-
grund muss schon die Frage erlaubt sein, warum wir die
heutige Debatte eigentlich führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mich haben aber nicht nur das Verfahren befremdet,
sondern auch die inhaltlichen Schwerpunkte. Der Begriff
der Breitenkultur lässt sich nicht präzise abgrenzen. Er
findet in den amtlichen Statistiken keine Anwendung,
was die Ermittlung von gesicherten empirischen Daten
erheblich erschwert. Auch ist eigentlich völlig unstrittig,
dass die Förderung der Breitenkultur vorrangig eine
Kernaufgabe der Länder und Kommunen ist.

Die Strukturen dieser sehr speziellen Kulturförderung
setzen lokal an. Sie entfalten sich in aller Regel aus dem
bürgerschaftlichen Engagement in den Kommunen, in
den Regionen. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips
dürfte für den Bereich der Breitenkultur daher außer
Zweifel stehen. Die Bundesregierung hat – im Rahmen
ihrer sehr begrenzten Zuständigkeit – in den vergange-
nen Jahren sehr viel dafür getan, die Breitenkultur aufzu-
werten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das geschah zunächst einmal dadurch – ich darf Sie
vielleicht an die Folgen für diesen Kulturbereich erin-
nern –, dass rechtliche Rahmenbedingungen für das kul-
turelle Leben insgesamt verbessert werden konnten. Es
war mein Amt, das die Reform des steuerlichen und zivi-
len Stiftungsrechts befördert hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die Koalition verzeichnet Begeisterung!)


Ich darf auf die neue Struktur im Spendenrecht auf-
merksam machen. Für die Breitenkultur ist es sehr rele-
vant, dass das Durchlaufspendenverfahren beseitigt
wurde. Auch die Erhöhung der Übungsleiterpauschale
muss hier unbedingt erwähnt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sind ganz wichtige Stützpunkte.

(Horst Kubatschka [SPD]: Und in Niedersachsen kürzen sie! – Gegenruf des Abg. HansJoachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt sei doch mal friedlich dahinten!)


Außerdem fördere ich aus meinem Haushalt einzelne
Bereiche der Breitenkultur, was von den Ländern im Üb-
rigen durchaus heftig torpediert wird. Zu nennen sind die
beiden Hauptsäulen unserer Förderung: die Dachver-
bände der Laienmusik


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jawohl, die sind gut!)


und der Fonds Soziokultur. Um aufzugreifen, was schon
angesprochen worden ist – ich nenne das drastischste
Beispiel –: Im Gegensatz etwa zum unionsgeführten
Land Niedersachsen habe ich die Förderung der Sozio-
kultur nicht nur nicht gekürzt, sondern die Bundesförde-
rung des Fonds Soziokultur sogar auf 1 Million Euro
jährlich verdoppelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jawohl, wir haben Sie lieb!)


Bei aller Wertschätzung für die Sache, die Sie in die-
sem Handeln vielleicht erkennen können, registriere ich
verwundert, dass Ihnen plötzlich so sehr daran gelegen
ist, die Breitenkultur auf die bundespolitische Ebene zu
heben. Ich habe gar nichts dagegen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dann sind wir doch einig!)


Aber warum ist es Ihnen so wichtig? Eigentlich ist es
doch unser aller Auffassung, dass man dieser Verantwor-
tung gerade in den Ländern nachkommen muss.

Die Bundesregierung weiß sehr genau um die Bedeu-
tung von soziokulturellen Strukturen der Breitenkultur.
Sie trägt deshalb in vielfältiger Weise zur Entwicklung
von Kunst und Kultur bei. Wir versuchen, der Breiten-
kultur Wertschätzung zukommen zu lassen, weil wir
wissen, dass die Breitenkultur unsere Bürgergesellschaft
in schönster Weise prägt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unter diesen Vorzeichen freue ich mich sehr auf die
weitere Diskussion. Die Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage zur Situation der Breitenkultur in
Deutschland wird Anlass für eine erneute Debatte über
dieses Thema sein.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516612800

Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der

FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1516612900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde es gut, dass dieses Thema heute auch im






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Burgbacher

Deutschen Bundestag diskutiert wird. Ich warne eigent-
lich davor, jetzt immer gleich nach Kompetenzen zu ru-
fen.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Aufgabe dieses Parlaments muss auch sein, sich mit die-
sem Thema auseinander zu setzen. Deshalb bin ich der
Union für die heutige Debatte dankbar.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Bei der Diskussion über dieses Thema zeigt sich, dass
wir ein Problem mit diesem Begriff haben: „Breitenkul-
tur“ ist eigentlich ein furchtbares Wort. Frau Connemann
und Herr Bötsch, Sie wissen ja, auch in unseren Verbän-
den diskutieren wir. Es ist ja so, dass im Französischen
das Wort Amateur auf das Wort „aimer“, lieben, zurück-
geht. Wir schwanken zwischen den Begriffen Laien und
Amateure, aber keiner passt richtig. Es wäre also die Zeit
wert, sich einmal zu überlegen, warum das eigentlich so
ist.


(Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt beim Fußballspiel auch nicht! Amateure kriegen da schon Geld!)


Eines ist doch ganz klar: Nie war das Thema so aktu-
ell wie heute. In Zeiten, wo wir uns alle, Regierung und
Opposition, fragen müssen, welche Aufgaben vom Staat
und welche von anderen wahrgenommen werden müs-
sen, ist das Thema aktueller denn je.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr richtig!)


Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel, dass gerade die
vielfältigen Organisationen der Breitenkultur unschätz-
bare Dienste für unsere Gesellschaft leisten. Man muss
wirklich allen dankbar sein, die sich irgendwo im Kul-
turbereich ehrenamtlich engagieren.


(Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ CSU)


Es steht ja in Ihrer Großen Anfrage völlig richtig: Lai-
enkultur ist langfristig angelegt, in aller Regel in der
Rechtsform des Vereins. Deshalb müssen wir uns im
Bundestag zunächst einmal, ohne das gleich auf die Län-
der abzuwälzen, fragen, was der Bund tun kann, wo er
Unterstützung bieten und helfen kann.

Ich möchte übrigens, Frau Staatsministerin Weiss, ne-
ben der Förderung des musikalischen Verständnisses
auch die gesellschaftliche Bedeutung des Erlernens von
Musik ausdrücklich betonen. Junge Menschen, die zum
Beispiel in einem Orchester Musik machen, lernen so-
ziale Verhaltensformen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deren Persönlichkeit wird in einer Weise gebildet, wie
es woanders kaum möglich ist. Völlig klar ist, dass Brei-
tenkultur die Voraussetzung dafür ist, dass kulturelle
Spitzenleistungen hervorgebracht werden. Damit das
auch in Zukunft so bleibt, müssen wir uns überlegen
– das ist nun wirklich Bundesaufgabe –, wie wir unser
Steuer- und Vereinsrecht so weiterentwickeln können,
dass Vereine überhaupt noch in der Lage sind, vernünftig
zu arbeiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel mehr
junge Menschen, die bereit sind, etwas zu tun, als es
landläufig dargestellt wird. Sie sind aber nicht bereit, im
Verein die Funktion eines Vorsitzenden oder eines Kas-
siers zu übernehmen, wenn sie dafür eigentlich eine ju-
ristische Ausbildung brauchen. Es ist verrückt, was da
zurzeit abläuft. Wir alle müssen zusehen, dass entspre-
chende Änderungen vorgenommen werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die FDP wird sich sehr offen an dieser Diskussion
beteiligen. Ich bin insbesondere sehr froh, dass so lang-
sam das Bewusstsein dafür wächst, dass der Laienkultur
eine große Bedeutung zukommt. Das wird auch im
Deutschen Musikrat so gesehen; dort spielt die Laienkul-
tur mittlerweile eine viel größere Rolle. Wir müssen das
unterstützen, wo wir nur können. Wir müssen auch be-
reit sein, einiges bezüglich des Ehrenamtes neu zu über-
denken. Die Mobilität der jungen Generation, die wir ja
alle wollen, führt zu gewaltigen Veränderungen. Das
müssen wir bedenken und hierfür müssen wir Vorausset-
zungen schaffen. Da ist auch der Bundesgesetzgeber ge-
fordert.

Ich freue mich auf die weitere Diskussion und natür-
lich auch auf die Antworten auf diese Große Anfrage.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516613000

Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer von

Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1516613100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1516613200
Breitenkul-
tur ist Bürgerkultur. Man kann auch im Anschluss an
Herrn Burgbacher sagen: eine wunderbare Liebhaberei
von Bürgern. Aus meiner Sicht kann es gar nicht häufig
genug Gelegenheiten geben, im Deutschen Bundestag
über Kunst und Kultur zu diskutieren. Von daher bin ich
auch den Kollegen von der CDU/CSU dankbar, dass sie
dieses Thema aufgesetzt haben.

Es besteht ja große Einigkeit unter uns Kulturpoliti-
kern, wie auch sonst manchmal in der Kulturpolitik, da-
rüber, dass dieses ein außerordentlich wichtiges Thema
ist, dass die Breitenkulturlandschaft die Basis darstellt
und wir diese institutionell fördern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Allerdings wissen ja auch Sie – das kann man Ihnen
nicht ohne eine ironische Bemerkung durchgehen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Antje Vollmer

lassen –, dass gerade die Förderung von Breitenkultur
Aufgabe von Ländern und Kommunen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir tragen ja in diesem Haus unendlich viele Kämpfe
mit eben diesen Ländern über die Frage aus, ob wir das,
was wir für die Kultur tun wollen, auch dürfen. Von da-
her kann man sagen: Wollen hätten wir schon, aber um
das Dürfen müssen wir immer wieder mit diesen Län-
dern ringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen ist auch schwer zu verstehen, warum Sie jetzt
so einen Druck machen und diskutieren wollen, ohne
dass Sie die vollständige Antwort haben, obwohl Sie ge-
nau wissen, woran das liegt. Es gibt – das ist ja ein
Thema unserer Enquete-Kommission – keine zentrale
Kulturstatistik und keine Gesamterfassung aller Laien-
theater und Laienensembles. Deswegen wäre es eigent-
lich richtig gewesen, Sie hätten die Große Anfrage
gleich an den Bundesrat gerichtet. Dann hätten Sie wirk-
lich Druck machen können.


(Beifall und Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Da es nun aber so ist und weil ja auch Sie – ich weiß
das von Ihnen allen – oft den Kopf darüber schütteln,
dass die Länder uns das, was wir gern tun wollen, oft so
schwer machen, darf man nun auch einmal ein paar kriti-
sche Worte über die Praxis der Länder bei der Vertretung
ihrer Kulturhoheit gerade im Bereich Breitenkultur hier
äußern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie reißen so viel Kompetenz wie möglich an sich, ver-
suchen sogar, Debatten über diese Themen hier einzu-
schränken, um dann im Zweifelsfall doch die Mittel für
die Kultur zu kürzen. Das ist nach meiner Meinung eine
echte Doppelbotschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schaut man sich exemplarisch den Kulturhaushalt in
Niedersachsen an, dann wird deutlich, dass dort die Brei-
tenkultur, vor allen Dingen die Soziokultur, also Laien-
musik, Chöre, Heimatpflege und Musikschulen, über-
proportional von Kürzungen betroffen ist,


(Monika Griefahn [SPD]: Um 25 Prozent!)

und das in einer Zeit, wo wir alle sagen – jetzt kann ich
ja wieder für uns alle reden, denn das ist ein großes
Thema in der Enquete-Kommission –, dass gerade die
kulturelle Bildung für unsere Jugendlichen überpropor-
tional wichtig ist,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


dass sie gerade für Jugendliche eine große Hilfe ist, da-
mit sie sich in einer für sie manchmal bedrohlichen Um-
welt auf ihre eigenen Fähigkeiten und ihre eigene Kreati-
vität verlassen können. Bedeutende Statistiken besagen:
Bei Jugendlichen, die eine Gelegenheit hatten, ein In-
strument zu erlernen oder in einem Theater oder in ei-
nem Musical in der Schule mitzuspielen, ist die Krimi-
nalitätsrate später relevant niedriger. Da gibt es also
einen unmittelbaren Zusammenhang. Von daher ist Brei-
tenkulturpolitik gerade mit Jugendlichen auch präven-
tive Politik und Gesellschaftspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Ernst Burgbacher [FDP])


Umso mehr, liebe, liebe Länder, die ihr so auf euren
Kompetenzen besteht:


(Jörg Tauss [SPD]: Bei dem Thema fehlen sie!)


Tut mehr im Bereich von Breitenkultur, tut mehr im
Engagement für Jugendliche!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir tun einiges, manchmal fast an der Grenze der län-
derpolitischen Illegalität; die Staatsministerin hat es ge-
sagt. Wir unterstützen Dachverbände wie die Bundes-
arbeitsgemeinschaft Spiel und Theater und den Bund
Deutscher Amateurtheater sowie zahlreiche Wettbe-
werbe, zum Beispiel „Jugend musiziert“ und „Jugend
jazzt“. Wir haben die Gelder für die Soziokultur von
480 000 Euro auf 1 Million Euro mehr als verdoppelt.
Das macht deutlich, wie wichtig dieses Engagement für
uns ist. Ich möchte besonders erwähnen, dass diese För-
derung nicht auf Kosten der Spitzenkultur erfolgt, wozu
wir früher einmal geneigt haben, sondern dass wir beides
gleichzeitig fördern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unser Wille, die Institutionen insgesamt zu fördern, bür-
gerschaftliches Engagement für die Kulturinstitutionen
in der Breite zu fördern, ist ungebrochen, wie Sie wis-
sen.

Die Möglichkeiten des Bundes in diesem Bereich
sind beschränkt. Dennoch tun wir mehr, als wir nach der
aktuellen Kompetenzverteilung tun müssten. Als Er-
gebnis der Diskussion in der Enquete-Kommission er-
hoffe ich mir, dass wir uns gemeinsam neue Aufgaben
erkämpfen. Die Kommission wird am Ende auch ein
Wort dazu sagen, ob dieses Land auf allen Ebenen, auf
kommunaler Ebene, auf Länderebene und auf Bundes-
ebene, zu einer Selbstverpflichtung bereit ist, für den
weltweiten Ruf einer Kulturnation konkret etwas zu tun.
Wenn wir da die eine oder andere Barriere einmal ele-
gant überspringen könnten, wäre ich sehr froh darüber.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516613300

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt etwas zum Breitenfußball! – Horst Kubatschka [SPD]: Nein, zu Briefmarken!)



Dr. Wolfgang Bötsch (CSU):
Rede ID: ID1516613400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wurde

auf dem Herweg ermuntert, etwas zum Breitenfußball
oder zum Thema Briefmarken zu sagen. Nein, ich habe
wirklich vor, zur Kultur zu sprechen, insbesondere zur
Musik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Das war uns neu!)


Herr Kollege Kubatschka, ich mache Ihnen ein Angebot:
Ich spiele Klavier oder Orgel und Sie können ein anderes
Instrument dazu heraussuchen; dann geben wir bestimmt
ein gutes Duo ab.


(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Darf ich mitmachen? Ich bringe die Posaune mit!)


– Sie dürfen mitmachen, dann bilden wir ein Trio.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau

Staatsministerin hat gewissermaßen im Sinne eines The-
mas mit Variationen gefragt: Warum eigentlich diese De-
batte zu diesem Zeitpunkt? Frau Staatsministerin, formal
könnte man antworten: Ein Blick in die Geschäfts-
ordnung könnte die Frage ohne weiteres beantworten.
Dort steht, dass nach einer gewissen Frist nach der Ein-
reichung einer Großen Anfrage eine solche Debatte
möglich ist. Deshalb wurde sie von uns auf die Tages-
ordnung gesetzt.


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


Es wäre aber sicherlich zu kurz gegriffen, wenn man
sich nur auf die Fristen der Geschäftsordnung berufen
würde.


(Jörg Tauss [SPD]: Da muss schon mehr kommen!)


– Ja. – Man kann, hat die Frau Vizepräsidentin gesagt
– auch wenn sie es ein paar Sätze später wieder einge-
schränkt hat –, gar nicht oft genug über dieses Thema
diskutieren. Wenn ich ganz scharf wäre – was ich norma-
lerweise nicht bin –, Frau Staatsministerin, dann würde
ich sagen:


(Horst Kubatschka [SPD]: Dann sagen Sie das Herrn Stoiber!)


Die parlamentarische Erfahrung ist etwas, was man
durchaus in ein Amt einbringen kann, auch wenn man
selbst nicht Parlamentarier ist. Sie können uns nicht da-
für bestrafen, dass Ihnen diese parlamentarische Erfah-
rung offensichtlich fehlt.


(Ute Kumpf [SPD]: Oh!)

– Natürlich; sonst hätte sie diese Frage überhaupt nicht
gestellt.

Wir können auch nicht die Föderalismuskommission
in diesem Hause fortführen. Ich teile einige Punkte der
Kritik, zum Beispiel wenn Sie sagen, dass die Länder
beim Sparen ganz schön hingelangt haben. Aber da soll-
ten Sie vielleicht nicht nur auf Niedersachsen schauen.
Schauen Sie sich einmal den Haushalt von Nordrhein-
Westfalen an!


(Horst Kubatschka [SPD]: Bayern! Sprechen Sie mal über Stoiber!)


– Darüber reden wir besser nicht; denn die Kulturförde-
rung in Bayern ist wirklich vorbildlich, und zwar sowohl
in der Breite als auch in Bezug auf die Spitze. Vielleicht
kann man auch dort den einen oder anderen Punkt kriti-
sieren. Aber das kann für uns hier im Bundestag natür-
lich überhaupt kein Grund sein, dass wir uns mit dem
Thema nicht beschäftigen.

Die Antwort auf die Große Anfrage ist für den 1. Juli
angekündigt. Jeder, der in den Sitzungsplan des Bundes-
tages schaut, weiß, dass genau dann die Sommerpause
beginnt. In der ersten Sitzungswoche im September wird
der Haushalt beraten und in der zweiten Sitzungswoche,
die erst 14 Tage später ist, haben wir wahrscheinlich
auch etwas anderes zu tun, sodass es mindestens Okto-
ber werden würde, bis es zu einer solchen Debatte käme.
Insofern haben wir es angesichts der Bedeutung der
Laienkultur durchaus für opportun, richtig, ja notwendig
gehalten, eine solche Debatte schon vorher zu führen,
um das Bewusstsein zu stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren Kollegen von der Opposi-

tion

(Jörg Tauss [SPD]: Sie sind die Opposition!)


– von der Regierung, Entschuldigung; Sie haben völlig
Recht, Herr Tauss, aber ich erinnere mich natürlich gern
an alte Zeiten –, in einigen Punkten stimmen wir voll-
kommen überein. Hinsichtlich der Bedeutung der Laien-
kultur, der Laienmusik werden wir wenig Unterschiede
finden. Aber die Frage, wie wir fördern und welche
Möglichkeiten wir haben – der Kollege Burgbacher hat
es gesagt –, nicht nur musikalisch oder künstlerisch tätig
zu sein, ist eine Frage der Gesellschaftspolitik. Jede
Mark, die wir in diesen Bereich investieren, sparen wir
bei präventiven Maßnahmen oder gar Maßnahmen für
„nach dem Feste“, für Jugendliche oder andere, die mög-
licherweise in Schwierigkeiten geraten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir geben das Geld besser vorher aus.

Was bei uns an Breitenkultur gelebt und gegeben
wird, ist in keiner Weise amateurhaft oder oberflächlich.
Im Gegenteil, für außerordentlich viele Menschen sind
künstlerisches Gestalten und musikalischer Ausdruck zu
Grundbedürfnissen geworden. Sie gewinnen durch ihr
Tun Selbstvertrauen und entwickeln ihre geistigen,
schöpferischen und auch sozialen Fähigkeiten. Wer sich






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Bötsch

auf diese Weise engagiert, kreist nicht nur um sich
selbst. Das kann einer Gesellschaft nur gut tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb muss es das ureigene Interesse ihrer Vertreter
sein, möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, sich
in das kulturelle Angebot vor Ort aktiv einzubringen,
möglichst von klein auf.

Die Existenz so vieler auf Kunst und Traditionspflege
ausgerichteter Vereine und Verbände ist schützenswert
und nicht selbstverständlich. Sie sind der Humus, aus
dem in unseren Städten und Dörfern Lebensqualität und
Bürgersinn entstehen. Dafür sollten wir unseren Beitrag
leisten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1516613500

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Barthel von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1516613600

Meine Damen und Herren! Nach all diesen Beiträgen

habe ich den Eindruck, dass es hinsichtlich der Unter-
stützung und der Förderung der Breitenkultur überhaupt
keinen Dissens gibt. Es stellt sich jetzt nur die Frage, wie
und wie stark man fördert. Aber eines sollte man nicht
machen, nämlich das bürgerschaftliche Engagement im
Hinblick auf die Breitenkultur als Alternative zur öffent-
lichen Förderung der Breitenkultur hinstellen, wie Sie
das teilweise getan haben. Das wäre sehr schlecht.


(Beifall bei der SPD)

Wir Kulturpolitiker wollen, dass das gesamte Spek-

trum der Kultur und nicht nur die Breitenkultur gefördert
wird. Wenn wir uns die entsprechenden Stiftungen an-
schauen, dann können wir erkennen, dass die Förderung
der Kultur schon sehr weit gediehen ist. Das heißt aber
nicht, dass wir in unseren Bemühungen nachlassen dür-
fen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wundere mich, dass von der Opposition nur ein
Mitglied des Kulturausschusses anwesend ist. Woran
liegt das? Ich glaube nicht, dass kein Interesse an der
Breitenkultur besteht. Ich glaube vielmehr, dass sich
viele gefragt haben, warum eine Debatte über eine
Große Anfrage auf der Tagesordnung steht, zu der es
noch keine Antworten gibt. Worüber sollen wir diskutie-
ren? Ich bin schon sechs Jahre Mitglied dieses Hauses.
Aber ich habe noch nie über eine Große Anfrage disku-
tiert, ohne dass die entsprechenden Antworten vorlagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Geschäftsordnung lesen!)

Was wir hier tun ist eine Art Trockenschwimmkurs.
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als das über die

Breitenkultur zu sagen, was wir schon immer sagen
wollten. Ich gestehe, dass das nicht schlecht sein muss.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Herr Barthel, das Thema ist immer eine Beschäftigung wert!)


Trotzdem muss ich sagen, dass diese Debatte nur den
Zweck hat, sich einmal zu diesem Thema allgemein zu
äußern. Das müssen Sie doch zugeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da ich nicht weiß, zu welcher Frage ich eigentlich
Stellung nehmen soll, habe ich mir einmal die „neue
musikzeitung“, die ich sehr schätze, angeschaut. Dort
finden sich Kommentare von Frau Connemann zu dieser
Anfrage. Teilweise werfen Sie, Frau Connemann, der
Staatsministerin vor – das finde ich ein bisschen trau-
rig –, sie interessiere sich nicht für Breitenkultur.


(Jörg Tauss [SPD]: Pfui!)

Außerdem äußern Sie den Verdacht, dass – auf sie
bezogen – die Politiker in jede Oper gehen, aber die
Breitenkultur aus den Augen verlieren.


(Monika Griefahn [SPD]: Reinste Unverschämtheit!)


Ich glaube, die Staatsministerin hat in ihrem kurzen Bei-
trag ziemlich deutlich gemacht, wie weit die Förderung
durch die Bundesebene gediehen ist. Insoweit, Frau
Connemann, finde ich Ihre Kommentare nicht sehr tref-
fend.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir alle halten die Förderung der Breitenkultur für wich-
tig und notwendig.

Ich war vor meiner Abgeordnetenzeit journalistisch
tätig und weiß, dass ein Ehrenkodex lautet: Erst infor-
mieren und dann werten. Bei Ihnen ist es offensichtlich
umgekehrt. Das ist kein guter Stil. Sie sollten davon
wegkommen.


(Beifall bei der SPD)

Was bedeutet eigentlich der Begriff Breitenkultur?

Diese Große Anfrage hat mich veranlasst, einmal in ver-
schiedenen Lexika nachzuschauen, was darunter zu ver-
stehen ist. Mein Problem war, dass ich diesen Begriff
nicht gefunden habe. In Ihrer Großen Anfrage – jetzt
komme ich doch noch darauf zu sprechen – ist von
„Breitenkultur“ wie auch von „Laienkultur“ und manch-
mal von „Breiten- bzw. Laienkultur“ die Rede. Man
könnte jetzt sagen, dies sei nicht wichtig, weil wir alle
wissen, worum es geht. Aber ich habe die Erfahrung ge-
macht: Wer die Begriffe nicht klar definiert, kann auch
nicht klar darüber denken. Deswegen scheint es mir
wichtig zu sein, den Begriff Breitenkultur zu definieren.

Ihre erste Frage bezieht sich darauf, was die Bundes-
regierung unter Breitenkultur versteht. An diese Frage
hängen Sie 56 Fragen an. Wir müssen zwar über eine






(A) (C)



(B) (D)


Eckhardt Barthel (Berlin)


entsprechende Definition reden. Dennoch glaube ich
nicht, dass es allein um eine Definition der Breitenkultur
geht. Denn es gibt auch eine Überschneidung mit der So-
ziokultur. Insofern ist das nicht nur etwas für das stille
Kämmerlein, sondern geht weiter.

Die Antragsteller haben ganz am Anfang ihrer Gro-
ßen Anfrage darauf hingewiesen, dass das Subsidiari-
tätsprinzip gilt. An diesem Punkt sind wir uns einig.
Aber Sie halten das in Ihren Fragen gar nicht durch. Bei
einer Frage – sehen Sie, ich gehe doch auf Ihre Fragen
ein – ist mir das besonders aufgefallen. Ich meine den
zweiten Teil von Frage 15, die sich auf Immigranten und
Kultur bezieht:

Wie informiert die Bundesregierung Immigranten
über die Möglichkeiten des bürgerschaftlichen
Engagements in Laienkulturvereinen mit überwie-
gend deutschen Mitgliedern?

Arme Frau Weiss! Wie soll sie diese Frage beantworten?
Ich kann mir das praktisch nicht vorstellen. Zum Bei-
spiel wohne ich hier in Berlin noch in einem kleinen Be-
zirk mit 330 000 Einwohnern. Gott sei Dank haben wir
dort viele dieser Laien- und Kulturvereine – ich bin übri-
gens in einem Mitglied –,


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

in denen viel gemacht wird. Wie aber sollen wir von der
Bundesebene aus Immigranten aufzeigen, wo sie Laien-
kultur zusammen mit der deutschen Bevölkerung ma-
chen können?


(Beifall bei der SPD – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wir trauen der Staatsministerin eben etwas zu, Herr Barthel!)


Man sieht also, dass Sie bei Ihrer Großen Anfrage
einfach einmal alles das aufgeschrieben haben, was
möglich erschien.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Ich möchte ja gerne, dass der Bund in Sachen Kultur
mehr Kompetenzen bekommt. Das gestehe ich.


(Jörg Tauss [SPD]: Stoiber!)

– Dazu eine Fußnote. Nach dem, was ich heute Morgen
gehört habe, nach der Debatte über Föderalismus müs-
sen wir Kulturpolitiker aufpassen, dass die Kulturpolitik
nicht auf dem Altar des Ausgleiches geopfert wird. Das
bitte ich zu bedenken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Abschluss möchte ich einen versöhnlichen Satz
sagen. Ich glaube, wir sind in der Tat alle von der Bedeu-
tung der Breitenkultur überzeugt. Ich finde es auch rich-
tig, dass in Ihrer Großen Anfrage das bürgerschaftliche
Engagement ganz stark betont wird. Darüber besteht
Einigkeit. Ich würde mich aber freuen, dass wir das
nächste Mal erst dann über eine Große Anfrage diskutie-
ren, wenn wir auch die Antworten haben.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1516613700

Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck

(Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN sowie der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Impulse für eine internationale Ausrichtung
des Schulwesens – Den Bildungsstandort
Deutschland auch im Schulbereich stärken
– Drucksachen 15/4723, 15/5097 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ernst Dieter Rossmann
Marion Seib
Monika Lazar
Cornelia Pieper

Die Redner Gesine Multhaupt, Dr. Ernst-Dieter
Rossmann, Bernward Müller, Kristina Köhler, Grietje
Bettin1) und Cornelia Pieper2) haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.

Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung auf Drucksache 15/5097 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP mit dem Titel „Impulse für eine internationale
Ausrichtung des Schulwesens – Den Bildungsstandort
Deutschland auch im Schulbereich stärken“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4723
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der
CDU/CSU angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundstückverkehrsgesetzes und des Land-
pachtverkehrsgesetzes
– Drucksache 15/4535 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

1) Anlage 2
2) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die Redner Elvira Drobinski-Weiß, Kurt Segner,

Friedrich Ostendorff und Ernst Burgbacher haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/4535 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck (Köln), Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Die Wahlrichtlinien der Entwicklungsgemein-
schaft der Staaten im südlichen Afrika

(SADC) als Maßstab für freie und faire Wah-

len auch in Simbabwe
– Drucksache 15/5117 –

Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD, Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Rainer Stinner,
FDP, Arnold Vaatz,3) CDU/CSU, und Hartwig Fischer4)

(Göttingen), CDU/CSU, haben ihre Reden zu Protokoll

gegeben.
Zum Beginn der Dekade „Wasser zum Leben“
der Vereinten Nationen
– Drucksache 15/5115 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Redner Dagmar Schmidt, Ulrich Petzold, Christa
Reichard, Uschi Eid, Ulrich Heinrich und Gesine
Lötzsch haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5115 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Anlage 3
2) Anlage 4
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den An-
trag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf
Drucksache 15/5117 mit dem Titel „Die Wahlrichtlinien
der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen
Afrika (SADC) als Maßstab für freie und faire Wahlen
auch in Simbabwe“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 18. März 2005, 9 Uhr,
ein.

Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.