Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b
sowie den Zusatzpunkt 11:
21. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert
Weisskirchen , Gernot Erler, Kerstin
Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Ludger
Volmer, Claudia Roth , Marianne
Tritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Der Nahe und Mittlere Osten als Nachbar und
Partner der EU
– Drucksache 15/3206 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck,
Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
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Redet
Für eine Partnerschaft für Frieden und Stabi-
lität im größeren Mittleren Osten und in
Nordafrika
– Drucksache 15/3050 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 11 Beratung des Antrags der Ab
Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoy
Heinrich, weiterer Abgeordneter und d
der FDP
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zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das Problem derMisshandlungen wirklich auf Verfehlungen von einigenwenigen Soldaten reduziert werden kann oder ob hierdoch ein angeordnetes System zur Einschüchterung undDemütigung von Gefangenen angewandt wird, um bes-sere Befragungsergebnisse zu erzielen, aber auch imHinblick darauf, ob der Schaden, der dadurch für dasImage und das Prestige der westlichen Führungsmachtund damit der ganzen westlichen Welt in immensemUmfang entstanden ist, begrenzt werden kann und werdabei die fachliche und wer die politische Verantwortungübernimmt.
Wir haben gerade wegen dieser unfreiwilligen Mithaf-tung das Recht, Antworten auf die Fragen zu bekommen.Wir begrüßen – das sage ich auch im Namen derSPD-Bundestagsfraktion –, dass sich die amerikanischePolitik ändert und jetzt Fehler korrigiert. Wir begrüßen,dass sie die Vereinten Nationen stärker in den Stabilisie-rungsprozess einbezieht. Wir können nur hoffen, dassdie Autorität von Lakhdar Brahimi ausreichen wird, umjetzt eine Übergangsregierung zu schaffen und Perso-nen zu benennen, die in der irakischen Bevölkerung eineChance auf Vertrauen bekommen.edhnBwrVeSvssdnWdMssgUFddKrgenDwrnseddsfitHgpd
Wir begrüßen, dass Präsident Bush endlich Distanz zuiner Figur wie Ahmed Tschalabi und seinem INC, aufessen Konto viele gefährliche Fehleinschätzungen ge-en, herstellt. Wir begrüßen, dass jetzt die Beratung ei-er neuen Sicherheitsratsresolution möglich ist, die dasesatzungsregime beenden und die politische Verant-ortung in die Hände einer neuen, souveränen Interims-egierung legen soll.Wir sind davon überzeugt, dass eine durchgreifendeerbesserung der Sicherheitslage vor Ort aber nur dannrreicht werden kann, wenn es tatsächlich einen klarenchnitt zum Bisherigen gibt und wenn die irakische Sou-eränität nicht eine fiktive, sondern eine tatsächlicheein wird.
Der bisherige Resolutionsentwurf bleibt dabei in ent-cheidenden Fragen unklar: Wie soll sich das Verhältniser neuen Interimsregierung zu der künftig Multinatio-al Force genannten Sicherheitsgruppierung gestalten?ie sollen Verantwortung und Befehlsgewalt zwischenen irakischen Sicherheitskräften einerseits und derultinational Force andererseits abgegrenzt und organi-iert werden? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragenind die Erfolgsaussichten des Neuanfangs gering. Oderibt es hier wirklich jemanden, der glaubt, dass die bloßembenennung von Okkupationskräften in Multinationalorce mit denselben 138 000 amerikanischen Soldaten,enselben Koalitionstruppen, denselben Komman-ostrukturen, vielleicht lediglich verbunden mit eineronsultationspflicht bezüglich der neuen Interimsregie-ung, ausreicht, um die Gewalttätigkeiten, die täglich ge-en die bewaffneten Kräfte stattfinden, tatsächlich zu be-nden?Es ist noch Zeit zur Nachbesserung; wir müssen sieutzen.
er Mut, durchgreifend etwas zu verändern, muss nochachsen. Dabei könnte die nüchterne Erkenntnis hilf-eich sein, dass sich die Koalitionstruppen – nach eige-en Angaben – zu 90 Prozent mit Eigensicherung be-chäftigen müssen und dass es für die Iraker bisherigentlich vor allem dann gefährlich wurde, wenn sie inie Nähe solcher Einheiten geraten sind, denn da findenie Anschläge statt. Widersinnigerweise ist man umsoicherer, je weiter man von den Sicherungsgruppen ent-ernt ist.Zu der Sourveränitätsübertragung auf eine eigenerakische Regierung mit Autorität gibt es keine Alterna-ive. Aber die Übergabe der Verantwortung in irakischeände darf keine Mogelpackung sein; sie muss überzeu-en.Von den nächsten Wochen hängt viel ab. Eine neueolitische Partnerschaft des Westens mit der Großregiones Nahen und Mittleren Ostens braucht Fortschritte im
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Gernot ErlerIrak und braucht auch Fortschritte bei der Beilegung desanderen blutigen Konflikts, nämlich des Konflikts zwi-schen Israelis und Palästinensern. Deswegen muss jedeStrategie für einen Greater Middle East mit Bemühun-gen um eine Lösung für diesen beiden Konflikte begin-nen.
Aber mangelnder Fortschritt bei der Lösung dieserbeiden Konflikte darf keine Aktivitäten verhindern unddarf nicht zum Vorwand genommen werden, nicht überdie Stabilität der Großregion des Nahen und MittlerenOstens nachzudenken. Wir müssen aus der Sackgasseherauskommen: Die einen sagen, erst müsse eine Demo-kratisierung stattfinden, bevor man überhaupt zu einerKonfliktlösung kommen könne, und die anderen sagen,bevor es nicht zu einer Konfliktlösung komme, mache esgar keinen Sinn, über ein Gesamtkonzept für diese Groß-region zu reden. Diese Sackgasse ist entstanden; wirmüssen aus ihr herausfinden.
Dabei muss uns auch klar sein, dass eine ideologischeForm eines Demokratisierungskonzepts nicht weiter-führt. Man muss doch zugeben, dass es sich gerade beidem israelisch-palästinensischen Konflikt um einenKonflikt zwischen zwei Staaten handelt, die im Ver-gleich zu anderen Staaten demokratisch legitimierte Re-gierungen haben. Das ist ganz gewiss der Fall bei Israelund auch die palästinensische Autonomiebehörde ist imVergleich zu anderen arabischen Staaten demokratischlegitimiert. Das ist ein Hinweis darauf, dass man nichtautomatisch davon ausgehen kann, dass es zwischen de-mokratischen Ländern keine blutigen Konflikte gibt unddeswegen die Demokratie – die man notfalls von außenmit Gewalt einführt – das Allheilmittel ist. Wenn mandiese Automatik zugrunde legt, muss man scheitern. Dasist nicht die Lösung.Das ist der Hintergrund für unsere Bemühungen. Wirmüssen gemeinsam an Konzepten für einen gesamtstra-tegischen Ansatz für diese Region arbeiten. Wir müssenuns über die entsprechenden Instrumente unterhalten.Diese Debatte ist nur ein Anfang. Die Fraktionen desDeutschen Bundestages sollten sich vornehmen, dieseDebatte intensiv weiterzuführen und auf diese Weise denfür die Weltpolitik wichtigen diplomatischen Prozess ausparlamentarischer Sicht zu begleiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon langevzpPss2gGdHd1iVnAkdadgheNwdmAsadWztETvseSdGsMA
s ist unendlich wichtig, dass wir die großen tolerantenraditionen des Islam, etwa das Kalifat von Cordobaor 1 000 Jahren, die großen Bemühungen in der islami-chen Welt auch heute, für Aufklärung und Korankritikinzutreten, und auch die demokratischen Ansätze derchura-Tradition des Islam würdigen und entsprechendarauf reagieren.
Es gibt im Koran die Sure 2,256, die besagt, dass inlaubensdingen kein Zwang herrschen soll. Der Groß-cheich der ehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo,ohammed Tantawi, hat neulich in der „Frankfurterllgemeinen Zeitung“ Folgendes gesagt:)
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Dr. Friedbert PflügerDer Islam ist gegen alle Formen und Facetten desTerrorismus … Wir sind nicht damit einverstanden,dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen,Frauen und Kinder in die Luft sprengt … Es stehtaußer Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroris-ten, der rechtlich Verurteilte beherbergt und ihnenUnterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist …Terrorismus bedeutet: Friedfertige in Angst zu ver-setzen … Wer Terrorismus fördert, wird an ihm zu-grunde gehen.Das sagt eine der großen Autoritäten der islamischenWelt.Es ist ganz wichtig, dass wir nicht in einen Kampf derZivilisationen, des Christentums gegen den Islam, desAbendlands gegen den Orient, verfallen, sondern dasswir die Terroristen mit der großen Mehrheit der friedlie-benden Muslime isolieren und bekämpfen. Das ist un-sere politische Aufgabe.
Zweitens. Wenn wir über eine Initiative für den grö-ßeren Nahen Osten sprechen, dann ist es von sehr großerBedeutung, dass wir klar machen, dass das kein Ersatzfür eine Lösung des Nahostproblems ist. Der Stachel desPalästinaproblems sitzt überall in der arabischen Welttief. Das ist das Problem Nummer eins. Wir werden zwi-schen unserer Welt und der islamischen Welt keinenFrieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair, gerechtund dauerhaft gelöst wird und wenn in dieser Region dieGewalt auf beiden Seiten nicht endlich ein Ende hat. Dasist die Voraussetzung für jede Form von Dialog mit derarabischen Welt.
Drittens. Mit unserem Angebot für eine Partnerschaftdürfen wir unter keinen Umständen den Versuch ver-knüpfen, wir wollten unsere Wertvorstellungen, unsereFormen der Demokratie, des Westminster-Parlamenta-rismus, anderen Länden überstülpen. Wir wollen keinenKulturimperialismus, keine Belehrungen. Wir haben kei-nen Grund, andere von Europa aus zu belehren. In dermuslimischen Welt hört man, wenn wir mit Demokratie-konzepten ankommen, immer wieder die Frage: Washabt ihr denn im letzten Jahrhundert über die Welt ge-bracht? Darauf kann man nur schwer reagieren. Wir ha-ben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir wollen nichtunsere Demokratiemodelle durchsetzen; aber wir wollenmehr Einhaltung der Menschenrechte, mehr Freiheit undmehr Partizipation.Dazu gibt es doch inzwischen in der arabischen Weltselbst hochinteressante Papiere. Es hat in den letztenWochen Kommentare nur dahin gehend gegeben, dassder arabische Gipfel von Tunis fehlgeschlagen sei.Schauen wir einmal genauer hin: In der 13-Punkte-Er-klärung von Tunis stehen zum ersten Mal in einem sol-chen Dokument viele wirkliche Bekenntnisse zu denRechten der Frauen, zu Partizipation, Gewaltenteilungund zur Begrenzung von Amtszeiten. Das ist eineChance. Sie können dazu sagen, dass das Lippenbe-kAafauVbdmmAedgnDiAmesMiaWbgkAsbuAhVcwlsdervwbp
Viertens. Der nächste Punkt ist nicht ganz leicht. Auser muslimischen Welt wird immer wieder gesagt: Ihresst mit doppelten Standards. Wenn der Iran etwasacht, ist es abgrundtief böse, und wenn es in Saudirabien geschieht, wo es den Wahhabitismus gibt, alsoin radikales islamisches Regime, deckt ihr den Manteles Schweigens darüber, weil es eine prowestliche Re-ierung ist.Solange wir uns solche doppelten Standards erlauben,ehmen uns die jungen Muslime nicht ernst, wenn wiremokratie und Menschenrechte predigen. Man kann esn der Politik nie 100-prozentig machen. Wir sind nichtmnesty International; es gibt realpolitische Kompro-isse und Notwendigkeiten. Aber ein bisschen mehrindeutige Standards und weniger Doppelzüngigkeitind dringend notwendig, wenn wir die Herzen jungeruslime gewinnen wollen.
Fünftens. Die Chance, Wandel und Menschenrechten den Ländern des größeren Mittleren Ostens und Nord-frikas zu unterstützen, erhalten wir nur, wenn dieerte, für die wir stehen, auch deutlich erkennbar blei-en. Insofern haben die Bilder von Folter und Demüti-ungen von Irakern eine katastrophale Wirkung. Sie dis-reditieren all das, wofür die westliche Welt und auchmerika stehen, nämlich Menschenrechte und Men-chenwürde. Natürlich kann man darauf hinweisen, dassei Saddam über Jahre und Jahrzehnte viel brutaler, vielmfassender und viel schlimmer gefoltert worden ist.ber wir in der westlichen Welt haben unsere eigenenohen Standards. Wir müssen alles dafür tun, dass dieseorgänge aufgeklärt werden und dass die Verantwortli-hen zur Rechenschaft gezogen werden; sonst könnenir die Glaubwürdigkeit, die wir zum Dialog mit der is-amischen Welt brauchen, nie wieder erzielen.
Sechstens. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslo-igkeit und der sozialen Ungerechtigkeit geht es darum,en Globalisierungsprozess sozial zu gestalten und ihminen politischen Rahmen zu geben. Die Öffnung unse-er Märkte für die Produkte aus diesem Teil der Welt iston großer Wichtigkeit. Freihandel zu fördern – aberirklichen Freihandel –, Entwicklungspolitik zu betrei-en, dort die Demokratie zu fördern, durch Aufklärungs-rojekte einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Bevölke-
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Dr. Friedbert Pflügerrung vielleicht nicht mehr ganz so schnell wächst wiebisher, das ist von großer Wichtigkeit.Siebtens. Wir müssen die kulturelle Zusammenar-beit ausbauen, viel mehr über den Islam, seine Unter-schiede und die verschiedenen islamischen Länder wis-sen und sie besser verstehen. Deswegen ist es falsch, dieMittel für auswärtige Kulturpolitik zu kürzen.
Ich bin gerade in fünf Ländern am Persischen Golfgewesen. Auf der ganzen arabischen Halbinsel gibt esnicht ein Goethe-Institut. Das müssen wir ändern, wennwir es mit dem Dialog mit der Welt des Islam ernst mei-nen.
Mein letzter Gedanke: Es ist nicht so, dass für alles,was in der islamischen Welt passiert, der Westen Verant-wortung trägt. Natürlich hat es die Zeit des Kolonialis-mus gegeben, natürlich hat es enorme Fehler im Verhält-nis zur islamischen Welt gegeben. Aber es geht nicht,dass die Muslime immer nur uns verantwortlich machenund sich selbst entlasten. Sie müssen auch selbst an derModernisierung, an der Öffnung und an der Reform ih-rer Länder mitwirken. Wir erwarten von den Muslimenin aller Welt – auch von denen, die bei uns leben –, dasssie sich deutlicher als bisher in Wort und Tat von denTerroristen und extremistischen Islamisten absetzen.Dieses Recht auf ihre Mitarbeit und auf ihre Modernisie-rungsanstrengung haben wir genauso, wie sie das Rechtauf unsere Unterstützung und Sympathie haben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegen Ludger Volmer, Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koali-tionsfraktionen legen heute einen Antrag vor, der dreier-lei leisten möchte: Er möchte den transatlantischen Dia-log über Sicherheitsfragen wieder aufnehmen und in dierichtige Richtung umlenken,
er möchte die Debatte innerhalb der EU über die strate-gische Dimension der europäischen Politik vertiefen under möchte einen substanziellen Dialog zwischen dem sogenannten Westen und der arabisch-islamischen Weltüber Modernisierung, Demokratisierung und Umsetzungder Menschenrechte mitinitiieren.Dieser Antrag ist überfällig, weil uns die Krisen derletzten Monate eindrücklich vorgeführt haben, dass diePolitik des „Weiter so!“, dass die reine Machtpolitik, dieauf militärische Projektion setzt, gescheitert ist.Sehen wir uns die Situation im Irak an. Im Irak erle-ben wir das Desaster einer ideologisch verblendeten Po-lmWbrfwmdamhkKadamMutdmfsaWtwddugnvagKfgBbdJ
ir sehen, dass es unmöglich ist, Demokratie herbeizu-omben. Wir sind uns in der Zielsetzung Demokratisie-ung einig. Aber man kann Demokratie nicht mit Waf-engewalt herbeizwingen, insbesondere dann nicht,enn man ständig die Würde der Menschen verletzt, diean zur Demokratie bekehren möchte.
Sehen wir uns das Sicherheitsdesaster an. Es waroch absehbar, dass kein Plan existierte, wie der Wieder-ufbau nach dem Krieg einer Hightecharmee gegen eineittelmäßig bewaffnete Dritte-Welt-Armee zu gesche-en habe, wie regionale Stabilität gewährleistet werdenönne. Heute muss die Bush-Administration auf dieräfte zurückgreifen, die sie bekämpft hat, nämlich dielten Sicherheitsorgane von Saddam Hussein. Das istoch der völlige Bankrott der Sicherheitspolitik, die dortngestrebt wurde.Was zeigen uns die Folterorgien der letzten Monateit den schrecklichen Menschenrechtsverletzungen?an hatte den Anspruch, Demokratie zu exportieren –nd man exportierte Folterknechte. Das ist doch der to-ale moralische Bankrott eines bestimmten Anspruchs,er angeblich für die gesamten westlichen Werte steht.
Gegen diesen Anspruch müssen wir uns wehren. Wirüssen von den amerikanischen Freunden und Partnernordern – ich begrüße, dass der Außenminister das beieiner Rede sehr deutlich gemacht hat –, dass die Dingeufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden.ir hoffen, dass der Schaden, der durch diesen doppel-en – politischen und moralischen – Bankrott angerichteturde, durch eine UNO-Resolution zumindest einge-ämmt werden kann, die möglichst bald die Irakisierunges Konfliktes in die Wege leitet.
Meine Damen und Herren, doppelte Standards wirftns die islamisch-arabische Welt vor. Wir wissen nur zuut, dass sich viele Despoten des Orients mit ihren eige-en doppelten Standards hinter den Fehlern des Westenserstecken. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Fehler-ufarbeitung vornehmen und einen Neuansatz für einenrundlegenden Dialog zwischen unserem westlichenulturkreis und dem islamisch-arabischen Kulturkreisinden. Das geht nicht mehr mit dem moralischen Zei-efinger. Dieses Recht haben wir durch den moralischenankrott verspielt, den die Folterorgien mit sich ge-racht haben.Wenn wir über Versagen reden, müssen wir auch überie Haltung einiger Kräfte in diesem Hause vor einemahr reden. Ich erinnere mich noch sehr gut daran – man
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Dr. Ludger Volmerbrauchte sich nur die Sendung von Frau Illner gesternAbend anzuschauen –, wie die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion noch vor einem Jahr argumentiert hat.Wir erinnern uns an ihre Kniefälligkeit gegenüber Präsi-dent Bush, mit der sie die Opposition in den USA und inEuropa geschwächt hat –
dies alles aus der wahnhaften Vorstellung heraus, wennsich die kleine Bundeswehr in einem Bedrohungsszena-rio an die Seite der großen US-Armee stellte, würdeSaddam Hussein Massenvernichtungswaffen abrüsten,die er überhaupt nicht hatte. Dies war die Absurdität derPolitik der CDU/CSU.Zudem frage ich mich, Frau Merkel, wie Sie es recht-fertigen können, zu sagen: Wir wollten mitdrohen, aberfür den Fall, dass Saddam nicht reagiert hätte, hätten wiruns natürlich nicht militärisch beteiligt. „Bellen, ohne zubeißen“, das ist offensichtlich das Motto Ihrer Sicher-heitspolitik.
Wie unglaubwürdig sie ist, weiß jeder Sicherheitspoliti-ker. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie 2002 an dieMacht gekommen wären, dann wäre Deutschland heutein demselben Schlamassel, in dem die USA sind.
Dann hätten wir Anteil an dem moralischen Bankrottdieser Politik. Wenn Sie daran beteiligt gewesen wären,hätte die arabisch-islamische Welt heute vielleicht sogarzu Recht den Eindruck, es ginge um einen Kampf derKulturen. Es war diese Koalition, die durch die rot-grüneAußenpolitik zusammen mit unseren Freunden in Frank-reich, Belgien und anderswo verhindert hat, dass es inder Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt zueinem Clash of Civilizations gekommen ist.
Auf diese Politik sind wir stolz. Dazu erwarten wir vonIhnen noch immer ein klares Wort.
Der west-östliche Dialog steht auf der Tagesordnung.Er muss sich um Modernisierung, Demokratisierung undMenschenrechte drehen. Wir haben ein gesteigertes Inte-resse daran, denn der Orient liegt in unserer unmittelba-ren Nachbarschaft. Insbesondere, weil wir die Europäi-sche Union erweitert haben, ist es notwendig, sinnvollund in unserem Sicherheitsinteresse, dass wir friedlicheund freundschaftliche Beziehungen zu dieser Regionpflegen. Auch brauchen wir diese Region im gemeinsa-men Kampf gegen den internationalen Terrorismus.Nicht nur wir, die westliche Welt, sind Ziele der Terro-risten, sondern auch die arabisch-islamische Welt selbsthat unter diesen Irrläufern zu leiden, die sich zu UnrechtawiDtNgvzwmumSEsAhsjeasOvnSzeshKnsTw–gdavndrsgd
Meine Damen und Herren, im Kontext des Dialogswischen dem Westen und der orientalischen Welt kannin Land eine Schlüsselrolle spielen und einen geradezutrategischen Stellenwert einnehmen: die Türkei. Des-alb möchte ich diesen Punkt ansprechen. Denn meineritik an der Irakpolitik der CDU/CSU habe ich vorhinicht aus Rechthaberei formuliert,
ondern weil ich befürchte, dass, nun bezogen auf dieürkei, der gleiche strategische Fehler erneut gemachtird.
Aus einer diffusen Ablehnung gegenüber MoslemsHerr Pflüger hat zwar versucht, etwas anderes zu sug-erieren – und aus einer irrationalen, emotionalen Bin-ung an ein bestimmtes, eng definiertes Verständnis vonbendländischer Kultur versucht man, die Türkei außenor zu lassen, und
immt in Kauf, dass all ihre Hoffnungen enttäuscht wer-en und dass auch Demokratisierung und Modernisie-ung, die dort gerade aufgrund der europäischen Per-pektive der Türkei Einzug gehalten haben, wiederestoppt und vielleicht sogar rückgängig gemacht wer-en.
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Dr. Ludger VolmerEs liegt in unserem Sicherheitsinteresse – das mögensich bitte auch die Innenpolitiker vergegenwärtigen –,dass sich dieses wichtige Land an der Schnittstelle zwi-schen Orient und Okzident in positiver Weise auf dieeuropäischen Werte bezieht, sich diese Werte aneignetund gemeinsam mit uns den Dialog mit der arabisch-islamischen Welt aufnimmt. Wir brauchen die Türkei.Deshalb darf es keine innenpolitisch motivierten Ressen-timents geben, die die Türkei ins Niemandsland odervielleicht sogar auf die falsche Seite treiben.
Dass diese Politik – der Dialog mit dem Orient unddie europäische Perspektive der Türkei – Realität wer-den kann, dafür steht diese rot-grüne Regierung und des-halb sind Grün und Rot europapolitisch und außenpoli-tisch die erste Wahl.Danke.
Ich erteile das Wort Kollegen Werner Hoyer, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich eine Anmerkung zu diesem Wahl-kampfauftritt des Kollegen Volmer machen. Wir Libera-len haben eine Gemeinsamkeit mit den Koalitionsfrak-tionen: Wir haben den Irakkrieg weder sachlich nochrechtlich für gerechtfertigt gehalten noch haben wir ihnfür richtig gehalten; er war eben obendrein ein Fehler.Aber was wir nicht zugelassen hätten, wäre, dass überdiese Frage mit aktiver Beteiligung der BundesrepublikDeutschland Europa gespalten worden ist, und das isthier passiert.
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Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Albern!)Diese wahlkampftaktische Aktion, die damals erfolg-reich war, aber mit zur Spaltung Europas führte, solljetzt, im Vorfeld der Europawahl, erneut versucht wer-den. Das wird diesmal nicht mehr aufgehen – das habendie Wählerinnen und Wähler durchschaut.Bei aller Kritik, die anzubringen ist – ich denke, zurSelbstgerechtigkeit besteht hier nun überhaupt keineVeranlassung; dafür wird all das, was vor dem Sturz vonSaddam Hussein geschehen ist, dann doch zu leicht ver-gessen.
Es geht im Nahen Osten um viel mehr als um regio-nale Stabilität – so wichtig sie ist –, es geht auch darum,wie wir mit unserer Verpflichtung gegenüber dem StaatIsrael klarkommen; es geht darum, den Kampf gegenden internationalen Terrorismus zu bestehen; es geht da-rrgwwlWsAwTBzwdGabbGgwddüksAwArdwgBinsSlesdedBGzd
ie heute Morgen hier vom Kollegen Volmer abgezogenorden ist, sage ich: Ich habe volles Vertrauen in dieroßen Werte der amerikanischen Verfassung, derill of Rights, der Declaration of Independence – auch die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesell-chaft. Wir unterschätzen das hier.
ehen wir uns doch einmal an, in welcher intellektuel-n, moralischen und rechtlichen Schärfe die amerikani-che Diskussion über die Vorgänge geführt wird! Zumin-est was intellektuelle Redlichkeit angeht, könnten sichinige bei uns eine Scheibe davon abschneiden.
Klar ist aber auch: Die Amerikaner könnten zur Wie-erherstellung ihrer Glaubwürdigkeit einen weitereneitrag leisten, zum Beispiel indem sie mit dem Themauantanamo Bay anders umgehen oder ihre Positionum Internationalen Strafgerichtshof überdenken wür-en.
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Dr. Werner HoyerMeine Damen und Herren, im Nahen Osten genießendie Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland undder Außenminister persönlich einen guten Ruf. Das giltauch in Bezug auf den Konflikt zwischen Palästinen-sern und Israelis. Das ist auch gut so. Aber wir dürfenden guten Ruf nicht als bloßen Heiligenschein ansehenund er darf kein Selbstzweck werden, sondern er mussdazu genutzt werden, um Einfluss zu nehmen, und zwarauch in den Situationen, in denen es schwer fallen mag,harte Worte auszusprechen.
Es ist an der Zeit, dass der Bundesaußenminister seinenguten Ruf aktiv einsetzt. Das darf aber nicht so aussehen,dass er für die Israelis oder für die Palästinenser Parteiergreift; er muss vielmehr Partei ergreifen für die Imple-mentierung der Roadmap wie auch für die Umsetzungder schon vorhandenen Friedensvorschläge, die aus derZivilgesellschaft gekommen sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen,dass ich nicht gut finde, wie wir mit Herrn Rabbo undHerrn Beilin umgegangen sind. Sie haben uns im Aus-schuss überzeugend vorgetragen, wir haben sie bejubelt.Aber anschließend haben wir das mit einer sehr schwa-chen Erklärung bedacht.
Der Bundesaußenminister muss für das Völkerrechteintreten. Das muss er auch dann tun, wenn Ministerprä-sident Scharon das Völkerrecht verletzt und meint, trotz-dem auf dem richtigen Weg zu sein.
Die Bush-Administration hat sich zu Beginn ihrerAmtszeit aus der Lösung des Nahostproblems fast völligherausgehalten, und zwar auch aus der Situation desWahlkampfes heraus: Nach Clintons Abgang durfte mannichts fortführen, was Clinton fast erfolgreich bewältigthätte. Das war ein großer Fehler. Jetzt werden die Ame-rikaner wieder aktiver. Ich hoffe, es handelt sich nichtwieder um eine Aktivität im Vorwahlkampf aus tak-tischen Motiven. Wir brauchen die Amerikaner bei die-ser Arbeit.Wichtig ist, dass wir den fatalen Eindruck ausräumen,im Nahen Osten gebe es eine Arbeitsteilung zwischenEuropäern und Amerikanern, als seien die Europäerfür die Finanzierung der Palästinenser zuständig, dieAmerikaner dagegen würden sich nur mit den Leidendes israelischen Volkes befassen und würden die dafürnotwendigen Mittel und die notwendige Empathie auf-bringen. Diesen Eindruck müssen wir ausräumen. DieAmerikaner sind gut beraten, die Chancen zu nutzen, diein Gesten, auch humanitärer Art, gegenüber den Palästi-nensern bestehen, Chancen, die zum Beispiel darin lie-gen, dass die amerikanische Administration klare Wortefür Völkerrechtsverletzungen findet, die Israel zuzurech-nen sind. Umgekehrt wären wir Europäer gut beraten,den Israelis glaubwürdig zu vermitteln, dass auch wirdnfsdkdaPMwmfMsBtszvgssNgkddmspnfsgtgtfHWLSTddwaaüki
Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt. Damitomme ich auf unseren Antrag zu sprechen. Der Frie-ensprozess im Nahen Osten kann genauso wenig vonußen aufgezwungen werden wie der ebenso wichtigerozess der Modernisierung der Länder des Nahen undittleren Ostens. Solche Versuche werden immer Ab-ehrreflexe auslösen, und zwar nicht nur bei den Regi-en in der Region, die um ihre Macht und um ihren Ein-luss fürchten, sondern auch bei den allermeistenenschen vor Ort. Denn die Menschen in dieser Regionind zutiefst verunsichert, sie sind durch die aktuellenilder aus dem Irak zutiefst abgestoßen, sie sind indok-riniert durch ihre politischen und religiösen Führer undie sind – auch das muss man im Hinterkopf behalten –u stolz und zu würdevoll, um sich Lösungen immer nuron außen aufdrücken zu lassen. Natürlich ist zu Rechtesagt worden – Friedbert Pflüger hat darauf hingewie-en –, dass Aktivitäten auch von innen kommen undichtbar werden müssen; das ist vollkommen richtig.ur ein Oktroi wird das Problem nicht lösen.Es herrscht in den Zivilgesellschaften in dieser Re-ion ein enormer Reformdruck. Es gibt durchaus die Er-enntnis, dass die islamisch-arabischen Länder weltweiten Anschluss zu verlieren drohen. Viele in diesen Län-ern drängen nach stärkeren Partizipationsrechten undehr Freiheit. Diese Vertreter der Zivilgesellschaft wis-en auch, dass für den erforderlichen Modernisierungs-rozess Hilfe von außen erforderlich ist. Diese darf abericht aufgedrückt werden.In den Anträgen der Union wie auch der Koalitioninden sich viele gute Vorschläge. Aber ich meine, wirollten zusätzlich den Gedanken einbringen, die maß-eblich betroffenen Akteure einzubeziehen und ihnen in-ernationale Unterstützung zukommen zu lassen.Wir haben gute Erfahrungen mit dem Helsinkiprozessemacht. Ich weiß, dass man das nicht eins zu eins über-ragen kann. Warum ziehen wir aber nicht die Schluss-olgerungen aus dem, was wir in Helsinki und durch denelsinkiprozess gelernt haben? Dieser Prozess hat deneg zur Überwindung der Teilung Europas und unseresandes freigemacht. Der Weg von Helsinki war derchlüssel zur Vereinigung Europas, die wir vor wenigenagen gefeiert haben, und zur Vereinigung unseres Lan-es vor 15 Jahren.Deswegen: Lasst uns untersuchen – wir werden inen Ausschussberatungen ausreichend Zeit haben –, woir Möglichkeiten dafür sehen, die Schlussfolgerungenus den Erfahrungen mit den drei Körben von Helsinkiuf mögliche Lösungsansätze für den Nahen Osten zubertragen. Ich denke, die Europäer und die Deutschenönnten hier hilfreich sein. Nachdem unsere Vorschlägen dieser Richtung am Anfang sehr belächelt worden
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Dr. Werner Hoyersind – auch von dem Herrn Außenminister –, bin ich nunsehr ermutigt, da diesbezüglich mittlerweile doch überalleine große Aufgeschlossenheit vorhanden ist.Kollege Pflüger hat im Hinblick auf das Alexandria-dokument zu Recht auf die entsprechenden Anknüp-fungspunkte hingewiesen. Auch Minister Sharansky ausIsrael hat sich positiv in diese Richtung geäußert. Neh-men wir diesen Faden auf und versuchen wir, tatsächlicheinen Beitrag zur Lösung des gefährlichsten Problems inunserer unmittelbaren Nachbarschaft zu leisten!Herzlichen Dank.
Ich erteile Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Dr. Hoyer, wir haben es erlebt: Diese Debatte hatauf der Sicherheitskonferenz in München begonnen. DerAußenminister hat den Eröffnungszug gemacht und ge-sagt, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland mit denKonflikten, die sich ganz in unserer Nähe ereignen, um-gehen müssen.Wir erinnern uns alle an den Kollegen Lamers, derimmer wieder deutlich gemacht hat, dass der Nahe Ostendeswegen so heißt, weil er direkt neben uns liegt. Andersals die Amerikaner, die „middle east“ sagen, würde esuns sofort und direkt betreffen, falls sich der Nahe Ostenin kriegerischer Selbstzerstörung befinden und in eineAuseinandersetzung geraten würde. Das hat der Außen-minister klar gemacht. Wir im Westen müssen jetzt un-sere eigenen inneren Widersprüche überwinden, einenneuen Akzent setzen und den Eröffnungszug machen.Lieber Kollege Dr. Hoyer, insofern braucht die Bundes-regierung keinen Hinweis darauf, dass das nötig ist. DerAußenminister hat das deutlich gemacht und wir führenhier eine vernünftige Debatte darüber.
Ich finde, in dieser Debatte sollte es auch darauf an-kommen, unseren amerikanischen Freunden und Part-nern nicht mit dem Gestus der Schadenfreude zu be-gegnen.
– Lieber Kollege Dr. Hoyer, das war nicht das, woraufder Kollege Volmer hingewiesen hat. – Nein, innerhalbdes Westens brauchen wir keine Schadenfreude; denn eskommt jetzt darauf an, eine harte und schonungslose Bi-lanz des Irakkriegs zu ziehen.
Ich bin froh, dass Madeleine Albright sehr deutlichsagt, dass die Irakstrategie des amerikanischen Präsiden-twdadwdgpggigdsMgcsFsdvddszVsswdhddsAgBbktWrddnwBded
Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden,ann müssen wir uns selbst fragen, in welcher langenistorischen Linie wir uns befinden. War es nicht so,ass der Austausch zwischen Europa im Norden undem Mittelmeerraum ein immer währender kriegeri-cher und imperialer gewesen ist? Waren es nicht Krieg,useinandersetzung, Abgrenzung – allerdings auch Inte-ration und Aufnahme –, die diesen Austausch, dieseeziehungen leider zu stark und zu häufig geprägt ha-en? Dies ist die lange geschichtliche Widersprüchlich-eit, mit der wir uns im Raum des Mittelmeers gegensei-ig begegnet sind. Hier steht auf der einen Seite dieiege der monotheistischen Religion und auf der ande-en Seite – das dürfen wir nicht vergessen – die Wiegees modernen und imperialen Staatsdenkens.Ich darf einmal daran erinnern – wenn man Mitglieder Christlich Demokratischen Union ist, dürfte das ganzahe liegen –, was Paulus geantwortet hat, als er gefragtorden ist, wer er sei: Civis Romanus sum – ich bin einürger Roms. Auch das prägt diesen Raum: der Beginner Zivilisation, immer begleitet von kriegerischen Aus-inandersetzungen. Das ist die Widersprüchlichkeit.Heute könnten wir aus den Fehlern, die gemacht wor-en sind, lernen und daraus den Schluss ziehen: Wir
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Gert Weisskirchen
müssen in ein neues gemeinsames Verhältnis eintreten,damit das, was uns in der Vergangenheit so stark und sonegativ geprägt hat, überwunden wird. Wir müssen ver-suchen, unsere historischen Erfahrungen so zu nutzen,dass wir in der Tat – darin stimme ich Ihnen zu, HerrDr. Hoyer – unsere Erfahrungen seit 1975 ernst nehmen,aufnehmen und mit dieser Region in einen wirklichenDialog eintreten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Eu-ropäische Union eine neue Partnerschaft mit unserem di-rekten Nachbarn eingeht. Willy Brandt hat dazu, wie ichfinde, richtig gesagt: Wir Deutsche wollen gute Nach-barn sein, nach innen und nach außen. – Jetzt kommt esdarauf an, ein neues nachbarschaftliches Verhältnis mitdieser gebeutelten, schwierigen und in sich so wider-sprüchlichen Region einzugehen.Wenn wir uns diese Region anschauen, von Marra-kesch bis Kabul, dann kann man sich schon die Fragestellen: Seid ihr nicht zu euphorisch, zu versuchen, mitdieser ganzen Region eine neue Partnerschaft einzuge-hen? Das ist wohl wahr; denn bei der Kleinteiligkeit undKleinräumigkeit von Marokko bis Afghanistan kann esschon dazu kommen, dass uns die Suche nach der Lö-sung dieser Einzelprobleme derart bedrängt, dass wirden Blick auf das Ganze verlieren. Diese skeptischeFrage wird uns während des langen Prozesses, den wirjetzt beginnen werden, begleiten. Wenn wir aber nichtden Mut haben, einen gemeinsamen strategischen Ent-wurf zu skizzieren, werden wir auch die kleinen Fragennicht lösen, sondern diese werden sich als Steine aufdem gemeinsamen Weg erweisen. Dann allerdings könn-ten wir scheitern.Nein, ich glaube, wir stehen am Anfang eines völligneuen Prozesses.Der Außenminister hat zu Recht in München gesagt,dass das bedeuten muss, dass sich der Westen neu defi-niert, dass er sich neu erfindet. Denn wir wollen dochdieser Region, die nahe bei uns liegt, nicht mit dem Ges-tus „Wir wissen alles besser und es ist nun an der Zeit,dass ihr euch uns anschließt“ begegnen, sondern wirwollen das als Aufgabe der transatlantischen Partner-schaft angehen. Die USA und die Europäische Unionmüssen ihre Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass sichdiese Region zu einer Region der Prosperität entwickelnkann.Wer von „Region der Prosperität“ spricht, der weißauch, wie schwer es die Menschen haben, die in den22 arabischen Staaten leben. Alle 22 Staaten zusammenerwirtschaften leider nur ein Bruttosozialprodukt, dasgerade einmal so groß wie das von Spanien ist. Daransieht man, wie schwer die Aufgabe ist. Über 50 Prozentder Menschen dort können nicht lesen und nicht schrei-ben; zwei Drittel davon sind Frauen. Es liegen alsogroße soziale Aufgaben vor uns, die wir gemeinsam an-packen müssen. Denn Sicherheit, Demokratie und Mo-dernisierung sind das, was diese Region braucht.Die Europäische Union wird ein guter, verlässlicherPartner sein, der nur gemeinsam mit den USA diese voruns liegende schwere, historische Aufgabe bewältigenkann. Ich bin froh darüber, lieber Herr Außenminister,daUhrDddwCHsniludDdbSmiDdbüstIadsumdlvBusDRefLdDs
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/
SU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen underren! Das Verhältnis zwischen Europa und der islami-chen Welt ist nach der Kette von Terroranschlägen,ach New York, nach den Kriegen in Afghanistan undm Irak und nach der Eskalation im Nahen Osten natür-ich angespannt. Die Kommunikation zwischen uns istnbefriedigend. Argwohn und Misstrauen sind auf bei-en Seiten groß. Auch das haben wir bei der gestrigeniskussion mit den Botschaftern erlebt. Ich erinnere anen Streit um Überschriften, um Semantik. Wir habenisher darauf keine passende Antwort.Antworten zu finden ist dringlich. Es ist ein Gebot dertunde, dass wir einen neuen, einen intensiveren Dialogit den Regierungen und Menschen in den Ländern derslamischen Welt anstoßen. Wir haben dazu gerade alseutsche allen Grund: Wir haben auf der einen Seite tra-itionell gute, auch gute kulturelle Beziehungen; wir ha-en intensive ökonomische Beziehungen mit einemberragenden Zukunftspotenzial. Auf der anderen Seiteind wir aber auch massiv von Fehlentwicklungen be-roffen, die es in diesem Raum gibt und geben könnte.ch nenne das Stichwort Migration. Natürlich sind wiruch als Deutsche und Europäer besonders verwundbarurch Terrorismus, Spannungen oder Konflikte in die-em Raum.Das ist der Ausgangspunkt für unseren Antrag. Fürns ist ein ganz entscheidender Schlüssel für eine ge-einsame tragfähige Zukunft eine effizientere Politiker wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwick-ung gegenüber den islamischen Ländern. Wir gehen da-on aus, dass auch für die Menschen dort und für derenefindlichkeit Bildung, wirtschaftliche Perspektivennd die Chance, zu der Gestaltung der eigenen Gesell-chaft beizutragen, wirkliche Schlüsselfaktoren sind.as ist zwar noch keine Garantie gegen Konflikte undadikalismus, aber das ist die beste Voraussetzung fürin besseres Miteinander und dafür, einen offenen Kon-likt zu vermeiden.Dazu bedarf es natürlich auch in den islamischenändern – das wurde schon angesprochen – tief greifen-er politischer, sozialer und wirtschaftlicher Reformen.iese Länder sind dazu bereit, aber es ist eine sehrchwierige Aufgabe. Unsere strategische Aufgabe muss)
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Dr. Christian Ruckes sein, alles zu tun, damit es zu diesen Reformenkommt.
Wir sollten dabei jeden Eindruck von Bevormundungund Arroganz vermeiden.Ich erinnere daran, dass in Mitteleuropa quasi nochdie Eisenzeit herrschte, als es im Nahen und MittlerenOsten schon blühende Hochkulturen gab. Ich erinnereweiter daran, dass auch islamische Impulse dazu bei-getragen haben, dass wir eine Schwächeperiode in unse-rem Mittelalter überwinden konnten, und möchte in die-sem Zusammenhang die Nobelpreisträgerin Ebadizitieren:Demokratie ist kein Geschenk, das man auf einemGoldtablett darreicht. … Demokratie ist ein histori-scher Prozess, der sich … in jeder Gesellschaft voninnen heraus entwickeln muss. Geschichte setzt Ge-duld voraus.Das sollten auch wir berücksichtigen.
Wir sollten auch deutlich machen, dass unser Ange-bot zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklungnicht nur auf Demokratieaufbau abzielt, sondern insbe-sondere auf die Stärkung der ökonomischen Wettbe-werbsfähigkeit der Gesellschaften in dieser Region, dieSchaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen undvor allem die Verbesserung der Zukunftschancen derjungen Generation, die auf geradezu dramatische Artund Weise und in einem Maße, wie wir es uns wünsch-ten, ein überragender Bestandteil der Alterspyramidedieser Gesellschaften ist. Wir sollten darüber hinausdeutlich machen, dass wir uns um die gemeinsame Ab-wehr von Gefahren kümmern wollen, die uns alle betref-fen.Deswegen bestehen die Hauptelemente unseres An-trags darin, den wissenschaftlichen Dialog fortzuführenund zu intensivieren, einen Beitrag zu einem effiziente-ren Umgang mit der knappen Ressource Wasser zu leis-ten, die Unterstützung für den Ausbau eines breiten undmodernen Bildungs- und Erziehungswesens zu verstär-ken und vor allem die Wettbewerbsfähigkeit dieser Län-der zu stärken. Als weitere Stichworte sind beispiels-weise eine moderne Verwaltung, die Integration inglobalisierte Märkte, das Ausbildungswesen und dieHochschulkapazitäten zu nennen.An der Haltung und Politik der jetzigen Bundesregie-rung gibt es einiges zu kritisieren. Ich finde es bedauer-lich, dass zum Beispiel niemand aus der Spitze des Ent-wicklungsministeriums an dieser wichtigen Debatteteilnimmt.
– Ich finde es schade, Herr Volmer, dass Sie das Themamit einer so rückwärts gewandten Polemik angehen. Siegestatten, dass ich nicht darauf eingehe.EpapKJKnlFsKDngMPagKGsdSBünrddEDdÜgtlnRedd
Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was in der deutschenntwicklungspolitik wirklich passiert! Die Schwer-unktsetzung geht völlig an dem vorbei, was in dem vonrabischen Wissenschaftlern erstellten Entwicklungsre-ort dargestellt wurde. Es gibt im BMZ kein aktuellesonzept für den Nahen und Mittleren Osten. Erst dreiahre nach dem 11. September wurde heuer ein solchesonzept in Auftrag gegeben.Mit einer falschen Schwerpunktsetzung, einer unge-ügenden Koordinierung, einer fehlenden internationa-en Arbeitsteilung und einer miserablen Haushalts- undinanzpolitik haben Sie Ihren eigenen Spielraum für eintrategisches Krisenmanagement und eine strategischerisenpolitik verspielt.
eshalb sollte man hier nicht so große Töne spucken.Natürlich besteht die Politik gegenüber dieser Regionicht nur aus Entwicklungspolitik. Das wurde schon an-esprochen. Im Zusammenhang mit dem Nahen undittleren Osten stellt der Konflikt zwischen Israel undalästina das Schlüsselproblem dar. Aber wir wollenuch deutlich machen, dass es uns um ein ehrliches An-ebot für eine gemeinsame Suche nach einer friedlichenooperation auch in Verantwortung für die kommendenenerationen geht. Ich glaube, dass Deutschland als Be-tandteil einer westlichen Gesamtstrategie hinsichtlichieser Region einen größeren Spielraum hat. Diesenpielraum sollten wir, diesen Spielraum sollte auch dieundesregierung stärker nutzen.Vielen Dank.
Ich erteile Außenminister Joseph Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wirber den Nahen und Mittleren Osten sowie über eineeue Partnerschaft sprechen, dann müssen wir uns da-über im Klaren sein, dass wir es bei diesem Thema miter zentralen Sicherheitsfrage – vermutlich nicht nur inen kommenden Jahren, sondern Jahrzehnten – für unsuropäer und damit auch für die Bundesrepublikeutschland zu tun haben.Wenn man zurückblickt, dann erkennt man, dass eineser Probleme vielleicht darin besteht, dass wir alle denbergang von einem bipolaren System des Kalten Krie-es, in dem sich zwei große Weltmächte um einen zen-ralen Konflikt global gruppiert hatten, hin zu einer völ-ig veränderten, neuen Weltlage politisch vermutlichicht in der Radikalität nachvollzogen haben, wie ihn dieealität vorgegeben hat. Dieser Übergangsprozess hatine Neudefinition der unterschiedlichen Rollen notwen-ig gemacht, insbesondere hinsichtlich der Bedeutunges transatlantischen Bündnisses, mit entsprechenden
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Bundesminister Joseph FischerKonsequenzen für die Verantwortung Europas. Ich per-sönlich möchte anmerken, dass sich die strategischenHerausforderungen, vor denen die Europäer stehen, inden fünfeinhalb Jahren, in denen ich Außenminister bin,
radikal verändert haben.Nicht umsonst ist Afghanistan hier der Dreh- und An-gelpunkt. Die Entwicklung in Afghanistan steht in einemengen Zusammenhang mit dem Niedergang des Sowjet-imperiums, zeitlich aber auch in einem engen Zusam-menhang mit der damaligen islamischen Revolution un-ter Chomeini im Iran.Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen,haben eine ganz andere Qualität und sind schwerer ver-mittelbar. Wir haben das gestern in der Kosovodebattegesehen. Nation Building ist unter den heutigen Bedin-gungen eine langfristige Aufgabe, bei deren Erfüllungwir ständig mit Rückschlägen rechnen müssen und dieunserer – zu Recht – ungeduldigen Öffentlichkeit nurschwer vermittelbar ist. Wenn wir über den Nahen undMittleren Osten reden, dann sollten wir wissen, dass derBalkan noch eine vergleichsweise geringe Herausforde-rung ist. Wenn wir das, was wir sagen, ernst meinen,dann müssen wir uns also auf eine sehr langfristigePerspektive einstellen. Ich bin der festen Überzeugung,dass eine Voraussetzung für den Erfolg sein wird, dasswir Europäer mit unseren amerikanischen Partnern end-lich eine strategische Diskussion anstoßen, die Realis-mus zur Grundlage haben muss. Auf dieser Grundlagemüssen wir versuchen, einen neuen Konsens herzustel-len. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen. Ein neuerKonsens ist deswegen notwendig, weil ich glaube, dassweder Europa noch die USA, die letzte Supermacht, al-lein in der Lage sein werden, die gewaltigen Herausfor-derungen, die nicht nur auf einer gemeinsamen Bedro-hung beruhen, zu meistern. Das ist der Hintergrund. DieDebatte über eine Einigung wird sicherlich sehr schwie-rig und kompliziert.Frau Merkel, Sie sollten sich ehrlich machen, dass Sieeinen Fehler begangen haben. Ich verstehe sogar, wel-cher Fehler es war. Sie haben die Veränderungen imtransatlantischen Verhältnis – bezogen auf den NahenOsten – unterschätzt. Die Union weiß das heute auch.Journalisten erzählen ja, welche Aussagen hinter ver-schlossenen Türen tatsächlich gemacht werden. FrauMerkel, Sie sollten sich an diesem Punkt ehrlich ma-chen. Es ist doch völlig klar, dass die entscheidendeFrage nicht gewesen ist, ob Europa im Hinblick auf denIrakkrieg zusammenzuhalten gewesen wäre. Ich wardoch dabei, als Herr Pflüger in Anwesenheit von HerrnRumsfeld in München gesagt hat, dass der Brief derAcht ein Brief der Fünfzehn gewesen wäre, wenn Sie dieletzte Bundestagswahl gewonnen und die Bundesregie-rung gestellt hätten. Der Brief der Acht war der Briefderjenigen, die mit den USA in den Irakkrieg gezogensind. Man sollte hier keine Scheindebatten führen. Nach-dem mittlerweile alle Fakten offen liegen, ist offensicht-lich, dass die Entscheidung nicht von Europa beeinflusstwurde. Selbst wenn sich Chirac und Schröder mit Blair,AenndSWShi–snbdhngvdIkwtKssuehdgsbBbatdkEcwlzTgdcPd
enn umgekehrt Blair, Aznar und Berlusconi an dereite von Schröder und Chirac geblieben wären, dannätte es vielleicht – ich sage bewusst: vielleicht – einenneramerikanische Debatte gegeben.
Aber mehr wäre doch nicht möglich gewesen! Ich per-önlich habe diese Debatte über Monate auf verschiede-en Außenministertreffen geführt. Wir haben diese De-atte mit der amerikanischen Seite seit meinem Besuchort am 18./19. September 2001 geführt. Wir wisseneute – die entsprechenden amerikanischen Publikatio-en liegen vor –, dass alle Entscheidungen schon vorherefallen sind und dass nicht die Existenz von Massen-ernichtungswaffen die entscheidende Frage war, son-ern die Auffassung, man könne mit einer militärischenntervention in dieser Region so etwas wie einen demo-ratischen Urknall mit einer entsprechenden Domino-irkung herbeiführen. Das hat sich im Lichte der Reali-ät als falsch erwiesen. Ich glaube, die negativenonsequenzen dessen werden uns noch sehr lange be-chäftigen.
Es ist richtig: Es führt kein Weg an einem partner-chaftlichen Ansatz vorbei. Denn der Kern dessen, wasns in Form von Terrorismus gemeinsam bedroht, istine Modernisierungskrise in dieser Region. Waseißt Modernisierungskrise? – Es heißt letztendlich, dassiese Region, gründend auf der eigenen Kultur und reli-iösen Traditionen, gründend auch auf der eigenen Ge-chichte, einen eigenen Zugang zur Globalisierung ha-en muss. Wenn die Globalisierung der ökonomischeasistrend ist, dann stellt sich die Frage: Wird die ara-isch-islamische Welt diese Entwicklung als ihre eigenennehmen und sie mit eigenen Beiträgen aktiv mitgestal-en oder wird sie sie passiv erleiden und dann versuchen,agegen, egal in welcher Form, zu rebellieren und zuämpfen?In diesem Spannungsverhältnis hat sich nach demnde des Kalten Krieges ein neuer Totalitarismus entwi-kelt. Das ist der al-Qaida-Totalitarismus. Ihn werdenir bekämpfen müssen. Mit ihm wird es keine Verhand-ungen geben. Das macht aber nur ein Siebtel des Gan-en aus. Zu sechs Siebteln wird es darum gehen, dieransformationsaufgabe zu begleiten, was ein langfristi-er und mühseliger Prozess sein wird. Ich finde, da sindie Europäer hervorragend aufgestellt. Aber wir brau-hen auf der anderen Seite auch unsere amerikanischenartner. Das halte ich ebenfalls für unverzichtbar. Umiese große Aufgabe werden wir nicht herumkommen.
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Bundesminister Joseph FischerKollege Pflüger, mir ist aufgefallen, dass Sie zu allemetwas gesagt haben, nur zum Zweistromland nicht.
Ich will gern auf die aktuelle Entwicklung zu sprechenkommen. Ich teile überhaupt nicht, was KollegeSchäuble gestern in einem Interview über die Situationim Irak gesagt hat. In diesem Interview sagte er wieder:Deutsche Truppen sollten dorthin. Kollege Schäuble, ichbin nicht der Meinung, dass westliche Truppen, ob deut-sche, ob andere, unter bestimmten Bedingungen, zumBeispiel wenn die UNO oder jemand anders es fordert,im Irak stationiert werden sollten. Ich kann Ihnen nur sa-gen: Ich bin der festen Überzeugung, dass westlicheTruppen dort, egal unter welchen Bedingungen, ange-sichts der konkreten historischen Abläufe, die in denletzten Wochen und Monaten hinter uns liegen und dieuns noch jetzt bedrängen und bedrücken, aus sich herausals Besatzer gesehen werden.Insofern sollten wir auch keine Debatte über den Vor-schlag führen, die NATO in die Auseinandersetzung dorthineinzuziehen.
– Nichts Bundeskanzler! Ich rede von dem, was Sie ge-genüber der „FAZ“ gestern gesagt haben. Jetzt kommenSie mir nicht mit dem Bundeskanzler.
Ich bin froh, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröderheißt;
denn das hat die Politik möglich gemacht, für die wirstehen.Ich rede gerade über den Vorschlag, die NATO jetzt indie Auseinandersetzung im Irak hineinzuziehen. Waskönnte die NATO denn mehr leisten als die Koalition? –Sie würde weniger leisten. Sie würde aber als Besat-zungsmacht gesehen.
Das heißt – das hat der Bundeskanzler völlig zu Rechtgesagt –, die NATO selbst würde gefährdet. Deswegenwaren wir von Anfang an äußerst skeptisch. Ich habe dasbereits auf der Wehrkundetagung in München klipp undklar ausgedrückt.
Unsere letzte aktuelle Chance ist Brahimi. Ich erin-nere an die Generalversammlung der Vereinten Nationenvor zwei Jahren. Heute sagen auch die regionalen Part-ner: Das ist das letzte Spiel, das wir haben. Angesichtsdessen müssen wir alles tun, damit das ein Erfolg wird.Das setzt voraus, dass wir den Vorschlag von Brahimitatsächlich umsetzen. Ich hoffe, dass dieser Vorschlagbreit fundiert ist und breit getragen wird. Die entschei-dKsrkWRkgkvvWASWGvkwsVddEadTwMsetnwKbdGhhvseLii
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Deswegen appelliere ich noch einmal an die Union– viele von Ihnen wissen doch, dass die Analyse richtigist; es geht nicht darum, dass ich Recht habe –, in derTürkeifrage im Interesse der gemeinsamen Sicherheitdie Position nochmals zu überdenken. Wir können unddürfen der Türkei die Tür nicht vor der Nase zuschlagen,wenn sie auf dem Weg der Modernisierung ist. – Das istein weiterer wichtiger Bestandteil.Ich danke.
Ich erteile Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bun-desaußenminister hat davon gesprochen, dass es sich beiden Problemen im Nahen und Mittleren Osten im Kernum eine Modernisierungsproblematik handele und dassin einer Zeit wie der unsrigen die immer schnelleren Ver-änderungen unterschiedlicher kultureller Zustände undTraditionen und die immer stärkere Wechselbezüglich-keit in der Welt zu diesen ungeheuren Brüchen und Spal-tungen führen. Das ist im Übrigen ein Kennzeichen dergesamten Globalisierungsproblematik. Ich vermute, dassdieses im Nahen und Mittleren Osten insbesondere des-halb so deutlich zutage tritt, weil durch das Erdöl, das jafür die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten eine zentraleRolle spielt, dieser Prozess der Spaltung der Interessenzusätzlich beschleunigt und vielfältig verschärft wurde.Nun ist in dieser Debatte und in den Anträgen derFraktionen viel Kluges dazu gesagt worden, wie sichdiese Region entwickeln könne und wie wir bei allerWahrung der Unterschiedlichkeit der Kulturen und Tra-ditionen durch Partnerschaft dabei helfen können, diesenWeg der Modernisierung zu begleiten. Ich vermute übri-gens, Herr Weisskirchen, dass sich der Ausspruch vonWilly Brandt bezüglich der guten Nachbarn doch eherauf Polen als auf Afghanistan bezog. Wir sollten uns beider Nachbarschaft nicht übernehmen. Das bringt michzu einem weiteren Punkt, Herr Kollege Fischer, nämlichzu Ihrer Argumentation bezüglich der Türkei, um das andSm–dnephMkdua–vdUhgnhurswbergSKNsdsdrwdvAnsta
Das ist schön.Ihre Argumentation zur Türkei ist zwar heute nichtas Thema dieser Debatte, aber sie bestärkt mich in mei-er Auffassung, dass wir zwei Sachverhalte richtig mit-inander verbinden müssen, nämlich die Perspektive derolitischen Einigung Europas und das Verhältnis diesesandlungsfähiger werdenden Europas zur Türkei und zurodernisierung in der islamischen Welt insgesamt. Wirönnen doch nicht allen Teilen der islamischen Welt iner Hoffnung, dass sie sich in Richtung auf Demokratiend Rechtsstaatlichkeit modernisieren, eine Perspektiveuf Aufnahme in die Europäische Union geben.
Entschuldigung, können Sie das Argument selber nichtorher vielleicht einmal prüfen? Das Argument lautete,ass wir die Türkei als Vollmitglied in die Europäischenion aufnehmen müssten, weil wir ein Interesse daranaben, dass sie sich in unserem Sinne entwickelt. Ichlaube, in Bezug auf dieses Ziel ist die privilegierte Part-erschaft die bessere Lösung. Ich möchte aber in der Debatte noch auf etwas anderesinweisen: Ich glaube, wir sollten darauf achten, dass wirns in Bezug auf die Problematik im Nahen und Mittle-en Osten, die sich für uns ja als furchtbar schwierig dar-tellt, nicht übernehmen und überheben. In der Debatteurde gesagt, man könne Demokratie nicht herbeibom-en. Das ist die eine Seite der Medaille. Manchmal gehts aber auch nicht ganz ohne militärische Stabilisie-ung. Auf diese Weise können wenigstens Voraussetzun-en geschaffen werden. Überspitzt könnte man sagen:addam Hussein hat man auch nicht durch auswärtigeulturpolitik aus dem Amt gehoben.Vorgestern haben wir ja über den Sudan diskutiert.achdem wir noch vor ein paar Monaten gesagt haben,olch eine Katastrophe wie in Ruanda dürfe es nie wie-er geben, sind wir nun dabei, im Sudan genauso zu ver-agen. Erfolge können wir hier nur erzielen, wenn dieort Herrschenden wissen, dass sie notfalls durch militä-ische Gewalt am Begehen von Verbrechen gehinderterden. Es geht also nicht ganz ohne.
Gestern haben wir über das Mandat im Kosovo gere-et. Es waren der Bundesaußenminister und der Bundes-erteidigungsminister, die im Deutschen Bundestag denntrag eingebracht haben, die militärische Präsenz auficht ganz absehbare Zeit fortzusetzen, weil das nötigei, um friedliche Entwicklung, Modernisierung und Na-ion Building überhaupt zu ermöglichen. Das eine istlso ohne das andere nie ganz zu machen. Deswegen
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Dr. Wolfgang Schäublebrauchen wir ein einiges Europa – Deutschland alleinekann nämlich gar nichts bewirken – und deswegen brau-chen wir die atlantische Partnerschaft um jeden Preis.Anders als in der Gemeinschaft des Westens sind dieAufgaben überhaupt nicht zu bewältigen.
– Um jeden Preis, weil anders die Lage im Nahen undMittleren Osten nicht stabilisiert werden kann. Europaalleine kann das nicht.
– „Um jeden Preis“ heißt natürlich nicht, Herr Kollege,dass deswegen jedes Vorgehen richtig ist.
Entweder sind wir verlässliche Partner oder wir sind esnicht. Das heißt, wir kritisieren uns selber und wir kriti-sieren andere, und was nicht in Ordnung ist, muss in Ord-nung gebracht werden. Auf die Fähigkeit der Amerika-ner, eigene Fehler zu korrigieren – daran ist schon vomKollegen Hoyer und von anderen erinnert worden –,kann man mehr vertrauen, als man das in anderen Teilender Welt kann. Das sollten Sie auch tun.Henry Kissinger ist vor ein paar Wochen gefragt wor-den, was möglicherweise eine andere Regierung unter-nehmen würde. Man weiß ja nicht, wie die Wahl aus-geht; man muss die Wahlergebnisse so nehmen, wie siesind, sie akzeptieren und mit denen leben, die gewähltworden sind. Ich rate dringend dazu, hier nicht den ame-rikanischen Wahlkampf zu führen, denn das hilft unsauch nicht. Henry Kissinger hat geantwortet, vielleichtwürde ein Senator Kerry, wenn er zum Präsidenten ge-wählt würde, mehr auf die Europäer zugehen, als Präsi-dent George W. Bush es in den zurückliegenden Jahrengetan hat. Dann hat er gelächelt und gesagt: Nach einpaar Monaten wäre er genauso enttäuscht.Für uns stellt sich die Frage: Zu welcher Partner-schaft sind wir bereit? Jeder hat gesagt – ich könnte Sieoder den Bundeskanzler zitieren –, dass ein überstürzterRückzug aus dem Irak das Schlimmste wäre, weil dannmit Sicherheit ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Trotzunserer hehren Anträge hier im Deutschen Bundestagund was immer wir sonst noch machen können, würdedann eine noch schlimmere Katastrophe eintreten. Einüberstürzter Rückzug kommt also nicht infrage.Deswegen muss in dieser schwierigen Lage – dienoch schwieriger geworden ist, als sie war; das ist un-streitig, aber die Rechthaberei hat doch keinen Sinn – dieFrage gestellt werden: Was können wir Europäer dazubeitragen, dass sich die Situation in eine bessere Rich-tung entwickelt? Es macht keinen Sinn, auf der einenSeite zu sagen, die UNO müsse eine stärkere Rolle über-nehmen, und auf der anderen Seite von vornherein aus-zuschließen, dass man selbst dabei ist.gFedngofkiFdFtRdUAdnaDsswntedbTssurmd––IrEM
Das, Herr Außenminister, war der Fehler, den Ihnenrau Merkel und wir alle von der Union vor und nachem Irakkrieg zu Recht vorgehalten haben. Über andereragen kann man diskutieren. Ich könnte Ihnen das In-erview von gestern ganz vorlesen; es war besser als Ihredebeitrag. Der Punkt ist: Wer multilaterale Entschei-ungen will, sei es in der UNO, in der Europäischennion oder in der NATO, darf nicht gleichzeitig sagen:ber wir beteiligen uns nicht. Denn damit tut man genauas, was die Amerikaner uns vorhalten. Man sollte nichtur auf die arabische Welt hören, sondern manchmaluch auf die amerikanische.
ie Amerikaner sagen, dass die Europäer gerne ent-cheiden würden, was die Amerikaner tun und lassenollen. Das geht nicht: Wir können nicht entscheiden,as die Amerikaner machen. Wir sollten den Amerika-ern, unseren verlässlichsten Freunden und der wichtigs-n Führungsmacht, unter deren Fehlern wir genauso lei-en wie sie selber, sagen, welchen Beitrag wir zu leistenereit und in der Lage sind. Anderenfalls werden wir denrend zu unilateralen Entscheidungen in Amerika nichtchwächen und die Neigung zu multilateralen Ent-cheidungen nicht stärken. An diesem Punkt sind wirnterschiedlicher Meinung – in der Frage, welches derichtige Weg ist und wie wir es gemeinsam hinbekom-en. Wenn wir das gemeinsam machen, sind wir aufem besseren Weg.
So geht es nicht.
Ich glaube, Sie werden nichts erreichen. Sie haben mithrer Politik nichts anderes zustande gebracht, als Eu-opa zu spalten.
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– Das machen wir doch im Kosovo auch, Herr Kollege.Haben Sie die gestrige Debatte nicht mitbekommen? Esgeht doch nicht ohne Hardpower. Auch im Sudan geht esnicht ohne Hardpower. Aber Hardpower allein reichtnicht; auch das ist wahr. Deswegen ist es eine solcheKatastrophe, wenn der Westen seinen Führungsanspruchdurch eigene Fehler riskiert oder verspielt. Die Sachemuss in Ordnung gebracht werden. Beides gehörtuntrennbar zusammen. Es ist schon bemerkenswert, wieSie reagieren, wenn gesagt wird, Hardpower und Soft-power gehörten zusammen. Auf die richtige Kombina-tion kommt es an. Im Kosovo machen wir es genauso.Ich glaube, dass die Lage viel ernster ist.
– Herr Kollege, Sie haben sich mit Ihrer Rede so disqua-lifiziert, dass der Kollege Ruck richtigerweise gesagthat, es lohne sich nicht, darauf einzugehen.
Verhalten Sie sich in den verbleibenden zwei Minuten,in denen ich noch rede, ein bisschen still.
Wir sollten die Schwierigkeit der Lage, in der wir ste-cken – wir haben sie heute in der Debatte ein wenigkleingeredet –, nicht unterschätzen. Wenn es Brahimiund den Vereinten Nationen nicht gelingt, die atlantischeGemeinschaft und die arabischen Staaten zu überzeugen,dass sie sich im Irak stärker engagieren müssen, dannwerden wir einen schweren Rückschlag erleiden.
–siRLWhbefwcAasSg–mcwEdnWzdNscftFgsd
echthaberei und Schadenfreude nutzen uns in dieserage überhaupt nicht.
ir werden alle betroffen sein. Es geht uns alle an.
Es ist schon bemerkenswert, dass wir uns trotz der ru-igen und selbstkritischen Darlegungen in dieser De-atte nicht auf das einigen können, was wir gemeinsamrreichen müssen. Wir dürfen doch nicht aufhören, zuragen, wie wir es besser machen können. Ich glaube,ir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn die westli-he Gemeinschaft gemeinsam handelt.Übrigens habe ich nach der Münchener Rede desußenministers gesagt, dass ich auch Russland und dierabische Welt einbeziehen würde. In diesem Punktind wir sprunghaft. Einmal fahren wir an Weihnachtenchlitten, und dann tun wir so, als ob es Russland nichtäbe.
Ja, Russland ist beim Quartett und bei der Roadmapit dabei. Das muss man aber auch erwähnen. Wir brau-hen die Partnerschaft aller.Wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn wir dieestliche Gemeinschaft stärken. Das setzt ein einigesuropa und auch ein Europa voraus, das seinen Platz aner Seite der Vereinigten Staaten von Amerika weiß undicht glaubt, eine Gegenkraft entwickeln zu können.enn wir uns nämlich darauf konzentrieren, Gegenkraftu sein, dann werden wir am Ende nichts bewirken, wasen Einfluss auf die amerikanische Politik und auf denahen und Mittleren Osten angeht. Nur wenn wir bereitind, unseren Beitrag zu leisten, werden wir in der Errei-hung der Ziele, die wir gemeinsam diskutiert haben, er-olgreich sein. In diesem Sinne müssen wir weiterarbei-en.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Dietmar Nietan, SPD-
raktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichlaube, dass die heutige Debatte sehr wichtig ist. Ichehe sie als Fortsetzung der Debatte an, die wir fast aufen Tag genau vor 15 Wochen, am 13. Februar, hier ge-
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Dietmar Nietanführt haben, als wir über den gemeinsamen Antrag zurGenfer Friedensinitiative diskutiert haben. Dieser Ver-antwortung, die uns aus dem gemeinsamen Antrag er-wachsen ist, müssen wir gerecht werden. Wir müssendeutlich machen, dass die Antwort auf so wichtige Fra-gen, bei denen es um die Zukunft von Frieden, Stabilitätund Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten geht,gemeinsam und im Konsens gegeben werden sollte.Diese Debatte taugt nicht für parteipolitische Ränke-spiele und sie taugt auch nicht dafür, unterschwellig je-mandem irgendwelche Schuld in die Schuhe zu schie-ben.
Deshalb möchte ich dem verehrten Kollegen Hoyersagen: Man kann zwar darüber diskutieren, ob das, waswir damals beschlossen haben, zu dünn war. Aber ichglaube, Sie stimmen mit mir darin überein, dass alleindie Tatsache, dass es diese Debatte und diesen gemeinsa-men Antrag gegeben hat, außerhalb des Bundestagesund auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschlandeine große positive Aufmerksamkeit erzielt hat. Ichwürde mir wünschen, dass die Ergebnisse der heutigenDebatte daran anknüpfen. Bei dem einen oder anderenRedebeitrag hatte ich jedoch Zweifel, ob das möglich ist.
Ich will sehr deutlich sagen, dass es aus meiner Sichtdarum geht, ob wir es schaffen, unsere Glaubwürdig-keit in der dortigen Region wiederherzustellen. Ich stellesehr deutlich fest: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit.Wer glaubt, dass man sich mit einem verschmitzten „Ichhabe es ja immer gewusst“ die Hände reiben kann, weiljetzt schlimme Dinge in der US-Armee passiert sind, dertäuscht sich. Es geht um die Werte des Westens. Entwe-der verteidigen wir diese und sind darin gemeinsamglaubwürdig oder wir gehen gemeinsam unter. Das sollteman an dieser Stelle betonen.
Es ist schon sehr viel zu den Initiativen in dieser Re-gion gesagt worden. Ich möchte auf einen ganz wichti-gen Punkt im Krisenherd Naher und Mittlerer Osten, aufden Konflikt zwischen Israel und Palästina, zurückkom-men. Wir haben in der Debatte vor 15 Wochen sehr aus-drücklich die Fortschritte der israelischen Regierung ge-lobt. Ich selber habe gesagt, dass Ariel ScharonAnerkennung dafür verdient, dass er als erster Likud-Führer deutlich für eine Zweistaatenlösung und die Räu-mung von Siedlungsgebieten eingetreten ist. Ich sage andieser Stelle aber auch, dass mich das, was sich ungefährzwei Monate später, am 14. April, in Washington ereig-net hat, nämlich der gemeinsame Auftritt von ArielScharon und George W. Bush im Weißen Haus vor denMedien, an der einen oder anderen Stelle hat zweifelnlassen, ob ich mein Lob zu früh ausgesprochen habe.
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Ich stelle aus meiner sehr persönlichen Sicht fest:uropa sollte Ariel Scharon jetzt beim Wort nehmen undagen: Wenn du dich wirklich aus dem Gazastreifen ein-eitig zurückziehst, dann muss das in einer Art undeise geschehen, dass dort kein Chaos ausbricht.
s muss deutlich werden: Ariel Scharon verlässt denazastreifen, um zu zeigen, dass dies der erste Schrittin zu einer fairen Zweistaatenlösung ist.
as müssen unsere Bedingungen für den Abzug dersraelis sein. Ich sage – nicht ohne würdigen zu wollen,as unser Außenminister dort tut –: Europa insgesamtst da noch immer zu unkonkret. Wir als Europäer sindn dieser Stelle wirklich gefordert.
Was kann das aus meiner Sicht konkret heißen? Dasann für mich nur heißen, zu sagen: Im Rahmen deroadmap kann eine Übergabe des Gazastreifens nichtinseitig und unkontrolliert geschehen. Vielmehr solltenich die Palästinenser, die Israelis, das Nahostquartettnd vielleicht auch die Ägypter als Nachbarn zusam-ensetzen und gemeinsam einen Plan ausarbeiten, dericherstellt, dass der Abzug aus dem Gazastreifen Stabi-ität und nicht Destabilität bewirkt. Dazu müssen wir alsuropäer klare und konkrete Vorschläge einbringen.
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10208 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004
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Dietmar NietanDas heißt aber, dass Europa – da sehe ich auch uns alsBundesrepublik Deutschland in der Pflicht – unterstrei-chen muss, dass in einem solchen Prozess für uns einesunverrückbar ist: Die Sicherheitsgarantie für Israel alsjüdischer Staat ist für Europa oberste Priorität, weil sichIsrael auf uns verlassen muss. Das sage ich sehr deutlich;wir hören das auch immer deutlich von unserem Außen-minister. Aber viele transatlantisch gelagerte europäi-sche Staaten tun das nicht in dieser Deutlichkeit. Ichwürde mir wünschen, dass auch sie das tun. Das würdeIsrael helfen.
Genauso muss aber klar sein, dass wir Europäer,wenn es zu diesem Rückzug aus dem Gazastreifenkommt, die Palästinenserinnen und Palästinenser nichtim Stich lassen. Das heißt für mich – da hat KollegeHoyer völlig Recht –, bei der Zusammenarbeit mit denAmerikanern darf es kein Spiel – wir machen dies, ihrmacht das – geben. Gemeinsam mit den Amerikanernmüssen wir, wenn es zum Abzug aus Gaza kommt, vielGeld und humanitäre Hilfe investieren, damit es für dieMenschen dort abseits von Terrorismus und Hass einewirkliche Lebensperspektive gibt, die sie im Momentnicht haben. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber un-seren palästinensischen Freunden.An dieser Stelle ist auch Israel gefordert. Denn wirdürfen es nicht durchgehen lassen, dass Israel Gaza iso-liert und die wirtschaftliche Entwicklung dort nichtfunktioniert, weil es keinen Flughafen oder Hafen gibt,der Außenhandelsbeziehungen zulässt. Wer Frieden will,muss Gaza eine wirkliche Chance geben. Das heißt, dassIsrael die Isolation von Gaza nach dem Abzug aufgebenmuss.
Ich glaube, dass diese konkreten Punkte, die wirklichformuliert werden müssten, einen weiteren Aspekt un-terstreichen, den ich hier zum Schluss noch einmal dar-legen möchte. Die gesamte Greater Middle East Initia-tive der Amerikaner und auch das, über das wir hierdiskutieren, zielen auf einen Dialog, so wie ihn der Au-ßenminister mit seiner Rede auf der Sicherheitskonfe-renz am 7. Februar 2004 angestoßen hat. Dieser Dialogbedeutet Internationalisierung, aber auch Regionali-sierung. Wenn wir sagen, dass Internationalisierung undRegionalisierung nicht im Sinne von Aufoktroyieren,sondern von Partnerschaft, Dialog und Austausch wich-tig sind, dann muss es alle Akteure in der Region ein-schließen.Das heißt für mich an die Adresse von Israel, dass esauch in Israel ein Umdenken geben muss. Bei allem Ver-ständnis für das, was Israel und das jüdische Volk in sei-ner Geschichte erlitten haben: Wer sich in Zeiten derGlobalisierung einer Internationalisierung verschließt,wer immer noch die Attitüde vor sich herträgt: „Uns hilftsowieso keiner und wir machen alles alleine“, wirdscheitern. Deshalb müssen wir deutlich machen: Regio-nretldgIn„tuekdnnakek–ndWsweibdgfacDaAsDdswn
Ich hoffe, dass ich mit diesen Ausführungen habeeutlich machen können, dass es durchaus Ansatzpunkteibt, ein stärkeres europäisches Profil zu entwickeln.ch will noch einmal unterstreichen: Ich möchte dasicht aus Rechthaberei oder nicht etwa, weil wir sagen:Jetzt wollen wir einmal zeigen, dass wir es in bestimm-en Dingen besser machen können als die Amerikaner“ –m Gottes willen. Ich möchte das, weil ich glaube, dasss in Amerika viele Menschen gibt – auch in der ameri-anischen Administration; dort sicherlich nicht jeder –,ie gerade konkrete Vorschläge der Europäer herbeiseh-en und erwarten. Sie sagen: Wir wollen nicht immerur von Europa kritisiert werden, wir wollen von Europauch hören, wie sie es machen würden. Nur, wenn manonkrete Vorschläge macht, ist man in Amerika einrnsthafter Koalitions- und Diskussionspartner.Darum ist es so wichtig, dass wir uns bewegen undonkret sagen, was wir wollen. Das beinhaltet natürlich das ist dem einen oder anderen vielleicht unange-ehm –, dass man, wenn man etwas konkret sagt, esann am Ende auch tun muss.
ir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben,ondern wir sollten konkrete Vorschläge machen, auchenn man uns dann beim Wort nimmt und sagt: Dann tuts auch.
Ich möchte zum Abschluss noch einmal betonen, dassch der festen Überzeugung bin, dass die heutige De-atte, von einigen Ausreißern abgesehen, gezeigt hat,ass wir sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Ichlaube, dass es uns und den Menschen in der Region hel-en kann, wenn wir in dieser Gemeinsamkeit weitergieren.Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung ma-hen: Ich hätte mich gefreut – aufgrund der vielen guteninge, die in allen drei Anträgen stehen –, wenn es unsuch diesmal wieder gelungen wäre, einen gemeinsamenntrag zu formulieren, und zwar nicht, weil ich die Kon-enssoße so liebe, sondern weil das Thema es verlangt.eshalb hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal, beimritten Aufschlag zu diesem Thema, mit einem gemein-amen Antrag und konkreten Vorschlägen zeigen, dassir als Parlamentarier an dieser Stelle unsere Regierungicht allein lassen.Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! ImAntrag von SPD und Grünen steht vieles, was richtigund zu unterstützen ist.Anfangs möchte ich eine Bemerkung zur europäi-schen Verfassung machen. Sie fordern in Ihrem Antragdie Verabschiedung der europäischen Verfassung. Wirals PDS sind auch der Auffassung, dass wir eine europäi-sche Verfassung brauchen. Die derzeit vorliegende Fas-sung – –
– Das ist nicht die falsche Debatte. Lesen Sie sich dochden Antrag von SPD und Grünen durch. In Ihrem Antragsteht: eine europäische Verfassung verabschieden, undauf diesen Punkt gehe ich ein.
Gestatten Sie, dass ich auf Ihren Antrag eingehe. Ichhabe ihn gelesen.
Für die Ablehnung dieser EU-Verfassung gibt es ei-nen schwerwiegenden Grund, nämlich den, dass in die-ser Verfassung die Militarisierung der EU festgeschrie-ben ist. Wir als PDS sind der festen Überzeugung, dasseine Militarisierung der EU nicht dazu beitragen wird,die Konflikte in dieser Welt zu lösen und schon gar nichtdie komplizierten Konflikte im Nahen und Mittleren Os-ten.
– Wenn Sie nicht in der Lage sind, einen Gedanken, derüber mehr als zwei Sätze geht, nachzuvollziehen, tut esmir Leid für Sie, meine Herren.
Diese Überzeugung, dass eine Militarisierung der Eu-ropäischen Union die Konflikte im Mittleren und NahenOsten nicht lösen helfen wird, teilen wir als PDS mitsehr vielen Menschen in Europa, in den USA und im Na-hen und Mittleren Osten. Die Bush-Regierung hat ja ge-rade den Beweis erbracht, dass es nicht möglich ist, dieKonflikte im Nahen und Mittleren Osten mit Waffenge-walt zu lösen. Im Gegenteil: Der Krieg gegen den Irakhat zu einer dramatischen Eskalation geführt.Kollege Volmer hat heute gesagt: Man kann Demo-kratie nicht herbeibomben. Das kann ich unterschreiben.Das ist richtig. Ich stelle aber die Gegenfrage: Was warmit Afghanistan und was war mit Kosovo?SkdbgKSmmdrtÜramsAl–adwdiSdrBVSsnnNdsgtMfcAWlrl
Richtig, wo ich Recht habe, habe ich Recht. Da kannuch kaum jemand widersprechen.Wenn Sie von der SPD jetzt mit dem Stichwort „Frie-ensmacht“ plakatieren, sollten Sie sich daran erinnern,ie Sie sich wirklich verhalten haben und dass die Bun-esregierung durch die Gewährung von Überflugrechtenndirekt am Irakkrieg beteiligt war.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Zusammenarbeit allertaaten bei der gemeinsamen Verhinderung und Ahn-ung „privater“ Gewalt, besonders dann, wenn sie ter-oristische Mittel anwendet. Das ist eine sehr einseitigeetrachtung dieser Welt. Es geht doch nicht nur um dieerhinderung „privater“ Gewalt. Das ist nur die eineeite. Es geht vielmehr auch um die Beendigung vontaatlicher Gewalt.Wir als PDS lehnen Selbstmordattentate von Palästi-ensern genauso ab wie die gezielte Tötung von palästi-ensischen Politikern durch die israelische Regierung.atürlich wird auch immer mehr US-Bürgern klar, dassie staatliche Gewalt der US-Regierung gegen die iraki-che Bevölkerung auf immer heftigere irakische Gegen-ewalt stößt.Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit und in Anbe-racht der völlig verfahrenen US-Politik im Nahen undittleren Osten wird eine friedliche Lösung der Kon-likte unter Schirmherrschaft der UNO immer dringli-her. Die UNO, die USA, die EU und Russland haben impril 2003 die so genannte Roadmap als verbindlicheneg und Rahmen der Konfliktregelung zwischen Israe-is und Palästinensern vorgelegt. Es ist nicht zu akzeptie-en, dass die USA diese Roadmap auf eigene Faust ver-assen haben.
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10210 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004
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Dr. Gesine LötzschWir erwarten, dass die Bundesregierung alles daransetzt,dass die USA bei dem anstehenden Gipfeltreffen derStaaten der G 8 im Juni dieses Jahres auf den Weg derRoadmap zurückgeholt werden.Abschließend möchte ich betonen, dass alle Sicher-heitskonzepte hinfällig sind, wenn es nicht gelingt, die-ser Region eine wirtschaftliche Zukunft zu geben. ImBundestag können beliebig viele Sicherheitsgesetze ver-abschiedet werden; sie werden unser Leben nicht siche-rer machen. Wir werden nur in Ruhe und Frieden lebenkönnen, wenn wir endlich bereit sind, mit anderen zu tei-len und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaf-fen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habedas Vergnügen, zum Schluss dieser Debatte zu reden unddarauf zu achten, möglichst nichts von dem zu wieder-holen, was vorher schon Kluges gesagt worden ist.
Ich möchte sehr gerne auf den Kollegen Nietan zu spre-chen kommen, weil ich glaube, dass er den Nagel aufden Kopf getroffen hat, indem er gesagt hat: Wir müssenkonkret werden; und wenn wir konkret werden, dannsind wir auch verpflichtet, entsprechend zu handeln.Deswegen finde ich es gut, dass wir heute über diedrei vorliegenden Anträge diskutieren und sie im feder-führenden Ausschuss und in den anderen zuständigenAusschüssen des Bundestages zu einem Zeitpunkt bera-ten, da gerade kein Wahlkampf ist. Denn dadurch bestehtvielleicht die Chance, das zu schaffen, was Sie, HerrKollege Nietan, angesprochen haben: in diesem Hauseine gemeinsame Linie zu finden.Ich halte das für sehr schwierig; das will ich gleichvorweg sagen. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufge-ben. Ich halte das zum Beispiel deswegen für schwierig,weil in dem Antrag der Koalition eine Passage über dieTürkei steht, die nach meinem Dafürhalten sowohl insich als auch was das Verhalten der Koalition gegenüberder Türkei angeht, ziemlich widersprüchlich ist, zumBeispiel auf dem Feld der militärischen Zusammenarbeitin der NATO oder bei der Frage, ob man Leute, die ausder Türkei stammen, die bei uns rechtskräftig verurteiltsind und ihre Strafe abgesessen haben, in die Türkei ab-schieben darf oder nicht, weil die Standards des Europäi-schen Menschenrechtsgerichtshofs dort nicht eingehal-ten werden. Hier gibt es ein paar Punkte, bei denen wirmöglicherweise nicht übereinkommen.svbsmiAiafrWdnKLtruvsIigZsdsisbTagtsszaKmnlaZdedFnFah
In ihm sind eine ganze Menge Punkte enthalten, dieor zwei Jahren noch völlig undenkbar waren. Darinteht, dass die Sicherheit und Souveränität des Staatessrael anerkannt wird. Die Linie, dass dieser Staat nichtn Frage gestellt werden darf, vertreten wir in diesemanzen Haus einmütig. Darin steht auch, dass man eineone der Sicherheit und des wirtschaftlichen Austau-ches schaffen will. Warum gehen wir dieses Problemenn nicht anhand dieses Friedensplanes an? Natürlichtellt sich vorher noch die Frage der Vertriebenen; abern dieser Hinsicht haben wir Deutsche unsere eigenen,peziellen Erfahrungen, die wir auf diesem Gebiet ein-ringen könnten.Wenn ich mir überlege, was auf der Konferenz vonunis beschlossen worden ist, ist doch – abgesehen vonll dem Streit, der zwischen den arabischen Regierendeneherrscht hat – völlig klar: Man hat sich Begrifflichkei-en angeeignet, die vorher im Sprachgebrauch der arabi-chen Regierungen und im Sprachgebrauch der Arabi-chen Liga überhaupt nicht verwendet wurden. Da wirdu einer guten Regierungsführung aufgefordert, da wirdufgefordert, den Kampf gegen die Armut und denampf zur Verbesserung der Lage der Frau aufzuneh-en. Natürlich sagt man, dass jedes Land diese Dingeach seinen Möglichkeiten und nach seinem Entwick-ungsstand befördern soll; aber all das befindet sich dochuf der Linie, die wir brauchen, damit das, was wir anielen und gemeinsamen Interessen in der Region und iner europäisch-arabischen Zusammenarbeit brauchen,in bisschen konvergiert.Wenn ich die Konferenz von Alexandria vom Märzieses Jahres betrachte, muss ich feststellen: Da werdenorderungen nach mehr politischer Pluralität erhoben,ach freier und unabhängiger Presse, nach sofortigerreilassung von politischen Gefangenen usw.; ich willus Zeitgründen nicht alles im Detail aufzählen. Daseißt, im Grunde genommen wird die Ebene, auf der
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Joachim Hörsterman miteinander sprechen und miteinander verhandelnkann, um eine Friedensordnung in dieser Region zuschaffen, immer breiter und immer größer. Nur, wir müs-sen sie auch nutzen. Ich glaube, der erste Schritt, den wirdafür brauchen, ist, den Versuch zu unternehmen, dasswir uns im Deutschen Bundestag auf eine gemeinsameLinie verständigen, einen Kern gemeinsam herausarbei-ten, und das, was uns trennt, einmal liegen lassen.Eines möchte ich auf jeden Fall sagen: Dieses Themaist von ganz grundlegender Bedeutung für die Sicherheitund die künftige Entwicklung unseres eigenen Landesund Europas. Es eignet sich überhaupt nicht zum Wahl-kampf. Wir können an dieses Thema nur ganz ruhig undganz sachlich und unter Wahrung des Respektes vor demkulturellen und dem religiösen Hintergrund der anderenSeite herangehen, auf partnerschaftlicher Ebene, so wieder Kollege Pflüger das beschrieben hat.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/3206 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe,
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und an den Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zu überweisen.
Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/3050 und
15/3207 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 22 a und
22 b sowie Zusatzpunkt 12 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
zur Einführung eines Volksent-
scheids über eine europäische Verfassung
– Drucksache 15/2998 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen
– Drucksache 15/2970 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
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Wir wollen zu der europäischen Verfassung bzw. zumerfassungsvertrag Ja sagen und wir hoffen sehr, dasser Europäische Rat in Brüssel, in 14 Tagen, ein Ergeb-is zustande bringt, das uns das mit voller Kraft undberzeugung ermöglicht.
ir wollen zu dieser europäischen Verfassung Ja sagennd wir wollen aktiv dafür werben, dass die Bürgerinnennd Bürger sich zu dieser Verfassung bekennen, dass sien einem Volksentscheid Ja zu ihr sagen.Wir Liberale sind vehemente Verfechter der repräsen-ativen Demokratie und keineswegs der Auffassung,ber alles und jedes – auch im europäischen Kontext –üsse eine Volksabstimmung oder ein Volksentscheidtattfinden. Aber wir sind der Auffassung, dass die ver-assungsrechtlichen Grundlagen, auf denen das Handelner Befugten in einer repräsentativen Demokratie be-uht, der Legitimation durch das Volk bedürfen. Dasolk sollte deshalb ausdrücklich Ja zu dem sagen, waser Verfassungskonvent vorgelegt hat und was die Re-ierungskonferenz hoffentlich zu einem guten Ende
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Dr. Werner Hoyerbringen wird. So hätten wir übrigens auch vorgehen sol-len, als es um das Grundgesetz für das vereinte Deutsch-land ging
Ich wundere mich über die Argumente, die bisweilendagegen vorgebracht werden. Ich könnte durchaus auchmit einer europaweiten Entscheidung leben, wenn wirnicht, wie es im gegenwärtigen Stadium leider noch im-mer der Fall ist, über einen Verfassungsvertrag redenwürden, sondern bereits über eine europäische Verfas-sung, die sich der Souverän, in diesem Fall der gesamt-europäische Souverän, gibt. Wir haben es aber mit derRechtskonstruktion eines Vertrages zu tun, der zwischenden Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlos-sen wird. Insofern ist es konsequent, dass die Mitglied-staaten die Möglichkeit haben müssen, über das Ratifi-kationsverfahren selber zu entscheiden. In vieleneuropäischen Staaten wird diese Entscheidung dem Volküberlassen. Ich denke, auch die Deutschen sind in derLage, diese Entscheidung selber zu treffen, und müssensie nicht dem Parlament alleine überlassen.
Es überrascht mich, immer wieder hören zu müssen,dass die Gefahr bestehe, dass nicht über das zweifelloskomplizierte Regelwerk abgestimmt werde, sondernüber Einzelfragen, die so hochgepusht würden, dass imEndeffekt das Gesamtwerk aus dem Auge verlorenwürde. Dieses Argument kann ich nicht ganz verstehen.Warum sollten wir, die wir von diesem Verfassungswerküberzeugt sind, nicht mit voller Überzeugungskraft vordie Wählerinnen und Wähler treten und die gesellschaft-lichen Eliten dieses Landes in Wissenschaft, Kultur, Kir-chen, Gewerkschaften usw. mobilisieren können, um dieBevölkerung davon zu überzeugen, dass das der richtigeWeg ist? Ich verstehe nicht, dass wir uns dann, wenn amEnde 99 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundes-tages diesem Verfassungsprojekt ihre Zustimmung ge-ben werden, selber nicht zutrauen, 50,1 Prozent der Be-völkerung davon zu überzeugen.
Das sieht für mich sehr danach aus, dass man Angst vordem Volk hat. Diesen Vorwurf sollten wir uns nicht ma-chen lassen.Meine Damen und Herren, die Europäische Union istin einer ausgesprochen schwierigen Situation. Der Ver-fassungsvertrag ist noch nicht unter Dach und Fach.Manche werden nach dem Ende der KonventsarbeitIllusionen gehabt haben. Natürlich hätte jeder von unsdiesen Verfassungsvertrag anders ausgestaltet, da jederdie Sicht seiner Partei und seiner Nation vertritt. Wenn200 Liberale zusammengesessen hätten, dann hätte derText anders ausgesehen. Das kann ich Ihnen garantieren.
Aber es ist ein Kompromiss zustande gekommen, denich für sehr bemerkenswert halte. Ich kann den Teilneh-mern des Konventes für das, was sie geleistet haben, nurdanken.akudZwItpZwrhhsIdwmdzgeFHdmltfltRtHw2mw
ch glaube, dass es angesichts des katastrophalen Verhal-ens der Bundesregierung in Hinblick auf den Stabilitäts-akt genau die richtige Botschaft ist, die Ziele um dasiel der Preisniveaustabilität zu ergänzen.
Das Übrige erfreut mich nicht. Ich mache mir Sorgen,as beim Endspurt auf den letzten Metern vor dem Eu-opäischen Rat in Brüssel noch passieren wird. Die Irenaben sehr mutige Vorschläge gemacht. Ich bin über-aupt der Auffassung, dass sie sich in ihrer Präsident-chaft mutig und leistungsfähig zeigen.
ch hätte mir gewünscht, wenn man mit großer Mehrheiten Vorschlägen der irischen Präsidentschaft gefolgtäre, was das endgültige Entscheidungsrecht des Parla-ents bei der Ausgabenseite des Haushalts angeht.Ich hätte mir auch gewünscht, wenn wir das Themaer doppelten Mehrheit so erklären könnten – bei unsu Hause, aber auch bei unseren Partnern, die sich dage-en noch sperren –, dass klar wird, dass es sich nicht umtwas rein Technisches handelt, sondern dass das einerage der demokratischen Legitimation europäischenandelns ist. Es ist doch ein unbefriedigender Zustand,ass, wenn die Europäische Union heute einen Aufnah-eantrag bei sich selber stellen würde, sie wahrschein-ich aufgrund von Legitimationsdefiziten und Demokra-iedefiziten nicht aufgenommen würde.Wir hoffen, dass das Verfassungswerk zum Erfolg ge-ührt werden wird. Wir wollen Ja dazu sagen. Wir wol-en die Bevölkerung davon überzeugen, dass das ein gu-er Weg für Europa in Frieden, Freiheit, Wohlstand undechtstaatlichkeit ist.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Frak-
ion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!err Hoyer, leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie heuteieder mit einem alten Hut gekommen sind; denn schon003 ist dieser Antrag der FDP – ich meine: zu Recht –it einer ganz breiten Mehrheit hier im Hause abgelehntorden.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10213
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Rüdiger VeitDass Sie diesen alten Hut jetzt wieder herausziehen underneut aufsetzen, geschieht offenbar nicht nur wegen desDiskussionsprozesses um die europäische Verfassung,sondern höchstwahrscheinlich auch vor dem Hinter-grund der jetzt anstehenden Europawahl, bei der Sie ver-suchen, sich mit einem Thema zu profilieren. Anderskann ich das hier nicht einordnen.Über die Verfassung als solche und ihre Bedeutung– das haben Sie richtigerweise gesagt – besteht keingrundsätzlicher Streit. Ich halte es aber für verfehlt, dasVolk über einen einzelnen – zweifellos bedeutsamen –Punkt der europäischen Politik gesondert abstimmen zulassen; denn vom Prinzip her kennen wir das von ande-ren bedeutsamen Punkten der europäischen Politik ganzgenauso, ob das nun die Römischen Verträge, die Ein-führung des Euro oder auch die Osterweiterung waren.Warum soll das also jetzt hier bei diesem einen Punkt ge-schehen?
Ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit übrigens sagen:Ihr Antrag enthält auch ein paar kleine handwerklicheFehler. Sie schreiben nicht von „dem“ Volksentscheid,nämlich dem einzigen, den es zur Verfassung geben soll,sondern von „einem“ Volksentscheid, den der DeutscheBundestag beschließen soll. Das klingt ja fast so, als obSie im Bundestag so lange Volksentscheide beschließenlassen wollen, bis das Ergebnis bezüglich der europäi-schen Verfassung mit dem übereinstimmt, was Sie per-sönlich wollen.Im Übrigen enthält Ihr Gesetzentwurf auch keineAntwort auf folgende, wie ich finde, ganz spannendeFrage:
Was passiert denn eigentlich, wenn das Volk anders alsder Bundestag und der Bundesrat entscheidet? Wie isteine solche Kollision im Ergebnis aufzulösen? Dazu ent-hält Ihr Gesetzentwurf keinerlei Normen.Da ist unser Gesetzentwurf aus der letzten Legislatur-periode schon wesentlich besser; er ist entsprechend ge-staffelt. Wir sehen für viele Gegenstände die Volksinitia-tive und dann gegebenenfalls das Volksbegehren undden Volksentscheid mit entsprechenden Quoren vor. Vondaher wollen wir dem Volk selbst die Initiative überlas-sen, als Souverän tätig zu werden. Wir wollen ihm nichtsagen, dass es bei einem Gegenstand, den wir festgelegthaben, jetzt freundlicherweise mitbestimmen darf.
Unser Gesetzentwurf und seine Beratung haben beimletzten Mal Folgendes deutlich gezeigt: Wir müssensorgfältig überlegen, wie die Gegenstände der Volksab-stimmungen von den ureigensten Angelegenheiten derStaatsorgane abgegrenzt werden sollen. Welche Voraus-setzungen müssen Volksinitiativen erfüllen, damit ihnendas notwendige politische Gewicht zukommt? WelcheVoraussetzungen müssen sie erfüllen, um etwa eine Än-dgnFÄdenwbfshGzLSrsmJCAKbppnmwbIIkddzalPunmAdeb1gSHnh
edenfalls ist Ihr Antrag hier und heute abzulehnen.Nun beschäftigen sich also auch die Fraktionen vonDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrennträgen mit der europäischen Verfassung. Bei allemonsens, den Sie als erster Redner hier richtigerweiseeschworen und von dem wir auch im Tagesordnungs-unkt zuvor gehört haben, gibt es natürlich schon einaar unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ichennen:Sie von der CDU/CSU haben offenbar noch nicht ge-erkt, dass die Verankerung der Preisstabilität ebensoie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral-ank im Prinzip schon Bestandteile der Verfassung sind.ch will Ihnen aber auch sagen, wo ich persönlich vonhren Einschätzungen durchaus abweiche: Ich habeeine nennenswerte Sympathie dafür, noch einen geson-erten Gottesbezug oder einen besonderen Bezug aufas christliche Erbe Europas mit in die Präambel auf-unehmen. Ich halte es für richtig, in dieser Verfassunguf die kulturellen, religiösen und humanistischen Über-ieferungen Europas zu verweisen. Dies aber enthält derräambelentwurf richtigerweise schon jetzt.Ich komme noch zu einem anderen Punkt, in dem wirns sicherlich unterscheiden: Sie wollen für die Türkeiur noch eine Art privilegierte Partnerschaft. Dabeiachen Sie sich noch nicht einmal die Mühe, in Ihremntrag näher zu konkretisieren, was Sie letztendlich fürie Türkei darunter verstehen. Auf eine ernsthafte Aus-inandersetzung kommt es Ihnen an dieser Stelle offen-ar nicht so sehr an. Ich glaube, auch Sie haben den3. Juni dieses Jahres im Auge. Dabei vergessen Sieanz, dass der Amtsvorgänger von Bundeskanzlerchröder – dieser hat es schon mehrfach zitiert –, alsoelmut Kohl, dem Ministerpräsidenten Yilmaz bei sei-em Besuch im September 1997 in Deutschland erklärtat, er, Helmut Kohl, unterstütze das Ziel einer späteren
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10214 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004
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Rüdiger VeitEU-Mitgliedschaft der Türkei. Daran scheinen sichaber heute in Ihren Reihen nur noch die Kollegen VolkerRühe und Ruprecht Polenz zu erinnern. Mit Ihrer Forde-rung nach einer lediglich privilegierten Partnerschaftverlassen Sie also die eigenen früheren und besseren Po-sitionen.
Für uns, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, steht hier und jetzt eine definitiveund endgültige Festlegung in der Frage des EU-Beitrittsder Türkei nicht zur Debatte. Die Zeit ist dafür nochnicht reif. Alle politisch Handelnden sollten sich aber ih-rer Verantwortung bei diesem schwierigen Thema be-wusst sein. Während Sie leichtfertig – ich glaube, das istIhr Versuch – vor dem Hintergrund des Wahltermins dieÄngste der Bevölkerung ein Stück weit instrumentalisie-ren, ist unsere Position und die der Bundesregierungzum Türkeibeitritt bekannt: Wir wollen im Ergebnis ei-ner langen Reihe von Entscheidungen der EU-Staats-und Regierungschefs, die wir mitgetragen haben, inÜbereinstimmung mit dem Europäischen Rat in Kopen-hagen vom Dezember 2002 wie folgt verfahren – ich zi-tiere –:Entscheidet der Europäische Rat im Dezem-ber 2004 auf der Grundlage eines Berichts und ei-ner Empfehlung der Kommission, dass die Türkeidie politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt,so wird die Europäische Union die Beitrittsver-handlungen mit der Türkei ohne Verzug– ich wiederhole: ohne Verzug –eröffnen.Wir jedenfalls sind uns dieser Verantwortung bewusstund werden zu gegebener Zeit unsere Entscheidungenverantwortungsvoll treffen.Soweit Sie als CDU/CSU noch darauf verweisen,dass der Bundestag vor wie auch immer gearteten Ver-handlungen und Zusagen der Regierung im Rat damitbefasst werden soll, läuft das im Ergebnis auf eine Artimperatives Mandat für die Bundesregierung hinaus.Das ist uns fremd. Wir lehnen dies ab. Wir halten es sehrwohl für vorstellbar, ja sogar für wünschenswert, dasswir bei der Frage der Beteiligung der nationalen Parla-mente und damit auch unseres Bundestages im Kontextder europäischen Willensbildung zu vielleicht effektive-ren und besseren Formen kommen. Ich hoffe und er-warte, dass mein Kollege Michael Roth zu diesem Punktnoch einige Ausführungen machen wird.Wir jedenfalls sehen ähnlich wie andere, die hierschon gesprochen haben, in den derzeit laufenden Ver-handlungen die Sorge begründet, am Ende könnte derVerfassungsentwurf hinter den Ursprungstext zurückfal-len. Dies wollen wir nicht. Wir wollen keinen Rück-schritt in dieser Verfassung und im Hinblick auf die Er-gebnisse des Konvents. Das gilt auch und gerade imBereich der Innen- und Justizpolitik. Wir also wollenkeine Rückschritte, sondern eine zügige Ratifizierung,und zwar hier in Bundestag und Bundesrat, weilDtbCHlfswRvGcfBihdgdshrdVKrsSss
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/
SU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
erren! Heute debattieren wir darüber, ob in Deutsch-
and ein Referendum über die künftige europäische Ver-
assung abgehalten werden soll. Die von der FDP vorge-
chlagene Grundgesetzänderung ist ein Irrweg. Wenn
ir diesen Irrweg beschreiten, gehen wir ein dreifaches
isiko ein. Erstens provoziert ein Referendum das Miss-
erständnis, dass die europäische Verfassung unser
rundgesetz ablösen würde. Zweitens gaukelt ein sol-
hes Referendum eine Ja-Nein-Alternative vor, die es de
acto nicht gibt. Drittens bietet ein Referendum eine
ühne für Stimmungsmache und für all diejenigen, die
ren Zorn über die Regierung an Europa ablassen wür-
en.
Deshalb soll es nach unserer Auffassung bei den Re-
eln des Grundgesetzes bleiben. Die Mütter und Väter
es Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, als
ie sich für die repräsentative Demokratie entschieden
aben. Sie wollten eben solche hoch komplexen Mate-
ien nicht Augenblicksstimmungen ausliefern, sondern
er Verantwortung der Parlamente. Wir wollen diese
erantwortung wahrnehmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
ollegen Burgbacher?
Gerne.
Herr Kollege Hintze, Sie sagen, es sei der Bevölke-ung nicht zuzumuten, eine Ja-Nein-Alternative vorge-etzt zu bekommen und darüber abzustimmen. Stimmenie mit mir überein, dass wir im Parlament genau das-elbe machen werden? Wir werden mit Ja oder Nein ab-timmen. Wir haben keinerlei Änderungsmöglichkeiten.
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Bevor Sie über die Zielrichtung von Schüssen spre-chen, lauschen Sie meiner Antwort! –
Ich habe eben Kollegen Hoyer zugehört. Ich habe heuteMorgen Herrn Kollegen Westerwelle im Deutschland-funk zugehört. Beide haben erklärt, dass dieses Parla-ment ihrer Einschätzung nach mit über 90-prozentigerMehrheit die Verfassung tragen und sie auch der Bevöl-kerung vermitteln wird. Also auch Sie sind der Auffas-sung, dass es für uns Deutsche in der EuropäischenUnion nur ein Ja gibt und dass ein Nein uns zurückwirft.Dem Volk aber eine Frage vorzulegen, auf die es prak-tisch nur ein Ja gibt, ist nicht ganz in Ordnung. Oder wirmachen es wie die Iren, die dem Volk die Frage so langevorlegen, bis es sie so beantwortet, wie es die Mehrheitim Parlament will. Ich finde, dass die Volksabstimmungdafür ein höchst untaugliches Instrument ist, lieber HerrKollege Burgbacher.
– Darauf komme ich gleich. – Bei einem Referendumwürde über alles Mögliche abgestimmt, über GerhardSchröder, über die Maut, über die Ölpreise, nur nichtüber die Zukunft der Europäischen Union. Das Problemvon Volksabstimmungen ist, dass das Volk regelmäßigüber Fragen abstimmt, die nicht gestellt wurden. Sie wis-sen das ganz genau. Es ist eine Absurdität der Demokra-tie, wenn wir für Europa werben und die europäischeVerfassung durchsetzen wollen, dann aber zusätzlicheHürden auf dem Weg zu ihrer Realisierung errichten.Das ist ein Paradox.Nun hat die FDP – das ist heute in der Vorstellungnicht dargelegt worden – versucht, Parlament und Volkdadurch zu versöhnen, dass sie die Idee einer additivenVolksabstimmung geschaffen hat. Das Volk soll mit25-prozentiger Mehrheit zustimmen und dann soll auchnoch die Zustimmung des Bundestages und des Bundes-rates mit Zweidrittelmehrheit erforderlich sein. Das istzwar ein ganz sympathischer Versuch, den Tücken derFrage nach repräsentativer Demokratie oder emotionalerDemokratie zu entgehen, aber ich fürchte, der Versuchist verfehlt. Herr Westerwelle hat heute Morgen imRundfunk gefragt, ob wir uns das nicht zutrauen. Natür-lich trauen wir uns das zu. Aber wenn wir als Souveränder Überzeugung sind, dass eine Sache richtig ist, dannsollten wir uns auch zutrauen, die Verantwortung dafürselbst zu tragen.
Was erleben wir in England? Tony Blair hat gesagt,das englische Volk solle abstimmen, und zwar nach denWahlen zum Unterhaus. Er will die Frage an das Volküber seine Führungsverantwortung von einer politisch-inhaltlich hoch wichtigen Frage trennen. Wir sind derAuffassung, dass dieses Wegschieben von Verantwor-tung nicht in unserem Grundgesetz angelegt ist. Wir soll-ten es bei den bewährten Regeln unseres GrundgesetzesbelassenuMSmmwgsslWudrrmDm–mtwbDgmhskdr–Eüntn
nd die Verantwortung dafür übernehmen.
Wir haben heute Morgen über Antiterrorstrategien imittleren Osten gesprochen. Jetzt sprechen wir über dietärkung Europas und darüber, wie wir die Menschenehr beteiligen und ihre Empfindungen besser aufneh-en können. Ich glaube, vieles davon bleibt unglaub-ürdig, wenn wir heute nicht auch ein Wort zu den Vor-ängen sagen, die uns und alle Menschen in Deutschlandpätestens seit gestern massiv beschäftigen. Der Rechts-taat in Deutschland ist auf dem allerbesten Wege, sichächerlich zu machen.
enn ein Top-Gefährder wie Metin Kaplan mit Polizeind Verfassungsschutz Katz und Maus spielen kann,
ann zeigt das nur, wie wichtig und richtig unsere Forde-ung ist, dass für solche Personen die Idee der Siche-ungshaft verwirklicht wird, wie sie der Bundesinnen-inister dankenswerterweise vorgeschlagen hat.
enn dann wäre ein solches Katz-und-Maus-Spiel nichtehr möglich.
Zu den Zwischenrufen unserer grünen Kollegenöchte ich anmerken: Dass es dem Bundesinnenminis-er mit unserer Hilfe gelungen ist, die Grünen beim Zu-anderungsgesetz sozusagen von der Werkbank zu ver-annen, ist immerhin ein Beitrag zu mehr Sicherheit ineutschland. Jetzt müssen wir das Zuwanderungs-esetz noch in eine vernünftige Form gießen. Aber einesüssen die Menschen im Lande wissen: Völlige Sicher-eit gibt es nur, wenn solche Kräfte die Mehrheit in die-em Hause stellen und in die Regierungsverantwortungommen,
ie das tun, was jeder sittlich empfindende Mensch alsichtig ansieht.
Das ist ein wichtiger Beitrag, Frau Sonntag.
s ist schlimm, wenn heute der Bundestag tagt, aberber dieses Thema nicht gesprochen werden soll.
Die Menschen sind darüber empört, dass der selbst er-annte Führer des Kalifatstaats, der rechtskräftig verur-eilt wurde und mehrere Jahre bei uns im Gefängnis saß,icht festgesetzt und abgeschoben werden kann. Denn
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Peter Hintzedas wollen die Menschen und das entspricht dem Geisteunseres Grundgesetzes.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Gerne.
– Darf ich den Zwischenruf kurz beantworten?
Herr Kollege, zunächst hat der Kollege Niebel für
seine Zwischenfrage das Wort.
Ja, gut.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Hintze, können
Sie mir erklären, was Metin Kaplan mit dem Antrag der
FDP-Fraktion zur Einführung eines Volksentscheids
über eine europäische Verfassung zu tun hat?
Das ist mir nicht erklärlich.
Ich will Ihnen das gerne erklären, lieber KollegeNiebel. Die FDP begründet den Antrag damit, dass sieeine wichtige Forderung der Menschen im Lande auf-nimmt. Es ist übrigens sehr interessant, dass die Koali-tionsparteien das zwar immer wieder gefordert haben,aber dann, wenn es konkret wird, dem FDP-Antrag nichtzustimmen. Aber das ist ein anderes Thema.Ich glaube, dass der Unmut der Menschen über diePolitik und über uns als Verantwortungsträger wächst,wenn wir nicht bereit sind, solchen Skandalen ein Endezu bereiten und unserer Polizei und unserem Verfas-sungsschutz solche Blamagen zu ersparen, indem wireine Rechtsordnung entwickeln, nach der so etwas nichtmöglich ist bzw. unterbunden wird.
– Das ist eine interessante Frage. Eine Kollegin aus derSPD-Fraktion hat gerade in einem Zwischenruf gefragt,ob ich möchte, dass das in die EU-Verfassung aufge-nfdRUsgGbrdzvE–sEdsqAraWurdsdniaHdEdadWWp–
Allerdings glaube ich, Herr BundesaußenministerSie werden im Moment durch die grüne Fraktionsvor-itzende etwas an der Mitberatung gehindert –, dass esuropa und auch Deutschland gut täte, wenn die Bun-esregierung zu der Mittlerrolle zurückfinden würde, dieie früher in Europa eingenommen hat. Es mag zwar be-uem sein, zusammen mit England und Frankreich einert Direktorat zu bilden, aber es wird nicht funktionie-en. Wenn Deutschland als Motor eines Direktoratsgiert, dann bedeutet das das Ende der Veranstaltung.as wir brauchen, ist ein faires Miteinander von Kleinennd Großen, wie es einst langjährige Praxis war.
Ich meine übrigens, dass die Politik der Bundesregie-ung in der Zwischenphase nach der italienischen Präsi-entschaft und vor dem Versuch der irischen Präsident-chaft, eine Lösung zu finden, auch dazu geführt hat,ass wir uns ziemlich festgefahren haben. Unsere Hoff-ung ist, dass wir ein Stück weiterkommen werden. Esst sehr erfreulich – Herr Kollege Hoyer hat das schonngesprochen –, dass sich gegen die Mehrheit in diesemause bei der Mehrheit in Europa durchgesetzt hat, dassie Preisstabilität nicht nur eine einzelne Aufgabe deruropäischen Zentralbank sein darf, sondern auch eineser Ziele der Europäischen Union sein muss, dem sichlle Politiken unterzuordnen haben;
enn Wachstum ohne Preisstabilität führt auf direktemege in den wirtschaftlichen Abgrund.
ir freuen uns, dass dies nun in der zukünftigen euro-äischen Verfassung verankert wird.
Herr Roth, Sie sollten nicht dazwischenbrüllen.
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Peter Hintze– Weil ich mich gegen die Zwischenrufe akustischdurchsetzen muss!Ich komme nun auf etwas zu sprechen, das uns sehram Herzen liegt. Sie haben in diesem Haus oft und wort-reich dargelegt, dies sei überflüssig. Das ist die Haltungeiner Regierung, die den Stabilitäts- und Wachstumspaktzum dritten Mal in Folge bricht. Sie bringen uns herun-ter. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Wachstum inDeutschland unter dem EU-Durchschnitt liegt. Sie habendie Verschuldung auf die Spitze getrieben. Sie wollendie Preisstabilität opfern. Ihre Politik darf sich auf euro-päischer Ebene nicht fortsetzen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Türkeisagen.
Wir haben von dem Spitzenkandidaten der SPD imEuropawahlkampf, Herrn Vural Öger, Interessantesüber die Türkeipolitik gehört.
Wir wissen jetzt, warum der Bundeskanzler Herrn Ögeran so prominenter Stelle auf der Wahlliste platziert hat.Herr Öger hat sich – gemäß seinen eigenen Ausführun-gen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – ausge-lassen, dass das, was mit der türkischen BelagerungWiens nicht geschafft worden sei, heute unsere gebur-tenfreudigen Türkinnen in der Bundesrepublik erreichenkönnten.
– Frau Kollegin Schwall-Düren, Sie haben wieder da-zwischengeschrien, bevor Sie zugehört haben. Ich habedie Aussagen von Herrn Öger aus der „Frankfurter All-gemeinen Zeitung“ zitiert, mit denen er versucht hat, dieZitate in „Hürriyet“ zu korrigieren. Die Korrektur solltenSie lesen; denn sie ist zumindest genauso interessant wiedas Zitat in „Hürriyet“. Die Auffassung, die Herr Ögervertritt, mag vielleicht die neue frauenpolitische Linieder SPD sein. Unserer Auffassung von westlicher Kulturentspricht sie jedenfalls nicht.
– Entschuldigung, ich habe das im Original zitiert. DassOriginalzitate Ihres eigenen Spitzenkandidaten Sie inUnruhe versetzen, kann ich verstehen.Die „Frankfurter Rundschau“ hat berichtet, die SPD-Führung habe verfügt, dass er von nun an für immer sei-nen Mund halten solle. Ich bin ja froh, dass er gespro-chen hat; denn so wissen wir, welches Denken Sie reprä-sentieren und was auf uns zukommt.EAgmEsWeeBGDKseuwDdnRA„FPzmVedindsr
nd dass sie sich nicht für die CDU/CSU entscheidenerden, wenn ihnen Europa am Herzen liegt.
enn Sie haben uns eben noch einmal demonstriert, wieer Europawahlkampf der Union aussieht. Er hat ge-auso wenig etwas mit Europapolitik zu tun wie Ihreede.
us innenpolitischem Kalkül haben Sie die ThemenZuwanderung“, „Kaplan“ und „Türkei“ angesprochen.ür mich ist das, was Sie sagen, unverantwortlicheropulismus. Sie schüren Ängste vor Europa, anstatt auf-uklären und die Menschen auf dem Weg nach Europaitzunehmen.
Ich will jetzt zum Thema kommen, zur europäischenerfassung. Bei diesem Thema ist meiner Meinung nachin weiteres wichtiges Etappenziel erreicht; denn nachem Treffen der Außenminister am vergangenen Montagst die EU ihrer neuen Verfassung wieder ein gutes Stückäher gekommen. Heute erscheint eine Einigung aufem Gipfel im Juni wieder viel wahrscheinlicher. Dasind gute Aussichten; denn noch am Anfang dieses Jah-es hätte ich darauf kaum eine größere Summe verwettet.
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Anna LührmannDoch seit dem Dezembergipfel ging es immer wiedervoran, und das nicht zuletzt, weil viele Regierungen, wiedie deutsche Bundesregierung, nie einen Zweifel darangelassen haben, dass sie genau diese Verfassung wollen.Ich habe also vor, bei diesem Thema optimistisch zubleiben. Dieser Optimismus scheint heute mehr denn jeberechtigt.Die schwierigen Verhandlungen zeigen jetzt noch ein-mal ganz deutlich, dass die Bundesregierung gut darangetan hat, auf dem Ergebnis des Konvents zu bestehenund die Verhandlungen mit Änderungsanträgen nichtnoch weiter zu erschweren; denn das Auf und Ab dieserRegierungskonferenz macht doch wieder eines ganzklar: Es ist dem Konvent in 16 Monaten sehr harter Ar-beit vorbildlich gelungen, gute Kompromisse in denheiklen Fragen zu finden. Die Diskussionen über Ände-rungsanträge in der Regierungskonferenz zeigen näm-lich immer wieder, dass es kaum gelingt, andere, ge-schweige denn bessere Formulierungen als die zufinden, die der Konvent selber erarbeitet hat. Aus dieserErfahrung sollten die Regierungen klug werden. Sokönnte man sich nämlich viele quälende Nachtsitzungenersparen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen – ich weiß nicht, wiees Ihnen ging –, am letzten Freitag haben mich die Ver-handlungen im Kreise der Außenminister ziemlich em-pört. Da kamen die einen und die anderen immer wiedermit ihren alten Forderungen, also mit alten Hüten, daher,die eigentlich schon längst ad acta gelegt worden sind.Dadurch wurde nicht nur eine Einigung erschwert; viel-mehr war meiner Meinung nach auch der Inhalt derÄnderungswünsche kontraproduktiv. Während der Re-gierungskonferenz wurden nämlich fast nur Änderungenvorgeschlagen, die ich als Proeuropäerin nur als eindeu-tige Rückschritte bezeichnen kann.Fundamentale Fehlgriffe waren etwa die Bestrebun-gen, die Befugnisse des Europaparlaments wieder zu be-schränken. Die Rechte des Parlaments im Haushaltsver-fahren sollten sogar hinter den Status quo zurückgedrehtwerden. Es gab auch den Vorschlag, die Charta derGrundrechte, den zweiten Teil der Verfassung, durch einZusatzprotokoll in seiner Wirkung zu beschränken. Wirreden hier also nicht über Peanuts, sondern über funda-mentale Grundrechte und über das zentrale Organ der re-präsentativen Demokratie in der EU.Nach dem Treffen am Montag bin ich – das habe ichschon erwähnt – weit optimistischer gestimmt. Diegröbsten Angriffe auf den Verfassungstext scheinen un-ter anderem durch das Engagement der deutschen Bun-desregierung kassiert worden zu sein.Aber es bleibt so mancher Stolperstein erhalten. Ichglaube, ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dass einwesentlicher Stolperstein den Namen „Großbritannien“trägt. An die Adresse von Großbritannien kann ich nursagen – ich habe darauf schon in meiner letzten Redehingewiesen –: Europa lebt vom Kompromiss. Sie wis-sen, worum es geht, nämlich um die so genannten RedLzMdHEfdsvhwdghsGtLadddnfribDtskEdsC
Der Konvent ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Esäre geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, wennie Regierungen dafür sorgten, dass die von ihnen selbstesteckten Ziele eben nicht umgesetzt werden. Wir alleier wissen, dass mit der Einigung auf einen Verfas-ungstext noch nicht der ganze Weg zurückgelegt ist. Imegenteil: Die Ratifizierungen in den 25 Mitgliedstaa-en müssen dann noch durchgeführt werden. In manchenändern müssen die Parlamente zustimmen, in anderenuch die Bevölkerung per Referendum.Ich würde einen europaweiten Volksentscheid überie europäische Verfassung deutlich befürworten. Wennie Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Län-ern gleichzeitig abstimmten, dann könnte man eine in-enpolitische Instrumentalisierung verhindern und esände eine wirklich europäische Debatte statt.Anders als die FDP hat die rot-grüne Bundesregie-ung 2002 einen Gesetzentwurf für direkte Demokratien allen Bereichen in den Deutschen Bundestag einge-racht.
iesem Vorschlag haben über die Hälfte der FDP-Frak-ion und die gesamte CDU/CSU-Fraktion nicht zuge-timmt. Vor diesem Hintergrund ist Ihr heutiges Wahl-ampfgetöse wirklich unglaubwürdig.
Abschließend will ich noch eines deutlich sagen:gal, wie ratifiziert wird, es kommt darauf an, was undass ratifiziert wird; denn nur mit einer neuen Verfas-ung ist Europa auch in guter Verfassung.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/SU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich möchte in meinem Beitrag nur auf die vonder FDP-Fraktion vorgeschlagene Verfassungsänderungeingehen. Das Grundgesetz ist der wichtigste Rechtstextin unserer Demokratie. Darum sind an Änderungen die-ses Rechtstextes hohe Anforderungen zu stellen, was diefachliche Qualität anbelangt. Es ist die politische Fragezu beantworten, ob wir die Grundentscheidungen, diedie Verfassungsväter und -mütter getroffen haben, wirk-lich verändern wollen. Ich möchte zu beidem etwas sa-gen, zur fachlichen Qualität Ihres Vorschlags und zu derGrundsatzfrage, ob es richtig ist, einen Volksentscheidzur Einführung der EU-Verfassung zu ermöglichen.Zum ersten Thema: Was ist von Ihrem Vorschlagfachlich zu halten? Sie formulieren in Ihrem Entwurf,dass es um die Einführung einer europäischen Verfas-sung geht. Natürlich reden wir politisch über die EU-Verfassung, über den Verfassungsvertrag. Es gibt auchgute politische Gründe dafür, so zu reden. Es verdeut-licht, dass es ein wichtiges Werk ist. Es spiegelt sich da-rin insbesondere wider, wie dieser Entwurf erarbeitetworden ist, nämlich nicht mit der bisherigen Methodeder Vertragsänderungen. Die Herren der Verträge, dieMitgliedstaaten, haben die Gesetzgebung ein Stück weitaus ihren Händen gegeben und haben insbesondere Par-lamentarier aus den Mitgliedstaaten – nicht nur Parla-mentarier, aber auch Parlamentarier – an der Erstellungdes Verfassungsentwurfs beteiligt.Wir können rechtlich aber nicht einfach so formulie-ren, wie wir politisch reden; das Grundgesetz hat andereAnforderungen an die Sprache. Deshalb müssen wir fra-gen: Wird im Rechtssinne eine Verfassung eingeführt?Wird mit dieser Vertragsänderung, um die es geht, dasbisherige Vertragswerk eine neue Qualität, nämlich Ver-fassungsqualität, gewinnen? Das ist Ihre rechtliche An-forderung dafür, dass der Volksentscheid überhaupt statt-findet.Ich möchte dazu nur aus zwei Urteilen zitieren, dieich mir gestern noch einmal durchgelesen habe, dieschon alt sind. In einem Urteil aus dem Jahre 1991 – dasist schon lang her – stellt der Europäische Gerichtshoffest, dass der EWG-Vertrag „obwohl er in der Formeiner völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossenwurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfas-sungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellt. Ineiner Entscheidung aus dem Jahr 1968 stellt das Bun-desverfassungsgericht fest – das ist im 22. Band –, dieEuropäische Gemeinschaft sei eine im Prozess fort-schreitender Integration stehende Gemeinschaft eigenerArt. Nun zitiere ich: „Der EWG-Vertrag stellt gewisser-maßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar.“Die Europäische Union hat eine Verfassung. Dieeuropäischen Verträge haben seit langem Verfassungs-qualität. Was macht denn eine Verfassung aus? Ich zi-tiere dazu die Begründung des Gesetzentwurfs der FDP-Fraktion: Es ist die Entscheidung „über Inhalt, Grenzen,Organisation, Ausgestaltung und Verteilung politischerMacht“. Alles das ist in den Verträgen bereits entschie-den. Wir haben die Souveränitätsübertragung. Wir habenedDptibdsgBacsIEdrmSWgEnmnaWessirsssHsunse–TWKm
Nun zu der Frage, ob es richtig ist, über diese Verfas-ung per Volksentscheid zu entscheiden. In diesemause gibt es ja bezüglich der Präferenz für Volksent-cheide eine ganz originelle Konstellation zwischen FDPnd der rot-grünen Koalition. Die FDP sagt, wir wollenur hier, aber nirgends sonst einen Volksentscheid zulas-en. Rot-Grün sagt, wir wollen über alles einen Volks-ntscheid zulassen, nur nicht über diese Frage.
Im Grunde überall. – Beide Positionen sind von deraktik und der Sache her nicht glaubwürdig.
ir können mit der Frage der Legitimation – das ist eineernfrage der Demokratie, denn Demokratie ist Legiti-ation – nicht taktisch umgehen, sondern wir müssen
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Dr. Norbert Röttgenmit ihr verantwortungsvoll und sachlich umgehen. Es istbedauerlich, dass die CDU/CSU-Fraktion die einzigeFraktion im Parlament ist, die sich der Verantwortung indiesem Punkt bewusst ist. Sie taktiert nicht, sondernpraktiziert Verantwortung.
Sie, Frau Lührmann, haben eben das klare Bekenntnisabgelegt: Sie wollen einen Volksentscheid darüber. Aberder Bundesaußenminister hat ihn verboten. Insbesonderedie Grünen sind ja ein immer folgsameres Kind der Re-gierung geworden. Sie, Herr Bundesaußenminister, kön-nen, wie ich glaube, mit dieser Fraktion sehr zufriedensein. Wenn es ernst wird, sagen Sie ihr, was sie machensoll. Das sagt auch etwas über Ihr Selbstverständnis aus.Ich möchte darauf eingehen, ob es richtig ist, durchVolksentscheide Entscheidungen zu fällen, und möchtebegründen – da gebe ich Ihnen Recht –, dass die euro-päische Verfassung ein gutes Beispiel dafür darstellt,warum eine Entscheidung durch Plebiszite in unseremLand die schlechtere demokratische Alternative ist.Nach meiner festen Überzeugung liegt das nicht daran,dass wir Abgeordnete des Bundestages die besseren Ent-scheider wären, dass wir schlauere und bessere Entschei-dungen träfen, als wenn das Volk abstimmen würde. DerGrund liegt vielmehr in den objektiven Bedingungen,der Möglichkeit, eine schwierige Frage verantwortlichzu entscheiden.Voraussetzung dafür, um überhaupt verantwortlichund vernünftig entscheiden zu können, ist das Vorhan-densein eines Verfahrens, mit dem man in der Lage ist,die Komplexität eines Gegenstandes zu verarbeiten.Der entscheidende Punkt ist, ob wir davon sprechen kön-nen, dass die Voraussetzung dafür existiert, verantwort-lich zu entscheiden, und ob das Verfahren, das Entschei-dungen vorausgeht, die Möglichkeit bietet, dieKomplexität des Gegenstandes zu verarbeiten. Das par-lamentarische Verfahren bietet sie, unabhängig davon,ob uns das im Einzelfall gelingt. Wir sind im Parlamentin der Lage, strukturiert plurale Auffassungen miteinan-der zu diskutieren und zu einem Ergebnis zu kommen,für das wir uns dann politisch und demokratisch recht-fertigen müssen.Ich bin fest davon überzeugt – damit komme ich zumEnde –, dass die plebiszitäre Entscheidung genau diesenMangel hat: Sie bietet kein Verfahren, das in der Lagewäre, der Komplexität eines Gegenstandes in der für de-mokratische Legitimation nötigen Breite – eine Informa-tionselite kann das schaffen – gerecht zu werden. Es gehtbei dieser Frage um das Funktionieren unserer Demokra-tie, um nichts weniger. Für dieses Funktionieren habenwir als Parlament eine doppelte moralische Pflicht: diePflicht, zu begründen, dass es zur parlamentarischenVerantwortung keine praktische Alternative gibt, und diePflicht, diese Verantwortung durch den Stil unserer Aus-einandersetzungen –EzütHEdvgfdzgBAenwgTwsnzWweg9gDleZEedDsfwgd
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So genannte Leftovers, also Überbleisel, wie beiNizza wird es nicht mehr geben dürfen. Der KollegeGloser hat mich gebeten, auf einen Punkt hinzuweisen:In diesen Tagen feiert Nürnberg die 50-jährige Partner-schaft zu Nizza. Deswegen ist der Satz „Nie wiederNizza“ für den einen oder anderen von uns sicherlich nurschwer erträglich. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
Nizza genießt auch weiterhin unsere Wertschätzung,wenn auch nicht unbedingt die Regierungskonferenz.Aber weil wir eben ein zweites Nizza nicht haben woll-ten, war das Vertagen der Regierungskonferenz nachdem ergebnislosen Gipfel von Brüssel im Dezember2003 richtig. Denn eine Einigung um jeden Preis wäreaus meiner Sicht unverantwortlich. Deswegen ist es sopositiv, dass die irische Präsidentschaft jetzt mit großemDruck, mit großer Sorgfalt und mit großer Beharrlichkeiteinen Erfolg noch unter ihrer Präsidentschaft erreichenmöchte.Eine Nacht der langen Messer, in der mit aller Machtallein um die Durchsetzung rein nationaler Interessengeschachert wurde, konnte sich die EU noch nie sowenig leisten wie heute. Verlieren die Beteiligten dieeuropäische Vision eines vereinten und handlungsfähi-gen Europas im Endspurt aus den Augen oder opfern siebewusst, wird die EU großen Schaden nehmen. KeinerwDVoZozIpK3sdßepdvflldßbdzvikÄwKDnAgfKsaDüss1WET
afür danken wir dem Bundeskanzler, dem Außenmi-ister und auch dem Staatsminister für Europa Bury.
Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer festenbsicht, die ins Stocken geratenen Schlussverhandlun-en über eine europäische Verfassung endlich zum Er-olg zu führen. Wir müssen aber auch eines deutlich zurenntnis nehmen – das gibt Anlass zur Sorge –: Die Zu-timmung gegenüber der Europäischen Union sinkt,uch in Deutschland. Noch nicht einmal 50 Prozent dereutschen waren in der jüngsten Umfrage positiv gegen-ber der EU eingestellt. Das muss uns alarmieren. Wirollten daraus Konsequenzen ziehen.Aber, Herr Kollege Hintze, wir sollten nicht die Kon-equenzen daraus ziehen, die Sie ziehen. Es sind noch6 Tage bis zur Europawahl.
enn man so argumentiert wie Sie und nicht überuropa, sondern über das diskutiert, was einem wenigeage vor einer Wahl ins nationale Kalkül passt, dann
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Michael Roth
zerstört man die Vertrauensbasis der EuropäischenUnion. Dann macht man sich unglaubwürdig. Sie kön-nen sich doch nicht in Sonntagsreden zum großen Euro-papolitiker aufschwingen und hier, wenn es um die Zu-kunft Europas geht, nur über die Türkei und denislamistischen Fundamentalismus
und nicht über die Kernbereiche Europas reden, die un-sere eigentliche und gemeinsame Aufgabe sein sollten.
Wir brauchen aus meiner Sicht vielmehr eine pro-grammatische Neugründung Europas. Ich bin mir sicher,dass wir in diesen Punkten hier im Bundestag keineÜbereinstimmung erzielen werden. Aus meiner Sicht istdies auch gut so. Dass das so ist, hat man auch an einerBemerkung des geschätzten Kollegen Hoyer gemerkt.Es wäre ja schlimm, wenn 200 Kolleginnen und Kolle-gen der FDP im Konvent gesessen hätten. Dann gäbe eseinen noch stärkeren neoliberalistischen Geist,
der aus meiner Sicht die Fundamente der EuropäischenUnion langfristig zerstört.
Es ist vielmehr nötig – das sollten wir in dieser De-batte ruhig deutlich machen –, dass die EuropäischeUnion endlich ihr soziales Profil schärft. Wir wollennicht alles den Prinzipien des Marktes unterordnen. WirSozialdemokraten stehen für ein soziales Europa mit ge-lebter Solidarität; denn die europäische Integration istdie demokratische Antwort auf die Globalisierung. Des-wegen dürfen wir nicht noch einmal an der Grund-rechte-Charta herumdoktern. Die Grundrechte-Chartaist das Herzstück unseres europäischen Grundgesetzes.Sie begründet maßgeblich unsere europäische Identität.Ich kann der Kollegin Lührmann nur zustimmen: Es istaus meiner Sicht – die Diplomaten dürfen und solltendas nicht sagen; aber ich kann das sagen – nur schwer er-träglich, wie die britische Regierung mit ihrer Salami-taktik gefundene Kompromisse wieder infrage zu stellenversucht. Das ist für uns – in aller Offenheit – inakzep-tabel.
Stures Beharren auf unzähligen nationalen Befindlich-keiten und rote Linien ist ebenso kontraproduktiv wiedas ständige Nachlegen neuer Forderungen.Dann ein Wort zur Preisstabilität. Es wird doch nie-mand hier im Hause behaupten wollen, dass Preisstabili-tät nicht gut sei. Sie ist vor allem für die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer wichtig. Aber man kann esauch übertreiben. In dieser Verfassung ist mehrfach vonPreisstabilität die Rede. Dass man aber die Preisstabilitätvor dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nennenmöchte,dsDtSsRadwmSdEdkfAddgdpfsddgmUagMKmUdzadafG
as ist mit meiner Vorstellung vom Sozialstaatsgebot nurehr begrenzt in Einklang zu bringen.
eswegen: Finger weg von den sozialen Errungenschaf-en dieses Verfassungsentwurfs, für die sich maßgeblichozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Verfas-ungskonvent stark gemacht haben!78 Prozent der Bürgerinnen und Bürger erwarten zuecht, dass das wirtschaftliche Schwergewicht der EUuch außen- und sicherheitspolitisch, das heißt auch aufer internationalen Bühne, endlich handlungsfähigerird. Dafür brauchen wir einen europäischen Außen-inister. Das garantiert uns die europäische Verfassung.ie kann der EU international eine stärkere Stimme unden Bürgern mehr Gewicht geben.Wir kämpfen aber auch für eine Friedensmachturopa. Dass sich das nur schwer mit den Konzeptener CDU/CSU in Übereinstimmung bringen lässt, dürftelar sein. Frau Merkel und Herr Stoiber sind in der Irak-rage einem Irrweg gefolgt. Das kann mal passieren.ber sie bringen nicht den Mut zur Umkehr auf. Das istas eigentlich Bedauerliche.
Der Bundestag versteht sich traditionell als Partneres Europäischen Parlamentes. Kompetenzverlagerun-en nach Brüssel sind daher nur dann akzeptabel, wennas Europäische Parlament gestärkt wird. Das Euro-äische Parlament muss deshalb auch im Haushaltsver-ahren ein gleichberechtigter Partner werden. Wir sindehr erfreut darüber, dass auf der letzten Zusammenkunfter Außenminister ein tragfähiger Kompromiss gefun-en wurde, der auch bei unseren Kolleginnen und Kolle-en im Europäischen Parlament Unterstützung findet.Wir brauchen aber ebenso eine arbeitsfähige Kom-ission mit einem starken Kommissionspräsidenten.nsere Erwartungen – ich glaube, auch darin sind wirlle einer Meinung – sind relativ realistisch. Es geht mirar nicht um die Größe der Europäischen Kommission.ir geht es aber darum, dass möglicherweise jedesommissionsmitglied über ein eigenes Ressort verfügenöchte. Bei begrenzten Kompetenzen der Europäischennion sehe ich darin eine Gefahr; denn die machen sichann ihre Arbeit selbst. Umso wichtiger ist ein durchset-ungsfähiger, integrationsfreundlicher und den Respektller Mitgliedstaaten verdienender Kommissionspräsi-ent. Ich hoffe, dass die Staats- und Regierungschefsuch in dieser Frage eine sehr weise Entscheidung tref-en.
Wir haben in diesem Hause immer wieder über denottesbezug gesprochen. Ich habe da eine etwas andere
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Michael Roth
Auffassung als der geschätzte Kollege seitens der SPD-Fraktion, der vor mir gesprochen hat.
Denn ich weiß, dass eine große Mehrheit der Kollegin-nen und Kollegen dies wünscht bzw. nichts dagegen ein-zuwenden hätte. Die säkularen Kräfte in der EU sind je-doch stark und wir müssen sie respektieren. Bei diesemsensiblen Thema bitte ich Sie – ich weiß nicht, ob Sie esirgendwann in die Diskussion einbringen – um ein StückVerantwortungsbewusstsein; denn ein stures Festhaltenan dieser Forderung könnte die bisher erreichten Erfolgeinfrage stellen. Diese sind maßgeblich auch auf dasEngagement der Bundesregierung zurückzuführen. Wol-len Sie wirklich die Bezugnahme auf das religiöse Erbein der Präambel oder Art. 51, den Kirchenartikel, gefähr-den? Ich halte sie für einen großen Erfolg und deswegensollten wir mit weiteren Forderungen sehr zurückhaltendsein.Seit Beginn der 90er-Jahre fordern wir unablässigtransparente und demokratischere Abstimmungsprinzi-pien für den Rat. Endlich ist ein Durchbruch möglich.Wir haben in Amsterdam vergeblich die doppelte Mehr-heit gefordert und wir haben sie auch in Nizza leider ver-geblich gefordert.
Jetzt gibt es endlich die realistische Chance, sie zu errei-chen. In aller Offenheit und mit allem Respekt gegen-über der polnischen Regierung und vor allem der polni-schen Opposition: Ich glaube nicht, dass Europaernsthaft darüber nachdenken sollte, wie man blockiert.Stattdessen sollte man gemeinsam darüber nachdenken,wie man Europa nach vorne bringt.
Deswegen müssen wir Blockaden überwinden, dieStrukturen im Rat demokratischer gestalten und Europahandlungs- und entscheidungsfähiger machen. Deswe-gen steht das europäische Gesamtinteresse im Vorder-grund.Gelingt der Regierungskonferenz am 17. und 18. Juniein guter Wurf, ist das erweiterte und vereinte Europagestärkt wie nie. Europa wird zunehmend internationalgestalten können, wenn es dann mit einer Stimme nichtnur sein wirtschaftliches, sondern endlich auch sein poli-tisches Gewicht zum Ausdruck bringen kann.Die Tragweite und die Bedeutung dieser Entscheidun-gen sind seit Nizza unverändert geblieben und die Pro-bleme lassen sich nicht durch weiteres Vertagen lösen.Wir müssen jetzt, unter irischer Präsidentschaft, das Pro-jekt vollenden, damit wir uns dann gemeinsam mit derBevölkerung und im Deutschen Bundestag über diesesgroßartige Projekt unterhalten können. Wir müssen denBürgerinnen und Bürgern etwas Positives anbieten.Unsere guten Wünsche begleiten die Bundesregie-rung, den Bundeskanzler und den Außenminister. Wirh1BCwbkSsDgGsnPhcdVdwhbtvhVDAde
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller,
DU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trauenir dem Volk? Diese Frage könnte man über diese De-atte stellen. Ich sage Ihnen: Das Volk ist mindestens solug wie das Abbild des Parlamentes, Herr Roth.
ie liegen sicherlich falsch, wenn Sie diese Frage so aus-chließlich diskutieren, wie Sie es hier tun.Trauen Sie dem Parlament, Herr Außenminister?em Volk trauen Sie jedenfalls nicht; Sie wehren sichegen eine Volksabstimmung, aus Ihrer Sicht aus gutemrunde, weil das Volk Sie mit seinem Votum hinweg-pülen würde. Sie trauen aber auch diesem Parlamenticht. Seit Wochen und Monaten wird über dieses großerojekt einer europäischen Verfassung im Stil von Ge-eimverhandlungen hinter verschlossenen Türen gespro-hen. Unser Außenminister war bisher nicht bereit, voriesem Parlament seine Verhandlungsführung und seineerhandlungspositionen darzulegen.
Das ist die Situation: Diese Regierung traut wederem Volk noch dem Parlament.
Der Verfassungsvertrag ist in vielen Punkten offen. Esäre durchaus notwendig und interessant, in aller Offen-eit einen Dialog über die inhaltlichen Fragen zu führen,ei denen wir etwas bewegen wollen.Herr Außenminister, der europäische Verfassungsver-rag sollte – das war einmal Ihr Ziel – Europa in außen-,erteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragenandlungsfähig machen. Er sollte ein Stück weit mehrergemeinschaftung als Reaktion auf das europäischeesaster beim Irakkrieg bringen und die europäischentwort darauf sein. Nichts ist passiert, Sie haben anieser Stelle versagt. Das, was geschaffen wurde, ist einuropäischer Papiertiger.
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Dr. Gerd MüllerSo kann ich Sie mir als europäischen Außenminister gutvorstellen. Es wird nur neue außenpolitische Bürokratie– diesmal europäische – aufgebaut, aber kein Schritt hinzur Vergemeinschaftung dieses wichtigen Bereiches un-ternommen.
Zweitens wäre es wirklich wichtig, mit dem Volk unddem Parlament über die Frage zu reden: Wollen wirmehr Subsidiarität und Föderalismus im Aufbau diesesEuropa oder wollen wir mehr Zentralisierung und deneuropäischen Superstaat mit einer allgegenwärtigen Zu-ständigkeit? Wir wollen keine Zentralisierung, aber die-ser europäische Verfassungsvertrag bietet leider keinModell einer klaren Kompetenzabgrenzung, damit dieBürgerinnen und Bürger in Zukunft wissen, was Brüsselentscheidet und wen sie dort wählen bzw. wegen be-stimmter Entscheidungen abwählen können, was wirhier in Berlin und was die Landesregierungen beispiels-weise in Düsseldorf oder München entscheiden. Dieswar das Ziel von Laeken. Dieses Ziel wurde leider nichterreicht.Der europäische Verfassungsvertrag schafft leidereine sehr komplizierte Ordnung von ausschließlichen,geteilten und koordinierenden Zuständigkeiten. In die-sem Hohen Hause blickt kaum noch einer durch, in derRegierung sowieso nicht.
Wie soll das Volk dann noch wissen, wer in dieserRechtsordnung wo was entscheidet?
Damit bin ich bei der Frage der Legitimation, HerrRoth, der Urfrage der Demokratie. Wir werden für einenkonkreten Zeitraum von vier Jahren, beim EuropäischenParlament von fünf Jahren gewählt. Danach kann dasVolk sagen: Nein, das war es nicht. Der wird nicht wie-der gewählt. – Das Volk muss aber nachvollziehen kön-nen, welche Entscheidungen getroffen werden. Deshalberhebe ich den Vorwurf von Geheimverhandlungen.Europapolitik muss parlamentarisiert werden, sie mussnachvollziehbar sein. Es kann nicht sein, dass sich heutedie Europäische Union in die Planungen zum Frankfur-ter Flughafen einschaltet. Niemand weiß, wer wo undwarum. Es kann nicht sein – um einen weiteren aktuellenPunkt aufzugreifen –, dass wir heute über Brüssel die le-benslängliche Freiheitsstrafe abschaffen. Wer gibt dennwem in Brüssel dafür die Legitimation, einem Kommis-sar, einem Beamten? Nein, diese Fragen können unddürfen nur von den nationalen Parlamenten entschiedenwerden.Deshalb bringt die CDU/CSU-Fraktion zunächsteinen Vorschlag zur Stärkung der nationalen Parlamenteein. Wir dürfen uns von der europäischen Sekundär-rdzLrnRnPDwvlVdwoEktdwDkisbRtkundNfmmddrnEgdBSwk
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In Satz 4 soll es heißen: Das Nähere regelt ein Bundes-gesetz.Meine Damen und Herren, dann könnten wir sagen,an welchen Stellen wir uns einschalten wollen. WennHerr Schily in Brüssel die Asylrichtlinie verabschiedet,muss er auch hier im Deutschen Bundestag Rechen-schaft ablegen, uns die entsprechenden Dokumente zeit-nah vorlegen und sich unser Votum abholen. Dann ist dieeuropäische Rechtsetzung über die Mitwirkung der na-tionalen Parlamente legitimiert und wir sind nah am Bür-ger. Nur das kann der Weg sein.
Des Weiteren brauchen wir ein nationales Klage-recht, und zwar als Minderheitenrecht. Darüber sind wiruns, glaube ich, ebenfalls im Klaren. Auch brauchen wir– das möchte ich noch einmal verdeutlichen – eine Parla-mentarisierung der Europapolitik; denn Europapolitik istlängst nicht mehr Außenpolitik im Rahmen einer Ge-heimdiplomatie.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
– Ich komme zum Schluss. – Deshalb hatte Bundes-
kanzler Schröder natürlich Recht, als er vor der letzten
Bundestagswahl angekündigt hat, Herrn Außenminister
Fischer durch eine Kabinettsreform die Zuständigkeit für
die Europapolitik zu nehmen. Diesen Schritt würden wir
durchaus begrüßen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Amheutigen Morgen haben wir bereits zwei Debatten ge-führt: diese Europadebatte und die vorherige Debatteüber den Nahen und Mittleren Osten. Das war unter demGesichtspunkt der Glaubwürdigkeit der Oppositionspoli-tik sehr interessant. Im Hinblick auf den Irak wurde derVorwurf erhoben, Kollege Volmer würde Wahlkampfmachen. Man müsse sich moderat verhalten und selbst-verständlich dürften wir nicht daran erinnern, dass FrauMerkel der Meinung war, wir sollten Soldaten in denIrak schicken.
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Als dieser Tagesordnungspunkt endete, trat dann Herrintze auf, der den Menschen in gnadenloser Sachlich-eit verkündete, worum es geht: dass wir bei den anste-enden Europawahlen darüber entscheiden, ob wir vonen Türken überflutet werden. Da wurde auch verkün-et, wir würden Geheimgespräche führen.
s wurde so getan, als hätte die jetzige Bundesregierungine andere Grundlage für ihr Handeln, als es sie in deneiten von Theo Waigel und Klaus Kinkel gegeben hat.iese Grundlage hat sich allerdings nicht geändert. Dasinzige, was sich geändert hat, ist, dass Sie heute in derpposition sind.
Sie, Herr Altmaier und Herr Hintze, klatschen sogaroch, wenn hinsichtlich Art. 23 des Grundgesetzesorstellungen geäußert werden, die, wenn wir sie umset-en würden – das wissen Sie ganz genau –, die Verab-chiedung von der bisherigen Integrationsorientierungicht nur der Regierung Kohl, sondern der gesamtenuropapolitischen Tradition bedeuten würden.
ehmen Sie diesen Herrn von der CSU eigentlich ernst?ch nehme zwar an, dass Sie das nicht tun. Aber wennie ihn ernst nehmen, müssen Sie wissen, dass er euro-apolitische Positionen vertritt, mit denen er näher beien britischen Konservativen um Maggie Thatcher alsei Helmut Kohl, Konrad Adenauer oder wem auch im-er ist.
eswegen sage ich Ihnen: Das, was Sie hier vorgetragenaben, können Sie vergessen. Die direkte Konsequenzavon wäre, dass es nur noch Geheimverhandlungenäbe.
Ich weiß nicht, an wie vielen Ausschusssitzungen undiskussionen wir teilgenommen haben. Kollegeltmaier war sogar Mitglied des Konventes. Bei den jet-igen Verhandlungen ist als Repräsentant des Bundes-ates übrigens immer der zuständige Staatssekretär ausaden-Württemberg anwesend. Offensichtlich ist dieertrauensvolle Beziehung zwischen Bayern und Baden-ürttemberg mittlerweile so zerrüttet, dass er Sie nichtehr informiert.
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Bundesminister Joseph FischerMein Eindruck ist, dass zumindest die BayerischeStaatsregierung hervorragend informiert ist.
Nein, meine Damen und Herren, das zeigt, worum eswirklich geht: Es geht Ihnen ausschließlich um Stim-mungsmache, und zwar um Stimmungsmache – dashätte ich Ihnen von der Union, ehrlich gesagt, nicht zu-getraut – gegen die Verfassung.
Da ist aber meines Erachtens Schluss mit lustig und auchEnde mit Wahlkampf: Das hat nichts mehr mit der Fragezu tun, ob man für oder gegen einen Volksentscheid ist.Die Position, die hier gerade vorgetragen wurde, bedeu-tet doch im Klartext: Wir sagen, dass die Verfassung inRichtung eines europäischen Superstaates geht, einerBeamtenherrschaft.
– Na gut, wenn das Ihre Position ist, dann kann ich Ihnennur sagen: Diese Auseinandersetzung nehmen wir gerneauf.
Was stellen wir denn fest? Sie kommen an und sagen:Die EU-Kommission mischt sich in die Planungen zumFrankfurter Flughafen ein. Es war doch nicht dieKommission, die plötzlich den Bannwald am Frankfur-ter Flughafen als FFH-Gebiet ausgewiesen hat, sondernein Regierungspräsident in Darmstadt, der weder denSozialdemokraten noch den Grünen angehört. Wer hatdenn da die Rechtslage verändert? Es war die hessischeLandesregierung, die zuständige regionale Behörde inPerson des Darmstädter Regierungspräsidenten. Das istbei Ihnen nicht angekommen.Der zweite Punkt in dem Zusammenhang, „Herr-schaft der Beamten“: Die Rechte des Europäischen Par-laments werden, wenn diese Verfassung Wirklichkeitwird, in einem Maße ausgeweitet, wie es bisher noch nieder Fall war.
Alles, was unter das Mitentscheidungsverfahren fällt,betrifft den Rat und das Parlament; das heißt, die Aus-dehnung der Rechte des Parlaments ist massiv. Sie hierim Deutschen Bundestag haben in Zukunft die Subsidia-ritätskontrolle,
und zwar nicht nur abwartend, sondern aktiv – sie liegtbei den Parlamenten der Mitgliedstaaten –, sodass wirhh–nHfomhhnrDtdivdSIW–g–rh–vIwGn
Nix Null Komma null. Dann frage ich Sie, warum Mi-isterpräsident Teufel, Kollege Altmaier und Kollegeintze dies in der Vergangenheit gepriesen haben. Of-ensichtlich befinden Sie sich im Zustand wahlkampf-rientierter Schizophrenie zwischen CDU und CSU. Sieüssten sich da schon einmal einigen.
Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang: Wenn Sieier allen Ernstes sagen, dass die europäische Sicher-eits- und Außenpolitik und der kommende Außenmi-ister mit dem „Doppelhut“ kein Schritt nach vorne wä-en, dann ist das so etwas von daneben! Jeder weiß doch:ie FDP, die CDU, die Grünen und die Sozialdemokra-en, wir alle haben hier dafür gestritten,
ass wir diesen Fortschritt endlich bekommen. Aber wasst mit der CDU? Der Stadtverband München ist ja nunon europäischer Leuchtkraft sondergleichen, wenn manie Dinge so liest, die da bei euch, zwischeninghammer und Müller, so vor sich gehen.
ch kann Ihnen nur sagen: Vergessen Sie all das, das istahlkampf, unterstes Niveau.
Wenn das Thema der Verfassung so angegangen wird,ehört das zur Sache, meine Herren und Damen.
Das können wir so nicht stehen lassen. Mir geht es da-um, aufzuzeigen, wo wir jetzt bei der Verfassung ste-en. Meine Haltung zum Volksentscheid kennen Sie.
Meine Haltung ist die: Wir sollten am Ratifizierungs-erfahren, so wie wir es haben, festhalten.
ch teile diese Meinung mit Hans-Dietrich Genscher; Sieerden es nicht glauben. Meine Fraktion ist, was dierundsätze anbetrifft, anderer Auffassung; ich bin in ei-er Minderheitenposition.
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Bundesminister Joseph Fischer– Was ist für Liberale eigentlich so tragisch daran, sichin einer Minderheitenposition wiederzufinden? SehenSie, ich fühle mich unter diesem Gesichtspunkt wohlbe-hütet von Ihnen.Ich würde das Haus jetzt gerne über den letzten Standder Verhandlungen unterrichten, damit dem Vorwurf derGeheimverhandlungen selbst Schwerhörigen gegenüberdirekt entgegnet werden kann. Wir hatten am letztenMontag die wichtigsten Punkte nochmals aufgerufen.Ich stimme all denen zu, die die irische Präsidentschaftgelobt haben, aber ich möchte nicht versäumen zu sagen:Das alles gründet auf den Vorarbeiten der italienischenPräsidentschaft; auch das will ich hier nochmals aus-drücklich erwähnen. Die irische Präsidentschaft wirdmeines Erachtens einen abschließenden Gesamtentwurfvorlegen, in dem die offenen Fragen behandelt werden.Erstens. Die schwierigste Frage und zugleich diewichtigste Frage der demokratischen Machtverteilung istdas Abstimmungsverfahren. Bei diesem Abstim-mungsverfahren zeichnet sich jetzt ab, dass alle die dop-pelte Mehrheit akzeptiert haben, dass sich der Verhand-lungsspielraum zwischen dem, was vor allen Dingenviele kleinere Mitgliedstaaten wollen – pari/pari, 50/50;Österreich ist hier an erster Stelle zu benennen –, und55/65, dem Ratsvorschlag, bewegt. Ich denke, es ist vonentscheidender Bedeutung, dass wir diesen Schritt jetztgemacht haben, dass die doppelte Mehrheit dem Grundenach akzeptiert ist. Ich glaube auch, wir werden hierletztendlich einen Kompromiss finden können; das istzumindest mein Eindruck aus der Runde der Außenmi-nister. Auch die Gespräche, die der Bundeskanzler inWarschau geführt hat, zeigen, dass sich eine Einigungabzeichnet und, anders als im Dezember, erreichbar ist.Es gibt Überlegungen, den Ratsvorschlag zur Grund-lage zu nehmen. Das hieße, dass man bei der doppeltenMehrheit, der Staatenmehrheit und der Bevölkerungs-mehrheit, ein Bevölkerungsminimum ansetzt.
– Derjenige, der das gerade gesagt hat, ist derjenige, dersich andauernd darüber beschwert, es gebe Geheimver-handlungen. Entscheidend ist doch, dass ich jetzt die Ge-legenheit nutze, das Haus zu unterrichten. Bisher hatteich noch nicht die Möglichkeit, das im Ausschuss zu tun.Ich nehme doch an, dass es Sie interessiert, wo wir vorden entscheidenden Verhandlungen stehen.Bei der Bevölkerungsmehrheit, bei der Staatenmehr-heit ebenso, soll eine entsprechende Klausel vorgesehenwerden, um dem Direktoriumsvorwurf zu begegnen wieauch dem Vorwurf, es könne eine Mehrheit der kleinenStaaten geben ohne ein entsprechendes Minimum an Be-völkerung. Sonst würde der Gedanke der doppeltenMehrheit sinnverkehrt in der Realität umgesetzt. Ichdenke, in diese Richtung wird es gehen. Das wäre mei-nes Erachtens ein echter Schritt nach vorne und würdeeinen erfolgreichen Abschluss ermöglichen.Der zweite Punkt betrifft das Letztentscheidungsrechtdes Parlaments im Haushaltsverfahren. Hierzu hat dieidsVdbwvKPktBhnwSkdEdRgddsdvKsdhhhlclErdshzvhbrstrh
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Das Wort hat der Kollege Guido Westerwelle, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Laufe der Debatte ist mehrfach der Eindruck
erweckt worden, als wäre das, was wir in unserem An-
trag fordern, nämlich über die gemeinsame europäische
Verfassung auch in Deutschland eine Volksabstimmung
zuzulassen, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es
wurde so getan, als sei unser Antrag gegen das Grundge-
setz bzw. gegen dessen Geist gerichtet.
Ein Blick ins Gesetz erleichtert bekanntlich die
Rechtsfindung. Deswegen möchte ich Ihnen Art. 20
Abs. 2 des Grundgesetzes noch einmal vor Augen füh-
ren. Dort heißt es:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … aus-
geübt.
Wir kennen im Grundgesetz übrigens auch ganz kon-
krete Fälle für eine Volksabstimmung. Wenn sich zum
Beispiel zwei Länder neu gliedern wollen – das haben
wir mit Berlin und Brandenburg erlebt –,
dann muss natürlich eine Volksabstimmung durchge-
führt werden. Zwei Länder, die sich zusammenschließen
wollen, müssen also das Volk befragen. Die Eingliede-
rung Deutschlands in eine europäische Staatlichkeit ist
im Vergleich dazu mit Sicherheit weit wichtiger. Des-
halb sollte dazu erst recht das Volk befragt werden.
Herr Minister Fischer, ich kann verstehen, dass die
Kolleginnen und Kollegen der Unionsparteien, die bei
solchen Mitteln der direkten Demokratie seit vielen Jah-
ren eher skeptisch sind, auch hier ihre Skepsis zum Aus-
druck bringen. Abenteuerlich wird es nur dann, wenn
sich die Grünen und die Sozialdemokraten, die bei jeder
Klein-Klein-Frage immer wieder für die Volksabstim-
mung geworben haben,
bei der europäischen Verfassung auf Ihren Standpunkt,
Herr Fischer, disziplinieren lassen.
Die Grünen sind sonst für Volksabstimmungen über je-
den Krötentunnel, bei der europäischen Verfassung sind
sie aber nicht dazu bereit, weil sie Angst vorm Volk ha-
ben. Das ist der falsche Ratgeber.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
ollegen Winkler?
Ja, bitte sehr.
Herr Westerwelle, ganz unabhängig davon, dass ich
icht ganz verstehe, was Sie gegen Krötentunnel haben,
öchte ich Sie etwas fragen.
Man könnte sich vorstellen, dass es im Wahlkampf
uch um populistische Forderungen geht. Das will ich
hnen gar nicht unterstellen. Wieso entwickelt die FDP
ur dann, wenn es um die EU-Verfassung geht, plötzlich
in Liebesgefühl für plebiszitäre Elemente in der Verfas-
ung? Wir haben in unserem Antrag gesagt, dass das
olk selbst entscheiden soll, über welche Themen im
reistufigen Verfahren abgestimmt wird. Es soll also von
nten herauf und nicht vom Bundestag herunter be-
timmt werden, über welches spezielle Thema abge-
timmt wird. Warum haben die wenigen Abgeordneten
er FDP-Fraktion, die an der damaligen Abstimmung
eilgenommen haben, mehrheitlich dagegen gestimmt?
Zunächst einmal ist es gut, dass Sie mir die Gelegen-eit geben, das klarzustellen. Wie jede andere Parteiuch haben wir in den letzten Jahren mehrfach überiese Frage gesprochen. Natürlich haben auch wir denindruck gewonnen, dass die Distanz zwischen der Poli-ik und dem Volk zugenommen hat. Durch mehr Mitteler direkten Demokratie wollen wir diese Distanz zwi-chen den politischen Entscheidern und dem Volk wie-er verringern.Es gibt einen massiven Unterschied zwischen uns,en ich Ihnen auch nennen werde; das braucht man garicht zu verkleistern: Wir Liberale wollen, dass die re-räsentative Demokratie durch direkte Mitwirkungs-öglichkeiten ergänzt und nicht ersetzt wird.
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Dr. Guido Westerwelle
Wir wollen nicht, dass für jede Klein-Klein-Entschei-dung eine Volksabstimmung durchgeführt wird, sondernwir wollen sie bei historischen Schlüsselentscheidungen.Die EU-Verfassung ist eine solche historische Schlüssel-entscheidung.
Der Vorwurf des Populismus ist von Ihnen immerwieder erhoben worden. Der Außenminister spricht vonWahlkampf und Sie sagen, Sie wollten uns keinen Popu-lismus vorwerfen, tun es damit aber. Das ist das üblicheSpiel. Das kennen wir; das ist ein bisschen einfach. Des-wegen möchte ich Ihnen nur einmal sagen, wie die Lagein Europa aussieht: Dänemark, Irland, Luxemburg, dieNiederlande, Polen, Lettland, Frankreich, Österreich,Portugal, Spanien, Ungarn, Tschechien, Slowenien undSlowakei – all diese Länder haben schon beschlossen,dass es dort ein Referendum geben wird, sind dabei, zubeschließen, dass es dort ein Referendum geben wird,oder haben schon die Möglichkeiten dafür geschaffen,dass es dort ein Referendum geben wird. Wollen wir da-bei zusehen, wenn unsere Regierung erklärt, unser Volksei dafür nicht reif genug? Unser deutsches Volk istdemokratisch genauso reif wie all die Staaten in Europa,in denen die Bürger darüber abstimmen dürfen.
Wir wollen, dass abgestimmt wird. Wir sind der Über-zeugung, dass dies ein wesentliches Element ist, um dasThema Europa endlich wieder in die Herzen der Bevöl-kerung hineinzubringen. Das ist unser eigentliches An-liegen. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, dassbei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament inBrandenburg nur 30 Prozent zur Wahl gegangen sind.Das liegt vielleicht auch daran, dass wir selber eine Ent-wicklung bekämpfen müssen, die da heißt: Europa istein Europa der Staatsgipfel. Es muss aber ein Europa derBürgerinnen und Bürger sein. Diese Verfassung solltevom Volk getragen werden.Es war ein Fehler, dass nach der deutschen Einheitüber unser gemeinsames Grundgesetz nicht vom Volkabgestimmt wurde. Eine riesige Mehrheit wäre diesenWeg mitgegangen. Dieser Fehler sollte sich in Europanicht wiederholen.
Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der CDU/CSU-Antrag spiegelt heute weniger die Dis-kNCsemmlrVcEgghtsbFktnksdIWlemzfsupsfssdz6NhHSsntiwr
Es ist schon bedauerlich, dass Sie sich auf den glei-hen Weg wie Ihre CSU-Kolleginnen und Kollegen imuropäischen Parlament begeben, die vor einem Jahr ge-en den Beitritt Tschechiens gestimmt haben. Ansonstenibt es bei Ihnen nur reine Taktik statt europäischer In-alte. Im Straßburger Parlament wurden von der Frak-ion der europäischen Christdemokraten zuerst die engli-chen Konservativen aufgenommen – sie sindekanntlich nicht europäisch –, dann die italienischeorza Berlusconis, die bekanntlich keine Christdemo-raten sind. Ergebnis: eine große Zahl von Abgeordne-en und eine kleine Zahl von Gemeinschaft.Im aktuellen Europawahlkampf fällt Ihnen deshalbichts anderes ein, als Bilder von Angela Merkel zu pla-atieren. Sie hatte bekanntlich im Jahre 2003 ihre Unter-tützung für den Spalterbrief der acht EU-Staaten bekun-et. Sie erinnern sich: Das waren die Kriegswilligen imrak. Heute wollen Sie das nicht mehr wahrhaben.
ürden Sie sich heute weniger von Wahlkampftaktikiten lassen und stattdessen offen argumentieren, soüssten Sie zugeben, dass Sozialdemokratinnen und So-ialdemokraten ebenso wie Grüne heute meist das fort-ühren und erfolgreich weiterbringen, was Sie früherelbst gefordert haben.Ich sage Ihnen: Wenn es heute um Wegmarkierungennd um einen Meilenstein im europäischen Verfassungs-rozess geht, so sind wir als SPD stolz, dazu Wegwei-endes beigetragen zu haben. Schon 1866 im Kaiserreichorderte der ADAV im ersten Wahlprogramm die deut-che Einheit als einen Anfang des solidarischen europäi-chen Staates. 1925 sprach sich die SPD in Weimar fürie Bildung der vereinigten Staaten von Europa aus, umur Interessensolidarität aller Völker zu gelangen. Vor0 Jahren trug eine linke Widerstandsgruppe gegen dieazidiktatur den Namen „Europäische Union“. Ihr ge-örte unter anderem der unvergessene Professor Robertavemann an.1984 formulierte der italienische Sozialist Altieropinelli im Europäischen Parlament den ersten Verfas-ungsentwurf, ein Modell, das alle weiteren konstitutio-ellen Überlegungen inspirierte und auch von den Frak-onen dieses Hauses getragen worden ist. Schließlichurde 1999 auf Initiative von Gerhard Schröder und derot-grünen Bundesregierung mit dem Konvent zur
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Axel Schäfer
Europäischen Grundrechte-Charta der Nukleus für dieeuropäische Verfassung geschaffen.Wir wollen ein europäisches Deutschland. Deshalbmuss die deutsche Europafähigkeit gestärkt werden. Esist notwendig, dass wir uns als Bundestag darüber Klar-heit verschaffen, welche Konsequenzen sich aus der eu-ropäischen Verfassung künftig für unsere Tätigkeiten er-geben. Erstmals werden die nationalen Parlamente mit25 Staaten die Möglichkeit haben, die Einhaltung desSubsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips bei eu-ropäischer Rechtsetzung direkt zu kontrollieren.
Das Protokoll zum Verfassungsentwurf beinhaltet einedirekte Beteiligung der nationalen Parlamente. Da-durch ergeben sich Chancen einer frühzeitigen, kon-struktiven Mitwirkung des Deutschen Bundestages inEU-Angelegenheiten.Der so genannte Frühwarnmechanismus wird ein Ge-staltungsinstrument sein, also ein Instrument zur Ausfor-mulierung europäischer Politik und nicht zur Verhinde-rung. Das sage ich ausdrücklich in Richtung Bundesrat,dessen Bedeutung und Verantwortung in der EU gestärktwerden. Künftig gilt: Das Europäische Parlament, derMinisterrat und die Kommission berücksichtigen die be-gründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamenteder Mitgliedstaaten oder einer der Kammern der nationa-len Parlamente.Die Umsetzung der Bestimmungen der künftigen EU-Verfassung geht mit einer Verbesserung der Europafä-higkeit unseres Parlaments einher. Die SPD hat dazukonkrete Vorschläge erörtert und Ihnen vorgelegt, aufdie Sie gerne eingehen können.Erstens. Das Informationsmanagement unseres Parla-ments muss sich auf die Zuleitung von EU-Dokumentendirekt durch die europäischen Organe einstellen.Zweitens. Angesichts der knapp bemessenen Fristenmüssen relevante EU-Dokumente künftig direkt vomBundestagspräsidenten über den Vorsitzenden des EU-Ausschusses an die Ausschüsse überwiesen werden.Drittens. Eine Vorfeldbeobachtung von europäischenRechtsetzungsvorhaben sowie deren intensive inhaltli-che Beratung sind für uns unabdingbar.Viertens. Im Hinblick auf die knappe Fristsetzungsind auf Grundlage von Art. 45 des Grundgesetzes Rege-lungen zur Abgabe von plenarersetzenden Beschlüssenüber die Subsidiaritätsrüge durch den EU-Ausschussvorzusehen.Fünftens. Der Bundestag selbst muss eine neue Ba-lance zwischen dem Ausschuss für die Angelegenheitender Europäischen Union und den Fachausschüssen beider Subsidiaritätskontrolle schaffen.Sechstens. Der Europaausschuss braucht spezielleBerichterstatter und in den Fachausschüssen brauchenwir EU-Berichterstatter, die gemeinsam europäischeRechtsetzungsvorhaben prüfen.ndefmPeEtunnwdgbeSdsAmmtnWIBkfbwEKugmeibsDwGGVfbv
st es künftig noch akzeptabel, den Bürgerinnen undürgern vor der Wahl nicht zu sagen, wen Sozialdemo-raten, Christdemokraten und Liberale als Kandidatenür die Präsidentschaft der Europäischen Kommissionenennen? Wir müssen alle besser und für Europa fiterden.
ine letzte Bemerkung zum Antrag der Kolleginnen undollegen zur Europäischen Verfassung. Rüdiger Veit hatnsere grundsätzliche Position dargelegt. Ich sage zu-leich, dass wir über dieses Thema weiter diskutierenüssen. Dafür gibt es zwei ganz wichtige Gründe. Zuminen – das ist schon gesagt worden – gibt es tatsächlichn der Mehrheit der EU-Staaten die Diskussion über Ple-iszite. Noch gestern hat ein Abgeordneter der französi-chen Nationalversammlung, ein Christdemokrat, unseutsche danach gefragt, wie es bei uns weitergehenird.Es gibt zum anderen tatsächlich den Art. 146 desrundgesetzes, den Schlussartikel, der besagt, dass dasrundgesetz seine Gültigkeit dann verliert, wenn eineerfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke inreier Entscheidung beschlossen worden ist. Wir habenekanntlich aus respektablen Gründen bisher nicht da-on Gebrauch gemacht.
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Axel Schäfer
Ich betone aber an dieser Stelle: Weimar ist kein Ar-gument gegen Plebiszite, auch wenn das immer wiederbehauptet wird.
Herr Kollege, Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
Europa könnte aber ein gutes Argument für mehr di-
rekte Demokratie sein. Dies ist in der Europäischen
Union nur dann zu realisieren, wenn alle Staaten am sel-
ben Tag über die gemeinsame Verfassung abstimmen.
Dabei gilt: Die Mehrheit ist die Mehrheit der Bürgerin-
nen und Bürger und die Mehrheit der Staaten.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Das ist der europäische Weg, den wir weiterverfolgen
wollen; denn das wichtigste deutsche Interesse gilt der
europäischen Einigung.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren heute erneut über die EuropäischeUnion. Das ist nahe liegend. Denn die EU wurde am1. Mai erweitert; am 13. Juni wird das EU-Parlament ge-wählt und die Verhandlungen über die künftige EU-Ver-fassung laufen noch. Deshalb begrüßt die PDS im Bun-destag diese Debatte.
Uns liegen außerdem zwei konkrete Anträge vor, undzwar einer von der CDU/CSU und einer von der FDP.Insofern können wir konkret zur Sache reden.Der CDU/CSU-Antrag ist der längere, aber mitnich-ten der bessere. Kurz gefasst wollen Sie die EuropäischeZentralbank stärken und vor der Politik schützen. Siewollen eine grundsätzliche Absage an eine EU-Mitglied-schaft der Türkei. Sie wollen obendrein Gottes Segen inder Präambel der Verfassung verankern.Das alles lehnt die PDS im Bundestag ab. Wir wolleneinen Sozialpakt als Basis der künftigen EU. Wir schla-gen niemandem die Tür zur EU zu. Wir wollen eine Ver-fassung, die zusammenführt und nicht trennt.
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Der Antrag der FDP liegt uns näher. Er fordert eineolksabstimmung über die künftige EU-Verfassung.azu muss das Grundgesetz geändert werden. Die PDSst seit Jahren dafür.Wie wir alle wissen – das spielte auch heute in derebatte schon eine Rolle –, ist der neue FDP-Antrag le-iglich die kleinere Variante eines größeren Antrags, derolksentscheide und Abstimmungen auf Bundesebeneuch bei anderen Themen zulässt.
Nun haben heute Morgen sicherlich Millionen Zu-chauer den Abgeordneten Ferber von der CSU im Fern-ehen gehört. Er meinte, der FDP-Antrag sei zu kurz ge-prungen. Er, Ferber, wolle eine europaweite und nichtur eine deutsche Volksabstimmung. Das finde ich au-erordentlich bemerkenswert. Frau Merkel und Herrlos mimen in Europa den großen Springinsfeld, wäh-end ihnen zuhause die Füße einschlafen, wenn es um di-ekte Demokratie geht.So viel Doppelzüngigkeit wie die CDU/CSU prakti-ieren derzeit nur noch die Grünen.
ber auch deren Verwirrspiel ist beeindruckend. Dazuraucht man nur die Reden vom grünen Vorsprecherischer und vom grünen Spitzenmann Cohn-Bendit zuergleichen. Der eine sagt hü, der andere hott. Aber amnde kommt nichts dabei heraus, jedenfalls keine di-ekte Demokratie.Ich könnte in diesem Zusammenhang zelebrieren,as Rot-Grün nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln,aus aus den Kartoffeln“ seit 1998 aufführt, wenn es umehr Demokratie geht. Das ist kabarettreif. Immer,enn es um unverbindliche Versprechen geht, dann sindPD und Grüne dafür. Immer, wenn es zum Schwurommt und um konkrete Beschlüsse geht, dann sind sieagegen.Nun stehen Sie erneut vor der Wahl: Entweder Sieachen sich endlich ehrlich und stimmen mit der PDSem FDP-Antrag zu oder Sie bleiben unglaubwürdignd lehnen auch diesen Antrag ab.Nun noch einmal zu dem Pseudoargument, dass ent-eder alle EU-Staaten abstimmen sollten oder keiner.achdem selbst Großbritannien seine Blockade gegenine Volksabstimmung aufgegeben hat, gehört die Bun-esrepublik zu den wenigen, die sich noch immer ver-eigern. Das ist die Lage. Sie ist alles andere als einemokratisches Aushängeschild für die Bundesrepublik.
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Petra PauIch weiß, dass das Tradition hat. Schon 1990 haben dieCDU/CSU und die Mehrheit der SPD eine Volksabstim-mung über die deutsche Verfassung abgelehnt, obwohlsie im Grundgesetz angelegt ist. Aber ein Fehler wirdnicht besser, wenn man ihn ständig wiederholt.Schließlich darf ich noch daran erinnern, dass einedeutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland füreine Volksabstimmung ist. Die PDS hat das immer ge-fördert und wir werden den FDP-Antrag noch ergänzen.Wir schlagen Volksabstimmungen über die künftige EU-Verfassung für den 8. Mai 2005 vor. Das wäre ein guteshistorisches Datum und das wäre einem friedlichenEuropa würdig.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istschon erstaunlich, mit welcher Nonchalance und ge-pflegten Langeweile bisweilen über das Thema europäi-sche Verfassung diskutiert wird. Das beginnt schon beider Debatte über ein Referendum. Hier verfahren man-che nach dem Motto: Bei der EU-Verfassung kann manes mit einem Referendum ruhig einmal probieren. Wennes sich bewährt, kann man auch über die innerstaatlicheAnwendung nachdenken. Die FDP schließt ein Referen-dum über innerstaatliche Themen sogar ausdrücklichaus. Ich sage Ihnen: Europa ist kein Spielfeld für Experi-mente, für die uns die nationale Politik zu schade ist.
Der Verfassungsvertrag ist kein dritt- oder viertklassi-ges Thema, sondern eines der zentralen Zukunftsthemender europäischen Politik. Er wird zwar die staatliche unddie verfassungsrechtliche Qualität Europas nicht verän-dern. Aber für die Zukunftsfähigkeit Europas ist das In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages unabdingbar.
Ein gescheitertes Referendum in einem einzigen Mit-gliedstaat – das wissen Sie genauso gut wie wir – verzö-gert das In-Kraft-Treten der Verfassung um Monate,Jahre oder vielleicht sogar für immer. Das ist doch derentscheidende Punkt!Die Bürger in Dänemark und Irland, wo das Referen-dum verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, entschei-den mit dem Referendum über den Verfassungsvertragnicht nur über ihr eigenes Schicksal, sondern auch überdie Zukunft von 450 Millionen Europäern. Es gibt fürden Fall, dass es schief geht, keinen Plan B in der Schub-lade. Nicht einmal der Bundesaußenminister, der sichsonst die Lösung aller Probleme dieser Welt zutraut, hatansatzweise eine Idee, wie Europa aus seiner Verfas-sungskrise herausfinden soll, wenn keine Verfassung zu-stande kommt. Mit dem Vertrag von Nizza können wirdie Zukunftsaufgaben jedenfalls nicht bewältigen.itKsBsksvwVaawstSsKhrdISsigMrdKSsvfüBLiedDddvwq
Ich persönlich meine, dass wir über den französischenorschlag nachdenken sollten, wonach die Verfassung inllen Ländern, in denen das parlamentarisch möglich ist,m gleichen Tag ratifiziert werden sollte. Ich glaube, dasäre ein wichtiges Signal, dass es hier um die gemein-ame Verantwortung aller Europäer und nicht nur um na-ionale politische Entscheidungen geht.Ich bin kein Anhänger von Pessimismus undchwarzmalerei, wenn es um die europäische Verfas-ung geht. Ich gebe nur Folgendes zu bedenken: Frauollegin Schwall-Düren und der Kollege Röttgen, dieeute an dieser Debatte teilgenommen haben, sind he-ausragende Mitglieder der Föderalismuskommission,ie eine innerstaatliche Reform zustande bringen soll.ch wünsche der Föderalismuskommission alles Gute.ie kann mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, was Ge-etz bzw. Verfassung in Deutschland werden soll. Wennch aber sehe, wie mühsam und schwierig die Beratun-en der Föderalismuskommission im Detail trotz dieseröglichkeit sind und wie viele hohe Erwartungen be-eits nach unten korrigiert worden sind, dann meine ich,ass sich der Verfassungsentwurf, den der europäischeonvent vorgelegt hat – wohl wissend, dass er von allentaaten einstimmig gebilligt werden muss –, sehen las-en kann. Es ist ein anständiger und guter Entwurf.
Weil das so ist, ist es unsäglich, wie dieser Entwurfon kleinkarierten Erbsenzählern in der Regierungskon-erenz zerredet und zerfleddert wird:
berall rote Linien, Bedenken, Vetodrohungen. Herrundesaußenminister, Sie haben einmal gesagt: Mit deneftovers der Leftovers muss endgültig Schluss sein. Esst absehbar, dass es, auch wenn Sie sich am 18. Juniinigen – ich wünsche Ihnen, dass Sie es tun –, wiederie Leftovers der Leftovers der Leftovers geben wird.enn in einem für die Handlungsfähigkeit und auch fürie Legitimation Europas zentralen Punkt, nämlich iner Frage der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen,erläuft die Entwicklung schlecht. Nach allem, was wirissen, ist der Übergang von der Einstimmigkeit zurualifizierten Mehrheit in vielen Bereichen in Gefahr.
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Peter AltmaierBei den Dienstleistungen, bei den unlauteren Steuerprak-tiken, bei der finanziellen Vorausschau, bei den Modali-täten des Eigenmittelbeschlusses, in wichtigen Fragenim Bereich von Innerem und Justiz: Überall droht unsder Rückfall in die alte Einstimmigkeit, damit in dieHandlungsunfähigkeit und in die Erpressbarkeit.Herr Bundesaußenminister, was den Kompromiss, derin Bezug auf die doppelte Mehrheit erzielt werden wird,angeht: Ich erkenne die Bemühungen aller, die sich dafüreingesetzt haben, an. Aber eines ist doch auch richtig:Besonders groß ist der Fortschritt gegenüber Nizza nichtmehr; denn überall haben sich diejenigen durchgesetzt,die ihre Blockademinderheiten schützen wollen, die er-reichen wollen, dass sie ihre heiligen Kühe nichtschlachten müssen. Das führt dazu, dass die EuropäischeUnion insgesamt handlungsunfähiger wird.Herr Bundesaußenminister und lieber Michael Roth,kommen Sie mir jetzt nicht mit den Polen, den Spaniernund den Briten, die angeblich allein die bösen Bubensind. Was nutzen uns denn die enge Freundschaft desBundeskanzlers mit Herrn Blair, die Schröder/Blair-Pa-piere, die Absichtserklärungen und die gegenseitigenBesuche, wenn es weder bei der Irakfrage noch bei derVerfassungsfrage möglich war, zu einer deutsch-briti-schen Position zu gelangen? Was nutzt uns das Weima-rer Dreieck, das Polen, Deutschland und Frankreich bil-den, wenn im entscheidenden Moment vor demScheitern des Brüsseler Gipfels Funkstille herrschte?Wir haben im Konvent doch auch mit den britischen undden polnischen Kolleginnen und Kollegen einen Kon-sens erzielt. Allerdings haben es die Regierungen dannnicht geschafft, diesen Konsens in die Regierungskonfe-renz hinüberzuretten.Es ist oft gesagt worden: Rom ist nicht an einem Tagerbaut worden; es ist besser, jetzt eine schlechte Verfas-sung als gar keine Verfassung zu verabschieden. Ichmeine, wir sollten jetzt nicht schon wieder damit anfan-gen, in Kauf zu nehmen, dass die neue Verfassung inzwei oder drei Jahren geändert werden muss. Wir habenuns dafür entschieden, den Bürgerinnen und Bürgern einklares und deutliches Signal zu geben. Mit dieser Verfas-sung will Europa seine Zukunftsfähigkeit sichern. Dasbedeutet: Wir dürfen ihnen jetzt, noch bevor die Verfas-sung überhaupt ratifiziert ist, nicht schon wieder mit Än-derungen drohen.
Am 13. Juni ist Europawahl. Die Wahlbeteiligunggeht in allen europäischen Ländern auch deshalb zurück,weil die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben,dass es auf ihre Stimme nicht wirklich ankommt. Wederentscheiden sie über ihre Regierung noch haben siesichtbaren, nachvollziehbaren Einfluss auf die BrüsselerPolitik. Herr Bundesaußenminister, ich mache Ihnen ei-nen Vorschlag: Die Bundesregierung sollte sich ver-pflichten, bei der Wahl des neuen Kommissionspräsiden-ten, die am 18./19. Juni ansteht, keinen Vorschlag zuakzeptieren, der nicht über eine Mehrheit im neu ge-wählten Europäischen Parlament verfügt. Das wäre einwichtiger Schritt auf dem Weg, die Europawahl zu einerwirklichen Entscheidung über Europa zu machen.dMfv1eaWWwsaeIsdsfFAgdh
Groneberg, Karin Kortmann, Dr. Axel Berg, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so-wie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck , weitererAbgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENGlobale Zukunftssicherung durch die Förde-rung erneuerbarer Energien in Entwicklungs-ländern vorantreiben– Drucksache 15/3212 –b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht über die Bestandsaufnahme durch dieDeutsche Energie-Agentur über denHandlungsbedarf bei der Förderung des Ex-portes erneuerbarer Energietechnologien– Drucksache 15/1862 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungc) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über den Nationalen Zuteilungsplan fürTreibhausgas-Emissionsberechtigungen in der
– Drucksache 15/2966 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksachen 15/3224, 15/3237 –Berichterstattung:Abgeordnete Ulrich KelberMarie-Luise DöttDr. Reinhard LoskeBirgit HomburgerZu dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes liegen jeein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSUund der Fraktion der FDP vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der kommenden Woche ist es so weit: Die Internatio-nale Konferenz für Erneuerbare Energien findet inBonn statt. Vom 1. bis 4. Juni werden sich auf Einladungvon Bundeskanzler Gerhard Schröder mehr als 100 Mi-nister und Ministerinnen sowie mehr als 120 Delegatio-nen auf Ziele zum weltweiten Ausbau der erneuerbarenEnergien und zur Steigerung der Energieeffizienz ver-ständigen. Zahlreiche nationale und internationale Un-ternehmen, Nichtregierungsorganisationen, die Welt-bank und UN-Organisationen werden vertreten sein.Warum richten wir, das Bundesentwicklungsministe-rium und das Bundesumweltministerium unter Leitungmeines Kollegen Jürgen Trittin, diese Konferenz zusam-men aus? Deutschland ist Vorreiter in der Nutzung er-neuerbarer Energien und der Steigerung der Energieeffi-zienz. Nicht nur angesichts hoher Ölpreise, die unsereund alle Volkswirtschaften belasten, haben wir schonlange die Perspektive für eine neue Energiezukunft ent-wickelt und unsere Politik entsprechend ausgerichtet.Diese Energiewende kann aber nur nachhaltig sein,wenn sie global ist; denn wegen der Emissionen und desWettlaufs um knappe fossile Ressourcen gibt es für alleMkezudedEldgswAwmtelzgwLSsnwEWnHubnnCMnguthwguEwzgu
Die Konferenz verfolgt drei Ziele. Erstens. Es wirdine gemeinsame politische Erklärung geben, in der sichie anwesenden Regierungen ihrer Vision einer neuennergiezukunft versichern. Das gemeinsame Ziel sollauten: Bis zum Jahr 2015 soll 1 Milliarde Menschen,ie bisher keinen Zugang zu moderner Energieversor-ung haben, mit Energie aus erneuerbaren Quellen ver-orgt werden, damit sie aus der Energiearmut geholterden.
Zweitens. Auf der Konferenz soll ein gemeinsamesktionsprogramm verabschiedet werden, in dem alle an-esenden Regierungen darlegen, mit welchen Program-en und Zielen sie zu dieser neuen Energiezukunft bei-ragen werden.Ein drittes Dokument wird ganz praktische Politik-mpfehlungen dazu enthalten, wie auch Entwicklungs-änder verstärkt erneuerbare Energien einsetzen und nut-en können.Die Argumente für die erneuerbaren Energien sinderade für Entwicklungsländer überzeugend. Wir alleollen, dass die Entwicklungsländer die Armut in ihrenändern bekämpfen. Wir alle wollen, dass Kinder in diechule gehen können, dass Menschen in Krankenhäu-ern versorgt werden und dass Handwerker Maschinenutzen können. Das geht aber nur, wenn es Wirtschafts-achstum gibt, wenn Menschen Zugang zu modernernergieversorgung erhalten. Bisher hat ein Drittel derelt, 2 Milliarden Menschen, keinen Zugang zu moder-er Energie. Armutsbekämpfung geht aber Hand inand mit Energieversorgung. Deshalb – da dürfen wirns nichts vormachen – wird der weltweite Energiever-rauch steigen, während gleichzeitig die Ölreserven ab-ehmen. Noch verbraucht ein US-Bürger im übertrage-en Sinne über 13-mal so viel Erdöl wie ein Mensch inhina und über 26-mal so viel wie ein in Indien lebenderensch. Das wird sich ändern. Auch Chinas Nachfrageach Öl ist in den letzten drei Monaten um 18 Prozentestiegen.Dabei ist aber eines klar: Entwicklungsländer dürfennd wollen nicht die Fehler wiederholen, die die Indus-rieländer bisher bei ihrer Energieversorgung gemachtaben, denn das hält unser Globus nicht aus. Der Klima-andel würde sich dann noch weiter beschleunigen. Esibt also keine Alternativen zu erneuerbaren Energiennd zur Steigerung ihrer Effizienz. Außerdem bringt derinsatz erneuerbarer Energien riesige Vorteile für Ent-icklungsländer mit sich. Dieser leistet einen Beitragur Armutsbekämpfung, wirkt dem Klimawandel entge-en und macht alle Volkswirtschaften, die der Industrie-nd der Entwicklungsländer, unabhängiger vom Öl.
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-ZeulHierfür ein Beispiel: Allein die Haushalte von Ent-wicklungsländern würden um 60 Milliarden US-Dollarentlastet – eine gigantische Summe –, wenn sie nicht dieMehraufwendungen für den gestiegenen Ölpreis zu tra-gen hätten. Übrigens ist der Betrag fast so hoch wie dieSumme der Gelder, die von den Geberländern für offi-zielle Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet wird.Sie sehen also, welchen Spielraum die Haushalte vonEntwicklungsländern durch höhere Unabhängigkeit vomÖl erhielten.
Viertens. Erneuerbare Energien schaffen qualifizierteArbeitsplätze, hier und in den Partnerländern. Sie sindüberall verfügbar. Es gibt keine Kämpfe um sie. Außer-dem sind sie dezentral einsetzbar; das ist besonderswichtig für die Versorgung ländlicher Regionen, in de-nen es keine Stromnetze gibt. Wir als Bundesregierunghaben – so hat es Bundeskanzler Schröder im Jahre 2002in Johannesburg auch zugesagt – für fünf Jahre, vomJahr 2003 bis zum Jahr 2007, den Partnerländern rund1 Milliarde Euro zur Förderung erneuerbarer Energienund zur Steigerung ihrer Effizienz zugesagt. Das Ent-wicklungsministerium ist augenblicklich mit 157 Vorha-ben in 39 Ländern aktiv. Das heißt, Deutschland kündigtseine Verpflichtungen an; es löst aber seine Verpflichtun-gen auch ein. Und diese Verpflichtungen liegen imwahrsten Sinne des Wortes auch in unserem eigenen In-teresse; denn auch wir wollen davon profitieren, dass derKlimawandel aufgehalten oder ihm wenigstens entge-gengewirkt wird.Auf der Konferenz in Bonn werden wir weitere Initia-tiven vorstellen. Wir werden, wie wir es nennen, eineReihe von Leuchttürmen für den deutschen Aktions-plan beisteuern: eine Initiative „Geothermie für Ent-wicklung“, eine afghanisch-französisch-deutsche Initia-tive „Nachhaltige Energie für Wiederaufbau undEntwicklung“, Public Private Partnerships für nachhal-tige Energie zur Unterstützung kleinerer und mittlererEnergieunternehmen in Subsahara-Afrika sowie eineEnergiepartnerschaft zwischen unserem Ministeriumund der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, um indieser Region den Ausbau erneuerbarer Energien voran-zubringen.Fünftens und letztens: Wir drängen darauf, dass dieWeltbank eine Bank zur Förderung erneuerbarer Ener-gien wird. Bisher haben diese bei ihr nur einen Anteilvon 6 bis 10 Prozent. Das ist absolut unzureichend. Wirwollen, dass dieser Anteil drastisch gesteigert wird. Da-mit könnte eine deutliche Stärkung der Förderung erneu-erbarer Energien in der Welt bewirkt werden.
Zum Schluss, Frau Präsidentin. Nach einer aktuellenUmfrage vom Mai dieses Jahres sind in Deutschland lautAllensbach 62 Prozent der Befragten für eine verstärkteFörderung der Energie aus Sonne, Wind und Wasser.Deshalb ist meine feste Überzeugung: Erneuerbare Ener-gien sind die Energieform der Zukunft. Wir haben aufdgFlihnsdu2EugtawmBdwdKbrLdddsAngphgWnÄKcet
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnennd Kollegen! Ich glaube, dass wir mit dem gerade an-esprochenen Thema, das Frau Wieczorek-Zeul einlei-end behandelt hat, eines der wesentlichen Instrumenteufgreifen, die wir in Zukunft nutzen müssen, um welt-eit zu mehr Klimaschutz und Klimavorsorge zu kom-en. Deshalb werden wir bei dieser Konferenz unsereneitrag leisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass dabeiie internationalen Aspekte besonders berücksichtigterden.Lassen Sie mich hinzufügen, dass wir aber natürlicharauf achten werden, dass wir zur Gesamtlösung derlimaschutzproblematik eine Effizienzverbesserungei allen Energieträgern weltweit brauchen. Nach unse-er Auffassung können wir einen wirklichen Beitrag zurösung des Klimaproblems, das eine echte Bedrohungarstellt und deshalb dringend gelöst werden muss, nuradurch leisten.Wir müssen uns heute gleichzeitig mit der Einführunges Emissionshandels und dessen Kernstück, dem Ge-etz über den Nationalen Zuteilungsplan, den Nationalenllokationsplan, auseinander setzen. Dieses Gesetz isticht nur ein umweltpolitisches, sondern es hat auchanz erhebliche Bedeutung in Bezug auf die Arbeits-lätze und die wirtschaftliche Entwicklung. Deshalbätte ich mir eigentlich gewünscht, dass wir mehr Zeitehabt hätten, uns mit diesem Gesetz hier zu befassen.
enn das Gesetz so durchgepeitscht wird, dass manicht einmal zwei Stunden Zeit hat, um ganz wesentlichenderungsanträge von gravierendster Bedeutung imontext einigermaßen durchzuprüfen, wird das der Sa-he nicht gerecht.
Auch Ihren Hinweis, dass Sie auf europäischer Ebeneine Verpflichtung eingegangen sind, kann ich nicht gel-en lassen, wenn ich im internationalen Vergleich sehe,
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Dr. Klaus W. Lippold
dass nur vier Länder der Europäischen Union ein solchesGesetz pünktlich eingereicht haben. Ich kann das auchdeshalb nicht gelten lassen, weil Sie sich bei der Erfül-lung anderer EU-Zielsetzungen, zum Beispiel dem Sta-bilitätsgesetz, nicht nur Zeit lassen, sondern die Rege-lungen dieses Gesetzes bewusst übertreten und sagen,dass Sie sie auch in Zukunft übertreten werden. Hierwäre mehr Zeit angebracht gewesen, um eine Verbesse-rung der Situation zu erreichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Um-setzung des Emissionshandels hat die Union besonderenWert darauf gelegt, dass der Aspekt, dass vorsorgenderUmweltschutz mit Wirtschaftswachstum und Arbeits-platzsicherung vereinbar ist, in den Vordergrund gestelltwird. Ich sage ganz deutlich, dass wir sehr zufriedensind, dass es gelungen ist, im Treibhausgas-Emissions-handelsgesetz einen Passus zu verankern, der für neu zugründende Unternehmen ebenso wie für Betriebserwei-terungen hinreichend Emissionsberechtigungen vorsieht.Das bedeutet, dass es auch in Zukunft keine Behinderun-gen geben wird, wenn sich neue Unternehmen inDeutschland ansiedeln wollen und Arbeitsplätze schaf-fen wollen oder wenn bestehende Unternehmen ihrenBetrieb erweitern wollen.Wir waren ganz eindeutig der Meinung, dass die vonIhnen bisher vorgesehene Reserve dafür nicht ausreicht,vor allen Dingen weil wir nach wie vor einen Berg vonmindestens 4,5 Millionen Arbeitslosen zu bewältigenhaben, was mit einer so knappen Reserve nie hätte gelin-gen können.
Wir werden natürlich auch deutlich machen, dass eswichtig ist – wir sind uns nach den bisherigen Prüfungenaber nicht ganz sicher, ob das erreicht wurde –, Wettbe-werbsnachteile gegenüber dem europäischen Auslandauszuschalten. Wir müssen deutlich sagen, dass das Ge-setz, wie Sie es gestaltet haben, für eine Reihe von Bran-chen zu ganz erheblichen Schwierigkeiten führt. Dabeihandelt es sich um Branchen wie zum Beispiel dieZementindustrie, die in Deutschland wesentlich moder-nere Anlagen, als sie weltweit zu finden sind, betreibt,was zu wesentlich höheren Emissionsminderungenführt. Trotzdem wird dieser Industriezweig mit Auflagenkonfrontiert, die er nicht erfüllen kann. Wenn die Konse-quenz aus dem Gesetz ist, dass in Deutschland keine An-lagen mehr gebaut werden oder Anlagen stillgelegt wer-den, dann muss man sagen, dass dies nicht demUmweltschutz dient; denn Anlagen in anderen Ländernweisen wesentlich stärkere Emissionen auf. Deswegenmuss dieser Teil genau überdacht und geprüft werden.
Wir hatten bei Ihnen gelegentlich durchaus den Ein-druck, dass die Vorstellung für Sie nicht unangenehmwäre, wenn es in Deutschland bestimmte Industrie-zweige nicht mehr geben würde. Es gäbe dann die ent-setwnwpBdwrDgztAAEgRdIdlhkdgMsisDhDgZSdbiebrSpePenc
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Dieser Grüne sagt aber, dass Sie in Ihrer ideologischenFestlegung auf den Kernenergieausstieg „misleaded“– auf gut Deutsch: irregeleitet – sind. Ich kann mich demnur anschließen. Angesichts dessen, dass es in diesemLand 84-Jährige gibt, die die geistige Beweglichkeit ha-ben, bei der Anpassung an neue Probleme mit neuenAntworten zu arbeiten, sollten auch Sie, die Sie die 84noch nicht erreicht haben, die nötige Flexibilität besit-zen, um sich entsprechend anzupassen.
Mein letzter Satz. Manchmal weisen Ihnen ja die in-ternationalen Gurus den Weg. Ich erinnere mich daran,dass Sie uns in früheren Jahren, wenn wir über nach-wachsende Wälder und Holzplantagen gesprochen ha-ben, abgebürstet haben. Als dann Ihr anderer Guru ausBrasilien, Lutzenberger, der frühere Umweltminister vonBrasilien, gesagt hat, dies sei ein sinnvolles Instrument,da konnten wir beobachten, dass Sie Ihre Denke geän-dert haben. Ändern Sie jetzt Ihre Denke, da ein andererGuru sagt, was richtig ist! Das wird Ihnen gut tun unddas wird auch unserem Land nutzen.
Ich werde einmal eine Doktorarbeit über die Längeder letzten Sätze schreiben. Das wird lustig.
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister JürgenTrittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ei-nen halten sich wie Herr Lippold an Gurus. Manche ge-hen ins Kino und schauen sich „The Day after Tomor-row“ an. Ich glaube, wir sind uns aber darin einig, dasswir im Klimaschutz vorankommen müssen und dassbeim Thema Klimaschutz die Energiewende eine ganzzentrale Rolle spielt. Hier hat die Koalition in den letztenJahren entscheidende Weichen gestellt: von der Öko-sgzzWnzlnDWfdmhel21dgrMdwzdaEzwgktAans1BEbHjeeCdB
ir rechnen mit Einsparungen von 500 Millionen Euroür die Unternehmen in den ersten beiden Handelsperio-en. Aber er ist auch ein Paradigmenwechsel; denn erst-alig wird der Ausstoß von CO2 absolut gedeckelt. Wiraben mit dem Entwurf, den wir hier vorgelegt haben,rneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutsch-and beim Klimaschutz unterstrichen.Wir sind auf dem Weg der Zielerfüllung sehr weit. Bis012 müssen wir den CO2-Ausstoß noch um7 Millionen Tonnen reduzieren. Wir haben, obwohl wiriesen Weg schon ein ganzes Stück zurückgelegt haben,esagt: Wir wollen, dass schon in der ersten Handelspe-iode – damit unterscheiden wir uns von vielen anderenitgliedstaaten in der Europäischen Union – auch voner Industrie und dem Verkehr Reduktionen erbrachterden. Wir haben einen Erfüllungsfaktor von 2,91 Pro-ent.Wir belohnen den Ersatz alter Technik durch mo-erne, effizientere Technik und machen im Gegenzuglte Technik unrentabel. Braunkohlekraftwerke mit einerffizienz von 32 Prozent und weniger müssen ab 2010usätzlich um 15 Prozent reduzieren.Sie sehen: Schon vor In-Kraft-Treten dieses Gesetzesirkt die Mischung aus Übertragungsregel und Malusre-el. Es wird bei Grevenbroich ein neues Braunkohle-raftwerk geben. Diese Anlage wird 45 Prozent effizien-er sein als die dafür im Gegenzug stillzulegendennlagen der RWE in Frimmersdorf. Deutschland spartllein dadurch 2 Millionen Tonnen CO2 ein. Ich sage Ih-en: Das ist ein Ergebnis der ambitionierten Klima-chutzpolitik dieser Koalition.
In der nächsten Woche werden 1 000 Delegierte und000 Delegationsmitglieder aus über 100 Staaten nachonn kommen, um diese in Deutschland vollzogenenergiewende zu besichtigen. Dabei stehen die erneuer-aren Energien im Mittelpunkt. Sie sind in dreifacherinsicht eine Win-win-Option:Sie tragen nachhaltig zum Klimaschutz bei. Bereitstzt werden dadurch 53 Millionen Tonnen CO2 pro Jahringespart. Im Jahr 2010 werden es 85 Millionen TonnenO2 sein. Die erneuerbaren Energien bringen Dynamik inen Arbeitsmarkt und steigern die Wettbewerbsfähigkeit.ereits heute arbeiten in Deutschland 120 000 Menschen
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Bundesminister Jürgen Trittinin dieser Branche. Gutachter und Wissenschaftler sagen,wenn sich unser heutiger Umsatz in Höhe von10 Milliarden Euro in Deutschland und aufgrund derExportchancen, die die erneuerbaren Energien eröffnen,vervierfacht, dann können bis zu 400 000 Menschen imJahr 2020 in dieser Branche Beschäftigung finden.In diesen Tagen, in denen einige ihr Auto wegen dersteigenden Ölpreise mit Aufklebern verunzieren, ist ei-nes besonders wichtig: Die erneuerbaren Energien ver-mindern die Abhängigkeit unserer Gesellschaft und un-serer Wirtschaft von diesem einzigen Gut, dem Öl.
Aus diesem Grund sagen wir: Wir müssen diese Tech-nik weltweit voranbringen. Eine sichere Zukunft, auchim Sinne von Sicherheitspolitik, beruht auch auf demmassiven Ausbau der erneuerbaren Energien. DieseEnergien müssen aber billiger und wettbewerbsfähigerwerden. Deshalb hat der Bundeskanzler auf dem Welt-gipfel für nachhaltige Entwicklung gesagt, wir wollen inden nächsten fünf Jahren eine halbe Milliarde Euro zurFörderung von erneuerbaren Energien in den Entwick-lungsländern ausgeben. Allein im letzten Jahr wurdenZusagen für neue Projekte in einer Größenordnung vonungefähr 100 Millionen Euro gemacht.Deswegen beteiligt sich die Bundesrepublik Deutsch-land an der Global Market Initiative zum Bau von5 000 Megawatt solarthermischer Kraftwerke im Son-nengürtel der Erde und deswegen fördern wir über In-strumente wie das EEG die Technologieentwicklung inDeutschland, dabei haben wir insbesondere die Massen-produktion im Blick. Ich will auf eines hinweisen: In denletzten Jahren hat sich in Deutschland nicht nur die Pho-tovoltaikleistung versechsfacht, sondern im gleichenZeitraum sind die Kosten für die einzelnen Einheitenauch um 40 Prozent gesunken.Solche Initiativen und Vorstöße sollen auf der Konfe-renz „Renewables 2004“ in Bonn das Aktionsprogrammprägen. Wir wollen den allgemeinen Satz „Der Ausbauder erneuerbaren Energien soll signifikant gesteigertwerden“ mit einem konkreten Aktionsprogramm undkonkreten Finanzzusagen und Zielsetzungen, wie sie dieEU und Südamerika verwirklicht haben, unterlegen. Dasist eine gewaltige Aufgabe. Aber wir wollen unser Zielerreichen, ungefähr 1 Milliarde Menschen in den nächs-ten Jahren Zugang zu Energie zu verschaffen. Die Ener-giewende in Deutschland belegt: Effizienz, Energiespa-ren und erneuerbare Energien helfen dem Klima,modernisieren den Standort Deutschland und stärken un-sere Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Sinne freue ichmich, Sie alle in der nächsten Woche in der UN-Stadt be-grüßen zu dürfen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
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it dem Clean Development Mechanism und deroint Implementation haben wir Möglichkeiten, in Ent-icklungs- und Schwellenländern zu investieren, weilort eine Reduktion der Emissionen von CO2 zu deutlicheringeren Kosten möglich ist. Da Emissionen an denrenzen nicht Halt machen, wäre es sinnvoll, dort zu in-estieren, weil wir für die Verbesserung des Weltklimasadurch deutlich mehr erreichen können.
Da – das muss ich Ihnen sagen – verweigern Sie sichach wie vor. –
ie verhindern damit auch den Technologietransfer inntwicklungsländer. Sie entwickeln in Ihrem Entwick-ungshaushalt Spezialprogramme; aber Sie müssen dieinge verknüpfen. Dann wären sie sehr viel effizienternd wirkungsvoller. Sie haben damit die Chance nichtur für den Technologietransfer in Entwicklungs- undchwellenländer verpasst, sondern auch für eine Export-ffensive für erneuerbare Energien aus Deutschland. Da-ür tragen Sie die Verantwortung.
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Birgit HomburgerIch möchte Ihnen auch sagen, dass ich es noch vielschlimmer finde, dass Sie das offensichtlich auch jetzt,wo es einen gemeinsamen Standpunkt des EuropäischenRates darüber gibt, dass diese Instrumente mit dem euro-päischen Emissionshandel verknüpft werden sollen, alsomithin Kostenreduktionspotenziale auch für den Emis-sionshandel in Europa und in Deutschland erschlossenwerden sollen, wieder nicht in das Gesetz aufnehmen. Esist klar, welche Entwicklung es in Europa geben wird.Lassen Sie es uns einfach machen! Dass Sie das nichtmachen und auch nicht vorsehen, können wir nicht ak-zeptieren. Das bedeutet eine eklatante Wettbewerbsver-zerrung, die wir nicht akzeptieren werden. Sie werdenvon Europa gezwungen werden, das in Deutschland ein-zuführen.
Ein weiterer Punkt, Herr Trittin: Bei der heutigen Dis-kussion über die Einführung des Emissionshandels gehtes um nicht weniger als die Umstellung in der Umwelt-politik von der bisherigen reinen Ordnungspolitik hinzu einem marktwirtschaftlichen Instrument. Das ist einganz wichtiger Prozess und etwas derart Neues, dassman die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren daraufhätte vorbereiten müssen. Das haben Sie verpasst. Bisherdachten wir, Sie hätten das verschlafen. Seit dieser Wo-che wissen wir aber, dass es wohl Absicht war. Wie an-ders erklären Sie die Art und Weise, wie Sie vorgegan-gen sind? Sie haben ein beispielloses Chaos angerichtet.Bis kurz vor der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfesheute hier, bis kurz vor der Beratung im Umweltaus-schuss haben Sie einen Änderungsantrag nach dem an-deren mit hektischen Verschlimmbesserungen gestellt,
sodass es zum Schluss Dienstagnacht fünf Pfund Ände-rungsanträge gab, mit denen Sie nahezu alle Paragra-phen Ihres eigenen Gesetzentwurfes geändert haben.Das ist die Realität und das ist keine angemessene Vor-gehensweise bei der Einführung eines so wichtigen In-struments.
Das macht eine seriöse Beratung unmöglich und – dasist noch viel schlimmer – es schafft eine Situation, in derselbst Experten nicht mehr sagen können, wie sich dasGesetz auf betroffene Unternehmen und auf die Arbeits-plätze auswirken wird. Das ist unzumutbar und wirdbald dazu führen, dass nachgebessert werden muss. Diesführt zu Verunsicherungen bei Betroffenen. Sie sorgenfür ein Fiasko. Für die Probleme, die sich aus diesemVerfahren ergeben, und für das, was beim Emissionshan-del hinterher nicht funktioniert, tragen ausschließlich Sievon Rot-Grün die Verantwortung.
In der Beratung in dieser Woche wurden Sondertöpfeund Spezialregelungen noch einmal ausgeweitet undverkompliziert. Das bringt Nachteile insbesondere fürkzldndruagwdwofddgffdcdDwAgadTslersiwZaskbid
Ihre Regelungen sind ungerecht, weil Sie Gleichesngleich behandeln, beispielsweise Altanlagen und Neu-nlagen. Altanlagen werden deutlich besser als Neuanla-en mit Emissionsrechten ausgestattet. Sie sagen, damitollen Sie einen Anreiz für Investitionen schaffen. Aberas schafft das Instrument des Emissionshandels so-ieso; denn genau das ist Sinn und Zweck des Emissi-nshandels. Hier betreiben Sie also keine Investitions-örderung. Vielmehr belohnen Sie die Langsamen,iejenigen, die bisher nichts getan haben, und bestrafeniejenigen, die bereits bisher etwas getan haben. Das tra-en wir nicht mit.
Ohne vernünftigen Grund haben Sie eine glatte Drei-achförderung der Kraft-Wärme-Kopplung einge-ührt. Jetzt wird die Kraft-Wärme-Kopplung nicht nururch das KWK-Gesetz, sondern auch noch auf zweifa-he Weise durch die Regelungen des Zuteilungsgesetzes,ie Zuteilung von mehr Emissionsrechten, gefördert.afür stehen Ihnen zwei Fördertöpfe zur Verfügung: so-ohl die Early Actions als auch die Regelungen des § 14bs. 1 Zuteilungsgesetz, in dem es um die Effizienzeht. In dieser Woche haben Sie das Kumulationsverbotufgehoben, das ursprünglich im Gesetz stand. Das be-eutet, dass die Kraft-Wärme-Kopplung jetzt aus dreiöpfen gefördert wird. Das ist nichts anderes als diechamlose Klientelpolitik von Rot-Grün.
Dafür musste zulasten anderer der so genannte Erfül-ungsfaktor geändert werden. Sie haben die Neuregelungingeführt, dass die Zuteilung von Emissionsrechtenückwirkend gekürzt werden kann. Da frage ich Sie: Weroll vor dem Hintergrund der Rechtsunsicherheit, dasshm einmal Zugeteiltes vielleicht wieder weggenommenerden kann, eigentlich in diesem Land investieren?
Aber damit noch nicht genug. Durch die trittinschenugeständnisse ergeben sich Verschiebungen. Es sindlso in anderen Bereichen mehr Einsparungen nötig, bei-pielsweise bei den privaten Haushalten und im Ver-ehrsbereich. Dies führt zu noch unbezifferbaren Mehr-elastungen. Weil Sie dies – das ist absehbar – aufneffiziente Weise über die Ökosteuer organisieren wer-en,
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Birgit Homburger
kann ich Ihnen nur sagen: Eine solche Mehrbelastungder privaten Haushalte werden wir nicht mittragen.
Wir sind der Meinung, dass Doppelbelastungen ausder Ökosteuer und dem KWK-Gesetz zumindest für die-jenigen, die am Emissionshandel teilnehmen, abge-schafft werden müssen. Eine solche Doppelbelastung istnicht gerechtfertigt. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar:Der Gesetzentwurf, den Sie uns hier vorlegen, ist diegrößte umweltpolitische Enttäuschung der letzten Jahrein Deutschland.
Die FDP will den Emissionshandel als unbürokratisches,effizientes Instrument. Das bürokratische Monster, dasSie uns hier vorlegen, werden wir aber nicht mittragen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dernächsten Woche wird nicht nur die Internationale Regie-rungskonferenz durchgeführt, sondern am 2. Juni findetauch das Internationale Parlamentarierforum statt, zudem der Deutsche Bundestag eingeladen hat.
Als Vorsitzender dieses Parlamentarierforums möchteich betonen – das tue ich auch im Namen der gesamteninterfraktionellen Vorbereitungsgruppe –, dass wir die-ses Forum der Parlamentarier für genauso wichtig wiedie Regierungskonferenz halten.
Denn alle Initiativen, durch die in den letzten 25 Jah-ren Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energienvorangetrieben wurden – manchmal waren sie auch vonRückschlägen begleitet –, sind letztlich aus den Parla-menten gekommen. Das gilt für das Stromeinspeisungs-gesetz und seinen Nachfolger, das Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz. Das gilt für die brasilianischen Bioalkohol-Initiativen wie auch für die Gesetzgebung des amerika-nischen Kongresses Ende der 70er-Jahre, die leider An-fang der 80er-Jahre abgebrochen bzw. kassiert wordenislLpaiEmBenzdUzenkmMwlEktlszwVlmsenOhRsaddzdrrdjlswfuE
or diesem Hintergrund ist diese Motivierung unglaub-ich wichtig.Was können die Regierungskonferenz und das Parla-entarierforum leisten? Bei beiden Anlässen handelt esich nicht um eine Konferenz von Staaten mit dem Zielines internationalen Vertrages; es handelt sich auchicht um einen Beschlusskörper einer internationalenrganisation, auch nicht des UN-Systems. Vielmehrandelt es sich um freiwillige Zusammenkünfte: Auf deregierungskonferenz werden 87 Regierungen vertretenein, beim Parlamentarierforum 75 Parlamente. Jeder istus freien Stücken gekommen. Es geht jetzt also nichtarum, bürokratisch um jedes Komma zu streiten, son-ern es geht um die Impulsgebung; es geht darum, zueigen, was wirklich möglich ist, die Augen zu öffnen,ie Mentalität der Zurückhaltung gegenüber erneuerba-en Energien – die natürlich auch bis weit in die Politikeicht – aufzubrechen.Was ist der Vorteil der Parlamentarier? Warum sindie Initiativen von Parlamenten gekommen? Es gibt inedem Land eine lange Tradition – über ein Jahrhundertang entwickelt –, dass sich überall – wegen der strategi-chen Bedeutung von Energie für jede Volkswirtschaft;eil ohne Energie nun einmal nichts geht – enge Ver-lechtungen, Intimverflechtungen zwischen Regierungennd der nun einmal etablierten fossilen bzw. atomarennergiewirtschaft gebildet und eingespielt haben. Parla-
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Dr. Hermann Scheermente sind freier von diesem Interessengeflecht; deshalbkamen die Initiativen von daher und das wollen wir auchanderen zeigen.Das internationale System hat in der Frage der erneu-erbaren Energien bisher – das sollten wir nicht ver-schweigen – versagt. Wir haben spätestens seit 1973– durch die damalige Ölkrise – die Notwendigkeit desUmstiegs erkannt. 1974 begannen in fast allen Ländernder Welt die ersten Forschungs- und Entwicklungspro-gramme für erneuerbare Energien; was vorher passierte,war nicht nennenswert. Als die Ölkrise vorbei war, tratwieder Entwarnung ein. In den 80er-Jahren gab es nurminimalste Ansätze; ansonsten ist fast vollständig ver-säumt worden, etwas zu tun. Erst ab Beginn der 90er-Jahre ging es aufwärts – noch immer nicht unbedingt ge-fördert durch das internationale System.Noch nicht einmal auf der berühmten Rio-Konferenzist der Zusammenhang zwischen globalen Entwick-lungsproblemen und globalen Umweltproblemen, be-sonders dem Klimaproblem, und der heutigen Weise desEnergieverbrauchs und den jeweiligen Energiequellen,aus denen diese Energie generiert wird, genannt worden.Das ist aufgrund des Interessendrucks verschwiegenworden, der natürlich auch auf solche Konferenzen ein-wirkt. Noch vor Johannesburg schien es fast wieder so.Dann kam die Initiative des UN-Generalsekretärs imFrühjahr 2002, der gesagt hat: So geht es nun wirklichnicht. In Johannesburg standen das Thema Wasser unddas Thema erneuerbare Energien schließlich im Mittel-punkt aller Erörterungen. Das heißt, in Johannesburg hatman sich den realen globalen Problemen erstmals ange-nähert.Nun ist es unsere Aufgabe, Impulse zu setzen. ImRahmen dieser Konferenz müssen wir aufzeigen, welcheMöglichkeiten die erneuerbaren Energien tatsächlichbieten. Für deren Einsatz gibt es nicht nur Umwelt-gründe – diese allein würden schon dafür sprechen –,sondern auch entwicklungspolitische Gründe. Viele Län-der der Dritten Welt sitzen mittlerweile in der Falle derfossilen Energien. Sie müssen schon heute mehr für denImport von fossilen Energien bezahlen, als sie durch denExport einnehmen.Hier liegt die große Chance durch erneuerbare Ener-gien.
Wir sollten stolz darauf sein, hierzu eine avantgardisti-sche Position einnehmen zu können.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Peter Paziorek das Wort.
Herr Kollege Scheer, ich habe um eine Kurzinterven-
tion gebeten, weil ich verhindern möchte, dass in der Öf-
fentlichkeit hinsichtlich der Frage, ob Abgeordnete aus
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Es gibt sehr gute praktische Vergleichsmöglichkeitenzwischen unterschiedlichen Konzepten. Sie werden dortdiskutiert werden. Die Zahlen sprechen Gott sei Dankfür sich. Andere Betrachtungen, auch ideologischer Art,hören dann auf.Es ist uns allen klar, dass die Dynamik vorangetriebenwerden muss und dass es aus vielerlei Gründen – am we-nigsten jedoch aufgrund des umfassenden Potenzials er-neuerbarer Energien – ohnehin nicht möglich sein wird,von heute auf morgen ein ganzes Energiesystem zu än-dern. Jedes Land hat heute einen anderen Energiemix,meistens einen herkömmlichen. Wo es die natürlichenBedingungen erlauben, nutzt man oft die traditionelleWasserkraft. Nach meiner und der Auffassung vieler an-derer wird der Anteil der erneuerbaren Energien amEnergiemix auf dem Weg in die Zukunft sehr rasch an-steigen, während der Anteil der fossilen Energien pa-rallel zu diesem Prozess reduziert wird. Am Schlusswerden dann irgendwann nur noch die erneuerbarenEnergien übrig bleiben. Das ergibt sich schon aufgrundder Ressourcenproblematik.Das ist jedenfalls meine Hoffnung und die Perspek-tive, für die ich mich einsetze. Ich glaube, dafür gibt esauch in der Bevölkerung eine breite Unterstützung.
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In der EU gibt es außer Deutschland bisher nur eininziges Land, das den Unternehmern in der ersten Peri-de weniger Kohlendioxidemissionen zuteilt als in derasisperiode. Es kommt aber noch schlimmer: In derchlussberatung des Umweltausschusses ging die Bun-esregierung sogar von einer Übererfüllung des deut-chen Minderungsziels aus. Das zeigt deutlich: Rot-rün und die verantwortlichen Minister können höchs-ens in einem Bereich zu Recht eine Vorreiterrolle bean-pruchen, nämlich bei der Gefährdung des Standorteseutschland.
Ja, man kann wohl sagen, dass die Wahrheit weh tut.
Ähnlich sieht auch die Selbsteinschätzung hinsicht-ich einer zeitlichen und inhaltlichen Vorreiterrolle aus.ieder behauptet die Bundesregierung, dass sie dieseinnehme. Dies kann beim besten Willen niemand er-ennen. Wer hier zu Recht eine Vorreiterrolle einnehmenill, der muss mehr als nur einen von der Kommissionorgegebenen Zeitplan für die nationale Umsetzung ei-er EU-Richtlinie einhalten. Rot-Grün hat dies sogar nuruf den letzten Drücker geschafft. Der Preis für die Ein-altung der Fristen war schlicht und ergreifend zu hoch.
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Georg GirischEs ist einfach nicht hinnehmbar, wenn der Bundestagund insbesondere die Opposition von einer inhaltlichenund konstruktiven Beratung des Gesetzentwurfs zumNationalen Allokationsplan faktisch ausgenommen wer-den.
Wie dies geschehen ist, will ich Ihnen kurz erläutern.Am Montag dieser Woche fand eine öffentliche Anhö-rung im Umweltausschuss zum NAPG statt. Am Mitt-woch, nur zwei Tage später, war die Schlussberatung imUmweltausschuss. Die umfangreichen und gravieren-den Änderungsanträge der Regierungsfraktionen lagenerst gegen 22.30 Uhr am Dienstag vor, also am Vorabendder Ausschusssitzung. Ich frage Sie: Wie sollen wir alsverantwortliche Abgeordnete bei einem solchen Vorgangüberhaupt eine gründliche inhaltliche Prüfung dieser An-träge vornehmen können?
Viele, die heute anwesend sind, waren in der Debattedabei. Sie haben doch selbst gemerkt, dass Vorschlägeder CDU/CSU-Fraktion aufgenommen wurden. Daszeigt, dass Sie dilettantisch gearbeitet haben. Dafür gibtes aus meiner Sicht eine schlüssige Erklärung: Die Re-gierungsfraktionen drücken sich bewusst vor einer sach-lichen Auseinandersetzung mit den Argumenten der Op-position. Die Zeitvorgabe aus Brüssel wurde als einwillkommener Vorwand für eine völlige Überstürzungder Beratung missbraucht.Wie wenig stichhaltig das Argument Zeitdruck war,zeigt eine weitere Tatsache. Wir alle konnten in derPresse nachlesen, dass trotz des vermeintlichen Zeit-drucks anscheinend immer noch genügend Zeit war, dieMedien vor uns über die wichtigen Änderungen zu infor-mieren, nämlich am Nachmittag des vorigen Tages um15.30 Uhr. Die Presse am Nachmittag und die Abgeord-neten erst am Abend zu informieren, halte ich in Anbe-tracht der Bedeutung dieses Gesetzes für skandalös.
– Wenn Sie das für Quatsch halten, dann lesen Sie dasbitte in Ihrer eigenen Presseerklärung nach.
So viel Redlichkeit muss auch in einem Parlament sein.Offensichtlich ist diese Verfahrensweise bei der Re-gierung zum System geworden. Schon bei dem Erneuer-bare-Energien-Gesetz, bei dem wir gemeint haben, dasswir gut zusammenarbeiten können – wir haben die Zu-sammenarbeit angeboten –, sind einige Dinge nicht sogut gelaufen, wie wir uns dies vorgestellt haben.Ich komme jetzt zu der von Ihnen in Anspruch ge-nommenen inhaltlichen Vorreiterrolle. Der vorliegendeGDngDu–s–Swm–kzwnOgAhtSe
er Gesetzentwurf weist also gravierende inhaltlichend juristische Mängel auf.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Frau Gönner hat im Aus-chuss eine ganz sachliche Diskussion geführt.
Das ist widerlegt. Ich halte den Brief, den heute dertaatssekretär geschrieben hat, nicht für redlich. Wirerden in der nächsten Sitzung auf diese Dinge noch-als eingehen.
Es ist klar, dass Sie ihn toll finden. Dass der Staatsse-retär in der Sitzung unsere Vorschläge aufgegriffen hat,eigt, dass er rechtlich den falschen Weg beschritten hat.
Lassen Sie den Kollegen bitte zum Schluss kommen,
eil seine Redezeit abgelaufen ist.
Ich bin mir sicher, Sie werden in den nächsten Jahren
och so manches Mal wünschen, bei diesem Gesetz die
pposition stärker eingebunden oder mit ihr zusammen-
earbeitet zu haben.
uf diese Weise hätten noch viele juristische, aber auch
andwerkliche Fehler korrigiert werden können.
Herr Kollege, bitte.
Sie haben stattdessen vorgezogen, die Opposition fak-isch nicht am Beratungsverfahren zu beteiligen.
ie eröffnen mit Ihrem Gesetzentwurf Tür und Tor fürine ganze Reihe von Klagen – –
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Das Wort hat jetzt der Herr Minister Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Wir sind gebeten worden, einer
Frage nachzugehen, die Frau Gönner im Ausschuss ge-
stellt hat, nämlich ob es beim Vorliegen bestimmter Vo-
raussetzungen hinreichend sei, die einzelnen Vorausset-
zungen, die jede für sich hinreichend ist, durch ein
Komma zu trennen und anschließend ein „oder“ anzu-
hängen. Mein Staatssekretär hat Frau Gönner zugesagt,
diese Frage zu prüfen. Das Ergebnis der Prüfung will ich
Ihnen, da Sie das hier erwähnen, nicht vorenthalten. Es
ist nämlich so, dass die im Gesetzentwurf gewählte For-
mulierung korrekt ist.
Dem „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, herausge-
geben vom Bundesministerium der Justiz, können Sie in
der neu bearbeiteten Auflage von 1999 auf Seite 51 ent-
nehmen:
Das Wort „oder“ ist immer dann zu verwenden,
wenn a) in einer Rechtsvorschrift verschiedene Vor-
aussetzungen festgelegt werden sollen oder b) an
einen Tatbestand Rechtsfolgen in der Weise ange-
knüpft werden,
dass jeweils nur eine von ihnen eintreten soll. Wer-
den die einzelnen Voraussetzungen oder Rechtsfol-
gen durch Kommata voneinander getrennt, muss
das Wort „oder“ vor die letzte Voraussetzung oder
Rechtsfolge gesetzt werden.
Dies gilt auch bei listenförmiger Anordnung der
Aufzählung.
So weit zur Rechtsförmlichkeit, der wir in vollem Um-
fang nachgekommen sind und die wir auf Bitten von
Frau Gönner gerne noch einmal überprüft haben.
Das war jetzt eigentlich eine Stellungnahme zur De-
batte.
Sie, Herr Girisch, möchten dazu noch etwas sagen.
Dann gebe ich Ihnen das Wort. Drei Minuten, bitte.
Herr Minister, Sie waren bei der Debatte im Aus-
schuss nicht anwesend. Ich muss Ihnen sagen, dass eine
ganze Galerie von Beamten dort war. Es waren noch nie
so viele Beamte aus Ihrem Hause anwesend wie bei die-
ser Beratung. Es waren mit Sicherheit einige Juristen da-
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ie waren dazu offenbar auch nicht in der Lage.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
Ich muss schon sagen: Ich finde, dass dieses Klein-lein für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer garicht nachvollziehbar ist.
enn Sie das aber haben wollen, dann kann ich Ihnenolgendes sagen: Wir sind im Ausschuss auf Sie einge-angen, als es um die Verbindung von TEHG und demationalen Allokationsplan ging, und zwar deshalb, weilir sicherstellen wollten, dass Sie dem TEHG im Ver-ittlungsausschuss zustimmen. Das haben Sie jetzt ge-acht. Dafür ein herzliches Dankeschön. Das heißt, wirind einer Meinung. Sie bauen nur einen Popanz auf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!etzt zur Sache. Vor wenigen Tagen – ich glaube,orgestern – lief eine Umfrage vom Europressedienstber den Ticker. Die will ich uns nicht vorenthalten. Da-ach sind 69 Prozent unserer Bevölkerung der Meinung,ir müssten weg vom Erdöl. 58 Prozent sind der An-icht, dass die jetzige wirtschaftliche Situation unmittel-ar von der Entwicklung der Ölpreise abhängt.2 Prozent meinen, dass die erneuerbaren Energiener Ausweg sind. Ich glaube, diese Relationen zeigen,o die Aufgabe für uns hier im Parlament liegt. Bei allerertschätzung, Herr Kollege Lippold, für Jamesovelock und seine Gaia-Hypothese: Die Leute wollenicht die Atomenergie, sondern sie wollen den Einstiegn die erneuerbaren Energien. Dafür stehen wir und da-ür werden wir uns einsetzen.
Wenn man diese Woche ins Kino geht, dann stößtan auf den Film „The Day after Tomorrow“. Er behan-elt den Klimawandel, allerdings nur ein Szenario, näm-ich den abrupten Klimawandel. Das ist wohl nicht dasahrscheinlichste, aber es ist ein denkbares Szenario.enn die Leute in die Zeitung schauen, dann lesen sie,ass ein Fass Öl heute 40 Dollar kostet.
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Dr. Reinhard LoskeDiese beiden Aspekte – die Versorgungssicherheit unddie Ressourcenverfügbarkeit einerseits und das Klimaandererseits – müssen in politischer Hinsicht zusammenbetrachtet werden. Es ist unsere Aufgabe, klar zu ma-chen, dass die Abwendung vom Erdöl sowohl eine sehrwichtige Klimaschutzstrategie als auch eine Strategiezur Sicherstellung der Versorgungssicherheit ist. Denndie Sonne schickt uns keine Rechnung.
Positiv ist auch – das sollten wir nicht vergessen –,dass Russland jetzt anscheinend bereit ist, das Kioto-Protokoll zu ratifizieren, sodass dann endlich der Kioto-Prozess beginnen könnte. Ich bedanke mich herzlich beider EU-Kommission, bei Herrn Prodi und anderen, dasssie sich dafür eingesetzt haben, Russland in den WTO-Verhandlungen ein Stück weit entgegenzukommen, so-dass es Russland möglich wurde, das Protokoll zu ratifi-zieren.Es geht also nicht – wie es manche von Ihnen in denvergangenen Monaten suggeriert haben – um einenPlan B zum Kioto-Protokoll; es geht vielmehr um„Kioto plus“. Zu diesem Plus gehört auch die Konferenz„renewables 2004“, die in der nächsten Woche inDeutschland stattfinden und ein sehr wichtiges Signal andie Staatengemeinschaft aussenden wird.
Noch eine letzte Vorbemerkung: Ich halte es auch fürsehr positiv, dass der Nachhaltigkeitsrat diese Wocheals mittelfristiges Klimaschutzziel für Deutschland die40-prozentige Kohlendioxidreduktion – ausgehend vomBasisjahr 1990 – bis zum Jahr 2020 bekräftigt hat. Dasist die Planungssicherheit, die für die Politik wie auchfür die Unternehmen erforderlich ist. Damit können wirauch anderen Ländern gegenüber signalisieren, dass wirunsere Vorreiterrolle ernst nehmen.Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zumnationalen Zuteilungsplan. Ich verhehle nicht, FrauHomburger: Ich hätte mir eine einfachere und an-spruchsvollere Ausgestaltung vorstellen können. Imletzteren Fall wären Sie nicht mit im Boot gewesen, aberwas das Erste angeht, bin ich mit Ihnen einer Meinung.Ich glaube trotzdem, dass darin sehr viele positive Ele-mente enthalten sind. Ich halte es zunächst einmal für ei-nen Wert an sich, dass wir fristgerecht geliefert und ge-genüber Brüssel signalisiert haben: Wir wollen, dass eszum 1. Januar 2005 losgeht. Das ist sehr wichtig.Ich halte es darüber hinaus für entscheidend, dass fürbeide Verpflichtungsperioden Reduktionsziele vorgese-hen sind. Wichtig ist auch, dass eine Übertragungsrege-lung gefunden wurde, die Anreize für frühe Modernisie-rungsinvestitionen in innovative Energietechnik bietet.Das alles ist positiv.Ich stelle mit einem gewissen Selbstbewusstsein fest:Es war sehr gut, dass die Koalitionsfraktionen den Ge-setzentwurf nachgebessert haben. Wir haben die Caps– die Obergrenzen – verbindlich festgeschrieben. Das er-hlvdArGmmn5stbddmrmsbvweeEgtFznzsisaHw
Ich komme zu einem letzten Argument. Wir habenine Newcomer-Reserve und eine Härtefallregelungingeführt. Auch das ist sehr wichtig. Dadurch steigt derrfüllungsfaktor von 2,5, wie im Regierungsentwurf an-egeben, auf 2,91. Das heißt, bis 2007 muss eine Reduk-ion um knapp 3 Prozent erfolgen. Wenn Sie aber so tun,rau Homburger, als handele es sich dabei um eine Kon-ession an die KWK oder die Stadtwerke, dann ist dasicht wahr. Die Wahrheit ist, dass der Erfüllungsfaktoru einem Löwenanteil – ich möchte fast sagen: aus-chließlich – auf die Einführung einer Härtefallregelungm Sinne der Wirtschaft zurückzuführen ist. Wenn Sieich dagegenstellen wollen, dann machen Sie das bitte;ber seien Sie dann auch ehrlich!Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Stübgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen underren! Der hier zur Abstimmung stehende Gesetzent-urf über den Nationalen Allokationsplan weist viele
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Michael Stübgenbürokratische Unsinnigkeiten und wirtschaftsfeindlicheAspekte auf, schädigt daneben einseitig die ostdeutscheIndustrie und fördert ebenso einseitig die nordrhein-westfälische Kohleindustrie. Aber nicht nur das: DasGesetz wird sich zu einem Gesetz entwickeln, das denTransfer von Ost nach West befördert. Denn die ostdeut-sche Industrie und insbesondere die bisher erfolgreicheBraunkohleindustrie muss aus ihrer Substanz den längstüberfälligen Sanierungsbedarf der nordrhein-westfäli-schen Kohleindustrie finanzieren.Es ist zwar normal in diesem Haus, dass bestimmteGruppen versuchen, regionale Industrieinteressendurchzusetzen. Wir als unabhängige Abgeordnete sindaber dazu da, den Interessenausgleich für die gesamt-deutsche Wirtschaft im Auge zu behalten. Ein derartigskrupelloser Versuch wie in diesem Gesetzentwurf, dienordrhein-westfälische Kohleindustrie auf Kosten derostdeutschen Wirtschaft zu fördern, ist mir allerdingsnoch nicht untergekommen. Ich möchte Ihnen das andrei Punkten kurz nachweisen.
– Die Länder Brandenburg und Sachsen werden im Bun-desrat gegen den Gesetzentwurf stimmen und den Ver-mittlungsausschuss anrufen; das sage ich Ihnen voraus.Erstens. Die ostdeutsche Industrie hat mit Beginn der90er-Jahre, und zwar schon vor 1994, sehr erfolgreicherhebliche Investitionen in den Umweltschutz getätigt.Zum Teil kommt der vorliegende Gesetzentwurf mit derso genannten Early-Action-Regelung dem entgegen. DasProblem ist aber, dass Sie in dem Gesetzentwurf alle In-vestitionen, die vor 1994 getätigt wurden, ausschließen.Somit wird von vornherein ein großer Teil der Umwelt-schutzinvestitionen in der ostdeutschen Industrie, insbe-sondere in der Braunkohleindustrie, von der Anrechnungausgeschlossen. Das Ergebnis wird sein, dass eine ganzeReihe unserer ostdeutschen Industriebetriebe sehr baldEmissionszertifikate kaufen müssen, weil Sie deren Um-weltschutzinvestitionen nicht angemessen anrechnen.Zweitens. Die Investitionen, die unter die im Gesetz-entwurf vorgesehenen Early-Action-Regelung fallen– sie ist im Grunde richtig –, werden im Verhältnis zu denso genannten Newcomer-Investitionen schlechter bewer-tet. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Für einenBraunkohlekraftwerksblock, der 1995 ans Netz gegan-gen ist, würde der betreffende Betreiber nach Ihrer Rege-lung bis 2007 den Erfüllungsfaktor 1 zugeteilt bekom-men, aber auch nur, wenn seine Early Action angerechnetwird. Das heißt, er müsste bis dahin keine Emissionsmin-derungen realisieren. Von 2008 an müsste dieses Unter-nehmen aber – davon wäre eine ganze Reihe von Kraft-werksbetreibern betroffen – auf Kosten der eigenenWirtschaftlichkeit Emissionszertifikate erwerben
und verlöre damit seine Marktfähigkeit.Wenn dagegen ein Betreiber einen 40 Jahre altenBraunkohlekraftwerksblock mit einem schlechten Wir-kungsgrad und mit extrem ungünstigen Emissionswer-tew2u1nJemskg–Kg1b–vgintivCfkaSkdvdlubBDNunNstedhnnicd
Die werden kommen.Drittens. Auch bei der Regelung des Neubaus vonohlekraftwerken hat Herr Clement besonders gut auf-epasst. Es ist allgemein bekannt, dass in den nächsten5 Jahren circa 40 neue Kraftwerke in Deutschland ge-aut werden müssen.
Selbstverständlich. – Gerade hier gäbe es günstige In-estitionsmöglichkeiten für die wirtschaftlich hervorra-end arbeitende Braunkohleindustrie in der Lausitz und Mitteldeutschland. Das Gesetz soll aber diese Investi-onsmöglichkeiten verhindern; denn für den Neubauon Kraftwerken nach 2005 – so ein Zufall, Herrlement! – werden als Benchmark für den Erfüllungs-aktor 1 die Emissionswerte eines modernen Steinkohle-raftwerkes zugrunde gelegt werden. Diese Werte kannuch das modernste Braunkohlekraftwerk nicht erfüllen.o können die Betreiber von Braunkohlekraftwerkenünftig nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Sie wer-en kategorisch ausgeschlossen.Es gibt aber eine Ausnahme – das ist die größte Un-erschämtheit –: Wenn man ein altes Kraftwerk schließt,ann ist es erlaubt, auf der Basis der Newcomer-Rege-ng ein neues Kraftwerk zu errichten und es 18 Jahre zuetreiben. Sie wissen ganz genau, dass in den neuenundesländern kein einziges altes Kraftwerk mehr steht.afür gibt es aber massenweise Dreckschleudern inordrhein-Westfalen. Dieses Lobbyistengesetz ist einenglaubliche Unverschämtheit und geht auf Kosten dereuen Bundesländer.Ich habe nachgewiesen, dass dieses Gesetz eine Lexordrhein-Westfalica ist, dass es kurzfristig wahltakti-che Überlegungen der nordrhein-westfälischen SPD un-rstützen soll und dass es langfristig die ostdeutsche In-ustrie schädigen wird.
Liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie verstandenaben, warum Sie hier im Bundestag sitzen, dann kön-en Sie dieses clementsche Lobbyistengesetz nur ableh-en. Wenn Sie mir noch immer nicht glauben, möchteh Ihnen kurz aus einem Schreiben des Ministerpräsi-enten Platzeck – er ist ein unverdächtiger Zeuge – an
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Michael StübgenIhren Fraktionsvorsitzenden Müntefering von dieserWoche zitieren:Durch die frühzeitigen Modernisierungen in Ost-deutschland, die die Erreichung der Klimaschutz-ziele für Deutschland überhaupt erst ermöglichen,haben ostdeutsche Unternehmen erhebliche Vor-leistungen erbracht, die angemessen anerkannt wer-den müssen. … Ein Bruch dieser Zusage durchBundesregierung und Bundestag würde weder aufdas Verständnis der Menschen in der Lausitz nochauf das Verständnis der Landesregierung treffen.
– Das ist überhaupt nicht gelöst. – Herr Platzeck befindetsich übrigens im Wahlkampf. Unterstützen Sie ihn undlehnen Sie dieses schlechte Gesetz ab!Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Natürlich erfordert der letzte Redebeitrag, der
aus einer Aneinanderreihung von Unwahrheiten bestand,
eigentlich eine sofortige Reaktion. Aber ich möchte ei-
nen ganz anderen Einstieg wählen.
Vor einigen Monaten war eine Parlamentarierdelega-
tion der pazifischen Inselstaaten hier in Berlin zu Besuch
beim Deutschen Bundestag. Die Heimat dieser Men-
schen wird in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein.
Grund dafür ist der Klimawandel, der den Meeresspiegel
ansteigen lässt. Einige der pazifischen Inselstaaten ha-
ben mit Neuseeland bereits die Evakuierung der gesam-
ten Bevölkerung vereinbart. Das sind sichtbare Opfer
unseres Umgangs mit Energie und Ressourcen.
Ich erwähne diese Begegnung aus zwei Gründen:
Erstens. Es gab die dringende Bitte gerade an uns
Deutsche, beim Klimaschutz nicht nachzulassen. Wir
seien eines der wenigen positiven Beispiele in der Welt.
Zweitens. Bei allen Debatten um Details des Emis-
sionshandels, beim Feilschen um Emissionszertifikate
und beim Schachern um Sonderregelungen sollten wir
eines bedenken: Den Emissionshandel führen wir für
den Klimaschutz ein und für nichts anderes. Das schei-
nen manche in dieser Debatte schon längst vergessen zu
haben.
Zügiger und wirksamer Klimaschutz ist dringender
notwendig denn je. Je mehr wir wissen – das Wissen
wächst eigentlich jeden Tag an –, desto deutlicher wer-
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reagiert heute auf die Klimaschutzverpflichtungen, diewir jetzt erfüllen wollen, indem sie durch die Gegendrennt und „Das sind ja nur 0,04 Prozent“ sagt oder mitanderen Zahlen um sich wirft. Damit meint sie eigent-lich, ohne es auszusprechen, dass wir uns um diesesThema nicht mehr kümmern sollen. Wer so vorgeht, werimmer sagt, sein Beitrag sei ja nur so klein und unbedeu-tend,
der wird seiner Verpflichtung nicht gerecht, einer welt-weiten Bedrohung entgegenzutreten und zu zeigen, dasses technologische Potenziale gibt, die Ausstrahlungs-kraft auch für andere Regionen haben können. Wenn wirzum Beispiel eine neue Kraftwerksgeneration einführenoder wenn wir neue Technologien auf dem Gebiet der er-neuerbaren Energien entwickeln, weil wir Klimaschutzernst nehmen, dann können diese neuen Kraftwerke oderTechnologien auch in anderen Ländern eingesetzt wer-den und dort einen Beitrag zum Klimaschutz leisten.Ich nenne dafür ein konkretes Beispiel; Sie haben jaChina genannt.
– Sie verstehen den Zusammenhang nicht. Das hat mitder Frage sehr viel zu tun.
– Nein. – Ein Beispiel.
– Wollen Sie die Frage beantwortet haben oder wollenSie dazwischenquatschen?
– Ich warte, bis Sie fertig sind und beantworte dann dieFrage von Frau Flachsbarth zu Ende.
Die chinesische Regierung hat angekündigt, dass siedie erneuerbaren Energien mit einem Gesetz nach demBeispiel des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzesfördern will.
Was wir hier sozusagen im kleinen Rahmen zum Klima-schutz gemacht haben, wird in einem Land mit1,2 Milliarden Einwohnern fortgesetzt. Das zeigt, wieman Klimaschutz machen kann. Man darf sich nicht zu-rücklehnen nach dem Motto: Mein Beitrag ist eh sokndDSisDZrgNZzsarmssfsckHczeldwnrudSbh
Frau Präsidentin, Sie haben mir übrigens 45 Sekun-en Redezeit abgezogen, als ich noch geantwortet habe.arauf wollte ich nur kurz hinweisen.
Ich darf Sie und die anderen Kollegen daran erinnern:
olange ich die Leitung hier innehabe, tue ich das, wie
ch es für richtig halte. Das brauchen Sie nicht zu kriti-
ieren.
afür sollten Sie sich entschuldigen.
Es war ein Fehler.Deutschland kann seine international verbindlichenusagen zum Klimaschutz, abgegeben von der Regie-ung Kohl und bestätigt durch SPD und Grüne, am preis-ünstigsten mit dem Emissionshandel einhalten.iemand kann das leugnen. Jedes Unternehmen hat inukunft drei einfache Möglichkeiten, seinen Beitragum Klimaschutz zu leisten: Es kann selbst im vorge-chriebenen Umfang die Emissionen mindern, übrigensuch durch Projekte im Ausland. Es kann Emissions-echte von anderen Unternehmen zukaufen, die selberehr gemindert haben, als vorgeschrieben war. Es kannelber seine Emissionen mehr reduzieren, als vorge-chrieben war, und die gewonnenen Zertifikate verkau-en. Wir führen im Klimaschutz also ein marktwirt-chaftliches Instrument ein.Ich möchte dazu eine persönliche Anmerkung ma-hen. Auch ich hätte mir vorstellen können – damitomme ich Ihnen ein ganzes Stück entgegen, Frauomburger –, dieses Instrument noch marktwirtschaftli-her auszugestalten, noch klarere Marktsignale zu set-en. Ich wundere mich in diesem Zusammenhang auchtwas über die deutsche Wirtschaft. Erst liegt sie der Po-itik über Jahre in den Ohren mit der Forderung: Führten Emissionshandel ein! – Wenn die Politik dies macht,ird mit aller Lobbymacht auf eine Sonderregelungach der anderen gedrängt. Wenn die Politik die Sonder-egelungen schafft, treten dieselben Lobbygruppen aufnd sagen: Jetzt sehen wir aber zu viel Bürokratie inem System.
ehr nachhaltig ist das Verhalten der Wirtschaftsver-ände in dieser Frage sicherlich nicht.Lassen Sie uns bei der Fortschreibung des Emissions-andels doch gemeinsam noch mehr auf den Markt set-
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Ulrich Kelberzen: Jedem für die gleiche Produktion die gleiche Mengevon Zertifikaten! Veraltete Anlagen müssen dann zukau-fen und neue Anlagen können, weil sie effizienter sind,Zertifikate am Markt verkaufen und haben so einen Vor-teil im Emissionshandel. Ich schätze es so ein, dass wirbei der Fortschreibung dieses Gesetzes in 2006 oder in2009, wenn die dritte Stufe kommt, ein breites Bündnisdafür haben werden. Ich hoffe, dass diese Mehrheitenauch dann noch vorhanden sind.
– Breite Mehrheiten über alle Parteien hinweg!Wie ordnet sich eigentlich die Umsetzung des Emis-sionshandels innerhalb der EU ein? Herr Girisch, aberauch andere Kollegen haben diese Frage angesprochen.Herr Lippold – er ist leider nicht mehr da – hat von zweiLändern gesprochen.
Inzwischen haben aber bereits neun der alten EU-Mit-gliedstaaten und zwei der neuen EU-Mitgliedstaaten ih-ren nationalen Allokationsplan vorgelegt. Die EU-Kom-mission hat zu Recht angedeutet und an bestimmtenStellen auch schon in expliziter Form zum Ausdruck ge-bracht, dass sie auf die Einhaltung der EU-Richtlinie unddes Klimaschutzes in den nationalen Allokationsplänenachten wird. Auch wir werden darauf achten, dass alleMitgliedstaaten die gleichen Regeln einhalten müssen.
Deutschland ist übrigens keineswegs überall Vorreiterim Emissionshandel. Mehrere Mitgliedstaaten habenzum Beispiel der Energiewirtschaft wesentlich höhereAuflagen erteilt als wir in Deutschland. Dafür hat dortdie restliche Industrie mehr Freiheiten bekommen.Großbritannien hat insgesamt einen ambitionierterenPlan vorgelegt als Deutschland, weil man dort davonüberzeugt ist, dass Investitionen in den Klimaschutz Ar-beitsplätze schaffen.Es gibt noch einen weiteren Punkt, den man erwähnenmuss, um nicht einer nationalen Selbsttäuschung zu un-terliegen. Bei allem Stolz auf den Klimaschutz inDeutschland, auf die Gemeinsamkeiten im Parlament zudem Thema und die Maßnahmen der letzten Jahre gilt:Noch immer liegt unser Pro-Kopf-Ausstoß über demDurchschnitt der Europäischen Union, weil 90 Prozentder Emissionsminderungen – da gebe ich dem Kollegen,der vor mir geredet hat, Recht – in den neuen Bundeslän-dern erbracht wurden und die ökologische Modernisie-rung für den Klimaschutz im Westen unseres Landes erstnoch erfolgen muss. Dafür soll auch der Emissionshan-del einen Anstoß geben. Erste Erfolge können wir amheutigen Tage schon vorweisen.Ich komme damit zu den ökologischen Erfolgen inder Umsetzung des Emissionshandels:zvMlJJKsEgEzlhnkdBddmvtwsbcwkl82dRtnfnAdmanrehtiWCCe
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Gab es am Mittwoch Änderungsanträge von der CDU/CSU? Fehlanzeige! Es kam kein Vorschlag für die gefor-derten zusätzlichen Boni für ostdeutsche Anlagen,
und das, obwohl der Gesetzentwurf seit über einem Mo-nat vorliegt. Das heißt, 247 Abgeordnete von der CDU/CSU waren einen Monat lang nicht in der Lage, eineneinzigen Änderungsantrag zum Emissionshandel zu for-mulieren.
Das zeigt Tatenlosigkeit beim Thema Emissionshandel.
Sie hätten nämlich zugeben müssen, dass Sie Ihr Ver-sprechen, allen alles, und das gleichzeitig, zu geben,nicht hätten einhalten können.
BdsÄsMteZbswbasmndwddgrtdWwmIrVsvnsnwwdwtsG
Vielen Dank. – Ich wollte auch nur darauf hinweisen,
ass am Freitagnachmittag etliche Kollegen nach Hause
ollen und Züge und Flugzeuge erreichen müssen und
ass ich deswegen ein bisschen strenger darauf achte,
as Ganze nicht zu sehr ausufern zu lassen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-en! Die CDU/CSU-Fraktion bekennt sich zur Förde-ung erneuerbarer Energien und steht damit in der Tradi-ion dessen, was wir seinerzeit bei der Verabschiedunges Kioto-Protokolls wesentlich mitverhandelt haben.ir haben hier im Grundsatz keine Differenz. Allerdingsird der Unterschied in unserer Politik deutlich, wennan das Kioto-Protokoll mit dem vergleicht, was Sie mithrem Zuteilungsplan in der nationalen Umsetzung da-aus gemacht haben. Sie haben das Kioto-Protokoll zumorwand für eine Politik genommen, die den Industrie-tandort Deutschland stark gefährdet und die deswegenon uns zurückgewiesen wird. Darauf haben die Vorred-er unserer Fraktion mit Recht hingewiesen.Ich möchte mich hier auf die entwicklungspoliti-chen Aspekte dieser Debatte konzentrieren und willoch einmal deutlich machen: Die Verbindung von Ent-icklungs- und Umweltpolitik wird nie so offenkundigie bei den Instrumenten des Joint Implementation undes Clean Development Mechanism. Wir haben sehrohl die Möglichkeit, diese Instrumente in unserer na-ionalen Zuständigkeit stärker zu nutzen. Es wäre richtig,ie stärker zu nutzen. Wenn Sie das aus ideologischenründen nicht wollen, können Sie sich nicht hinter der
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Dr. Ralf BrauksiepeEU und ihren Vorgaben verstecken, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition.
Kollege Scheer und andere haben mit Recht auf dieBedeutung der Konferenz in der nächsten Woche inBonn und auf die Parlamentarierkonferenz hingewiesen.Ich bin dankbar, dass es, wenn auch in zähen Verhand-lungen, hier gelungen ist, zu einem Resolutionsentwurfzu kommen, den viele mittragen können, was nicht zu-letzt der Hartnäckigkeit des Kollegen Paziorek zu ver-danken ist;
wir haben ein durchaus ausgewogenes Bild herstellenkönnen.Aber leider sieht nicht nur das, was Sie national tun,völlig anders aus, sondern auch das, was Sie mit IhremAntrag heute vorlegen. In dem Resolutionsentwurf fürdie Konferenz wird zu Recht darauf hingewiesen, wiewichtig es ist, dass die Energiekosten für die Entwick-lungsländer nachträglich gesenkt werden. Es wäreschön, wenn wir uns das auch für unsere nationale Ener-giepolitik zu Herzen nähmen. Sie hingegen haben mitIhren Maßnahmen dafür gesorgt, dass die wettbewerbs-bedingten Energiepreissenkungen der letzten Jahre über-kompensiert worden sind. Das ist eine Politik in genaudie falsche Richtung.
Es gibt in Ihrem Antrag durchaus bedenkenswerteFormulierungen. Beispielsweise erklären Sie, dass Siedie Politik für die Förderung erneuerbarer Energien inEntwicklungsländern nach marktwirtschaftlichen Prinzi-pien ausrichten wollen. Ich kann Sie nur dazu aufrufen,damit im eigenen Land zu beginnen.
Dieser Nationale Zuteilungsplan ist jedenfalls das Ge-genteil davon.Ich kann auch nur erneut darum bitten, die eigenenideologischen Grundpositionen nicht einfach auf dieEntwicklungsländer zu übertragen. Sie postulieren in Ih-rem Antrag eine nachhaltige Politik für eine Ener-giewende, wofür Sie den weltweiten Ausstieg aus derKernenergie und aus den fossilen Energieträgern for-dern.Es müsste Ihnen eigentlich klar sein, mit welcher Ar-roganz Sie das völlig legitime Interesse vieler Entwick-lungsländer an einer friedlichen Nutzung der Kernener-gie behandeln. Es müsste Ihnen eigentlich auch klar sein,dass Sie den Entwicklungsländern, die einen preiswertenZugang zu fossilen Energieträgern haben, nicht ausredenkönnen, diesen zu nutzen. Wenn Sie uns das nicht glau-ben, dann lesen Sie nach, was beispielsweise der Wis-senschaftliche Beirat beim BMWA schreibt. Er weistdarauf hin, dass es häufig sehr viel besser ist, durch In-vestitionen in den Kraftwerkspark der Entwicklungs-länder den Kohlendioxidausstoß zu senken. DerBVweWwbsuuigwvFdsmrsrabSBeDdAssVtsEzdbedseue
Die PDS hat immer gesagt: Der Handel mit Emis-ionsrechten ist umstritten. Er kann bestenfalls ein Teilines Maßnahmepaketes sein, das vielfältiger und auchmfassender ist. Was jetzt vorliegt, ist aber nicht einmalin Teil. Wer bisher viel CO2 emittiert hat, der darf das
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Petra Pauauch weiterhin. Wer Sonderwünsche anmeldet, demwerden sie erfüllt. Die Energiefresser werden gefüttertund die Energiesparer weiter belächelt. Das eigentlicheZiel aber, nämlich den CO2-Ausstoß mit marktwirt-schaftlichen Mitteln drastisch zu senken, wurde verne-belt. Im Streit „Umwelt kontra Wirtschaft“ blieb derUmweltminister zweiter Sieger. So zweifelte in der An-hörung im Umweltausschuss nicht nur das Öko-Institutinzwischen am Sinn dieses rot-grünen Gesetzes.Nun zurück zum Anfang, zum drohenden Wort „Kli-makatastrophe“. Das ist natürlich mehr als nur ein Wort.Es ist auch nicht aus der Welt mit dem heutigen Gesetz.Wir haben die reale Gefahr nicht einmal gebannt. Wennwir auch gern anderes glauben und die Bundesregierunganderes predigt: Das Problem der drohenden Klimakata-strophe steht weiter vor uns bzw. schwebt über der Welt.Der Klimaschutz stagniert seit Jahren, jedenfalls ge-messen an den CO2-Emissionen. Die Zahlen sind be-kannt und heute mehrfach genannt worden. Das, was alsKlimaplus zu Buche schlägt, geht weitgehend auf das In-dustrieminus in den neuen Bundesländern zurück.
Die große versprochene Klimaanstrengung in den altenBundesländern blieb bisher aus. Sie wird auch durch dasvorliegende Gesetz nicht angeregt. Das ist seinHauptmanko. Deshalb lehnt die PDS im Bundestag die-ses Gesetz heute ab.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marie-Luise Dött.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ge-setz über den Nationalen Allokationsplan für Treibhaus-gasemissionsberechtigungen wird zum Zuteilungsgesetz2007. Der neue Titel ist schön, kurz und prägnant. Diegravierenden Mängel, die dieses Gesetz hat, sind damitjedoch nicht behoben.
Das Zuteilungsgesetz ist das wohl wichtigste umwelt-und wirtschaftspolitische Gesetz dieser Legislatur-periode. Es werden Entscheidungen getroffen, die vonerheblicher Reichweite sind. In vollem Bewusstsein des-sen hetzt die Regierungskoalition das Gesetz innerhalbvon einer Woche von der Sachverständigenanhörung amMontag über die Ausschussberatung am Mittwoch zurSchlussberatung heute am Freitag.
Herr Kelber, wir nehmen Anhörungen ernst.
ÄamDdnmdtvegjUGeaNtmFghstAdd–hrMkAdednIug
eshalb verweise ich auf unseren Entschließungsantrag,em Sie ja hätten zustimmen können.
Das lässt für mich nur den Schluss zu: Sie legen kei-en Wert auf die demokratische Beteiligung des Parla-ents. Vielmehr sind die Vertreter der Medien lange voren Parlamentariern über die Inhalte Ihrer Änderungsan-räge bestens informiert worden. Das ist Ihr Verständnison Demokratie.
Aber auch aufseiten der Regierungsfraktionen tappeninige im Dunkeln, was die Inhalte dieses Gesetzes an-eht. Der Termindruck kann in diesem Zusammenhangedenfalls nicht als Argument gelten. Sie hätten mit dermsetzung früher beginnen können. Aber statt derründlichkeit oberste Priorität einzuräumen, liefern Sieine Patchworkarbeit bunt zusammengehäkelter Normenb. Dieses Häkeldeckchen, das Sie hier vorlegen, hat denamen Gesetz nur schwerlich verdient. Mit einer juris-isch sauberen Norm hat das Zuteilungsgesetz wenig ge-ein. Es finden sich reihenweise falsche und laienhafteormulierungen. Auslegungen sind unklar, Rechtsbe-riffe unbestimmt. Wider besseres Wissen wollen Sieier ein Gesetz beschließen, dessen Folgen verheerendind. Natürlich wird das Zuteilungsgesetz zum Jobmo-or, wie Sie so schön sagen; es wird zum Jobmotor fürnwälte und Gerichte mutieren. So wird das nichts mitem Aufschwung am Arbeitsmarkt.
Aus dem Hause des Umweltministers Jürgen Trittin,er jetzt leider nicht mehr da ist
wo? –,
at die Abgeordneten am Dienstagabend ein Bericht er-eicht, in dem die Allokationspläne der anderen EU-itgliedstaaten untersucht werden. Die Analyseommt zu dem Schluss, dass acht der elf vorliegendenllokationspläne über das Maß zuteilen. Im Gegensatzazu soll in Deutschland das Minderungsziel nicht nuringehalten, sondern noch darüber hinausgegangen wer-en. Das führt dazu, dass Unternehmen in Deutschlandur schwerlich in eine Verkäuferposition kommen.
n der Studie des BMU steht ausdrücklich, dass solchnterschiedliche Zuteilungen zu Wettbewerbsverzerrun-en und erheblichen Belastungen der deutschen Wirt-
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Marie-Luise Döttschaft führen werden. Ich gehe davon aus, dass sowohldas Ministerium als auch die Abgeordneten der Regie-rungskoalition diese Studie kannten, als sie am Dienstagentschieden, die Kioto-Vorgaben nicht nur einzuhalten,sondern noch darüber hinauszugehen. Mit dieser Ent-scheidung haben Sie sich ganz bewusst gegen den Indus-triestandort Deutschland und gegen Arbeitsplätze ent-schieden.
Aufgrund der Kürze meiner Redezeit möchte ichmich auf eine besonders bedenkliche Änderung des Ent-wurfs beschränken. In § 4 des Gesetzentwurfs findet sichnun ein neuer Absatz. Dieser sieht eine rückwirkendeKürzung bereits zugeteilter Zertifikate für den Fall vor,dass im Rahmen der Zuteilungsregeln für mehr als495 Millionen Tonnen Zertifikate ausgegeben werdenmüssen. Da die letztlich ausgegebene Menge an Zertifi-katen infolge von Anlagenstilllegungen, Produktions-rückgängen, Anfechtungen von Zuteilungsentscheidun-gen usw. erst gegen Ende der Handelsperiode eindeutigfestgeschrieben wird, besteht aufgrund der neuen Rege-lungen für die Anlagenbetreiber noch während der Han-delsperiode Unsicherheit darüber,
ob sie über ausreichend Zertifikate zur Abdeckung ihrerEmissionen verfügen.
Dies würde die bereits bestehende Verunsicherung wei-ter erhöhen und das Investitionsklima zusätzlich negativbeeinflussen.
Ich möchte Sie daher dringend bitten, diesen Passus er-satzlos zu streichen.
Meine Damen und Herren, wir wollen den Emissions-handel genauso wie die FDP, aber dieser Gesetzentwurfist handwerklich und inhaltlich so schlecht gemacht,dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmenwird.
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tages-ordnungspunkt.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenauf der Drucksache 15/3212 mit dem Titel „Globale Zu-kunftssicherung durch die Förderung erneuerbarer Ener-gien in Entwicklungsländern vorantreiben“. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Tagesordnungspunkt 23 b: Interfraktionell wird Über-weisung der Vorlage auf der Drucksache 15/1862 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-sDFeDsnAdwhrdluGWwsdsmmSfsa1EtFtmmSlhswsSi
ordnung der einkommensteuerrechtlichenBehandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
– Drucksachen 15/2150, 15/2563, 15/2592,15/2986, 15/3004, 15/3160, 15/3230 –Berichterstattung:Abgeordneter Jörg-Otto SpillerBerichterstatter im Bundesrat: Staatsminister GernotMittler.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge-wünscht? – Das ist auch nicht der Fall.Dann können wir gleich zur Abstimmung kommen.Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass imDeutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsamabzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgendeweitere Beschlussempfehlung des Vermittlungsaus-schusses. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlungdes Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3230? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 16 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
zung der Richtlinie 2003/87/EG über ein Systemfür den Handel mit Treibhausgasemissionszertifi-katen in der Gemeinschaft.– Drucksachen 15/2328, 15/2540, 15/2681,15/2693, 15/2901, 15/3250 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael Müller
Berichterstatter im Bundesrat: Minister RudolfKöberle.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge-wünscht? – Das ist auch nicht der Fall.Wir kommen also zur Abstimmung. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschussesauf Drucksache 15/3250? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an-genommen worden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatz-punkt 13 auf:24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, VeronikaBellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUAusschreibungspraxis in der Arbeitsmarktpo-litik effizient und effektiv ausgestalten– Drucksache 15/2826 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
ZKSzFdgSDgZZsgdW1)
all.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufen Drucksachen 15/2826 und 15/3213 an die in der Ta-esordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.ind Sie damit einverstanden? – Das ist auch der Fall.ann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt auf, zu demeredet wird, nämlich Tagesordnungspunkt 25 sowieusatzpunkt 14:25 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung derBekämpfung der Jugenddelinquenz– Drucksache 15/1472 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg vanEssen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPJugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten– Drucksache 15/2192 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-prache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruchibt es offensichtlich nicht. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und das Wort hat zunächstie baden-württembergische Justizministerin, Frauerwigk-Hertneck. Anlage 3
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-ordnete! „Verantwortung für die Jugend“ – das ist dasdiesjährige Thema des Deutschen Jugendgerichtstages inLeipzig. Es geht uns alle an. Wir alle tragen Verantwor-tung dafür, dass unsere Jugend Perspektiven entwickelnund in eine aussichts- und chancenreiche Zukunft bli-cken kann. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder – ichmeine hier in erster Linie Eltern, Erzieher und Lehrer,aber auch Richter, Staatsanwälte, Vollzugs- und Polizei-beamte – gewillt ist, seinen Beitrag in der Ausbildungund Erziehung, in der Prävention, aber auch bei der Be-strafung und Wiedereingliederung zu leisten.
Gefordert sind aber auch Sie, meine Damen und Her-ren Abgeordnete, nämlich als Gesetzgeber. „Verantwor-tung für die Jugend“ heißt auch, dass wir den Jugend-richterinnen und Jugendrichtern sinnvolle Möglichkeitender Reaktion auf Straftaten junger Menschen zur Verfü-gung stellen.
Eine dieser sinnvollen Reaktionsmöglichkeiten ist dernun vorgeschlagene Warnschussarrest. Seine Einfüh-rung wird von der staatsanwaltlichen und richterlichenPraxis seit langem gefordert. Auch wenn die Kritikernicht müde werden, es immer wieder zu behaupten: DerWarnschussarrest dient nicht dazu, junge Menschen we-gen ihres ersten Ladendiebstahls wegzusperren, um siedurch den kurzfristigen Freiheitsentzug zu schockieren.Der Warnschussarrest dient vielmehr dazu, diejenigenStraftäter zu erreichen, die aufgrund ihrer kontinuier-lichen Hinentwicklung zur Kriminalität mit ambulantenoder kurzfristigen Betreuungsmaßnahmen nicht mehr er-reichbar sind. Um bei diesen Tätern eine nachhaltige Be-wusstseins- und Verhaltensänderung herbeizuführen, be-darf es vielmehr einer längerfristigen Intervention, diedurch eine intensive stationäre Betreuungsphase einge-leitet werden sollte.
Hier setzt der Warnschussarrest an. Im modernen Ar-restvollzug stehen dem straffällig gewordenen Jugendli-chen Sozialarbeiter und Psychologen zur Aufarbeitungvon persönlichen Problemen und zur Vermittlung vongesellschaftlich akzeptiertem Verhalten zur Verfügung.Gerade diese erste stationäre Phase des Warnschussar-restes erlaubt eine intensive Arbeit mit dem jugendlichenTäter, die häufig zu einer nachhaltigen Bewusstseins-und Verhaltensänderung führt. Danach ist es die Auf-gabe des Bewährungshelfers, diesen eingeleiteten Neu-orientierungsprozess zu stabilisieren, damit es nicht zueinem Rückfall in alte Denk- und Verhaltensmuster unddamit zu erneuter Straffälligkeit kommt.
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Deswegen besteht in der Fachwelt Einigkeit darüber,ass diese Praxis, die das verfassungsrechtliche Willkür-erbot, das Rechtsstaatsprinzip und das Bestimmtheits-ebot tangiert, nicht länger hingenommen werden darf.
och umstritten – dies haben die Abstimmungsergeb-isse beim 64. Deutschen Juristentag in Berlin gezeigt –t jedoch die Frage, wie wir dieses Problem zu lösen ha-en. Häufig wird unter Hinweis auf entwicklungs-sychologische Erkenntnisse die generelle Einbeziehungller Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht gefor-ert.
Ich glaube, Sie, Herr Ströbele, fordern das.Professor Dr. Albrecht hat in seinem Gutachten aufem 64. Deutschen Juristentag jedoch deutlich gemacht,ass sich aus den Erkenntnissen der Entwicklungs-sychologie keine tragfähigen und schlüssigen Entschei-ungsmaßstäbe für die Frage der strafrechtlichen Be-andlung Heranwachsender ableiten lassen. Dieusbildung sozialer Verhaltensweisen dauert bis weit inie zweite Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts oder so-ar darüber hinaus. Bei Anlegung dieses Maßstabsüsste man konsequenterweise auch knapp Dreißigjäh-ige in das Jugendstrafrecht einbeziehen, was aber richti-erweise niemand fordert. Aber eine Begrenzung dernwendung des Jugendstrafrechts auf unter 21-Jährigesst sich damit auf keinen Fall rechtfertigen.
ei Anlegung dieses Maßstabs erscheint eine derartigeltersgrenze nämlich willkürlich.
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Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck
Nach meiner Überzeugung muss sich die Frage desUmgangs mit delinquenten Heranwachsenden letztlichan normativen Maßstäben orientieren.
Unsere Gesamtrechtsordnung enthält hierzu eindeutigeRegelungen. So werden Heranwachsende sowohl im Zi-vilrecht als auch im öffentlichen Recht als Erwachsenebehandelt. Sie können Verträge schließen, heiraten, Ar-beitgeber sein und so weiter. Auch das elterliche Erzie-hungsrecht endet mit Vollendung des 18. Lebensjahres.Warum sollte das subsidiäre staatliche Erziehungsrechtdarüber hinaus fortdauern?
Deshalb habe ich mich dafür ausgesprochen, beiStraftaten Heranwachsender künftig grundsätzlich dasallgemeine Strafrecht anzuwenden.
Nur in Ausnahmefällen, also bei Vorliegen schwerwie-gender Entwicklungsverzögerungen, erscheint es sinn-voll, den Heranwachsenden nicht wie einen Erwachse-nen, sondern wie einen Jugendlichen zu behandeln.Ich will hier auch das eine oder andere Gegenargu-ment in den Raum stellen.
Erstens. Es wird behauptet, die Zahlen im Bereich derJugendkriminalität würden nicht steigen.
Im Allgemeinen stimmt das.
Bei leichten Delikten sind die Zahlen rückläufig; aberbei Gewaltdelikten steigen sie.
Darauf müssen wir reagieren.
Zweitens. Es wird bezweifelt, ob das klare Signaleiner Gesellschaft an einen 18-Jährigen bzw. eine 18-Jäh-rige, dass er oder sie erwachsen ist, generalpräventiveWirkungen entfalten könnte.
Ein derart eindeutiges Signal wird generalpräventiveWirkung entfalten – das steht für mich außer Zweifel –Du bist erwachsen, egal ob du Rechte in Anspruchnimmst oder Pflichten nachkommen musst.dddncwRdhm–dAGBdGiIwsgannfSteSvdsJdNdd
Auch das ist er.
Al
Verehrte Frau Präsidentin, ich fühle mich auch alsbgeordneter; das ist kein Schimpfwort.Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Deresetzentwurf des Bundesrates zur Verbesserung derekämpfung der Jugenddelinquenz, der heute dem Bun-estag präsentiert wird, würde nichts verbessern. Alsesetz wäre er bestenfalls wirkungslos und unschädlich,n den meisten Fällen wäre er kontraproduktiv.
n Union und FDP weiß man das eigentlich, zumindestissen es die, die sich ernsthaft mit dieser Frage befas-en.Wir alle kennen die Meldungen über kriminelle Ju-endbanden und über jugendliche Intensivtäter, und wirlle sind uns darüber einig, dass etwas dagegen unter-ommen werden muss. Leider fällt Ihnen im Bundesratichts anderes ein, als immer wieder nach härteren Stra-en und „Denkzettelsanktionen“ zu rufen. Ich gebe zu:o entsetzlich wie die Einzelfälle sind, liegt diese Reak-ion bei der emotionsgeladenen Stimmung, die danachntstehen kann, nahe – richtig ist sie nicht. Gerade imtrafrecht ist es Aufgabe der Politik, verantwortungs-oll, rational und auf sicherer Faktengrundlage zu han-eln. Das können oder wollen Sie im Bundesrat offen-ichtlich nicht.
Erstens. Die Jugendkriminalität ist in den letztenahren nicht stetig gestiegen, wie Sie in der Begründunges Gesetzentwurfes behaupten:
ach 1998 ist ein leichter Rückgang der Fallzahlen beien Jugendlichen und insgesamt eine Stabilisierung beien Heranwachsenden zu verzeichnen.
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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
Die Kriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsen-den stagniert, während sie bei den Erwachsenen – dienach dem allgemeinen Strafrecht abgeurteilt werden –zunimmt. Damit will ich nicht sagen, dass wir keine Pro-bleme hätten. Aber Ihre Aussagen sind in ihrer Pauscha-lität einfach falsch. Wir haben sicher enorme Problememit den eingangs erwähnten Intensivtätern und mit denTätern im Bereich gefährlicher und schwerer Körperver-letzung und Raub; bei denen sind in der Tat Steigerungs-raten zu verzeichnen. Aber jetzt bitte ich Sie, einmal zu-zuhören: Die Rückfallstatistik hat uns auch gezeigt, dassdie meisten strafrechtlich in Erscheinung tretenden Ju-gendlichen dies nur einmal tun und nicht wieder. Auffal-lend hoch ist nur die Rückfallquote derjenigen Jugendli-chen und Heranwachsenden, die in Haft gewesen sind.Zweitens. Der Sinn des Jugendstrafrechts liegt nichtin „Warnschüssen“ und hartem Durchgreifen.
Das Missverständnis beginnt schon damit, dass immerbehauptet wird, das Jugendstrafrecht sei stets milder alsdas Erwachsenenstrafrecht. Das ist so nicht richtig, undes ist ärgerlich, dass immer mehr Politiker – sei es ausUnwissenheit, sei es aus Absicht – diesem Missverständ-nis Vorschub leisten.
Kernpunkt des Jugendstrafrechtes ist der Erziehungsge-danke. Das Jugendstrafrecht ist darauf ausgerichtet, Ju-gendliche und Heranwachsende zu fördern und zu for-dern und sie so von weiteren Straftaten abzuhalten.Dafür gibt das Jugendstrafrecht den Gerichten ein diffe-renziertes und flexibles Instrumentarium an die Hand,das sich als wirksam bewährt hat und in der Praxis funk-tioniert. Sie ignorieren das, wenn Sie fordern, dass beiHeranwachsenden grundsätzlich das allgemeine Straf-recht, das Jugendstrafrecht dagegen nur ausnahmsweiseAnwendung findet. Die Folge wäre, dass die Gerichtebei Heranwachsenden grundsätzlich nur mit Geld- oderFreiheitsstrafen reagieren könnten. Glaubt jemand ernst-haft, dass man damit einer künftigen Straffälligkeit He-ranwachsender besser entgegenwirken kann als mit demdifferenzierten Reaktionsinstrumentarium des Jugend-strafrechts, das den altersbedingten Besonderheiten undEinflussmöglichkeiten angepasst ist? Nahezu alle Fach-leute lehnen Ihren Vorschlag ab.
– Herr Fricke, sie haben schon oft genug geklatscht. Esmuss außerdem nicht geklatscht werden, wenn Selbst-verständlichkeiten vorgetragen werden.
Oder nehmen wir den Vorschlag zum Warnschussar-rest. Schon wegen seiner stigmatisierenden und entso-zialisierenden Wirkung sagen uns fast alle Fachleute be-rvhGuWsssKdngsddkAshddvgsSdE„rgguKdm
ir wissen doch alle, wie heutzutage der Arrest ausge-taltet ist: Die Heranwachsenden werden weggeschlos-en, werden eingesperrt. Wenn sie dann herauskommen,ind sie stigmatisiert. Manche geben sogar damit an, imnast gewesen zu sein.
Frau Präsidentin, ich darf doch noch eine Minute re-en? – Das Bundesministerium der Justiz hat in Form ei-es Referentenentwurfs einen viel besseren Entwurf vor-elegt, der das Jugendstrafrecht stärken wird. Grundlageind die Beratungsergebnisse der Expertengruppe, dieie FDP übrigens in ihrem Antrag erwähnt hat. Es gehtabei darum, wie die jungen Gefangenen ihr Lebenünftig ohne Straftaten führen können. Es geht um diebkehr vom unscharfen, missverständlichen und um-trittenen Erziehungsbegriff des Jugendkriminalrechtsin zum Grundsatz der umfassenden Förderung und For-erung. Wir wollen junge Gefangene zur Teilnahme anen Maßnahmen verpflichten, die ein Förderplan für sieorsieht. Insgesamt konzipieren wir so ein eigenständi-es Regelwerk mit jugendspezifischen Inhalten, das ineinem Aufbau weitgehend dem bewährten Gefüge destrafvollzugsgesetzes folgt.Wir brauchen also weder Ihr Gesetz zur Bekämpfunger Jugenddelinquenz, noch wird der im Mai vorgelegtentwurf des Bundesrates mit dem blumigen NamenEntwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Jugendstraf-echts und zur Verbesserung und Beschleunigung des Ju-endstrafverfahrens“ – Verbesserung und Beschleuni-ung schließen sich schon gegenseitig aus – Gnade vornseren Augen finden.
Herr Kollege, eine Minute ist schon lange vorbei.
ommen Sie bitte zum Schluss.
Al
Ihre Entwürfe werden Entwürfe bleiben.
Ich wünsche allen ein frohes Pfingstfest und bedanke
ich sehr herzlich für Ihre überaus große Geduld.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habeerwartet, dass die Diskussion zum Thema Jugenddelin-quenz genau so verlaufen würde. Wir bewerfen uns mitStatistiken und Zahlen.
Am Ende ist jeder der sicheren Überzeugung, dass er mitseiner Auffassung Recht hat.Wir werden uns in dieser Debatte im Klein-Klein, ineinem Hickhack ergehen. Wir werden uns mit der Fragebeschäftigen, ob das Fahrverbot als Hauptstrafe, als Ne-benstrafe, als Erziehungsmaßnahme oder als Zuchtmittelangemessener sei und wie man das Fahrverbot in das Ju-gendstrafrecht einsortieren müsse. Wir werden uns mitder Frage beschäftigen, ob eine Meldeweisung sinnvollist oder ob sie nach dem Jugendstrafrecht nicht ohnehinschon möglich ist. Ich versichere Ihnen: Das sind The-men, die nur wenige Juristen, die darauf spezialisiertsind, verstehen. Das ist nicht die Botschaft, die die Öf-fentlichkeit zum Thema Jugenddilinquenz erwartet underwarten darf.Am 26. Mai 2004 titelte die „Berliner Morgenpost“:Ich wollte Berufskiller werden.In dem Artikel ging es um das Strafverfahren gegen ei-nen 21-Jährigen, der zwei hilflose Rentnerinnen in ho-hem Alter ermordet hat. Als er festgenommen und ge-fragt wurde, was er mit diesen grausamen Tatenbezweckt habe, erklärte er, er habe schon immer Berufs-killer werden wollen. Bei der ersten Tat habe er übenwollen.Meine Damen und Herren, auf solche Vorfälle erwar-tet die Öffentlichkeit zu Recht eine Antwort. Herr Staats-sekretär Hartenbach, grüßen Sie die Bundesjustizminis-terin.
Die Öffentlichkeit hat Anspruch auf ein schlüssigesKonzept. Der Jugendstrafvollzug ist verfassungswidrig,weil es an einem Gesetz fehlt.Sie wissen so gut wie ich, dass es eine Entscheidungdes Oberlandesgerichts Celle gibt, in der erwachsenenHäftlingen eine Entschädigung zugesprochen wird, weilder Strafvollzug für Erwachsene gesetzwidrig ist, daeine Einzelunterbringung in Hafträumen nicht ermög-licht werden kann.Ich warte darauf, dass jugendliche Straftäter mit an-waltlicher Hilfe eine Entschädigung einklagen, weil sieauf nicht verfassungsgemäßer Grundlage inhaftiert sind.
Aber: Die Bundesjustizministerin reagiert nicht.
er Staatssekretär beschränkt sich auf die Aussage, dasseferentenentwürfe vorliegen. Man kann deshalb kon-tatieren: Entwürfe liegen auf dem Tisch und vom Tischird nichts weggeschafft. Im Bundesjustizministeriumnter der Leitung der Bundesjustizministerin Zypriesiegt zu viel im Argen.
Ich nehme es den Ländern nicht übel, dass sie in ihrerrößten und höchsten Not reagieren; denn sie erlebenen Strafvollzug ja an der Front.
s war nicht das Bundesjustizministerium, das eine Lö-ungsmöglichkeit zum Erwachsenenstrafvollzug ange-oten hat. Die Länder haben über den Bundesrat einenesetzentwurf eingebracht, um § 18 Strafvollzugsge-etz zu ändern. So sind es wieder einmal die Länder, diem Bereich des Jugendstrafrechts initiativ werden.Wie lange höre ich von der Bundesjustizministerinchon, dass Sie das Jugendstrafverfahren reformierenerden? – Nichts außer heißer Luft! Sie sagen, Sie wer-en den Opferschutz im Jugendstrafverfahren verbes-ern. – Nichts außer heißer Luft! Mir ist die Lösungs-öglichkeit, die die Länder anbieten, zehnmal lieber, alsichts zu tun.
Ich räume ein: Natürlich wird es Diskussionsbedarfeben. Meines Erachtens geht es nicht um die Frage, obir auf die Heranwachsenden grundsätzlich das Erwach-enenstrafrecht anwenden sollen. Meine Herren vonot-Grün, wenn Sie diese Forderung unterstützen wür-en, befänden Sie sich aber in bester Gesellschaft; dennony Blair hat das Gesetz im Jahre 2000 wegen der stei-enden Jugendkriminalität in England geändert, sodassuf Heranwachsende nur noch das Erwachsenenstraf-echt anwendbar ist.
anz anders war es im konservativen Spanien unterznar, der nämlich die deutsche Lösung übernommenat. In Spanien ist das Heranwachsendenstrafrecht in-wischen so wie im deutschen Recht. Sie sehen also, eseht quer durch alle Reihen. Ich verhehle nicht, dassuch in unserer Fraktion die Diskussion noch im Gangest. Diese Entscheidung muss jeder Abgeordnete für sichelbst treffen. Es ist eine Entscheidung des Gewissensnd weniger eine rechtsdogmatische Entscheidung.Ich greife noch einmal den Fall des jungen 21-Jähri-en auf, der erklärt hat, er wolle Berufskiller werden.ie Anwälte haben sofort reagiert und in der Presse pu-liziert, dass sie der Meinung sind, dass auf diesen Fallas Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Es ist durchausöglich, dass dieser 21-Jährige in seiner Entwicklungoch zurückgeblieben ist. Deswegen würde nach derzei-
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Siegfried Kauder
tigem Recht das Jugendstrafrecht anzuwenden sein. Ichpersönlich habe nichts dagegen.
Jetzt kommen Sie aber mit Ihrem Argument, dass imJugendstrafrecht der Erziehungsgedanke herrscht. Dasstimmt nur beschränkt. Schauen Sie mal in § 18 Jugend-gerichtsgesetz. Die Freiheitsstrafe für Jugendliche be-trägt sechs Monate bis fünf Jahre, weil man der Meinungwar, dass eine Strafe, die fünf Jahre übersteigt, erziehe-risch sinnlos sei. Wenn aber ein Verbrechen begangenworden ist, das nach allgemeinem Erwachsenenstraf-recht beurteilt und mit einer Höchststrafe von über zehnJahren belegt wird, dann beträgt auch die Jugendstrafezehn Jahre. Das heißt, auch hier fließen generalpräven-tive Aspekte mit in den Erziehungsgedanken hinein.Frau Ministerin Werwigk-Hertneck, deswegen bin ichder Meinung, dass Sie mit Ihrem Ansinnen, die Jugend-strafe, die gegen Heranwachsende verhängt wird, allge-mein auf 15 Jahre zu erhöhen, über das Ziel hinausschie-ßen.
Sie meinen das nicht; denn wenn Sie die Jugendstrafe fürHeranwachsende auf 15 Jahre erhöhen würden, dannwürden Sie gleichzeitig den Strafrahmen nach oben ver-schieben, sodass auch die Eingangsstrafen für die weni-ger schwere Kriminalität erhöht würden. Ich weiß, dassSie das nicht wollen. Es gibt 22 kapitale Verbrechen, diebei Erwachsenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe belegtsind. Diese Fälle meinen Sie. Sie meinen denjenigen, dersagt, er wolle Berufskiller werden.Es gibt hier eine Lösung, nämlich in § 18 Jugendge-richtsgesetz. Danach kann beim Heranwachsendenstraf-recht gesagt werden: Wenn Erwachsene mit einer le-benslangen Freiheitsstrafe belegt werden würden, dannbeträgt die Höchststrafe beim Heranwachsenden aus-nahmsweise nicht zehn, sondern 15 Jahre. Ich glaube,auf diesem Level können wir uns einigen.Nun zum Warnschussarrest. Man kann lange da-rüber philosophieren, wie er sich in das Rechts- undSanktionensystem des Jugendstrafrechts einordnen lässt.Das ist aber nicht das Thema. Dieses Problem kann manlösen. Festzuhalten bleibt, dass ein Erwachsener zu einerFreiheitsstrafe von nur einem Monat verurteilt werdenkann. Wenn die Einwirkung auf ihn oder die Verteidi-gung der Rechtsordnung es gebietet, wird diese Strafeauch vollstreckt. Beim Jugendlichen geht das nicht, weildie Jugendstrafe aus guten Gründen erst mit sechs Mo-naten beginnt. Fünf Monate oder drei Monate Jugend-strafe können nicht verhängt werden. Das heißt, manmuss die dadurch entstandene Lücke im jugendstraf-rechtlichen Sanktionensystem angemessen schließenkönnen. Dafür bietet sich in der Tat der Warnschussar-rest an.Er hat überhaupt keine negativen Auswirkungen aufeinen Jugendlichen oder Heranwachsenden. Warum solldszRstrgjueaihkSSmsnwvmsgeisDetuwjurJtrkSDbmadJsrdrgenbwgünV
eswegen befürworte ich auch nicht die Einschränkungines Fahrverbots nur auf verkehrsbezogene Delikte. Est den jungen Leuten gut, wenn sie merken, wie es ist,enn man kein Fahrzeug führen darf.Ich möchte auch nicht das Argument hören, dass manngen, im Erwerbsleben stehenden Menschen den Füh-erschein nicht wegnehmen kann. Das tut doch gar keinugendrichter. Auch der Einwand, das sei nicht zu kon-ollieren, verfängt nicht; denn dann dürfen Sie überhaupteine jugendgerichtlichen Weisungen mehr festsetzen.chauen Sie einmal in § 10 des Jugendgerichtsgesetzes.arin gibt es die Möglichkeit, die Weisung zu verhängen,estimmte Gaststätten nicht zu besuchen. Auch damituss ein Kontrollmechanismus eingeleitet werden. Nichtnders ist es beim Fahrverbot.Sie sehen es schon: Ich halte auch diesen Vorschlages Ländergesetzentwurfs für sinnvoll. Man wird, Frauustizministerin Werwigk-Hertneck, darüber reden müs-en, ob man statt der Einführung von § 15 a Jugendge-ichtsgesetz nicht schlicht und ergreifend in § 10 Abs. 1es Jugendgerichtsgesetzes eine Ziffer 10 anfügt und da-in die Weisung festlegt, es sollte die Weisung, der Ju-endliche dürfe eine gewisse Zeit kein Fahrzeug führeningeführt werden.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, eines schei-en Sie übersehen zu haben: Das Fahrverbot ist nach derestehenden Gesetzeslage weit über das hinaus zulässig,as Sie sich wünschen. Nach § 10 des Jugendgerichts-esetzes kann ein Jugendrichter ein Fahrverbot auchber die Frist des § 44 StGB, also über drei Monate hi-aus, verhängen. Das ist auch dann möglich, wenn einerkehrsbezug nicht besteht. Sie sind also aufgefordert,
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Siegfried Kauder
wenn Sie Ihre Interessen so, wie Sie sie artikulieren,durchsetzen wollen, einen Gesetzentwurf vorzulegen,der Hand und Fuß hat.
Im Augenblick haben Sie nichts auf der Hand. Das istschlimm für die Menschen, die Sicherheit erwarten.Vielen Dank.
Die Kollegin Erika Simm hat gebeten, ihre Rede zuProtokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann erteile ich jetzt dem Abge-ordneten Hans-Christian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich will mich kurz fassen.
Ich verstehe sowieso nicht, warum wir kurz vor Pfings-ten dieses alte Thema erneut diskutieren müssen.
Es handelt sich nicht um einen wunderbaren, mit ganzneuen Ideen gefüllten Gesetzentwurf des Bundesratesoder einzelner Länder, sondern um einen Gesetzentwurf,den wir schon im Bundestag beraten und abgelehnt ha-ben und der schon im Bundesrat mehrfach beraten wor-den ist. Er ist vom Strafverteidigertag, vom Anwaltstag,vom Deutschen Jugendgerichtstag und von nahezu allenInstitutionen diskutiert und abgelehnt worden, und zwaraus gutem Grunde.
Denn er ist nicht nur alt, sondern er enthält auch nichtsNeues und er geht von zwei völlig falschen Vorausset-zungen aus.Die eine falsche Voraussetzung findet sich im erstenSatz dieses Gesetzentwurfes. Dort wird auf eine Statistikhingewiesen. Wir haben das nicht erfunden, sondern dassteht in dem Gesetzentwurf. Es wurde nämlich die fal-sche Behauptung aufgestellt, dass die Jugenddelinquenzin den letzten Jahren zugenommen habe. Das Gegenteilist wahr. Von 1998 bis 2003 hat die Jugenddelinquenz,übrigens auch die Kinderdelinquenz, abgenommen, undzwar exorbitant. Sie hat auch im Jahr 2003 abgenom-men. Von 1997 bis 2003 hat sie um 15 bis 17 Prozent ab-genommen. Im Jahr 2003 hat die Delinquenz von deut-schen Jugendlichen um 1 Prozent abgenommen, die vonausländischen Jugendlichen, die angeblich besonders ge-fährlich sind, weswegen man dauernd solche Gesetzevorschlagen muss, um über 2 Prozent. Schon diese Vo-rwzszdSwrRwJnwagiwcwn2twdSkcrSShdgSdwJznfkdlmwzKw1) Anlage 4
Die zweite falsche Voraussetzung, die sich inzidenterchon durch die Reden, aber auch durch den Entwurfieht, ist der Irrglaube, die falsche Auffassung, die vonen wahren Tatsachen unberührt ist, dass jugendlichetraftäter nach dem Jugendstrafrecht milder bestraftürden, dass das ein Privileg für Jugendliche und He-anwachsende sei und diese damit nicht in dem Maße zurechenschaft gezogen werden könnten, wie es bei Er-achsenen der Fall sei. Dem ist überhaupt nicht so. Dasugendstrafrecht geht nur mit anderen Sanktionen undach anderen Kriterien vor. Als Strafverteidiger wissenir, dass Jugendliche sehr häufig sogar härtere Strafen,uch Freiheitsstrafen, bekommen als Erwachsene. Daseschieht etwa deshalb, weil das Gericht der Auffassungst, dass in dem Augenblick, in dem das Urteil gefälltird, zur erzieherischen Einwirkung auf den Jugendli-hen die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch ohne Be-ährung erforderlich ist.Deshalb sind all die Argumente, die hier durchschei-en, zum Beispiel Heranwachsende im Alter von1 Jahren, die fürchterliche Dinge gemacht hätten, dürf-en nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilterden, falsch. Nach dem Jugendstrafrecht werden sieann behandelt, wenn das Gericht – häufig aufgrund vonachverständigengutachten – zu der Überzeugungommt, dass sie in ihrem Entwicklungsstand Jugendli-hen gleichzustellen sind. Sonst wird Erwachsenenstraf-echt angewendet.
ie wollen das umkehren. Allein aus der Tatsache, dassie fordern, dass die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahreeraufgesetzt wird, ergibt sich die eigentliche Intentionieses Gesetzentwurfs. Das ist der ideologische Hinter-rund.
ie wollen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken,ass die Länder, die solche Gesetze im Bundesrat immerieder einbringen, die Einzigen sind, die wirklich gegenugendkriminalität vorgehen und die Bevölkerung schüt-en wollen, während diejenigen, die solche Gesetzeicht haben wollen, weil sie wissen, dass sie in die Irreühren und nicht helfen, nicht genügend gegen Jugend-riminalität tun.Auf diesem Wege folgen wir Ihnen nicht. Wir gehenavon aus, dass die Gesetze, die wir haben, grundsätz-ich richtig und ausreichend sind und dass wir alles ver-eiden sollten, dass wir eine Entwicklung bekommen,ie sie etwa in einigen Staaten der Vereinigten Staatenu beobachten ist, wo mit Jugendlichen, manchmal mitindern, strafrechtlich in gleicher Weise umgegangenird wie mit Erwachsenen. Das ist nicht unsere Auffas-
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Hans-Christian Ströbelesung von einem Rechtsstaat. Das wollen wir hier inDeutschland nicht haben.
Ich sage Ihnen abschließend, Herr Kollege Kauder:Sie haben bemängelt, dass das Jugendstrafvollzugsge-setz noch nicht auf dem Tisch liegt. Ich kann Sie beruhi-gen. Sie konnten sich damit auch schon befassen.Es ist ein sehr umfangreicher Entwurf des Bundesjus-tizministeriums. Wir machen unsere Arbeit, die sehrschwierig und umfangreich ist. Sie sollten nicht den Ein-druck erwecken, dass sich das Bundesjustizministeriumoder die Koalition vor solchen Aufgaben drückt.
Als letzte Rednerin hat jetzt die Kollegin Laurischk
das Wort. Sie hat nicht mehr als zwei Minuten Redezeit.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und
Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf geht von einer
in den letzten Jahren stetig angestiegenen Jugendkrimi-
nalität aus, „der durch verstärkte Anstrengungen aller
staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte
wirksam zu begegnen“ sei. Tatsächlich sind die Zahlen
aber keineswegs so besorgniserregend.
Nach dem Kriminalitätsbericht des Innenministe-
riums von 2003 ist die Kinder- und Jugendkriminalität
seit 1998 weiterhin rückläufig. Dennoch befindet sie
sich absolut betrachtet auf einem zu hohen Niveau. Das
Jugendstrafrecht hat sich sicherlich bewährt. Es bietet
eine ganze Palette an Reaktionsmöglichkeiten der Ju-
gendgerichte und stellt den Erziehungsgedanken in den
Vordergrund, was dem noch nicht abgeschlossenen Rei-
fungsprozess von Jugendlichen und Heranwachsenden
entspricht.
Im Strafvollzug für Jugendliche sind die größten Er-
folge der Resozialisierung zu verzeichnen, was wesent-
lich mit ihrer in diesem Lebensabschnitt noch bestehen-
den Prägbarkeit, aber auch mit der Flexibilität der
richterlichen Reaktion nach dem Jugendgerichtsgesetz
und den Eingriffsmöglichkeiten nach dem Jugendhilfe-
gesetz zu tun hat.
In einer internen Anhörung hat die FDP-Bundestags-
fraktion mit verschiedenen Fachleuten über Möglichkei-
ten zur Reduzierung der Jugenddelinquenz gesprochen.
Dabei kamen auch Modelle intensiver Betreuung straf-
fälliger Jugendlicher – wie sie in Baden-Württemberg
beispielhaft sind – zur Sprache. Ich bin sicher, dass sich
der Rechtsausschuss auch im Rahmen einer Expertenan-
hörung mit dieser Fragestellung befassen wird.
Nach Auffassung der FDP-Fraktion ist die Schaffung
eines einheitlichen Jugendstrafvollzugsgesetzes dring-
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Sehr richtig, Herr Ströbele. Es wurde von den jeweili-
en Regierungen immer wieder in Angriff genommen
nd ist jedesmal auf Länderebene gescheitert. Das soll-
en wir in dieser Diskussion – die ich durchaus nicht für
berflüssig halte, wie Sie gerade meinten, Herr Kollege
tröbele – im Blick behalten. Diese Thematik kommt
ir etwas zu kurz.
Die Ankündigung, dass im Bundesjustizministerium
in Entwurf in Arbeit ist, sollte uns freuen.
ch bin sicher, dass die Bundesregierung ihre Anstren-
ungen verstärken wird, hinsichtlich eines Jugendstraf-
ollzugsgesetzes und seiner Finanzierbarkeit zu einem
it den Ländern abgestimmten Ergebnis zu kommen.
ch setze dabei auf die Gestaltungs- und Kompromissfä-
igkeit beider Seiten. Uns geht es um ein Kernanliegen
es Rechtsstaates, nämlich die Sicherstellung verfas-
ungsrechtlich unangreifbarer und effektiver Vollzugs-
edingungen auch für die Straftäter, die noch nicht er-
achsen sind.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes
fingstfest.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
rucksachen 15/1472 und 15/2192 an die in der Tages-
rdnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
ie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
ie Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
rdnung.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den
esucherinnen und Besuchern auf der Tribüne schöne
fingsttage. Wie ich höre, soll das Wetter besser werden.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
estages auf Mittwoch, den 16. Juni 2004, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.