Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-zung ist eröffnet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabi-nettssitzung mitgeteilt: Jahreswirtschaftsbericht 2003.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit,Wolfgang Clement.Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Die Bundesregierung hat heute den Jahreswirtschafts-bericht 2003 verabschiedet. Er steht unter dem Motto: Al-lianz für Erneuerung – Reformen gemeinsam voranbrin-gen. Die zentrale Botschaft dieses Berichtes lautet, dassdas Jahr 2003 zum Jahr der entscheidenden wirtschafts-und finanzpolitischen Weichenstellungen werden muss.Es muss uns in diesem Jahr gelingen, die Wachstumsdy-namik der Wirtschaft zu stärken, ein höheres Wachstums-potenzial zu erschließen und das Wachstum beschäfti-gungswirksamer zu machen; das heißt, wir müssen denWeg ebnen, damit wir ein höheres Wachstum bekommen,und müssen dafür sorgen, dass aus diesem wirtschaft-lichen Wachstum schneller und mehr Arbeitsplätze ent-stehen.Ich komme zu den Daten des Jahreswirtschaftsberich-tes. Die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen für diekommenden Monate stellen sich eher schwierig dar. Inunserer Projektion für das Jahr 2003 rechnen wir mit ei-nem realen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im Jahres-durchschnitt um rund 1 Prozent. Die Zahl der Erwerbs-tätigen wird im Jahresdurchschnitt wahrscheinlich einhalbes Prozent unter dem Durchschnitt des Jahres 2002liegen. Die Zahl der Arbeitslosen wird zunächst voraus-sichtlich leider ansteigen. Im Jahresdurchschnitt wird sienach dieser Prognose rund 4,2 Millionen erreichen unddamit den Stand des Vorjahres übertreffen. Im Vorjahr lagsie im Durchschnitt bei 9,8 Prozent; in diesem Jahr wirdsie nach dieser Prognose bei 10 Prozent liegen. Mit derBelebung der Konjunktur und dem allmählichen Wirk-samwerden der Arbeitsmarktreformen wird die Zahl derArbeitslosen in der zweiten Jahreshälfte zurückgehen.Zum Jahresende 2003 dürfte sie unter dem Stand am Endedes Jahres 2002 liegen.Im Klartext heißt das: Die Durststrecke auf dem Ar-beitsmarkt ist noch nicht überwunden. 2003 wird ein Jahrder Entscheidung, in dem wir alle, die Bundesregierung,die Politik insgesamt, Arbeitgeber und Gewerkschaften,in höchstem Maße gefordert sind, alles zu tun, um dieZahl der Arbeitslosen so rasch wie möglich zunächst un-ter die 4-Millionen-Marke zu drücken und dann weiter zusenken.Bei all dem gibt es aber auch Konjunkturindikatoren,die erste Lichtblicke verheißen. Zu nennen sind zum Bei-spiel die Zahl der Auftragseingänge, die Kapazitätsauslas-tungen, die Produktion, die im November 2002 merklichangestiegen ist, sowie die Stimmungsverbesserung beimKonjunkturindikator des ZEW und beim Ifo-Geschäfts-klimaindex, der erstmals seit acht Monaten eine leichteVerbesserung aufweist. Darüber hinaus können wir mode-rat zunehmende Lohnstückkosten, eine verhaltene Nach-frageentwicklung und eine Höherbewertung des Euroverzeichnen. Das bedeutet, die Gefahren sind insgesamteher zurückgegangen.Dafür, dass es in diesem Jahr, wenn auch nur sehr ver-halten, zu einer wirtschaftlichen Erholung kommen wird– prognostiziert ist 1 Prozent –, sprechen insgesamt güns-tige Rahmenbedingungen. Wir nehmen an, dass die welt-wirtschaftliche Dynamik zunehmen wird, dass die Ex-porte die Binnennachfrage und die Binnenkonjunkturanstoßen werden, dass die kurz- und langfristigen Nomi-nalzinsen niedrig bleiben werden, dass die Lohnstückkos-ten nur moderat zunehmen werden – wir rechnen mit1 Prozent nach 0,9 Prozent im vergangenen Jahr –, dassdie Inflationsrate mit etwa 1,5 Prozent niedrig bleibt unddass sich die Gewinnaussichten der Unternehmen insge-samt verbessern werden. Alles in allem bewegen wir unsmit unserer Schätzung des Wachstums, von dem wir aus-gehen, dass es moderat steigen wird, im Rahmen der
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Bundesminister Wolfgang ClementSchätzungen der nationalen Experten. Die Prognosen derdeutschen Experten gehen allesamt von einem realenWachstum von 0,6 Prozent bis 1,1 Prozent aus.Im Jahre 2003 wird es also ganz verhalten wieder auf-wärts gehen. Dies kann allerdings nur unter der Voraus-setzung geschehen, dass es zu keiner kriegerischen Ent-wicklung im Irak kommt. Ich denke, wir alle hoffen, dasses dort nicht zu einem Krieg kommt. Die Auswirkungeneiner kriegerischen Entwicklung sind für die Wirtschafts-prognostiker unkalkulierbar. Diese sind jedoch nicht anerster Stelle gefragt, wenn es um das Risiko eines Kriegesgeht. Es geht um die Menschen und um die Region.Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen,das ist die Situation.Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Minister. – Zunächst werden jetzt
Fragen zum Themenbereich, über den soeben berichtet
worden ist, gestellt. Als Erste hat sich die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch gemeldet.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, mich
würde interessieren, welche Auswirkungen die Steuer-
reform auf das Wirtschaftswachstum im Jahre 2002 hatte
und ob die Bundesregierung feststellen konnte, dass die
Kapitalgesellschaften, die durch diese Steuerreform be-
sonders begünstigt wurden, mehr Investitionen getätigt und
mehr Arbeitsplätze geschaffen haben als in den Vorjahren.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Frau Kollegin, das kann ich nicht dezidiert beantwor-
ten. Die wirtschaftliche Entwicklung ist so, wie ich sie ge-
schildert habe, nämlich sehr verhalten. Im vergangenen
Jahr betrug das Wachstum 0,2 Prozent.
Die Unternehmen haben in den Exportsektor enorm in-
vestiert; dort haben sie große Erfolge. Wir sind unverän-
dert Exportvizeweltmeister. Eine solche Differenzierung,
wie Sie sie beschreiben, ist nur schwer möglich. Wenn
man das Exportwachstum herausrechnet, erkennt man,
dass es im letzten Jahr in der Binnenwirtschaft ein Mi-
nuswachstum in Höhe von 1,3 Prozentpunkten gab. Das
ist die reale Lage.
Ich glaube, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung
nicht in die einzelnen Instrumente, die sie angesprochen
haben, ausdifferenzieren lässt.
Als nächstes hat der Kollege Hans Michelbach das Fra-
gerecht.
Herr Bundesminister, Sie gehen in Ihrer Wachstums-
prognose – Sie haben sie reduziert – von einem Wachstum
in Höhe von 1 Prozent aus. Das sollte nicht zu Selbstlob
führen. Ist bei einer Wachstumsprognose von 1 Prozent
überhaupt eine Erneuerung in den Bereichen der Investi-
tionen und der Beschäftigung möglich? Kann man das
nicht eher mit Ernüchterung als mit Erneuerung um-
schreiben? Ist nicht ein Wachstum – entsprechende Progno-
sen wurden von anderen Instituten erstellt – von unter
1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erwarten? Ist da-
mit nicht auch in diesem Jahr wieder die Gefahr der Über-
schreitung der Defizitquote des Wachstums- und Stabi-
litätspakts von Maastricht gegeben?
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Herr Kollege, ich habe ja gesagt, dass sich die nationa-
len Wachstumsprognosen zwischen 0,6 und 1,1 Prozent
bewegen. Unsere Experten nehmen ein Wachstum von
1 Prozent an. Bei diesem Wachstum und unter den ge-
gebenen Bedingungen gehen wir davon aus, dass sich die
Verschuldungsquote der Bundesrepublik Deutschland
– gemäß dem Maastrichter Vertrag – auf unter 3 Prozent
belaufen wird. Das ist die reale Lage.
Es mag sein, dass die Situation zur Ernüchterung
beiträgt. Wichtig ist aber, dass wir durch sie veranlasst
werden, alles zu tun, was möglich ist, um die Wachstums-
kräfte zu stärken und auf diese Weise ein höheres Wachs-
tum zu erreichen und mehr Arbeitsplätze – auch für den
Fall eines niedrigeren Wachstums – zu schaffen. Die Er-
gebnisse des vergangenen Jahres und auch die Perspek-
tive dieses Jahres betrachte ich eher als Aufforderung an
Sie und mich, an uns alle, alles im jeweiligen Verantwor-
tungsbereich Mögliche zu tun, um die Situation zu ver-
bessern.
Es ist gar keine Frage, dass sie nicht zufriedenstellend
ist. Allein bei der Beschreibung, dass sie nicht zufrieden-
stellend ist, zu verharren genügt aber nicht. Durch poli-
tisches Handeln ist es möglich, Prognosen zu über- oder
unterbieten, je nachdem, aus welcher Perspektive Sie das
betrachten. Wir können also eine bessere Lage erreichen,
als uns die Prognostiker zurzeit zutrauen.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Die nächste Frage
hat der Kollege Dirk Niebel.
Herr Minister, Sie haben gerade vorgetragen, dass Siefür das Jahr 2003 mit einem wirtschaftlichen Wachstumvon 1 Prozent und einer durchschnittlichen Arbeitslosig-keit von 4,2 Millionen rechnen. Sie haben für das Endedieses Jahres als Ziel definiert, die durchschnittliche Ar-beitslosigkeit des letzten Jahres zu unterbieten. Im letz-ten Jahr lag die durchschnittliche Arbeitslosigkeit bei4,06 Millionen. Die wirtschaftswissenschaftlichen Insti-tute gehen im Wesentlichen davon aus, dass die Beschäf-tigungsschwelle des Wirtschaftswachstums bei 2 bis2,5 Prozent liegt.Deswegen interessiert mich bei dem von Ihnen prognos-tizierten Wirtschaftswachstum, mit welchem arbeits-
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marktpolitischen Gesamtkonzept Sie dieses Ziel errei-chen wollen. Werden Sie dieses Gesamtkonzept zu Be-ginn dieses Jahres vorlegen oder wird es bei den monat-lich häppchenweise vorgelegten Reformvorschlägenbleiben, wonach die Reform für Januar, das Kündigungs-schutzgesetz, in zwei Tagen abgeschlossen sein müsste?
– Sie haben eine Reform pro Monat angekündigt. Die Re-form für Januar war der Kündigungsschutz. Der Januar istin zwei Tagen vorbei. Deswegen frage ich nach dem Ge-samtkonzept.Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Sie haben Recht: Bisher gehen wir in Deutschland da-von aus, dass erst ab einem Wachstum von 2 bis 2,5 Pro-zent eine wirkliche Beschäftigungswirkung festzustellenist. Wie Sie wissen, ist das in den Nachbarstaaten wieFrankreich oder den Niederlanden anders. Unser Zielmuss also sein, auch mit einem niedrigeren Wachstum– wir sollten nicht gleich verzagen, sondern versuchen,ein höheres Wachstum zu erreichen – eine Beschäfti-gungswirkung zu erzielen.Dass wir das nicht erreicht haben, hat meiner Auffas-sung nach sehr stark damit zu tun, dass wir den Dienstleis-tungssektor nicht genügend entwickelt haben. Deshalbwaren die Schritte, die wir gemeinsam mit der CDU/CSU-Opposition getan haben, um den Sektor der geringfügigQualifizierten mit Aufstiegsmöglichkeiten und den Be-reich der Leih- und Zeitarbeit zu entwickeln, richtig. Dassind aus meiner Sicht Instrumente, mit denen es möglichist, die Beschäftigungswirksamkeit schon bei niedrigeremWachstum eintreten zu lassen. Deswegen waren und sinddiese Maßnahmen und die jetzt infrage stehenden Schritterichtig.Die erste Reform für diesen Monat war die am 1. Ja-nuar in Kraft getretene. Sie müssen sich also für dienächste Reform bis zum Februar gedulden, Herr Kollege.Aber Sie können sich darauf verlassen, dass die Reformen,die ich ankündige, tatsächlich vollzogen werden sollen.
– Das hängt von Ihnen ab. Sie sind der Gesetzgeber. Ichdarf noch nicht einmal über diese Brüstung steigen.
Die nächste Frage hat der Kollege Hartmut Schauerte.
Herr Minister Clement, der Jahreswirtschaftsbericht
für 2002 enthielt eine Wachstums- und Beschäftigungs-
prognose. Können Sie noch einmal sagen, wie in der Ab-
rechnung die Abweichung zwischen Soll und Ist war?
Können Sie mir die Frage beantworten, wie Sie die
Annahme rechtfertigen wollen, dass auch Ihre jetzige
Prognose nicht wieder abweichen wird, insbesondere vor
dem Hintergrund, dass die gesamtwirtschaftliche Stim-
mungslage zu Beginn dieses Jahres deutlich schlechter als
Anfang des letzten Jahres war?
Ich darf direkt eine zweite Frage anschließen. Letztes
Jahr war ein Exportzuwachs von 2,9 Prozent zu verzeich-
nen. Für dieses Jahr rechnen Sie mit einem Export-
zuwachs von 4,5 Prozent. Wie wollen Sie vor dem Hin-
tergrund einer steigenden Dollar-Euro-Parität eine solche
Zahl rechtfertigen?
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Herr Kollege Schauerte, für das Jahr 2002 war in der
Herbstprojektion von 2001 ein Wachstum von 1,25 Pro-
zent prognostiziert worden. Für 2003 ist in der Herbst-
projektion von 2002 die Zahl von 1,5 Prozent genannt
worden. Jetzt liegt die Projektion bei 1 Prozent. Sie wissen,
dass wir uns bei diesen Prognosen und den Korrekturen in
trauter Gemeinsamkeit mit allen Prognostikern befinden.
Dennoch sollten und werden wir uns nicht im Herab-
definieren der wirtschaftlichen Chancen überbieten, son-
dern uns geht es darum, die Chancen zu verbessern. Es ist
ebenso möglich, eine Prognose nach oben zu korrigieren.
Das bleibt möglich, auch wenn es in Deutschland zurzeit
befremdend klingen mag. Es ist möglich, die Situation zu
verbessern. Tatsächlich sind aber die Prognosen in der
letzten Zeit aufgrund der Einbrüche in der Weltwirtschaft
insgesamt korrigiert worden, und zwar flächendeckend
und weltweit. Mit dieser Situation müssen wir umgehen.
Aber wir müssen alles tun, um diese Situation zu korri-
gieren.
Hinsichtlich der Exportsituation ist der Sachverständi-
genrat etwas skeptischer als wir, aber nicht so skeptisch,
wie es in der Zahl 2,9 Prozent zum Ausdruck kommt. Wir
gehen davon aus, dass sich die Weltwirtschaft erholt.
Auch die internationalen Institute erwarten, dass sich die
amerikanische Volkswirtschaft erholt; im Hinblick auf die
japanische Volkswirtschaft weisen ebenfalls manche Indi-
katoren nach oben. In Lateinamerika, beispielsweise in
Argentinien, scheint die Talsohle erreicht zu sein. Inso-
fern gehen wir von einer Aufhellung der weltwirtschaftli-
chen Bedingungen aus, allerdings unter dem Vorbehalt,
dass es nicht zu einer kriegerischen Entwicklung im und
um den Irak kommt. Ich habe eben versucht, deutlich zu
machen, dass eine solche Entwicklung unkalkulierbar
wäre. Ich will hier nichts an die Wand malen, sondern nur
deutlich sagen, dass so etwas in den Prognosen nicht
ernsthaft vorgesehen werden kann.
Vielen Dank. – Die nächste Frage wird von der Kolle-
gin Dagmar Wöhrl gestellt.
Herr Minister, der Jahreswirtschaftsbericht zeigt auchdiesmal, dass die Realität Sie einholt. Die wirtschaftlicheDynamik fehlt. Eine Frage zu den im Bericht veröffent-lichten Zahlen: Sie gehen davon aus, dass der privateDirk Niebel
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DagmarWöhrlKonsum 2003 um bis zu 2,5 Prozent ansteigen wird – unddas vor dem Hintergrund, dass er im letzten Jahr nur um0,5 Prozent anstieg. Worauf begründen Sie Ihre Prognoseund wie sehen Sie den Zusammenhang mit den von Ihnenbeschlossenen Steuer- und Abgabenerhöhungen, die al-lein in diesem Jahr die Bürger und Bürgerinnen mit circa27 Milliarden Euro belasten werden?Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Frau Kollegin, im Bericht ist ausgewiesen, dass der pri-vate Konsum nach der Prognose – wir reden hier immerüber Prognosen – um ein halbes Prozent ansteigen wird.Sie haben eben den nominellen Wert genannt; real rech-nen wir nur mit einem Anstieg von einem halben Prozent.Das leichte Minus ist für das vergangene Jahr mit der Ent-wicklung des Euro und anderen Faktoren der gefühltenInflation erklärt worden. Die Kaufzurückhaltung war inDeutschland besonders ausgeprägt. Aufgrund der etwasbesseren Bedingungen, die es in diesem Jahr im Vergleichzum Vorjahr geben sollte, insbesondere aufgrund der Preis-entwicklung, rechnen die Experten – ich rechne ja nicht;die Experten rechnen, und zwar unbeeinflusst – insgesamtmit einer etwas kräftigeren Nachfrage, wenn auch nichtmit einer so kräftigen Nachfrage, wie man es sich vor-stellen könnte und wie sie in anderen Staaten gegeben ist.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Gudrun Kopp.
Herr Minister, in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht spre-
chen Sie – dies erscheint angesichts der auch für dieses
Jahr prognostizierten hohen Arbeitslosigkeit als recht ge-
wagt – davon, dass eine dynamische Steigerung der Ein-
nahmen aus Sozialbeiträgen zu erwarten sei. Worauf be-
gründen Sie Ihre optimistische Einschätzung?
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Darauf, dass sich die Situation insgesamt und dadurch
die Einnahmesituation verbessert.
– Ja, sicher. Die Experten gehen davon aus – das ist aus
meiner Sicht sehr verhalten gerechnet –, dass sich die Ar-
beitslosigkeit aufgrund der Hartz-Maßnahmen im Jahres-
durchschnitt um 120 000 verringern wird. Ich selbst gehe
davon aus – das ist jedenfalls mein Ziel; es ist kein Ver-
sprechen –, dass wir eine weiter gehende Entlastung er-
reichen. Diese Zuversicht teile ich mit der Leitung der
Bundesanstalt für Arbeit. Wir hoffen, dass wir insbeson-
dere in der zweiten Jahreshälfte weitere Fortschritte auf
dem Arbeitsmarkt erzielen werden.
Die nächste Frage stellt der Kollege Karl-Josef
Laumann.
Herr Minister, Sie gehen, wie Sie eben selbst gesagt ha-
ben, im Jahreswirtschaftsbericht von einem Wachstum
des privaten Verbrauchs in Höhe von 0,75 Prozent aus.
Erst einmal aber wird aufgrund von Beschlüssen, die auch
Sie im Kabinett gefasst haben – der Gesetzgeber hat ja
eine Kabinettsvorlage mit Mehrheit beschlossen –, der
normale private Haushalt ab Januar durchschnittlich
100 Euro weniger zur Verfügung haben. Woher nehmen
Sie bei einer Verkleinerung der Lohntüte um im Schnitt
100 Euro die Hoffnung, dass der private Verbrauch in
Deutschland zunehmen wird?
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Das Konsumverhalten der Menschen hängt von der
Stimmungslage ab. Die Stimmungslage war in Deutsch-
land im vergangenen Jahr, aufgehängt an dem, was unter
anderem mit dem „Teuro“ zusammenhing, alles andere
als konsumfreudig und konsumfördernd. Diesen Zusam-
menhang kennen Sie so gut wie ich.
Im Übrigen ist die Situation sehr differenziert zu sehen.
Aber selbstverständlich spielen auch die Höhe der Ar-
beitslosigkeit und andere Faktoren eine Rolle.
Die Ziele, die wir uns gesteckt haben, werden natürlich
– das hoffe ich – auch die Stimmungslage verbessern und
damit zu einem anderen Kaufverhalten führen. Hinzu
kommen objektive Faktoren wie beispielsweise die zu er-
wartende Preisentwicklung, die Entwicklung der Infla-
tionsrate, die in Deutschland ausgesprochen stabil ist, und
die Lohnentwicklung.
Der Faktor der Belastung, den Sie angesprochen ha-
ben, sollte also nicht der einzige sein, den es zu berück-
sichtigen gilt. Abgesehen davon sollten Sie – Sie haben
mit 100 Euro lediglich eine Durchschnittsmarke der Be-
lastung gesetzt – das Kaufverhalten der einzelnen Bevöl-
kerungsgruppen sehr viel differenzierter sehen. Beispiels-
weise sollte man zwischen dem Kaufverhalten der
Rentner und dem anderer Bevölkerungsgruppen unter-
scheiden. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, dass
die Einkommen sehr unterschiedlich sind und dass das
Kaufverhalten entsprechend differenziert zu sehen ist.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer.
Herr Minister Clement, Sie haben gerade davon ge-sprochen, dass Sie alle Maßnahmen ergreifen möchten,die das Wachstum beschleunigen und eine Belebung desArbeitsmarktes, also den Aufbau von Beschäftigung, er-möglichen. Die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt etwas
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der Glaube an die Taten, wenn ich die letzten Wochen undMonate Revue passieren lasse.Sie haben vor wenigen Tagen den interessanten Vor-schlag gemacht, den Kündigungsschutz zu modernisierenbzw. zu flexibilisieren. Mich interessiert, wie konkret diediesbezüglichen Pläne sind, wann und wie Sie sie umzu-setzen gedenken und ob Sie in Ihrer Fraktion auch eineMehrheit dafür haben. Wir stehen zur Verfügung, wennSie Unterstützung benötigen; denn wir halten die von Ih-nen vorgeschlagenen Maßnahmen für den Aufbau vonBeschäftigung für sehr sinnvoll.Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Kollege, mir ist nicht klar, worauf Sie Ihre Skep-sis stützen. Sie haben doch mit uns zusammen einen Teilder notwendigen ersten Reform des Arbeitsmarktes be-schlossen. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dannhaben Sie sich – nicht Sie persönlich, aber Ihre Fraktion –über das Tempo der Veränderungen und nicht über dieLangsamkeit bei der Umsetzung der gesetzlichen Maß-nahmen beschwert.
– Herr Laumann, selbstverständlich haben Sie immergenügend Kraft. Aber schauen Sie sich einmal Ihre Kol-legen an.
Insoweit kann ich Ihre Kritik nicht verstehen.Des Weiteren habe ich in einem Interview die Frage be-jaht, ob das Thema Kündigungsschutz beispielsweise inkleinen und kleinsten Unternehmen eine Rolle spielenkönne; das ist richtig. Wir werden selbstverständlich zuüberprüfen haben, ob es auch im Arbeitsrecht gesetzlicheVorschriften gibt, die den Eintritt von Arbeitslosen in denArbeitsmarkt behindern. Dies werden wir in aller Sorgfalterörtern. Zu gegebener Zeit wird die Regierung entspre-chende Vorschläge machen. Dies wird nicht allzu langeauf sich warten lassen; denn wir haben, wie ich schon oftgesagt habe, keine Zeit zu verlieren. Wenn Sie bei dem,was wir vorschlagen, mittun wollen, sind Sie herzlichwillkommen.
Vielen Dank.
– Sie können sich gerne noch einmal melden.
Das Fragerecht hat jetzt der Kollege Johannes
Singhammer.
Herr Minister, Sie haben mit dem heute vorgelegtenJahreswirtschaftsbericht 2003 das ursprünglich prognos-tizierte Wirtschaftswachstum um 0,5 Prozentpunkte nachunten korrigiert. Das bedeutet nach ExpertenschätzungenEinnahmeausfälle im Bereich der Steuern und bei den So-zialversicherungssystemen in Höhe von etwa 5Milliarden.Nun hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Schätzungen– leider – immer weiter nach unten korrigiert werdenmussten. Bei allem Optimismus, den die Politik auch ver-breiten soll: Haben Sie denn einen Notfallplan, wenn daseintreten sollte, was einige Institute voraussagen, nämlichwenn das Wirtschaftswachstum nur 0,5 Prozent beträgtund wenn sich dadurch bedingt erneut ein großes Loch beiden Einnahmen auftut? Wie wollen Sie dann reagieren?Wie wollen Sie die dann fehlenden Finanzmittel aufbrin-gen?Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Kollege, unser Plan ist es natürlich, die Ziele, diewir uns gesteckt haben, zu erreichen. Dazu gehört bei-spielsweise, dass wir in diesem Jahr ohne Bundeszu-schuss für die Bundesanstalt für Arbeit auskommen wol-len. Das ist, wie ich finde, ein bemerkenswertes Ziel,nachdem der Bund im vergangenen Jahr, wenn ich dasrichtig im Kopf habe, einen Zuschuss von 5 bis 6 Milliar-den Euro aufbringen musste.
Wir sind aufgrund der ersten Reformschritte, die wirim Bereich des Arbeitsmarktes unternommen haben, indieser Hinsicht optimistisch. Es geht in diesem Jahr da-rum, diese Schritte zu vervollkommnen, das heißt, nichtnur entsprechende Gesetze zu beschließen, sondern dasBeschlossene auch umzusetzen; denn Gesetze allein ver-ändern die Welt noch nicht. Das bedeutet einen erhebli-chen Umbau im Haushalt und bei den Instrumenten derBundesanstalt für Arbeit. Der Vorstandsvorsitzende, HerrGerster, hat ja deutlich gemacht, dass man hier umsteuernmüsse. Die bisherigen Instrumente der Strukturförderung,die im Osten und vor allem im Westen angewendet wor-den sind, müssen in ihrer Bedeutung gegenüber den, wieich sie nenne, aktiven Beschäftigungsmaßnahmen zu-rücktreten.Wir hoffen natürlich, dass wir beispielsweise mit derFörderung von Zeit- und Leiharbeit oder mit dem Modell,welches das Hinübergleiten von einem Minijob in einen800-Euro-Job erleichtert, tatsächliche Veränderungen be-werkstelligen und damit auch Entlastungen an anderenStellen erreichen. Die Schaffung neuer Beschäftigungs-möglichkeiten, auch in Form von Selbstständigkeit, istdas Ziel unseres Vorgehens.Es gibt diesbezüglich auch sehr ermutigende Zahlen.Ich habe nicht die Absicht, Düsternis zu verbreiten; viel-mehr möchte ich darauf hinweisen, dass beispielsweiseim vergangenen Jahr 123 000 arbeitslose Menschen – ichhoffe, dass ich diese Zahl richtig in Erinnerung habe – indie Selbstständigkeit gegangen sind, viele davon in einebisher beständige Selbstständigkeit. Diese Entwicklungwollen wir forcieren. Dazu ist eine Reihe von Instrumen-ten vorhanden.Um auf den zweiten Teil Ihrer Frage einzugehen: Wirgehen davon aus, dass das Stabilitäts- und Wachstums-gesetz die Spielräume bietet, die wir brauchen, um aufDr. Joachim Pfeiffer
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Bundesminister Wolfgang Clementkonjunkturelle Veränderungen, die aus heutiger Sichtnicht erkennbar sind, reagieren zu können, und zwar, wiewir mehrfach angekündigt haben, flexibel, ohne dass wirdeshalb das Ziel des Stabilitätspakts, die Neuverschul-dung bis 2006 auf nahezu null zu senken, aufgeben. Esbleibt bei diesem Ziel, es bleibt bei den Steuersenkungen2004/2005, wie es der Gesetzgeber beschlossen hat. Steu-errechtlich reicht das aus, was die Bundesregierung vor-gelegt hat. Die entsprechenden Vorlagen befinden sichjetzt im Gesetzgebungsverfahren. Wir werden uns mit denErgebnissen auseinander zu setzen haben.
Die nächste Frage hat der Kollege Hans Michelbach.
Herr Bundesminister, wie kommen Sie zu Ihrer Grund-
aussage, dass sich die Gewinnaussichten unserer Betriebe
verbessern werden? Verwechseln nicht auch Sie Brutto-
gewinn mit Nettogewinn? Durch das Steuervergünsti-
gungsabbaugesetz wird die Steuerbemessungsgrundlage
deutlich verbreitert, und zwar ohne gleichzeitige Tarif-
senkungen. Angesichts dessen müssen Sie doch einräu-
men, dass die zusätzlichen Steuerbelastungen von 23Mil-
liarden Euro allein in diesem Jahr und etwa
70 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren den Net-
togewinn doch erheblich aufzehren werden und dass da-
mit Investitionsmöglichkeiten stark eingeschränkt wer-
den. Wie ist es konkret mit der Firmenwagenbesteuerung
und mit der Wertzuwachsbesteuerung? Dadurch werden
doch viele Tausend Arbeitsplätze vernichtet. Wie ist es
mit der Eigenheimzulage? Vielleicht können Sie hier ein-
mal eine ganz konkrete Antwort geben.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Meine konkrete Antwort lautet, dass ich die in den von
Ihnen entworfenen Bildern enthaltenen Auffassungen
nicht teile.
Experten – wenn Ihnen danach ist, dann können Sie an-
dere Experten, auch solche außerhalb des Wirtschaftsmi-
nisteriums, befragen – sehen die Entwicklung in Deutsch-
land etwas positiver, als Sie es tun. Ansonsten sollten wir
die Diskussion über steuerliche Maßnahmen, die die Bun-
desregierung vorgeschlagen hat, an den Stellen führen, an
denen sie zu führen ist. Entsprechende Vorlagen befinden
sich zurzeit im parlamentarischen Verfahren des Bundes-
tages und später werden sie vom Bundesrat beraten. Da
gehört diese Diskussion auch hin.
Als Nächster hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer das
Fragerecht.
Herr Minister, ich möchte zu den Themen Kündigungs-
schutz und Flexibilisierung nachfragen. Sie haben sehr
konkrete Vorschläge gemacht und auch von einer soforti-
gen Umsetzung gesprochen, zumindest vor wenigen Ta-
gen. Wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, haben
Sie von „prüfen“, „überlegen“ und „zu gegebener Zeit“
gesprochen. Mir scheint, dass Sie das Vorhaben auf die
lange Bank schieben wollen. Können Sie nicht konkrete
Termine und Zeiten nennen?
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Ihre Einschätzung, dass es auf die lange Bank gescho-
ben werden soll, ist falsch.
– Diese Absicht habe ich nicht. Wenn es Vorschläge zu
machen gilt, dann werde ich sie der Bundesregierung vor-
legen. Diese Vorschläge wird die Bundesregierung dann
entweder akzeptieren oder nicht. Wenn sie sie akzeptiert
hat, wird sie sie in Gesetzesform kleiden. So ist der Ab-
lauf. Da müssen Sie sich gedulden. Es wird schnell gehen.
Das, was wir zu tun haben, wird sich schnell vollziehen.
Dass Sie jetzt eine Antwort von mir wollen und damit die
Belebung einer bestimmten öffentlichen Diskussion be-
wirken wollen, kann ich verstehen. Mit einer solchen Ant-
wort möchte ich Ihnen jetzt nicht dienen. Ich möchte mit
den Ergebnissen dienen, die dann vorliegen, wenn die
Bundesregierung sie erarbeitet hat. Selbstverständlich
wird es auch eine Erörterung in der Koalition geben. So
ist der Ablauf.
Ich kann Ihren Wissensdurst jetzt nicht stillen. Sie ken-
nen alle Bedingungen, über die wir reden. Wir sprechen
über das Abfindungsrecht, das sich in Deutschland aus der
Rechtsprechung entwickelt hat, und über Weiteres. Da-
rüber wird sehr sorgfältig zu diskutieren sein. Selbstver-
ständlich müssen wir auch das Arbeitsrecht dahin gehend
prüfen, inwieweit es beschäftigungshemmend oder be-
schäftigungsfördernd wirkt.
Bitte keine Zwischenfragen, Herr Laumann; die sind
nicht zulässig.
Die Zeit ist zwar schon fast abgelaufen, aber ich lasse
jetzt noch drei Fragen zu. Die nächste Frage hat die Kol-
legin Veronika Bellmann.
Herr Minister, Ihr Optimismus in allen Ehren; auch wirwollen nicht alles schlechtreden. Dennoch werde ich dasGefühl nicht los – auch nicht nach der Vorstellung des Jah-reswirtschaftsberichts –, dass die Regierung einen Zick-zackkurs vollführt: Auf ein Zick folgt konsequenterweiseimmer ein Zack, man weiß aber nicht, in welche Richtung.Ich möchte meine Fragen ganz klar in eine Richtung len-ken, nämlich auf das Thema Ost.
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Sie haben vorhin gesagt, Ihr Optimismus rühre daher,dass das Hartz-Konzept umgesetzt werden soll usw. In derAnhörung wurde uns von Florian Gerster gesagt, dassviele Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes im Ostennicht ziehen. Ich spreche hier hauptsächlich die Arbeits-vermittlung an. Wie soll die besser funktionieren und wiesollen mehr Menschen Beschäftigungs- und Arbeitsplätzebekommen, wenn keine zu vermitteln sind? Wie wollenSie speziell im Osten die Vermittlung stärken?Meine zweite Frage betrifft das Thema Ostförderunginsgesamt: Im Entwurf des Haushaltsplanes wurden dieMittel für die GA Ost um 60 Millionen gekürzt. MeinenSie, dass die Wirtschaft im Osten sich schon selbst trägtund so stabil ist, dass man sich das erlauben kann?Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Ich glaube, dass Sie mit Ihrer Auffassung, die Bundes-regierung vollziehe einen Zickzackkurs, falsch liegen.Die Bundesregierung hat einen klaren Kurs eingeschla-gen; dieser Kurs ist auf mehr Wachstum ausgerichtet. Ichhabe jetzt mehrfach die entsprechenden Schritte geschil-dert: die Steuerentlastungen in den Jahren 2004 und 2005;in diesem Jahr werden wir Maßnahmen ergreifen, um dieLohnnebenkosten senken zu können; parallel dazu erar-beiten wir eine Reform der sozialen Sicherungssysteme;ich habe über die Mittelstandsoffensive, über Bürokra-tieabbau und Ähnliches gesprochen. – All diese Schrittekennen Sie; sie sind alle auf das gleiche Ziel ausgerichtet,nämlich das Wachstum zu fördern und gleichzeitig denArbeitsmarkt zu entlasten.Weiterhin habe ich darauf hingewiesen, was wir ge-meinsam – jedenfalls CDU/CSU, Koalitionsfraktionenund die Bundesregierung – getan haben, nämlich die För-derung des Niedriglohnsektors, um auch bei niedrigeremWachstum eine höhere Beschäftigungsrate zu erzielen.Bei der Betrachtung dessen – wir haben darüber schoneinmal unter vier Augen gesprochen –, was Ostdeutsch-land angeht, wehre ich mich gegen die Auffassung undwerde auch versuchen, das in Ostdeutschland deutlich zumachen, als verfolgten die auf dem Hartz-Konzept auf-bauenden Gesetze und unsere Mittelstandsförderung einwestlich orientiertes Programm. Es sind sehr wohl sehrwichtige Maßnahmen dabei, bis hin zum Programm Ka-pital für Arbeit, die für ostdeutsche Unternehmen vonaußerordentlicher Bedeutung sind.Es kommt hinzu, dass wir in Deutschland insgesamt,aber in Ostdeutschland in besonderer Weise, die Erweite-rung der Europäischen Union durch den Beitritt der mit-tel- und osteuropäischen Länder ins Visier nehmen soll-ten. Die Bundesregierung wird auf diesem Sektor dienotwendigen Aktivitäten einleiten, um beispielsweisedurch Begegnungen von Unternehmern mehr Bewegungzu erzeugen. Von Wien aus geschieht dies bereits; dieÖsterreicher sind nun einmal im Umgang mit den mittel-und osteuropäischen Staaten gut trainiert. Wir werdenalso die notwendigen Aktivitäten einleiten. Insgesamtsind die finanziellen Aufwendungen vonseiten des Bun-des für Ostdeutschland gleich bleibend hoch. Bitteberücksichtigen Sie insbesondere, dass wir einen Bund-Länder-Finanzausgleich haben, der bis zum Jahre 2019reicht und dem Infrastrukturaufbau dient. Ich glaube, dasswir gute Voraussetzungen haben, um all das zu schaffen.Im Übrigen ist die Entwicklung im gewerblichen Be-reich in Ostdeutschland deutlich besser als im Westen;auch das Wachstum ist höher. Der Blick wird nur durchdie Entwicklung der Bauwirtschaft in Ostdeutschland ver-stellt. Die Entwicklungen geben also durchaus zur Zuver-sicht Anlass. Wir werden sie verstärken und dazu im Laufedieses Jahres die notwendigen Aktivitäten einleiten.
Vielen Dank. – Die nächste Frage hat die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch. Ich bitte jetzt um kurze Fragen und
kurze Antworten, weil die Zeit eigentlich schon abgelau-
fen ist. Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister,
ich würde gerne wissen, wie hoch die Bundesregierung
den Anteil der Schwarzarbeit am Bruttoinlandsprodukt
schätzt und welche Maßnahmen die Bundesregierung im
Jahreswirtschaftsbericht ausgewiesen hat, um den Anteil
der Schwarzarbeit zu reduzieren.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Ich habe nicht im Kopf, ob es im Jahreswirtschaftsbe-
richt eine Anmerkung dazu gibt. Aber wir rechnen damit,
dass 4 bis 5Millionen illegale Beschäftigungsverhältnisse
in Schwarzarbeit bestehen.
Was tun wir? Wir gehen davon aus, dass wir durch die
Maßnahmen, die wir im gering qualifizierten Bereich ein-
geleitet haben, inklusive der neu hinzugekommenen steu-
erlichen Absetzbarkeit, sowohl Arbeitgeber als auch Ar-
beitnehmer aus der Schwarzarbeit herausholen können.
Die Möglichkeiten steuerlicher Entlastung, die wir anbie-
ten, wirken ja sogar bis in die persönlichen Lebensver-
hältnisse hinein.
Das sind wichtige Maßnahmen; es sind durchaus An-
reize, aus der Schwarzarbeit herauszukommen. Es besteht
das Angebot, ein legales Arbeitsverhältnis anzunehmen,
und zwar unter bürokratisch einfachsten Bedingungen.
Das spielt eine große Rolle. Wir tun gut daran, die Men-
schen zu ermutigen, davon Gebrauch zu machen.
Darüber hinaus werde ich darauf hinzuwirken ver-
suchen, dass der Einsatz der Instrumente gegen die
Schwarzarbeit auf eine Stelle konzentriert wird; zurzeit
sind noch mehrere Stellen damit beschäftigt.
Die letzte Frage hat die Kollegin Dagmar Wöhrl.
Herr Minister, Sie sind wirklich Ankündigungswelt-meister, wenn ich das so bezeichnen darf. Leider schaut esVeronika Bellmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
DagmarWöhrlin der Realität und in der Umsetzung etwas anders aus. ImJahreswirtschaftsbericht wurde die Prognose für das Wirt-schaftswachstum auf 1 Prozent gesenkt. Wie sehen Sie dieAuswirkungen auf den Haushalt der Regierung, die nochimmer von einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozentausgeht, und wie ist der Zeitplan bezüglich der Umset-zung des Masterplans für den Bürokratieabbau?Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Frau Kollegin Wöhrl, Sie mögen bitte entschuldigen:Ich vermag Ihre Äußerung hinsichtlich des „Ankündi-gungsweltmeisters“ nicht ganz zu verstehen. Sie warendabei, als wir die Gesetze beschlossen haben, die ich an-gekündigt habe. Da ist also etwas vollzogen worden.
– Das ist Ihnen zu verdanken, aber ein bisschen auch mir;wir haben es gemeinsam getan. Dabei waren weder Sieeine Ankündigungskollegin noch war ich ein Ankündi-gungsminister, sondern wir waren Handlungsbevoll-mächtigte und haben entsprechend gehandelt. So wird esauch weiterhin der Fall sein.Nun zu den geringeren Wachstumserwartungen. Sietun immer so, als liege die Projektion allein auf meinemRücken. Die zugrunde gelegten Wachstumserwartungenwaren vom Herbst des vergangenen Jahres; nun abersagen die Wissenschaftler und die Sachverständigen, dasssich – damit wir das nicht vergessen: insbesondere auf-grund der weltkonjunkturellen Ereignisse, die für Deutsch-land wichtiger als für alle anderen Länder sind, da wir mitder Weltwirtschaft stärker verflochten sind – andere Da-ten ergeben.Zu den Auswirkungen auf den Haushalt: Wir bleibenunter 3 Prozent Neuverschuldung. Wir haben zurzeit,wenn ich das richtig im Kopf habe, eine Nettoneuver-schuldung von 18,9 Milliarden Euro. Das ist keineAnkündigung, sondern die Beschreibung einer Tatsache.Genau so wird es sich weiter vollziehen, Frau Kollegin.
– Wir sind in der Vorbereitung. Wir können das ja ge-meinsam mit hohem Tempo machen; wenn Sie mitma-chen, werden wir das schneller hinbekommen und sorasch von der Ankündigung zur Handlung kommen. Ichfreue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.
Vielen Dank, Herr Bundesminister Clement, dass Sie
sich persönlich den Fragen der Kollegen gestellt haben,
was ja auch bei der Regierungsbefragung nicht selbstver-
ständlich ist.
Ich darf fragen, ob es zu anderen Themenbereichen
noch Fragen an die Bundesregierung gibt. Es sind keine
angemeldet worden. – Das ist nicht der Fall. Dann beende
ich die Befragung.
Wir kommen zur Fragestunde:
Fragestunde
– Drucksache 15/344 –
Zunächst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staats-
sekretärin Marieluise Beck zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 1 der Kollegin Petra Pau:
Wie viele rechtsextreme, fremdenfeindliche und antisemiti-
sche Schriften, Bücher, CDs, Filme und Tonträger sind im Jahr
2002 indiziert worden?
Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration:
Frau Kollegin Pau, im Jahreszeitraum 2002 hat die
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften 39Trä-
germedien verboten, weil sie rechtsextremistischen, frem-
denfeindlichen oder antisemitischen Inhalt hatten. Es han-
delte sich dabei überwiegend um CDs, und zwar um 28,
acht Bücher und Broschüren und drei Computerspiele.
Videofilme waren bei den indizierten Trägermedien nicht
dabei.
Zusatzfragen, Frau Pau? – Bitte schön.
Herzlichen Dank. – Eine erste Nachfrage. Gab es nach
der Indizierung der genannten Materialien besondere Ak-
tionen zur Sicherstellung von rechtsextremen Schriften,
CDs oder auch Schallplatten?
Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration:
Die Bundesprüfstelle indiziert weiter und zieht all das
ein, dessen sie habhaft werden kann.
Eine zweite Nachfrage. Welche Maßnahmen hat dieBundesregierung im Jahre 2002 ergriffen, um gegen sol-che rechtsextremen Machwerke aufklärerisch vorzugehenbzw. die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren? Was ha-ben Sie im Jahre 2003 auf diesem Gebiet vor?Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend;Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-linge und Integration:Sie wissen, dass die Bundesregierung in verschiedenenRessorts breit angelegte Programme gegen Rechtsextre-mismus und Fremdenfeindlichkeit und – positiv formu-liert – Programme für Demokratie und Toleranz auf den
1620
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1621
Weg gebracht hat. Diese Programme richten sich sowohlan Jugendliche als auch an Erwachsene als Mediatoren.Durch dieses Programmtableau wird die Aufmerksamkeitgegenüber antisemitischen, rechtsradikalen und fremden-feindlichen Trägermedien gestärkt.Zu der Frage, was im Jahr 2003 geplant ist: Sie wissen,dass das Jugendschutzgesetz novelliert worden ist. DieProbleme, die sich daraus ergaben, dass der Medienbe-reich überwiegend Ländersache ist, sind gelöst worden.Nun können auch Inhalte im Internet, einem von denJugendlichen sehr stark genutztes Medium, von der Bun-desprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziertwerden. Das ist Gegenstand des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags, der voraussichtlich am 1.April in Kraft tritt.Wir können also davon ausgehen, dass sich die Zugriffs-möglichkeiten noch einmal deutlich verbessern werden.
Weitere Fragen liegen dazu nicht vor. Vielen Dank,
Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Zur Be-
antwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
auf:
Teilt die Bundesregierung mit mir die Auffassung, dass die
Reduzierung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen in
der Zeit von 1999 bis 2002 im Alter von 55 Jahren und älter um
45,1 Prozent – Männer: minus 48,6 Prozent; Frauen: minus
38,5 Prozent – nicht in erster Linie auf die Schaffung von Ar-
beitsplätzen zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf eine zu-
nehmende Verrentung dieser Altersgruppe, und wie bewertet die
Bundesregierung den geringen Rückgang der Arbeitslosigkeit von
Schwerbehinderten unter 55 Jahren, der im Vergleichszeitraum le-
diglich 5,9 Prozent betrug?
F
Frau Abgeordnete Lötzsch, der Bundesregierung lie-
gen keine aussagefähigen Strukturdaten vor, die eine Be-
urteilung zulassen, ob der Rückgang der Arbeitslosigkeit
schwerbehinderter Menschen im Alter von 55 Jahren und
älter auf eine Zunahme der Verrentung in dieser Alters-
gruppe zurückzuführen ist.
Die vorliegenden Daten der Bundesanstalt für Arbeit
stützen eine derartige Vermutung nicht. Danach stellt der
Abgang in Krankheit die größte Gruppe der Abgänge
schwerbehinderter Menschen aus Arbeitslosigkeit dar, ge-
folgt von einem Abgang in Arbeit und Ausbildung insge-
samt. Demgegenüber sind vom Januar bis Oktober 2002
nur 25 503 arbeitslose schwerbehinderte Menschen aus
dem Erwerbsleben ausgeschieden. Dies entspricht einem
Anteil von ungefähr 11 Prozent aller Abgänge.
In den Altersgruppen der schwerbehinderten Arbeits-
losen unter 55 Jahren verlief die Entwicklung unter-
schiedlich. Während nach den Strukturanalysen der Bun-
desanstalt für Arbeit zwischen 1999 und 2002 in den mit
rund 31 Prozent aller unter 55 Jahre alten arbeitslosen
schwerbehinderten Menschen relativ stark besetzten Al-
tersgruppen der 25- bis unter 40-Jährigen ein Rückgang
der Arbeitslosigkeit von 15 Prozent zu verzeichnen war,
lag der Rückgang in der ebenfalls starken Altersgruppe
zwischen 40 bis unter 45 Jahren bei lediglich 0,3 Prozent.
Die Bundesregierung wird bei der Weiterentwicklung
der Konzeption zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
schwerbehinderter Menschen Gespräche mit der Bundes-
anstalt für Arbeit über eine Analyse der Gründe dieser
Entwicklung führen, damit dies bei den neu festzulegen-
den Zielvorgaben berücksichtigt werden kann.
Zusatzfrage? – Frau Lötzsch, bitte.
Ich möchte daran erinnern, dass wir vor 14 Tagen im
Parlament dazu eine Debatte geführt haben und dass in
dieser Debatte festgestellt worden ist, dass der Rückgang
der Arbeitslosigkeit bei Schwerbehinderten nicht in dem
Maß eingetreten ist, wie man es sich zum Ziel gesetzt
hatte und wie es gewünscht worden war. Welche konkre-
ten Schlussfolgerungen will die Bundesregierung ziehen,
damit speziell für schwerbehinderte Menschen geeignete
Arbeitsplätze geschaffen werden können?
F
Die Einschätzung, die Ihrer Frage zugrunde liegt, kann
die Bundesregierung mit Ihnen, Frau Abgeordnete
Lötzsch, nicht teilen. Wir hatten verabredet, bis zum
Herbst 2002 50 000 Jobs für Schwerbehinderte schaffen
und die Arbeitslosigkeit unter den Schwerbehinderten um
25 Prozent verringern zu wollen. Dieses Ziel ist bis auf ei-
nige Stellen nach dem Komma erreicht worden.
Ich weise darauf hin, dass im Rahmen dieser Kampa-
gne rund 151 500 schwerbehinderte Menschen in Arbeit
integriert werden konnten. Das Ziel, 50 000 Menschen
wieder in Arbeit zu bringen, ist damit ganz eindeutig mehr
als erreicht. Wir werden in der nächsten Woche mit den
auf diesem wichtigen Feld beteiligten Verbänden Ge-
spräche darüber führen, warum die Entwicklung in ein-
zelnen Bereichen – insbesondere vor dem Hintergrund der
unterschiedlichen Betroffenheit der Altersgruppen – so
und nicht anders war. Wir werden erörtern, was wir in Zu-
sammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeit, den Be-
ratungskompetenzen, die notwendig sind, den Verbänden,
den Integrationsfachdiensten, aber eben auch der Wirt-
schaft tun können, um dieser in ganz besonderer Weise
– von Arbeitslosigkeit und Behinderung – betroffenen
Gruppe die Integration in das Arbeitsleben zu erleichtern.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollegin Lötzsch.
Sie müssen doch zustimmen – das ist in den Druck-sachen des Bundestages nachzulesen –, dass das gesetzteZiel einer Senkung um 25 Prozent nicht erreicht wordenist.Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck
Metadaten/Kopzeile:
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F
Ich glaube, wir lagen bei 23,9 Prozent. Man kann sich
natürlich um 1,1 Prozent streiten.
Ich spreche allen Beteiligten, die sich daran beteiligt
haben, den Arbeitsämtern, den Behindertenverbänden,
den Integrationsfachdiensten und auch der Wirtschaft,
meinen Dank aus. Ich möchte nicht – das sage ich ganz
deutlich –, dass das Ergebnis wegen fehlender 1,1 Prozent
schlechtgeredet wird.
Weitere Fragen hierzu liegen nicht vor.
Wir kommen zur Frage 3 der Kollegin Lötzsch:
Wird die Bundesregierung bei der Weiterentwicklung der Ziel-
vorgaben darauf achten, dass wirklich die neu geschaffenen
Arbeitsplätze für schwerbehinderte Arbeitslose erfasst werden
und die Verringerung der Arbeitslosigkeit durch Verrentung nicht
in die Statistik einfließt bzw. gesondert ausgewiesen wird?
F
Frau Kollegin Lötzsch, die Bundesregierung hat schon
bisher großen Wert darauf gelegt, dass möglichst viele
Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen, insbeson-
dere für arbeitslose schwerbehinderte Menschen, ge-
schaffen werden. Zu diesem Zweck hat sie die Umsetzung
des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter durch die Kampagne „50 000 Jobs für
Schwerbehinderte“ in der Öffentlichkeit begleitet.
Diese Kampagne war – das habe ich gerade darge-
stellt – sehr erfolgreich. Die Beschäftigungssituation
schwerbehinderter Menschen konnte stetig verbessert
werden. In den drei Jahren von Oktober 1999 bis Ok-
tober 2002 sind – wie gerade schon ausgeführt –
151 500 schwerbehinderte Menschen durch die Bun-
desanstalt für Arbeit in Arbeit vermittelt worden. In
55 000 Fällen wurde die Einmündung in den allgemeinen
Arbeitsmarkt durch die speziellen Leistungen der Bun-
desanstalt für Arbeit zur Förderung der Beschäftigung
schwerbehinderter Menschen ermöglicht.
Im Vordergrund werden auch weiterhin die Bemühun-
gen um eine nachhaltige, deutliche Verbesserung der Be-
schäftigungssituation schwerbehinderter Menschen ste-
hen. Allerdings wird es nicht möglich sein, im Einzelfall
festzustellen, ob schwerbehinderte Menschen auf einem
für sie neu geschaffenen Arbeitsplatz beschäftigt werden.
Der hiermit für die Arbeitgeber und die Bundesanstalt für
Arbeit verbundene Verwaltungsaufwand wäre im Hin-
blick auf den aus solchen Angaben resultierenden Er-
kenntniswert nicht vertretbar.
Maßgebend muss vielmehr sein, dass Arbeitgeber
möglichst viele Arbeitsplätze für schwerbehinderte Men-
schen zur Verfügung stellen. Die Abgänge aus der Er-
werbstätigkeit – sie erfolgen in aller Regel in die Rente –
werden bereits heute statistisch gesondert erfasst.
Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall. Vielen Dank, Herr
Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Christoph
Matschie zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Michael Kretschmer
auf:
Wie hoch ist der jährliche Mittelabfluss des „Sonderprogramms
kerne in den neuen Ländern“ vom Start der Programme bis Jahres-
ende 2002 gewesen?
C
Herr Kollege Kretschmer, der jährliche Mittelabfluss
des „Sonderprogramms zur Förderung innovativer Regio-
nen in den neuen Ländern“ stellt sich wie folgt dar: im
Jahr 1999 2,6 Millionen Euro, im Jahr 2000 8,8 Millionen
Euro, im Jahr 2001 15,8 Millionen Euro und im Jahre
2002 30,1 Millionen Euro. Damit wurden in den Jahren
1999 bis 2002 insgesamt 57,3 Millionen Euro für dieses
Programm bereitgestellt.
Der Abfluss der für das Programm „Innovative regio-
nale Wachstumskerne in den neuen Ländern“ vorgesehe-
nen Mittel stellt sich seit dem Start des Programms in fol-
gender Höhe dar: im Jahre 2001 28,8 Millionen Euro und
im Jahre 2002 15,9Millionen Euro. Insgesamt wurden für
die Jahre 2001 und 2002 44,7 Millionen Euro bereitge-
stellt.
Herr Kretschmer, Ihre Zusatzfrage, bitte schön.
Es handelt sich dabei um ein sehr innovatives Pro-
gramm, das den Ansatz hat, Netzwerke zu schaffen. Lei-
der hat uns Ihr Vorgänger im Amt keine so gute und inno-
vative Organisation und Antragsgestaltung beschert. Das
hat den Effekt, dass wir gerade im Hinblick auf das Pro-
gramm „Inno-Regio“ nicht das erreicht haben, was beab-
sichtigt war: eine hohe Mittelauslastung. Die Laufzeit die-
ses Programms musste daher bis zum Jahr 2006
verlängert werden.
Wann informiert uns die Bundesregierung über die Er-
folge dieses Programms und welche Schlussfolgerungen
ziehen Sie im Hinblick auf das Antragsverfahren?
C
Zunächst einmal ist es richtig, dass es gerade in derKonzeptionsphase und auch zu Beginn der Umsetzungs-phase Schwierigkeiten gab. Denn es handelt sich um einsehr komplexes Programm, ein Programm, für dessenUmsetzung erst Strukturen aufgebaut werden mussten.
1622
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1623
Inzwischen hat die Bundesregierung drei Sachstandsbe-richte vorgelegt. Der letzte ist erst ein halbes Jahr alt. Erdokumentiert, wie erfolgreich sich inzwischen der Pro-zess entwickelt hat. Das wird im Übrigen auch von exter-nen Gutachtern anerkannt.
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Welche Planungen gibt es für die Zeit nach dem Aus-
laufen des Programms „Inno-Regio“ im Jahre 2006 und
des Programms „Innovative regionale Wachstumskerne
in den neuen Ländern“ im nächsten Jahr? Können Sie
dazu Aussagen machen?
C
Im Moment geht es darum, das erfolgreiche Programm
„Inno-Regio“ fortzuführen. Wir haben deshalb dessen
Laufzeit bis 2006 verlängert. Auch in den kommenden
Jahren stehen erhebliche Mittel zur Verfügung. Ich halte
es für ein erfolgreiches Programm, das auch weiterhin für
die neuen Bundesländer notwendig ist. Ein solches erfolg-
reiche Programm sollte man nicht gleich wieder durch
irgendetwas Neues ersetzen. Es macht auch wenig Sinn,
darüber zu spekulieren, wie es 2006 weitergeht. Wir be-
finden uns heute im Jahre 2003. Wir sind gewillt, dieses
Programm fortzusetzen, und stocken trotz aller Haus-
haltsrestriktionen, die es an anderen Stellen gibt, die im
Haushalt dafür vorgesehenen Mittel deutlich auf.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amtes. Zur Beantwortung steht Staatsminister Hans
Martin Bury zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Günter
Baumann auf:
Werden mit der EU-Osterweiterung die Kontrollen des Per-
sonen- und Warenverkehrs an der deutsch-polnischen und
deutsch-tschechischen Grenze gänzlich entfallen oder werden die
Grenzkontrollen in modifizierter Form für eine Übergangszeit
aufrechterhalten?
Herr Kollege Baumann, mit dem Beitritt zum 1. Mai
2004 werden die Kontrollen des Warenverkehrs durch den
Zoll zwischen Deutschland und Polen sowie der Tsche-
chischen Republik abgeschafft, da es sich dann um EU-
Binnengrenzen handeln wird. Weiterhin zulässig werden
jedoch die so genannten mobilen Kontrollgruppen sein.
Dabei handelt es sich um Beamte, die nicht unmittelbar an
der Grenze, sondern nur im Hinterland und nur stichpro-
benartig kontrollieren dürfen. Diese Kontrollen sind ge-
meinschaftsrechtlich zulässig, da sie nicht unmittelbar mit
dem Grenzübertritt zusammenhängen.
Dagegen bleiben grenzpolizeiliche Maßnahmen zur
Personenkontrolle zunächst vom Beitritt unberührt. Es
wird einen deutlichen Zeitabstand zwischen dem EU-Bei-
tritt zum 1. Mai 2004 und dem In-Kraft-Setzen des Schen-
gener Durchführungsübereinkommens, das heißt der Ein-
führung der Kontrollfreiheit des Personenverkehrs an den
EU-Binnengrenzen zu Polen und Tschechien, geben.
Dem endgültigen Wegfall der EU-Binnengrenzkon-
trollen ist eine gründliche Evaluierung der Anwendung
des Schengener Besitzstandes vorgeschaltet. Nach erfolg-
reicher Evaluierung muss der Rat der Europäischen
Union einstimmig für jeden der neuen Mitgliedstaaten ge-
sondert die volle Schengen-Mitgliedschaft beschließen.
Erst nach diesem Beschluss werden die Personenkontrol-
len an der deutsch-polnischen und an der deutsch-tsche-
chischen Grenze eingestellt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Baumann.
Herr Staatsminister, ich habe eine Zusatzfrage zum
Thema Zoll. Sie sprachen davon, dass sich im Rahmen der
EU-Erweiterung die Kontrollen durch den Zoll erübrigen
werden. Heißt das, dass die Beschäftigten des Zolls aus der
betroffenenRegion abgezogenwerden? InmeinemHeimat-
land, in Sachsen,würde das relativ vieleBeschäftigte betref-
fen. Gibt es eine andere Verwendung für diese Zollbeschäf-
tigten?Können sieweiterhin in dieserRegion tätig sein, zum
Beispiel im Rahmen einer Verlagerung von Bundesbehör-
den, oder werden sie in eine andere Region versetzt?
Herr Kollege, bereits seit 2002 wurde dem wegfallen-
den Personalbedarf an den Ostgrenzen durch rückläufige
Einstellungen Rechnung getragen. Im Übrigen ist eine so-
zialverträgliche Aufgabenverlagerung vorgesehen.
Von den rund 6 500 bald nicht mehr zur Zollkontrolle
an den Ostgrenzen eingesetzten Bediensteten kann mehr
als ein Drittel weiterhin grenznah verwendet werden. Dies
soll, ähnlich wie bei der Abschaffung der Zollkontrollen
an den Westgrenzen, durch Verlagerung von Zollverwal-
tungsaufgaben aus anderen Gebieten in die ehemaligen
Grenzgebiete erfolgen. Auch die mobilen Kontrollgrup-
pen und die Bekämpfung der illegalen Beschäftigung
durch den Zoll sollen verstärkt werden.
Im Übrigen ist eine Versetzung von Beschäftigten in
andere Gebiete der Bundesrepublik erforderlich, in denen
durchaus noch Personalbedarf in der Zollverwaltung be-
steht.
Zweite Zusatzfrage. Bitte, Herr Kollege Baumann.
Herr Staatsminister, habe ich richtig verstanden, dass an-dere Behörden in die Regionen, wo die Grenzen geöffnetParl. Staatssekretär Christoph Matschie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Günter Baumannwerden, verlagert werden und die Zollbeschäftigten dorteine Arbeit finden, also zwei Drittel in der Region be-schäftigt bleiben?
Herr Kollege, ich hatte eben ausgeführt, dass mehr als
ein Drittel weiterhin grenznah verwendet werden kann,
und zwar durch die Verlagerung von Zollverwaltungsauf-
gaben aus anderen Gebieten, zum Beispiel Binnenzoll-
ämtern und Bundeskassen.
Eine weitere Frage des Kollegen Klaus Rose.
Aus der Überraschung heraus, dass Sie schon so genaue
Zahlen über die Beschäftigten beim Zoll haben, möchte
ich meine Frage ein bisschen anders stellen. Bei mir geht
es um den tschechisch-bayerischen Grenzraum. Die Zoll-
beschäftigten selber hoffen, dass sie durch Verlagerung
von Zuständigkeiten zusätzliche Beschäftigungsmöglich-
keiten bekommen. Die Sicherheitslage im Warenverkehr
war schon bisher miserabel. Denn nach Auskunft des Bun-
des der deutschen Zollbeamten ist bisher aufgrund des feh-
lenden Personals höchstens 1 Prozent des Warenflusses
kontrolliert worden. Wer den Zusammenhang zum Bei-
spiel mit der BSE-Hysterie im Agrarbereich sieht, weiß,
was das bedeutet. Wie stellen Sie sich da die Zukunft vor?
Herr Kollege, auch aus den genannten Gründen sollen
frei werdende Kapazitäten zur Verstärkung der mobilen
Kontrollgruppen und der Bekämpfung der illegalen Be-
schäftigung durch den Zoll verwendet werden.
Eine weitere Frage des Kollegen Kretschmer.
Ihren Ausführungen zufolge würden 4 000 Beschäf-
tigte die ostdeutschen Grenzregionen verlassen müssen,
zwei Drittel der Beschäftigten. Dazu kommen die Fami-
lien; das ist ein ganz erheblicher Abfluss von Kaufkraft
und eben auch von Menschen mit Auswirkungen auf die
regionale Wirtschaft. Sie unterstützen damit die Abwan-
derung. Ist dieses Thema mit dem zuständigen Staatsmi-
nister für den Osten in der letzten Regierung und dem jet-
zigen Minister Stolpe besprochen worden? Ist sich die
Bundesregierung darüber klar, was sie mit diesem Abzug
möglicherweise anrichtet?
Herr Kollege, ich finde, Sie sollten nicht völlig außer
Acht lassen, dass wir hier im Zusammenhang mit der
wirklich historischen Chance der Einigung Europas und
der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges
sukzessive zunächst die Warenkontrollen und dann die
Personenkontrollen an den bisherigen Ostgrenzen beseiti-
gen können. Dass dies zwangsläufig mit Aufgabenver-
lagerungen für diejenigen verbunden ist, die bisher mit
diesen Kontrollen befasst waren, sollte die eigentliche Di-
mension des Themas, über das wir sprechen, nicht über-
lagern.
Der Kollege Schwanitz, der in der letzten Legislatur-
periode in der von Ihnen angesprochenen Funktion tätig
war, sagt mir gerade, dass es in der vergangenen Legisla-
turperiode Gespräche gegeben hat. Das für das Thema
Zoll federführende Finanzministerium ist auch gerne be-
reit, den neuen Kolleginnen und Kollegen Informationen
zu diesem Gesamtkomplex zur Verfügung zu stellen.
Eine weitere Frage des Kollegen Dirk Niebel.
Ja, glauben Sie einmal!
Herr Staatsminister, Sie haben schon die wegfallenden
Aufgaben beim Zoll geschildert. Nun wissen wir alle,
dass es auch immer wieder die Diskussion über die Struk-
turreform bei der Bundesanstalt für Arbeit gibt. Sowohl
der Zoll als auch die Bundesanstalt für Arbeit und die Po-
lizeibehörden der Länder beschäftigen sich ja mit der
Bekämpfung der illegalen Beschäftigung. Gibt es hier
Überlegungen, die frei werdenden Kapazitäten beim Zoll
dahin gehend zu nutzen, dass man die Bundesanstalt für
Arbeit als solche verkleinert und diese Kompetenzen bei
einer Behörde bündelt?
Herr Kollege Niebel, Sie sprechen jetzt über Fragen,
die sich im Zuständigkeitsbereich des Bundesministe-
riums der Finanzen und des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Arbeit befinden. Inwieweit dort entspre-
chende Überlegungen angestellt werden, vermag ich Ih-
nen hier nicht mitzuteilen.
Vielen Dank, Herr Staatsminister.Die Fragen 6 bis 9 aus dem Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesensollen schriftlich beantwortet werden.Das Gleiche gilt für die Frage 10 aus dem Geschäftsbe-reich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes.Deswegen kommen wir gleich zur Frage 11:Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bei der Neu-organisation des Deutschen Musikrates bis dato ergriffen oder ge-denkt sie zu ergreifen, damit gewährleistet ist, dass zum einen dieExistenz des Deutschen Musikrates erhalten bleibt und zum an-deren für wirkungsvoll auf das Haushaltsrecht achtende Kontroll-und Prüfgremien gesorgt wird?
1624
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1625
Zur Beantwortung steht die Staatsministerin Dr. ChristinaWeiss zur Verfügung.D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Scheuer, der Deutsche Musikrat befindet sich in
einem laufenden Insolvenzverfahren. Dementsprechend
ist für alle das Fortbestehen des Deutschen Musikrates be-
treffenden Fragen, unter anderem natürlich auch für die
Vorbereitung einer neuen Vereinssatzung, der vom Amts-
gericht Bonn eingesetzte vorläufige Insolvenzverwalter
zuständig. Die Bundesregierung hat ihm ihre kooperative
Unterstützung angeboten, um gemeinsam einen Weg aus
der Krise zu finden. Es sollte – das war meine ausdrück-
liche Bitte an den Insolvenzverwalter – eine neue Förder-
struktur entwickelt werden, die den Anforderungen an
eine moderne, von der öffentlichen Hand geförderte Pro-
jektarbeit genügt. Dazu gehört auch eine angemessene
Vertretung der Zuwendungsgeber in den Kontrollgremien
des Deutschen Musikrates.
Zusatzfrage?
Ja. – Frau Weiss, stimmt es aber, dass im neuen Sat-
zungsentwurf, der Mitte März vom Deutschen Musikrat
verabschiedet werden soll, die entscheidenden Zuschuss-
geber – darunter befinden sich die zuständigen Bundes-
ministerien – weniger Einfluss und Kontrollmöglichkei-
ten haben? Was machen Sie dagegen?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die neue Satzung hat die Voraussetzungen dafür zu
schaffen, dass eine vernünftige und angemessene Kontrolle
möglich ist. Wenn die neue Satzung diesen Anforderungen
nicht entspricht, können wir sie so nicht akzeptieren.
Weitere Zusatzfrage? Bitte.
Man soll ja, bevor das Kind in den Brunnen gefallen
ist, eingreifen. Deswegen stelle ich folgende Frage: Hat
die Bundesregierung am neuen Satzungsentwurf inhalt-
lich mitgearbeitet und Einfluss genommen, sodass per-
sönliche Bereicherung und schwarze Kassen, die wir
beim Deutschen Musikrat festgestellt haben, zukünftig
nicht mehr möglich sind?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben insoweit teilgenommen, als wir intensive
Gespräche mit dem Insolvenzverwalter geführt haben.
Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, ob unsere
Meinungen in diesem Punkte deckungsgleich sind.
Wir kommen zur Frage 12 des Kollegen Scheuer:
Haben bei der Neuorganisation des Deutschen Musikrates die
Kontroll- und Prüfgremien weiterhin denselben oder einen ver-
besserten Stellenwert in der neuen Satzung?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Scheuer, es geht noch einmal darum, dass es un-
ser erklärtes Ziel ist, für die Kontroll- und Prüfgremien ei-
nen Stellenwert zu erreichen, der wirklich eine effektive
Kontrolle der Verwendung der öffentlichen Mittel ermög-
licht. Ich habe eben schon darauf hingewiesen: Die neue
Satzung, wie sie im Entwurf vorliegt, erfüllt die Anforde-
rungen dafür noch nicht.
Zusatzfrage, Kollege Scheuer?
Ich entnehme dem, dass Sie nicht zufrieden sind, dass
Planungsrat und Verwaltungsrat in der neuen Satzung ab-
geschafft werden sollen?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind noch in Gesprächen, sowohl mit dem Insol-
venzverwalter als auch mit verschiedenen Vertreterinnen
und Vertretern des Deutschen Musikrates.
Zweite Zusatzfrage.
Dann geben Sie sich also, so wie Sie es ausführen, nicht
zufrieden und arbeiten hoffentlich noch einmal nach, so-
dass im neuen Satzungsentwurf stehen wird, dass das Prä-
sidium ein bestelltes Präsidialausschussgremium einsetzt.
Ein Gremium, das vom Präsidium bestellt ist, kann, glaube
ich, die Kontrollfunktion nicht wahrnehmen. Kann ich
dem entnehmen, dass Sie hier forsch und bestimmt vorge-
hen, sodass alle haushaltsrechtlichen Kontrollen gesichert
sind?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir arbeiten an einer klaren Trennung zwischen Inte-
ressensvertretung und einem Kontrollgremium für die
Geschäftsführer.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin.Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht derVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsParlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zurVerfügung.Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Klaus Roseauf:Welche Beweggründe veranlassten die Bundesregierung inihrem Erlass vom 20. September 2002 über die Stiftung der Ein-satzmedaille „Fluthilfe 2002“, neben den Angehörigen der Bun-deswehr und des Technischen Hilfswerks, THW, nur jene Feuer-wehrleute für die Verleihung vorzusehen, die „mindestens einenganzen Tag vor Ort“ mit den Einsatzkräften des Bundes zusam-mengearbeitet haben?F
Herr Kollege Rose, ich beantworte Ihre Anfrage wie
folgt: Die Einsatzmedaille „Fluthilfe 2002“ ist grundsätz-
lich eine Auszeichnung der Bundesminister des Innern
und der Verteidigung für die besonderen Verdienste der
Angehörigen beider Geschäftsbereiche bei der Bewäl-
tigung der Katastrophe im August 2002. In die Auszeich-
nung mit eingeschlossen wurden diejenigen Helfer – nicht
nur Feuerwehrleute –, die vorbildlich mit den Bundesein-
satzkräften zusammengearbeitet haben.
Nach der Stiftungssatzung ist für eine Auszeichnung
Voraussetzung, dass die Einsatzkraft mindestens einen
ganzen Tag vor Ort geholfen hat. Dies gilt sowohl für
die Angehörigen der Bundesorganisationen als auch für
Dritte.
Es gibt keine Zusatzfrage.
Wir kommen zur Frage 14 des Kollegen Rose:
Ist sich die Bundesregierung der unterschiedlichen Behand-
lung all jener Feuerwehrleute, zum Beispiel in Bayern, bewusst,
die zwar außerordentlich hilfsbereit im Hochwassereinsatz waren,
aber eben ohne Zusammenarbeit mit Bundeswehr und THW, und
deshalb von der Verleihung der Einsatzmedaille ausgeschlossen
bleiben?
F
Herr Kollege Rose, hier möchte ich auf meine Antwort
zu Ihrer vorigen Frage verweisen. Wenn die Vorausset-
zungen für die Verleihung einer Einsatzmedaille des Bun-
des nicht vorliegen, besteht auf Länderebene die Ge-
legenheit zur Auszeichnung. Eine entsprechende
Anregung der Hochwasserbeauftragten der Bundesregie-
rung vom September 2002 haben die Länder Brandenburg,
Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Schleswig-Holstein aufgegriffen und eigene Ehrenzei-
chen gestiftet.
Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Rose.
Ich habe die Zusatzfrage: Können Sie nachempfinden,
dass die Feuerwehrleute, die tage- und wochenlang im
Einsatz waren – Passau und seine Region waren vom
Hochwasser sehr betroffen –, sehr viel geleistet und keine
Auszeichnung bekommen haben, weil sie dummerweise
nicht wenigstens einen Tag mit dem BGS, dem THWoder
der Bundeswehr zusammengearbeitet haben, „die da dro-
ben in Berlin“ überhaupt nicht mehr verstehen? Können
Sie nachempfinden, dass ein gewaltiger Streit zwischen
diesen Feuerwehrleuten und jenen aus der gleichen Ein-
heit, die eine Medaille erhalten haben, entsteht?
F
Herr Kollege Rose, ich glaube, festhalten zu dürfen,
dass das Hochwasser im vergangenen Jahr an Elbe und
Mulde deutlich gemacht hat, dass all diejenigen, die im
Katastrophenschutz tätig waren, hervorragende Arbeit ge-
leistet haben. Das war völlig unabhängig von der Farbe
der Uniform.
Bezüglich der Verleihung von Orden und Ehrenzei-
chen gibt es Satzungen und Erlasse. Im Übrigen habe ich
Ihnen den Erlass, auf den sich diese Ehrung stützt, mitge-
bracht. Ich werde ihn Ihnen nachher überreichen, dann
können Sie darin noch ein wenig lesen.
Ich glaube, es war eine gute Sache, dass die Länder, die
von mir aufgezählt worden sind, eigene Ehrungen vorge-
nommen haben. Vielleicht hätte das der Freistaat Bayern
auch tun sollen. Wenn er es noch nicht getan hat, so könnte
er das noch nachholen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Rose, bitte.
Ich habe diese Antwort in etwa erwartet. Natürlich
können das die Länder selber machen. Aber es ist doch
verständlich, dass die Feuerwehrleute vor Ort, die diese
Auszeichnung gern bekommen hätten, sauer sind. Könnte
man die Satzung nicht irgendwann einmal ändern, um sol-
che Ungerechtigkeiten in Zukunft zu vermeiden?
F
Lieber Herr Rose, reden Sie vielleicht einmal mit demInnenminister des Landes Bayern darüber, inwieweit dasaufgegriffen werden kann. Bei solchen Ehrungen gibt esgewisse Regularien, das ist auch hier der Fall.Nichtsdestotrotz gibt und gab es eine hervorragendeZusammenarbeit und ich bin froh, dass es unter den beiden Hilfsaktionen Tätigen keine Eifersüchteleien undKompetenzstreitigkeiten gegeben hat. Das wurde ganzdeutlich. Deshalb sage ich: Hut ab vor allen, die dort her-vorragende Arbeit geleistet haben. Diese und andere Eh-rungen sind dafür Ausdruck. Ich hoffe, dass wir weiterhin,wenn es nötig wird, auf diejenigen zählen können, die bei-spielsweise beim Technischen Hilfswerk, bei der Feuer-wehr oder bei anderen KatastrophenschutzorganisationenHilfe geleistet haben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1627
Eine weitere Frage des Kollegen Scheuer.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen vorhin vom Hoch-
wasser an Elbe und Mulde, ich möchte ergänzen, dass es
auch an der Donau ein Hochwasser gab.
Sie haben gelobt, dass kein Gerangel stattgefunden hat.
In Sonntagsreden heißt es, dass die Organisation der
Hilfsaktionen harmonisch verlaufen ist. Können Sie nicht
nachvollziehen, dass die Feuerwehrleute gern dieses
äußere Zeichen der nationalen Anerkennung hätten und
nicht nur dezentral ausgezeichnet werden möchten? Sie
aber lassen die Satzung als Argument gelten. Wie bewer-
ten Sie dies?
F
Lieber Kollege Scheuer, erstens: Vielen Dank für den
Hinweis, dass es auch an der Donau Hochwasser gegeben
hat. Dies wollte ich nicht unterschlagen und wir halten
dies jetzt hiermit fest.
– Ich sehe, der Kollege Koschyk stimmt mir zu. Dies war
keine Absicht und die Hinzufügung ist nun erfolgt.
Zweitens. Es gibt nun einmal bestimmte Regularien
beispielsweise für die Verleihung des Bundesverdienst-
kreuzes oder einer Landesverdienstmedaille. Außerdem
haben auch Feuerwehrleute, die den Kriterien entspro-
chen haben, unsere Auszeichnung bekommen. Dies habe
ich auch deutlich gemacht.
Ich glaube, dass man hier keine falsche Diskussion in
Gang setzen sollte. Vielmehr sollte Anerkennung für all
diejenigen deutlich werden, die dort großartig geholfen
haben. Diese Auszeichnung war ein Symbol dafür. Dies
gilt auch für die Auszeichnungen vonseiten der Länder.
Ich denke, dass dies eine runde Sache ist.
Wir kommen nun zur Frage 15 des Kollegen Clemens
Binninger:
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die Gründe für die
Unterschiede in der Zahl der in die DNA-Analyse-Datei seit de-
ren Einrichtung im April 1998 eingestellten Dateien- und Spuren-
datensätze, wie sie sich aus der Antwort des Parlamentarischen
Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern, Fritz Rudolf
Körper, vom 19. November 2002 auf die schriftliche Frage 9 der
Abgeordneten Katherina Reiche auf Bundestagsdrucksache
15/107 ergibt, und wenn ja, welche Schlüsse zieht sie daraus?
F
Herr Kollege Binninger, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Der Bundesregierung liegen keine detaillierten Er-
kenntnisse über die Ursachen des Speicherverhaltens der
Länder vor. Angesichts der grundsätzlichen Zuständig-
keit der Länder für die Strafverfolgung sieht sie es auch
nicht als ihre Aufgabe an, deren Vorgehensweise bei der
Speicherung von Datensätzen in der DNA-Analyse-Datei
zu bewerten.
Dessen ungeachtet appelliert die Bundesregierung an
die Länder, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen,
um die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen,
und zu verhindern, dass es zu Verzögerungen bei den Ein-
zelfallprüfungen der gesetzlichen Voraussetzungen für
molekulargenetische Untersuchungen von Körperzellen,
deren Durchführung oder der Speicherung der DNA-
Identifizierungsmuster in der DNA-Analyse-Datei kommt.
Sie begrüßt deshalb die Entschließung des Bundesrates
vom 12. Juni 2001, in der sich die Länder verpflichtet ha-
ben, ihre Anstrengungen zum Aufbau der im Gesetz vor-
gesehenen Gendateien zu verstärken.
Zusatzfrage, Kollege Binninger.
Herr Staatssekretär, ich habe zwei Zusatzfragen. Mit
dem so genannten genetischen Fingerabdruck haben sich
die Möglichkeiten der Polizei zur Verfolgung von Sexu-
alstraftätern deutlich verbessert. Stimmen Sie mit mir
überein, dass man diese Möglichkeiten aber nur dann nut-
zen kann, wenn möglichst viele Datensätze in diese Datei
eingestellt werden und dieser Umstand nicht einem falsch
verstandenen Verständnis von Datenschutz geopfert wird?
F
Ich glaube, es ist unbestreitbare Tatsache, dass die Nut-
zung der Datei umso effektiver ist, je größer der Daten-
bestand ist. Die Bundesländer machen auch Gebrauch da-
von.
Ich erlaube mir, Sie noch einmal darauf hinzuweisen,
dass wir relativ genau aufgelistet haben, in wie vielen Fäl-
len die Bundesländer von der Datei Gebrauch machen. Es
gibt übrigens auch unterschiedliche Vorgehensweisen.
Da ich den Fragenkatalog der heutigen Fragestunde
kenne, weiß ich, dass der Kollege Koschyk eine Frage
gestellt hat, die sich auch mit diesem grundsätzlichen
Problem befasst, die vonseiten des Bundesjustizminis-
teriums, welches in diesem Fall federführend ist, beant-
wortet werden wird.
Zweite Zusatzfrage.
Sie haben vorhin auf die Zuständigkeit der Länder ab-gehoben. Dies ist nicht zu kritisieren. Stimmen Sie abermit mir überein, dass hinsichtlich der Anzahl der erfasstenDatensätze auffällt, dass die Länder Nordrhein-Westfalenund Niedersachen, aber auch der Bund im Verhältnis zu
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Clemens Binningerden bekannt gewordenen Straftaten sehr viel wenigerDatensätze eingestellt haben als die Länder Bayern undBaden-Württemberg?F
Herr Kollege Binninger, die Zahlen liegen mir vor. Es
gibt Unterschiede und Differenzierungen. Ich glaube, sie
sind nicht geeignet, das Spiel der parteipolitischen Far-
benlehre zu beginnen. Wir begrüßen den Beschluss der
IMK zu dieser Thematik. Ich hoffe, dass unser Appell ent-
sprechend aufgenommen wird.
Gibt es eine weitere Frage? – Herr Kollege Koschyk,
bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort auf die
Frage des Kollegen Binninger gerade davon gesprochen,
dass die Bundesregierung an die Bundesländer appelliert,
für eine stärkere Zulieferung von Datensätzen zu sorgen
und von den rechtlichen Regelungen Gebrauch zu ma-
chen. Belässt es die Bundesregierung bei einem Appell
oder hat sie es bei den Beratungen in der Konferenz der
Länderinnenminister oder der Länderjustizminister auch
zu einem Thema gemacht?
F
Herr Kollege Koschyk, ich habe mich auf die Ent-
schließung des Bundesrates vom 12. Juni 2001 bezogen,
in der sich die Länder dazu verpflichtet haben, ihre An-
strengungen zum Aufbau der im Gesetz vorgesehenen
Gendateien zu verstärken. Daraus wird erstens deutlich,
dass dies Thema war. Zweitens wird deutlich, in welche
Richtung es gehen soll. Nun obliegt es den Ländern, dies
entsprechend umzusetzen.
Nun eine weitere Frage des Kollegen Krichbaum.
Herr Staatssekretär, nach meinem Dafürhalten wird
durch das Vorhandensein unterschiedlicher Erfassungsda-
ten erkennbar, dass man an diesen Bereich in Zukunft mit
größerer Sorgfalt herangehen sollte. Deswegen meine
Frage: Haben Sie Erkenntnisse darüber, von wie vielen
Sexualstraftätern oder anderen Kriminellen die Da-
tensätze noch nicht in der DNA-Datei erfasst wurden, ob-
wohl die Voraussetzungen dafür vorliegen?
F
Nein, Herr Kollege Krichbaum, diese Zahlen sind nicht
bekannt. Es gibt im Übrigen keine Unterschiede bei der
Art der Datensätze, sondern nur Unterschiede und Diffe-
renzierungen bei der Anzahl der Datensätze. Ich glaube,
das muss man differenzieren. Dementsprechend habe ich
auch geantwortet, insbesondere auf die Frage des Kolle-
gen Binninger. Es gibt aber in der Tat Unterschiede, näm-
lich Unterschiede in der Art der Herangehensweise. Das
ist bekannt. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß das.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen 16 bis 19 werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 20 des Kollegen Hartmut Koschyk
auf:
Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung zu der Forde-
rung, den Gentest auf alle Straftäter, bei denen derzeit eine erken-
nungsdienstliche Behandlung erfolgt, auch gegen deren Willen
auszudehnen?
A
Herr Kollege Koschyk, erlauben Sie mir, auch zum
besseren Verständnis für die anderen Zuhörer, die Fragen
20 und 21 im Zusammenhang zu beantworten?
Ja.
Dann rufe ich auch Frage 21 des Kollegen Koschyk
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die wissenschaftlichen Er-
kenntnisse, wonach insbesondere schweren Sexualstraftaten an-
dere Delikte vorausgingen, und wie sieht sie vor diesem Hinter-
grund die Forderung, den genetischen Fingerabdruck von
Ersttätern bei allen Straftaten mit sexuellem Bezug auch aus
präventiven Gründen zu speichern?
A
Dass der Einsatz der DNA-Analyse einen wichtigenBeitrag zur Strafverfolgung leistet und diese in Einzelfäl-len effektiver gestalten kann, steht außer Frage. Ob undwie weit die gesetzlichen Zulässigkeitsgrenzen diesesEinsatzes gelockert werden sollen, ist dagegen schon seitgeraumer Zeit Gegenstand intensiver Diskussionen.Die Bundesregierung hat in dieser Frage bereits in derVergangenheit betont, dass bei Straftaten mit sexuellemBezug die zum Teil bestehenden Beschränkungen über-prüft werden müssen. Die derzeitige Regelung des § 81 gStPO zur Entnahme und molekulargenetischen Untersu-chung von Körperzellen zu Zwecken der Identitätsfest-stellung in künftigen Strafverfahren setzt zweierlei vo-
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raus: zum einen den Verdacht einer Straftat von erhebli-cher Bedeutung und zum anderen die Prognose, dass ge-gen den Beschuldigten künftig erneut Strafverfahren we-gen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zubefürchten sind.Ein Absehen von der zweiten Voraussetzung, also derGefährlichkeitsprognose, kommt schon aus verfassungs-rechtlichen Gründen nicht in Betracht. Denn es liegt aufder Hand, dass etwa bei einer einmaligen Verfehlung, diekeine nachhaltige Gefährlichkeit des Beschuldigten er-kennen lässt, eine DNA-Analyse nicht notwendig und da-mit unverhältnismäßig wäre.Anders verhält es sich bei der Voraussetzung, dass derBeschuldigte bereits eine Straftat von erheblicher Bedeu-tung begangen haben muss. Es erscheint unter Opfer-schutzgesichtspunkten kontraproduktiv, dass – ungeach-tet der sich im Einzelfall offenbarenden Gefährlichkeitdes Beschuldigten – mit der DNA-Analyse stets gewartetwerden muss, bis es zu einer neuen Straftat – dann leidervon erheblicher Bedeutung – gekommen ist.Ich darf hierzu auf das vom Bundesministerium der Jus-tiz in Auftrag gegebene Gutachten der Universität Göttin-gen verweisen, auf das offenbar auch Sie, Herr KollegeKoschyk, Bezug nehmen. Die Untersuchung hat ergeben,dass immerhin etwa 1 bis 2 Prozent der wegen Exhibitio-nismus verurteilten Täter später Gewalttaten begehen.Die Koalitionsfraktionen werden deshalb noch in dieserWoche – genauer gesagt: morgen gegen 13 Uhr – einenGesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einbringen,in dem unter anderem auch diese Problematik aufgegrif-fen wird.Gemäß dem Entwurf wird das Erfordernis, dass bereitsdie Anlasstat von erheblicher Bedeutung sein muss, ge-strichen, soweit es sich um Straftaten gegen die sexuelleSelbstbestimmung handelt. Entschieden zu weit geht je-doch die von einzelnen Politikern der Union, etwa demhessischen Justizminister, Dr. Christean Wagner, erho-bene Forderung, die DNA-Analyse mit dem konventio-nellen Fingerabdruck generell gesetzlich gleichzustellen.Hier wird mit einer Zahl argumentiert – dies hat der Kol-lege Bosbach jüngst getan –, nach der ein Viertel aller Ver-gewaltiger als Spanner oder Exhibitionisten angefangenhätte. Dies ist jedenfalls anhand der mir bekannten Unter-suchungen nicht belegbar.Die letzte mir bekannte Untersuchung hierzu wurdevon der Kriminologischen Zentralstelle durchgeführt undgestern in der „Süddeutschen Zeitung“ zitiert. Diese hatteeine Gruppe von Straftätern zum Gegenstand, die unteranderem auch – aber nicht nur! – wegen Exhibitionismusverurteilt worden war. Bei dieser Gruppe von insgesamtlediglich 54 Tätern hat sich ergeben, dass 57 Prozent be-reits früher mit Delikten gegen die sexuelle Selbstbestim-mung in Erscheinung getreten waren und dass zwei vondiesen 54 Tätern, also 3,7 Prozent, später wegen Verge-waltigung verurteilt wurden.Will man redlich argumentieren, muss man die umge-kehrte Blickrichtung wählen, wie dies in der vom BMJ inAuftrag gegebenen Studie der Universität Göttingen ge-tan wurde. Man muss also die Frage stellen, wer zunächstals Exhibitionist und dann wegen gewalttätiger Straftatenauf sexuellem Gebiet aufgefallen ist. In dieser Studie istman zu dem Ergebnis gekommen – dies habe ich bereitserwähnt –, dass lediglich 1 bis 2 Prozent der Exhibitionis-ten später mit einem Gewaltdelikt in Erscheinung treten.Im Übrigen lässt der Vorschlag, die DNA-Analyse mitdem herkömmlichen Fingerabdruck gleichzusetzen, dieUnterschiede beider Maßnahmen völlig unberücksichtigt:Die Gentechnik unterliegt einer Entwicklung, die in ihrerDynamik und in ihren Auswirkungen kaum abzuschätzenist. Daher ist es unverzichtbar, das mit dieser Dynamikverbundene Risiko hinsichtlich der Ausforschung persön-licher Lebenssachverhalte zu berücksichtigen und in diegesetzgeberische Abwägung einfließen zu lassen.Zu Recht wurde deshalb selbst in dem Ende letztenJahres von der Unionsfraktion – also Ihrer Fraktion – ein-gebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzesder Bevölkerung vor Sexualverbrechern, Bundestags-drucksache 15/29, diese überzogene Forderung nicht auf-gegriffen und lediglich vorgeschlagen, als Anlasstat alleVergehen mit sexuellem Hintergrund genügen zu lassen.Auch die geltende Regelung, dass bei der DNA-Ana-lyse ein Richter vorher festgestellt haben muss, dass derBeschuldigte voraussichtlich auch künftig Straftaten vonerheblicher Bedeutung begehen wird, ist aus Sicht derBundesregierung unverzichtbar. Ich darf hierzu auf die injüngster Zeit ergangene Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts verweisen, in der festgestellt wurde, dasserstens die Feststellung, Speicherung und künftige Ver-wendung des DNA-Identifizierungsmusters in das vomGrundgesetz verbürgte Grundrecht auf informationelleSelbstbestimmung eingreift und zweitens dieses Grund-recht nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheitund unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnis-mäßigkeit eingeschränkt werden darf.Der Koalitionsentwurf, der im Übrigen heute Morgender Presse vorgestellt wurde und wahrscheinlich auch Ih-nen vorliegt, wird diesem wichtigen verfassungsrecht-lichen Gesichtspunkt Rechnung tragen. Andere Vor-schläge werden sich hieran messen lassen müssen.
Zusatzfrage des Kollegen Koschyk.
Herr Präsident, ich habe jetzt vier Zusatzfragen.Ich komme zu meiner ersten Zusatzfrage. Herr Staats-sekretär, ich bin über die Vorbehalte, die aus Ihrer Antwortim Hinblick auf die DNA-Analyse sichtbar werden, er-schrocken. Ich möchte Sie fragen, wie Sie den erhebli-chen Widerspruch zu der Bewertung des Präsidenten desBundeskriminalamtes, Herrn Kersten, beurteilen. Sie ha-ben die „Süddeutsche Zeitung“ aus diesen Tagen ange-führt. Darin wird Herr Kersten, der BKA-Präsident, wiefolgt zitiert:Das Instrument ist sehr effektiv, hat eine hohe Tref-ferquote und ist vor allem bei schweren VerbrechenParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
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Hartmut Koschykwirksam. Von der Schwere des Eingriffs her sehe ichkeine wesentlichen Unterschiede zur Abnahme vonFingerabdrücken.Wie bewerten Sie diese Aussage des BKA-Präsidentenvor dem Licht Ihrer Aussage, in der Sie gravierende Un-terschiede zwischen DNA-Analyse und Fingerabdrückensehen?A
Herr Kollege Koschyk, wir sind uns sicherlich beide
einig, dass alles, was wir an gesetzgeberischen Maßnah-
men gerade auf diesem Gebiet veranlassen, unter dem kla-
ren und engen Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit
und der Verhältnismäßigkeit geschehen muss.
Wir wissen beide, dass einer Ihrer Fraktionskollegen,
der in der vergangenen Legislaturperiode die Rechtspoli-
tik Ihrer Fraktion an maßgeblicher Stelle beeinflusst hat,
einmal gefordert hat, dass alle männlichen Bewohner
Deutschlands ohne Ansehen der Person und ohne Anlass-
tat einer DNA-Probe unterzogen werden sollten. Wir sind
uns sicherlich alle darin einig, dass dies weder dem Ge-
sichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit noch dem der Ver-
hältnismäßigkeit entspricht.
Sie gestatten, dass wir, die Justizministerin, der Parla-
mentarische Staatssekretär und die Fachebene des Hau-
ses, unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit
und auch der Verfassungsmäßigkeit zu der Auffassung ge-
kommen sind, die ich soeben vorgetragen habe. Ich würde
mich davor hüten, Herr Koschyk – an Ihrer Stelle würde
ich es überprüfen –, das Zitat eines sehr bedeutenden und
auch sehr guten Beamten, nämlich des Präsidenten des
Bundeskriminalamtes, ohne Prüfung der Authentizität so
zu bewerten. Ich möchte dieses Zitat heute so nicht be-
werten.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Koschyk.
Herr Staatssekretär, ich kenne Herrn Kersten als einen
sehr verantwortungsbewussten Präsidenten des Bundes-
kriminalamtes, von dem ich sicher bin, dass er sich seine
Einschätzung in diesem Interview sehr wohl überlegt hat.
Ich halte sie für sehr gewichtig, weil Herr Kersten diese
Einschätzung aus der kriminalpolizeilichen Praxis ge-
wonnen hat.
Herr Staatssekretär, durch die von Ihnen aus der „Süd-
deutschen Zeitung“ zitierte Studie des BKAwird deutlich,
dass es ein zu kurz gesprungener Ansatz ist, die Ergeb-
nisse nur im Hinblick auf Anlasstaten im sexuellen Be-
reich auszuwerten, wie das die Koalitionsfraktionen und
die Bundesregierung jetzt planen. In der „Süddeutschen
Zeitung“ wird der Leiter der Kriminologischen Zentral-
stelle in Wiesbaden, Herr Egg, zitiert, der eine „‚entspre-
chende Ausweitung der Gendatenbank‘ auf die einschlä-
gige Klientel der Vielfachtäter ‚für sinnvoll‘“ hält. Die
Studie des Bundeskriminalamtes zeigt nämlich, dass in
der letzten Zeit die Täter von spektakulären Sexual-
straftaten – das wird in der „Süddeutschen Zeitung“ deut-
lich – kein tätertypisches Profil aufweisen, bei dem mit
minderschweren Sexualdelikten begonnen wird, sondern
dass es sich um Vielfachtäter mit einem sehr breiten Spek-
trum von Vergehen handelt. Was sagen Sie aufgrund des-
sen zu dem konkreten Vorschlag des Leiters der Krimino-
logischen Zentralstelle in Wiesbaden, die Gendatenbank
auf die einschlägige Klientel der Vielfachtäter auszudeh-
nen, zumal dies gerade angesichts der spektakulären Se-
xualstraftaten der letzten Wochen und Monate vom Täter-
bild her nahe liegt?
A
Herr Koschyk, ich erlaube mir, etwas weiter zurückzu-
gehen: Als früherer Staatsanwalt und Strafrichter verfüge
ich über eine sehr große Erfahrung in der Strafverfolgung.
Ich weiß, dass gerade Sexualstraftäter – das wird durch
viele Studien belegt – eine kriminelle Laufbahn einschla-
gen, die beim Handtaschenraub, weniger beim Laden-
diebstahl, weniger beim Schwarzfahren und auch weniger
– wir haben es eben gehört – beim Exhibitionismus be-
ginnt. Wir wissen auch – das belegen Studien ebenfalls –,
dass viele Sexualstraftäter zuvor strafrechtlich überhaupt
noch nicht in Erscheinung getreten sind, sodass es keiner-
lei Möglichkeit gibt, in der DNA-Datei nachzuforschen.
Ferner muss man berücksichtigen, welche Taten schon
jetzt in die DNA-Datei aufgenommen werden können:
Das beginnt beim schweren Diebstahl und beinhaltet
natürlich auch den Handtaschenraub. Damit sind im Prin-
zip all diejenigen erfasst, die später als Sexualstraftäter
schlimmste und schwerste Straftaten begehen könnten.
Wenn wir diesen Katalog durch unseren Gesetzentwurf
noch erweitern, werden wir auch den letzten Rest erfasst
haben.
Da Sie die BKA-Studie zitiert haben, möchte ich noch
die folgenden beiden Sätze vorlesen, die von dem BKA-
Mann Schmitter stammen:
Eine DNA-Spur überführt noch keinen Täter. Sie ist
nur ein Hilfsmittel der Ermittlungen.
Entschuldigen Sie bitte, wenn ich jetzt ein bisschen po-
litisch werde. – Danke, Sie haben genickt. – Gaukeln Sie
bitte der Bevölkerung nicht vor, Herr Kollege Koschyk,
es gäbe die absolute Sicherheit. Wir alle sind bemüht, ein
hohes Maß an Sicherheit insbesondere für gefährdete
Kinder und für gefährdete Frauen zu schaffen. Dies errei-
chen wir mit unserem Gesetzentwurf, der den Grundsät-
zen der Verfassungsmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit
entspricht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, dann müssen Sie auch mir gestat-ten, dass ich politisch werde. Den kleinen Fortschritt, aufden sich die Koalitionsfraktionen jetzt verständigt haben,
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haben Sie in der parlamentarisch-politischen Diskussionin diesem Hohen Hause noch vor einem Jahr weit von sichgewiesen. Nun haben Sie zu Recht den BKA-Mann zi-tiert, der gesagt hat, die DNA-Spur sei ein Hilfsmittel derErmittlung. Ich verweise auch noch einmal auf das, wasHerr Kersten dazu gesagt hat, sowie auf die seit langembestehenden Forderungen des Bundes Deutscher Krimi-nalbeamter.Daher erlaube ich mir die Frage, warum die Bundes-regierung ideologische Vorbehalte – diese sind im erstenTeil Ihrer Antwort deutlich geworden – gegen die Aus-weitung der DNA-Analyse als kriminalpolizeilichesHilfsmittel hat und zu dieser Ausweitung nicht bereit ist.Die parlamentarische Beratung Ihres Gesetzentwurfs bie-tet dazu noch die Chance.Ich denke hier zum Beispiel an die Regelung in Öster-reich, Herr Staatssekretär. Halten Sie es tatsächlich fürrechtsstaatlich bedenklich, dass in Österreich der Richter-vorbehalt bei der DNA-Analyse längst nicht eine so großeRolle wie in Deutschland spielt? Man muss in diesem Zu-sammenhang ja auch einmal über eine Entlastung der Jus-tiz nachdenken.A
Herr Präsident, das waren die Zusatzfragen 4 a und b.
Darf ich sie beantworten?
Ja, bitte.
A
Danke schön. – Herr Koschyk, ich bin eigentlich froh,
dass es politische Unterschiede in der Betrachtungsweise
gibt, wie man strafrechtliche Regelungen ausgestalten
soll. Ich sage es ganz deutlich: Sie haben eine andere Be-
trachtungsweise als wir.
Wir haben allerdings in den letzten vier Jahren in der
Rechtspolitik bewiesen, dass wir die Gesetze, die wir ins-
besondere auf dem strafrechtlichen und strafprozessualen
Sektor gemacht haben, an zwei – ich darf einmal Herrn
Eichel zitieren – Leitplanken messen lassen: Die eine
Leitplanke sind die Wirkung und der Schutz der Bevölke-
rung. Die andere Leitplanke sind die Verfassungsmäßig-
keit und die Verhältnismäßigkeit. Zwischen diesen Leit-
planken bewegen wir uns.
Wir sind der politischen Ansicht, dass das Gesetz hin-
sichtlich der DNA-Analyse in der unseren Vorstellungen
entsprechenden Neufassung des § 81 g StPO einen aus-
reichenden Schutz und eine größtmögliche Wirkung unter
Beachtung der verfassungsmäßigen Grundsätze und des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bietet. Wenn Sie ande-
rer Ansicht sind, dann finde ich das sehr gut; denn davon
lebt die Demokratie.
Gestatten Sie mir, auf die Frage nach meiner Einschät-
zung der Regelungen in Österreich eine politische Ant-
wort zu geben. Ich schätze die Österreicher sehr. Unsere
beiden Länder haben eine starke gemeinsame Wurzel auf
dem Gebiet des Rechts, und zwar sowohl im Zivilrecht als
auch im Strafrecht. Dies zeigt sich immer wieder. Aber
zwischen uns gibt es auch unterschiedliche politische
Auffassungen. Die Österreicher haben beispielsweise
– Herr Kollege van Essen wird sich sicherlich daran erin-
nern; denn er selber hat diesen Begriff in der vor kurzem
geführten Debatte über das Graffitibekämpfungsgesetz
benutzt – kein Problem mit dem Begriff der Verunstal-
tung. Wir, die Regierungskoalition, haben dagegen ein
rechtspolitisches Problem mit diesem Begriff, wenn es
um die Ahndung von Sachbeschädigungsdelikten geht.
Genauso ist es hier: Wir möchten, dass unsere Sicht-
weise der Verfassungsmäßigkeit und der Verhältnis-
mäßigkeit eines Gesetzes seinen Niederschlag im deut-
schen Recht findet.
Sie gestatten mir sicherlich, dass ich keinerlei Wertung
zu dem abgebe, was die Kolleginnen und Kollegen Abge-
ordneten sowie das Justizministerium in Österreich tun.
Das ist deren Problem. Genauso wäre ich dankbar, wenn
man im Ausland die Gesichtspunkte, die wir bei unserer
Gesetzgebung berücksichtigen, beachten und achten
würde.
Eine weitere Frage des Kollegen Binninger.
Herr Staatssekretär, Sie haben Ihre ablehnende Haltung
gegenüber unserer Position überwiegend aus der Perspek-
tive des Datenschutzes zugunsten des Straftäters begrün-
det. Hielten Sie es aber nicht für erforderlich und verhält-
nismäßig, wenn man das Ganze aus der Perspektive des
Opfers sähe und dementsprechend alle Maßnahmen träfe,
um Straftaten zu verhindern? Es kann doch bei einem
Straftäter keine Rolle spielen, welche Straftat er am Be-
ginn seiner kriminellen Karriere begangen hat. Ihre Miss-
brauchsängste könnte man ja über Löschungsfristen auf-
fangen.
A
Herr Kollege Binninger, ich glaube, Sie unterliegenhier einem sehr elementaren Irrtum. Wenn Sie von Opfer-schutz reden, dann sollten Sie bedenken, dass dienachträgliche Feststellung eines Täters über die DNA-Analyse dem Opfer fast nichts mehr hilft, vor allen Din-gen dann nicht, wenn es tot ist. Ich muss das leider in die-ser Deutlichkeit feststellen.Wir gehen andere Wege des Opferschutzes. Wir habenzum Beispiel mit unserem Gesetz aus der letzten Legis-laturperiode die vorbehaltene Sicherungsverwahrungeingeführt – auch sie ist verfassungsmäßig und verhält-nismäßig –, mit der gefährliche Täter in Sicherungsver-wahrung genommen bzw. weiterhin gehalten werden kön-nen, um die Opfer zu schützen. Das Einzige, was unsunterscheidet, ist letztlich die Antwort auf die Frage nachder Verfassungsmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit.Ich gehe davon aus, dass auch Ihre Fraktion vor derHartmut Koschyk
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Parl. Staatssekretär Alfred HartenbachEinbringung Ihres Gesetzentwurfs eine entsprechendePrüfung vorgenommen hat. Unsere Positionen liegendoch nicht weit auseinander.Wir werden die Verfassungsmäßigkeit und die Verhält-nismäßigkeit unseres Gesetzentwurfs am 19. Februar die-ses Jahres von 14 bis 18 Uhr im Rahmen einer groß ange-legten Anhörung im Rechtsausschuss erörtern. Siemöchten – das haben Sie geschrieben; vielleicht kann mirHerr Koschyk helfen –, dass von „Anlasstaten mit sexu-ellem Hintergrund“ die Rede ist, während wir möchten,dass die Formulierung „Straftaten gegen die sexuelleSelbstbestimmung“ lautet. Das liegt nicht weit auseinander.
Eine weitere Frage stellt der Kollege van Essen.
Herr Staatssekretär, Sie haben mehrfach den Grundsatz
der Verfassungsmäßigkeit erwähnt, den wir zu beachten
haben. Auch die Verhältnismäßigkeit gehört zu diesen
Prinzipien. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der
Vergangenheit mehrfach mit dieser Thematik befasst. Wie
ist die Auffassung der Bundesregierung? Schafft die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht
auch klare Grenzen in Bezug auf unsere Handlungsspiel-
räume? Zeigt die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht auf, dass alles das, was die Kollegen
der CDU/CSU fordern, durch die Verfassung begrenzt
wird und deshalb nicht in dem Umfang, wie es immer
wieder gefordert wird, umgesetzt werden kann?
A
Herr Parlamentarischer Geschäftsführer van Essen, ich
könnte jetzt einfach mit Ja antworten. Aber das wäre Ih-
nen wahrscheinlich zu einfach, oder?
– In der Tat.
Ich habe hier eben die beiden Grundsätze der Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts verlesen. Ich
nenne sie noch einmal: auf der einen Seite das verbürgte
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und
auf der anderen Seite die Verwertung im überwiegenden
öffentlichen Interesse. An diese Leitlinien halten wir uns.
Man sollte also nicht Schwarz-Weiß-Malerei betreiben,
indem man Opferschutz und Täterschutz einfach gegen-
überstellt, sondern man muss zwischen präventivem Op-
ferschutz und den Möglichkeiten einer guten und sicheren
Identifizierung des Täters unter Beachtung ebendieser
Grundsätze genau abwägen.
Eine weitere Frage stellt der Kollege von Klaeden.
Herr Staatssekretär, meine Frage geht in dieselbe Rich-
tung wie die des Kollegen van Essen; es geht nämlich um
die Verfassungsmäßigkeit und um die Verhältnismäßig-
keit. Sie haben hier beide Begriffe mehrfach angeführt.
Zunächst einmal interessiert mich, wieso Sie diese
Ausweitung eigentlich für nicht verhältnismäßig halten.
Halten Sie sie für nicht geeignet, für nicht erforderlich
oder für so unverhältnismäßig, dass die Persönlichkeits-
rechte beeinträchtigt werden? Um das, was ich meine, ein
bisschen zu konkretisieren, möchte ich auf eine Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995
verweisen. Dort heißt es:
Seit jeher gehört es zu den Methoden der Verbre-
chensaufklärung, am Tatopfer oder im Bereich des
Tatortes entdeckte Spuren, die zur Überführung des
Täters führen könnten, zu untersuchen.
Jetzt kommt der Satz, auf den es mir besonders an-
kommt:
Diese Spuren haben sich derartig objektiviert, dass
ihre Auswertung in der Regel nicht als Eingriff in das
Persönlichkeitsrecht anerkannt werden kann.
A
Herr Kollege von Klaeden, ich gebe Ihnen vollkom-
men Recht. Zwar findet eine DNA-Analyse der Spuren
statt; aber die Speicherung in einer Datei erfolgt auf der
Grundlage dessen, dass einem Menschen eine Probe
– Speichel oder was auch immer – entnommen wird.
Das, was Sie vorgelesen haben, bezieht sich auf die
Objektivierung der Sicherstellung und auf die Auswer-
tung von Tatortspuren. Das, was wir in die gesetzlich
zulässigen Bahnen einbetten wollen – damit wollen wir
gleichzeitig eine bessere Verbrechensbekämpfung ermög-
lichen –, ist die Entnahme von Vergleichsmaterialien bei
einem potenziellen Täter. Die dabei zu beachtenden
Grundsätze sind andere als diejenigen, die ein Kriminal-
beamter bei der Spurensicherung am Tatort beachten
muss. Dies dürfte doch einleuchtend sein, oder?
– Verhältnismäßigkeit bedeutet – das haben wir beide, so-
wohl Sie als auch ich, im ersten Semester gelernt –: Einer-
seits muss eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür sprechen,
dass Maßnahmen zum Erfolg führen, und andererseits
müssen die verfassungsmäßigen Grundsätze beachtet
werden. So einfach ist das.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Nach diesem juristi-schen Seminar bzw. dieser Übung kommen wir wieder zuanderen Inhalten.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1633
– Das war Ihre erste Beantwortung? – Herzlichen Glück-wunsch!
Sie haben eine Bella Figura gemacht. Vielen Dank.Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht derParlamentarische Staatssekretär Karl Diller zur Verfü-gung.Die Fragen 22 und 23 sollen schriftlich beantwortetwerden. Damit kommen wir zur Frage 24 des KollegenBörnsen, der sich auch hier im Saal befindet:Was hat die Bundesregierung und zu welchem Zeitpunkt un-ternommen, damit die durch die EU-Kommission kritisiertenSchiffbaubürgschaften norddeutscher Länder EU-rechtskonformausgestaltet werden und dadurch Aufträge und Beschäftigung fürdie deutsche Werften in Übereinstimmung mit dem EU-Wettbe-werbsrecht gesichert werden können?Bitte schön, Herr Diller.K
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Börnsen,
die Kommission hat Zweifel daran, dass die Bürgschafts-
systeme der Küstenländer zur Förderung des Schiffbaus
kostendeckend arbeiten und die Voraussetzungen der Bei-
hilfefreiheit gemäß Nr. 4.3 der Bürgschaftsmitteilung er-
füllen, und hat deshalb wiederholt um die Übersendung
von Informationen gebeten.
Die Bundesregierung vertritt seit Ende 2000 in Über-
einstimmung mit den Küstenländern gegenüber der Kom-
mission die Auffassung, dass die Bürgschaftsregelungen
kostendeckend und daher nicht als Beihilfen zu qualifi-
zieren sind. Bundesregierung und Länder stützen sich da-
bei auf die Bürgschaftsmitteilung der Kommission aus
dem Jahr 2000 sowie auf die mehrjährige Praxis der Kom-
mission bei der Beurteilung von beihilfefreien Bürg-
schaftsregelungen. Seit dieser Zeit befindet sich die Bun-
desregierung gemeinsam mit den Ländern in Gesprächen
mit der Kommission, der auf Nachfrage wiederholt und
fristgerecht schriftliche Detailinformationen zu diesen
Regelungen übersandt worden sind, zuletzt am 17. Januar
dieses Jahres. Eine Antwort auf diese jüngste Stellung-
nahme steht noch aus.
Sollten die Bedenken der Kommission nicht aus-
geräumt werden, ist die Eröffnung eines Hauptprüfver-
fahrens nicht ausgeschlossen. Die Bundesregierung hat
die Länder auf diese Möglichkeit hingewiesen. Die Eröff-
nung des Hauptprüfverfahrens über die Schiffbaubürg-
schaftsregelungen der Küstenländer hat allerdings keine
präjudizierende Wirkung für die Frage der Rechtmäßig-
keit bzw. Rechtswidrigkeit dieser Förderung.
Zusatzfrage, Kollege Börnsen?
Ja. – Herr Staatssekretär, ich bedanke mich zunächst
für die Antwort. Sie werden aber Verständnis haben, dass
ich noch einmal nachfrage, da ich die Einschätzung der
norddeutschen Landesregierungen teile, dass bei einem
negativen Ausgang des Hauptprüfverfahrens nicht nur
Verluste von Millionen Euro abzuschreiben sind, sondern
auch Hunderte bzw. Tausende von Arbeitsplätzen infrage
stehen. Deshalb möchte ich Sie gerne fragen, warum der
Wettbewerbskommissar so nachdrücklich darauf besteht,
dass die Bundesregierung deutlich macht, dass es hier
nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber anderen
europäischen Ländern, wo ebenfalls Förderungen prakti-
ziert werden, gekommen ist.
K
Herr Kollege Börnsen, der Kommissar hat beispiels-
weise Fragen bezüglich der gleichmäßigen Erhebung
der Entgelte von allen Reedern unabhängig von ihrer
Bonität gestellt und stellte sich und damit auch uns die
Frage, ob damit nicht eine Quersubventionierung von
Reedereien, denen es gut geht, gegenüber Reedereien,
denen es nicht so gut geht, stattfindet. Deswegen haben
wir ihm dazu jüngst noch einmal aktuelle Zahlen über-
mittelt. Beispielsweise sind der Mitteilung an die Kom-
mission mit Datum vom 16. Januar – am 17. ist sie dann
wohl herausgegangen – die Bauzeitbürgschaften, Ein-
nahmen und Ausgaben, Gebühren und Entgelte, Verwal-
tungskosten sowie die Endfinanzierungsbürgschaften je-
weils als Einnahmen und Ausgaben in Tabellenform mit
Gegenüberstellungen, die 1989 anfangen und über all
die Jahre gehen, beigefügt worden, sodass sich die
Kommission darüber ein eingehendes Bild machen
kann.
Weitere Zusatzfrage, Herr Börnsen?
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Den deutschen Werften geht es zurzeit grausig schlecht.
Zwei Drittel von ihnen haben Aufträge nur noch für zwölf
Monate. Insofern brauchen die deutschen Werften För-
dermittel. Was ist die Bundesregierung bereit zu tun,
wenn die 2 Prozent Landesbürgschaften bei der Wettbe-
werbshilfe wegfallen? Ist die Bundesregierung dann be-
reit, dafür aufzukommen?
K
Herr Kollege Börnsen, wir haben, wie ich Ihnen geradesagte, am 16. Januar unsere letzte Stellungnahme gegen-über der Kommission abgegeben. Wir möchten nun nichtin die Phase des Spekulierens eintreten, weil wir bishermit den Ländern gemeinsam der Auffassung sind, dass al-les in Ordnung ist.Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Arbeit. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur Ver-
fügung.
Wir kommen zunächst zur Frage 25 des Kollegen Niebel:
Wie viele Eingliederungsvereinbarungen wurden seit der Ein-
führung des Job-AQTIV-Gesetzes geschlossen und wie häufig
wurde das Instrument Jobrotation bisher eingesetzt?
G
Herr Kollege Niebel, nach Auskunft der Bundesanstalt
für Arbeit sind von der Einführung des Job-AQTIV-Ge-
setzes am 1. Januar 2002 bis zum Dezember 2002 rund
895 000 Eingliederungsvereinbarungen getroffen wor-
den. Im Rahmen des Instruments Jobrotation wurden in
demselben Zeitraum insgesamt 603 Einstellungszu-
schüsse bei Vertretung bewilligt.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, wie viele von den 895 000 Ein-
gliederungsvereinbarungen, die geschlossen worden sind,
haben zu einer tatsächlichen Eingliederung der Betroffe-
nen in den ersten Arbeitsmarkt geführt?
G
Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich
die entsprechenden Daten nicht zur Verfügung habe.
Wären Sie bereit, sie mir schriftlich nachzuliefern?
G
Dazu bin ich bereit.
Weitere Zusatzfrage?
Wie viele der 603 Eingliederungszuschüsse bei der
Jobrotation wurden an Kleinbetriebe mit unter 20 Arbeit-
nehmern geleistet?
G
Auch das kann ich Ihnen nicht beantworten. Sie haben
in Ihrer Frage ja schlicht und einfach nach zwei Größen
gefragt, die ich Ihnen genannt habe. Aber auch diese Da-
ten werde ich nachliefern.
Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Dann kommen wir zur Frage 26 des Kollegen Niebel:
Welche Erfolgsrate zeigen die bisher ausgestellten Vermitt-
lungsgutscheine und wie viele Erfolgshonorare wurden ge-
zahlt?
G
Wie die Bundesanstalt für Arbeit mitteilt, wurden
von April bis Dezember 2002 insgesamt 206 940 Ver-
mittlungsgutscheine ausgegeben und 12 950 davon
bei den Arbeitsämtern eingelöst, was einer Quote von
rund 6,2 Prozent entspricht. Die personenbezogene Ver-
mittlungsquote dürfte jedoch gleichwohl höher sein, da
in der Zahl der ausgegebenen Gutscheine auch Folge-
gutscheine enthalten sind. So kann es vorkommen, dass
Arbeitslose nach Ablauf der dreimonatigen Geltungs-
dauer des jeweiligen Gutscheins weitere Gutscheine er-
halten.
Die Honorarhöhe beträgt bei einer Arbeitslosigkeit von
bis zu sechs Monaten 1 500 Euro, bei sechs bis zu neun
Monaten 2 000 Euro und bei über neun Monaten
2 500 Euro. Die insgesamt gezahlte Honorarhöhe belief
sich auf rund 13,6 Millionen Euro. Die Höhe der demge-
genüber eingesparten Leistungen, Arbeitslosengeld oder
Arbeitslosenhilfe, ist zwar nur schwer schätzbar, dürfte
aber gleichwohl um ein Mehrfaches höher sein.
Zusatzfrage? – Bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie untergliedern, wie
viele Eingliederungszuschüsse nach der jeweils von Ih-
nen beschriebenen Dauer der Arbeitslosigkeit geleistet
worden sind?
G
Das können wir sicher; aber ich kann darauf nicht jetzt
antworten, weil das eine weitere statistische Nachfrage
ist. Ich müsste Ihnen das schriftlich beantworten.
Auch dafür wäre ich Ihnen dankbar, Herr Staatssekre-
tär.
Zweite Zusatzfrage.
1634
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1635
Herr Staatssekretär, liegt die Vermutung nahe, dass die
Ausnutzung der Vermittlungsgutscheine größer wäre,
wenn die Entgelte, die damit zu erzielen sind, an die bei
Personalberatungsbetrieben marktüblichen Entgelte an-
gepasst würden, die in aller Regel bei zwei bis zweiein-
halb Monatsgehältern liegen?
G
Sie haben gefragt, ob die Vermutung nahe liegt: nein.
Dann kommen wir zur Frage 27 des Abgeordneten
Erich G. Fritz:
Liegen der Bundesregierung Kenntnisse über die geplante
Verwendung der in Genua gefundenen und aus einer deutschen
BASF-Fabrik stammenden chemischen Substanz Morpholin vor
– vergleiche „Handelsblatt“ vom 17. Januar 2003 –, und wenn
nein, was unternimmt die Bundesregierung zur Klärung des Fun-
des?
G
Herr Kollege Fritz, ich würde die Fragen 27 und 28
gerne gemeinsam beantworten, wenn der Herr Präsident
das zulässt.
Dann rufe ich auch die Frage 28 auf:
Hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, ob die Ausfuhr der
chemischen Substanz Morpholin dem Chemiewaffenübereinkom-
men oder der Dual-use-Verordnung unterliegt und damit geneh-
migungspflichtig ist, und wenn nein, gibt es eine Prüfung bzw. Zu-
sammenarbeit mit den zuständigen deutschen Behörden?
G
Bei dem von Ihnen angesprochenen Morpholin handelt
es sich um eine Chemikalie mit weltweit breiter industri-
eller Anwendung. Gegenüber dem deutschen Hersteller
ist eine Verwendung in Libyen im Rahmen der Herstel-
lung von Produkten für die Erdölindustrie angegeben
worden. Eine derartige Verwendung der Chemikalie als
Lösungsmittel bei der Ölförderung – beispielsweise zur
Ausspülung von Bohrschlämmen – ist plausibel.
Die Chemikalie kann demgegenüber nicht für die Pro-
duktion von Chemiewaffen eingesetzt werden. Die deut-
schen Behörden haben diese Einschätzung der italieni-
schen Seite mitgeteilt. Die deutsche Botschaft in Rom
steht mit den zuständigen italienischen Behörden in Ver-
bindung, um weitere Einzelheiten des Falles aufzuklären
und erforderliche Informationen auszutauschen.
Die Chemikalie Morpholin ist weder vom Chemiewaf-
fenübereinkommen noch von der gemeinsamen EU-Gü-
terliste nach der EG-Dual-use-Verordnung erfasst. Sie un-
terliegt auch nicht als nationale Sonderposition der
deutschen Ausfuhrliste. Dies ist das Ergebnis der Beurtei-
lung durch die zuständigen deutschen Behörden, wie es
der italienischen Seite bereits mitgeteilt worden ist.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die – in die-
sem Fall – beruhigende Auskunft. Ich möchte gerne von
Ihnen noch wissen, ob die Bundesregierung bei aller Auf-
regung, die diese Nachricht an vielen Stellen verursacht
hat, einen Überblick darüber hat, wie die EG-Dual-use-
Verordnung in den Mitgliedsländern angewandt wird.
Gibt es ein Berichtswesen und eine regelmäßige Zusam-
menfassung der vorliegenden Erkenntnisse? In welcher
Weise wird eigentlich überprüft, ob die Dual-use-Verord-
nung in allen Ländern richtig angewendet wird? Dieses
Beispiel – auch wenn es nicht kritisch ist – zeigt nämlich,
dass es zum Teil sehr schwierig ist, die Wege von Expor-
ten auf dem Binnenmarkt zu verfolgen.
G
Herr Abgeordneter Fritz, mir liegen dazu gegenwärtig
keine Informationen oder Erkenntnisse vor. Ich müsste
dieser Frage erst nachgehen. Im vorliegenden Fall war es
offensichtlich so, dass Interpol im Hafen von Genua rund
48 Tonnen dieser Chemikalie aufgrund von Vermutungen
zunächst beschlagnahmt hatte. Der Vorgang hat Wellen
geschlagen, weil er von der Zeitschrift „La Repubblica“
publik gemacht wurde. Einige Behörden sind diesen span-
nenden Fragen nachgegangen und konnten nachweisen,
dass es sich um eine „harmlose“ Chemikalie handelt.
Die Frage, wie die Dual-use-Verordnung in anderen
Mitgliedsländern angewandt wird, kann ich jetzt nicht be-
antworten. Wir gehen dieser Frage nach und ich teile Ih-
nen die entsprechende Antwort mit.
Weitere Zusatzfrage? – Bitte, Herr Fritz.
Vielen Dank. Ich glaube, das wäre auch für Kollegen
interessant.
Ich weiß, dass ich mit meiner nächsten Frage Ihre Zu-
ständigkeit nicht treffe.
G
Doch, Sie treffen sie.
Ich muss Sie als Vertreter der Bundesregierung fragen:Hat das BAFA oder das Zollkriminalamt Erkenntnisse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Erich G. Fritzdarüber, ob in Zeiten ausgesprochen schlechter Konjunk-tur die Gefahr besteht, dass es eine größere Zahl bedenk-licher Dual-use-Exporte gibt?G
Diese Frage möchte ich mit dem Hinweis beantworten,
dass es nicht die Aufgabe der von Ihnen genannten deut-
schen Behörden ist, entsprechende Erkenntnisse zu ge-
winnen.
Im vorliegenden Fall waren das BKA, das BAFA, das
ZKA und der BND mit dieser Angelegenheit beschäftigt.
Ihre Frage bezieht sich auf die Einschätzung, ob in Zei-
ten ökonomischer Schwäche die Gefahr des Exports von
möglicherweise gefährlichen und den entsprechenden
Verordnungen unterliegenden Chemikalien größer ist.
Dazu müsste man einmal untersuchen, ob sich in solchen
Zeiten entsprechende Fälle häufen. Das ist eine etwas um-
fangreichere Aufgabe. Wir werden versuchen, diese Frage
im Haus mit den entsprechenden Stellen zu erörtern. Wir
lassen Ihnen dann eine entsprechende Mitteilung zukom-
men.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs ange-
kommen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Wagner zur Verfügung.
Die Fragen 29 bis 32 werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun die Frage 33 der Kollegin Petra Pau auf:
Welche konkreten Erfolge konnte bisher das Marinekontin-
gent der Bundeswehr bei seinem Einsatz am Horn von Afrika im
Rahmen der Operation Enduring Freedom bei der Bekämpfung
des internationalen Terrorismus erzielen und wie beurteilt die
Bundesregierung die Wirksamkeit dieses Einsatzes?
H
Frau Kollegin Pau, sämtliche Aktivitäten der deutschen
Marineverbände am Horn von Afrika werden im Rahmen
der Operation Enduring Freedom durchgeführt. Der Bun-
destag hat der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion
auf terroristische Angriffe auf die USAauf Grundlage des
Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5
des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368
und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen am 17. November 2001 zugestimmt. Am 15. No-
vember 2002 hat der Bundestag der Fortsetzung der deut-
schen Beteiligung an der Operation Enduring Freedom
für weitere zwölf Monate zugestimmt.
Die Aufgaben des deutschen Marineverbandes am
Horn von Afrika bestehen seit Beginn der Operation am
2. Februar 2002 in der Überwachung des zugewiesenen
Seeraumes sowie in der Nachrichtengewinnung und Auf-
klärung. Im Vordergrund stehen der Schutz der Seever-
bindungswege vor terroristischen Übergriffen und die
Unterbindung der Versorgung terroristischer Gruppen.
Auch das Ausweichen dieser Gruppen über den Seeweg
soll verhindert werden. Daneben wird Versorgungsunter-
stützung im Rahmen der Operation Enduring Freedom
geleistet und werden Begleitschutzoperationen, insbeson-
dere für Schiffe mit gefährlicher Ladung wie Öl und Gas,
durchgeführt.
In der täglichen Arbeit des Marinekontingents heißt
das konkret beispielsweise, dass der Schiffsverkehr mit
aktiven und passiven elektronischen, optischen und op-
tronischen Mitteln beobachtet wird, Fahrzeuge katalogi-
siert und in einer Datenbank archiviert werden. Damit sol-
len Fahrzeuge, die sich wiederholt im Operationsgebiet
bewegen, schnell identifiziert werden, um sie anschlie-
ßend beobachten bzw. verfolgen zu können. Es erfolgen
auch gezielte, direkte Abfragen des Schiffsverkehrs und
Durchsuchungen auf kooperativer Grundlage.
So wurden durch das deutsche Einsatzkontingent bis-
her 31 Begleitschutzaufträge und zehn Beschattungen
von verdächtigen Einheiten durchgeführt sowie circa
3 700 Kontakte im Rahmen der Seeraumüberwachung
aufgeklärt. Die Seefernaufklärer führten circa 190 Auf-
klärungsflüge durch.
In den Ländern um das Horn von Afrika hat die Ope-
ration Enduring Freedom generell einen stabilisierenden
Einfluss ausgeübt. Es konnte ein entscheidender Beitrag
zur Abschreckung terroristischer Anschläge auf den inter-
nationalen Seeverkehr geleistet sowie die Bewegungs-
freiheit terroristischer Gruppen nachhaltig eingeschränkt
werden. Gleichzeitig sind Gewaltkriminalität und Pirate-
rie in einigen Gebieten zurückgegangen.
Zusatzfrage, Frau Pau.
Gibt es neben diesen Aktivitäten der Überwachung und
des Abschneidens von Verbindungswegen messbare Er-
gebnisse im Sinne von Festnahmen oder Beschlagnah-
mungen, um deutlich zu machen, dass durch diesen Ein-
satz am Horn von Afrika Teilen des internationalen
Terrorismus die Nachschubwege tatsächlich abgeschnit-
ten wurden oder gar Strukturen zerschlagen werden konn-
ten?
H
Ja, es wurden solche Aktivitäten festgestellt. Die ent-sprechenden Informationen wurden den befreundeten Na-tionen und den Nachrichtendiensten zur Verfügung ge-stellt, die dann die entsprechende Auswertung für denweiteren Einsatz der Marine vornehmen konnten.
1636
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1637
Weitere Zusatzfrage.
Ich habe eine zweite Nachfrage. Sind der Bundesre-
gierung kritische Stimmen aus den eingesetzten Mann-
schaften oder gar von Offizieren über den Einsatz des
bundesdeutschen Marinekontingents bezogen auf die Ar-
beitsbedingungen, aber auch auf die Sinnhaftigkeit des
Einsatzes bekannt?
H
Nein, solche Stimmen sind nicht bekannt.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, ist das Gerücht, das man den Me-
dien entnehmen konnte, wahr, dass manche Soldaten im
Nachgang zum Einsatz darauf hingewiesen wurden, dass
sie über die Beurteilung des Einsatzes in der Öffentlich-
keit nicht reden dürfen? Wenn dem so wäre, wie wäre das
mit dem Bild vom Bürger in Uniform zu vereinbaren?
H
Das sind Gerüchte – Sie haben das selbst gesagt –, die
ich nicht kommentieren möchte.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Ich rufe die Frage 34 der Kollegin Ina Lenke auf:
Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung im Hinblick
auf die Durchsetzung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei
den Streitkräften, auf deren Fehlen bereits der Bericht des Wehr-
beauftragten vom 12. März 2002 hinweist, in Bezug auf konkrete
Regelungen familiengerechter Arbeitszeiten, auf die Möglichkeit
von Teilzeitbeschäftigung und familienbedingter Beurlaubung?
H
Frau Kollegin, das wachsende internationale Engage-
ment der Bundeswehr und die parallel fortschreitende Re-
form der Bundeswehr belasten insbesondere das militäri-
sche Führungspersonal erheblich. Die Balance zwischen
dem Lebensbereich Beruf auf der einen und dem Lebens-
bereich Familie auf der anderen Seite gestaltet sich bei
vielen Soldatinnen und Soldaten immer schwieriger. Be-
ruf und Familie führen mitunter in eine Konfliktsituation,
die sowohl die arbeitsbezogene Leistungsfähigkeit als
auch die familienbezogene Befindlichkeit beeinträchtigt.
Für die Bundeswehr gilt es, diesem zunehmenden Span-
nungsfeld und den damit verbundenen Erwartungen
große Aufmerksamkeit zuzuwenden, und zwar nicht nur
vordergründig wegen der Attraktivität des Arbeitsplatzes,
sondern auch deshalb, weil die Soldatin bzw. der Soldat
die Einsatzmotivation im Wesentlichen aus dem Rückhalt
in der engeren sozialen Umgebung bezieht.
Neben den bereits bestehenden gesetzlichen Möglich-
keiten der Beurlaubung von Soldatinnen und Soldaten
während der Elternzeit, des Betreuungsurlaubs und der
Beurlaubung wegen pflegebedürftiger Kinder kann eine
Flexibilisierung der Arbeitszeit durch Gleitzeitregelungen
und insbesondere durch Teilzeitdienst einen entscheiden-
den Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst leis-
ten. Damit kann zugleich gleichstellungspolitischen For-
derungen und den Verpflichtungen des Dienstherrn zur
Fürsorge entsprochen werden.
Gleitzeitdienst gibt es inzwischen für Soldatinnen und
Soldaten in circa 300 Dienststellen der Bundeswehr.
Substanzielle Fortschritte bei der Eröffnung der Mög-
lichkeit von befristetem Teilzeitdienst für Soldatinnen
und Soldaten zum Zwecke der Familienfürsorge sind
ohne Einführung einer gesetzlichen Bemessungsgrund-
lage für die Dienstzeit nicht möglich. Zum Zwecke der Er-
möglichung von Teilzeitdienst wird zurzeit geprüft, ob
eine eigenständige, gesetzlich verankerte Dienstzeitrege-
lung für Soldaten geschaffen werden kann, welche die be-
sonderen Belange des militärischen Dienstes in den Streit-
kräften berücksichtigt. Dabei wird die Ermöglichung von
Teilzeitdienst auf militärischen Dienstposten während der
Elternzeit in die Prüfung einbezogen.
Zusatzfrage? – Bitte schön.
Herr Staatssekretär, der Deutsche Bundeswehr-Verband
hat das schon imApril 2001 in einemBrief an IhrHaus ange-
mahnt. Können Sie mir sagen, warum eine Reaktion darauf
so langegedauert hat undwanndieBundesregierungendlich
dieentsprechendengesetzlichenRegelungenschafft?
H
Es bedurfte nicht erst des Briefes des Bundeswehrver-
bandes, dass die Bundesregierung auf dieses Problem auf-
merksam geworden ist. Dies ist, wie Sie wissen, ein sehr
vielschichtiges Problem. Deshalb bitte ich um Verständ-
nis, wenn die Vorbereitungszeit für die Einführung sol-
cher Regelungen etwas länger dauert. Ich kann Ihnen aber
versichern, dass daran gearbeitet wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sagen Sie mir bitte, wann eine entsprechende gesetzli-che Regelung von Ihrem Minister im Bundestag vorgelegtwird!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
H
Sie wird so schnell wie möglich vorgelegt werden.
Frau Lenke, zur Frage 34 können Sie keine weitere Zu-
satzfrage stellen. Vielleicht ergibt sich ja im Kontext der
Frage 35 die Gelegenheit, hierzu nachzufragen.
H
Diese Chance will ich natürlich gerne einräumen.
Ich rufe die Frage 35 der Abgeordneten Lenke auf:
Welche konkreten Pläne zur vollständigen beruflichen Gleich-
stellung von Frauen in der Bundeswehr verfolgt die Bundesregie-
rung?
H
Frau Kollegin, sämtliche Aktivitäten der deutschen
Marineverbände am Horn von Afrika werden im Rahmen
der Operation Enduring Freedom durchgeführt.
Das ist jetzt wahrscheinlich durch den sowieso unzu-
treffenden Zuruf aus der eigenen Fraktion über die Mög-
lichkeiten der Geschäftsordnung verursacht worden. Herr
Kollege Wagner, das sehen wir Ihnen nach.
H
Ich bin froh darüber, darauf aufmerksam gemacht wor-
den zu sein, eine Antwort nicht gleich zweimal zu geben.
Sehr geehrte Frau Kollegin, das wachsende internatio-
nale Engagement der Bundeswehr und die parallel fort-
schreitende Reform der Bundeswehr belasten insbeson-
dere das militärische Führungspersonal erheblich.
– Ja, natürlich. Ich will Ihnen das nicht ersparen. Herr
Kollege Niebel, jetzt geht es richtig los.
Verehrte Frau Kollegin, die sofortige Einbeziehung der
Soldatinnen und Soldaten in den Geltungsbereich des
Bundesgleichstellungsgesetzes war im Gesetzgebungs-
gang Gegenstand von Vorüberlegungen. Davon wurde je-
doch zunächst im Einvernehmen mit dem Bundesminis-
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abstand
genommen. Für den militärischen Bereich werden zurzeit
eigene Gleichstellungsgrundlagen und -regelungen erar-
beitet, die den Besonderheiten des militärischen Dienstes
und den Erfordernissen zur Aufrechterhaltung der Ein-
satzbereitschaft der Streitkräfte Rechnung tragen.
Ihre Zusatzfrage, Frau Lenke.
Herr Staatssekretär, Ihre beiden Antworten wundern
mich wirklich sehr. Für den Bereich der Wirtschaft ver-
langen Sie ein Gleichstellungsgesetz, aber in Ihrem Zu-
ständigkeitsbereich sind Sie nicht in der Lage, Gleichstel-
lungsregelungen zu schaffen. Deshalb meine Frage:
Welche positiven Auswirkungen auf Ihre Pläne in Bezug
auf die Nachwuchsgewinnung hätten solche Regelungen?
Sie wissen, dass hoch qualifizierte Frauen zwar zur Bun-
deswehr wollen, davor aber zurückschrecken, weil es ent-
sprechende Regelungen nicht gibt. Ich denke, die Bun-
desregierung hat sehr schnell eine Regelung vorzulegen.
Wenn das nicht geschieht, wird die Opposition gezwun-
gen sein, Ihnen Initiativen vorzulegen, auf die Sie dann
antworten müssen.
H
Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundesregie-
rung daran arbeitet und sehr schnell etwas vorlegen wird.
Es gibt keine weitere Zusatzfrage.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Bis zum Be-
ginn der Aktuellen Stunde, bis 15.35 Uhr, unterbreche ich
die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:Aktuelle StundeHaltung der Bundesregierung zu den Auswir-kungen ihrer Steuerpolitik auf die kommunalenFinanzenDie Fraktion der CDU/CSU hat diese Aktuelle Stundeverlangt.
1638
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1639
Erster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter Götz,CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und liebe Kollegen! Viele Städte und Gemeinden
in Deutschland stehen vor einer wirtschaftlichen und so-
zialen Katastrophe. Der Deutsche Städtetag hat diese Wo-
che in seiner Pressekonferenz zur desolaten Finanzsitua-
tion in den kommunalen Haushalten erklärt: Den Städten
geht es so schlecht wie nie zuvor seit Bestehen der Bun-
desrepublik Deutschland. Der Deutsche Städte- und Ge-
meindebund ruft zu einer Kampagne auf: „Rettet die
Kommunen!“ Landkreise verklagen den Bund vor dem
Bundesverfassungsgericht.
Die Öffentlichkeit nimmt zunehmend die kommunal-
feindliche rot-grüne Politik wahr. Nach gerade vier Jahren
rot-grüner Regierungsverantwortung befinden sich die
Städte, Gemeinden und Kreise am Rande des Ruins, und
zwar in Ost und West. Das Schlimme ist: Besserung ist
nicht in Sicht. Die Einnahmen brechen weg. Immer mehr
Menschen werden arbeitslos. Mehr als 4,2 Millionen
Menschen sind in Deutschland ohne Arbeit. Die sozialen
Ausgaben der Kommunen steigen dadurch weiter an.
Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht
immer weiter auseinander. Inzwischen liegt das Defizit
bei 10 Milliarden Euro im Jahr. Die Kommunen finanzie-
ren ihre Personalkosten nur noch aus Kassenkrediten.
Diese Kassenkredite sind im vergangenen Jahr um über
25 Prozent gestiegen und steigen weiter.
Was sind die Konsequenzen? Geld für Investitionen
fehlt. Die Schulen verrotten. Schwimmbäder, Büchereien
und Theater werden geschlossen. In vielen Straßen brennt
keine Leuchte mehr. Die Handwerksbetriebe haben dies
deutlich zu spüren bekommen. Für viele Handwerksbe-
triebe und mittelständische Unternehmen bedeutet das
den Gang zum Konkursrichter.
Was ist die Ursache? Eine Fülle von Fehlentscheidun-
gen hier in Berlin und nicht in den kommunalen Ent-
scheidungsgremien ist die Ursache für diese Entwicklung.
Zum Beispiel bricht die Gewerbesteuer rapide und
massiv ein. Die Gewerbesteuerumlage, über die wir hier
ebenfalls diskutiert haben, hat enorme Folgen für die
kommunalen Haushalte, und zwar in Milliardengrößen-
ordnungen. In Düsseldorf bedeutet allein die Erhöhung
der Gewerbesteuerumlage einen Einnahmeverlust von
158 Millionen Euro innerhalb von vier Jahren.
Die Konsequenz ist: Viele Kommunen sind zur Hand-
lungsunfähigkeit verdammt. Einige Städte – es sind nicht
wenige – haben angekündigt, dass sie die Gesetze des
Bundes nicht mehr ausführen werden – nicht weil sie es
nicht wollen, sondern weil sie es einfach nicht mehr können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geht an die Grund-
substanz der kommunalen Selbstverwaltung und wirft die
Frage nach dem Gesellschaftsmodell auf, das wir wollen.
Die Menschen im Land haben kein Verständnis mehr für
diese Art von Politik. Sie wenden sich ab. Eine Entfrem-
dung gegenüber dem Staat, aber inzwischen auch gegen-
über den Kommunen, gegenüber den Städten und Ge-
meinden, sowie den Kreisen in unserem Land ist die
Folge. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Wir wollen keinen sozialistischen Staat, der zentral
von oben alles regiert und dem Bürger das Geld abnimmt.
Wir wollen auch keinen Staat, der die Lufthoheit über den
Kinderbetten hat, worüber immer wieder diskutiert wird.
CDU und CSU setzen auf eigene Verantwortung. Wir set-
zen auf leistungsstarke Städte und Gemeinden. Mit dem
ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler
Haushalte muss Schluss sein.
Wir fordern die Bundesregierung auf, mit uns gemein-
sam über eine Grundgesetzänderung zu diskutieren, damit
das Konnexitätsprinzip in unsere Verfassung aufgenom-
men wird und künftig bei allen politischen Entscheidun-
gen des Bundes wieder der Grundsatz gilt: Wer bestellt,
bezahlt.
Wir fordern weiter, dass sich die Bundesregierung end-
lich darum kümmert, was sich in Europa zulasten der
kommunalen Ebene entwickelt. Der Konvent zur europä-
ischen Verfassung befindet sich in einer entscheidenden
Phase. Wir wollen nicht, dass sich Brüssel künftig noch
mehr als heute um kommunale Angelegenheiten kümmert
und sich einmischt. Brüssel muss nicht die Wasserversor-
gung in Kleinkleckersdorf regeln, sondern Brüssel bzw.
Europa hat die Aufgabe, sich um die wirklich großen Fra-
gen – davon gibt es genug – zu kümmern. Hier ist der
Außenminister eindeutig gefordert, deutsche Interessen
zu vertreten. Aber auch hier Fehlanzeige auf der ganzen
Linie.
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie kommunale Interes-
sen endlich ernst und warten Sie nicht ständig auf irgend-
welche neue Kommissionen! Das Schielen auf Kommis-
sionen ist in unserem Staat zu wenig. Wir fordern Sie auf,
zu handeln. Die Menschen in unserem Land wollen, dass
die Politik handelt und nicht nur wartet.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Florian Pronold,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Der Titel dieser Aktuellen Stunde und dievorangegangene Rede legen mir einen biblischen Ver-gleich nahe.
Wie Sie vielleicht wissen, wird im 3. Buch Mose dieGeschichte vom Sündenbock wiedergegeben. Es ist imVizepräsident Dr. Norbert Lammert
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Florian PronoldAlten Testament so dargestellt, dass man diesem Bock dieeigenen Sünden auferlegt hat, um ihn dann in die Wüstezu schicken.
Ich habe den Eindruck – ich kenne das sehr gut vonmeinen Kolleginnen und Kollegen in Bayern –, dass Siegenau diese Sündenbockstrategie anzuwenden versuchen,indem Sie von den Verfehlungen ablenken, für die zumBeispiel die Bayerische Staatsregierung verantwortlich ist
und die natürlich Konsequenzen für die Situation derKommunen in Bayern haben.
Ich habe den Eindruck, dass es hier auch eine direkteErbfolge gibt, nämlich die der CDU/CSU-Bundestagsab-geordneten zurück bis hin zu den uns ebenfalls aus der Bi-bel bekannten Pharisäern. Frei nach dem Motto: Wenn inBayern die Sonne lacht, hat’s die CSU gemacht, gibt’s imWinter Eis und Schnee, war’s die böse SPD,
ziehen Sie derzeit durch die Lande und versuchen, allekommunalen Finanzprobleme der SPD-geführten Bundes-regierung in die Schuhe zu schieben.
– Wie schön, dass Sie mir zustimmen. Das freut mich. Indem Fall haben Sie ausnahmsweise einmal Recht.
Das jüngste Beispiel ist die Fluthilfe. Sie gehen mo-mentan vor Ort herum und behaupten, es könnten inBayern keine Feuerwehrhäuser mehr gebaut werden, weildie Bundesregierung durch das Fluthilfegesetz den Kom-munen wieder in die Tasche gelangt habe; wenn Ihr Vor-schlag durchgekommen wäre, dann wäre für die Kommu-nen alles besser.
– Sie können nicht rechnen und stellen es hier selber un-ter Beweis.Wie Sie wissen, haben wir die Fluthilfe seriös durch dieVerschiebung der Steuerreform finanziert. Die Kommu-nen haben sozusagen das, was sie aufgrund der Steuer-entlastung für die Bürgerinnen und Bürger sowieso nichtbekommen hätten, jetzt für die Beseitigung der Schädendurch die Flutkatastrophe eingesetzt. Wenn Ihr Vorschlagdurchgekommen wäre, wäre die Steuerreform nicht umein Jahr verschoben worden und die Kommunen hättengenau dieselbe Finanzausstattung, wie sie sie jetzt haben.Deswegen ist es schon sehr pharisäerhaft, wenn Sie hierwieder versuchen, der Bundesregierung zu unterstellen,dass sie schuld daran sei, dass die Finanzsituation derKommunen so schlecht ist. Zweitens ist es so, dass keinanderes Land so schlechte Schlüsselzuweisungen an seineKommunen gibt wie Bayern.
In Nordrhein-Westfalen erhalten die Kommunen 60 Pro-zent mehr als die bayerischen Kommunen vom Freistaat.Drittens reden Sie landauf, landab über die Gewerbe-steuerumlage und fordern, dass die Mehreinnahmen auf-grund der Erhöhung von der Bundesregierung an dieKommunen zurückgegeben werden. Der bayerischeFinanzminister sagt aber relativ offen, den Anteil, den ererhält – das sind erkleckliche Millionen Euro –, könne erden Kommunen selbstverständlich nicht zurückgeben,das solle die Bundesregierung machen. Wenn das nichtpharisäerhaft ist, frage ich: Was ist es dann?
Weitere Beispiele sollen nur kurz angesprochen wer-den; denn die Redezeit ist begrenzt. Sie bürden den Kom-munen die Personalkosten für ihre Schulen auf und derFreistaat Bayern zahlt den Kommunen die versprochenenZuschüsse – über 2 Milliarden Euro – nicht aus.Einen weiteren biblischen Vergleich will ich mir spa-ren, aber ich möchte doch an den Splitter und den Balkenerinnern. Das dürfte Ihnen doch auch etwas sagen.Ich bitte Sie, keine polemische Debatte zu führen. Las-sen Sie Ihre Schuldzuweisungen! Sie helfen den Kommu-nen nicht. Lassen Sie Ihr pharisäerhaftes Gerede und brin-gen Sie endlich eigene vernünftige Vorschläge! Diese sindSie jetzt leider auch wieder schuldig geblieben. Sie habenkeine Vorschläge. Sie können nur jammern, sonst nichts.
Herr Kollege Pronold, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede im Deutschen Bundestag.
Ich hoffe, dass Sie sich Ihre Bibelfestigkeit in den ganz
unterschiedlichen parlamentarischen Situationen, mit de-
nen Sie noch zu tun haben werden, bewahren können.
– Das gilt für das Alte und das Neue Testament. Sie bieten
eine unerschöpfliche Quelle von Zitaten.
Ich darf nun dem Kollegen Michael Goldmann das
Wort für die FDP-Fraktion erteilen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege Pronold. Wirsollten uns vielleicht einmal privat darüber unterhalten,welche Erfahrungen Sie in der Kommunalpolitik haben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1641
Ich will damit nicht sagen, dass man immer welche habenmuss, aber es ist gewiss von Vorteil, wenn man zur Sachespricht.Sie haben vom Sündenbock gesprochen. Dazu mussich Ihnen sagen: Sie haben von der Entwicklung der kom-munalen Finanzen gerade in der letzten Zeit überhauptkeine Ahnung. Die Situation der kommunalen Finanzenwar immer schwierig und es gab immer Ungerechtigkei-ten. Ich habe nie verstanden, warum Kommunen, die sichbesondere Mühe geben und besondere Anstrengungen un-ternommen haben, später weniger Schlüsselzuweisungenbekamen. Eines steht aber eindeutig fest: Die Finanzlageder Kommunen hat sich unter Rot-Grün dramatisch ver-schlechtert. Es ist genau so, wie es der Kollege Götz ge-sagt hat: Die Kommunen stehen nicht nur mit demRücken an der Wand, sondern sie sind schlicht und er-greifend in sehr vielen Bereichen, bei denen es um die In-teressen der Bürger geht, überhaupt nicht mehr hand-lungsfähig.
Darüber müsste man sich eigentlich einig sein; denn esbringt überhaupt nichts, das zu einem bayerischen Pro-blem zu machen. Es handelt sich um ein deutsches Pro-blem und Sie wissen, dass sich die Situation deshalb ver-schärft hat, weil Sie falsche steuerliche Weichenstellungenvorgenommen haben.
– Die höhere Gewerbesteuerumlage haben Sie zu verant-worten. Das gesamte Steuerreformkonzept – eigentlich istes gar kein Konzept –, das auf den Weg gebracht wordenist, haben Sie zu verantworten.
In Niedersachsen zum Beispiel kann kein Landkreismehr seinen Haushalt ausgleichen. Ich selbst habe an Be-ratungen im Landkreis Emsland teilgenommen. VomMorgen bis zum Nachmittag haben wir Defizitentwick-lungen festgestellt; daraufhin haben wir die gesamtenHaushaltsberatungen eingestellt und neue aufgenommen.Das liegt an Ihrer politischen Weichenstellung in ver-schiedenen Bereichen.
Ich glaube, Sie wissen manchmal nicht, was bestimmtesteuerliche Weichenstellungen oder Gesetzgebungsmaß-nahmen bedeuten. Haben Sie sich zum Beispiel einmalmit den Auswirkungen der Grundsicherung auf die kom-munalen Haushalte beschäftigt?
Haben Sie sich einmal mit den Belastungen für Mittel-stand und Handwerk und deren Auswirkungen auf daskommunale Geschehen beschäftigt? Ich glaube, wenn Siedas tun, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Kommu-nen einer Zangenbewegung ausgesetzt sind: Der Bundnimmt und die Länder nehmen zum Teil auch, vor allenDingen die rot-grün-regierten Länder nehmen massiv.
Gerade in Niedersachsen hat die rote Landesregierungden Kommunen immer und immer wieder Einnahmen ge-nommen. Jeder, der sich damit ernsthaft befasst, wirdmich darin bestätigen.
Ihre in meinen Augen relativ schlechte – ich könnteauch sagen: saumäßige – Wirtschaftspolitik trifft vor allenDingen Mittelstand und Handwerk,
die nach wie vor in entscheidender Weise die Träger kom-munaler Finanzen sind. Sie wissen, dass sich die Gewer-besteuer immer antizyklisch ausgewirkt und die Kommu-nen hinsichtlich ihrer Finanzen immer in eine schwierigeSituation gebracht hat.
Liebe Kollegen von Rot-Grün, wir können uns überdas eine oder andere unterhalten und Sie können hier auchBibelsprüche rauf- und runterbeten, aber Sie haben keinHerz und keinen Verstand bei der Politik, die Sie für dieKommunen machen. Das ist sehr bedauerlich, denn ge-rade die Kommunen waren immer diejenigen, die ent-scheidend dafür gesorgt haben, dass von der Basis herArbeitsplätze entstehen, dass von der Basis her Investi-tionen getätigt werden und auch von der Basis her so et-was wie einigermaßen gleiche Lebenschancen in allenBereichen entstehen. Insofern ist Ihre Politik gerade aucheine Politik gegen die ländlichen Räume, gegen Mittel-stand und Handwerk und im Grunde genommen gegendiejenigen, die vor Ort bereit sind, Verantwortung zuübernehmen. Ich bedaure das sehr.
Sie streben jetzt möglicherweise eine Ausweitung derGewerbesteuer an. Sie wollen diese auf Landwirte undFreiberufler ausdehnen. Ich denke, dies ist der völligfalsche Weg. Wir als FDP wollen Verlässlichkeit für diekommunalen Finanzen. Deswegen fordern wir Sie jetztund heute auf: Nehmen Sie die Erhöhung der Gewerbe-steuerumlage zurück!
– Nein, nicht mehr Schulden aufnehmen, sondern nehmenSie sie schlicht zurück. Es ist ein Irrtum, wenn Sie glau-ben, damit die Finanzsituation verbessern zu können. Da-durch, dass Sie die Betriebe belasten, verhindern Sie In-vestitionen und Weichenstellungen für Arbeitsplätze.
Hans-Michael Goldmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Hans-Michael GoldmannEines der größten Probleme in den Kommunen bestehtdarin, dass in der Bundesrepublik viel zu wenige Men-schen eine Arbeit haben. Eines der größten Probleme inden Kommunen besteht darin, dass sich die Ertragssitua-tion der Betriebe sowie der Menschen, der Bürger ver-schlechtert hat. Deswegen müssen wir die kommunalenFinanzen auf eine solide Basis stellen.Wir sind gegen die Revitalisierung der Gewerbesteuer,hinter der sich im Grunde nichts anders verbirgt als dieEinbeziehung der freien Berufe in die Gewerbesteuer.Nein, das wollen wir nicht.
Wir wollen den Kommunen ein eigenes Heberecht imBereich der Umsatz- und Einkommensteuer geben. Wirwollen eine Gemeindefinanzreform, die vereinfacht. Ichbin seit 20 Jahren Bürgermeister einer Gemeinde. WennSie jemals die Finanzsituation Ihrer Gemeinde durchge-rechnet haben, zolle ich Ihnen erstens höchsten Respekt.Zweitens kann ich Ihnen garantierten, dass Sie wochenlangdaran gesessen haben, weil dieses System so kompliziertist, dass man kaum dahinter kommt. Diese Ungerechtig-keiten, diese Unklarheiten und die Überbürokratisierungführen dazu, dass vor Ort überhaupt keine vernünftige Po-litik gemacht werden kann, die die Kommunen trägt.Seien Sie vernünftig! Sorgen Sie dafür, dass sich diekommunalen Finanzen schnellstens verbessern! Das istdie notwendige Grundlage für eine Verbesserung der der-zeitigen Situation der Kommunen und insgesamt für einebessere Politik.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir reden in der Aktuellen Stunde über die Auswir-kungen unserer Steuerpolitik auf die kommunalen Finan-zen. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich einigegrundlegende Anmerkungen machen und auf die Beiträgemeiner Vorredner eingehen.Wir wissen, um die Finanzen der Kommunen steht esschlecht. Wir haben defizitäre Haushalte, den Verkauf vonVermögensbeständen und viele Kommunen, die von derSubstanz leben. Dies können wir nicht wegdiskutieren.Das Problem sind die Einnahmen der Kommunen. Auchdarin sind wir uns einig. Die Einnahmen der Kommunensind so, wie sie jetzt ausgestaltet sind, durch eine hohe Ab-hängigkeit von der Gewerbesteuer und damit von derKonjunktur gekennzeichnet. Dieses Problem der nichtstetigen Einnahmen der Kommunen und der geringen Pla-nungssicherheit der Kommunen müssen wir lösen.Wir lösen es nicht dadurch, dass wir jetzt die Gewerbe-steuer in Bausch und Bogen verdammen. Wir lösen esvielmehr, indem wir im Zuge der Gemeindefinanzreformdie Gewerbesteuer mit dem Ziel der Verstetigung der Ein-nahmen der Kommunen modernisieren. Denn dann schaf-fen wir Planungssicherheit für die Kommunen.
Die FDP, die Steuern am liebsten abschaffen würde,die immer wieder Modelle entwickelt, mit denen derWettbewerb der Kommunen gefördert werden soll, er-kennt nicht die Probleme der Kommunen wie Wegzüge inden so genannten Speckgürtel oder das Gegeneinanderder Kommunen, das man nicht wegdiskutieren kann. Sokann, wie ich finde, der Vorschlag, den Sie machen, kei-nen Bestand haben. Wir müssen vielmehr, um auf denrichtigen Weg zu kommen, die Gewerbesteuer moderni-sieren und über andere Elemente diskutieren.Wer heute über die Finanzen der Kommunen spricht,muss anerkennen, dass in den Kommunen auch Fehler ge-macht wurden. Manche Kommunen haben viel zu langeüber ihre Verhältnisse gelebt.
Es wurden Projekte von ungeheurem Umfang verfolgt.Ein solches Projekt ist „Stuttgart 21“. An diesem Projektwurde lange festgehalten. Dabei müsste man der Kom-mune ganz deutlich sagen: Liebe Kommune, verabschie-det euch von diesem Projekt, denn es ist nicht zu finan-zieren.Es gibt Vorfinanzierungen von Straßen – in Baden-Württemberg kenne ich den Fall konkret –, wodurch sichfinanzielle Auswirkungen für die Kommunen ergeben,die sich über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg er-strecken werden. So kann die Politik in den Kommunennicht aussehen.
Verwaltungsreformen stehen aus. Dabei ist hier in denKommunen viel Potenzial vorhanden, ihre Ausgaben zusenken. Ich finde es gut, dass viele Kommunen diese Si-tuation als Chance begreifen, um über ihre eigenen kom-munalen Haushalte zu diskutieren. Das sollten wir auf je-den Fall unterstützen.Wir dürfen die Kommunen aber nicht alleine lassen.Wir müssen die Finanzkraft der Kommunen verstetigenund verbessern. Wir müssen die Gewerbesteuer moderni-sieren. Ich verspreche mir viel von der Gemeindefinanz-reform. Vielleicht gelingt es uns, diese unendliche Ge-schichte der Reform der Gewerbesteuer – so wurde sieeinmal betitelt – tatsächlich anzugehen. Ich hoffe sehr,dass wir hier im Sinne der Kommunen zu einer Zusam-menarbeit kommen; denn ohne starke Städte ist kein Staatzu machen; da gebe ich Ihnen Recht. Wir brauchen dieKommunen. Wir brauchen die kommunale Selbstverwal-tung.Nun komme ich zu dem Thema Aufgabenübertragungan die Kommunen. Sie wissen, das betrifft den Bund wieauch die Länder. Nach dem Grundgesetz sind es vor allemdie Länder, die die Aufgaben an die Kommunen übertra-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1643
gen. Wenn Sie immer wieder sagen, dass wir Aufgaben andie Kommunen übertragen, deren Finanzierung aber nichtgewährleisten, dann ist das nicht richtig.
– Die Kommunen haben für die Grundsicherung im Alter410 Millionen Euro bekommen. Das sind 100 MillionenEuro mehr, als damals als Bedarf ermittelt und festgesetztwurde. Wenn heute durch die Lande gezogen und gesagtwird, das Geld reiche nicht, dann bitte ich Sie, sich die Be-gründung dafür anzuschauen, warum dieses Geld nichtreichen soll. Im Augenblick kann noch niemand sagen, obdas Geld reicht oder nicht. Fest aber steht: Wir haben410 Millionen Euro dafür eingestellt.
– Das Geld geht an die Länder. Das wissen Sie. Die Län-der sind die Treuhänder für die Weitergabe dieser Gelderan die Kommunen. Da liegt noch viel im Argen.
Ich komme nun zum Steuervergünstigungsabbaugesetz,weil Sie das an manchen Stellen angesprochen haben. Ichkann nicht verstehen, warum Sie bei Maßnahmen, dieKommunen direkt helfen, wie zum Beispiel die Abschaf-fung der gewerbesteuerlichen Organschaften, schon heuteihre Blockade ankündigen. Das wären Gelder, die die Kom-munen direkt bekommen könnten, wenn wir heute die ge-werbesteuerlichen Organschaften abschaffen würden.
– Es gibt auch Ausgleichsmaßnahmen für die Kommunen,die davon besonders betroffen sind. Sie bekommen direktGeld, mit dem sie arbeiten können.
Wir haben die Zahlen doch vorliegen, was das Steuer-vergünstigungsabbaugesetz den Kommunen bringenkann: 580 Millionen Euro im Jahr 2003, 2,1 MilliardenEuro im Jahr 2004 und 3,2 Milliarden Euro im Jahr 2005.
Sie wissen, dass Maßnahmen in diesem Konzept enthal-ten sind, die konkrete Auswirkungen auf die Kommunenhaben. Ich kann nur hoffen, dass Sie diese Maßnahmen imBundesrat nicht blockieren, denn sie sind wichtig für dieKommunen.Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Gemeindefinanz-reform zusammenarbeiten; denn wir sind uns sicherlicheinig darin, dass wir die kommunale Selbstverwaltungbrauchen und dass wir die Kommunen mit ihren Aufga-ben nicht alleine lassen können. Sie übernehmen wichtigeAufgaben und weisen die größte Bürgernähe auf. Wirbrauchen die kommunale Selbstverwaltung. Wir brau-chen aber auch eine Zusammenarbeit aller Fraktionen. Ichhoffe sehr, dass uns das gelingt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich stelle zunächst einmal fest, dass die FDP, die Grü-nen und die Christdemokraten erkannt haben, dass es denKommunen schlecht geht. Ich bedauere, dass Sie, HerrKollege Pronold von der SPD, dies als Polemik bezeich-net haben.
Ich glaube, wir sollten uns in diesem Hause darüber einigsein, dass es den Kommunen schlecht geht. Ihnen geht esschlechter als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland. – Ich will Sie nicht mit den Zahlen lang-weilen. – Die entscheidende Ursache dafür liegt in derverfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik der rot-grünenRegierung.
Frau Kollegin von den Grünen, Ihnen fällt nichts an-deres ein, als sich in dieser Debatte für Steuererhöhungeneinzusetzen.
Das ist genau das, was wir nicht brauchen.
Ich sage es mit aller Deutlichkeit: Das würde die Situationder Kommunen noch weiter verschlechtern.
Wir können uns natürlich über die Ursachen unterhal-ten; hier gibt es Meinungsverschiedenheiten. Die ent-scheidende Ursache ist die verfehlte Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik. Über die Wirkung werden wir zu einereinheitlichen Auffassung kommen. Die Wirkung dieserFinanzsituation ist: Die kommunalen Investitionen gehenzurück, die Zahlungsmoral der öffentlichen Hand wirdschlechter und beides trifft die mittelständische Wirt-schaft vor Ort. Im Ergebnis – die Zahlen belegen das –führt diese Politik zu mehr Arbeitslosen und mehr Fir-menpleiten. Das ist die aktuelle Situation.Wir müssen uns die Frage stellen, was wir kurzfristigtun können. Sie verweisen immer gerne auf die eingesetzteKerstin Andreae
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Otto BernhardtKommission. Prima! Wir brauchen sicherlich eine grund-legende Veränderung der kommunalen Finanzen. DieKommission hat sich, wenn ich richtig informiert bin,konstituiert und bisher eine Arbeitssitzung durchgeführt.
Vor 2004 sind keine Ergebnisse zu erwarten.
So lange können die Kommunen nicht warten.Frau Kollegin von den Grünen, deshalb antworte ichauf Ihre Frage, wo unsere Alternativen sind: Es gibt einenGesetzentwurf des Bundesrates und der CDU/CSU-Frak-tion im Bundestag. Ich glaube, ich verrate keine Geheim-nisse aus den Ausschüssen, wenn ich sage, dass dieser Ge-setzentwurf heute Morgen im Finanzausschuss mit denStimmen von Rot-Grün abgelehnt worden ist. Das ist Ihrekommunalfreundliche Haltung.
Worum geht es bei diesem Gesetzentwurf? Sie habenim Jahre 2000 die Gewerbesteuerumlage gegen unsereStimmen von 20 auf 30 Prozent erhöht.
Sie alle wissen, dass es bei der Gewerbesteuer um eineGrößenordnung von circa 20 Milliarden pro Jahr geht.10 Prozentpunkte bedeuten also circa 2 Milliarden. Siehaben die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage damals– das können Sie im Protokoll nachlesen – mit zwei Ar-gumenten eingeführt. Ihr erstes Argument lautete, dasssich durch Ihre „geniale“ Steuerreform die Wirtschafts-situation so nachhaltig verbessern würde, dass die Kom-munen mehr Geld bekämen. Ihr zweites Argument lau-tete, dass die Kommunen durch die Veränderung derAbschreibungen in den einzelnen Branchen neue Einnah-men erzielen würden.Die zweite Voraussetzung haben Sie – um das klar zusagen – Gott sei Dank nicht erfüllt. Auch wir wollten dasnicht, weil es konjunkturpolitisch nicht passte. Ich glaube,ich brauche in diesem Hause nicht zu betonen, was aus derKonjunktur geworden ist. Beide Voraussetzungen, unterdenen Sie diese Erhöhung eingeführt haben, wurden alsonicht erfüllt. Deshalb kann ich nur sagen: Unsere Kom-munen benötigen kurzfristig Hilfe und keine Kommis-sion, die jahrelang tagt. Wir haben Ihnen einen konkretenVorschlag unterbreitet; die unionsregierten Länder habendies im Bundesrat ebenfalls getan.
Sie haben ihn heute Morgen abgelehnt.Damit Sie wissen, um welche Größenordnung es geht:Den Kommunen fehlten im letzten Jahr 7Milliarden Euro.In diesem Jahr werden es wahrscheinlich 10 MilliardenEuro sein. Dieses eine Gesetz würde den Kommunen so-fort – wir wollen es ja rückwirkend zum 1. Januar – gut2Milliarden Euro zusätzlich bringen. Ich appelliere an dieKommunalpolitiker bei den Sozialdemokraten: ErkennenSie Ihr kommunalpolitisches Herz und tun Sie etwas fürdie Kommunen. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur Wirt-schaftsförderung in Deutschland und zur Sicherung derkommunalen Selbstverwaltung. Auch darüber sollten Sieeinmal nachdenken.
Ich erteile dem Kollegen Dieter Grasedieck für die
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir haben die Probleme vor Jahren erkannt, HerrBernhardt. Genau deshalb haben wir eine Kommissioneingerichtet.
Wir versuchen, hier etwas zu bewegen. Wir malen nichtundifferenziert schwarz.
Wir bemühen uns um eine Grundlage und um ein Ge-setz. Sie wissen genau, dass der KommissionsberichtMitte des Jahres vorliegen wird. Wir brauchen ihn als Ba-sis für das Gesetz, das wir noch in diesem Jahr verab-schieden werden. Wir gestalten, Hast wäre schädlich. Si-cherlich kann man Politik unverkrampft und mit leichterHand machen. Harte exakte Arbeit ist aber zwingend er-forderlich. Deshalb brauchen wir die Arbeit der Kommis-sion.Sie haben meinen Satz, dass man in der Politik exakteArbeit leisten muss, häufig vergessen.
Sie von der CDU/CSU fordern zum Beispiel eine drasti-sche Steuerreduzierung. Sie wollen einen Spitzensteuer-satz von 40 Prozent, die FDP will sogar 35 Prozent.Gleichzeitig verlangen Sie ein Sofortgeld für die Kom-munen.
Gestern forderten Sie ein Sofortgeld für die Bundeswehr.Sie von der FDP fordern ein Bürgergeld. All das ist nichtohne Weiteres zu verbinden; denn das sind widersprüch-liche Forderungen und Anträge. Die Milliarden fallennicht vom Himmel. Zudem müssen die Maastricht-Krite-rien berücksichtigt werden.Sie von der FDP sind verantwortungslos, wenn Sie be-haupten – das haben Sie gerade wieder erwähnt –, dass derStaatsanteil am Volkseinkommen bei 56 Prozent liegt. Sie
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fragen sich aber gar nicht, ob nicht in ein Investor, dersolch eine Falschmeldung liest, daraus falsche Schluss-folgerungen ziehen könnte. Ihr Antrag zur Mehrwert-steuer enthält diese Behauptung ebenfalls.Die Steuern waren einmal hoch, Herr Bernhardt unddie Kollegen von der FDP, aber das ist zehn Jahre her. Da-mals betrug der Spitzensteuersatz 56 Prozent, der Ein-gangssteuersatz lag bei 25,9 Prozent. Das war Ihre Leis-tung, aber das ist längst Geschichte. Die SPD und dieGrünen haben dafür gesorgt, dass 2005 der Eingangssteu-ersatz 15 Prozent und der Spitzensteuersatz 42 Prozent be-tragen werden. Das sind wirkliche Veränderungen.
Sie haben vielleicht im OECD-Bericht gelesen, dassDeutschland im Jahr 2001 mit 21,9 Prozent die niedrigsteSteuerquote in Europa hatte. In der OECD haben nichtSPD-Mitglieder das Sagen, es ist kein der SPD nahe ste-hendes Institut. Es ist ein international anerkanntes Insti-tut. Die Experten sind der Meinung: Deutschland ist einNiedrigsteuerland.Sie werden überrascht sein: Das Institut der deutschenWirtschaft hat diese Zahlen bestätigt. Das zeigt, dass dieSozialdemokraten und die Grünen hinsichtlich der Steuer-sätze viel erreicht haben. Durch Ihre Diskussionen – heuteüber Kommunalfinanzen, am Freitag über Mehrwert-steuer – verunsichern Sie die Menschen.
Unsere Koalition gestaltet und gibt den MenschenHoffnung. Wir brauchen einen positiven Push und keineSchwarzmalerei. Unser Land muss die finanzielle Belas-tung durch die deutsche Einheit tragen. Hier sehen wirinsbesondere die Probleme der Kommunen. Hinzukommt die Bewältigung der Flutkatastrophe. Wir arbeitendiese Punkte ganz exakt ab. Sie haben uns unterstellt, dasswir dies nicht tun.
Zur Bewältigung der Flutkatastrophe stehen 14 Milliar-den Euro zur Verfügung. Natürlich berücksichtigen wirdie Situation der Kommunen und Gemeinden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchenfür unsere Gemeinden ein Gesamtkonzept. Dieses Ge-samtkonzept werden wir noch in diesem Jahr auf der Ba-sis der Empfehlungen der Gemeindefinanzreformkom-mission erarbeiten. Indem wir es umsetzen werden,werden wir den Gemeinden Hilfen bieten.
Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Es gibt keinen Zweifel: Bürger, Betriebe und Kom-munen sind geradezu in eine rot-grüne Steuerfalle gera-ten. Das fortwährende Drehen an der Steuerschraube warfür die Konjunktur und damit auch für die Steuereinnah-men absolut kontraproduktiv.
Der steuerpolitische Würgegriff hat zu einem Einbruchdes Wachstums und der Steuereinnahmen, zu höherer Ar-beitslosigkeit und zu einer höheren Zahl von Firmenplei-ten geführt. Die Zahlen sind eindeutig. Sie dürfen nichteine Steuerquote der OECD, die bei uns schon einmal Ab-bitte geleistet hat, sondern müssen die Staatsquote an-führen. In Ihrem eigenen Finanzbericht stehen für das Jahr2002 48,5 Prozent. Damit sind wir Schlusslicht in Europa.
1997 lagen wir beim Pro-Kopf-Einkommen noch aufRang sieben der Weltrangliste, heute finden wir uns aufRang 13 wieder. Das spiegelt den Verlust an Einnahmenbei Kommunen, beim Staat und bei den Bürgern wider.Sie haben einfach an den falschen Schrauben gedreht, in-dem Sie immer wieder den Staatsanteil vergrößert haben.
Der Einkommens- und Steuereinnahmeverlust inDeutschland hat eine dramatische Entwicklung genom-men. Seine Ursachen sind hausgemacht.
Unsinnige Steuererhöhungen in der Rezession haben denprivaten Verbrauch und die Investitionen abgewürgt. Dashat natürlich negative Auswirkungen auch auf die Kom-munalfinanzen. Letzten Endes können die Kommunennichts dafür; sie haben diesen Schaden gewissermaßen imDurchgriff zu erleiden.Wird von Rot-Grün diese Politik der Erhöhung desStaatsanteils fortgesetzt, dann wird – hier gebe ich IhnenBrief und Siegel – die für nationale Haushaltsdefizite gel-tende Obergrenze von 3 Prozent auch in diesem Jahr über-schritten werden und Sie werden Sanktionen der EU-Kommission hinnehmen müssen. Sie haben die Problemenicht im Griff. Sie verursachen immer größere Probleme,weil Sie kein Gesamtkonzept haben.
Der heute von Herrn Clement vorgelegte Jahreswirt-schaftsbericht schafft nicht das notwendige Vertrauen für In-vestoren und Konsumenten. Wer sich wie Herr Clement beieiner unsicheren Wachstumsprognose von nur 1 Prozent ge-radezu selbst lobt, ist für mich ein wirtschaftspolitischerDieter Grasedieck
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003
Hans MichelbachTiefflieger. Die Schattenwirtschaft dagegen soll bereits17 Prozent des BIP erreichen. Dazu sagt er nichts. Mit den370 Milliarden Euro, die der öffentlichen Hand inDeutschland aufgrund der Schattenwirtschaft verloren ge-hen – das ist eine Rekordzahl –, könnte man die Finanz-krise sehr schnell beheben. Hier muss man nur an denrichtigen Schrauben drehen.
Meine Damen und Herren, die verfehlte Finanz- undWirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung hatdazu geführt, dass sich die öffentlichen Haushalte, ins-besondere die Haushalte der Kommunen, in einer kriti-schen Situation befinden. Die Bundesregierung hat keinwirtschafts- und finanzpolitisches Gesamtkonzept zurEntfesselung von Innovation, Wachstum und Beschäfti-gung.Wenn Sie bei Ihrem Vergleich der Kommunen inDeutschland ausgerechnet die des Landes Bayern heran-ziehen, wo die Kommunen und der kommunale Finanz-ausgleich noch die besten Zahlen aufweisen,
dann sind Sie nicht nur auf einem Auge, sondern völligblind. Ich muss Ihnen eines ganz ehrlich sagen: Wenn Siesolche Vergleiche anstellen, dann müssen Sie berücksich-tigen, dass die Investitionen der Gemeinden in Bayernweit über dem Bundesdurchschnitt liegen, deren Ver-schuldung aber weit unter dem Bundesdurchschnitt liegt.Daher können Sie den kommunalen Finanzausgleich inBayern gar nicht angreifen. Wissen Sie, was Sie angreifenmüssten? – Dass eine Stadt wie Passau, die im letzten Jahreine große Hochwasserkatastrophe mit Schäden in Höhevon 10 Millionen Euro zu bewältigen hatte, von Ihneneine Hilfe von nur 527 000 Euro bekommt,
ihr bei den Schlüsselzuweisungen aber fast dieselbeSumme, nämlich 500 000 Euro, gleich wieder abgezogenwird. Das ist die perverse Kommunalfeindlichkeit derBundesregierung.
Zum Abschluss möchte ich deutlich machen: Es musseine Steuerpolitik für mehr Wachstum des Bruttosozial-produkts betrieben werden, damit ein größerer Kuchenzur Verfügung steht, von dem Staat und Kommunen ihrennotwendigen Anteil abbekommen. Es muss eine Rück-nahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage, eineniedrigere Staatsquote, ein Steuerbelastungsabbaupro-gramm und einen Verzicht auf das so genannte Steuer-vergünstigungsabbaugesetz geben. Es darf keine neueMehrwertsteuererhöhung und keine Verbreiterung derBemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer geben. Esmuss stattdessen eine realistische und zielführende Ge-meindefinanzreform geben.
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich wäre inAnbetracht der wirklich sehr schwierigen finanziellen Si-tuation, in der sehr viele Städte und manche Gemeindenstecken – wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zuge-ben, dass das nicht alle betrifft –, sehr froh, wenn wir unshier polemische Diskussionen ersparen könnten.
Ich wäre außerdem sehr froh, wenn man bei den Faktenbliebe, Herr Michelbach,
wenn man keine Nebelkerzen werfen würde nach demMotto: Hochwasserhilfe für Passau! Sie wissen ganz ge-nau – ich hoffe, dass Sie das wissen –, wie das mit denSchlüsselzuweisungen funktioniert. Das Land Bayernund nicht die Bundesregierung oder die sie tragendenFraktionen haben die Verantwortung dafür zu tragen, dasses in Passau so gelaufen ist, wie es gelaufen ist.
Wenn Sie behaupten, unseren Kommunen gehe es soschlecht, weil sich das ganze Land in einem steuerpoliti-schen Würgegriff befinde, dann kann ich nur sagen: Blei-ben Sie auch hier bei den Fakten! Wir haben bis zum Jahr2001 von keiner Kommune irgendetwas gehört, was da-rauf hingedeutet hat, dass es große finanzielle Problemegibt;
denn bis inklusive des Jahres 2000 war die wirtschaftlicheSituation gut. Ein Wachstum von 3 Prozent bei den Ge-werbesteuereinnahmen im Jahr 2000 sei klasse gewesen;das sagen alle kommunalen Verbände, auch der DeutscheStädtetag.Die Probleme haben im Jahr 2001 begonnen. Die Ur-sachen dafür liegen vorwiegend darin, dass wir eine kon-junkturelle Entwicklung zu verzeichnen hatten, die vorallem im Bereich der Banken und der Bauunternehmenzu Einbrüchen bei den Auftragszahlen geführt hat. Wirhaben hier zigmal über die Abhängigkeiten vom Welt-markt und darüber diskutiert, warum die konjunkturelleEntwicklung 2001 so negativ verlaufen ist. Das hat sichletztendlich leider auch – das zeigen die Zahlen – bei denEinnahmen negativ niedergeschlagen. Seit dem Jahr2001 sind beispielsweise ein verstärkter Preiswettbewerbund ein damit einhergehender Preisverfall bei den deut-schen Energieversorgern festzustellen. Aufgrund dieserEntwicklung hat es in sehr vielen Städten in der Bundes-republik Deutschland einen drastischen Einbruch bei denGewerbesteuereinnahmen gegeben; denn viele Städte
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2003 1647
sind von wenigen großen Gewerbesteuerzahlern abhän-gig,
wie zum Beispiel von Banken, Versicherungen, Energiever-sorgern und Großunternehmen in der Automobilindustrie.Ich möchte nicht alle aufzählen – denn Sie kennen sie alle –und nur beispielhaft Siemens nennen. Die Abhängigkeit vonsehr wenigen großen Unternehmen hat im Zusammenspielmit der konjunkturellen Entwicklung – ich erinnere an dieWertberichtigungen, die in den Konzernen vorgenommenwerden mussten – letztendlich zu dieser Problemlage undauch zum Einbruch der Aktienmärkte geführt.
Die Kollegin Kerstin Andreae hat darauf hingewiesen,dass die Lage sehr ernst ist. Ich teile diese Einschätzung.Unsere Fraktion beschäftigt sich mit den damit verbunde-nen Fragen sehr intensiv.
Die Steuerschätzung im November ist noch davon ausge-gangen, dass es einen Einbruch von etwa 7,5 Prozent ge-ben wird. Die aktuellen Zahlen, die der Deutsche Städte-tag am Montag vorgelegt hat, besagen, dass der Einbruchnicht bei 7,5 Prozent, sondern „nur“ – das ist kein Trost –bei 5,3 Prozent liegt. Das ist dramatisch genug.Was nicht geht, ist, so zu tun, als ob man die Problemeder Kommunen über eine Änderung bei der Gewerbe-steuerumlage lösen könne; denn von der Rücknahme derErhöhung der Gewerbesteuerumlage – auch das müssenSie einfach einmal sehen – profitierten diejenigen Kom-munen, die sowieso einnahmestark sind. Die einkom-mensschwachen Kommunen hätten von der Änderung beider Gewerbesteuerumlage überhaupt nichts,
obwohl man genau denen helfen muss.Abschließend möchte ich Folgendes sagen: Hören Siemit Ihrer blöden Polemik auf!
Kümmern Sie sich vielmehr mit uns darum, dass wir einegescheite Reform der kommunalen Finanzen zustandebringen, dass wir die Probleme in diesem Land lösen,
und zwar mithilfe des Bundesrates, und dass wir letztend-lich nicht so eine Situation wie in Hessen bekommen.Hessen hat beispielsweise einen Investitionsfonds aufge-legt. In diesen Investitionsfonds haben vorwiegend dieKommunen eingezahlt.
Aus diesem Investitionsfonds in der Größenordnung von400 Millionen Euro will Herr Koch jetzt die Hälfte he-rausnehmen, um seinen Landeshaushalt zu sanieren.
So viel zur Unterstützung der Kommunen im Wahl-kampfland Hessen. Was da passiert, ist eine Sauerei.
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die StadtDresden plante im Dezember letzten Jahres, alle städti-schen Krippen und Hortplätze zu schließen. Sie hat zu die-sem Zweck sämtlichen betroffenen Eltern kurz vor Weih-nachten Kündigungen geschickt. Zu diesen Schließungenist es bis heute nicht gekommen. Im Stadtrat wird verhan-delt und es liegen Kompromisslösungen vor. Dass eineStadt – aus welchen Gründen auch immer – meinte, die-sen Weg gehen zu müssen, belegt wie kaum ein anderesBeispiel eindrucksvoll die Finanznot unserer Kommunen.Ähnliche Nachrichten erhalten wir in diesen Tagen ausallen Kommunen unserer Wahlkreise: Jugendklubs undSchwimmbäder werden geschlossen, Büchereiöffnungs-zeiten werden eingeschränkt. Jüngst wurde sogar einmalkolportiert – das hat sich nicht als wahr herausgestellt;aber man hat es zunächst geglaubt –, dass die Schüler ei-ner Schule aufgefordert worden seien, ihr eigenes Klopa-pier mitzubringen.
Das stimmte zwar nicht; aber es wurde zunächst geglaubt,Frau Scheel. Auch das belegt die Finanznot unserer Kom-munen.Unsere Kommunen, unsere Städte, unsere Gemeindenund unsere Landkreise stecken in der schwersten Finanz-krise seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Umdiesen Fakt kommen Sie nicht herum.
Das gilt für ehemals reiche Kommunen, etwa die Landes-hauptstadt München. Der dortige Oberbürgermeister istaus Protest gegen die Kommunalpolitik dieser Bundesre-gierung nicht zur Abschlusskundgebung mit dem Kanzlergekommen.
Christine Scheel
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Manfred Kolbe– Warum war er denn im Urlaub? Fragen Sie ihn einmal,warum er zum Abschluss des Bundestagswahlkampfs imUrlaub war, Frau Scheel.
Das gilt aber auch für die ärmeren Kommunen imOsten. Der Sächsische Städte- und Gemeindetag schätztdie Lage der Städte und Gemeinden im Freistaat Sachsennicht nur als dramatisch, sondern sogar als katastrophalein, und das, obwohl es den sächsischen Kommunen imVergleich zu den anderen Kommunen im Osten noch ambesten geht.Die Kommunen im Osten sind genauso wie die Kom-munen im Westen betroffen. Sie sind allerdings aus vie-lerlei Gründen besonders betroffen. Das liegt zum einendaran, dass bei ihnen die Steuerdeckungsquote niedrigerist. Die Steuerdeckungsquote im Osten liegt nur noch bei16,6 Prozent. Auf den Lebensunterhalt eines Menschenbezogen hieße das, dass das Einkommen nur 16,6 Prozentzu seiner Deckung beitragen würde. Alles andere mussvon anderer Seite kommen. Hier kann man nicht mehr vonkommunaler Selbstverwaltung reden.Die Einnahmen der Kommunen gehen also zurück.Außerdem leiden sie besonders unter den Aufgaben, dieder Bund ihnen aufbürdet. Jüngstes Beispiel hierfür ist dasGrundsicherungsgesetz.
Die Folge: Auch die Investitionen gehen zurück. Sie sindin Sachsen von 3,1 Milliarden Euro im Jahr 1992 auf nurnoch 1,5 Milliarden Euro im Jahre 2001 zurückgegangen;die kommunalen Investitionen wurden also halbiert. Da-bei ist die sächsische Investitionsquote sogar noch diehöchste.Wir müssen also handeln und brauchen keine Partei-polemik. Da stimmen wir überein. Nur, Frau Scheel, derBund muss handeln. Rot-Grün hat leider im Augenblickim Bundestag die Mehrheit. Sie müssen handeln, wir alsOpposition können leider nicht handeln, wir hätten sonstgehandelt. Das hat ja auch unser heute vorgestellter Ge-setzentwurf gezeigt.
Sie müssen handeln, indem Sie erstens die Rahmen-bedingungen nicht noch mehr verschlechtern. Da blickeich mit Sorge auf das Steuervergünstigungsabbaugesetzund den Wegfall der gewerbesteuerlichen Organschaft.Schauen Sie sich, Frau Staatssekretärin Hendricks, bittenoch einmal ganz genau an, welche Auswirkungen dasetwa auf die Kommunen im Ostteil unseres Landes hat.Ich höre aus etlichen Städten, dass denen bis zu 80 Pro-zent der Gewerbesteuereinnahmen wegbrechen würden.Wenn das stimmt, führt das diese Städte und Gemeindenweiter in den Abgrund.Zweitens müssen wir sofort handeln. Da ist unser Ge-setzentwurf, der die Änderung der Gewerbesteuerumlageauf die alte Höhe vorsieht, der richtige Weg. Sie aber ha-ben das abgelehnt.Drittens muss die Kommission zur kommunalenFinanzreform endlich die Arbeit aufnehmen. Sie haben jazu Recht vorhin einen Lacherfolg geerntet, als Sie sagten,Sie hätten die Kommission eingesetzt.
Wir wollen jetzt Ergebnisse dieser Kommission sehen.
Die Bildung der Kommission wurde 1998 angekündigt,bis heute, 29. Januar 2003, liegen keine Ergebnisse vor.Ich höre jetzt, dass diese Reform zum 1. Januar 2004 inKraft treten soll. Das geht kaum.
– Wir nehmen Sie beim Wort, Frau Scheel. Wir sind ge-spannt, aber ich befürchte, das wird wieder handwerklichunseriös gemacht und geht wieder zulasten der Kommu-nen. Handeln Sie endlich!Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Scheelen für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die unzähligen Falschbehauptungen, die mir in denfünfminütigen Redebeiträgen der Opposition zu Gehörkamen, würden schon dazu reizen, sie alle hier einzelnauseinander zu nehmen. Ich will das nicht tun, sondernmich auf zwei beschränken.Herr Kollege Michelbach, das Land Bayern – das wis-sen Sie ganz genau – hat zur Beseitigung der Flutschäden5 Millionen Euro bekommen und behalten, nicht an dieKommunen weitergegeben. Von Leuten wie Ihnen, derenPartei auf Länderebene so handelt, lassen wir uns keineRatschläge erteilen.
Dann haben Sie genauso wie der Kollege Bernhardt ge-klagt, die vermeintlich verfehlte Wirtschafts- und Finanz-politik der rot-grünen Regierung sei der eigentlicheGrund, warum es im Moment Bund, Ländern und Ge-meinden so schlecht gehe.
Ich will Ihnen die Gründe nennen. Es gibt zwei Gründe.Der eine Grund
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– völlig korrekt – sind die weltwirtschaftlichen kon-junkturellen Verwerfungen, unter denen ein exportorien-tiertes Land wie die Bundesrepublik natürlich zu leidenhat.
– Hören Sie doch einmal zu und reden Sie nicht immer da-zwischen!Der Hauptgrund ist der Scherbenhaufen, den Sie uns1998 hinterlassen haben.
Der Scherbenhaufen bestand aus Rekordarbeitslosigkeit,aus Rekordstaatsverschuldung und aus einem jährlichmaroderen Bundeshaushalt. Wir sind dabei, diese Schä-den zu reparieren. Das ist ein hartes Stück Arbeit. Wir sinddabei auf einem guten Wege.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Titel derheutigen Aktuellen Stunde, die die CDU/CSU beantragthat, zeigt, wie unseriös und wie verlogen – vorhin wurdeauch schon einmal „pharisäerhaft“ gesagt –
die Union mit wirklich wichtigen finanzpolitischen The-men umgeht. Wir reden doch nicht von Steuererhöhungen, sondernSie reden davon. Wir sprechen von Subventionsabbau undSie machen Vorschläge zur Mehrwertsteuererhöhung. Inder „FAZ“ lese ich zum Beispiel, dass Herr Böhmer ges-tern gesagt hat, er könne sich eine Mehrwertsteuer-erhöhung durchaus vorstellen. Von uns haben Sie das bis-her nicht gehört.
Sie sprechen sich für Steuererhöhungen aus, wir tun dasnicht.
Meine Damen und Herren, das drängende Problemder schwierigen finanziellen Lage der Städte und Ge-meinden sollte Ihnen eigentlich Anlass zu konstruktiverOpposition sein. Aber das Einzige, was Ihnen einfällt, istdie permanente Wiederholung des Märchens von den an-geblichen Steuererhöhungen dieser Regierung – alswenn die Gemeinden und auch die Länder und der Bunddas Problem hätten, dass es zu viel Steuereinnahmengäbe; das wäre die logische Konsequenz. Sie beklagenauf der einen Seite, die Steuern seien zu hoch, und sagenauf der anderen Seite, es gebe keine Einnahmen. Wasstimmt denn jetzt? Entweder sind die Steuern zu hoch– dann müsste es auch relativ hohe Einnahmen geben –oder das Umgekehrte gilt. Es passt nicht beides zusam-men.
Sie setzen darauf, dass die Leute das nicht durch-schauen. Aber halten Sie die Wähler nicht für so dummwie sich selber.
Der Rückgang des Gewerbesteueraufkommens, geradein den großen Städten, ist natürlich nicht nur eine Folge derweltwirtschaftlichen konjunkturellen Verwerfungen, son-dern auch eine Folge dessen, was Sie mit der Gewerbe-steuer in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit veranstaltethaben. Sie haben nämlich alle konjunkturunabhängigenBestandteile aus der Gewerbesteuer herausgenommen.
Jetzt, da die Konjunktur nicht so gut ist, wird deutlich, wieabhängig die Gewerbesteuer von der Konjunktur ist. Sieist eben nicht – ich weiß nicht, wer von Ihnen das eben ge-sagt hat – antizyklisch, sondern gerade zyklisch, sie be-wegt sich mit den Konjunkturzyklen: Läuft die Konjunk-tur gut, gibt es hohe Gewerbesteuereinnahmen, läuft dieKonjunktur nicht gut, sind sie niedrig. Das ist die FolgeIhrer Politik.
Was ist nun der Beitrag der Opposition? Auf der einenSeite beklagen Sie die desolate Lage der kommunalenHaushalte, auf der anderen Seite lehnen Sie in Bezug aufkonkrete Maßnahmen – über die wir ja zurzeit im Finanz-ausschuss und demnächst auch hier im Hohen Hause re-den – jede Verantwortung ab.Aber diese Doppelzüngigkeit hat Tradition. Wir ken-nen das spätestens seit dem Jahre 2001. Seit Mitte 2001,seitdem klar ist, dass sich die Situation bei den Gewerbe-steuereinnahmen verschlechtert, haben wir Gegenmaß-nahmen ergriffen.
Zum Beispiel im Zusammenhang mit der Unternehmen-steuerfortführung haben wir konkrete Maßnahmen zumStopfen von Steuerschlupflöchern, die große Konzernenutzen – ich nenne das Stichwort Mehrmütterorganschaft,ein Steuersparmodell für Konzerne –, ergriffen, die Sieaber abgelehnt haben.
Sie lehnen ganz konkrete Hilfsmaßnahmen für die Ge-meinden ab.Dasselbe gilt für das Steuervergünstigungsabbau-gesetz. Die Kollegin Andreae hat die Zahlen vorhin vor-getragen. Es geht in diesem Jahr konkret um 600 Milli-onen Euro Soforthilfe für die Gemeinden – Sie sinddagegen. Es geht im nächsten Jahr um Hilfe in Höhe von2 Milliarden Euro – Sie sind dagegen. Es geht um Hilfe inBernd Scheelen
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Bernd ScheelenHöhe von 2,5 Milliarden Euro im übernächsten Jahr und3 Milliarden Euro im Jahr 2006 – Sie sind dagegen, Sielehnen das ab. Das müssen Sie den Menschen draußenund Ihren Kommunalpolitikern vor Ort selber erklären.Das ist doppelzüngig und pharisäerhaft.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir dieProbleme nicht allein mit dem Stopfen von Steuer-schlupflöchern in den Griff bekommen werden, ist völligklar.
Es ist mehrfach auf die Kommission hingewiesen worden,die eingesetzt worden ist, um die Gemeindefinanzen einerÜberprüfung zu unterziehen. Das eine Ziel ist, die Ein-nahmeseite zu verstetigen, das andere Ziel, die Ausga-benseite der Kommunen neu zu gestalten. Ich glaube, dieKommission ist da auf einem guten Wege. Wir werdenden Zeitplan einhalten und die Reform zum 1. Januarnächsten Jahres in Kraft setzen.
Herr Kollege Scheelen, denken Sie an die Redezeit.
Ich kann damit im Grunde schließen.
Vielleicht noch ein Satz zu der hier öfter angesproche-
nen Frage der Zurückführung der Gewerbesteuerumlage.
Da hat, glaube ich, der Kollege Bernhardt vorhin ein paar
falsche Behauptungen aufgestellt.
Sie haben gesagt, es sei davon ausgegangen worden,
durch die Steuerreform würde die Wirtschaft so boomen,
dass die Gemeinden Mehreinnahmen hätten. Das war eine
Hoffnung, aber nicht die Begründung für die Maßnahmen
bei der Gewerbesteuerumlage. Schauen Sie einmal genau
in den Gesetzentwurf und fragen Sie die kommunalen
Spitzenverbände.
Dahinter steckte, dass bei den Steuersenkungen, die wir
vorgenommen haben, in Bereichen, in denen die Gemein-
den nicht tangiert waren, Bund und Länder Ausfälle hat-
ten, zum Beispiel bei der Körperschaftsteuer, sie aber bei
den gegenfinanzierenden Maßnahmen begünstigt waren.
Um da einen Ausgleich herbeizuführen, wurde etwas an der
Stellschraube der Gewerbesteuerumlage gedreht. Das ge-
schah mit Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände.
Deswegen ist klar, dass es im nächsten Jahr eine Re-
form geben wird. Diese wird den Gemeinden helfen, nicht
Ihre kurzfristigen Vorschläge, die nur populistisch sind
und zu Wahlkampfzwecken missbraucht werden, denn in
vier Tagen wird ja in zwei Ländern gewählt. Das ist der
einzige Grund, warum Sie eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema beantragt haben.
Herzlichen Dank.
Ich bitte die nachfolgenden Redner zu beachten, dass
mein Hinweis auf die Redezeit nicht als Ermutigung für
zwei weitere Minuten Redezeit gemeint ist und dass ich
nur ungern durch das Abschalten des Mikrofons die Ein-
haltung der Redezeit sicherstellen möchte.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Peter Flosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diekatastrophale Situation der Kommunen ist hinlänglich be-kannt, allerdings nicht der SPD, wie ich soeben gehörthabe. Es ist ein wahres Vergnügen, zu hören, dass FrauScheel und Frau Andreae immerhin bestätigen, dass esden Kommunen schlecht geht und dass sie am finanziel-len Abgrund stehen.
Ich bin allerdings erstaunt, wie beratungsresistent Siesind, wenn es darum geht, den Kommunen Hilfe zu leis-ten. Da fordert heute in der Zeitschrift „Impulse“ dasSPD-Mitglied Roland Schäfer, Präsident des DeutschenStädte- und Gemeindebundes:
Das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Bund undLand müssen sofort eine Rettungsaktion für dieKommunen starten.Da fordern alle kommunalen Spitzenverbände und all dieje-nigen, die Ahnung von Kommunalfinanzen haben, die Re-duzierung der Gewerbesteuerumlage, weil – das hat HerrBernhardt sehr deutlich gesagt – die Geschäftsgrundlageentfallen ist. Doch Hans Eichel und die rot-grüne Koalitionlehnen nach wie vor die Reduzierung dieser Gewerbe-steuerumlage ab. Das ist und bleibt skandalös.
Herr Scheelen, es gibt nun das neue – ich will es vonvornherein richtig bezeichnen – Steuererhöhungspro-gramm.
Dieses Steuererhöhungsprogramm gibt den Kommunenim Grunde den entscheidenden Stoß für den Schritt in denAbgrund. Sie treffen nämlich mit diesen Maßnahmen dieWirtschaft mitten ins Herz.
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Sie sind bei der Anhörung am 15. Januar dabei gewe-sen. Ich will einmal den exotischen Professor ausklam-mern und nur die Aussagen der anderen anwesendenSachverständigen betrachten. Über 90 Prozent der Exper-ten waren der Meinung, dass dieses Gesetzespaket vonIhnen zurückgezogen werden muss.
In diesem Paket sind beispielsweise die Mindestbesteue-rung,
die Verschlechterung im Wohnungsbau und im Immobili-enbereich sowie die Neidsteuer für Dienstwagenbesitzerenthalten. All dieses beschleunigt den konjunkturellenAbschwung und wird dazu führen, dass die Kommuneneben nicht mehr Geld, sondern wegen des Ausfalls der Er-tragsteuern noch weniger Geld in der Kasse haben.
Sie versprechen allen Kommunen in Deutschland imRahmen dieses Steuererhöhungsprogramms für 2003 ei-nen Anteil an der Umsatzsteuer in Höhe von 30 Milli-onen Euro. Aber das Verbraucherverhalten und der Scha-den für Handel und Landwirtschaft finden in Ihrerstatischen und fiskalischen Betrachtung keinerlei Berück-sichtigung. An dieser Stelle ein Hinweis: Diese 30 Milli-onen Euro reichen gerade aus, um in meinem Wahlkreis,einem ländlichen Bezirk, die laufenden Defizite in denVerwaltungshaushalten auszugleichen.Minister Stolpe fordert jetzt ein, wie er es nennt, Son-derinvestitionsprogramm für besonders belastete Städte.Welche Städte sind denn nicht besonders belastet? Ichempfehle Ihnen: Halten Sie sich an Ihr Regierungspro-gramm! Auf Seite 22 schreiben Sie, dass Sie erstens dieFinanzkräfte der Kommunen insgesamt stärken wollenund dass Sie zweitens wegen der Aufgabenverlagerungauf die Kommunen einen Finanzausgleich schaffen wol-len. Das ist also, wie wir es nennen, die Verwirklichungdes Konnexitätsprinzips.Warum halten Sie sich nicht an Ihr eigenes Programm?Was tun Sie? Sie setzen eine Regierungskommission – derKollege Kolbe hat es gerade schon gesagt – zur Reformdes Gemeindefinanzsystems ein. Nach vier JahrenAnkündigung schaffen Sie es endlich, im Mai 2002 diekonstituierende Sitzung einzuberufen.
Die Kommission hat seitdem einmal getagt.In der Kommission sollen die Kommunalsteuern sowiedie Arbeitslosen- und Sozialhilfe behandelt werden. Aberwarum werden andere wesentliche Bereiche ausgeschlos-sen? Die Aufgabenverlagerung und die Kostenverlage-rung auf die Kommunen werden nicht diskutiert.
Das in Ihrem Regierungsprogramm proklamierte Konne-xitätsprinzip findet keine Anwendung.
Zweitens. Ausgeschlossen von der Diskussion wird derAbbau der Mischfinanzierung. Drittens. Ausgeschlossenwird eine Verschiebung der Finanzen zwischen den EbenenBund, Länder und Kommunen. Das hat für die Kommuneneine sehr große Bedeutung, weil – viertens – die Lösungenfür das voluminöse Anwachsen der Kosten und der sozia-len Aufgaben ausgeschlossen sind. Bei den sozialen Auf-gaben handelt es sich beispielsweise um Eingliederungs-hilfen für Behinderte, Hilfen zum Lebensunterhalt oderHilfe zur Pflege sowie Pflegewohngeld. Dort, wo die Kos-ten bei den Kommunen aufgrund der demographischenEntwicklung besonders dynamisch steigen, finden sie kein-erlei Unterstützung bei der Bundesregierung.
Der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, HerrPoß, ist nicht mehr anwesend. In den letzten Tagen wurdeer in mehreren Zeitungen dahin gehend zitiert, dass struk-turelle Korrekturen und keine Lastenverschiebungen not-wendig seien. Hören Sie doch endlich auf, die Lasten aufdie Kommunen zu verschieben!
Nehmen wir das Beispiel der Grundsicherung im Ren-tensystem. Was haben die Kommunen mit der Rente zutun? In meinem Heimatkreis sind die Belastungen durchdie Grundsicherung höher als alle freiwilligen Ausgabendes Kreises zusammen.
Frau Andreae, wir leben nicht über unsere Verhältnisse.Sie nutzen die Kommunen aus. Damit gehen Sie an dieWurzel der Demokratie und zerstören ein Stück Demo-kratie.
Wenn das Finanzministerium für drei Tage schließt,wirkt sich das auf die Bürger nicht aus. Das merkt keiner.Wenn aber in einer Gemeinde für drei Tage die Verwaltung,die Schulen, die Kindergärten, die Müllabfuhr oder der öf-fentliche Personennahverkehr nicht arbeiten, bricht das öf-fentliche Leben zusammen. Ihre Taten sind weit entferntvon Ihren Ankündigungen und Programmen. Auch dieheute erwähnten guten Vorsätze bringen nichts. Es gibt alleguten Vorsätze; Sie brauchen sie nur noch anzuwenden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Simone Violka, SPD-Frak-tion.Klaus-Peter Flosbach
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich will an die Rede meines Vorredners an-knüpfen, weil ich die Aussage „Wer bestellt hat, soll auchbezahlen!“ nicht stehen lassen kann. Wenn der Bund andie Länder zahlt und dort Finanzminister mit klebrigenFingern sitzen, die das Geld an die Kommunen nicht wei-terleiten,
dann kann der Bund nichts dafür. In Deutschland gibt esleider jede Menge Finanzminister mit klebrigen Fingern.
Ich komme aus einem Land, in dem der Finanzministerbesonders klebrige Finger hat.
Komischerweise ist es so, dass die Opposition ihr Herz fürKommunen und ihre Steuerprobleme immer erst dannentdeckt, wenn Wahlen vor der Tür stehen. Das ist so of-fensichtlich, dass es fast unerträglich ist.Herr Kolbe hat Dresden angeführt. Leider hat er ver-gessen, zu sagen, dass dieser besonders kinderfreundlicheBürgermeister ein FDP-Mann ist. Vielleicht können Sieihm einen schönen Gruß bestellen und ihm einmal Ihr Pro-gramm zur Verfügung stellen. Ich glaube nicht, dass inIhrem Programm das mit den Kindergärten vorgesehen ist;es sei denn, Sie haben Ihr Herz für Familien neu entdeckt.
In Sachsen gibt es zwei andere große Städte, die diegleichen Voraussetzungen haben, nämlich Leipzig undChemnitz. Die Bürgermeister Tiefensee und Seifert, beidevon der SPD, kommen gar nicht auf die Idee, ihre Kom-munalfinanzen durch die Schließung von Kindergärten zuverbessern.
Wenn die Steuerpolitik der Bundesregierung tatsäch-lich so schlecht ist, frage ich mich, warum die CDU/CSUvor den Wahlen durch das Land gezogen ist und gesagthat: Wenn wir an die Macht kommen, dann – das verspre-chen wir euch – wird die dritte Stufe sofort umgesetzt, da-mit ihr nicht auf das Geld verzichten müsst.
Jetzt ist die Steuerreform plötzlich schlecht. Das glaubtdoch kein Mensch mehr!
Was ist mit den anderen Wahlversprechen? Steuernherunter! Steuern herunter! Steuern herunter! Natürlichdürfen damit aber keine Steuerausfälle verbunden sein!
Wie soll das denn finanziert werden?
Mit der gleichen Blauäugigkeit, mit der Sie diesesLand von 1990 bis 1998 in den finanziellen Ruin geführthaben? Immer hieß es: Es wird schon jemand richten! DerHerrgott wird es schon richten! Die Konjunktur wird esschon richten! – Acht Jahre lang hat die Konjunktur esnicht richten können.
Das Desaster haben wir übernehmen müssen.
Neuverschuldung ist für Sie nichts Neues. Herr Kochmacht das in Hessen zurzeit nach, besser gesagt: vor.Allein 2002 explodierte die Nettoneuverschuldung inHessen auf einen Rekordwert von 2 Milliarden Euro. Dasmuss man sich einmal vorstellen. Wer soll denn das be-zahlen? Herr Koch scheint mit keiner sehr langen Le-bensdauer zu rechnen, wenn er sagt: Ich mache einfachSchulden, sollen sich doch die anderen mit den Zinsen be-schäftigen.Außerdem macht er vor, wie man sich als Ministerprä-sident bei den Kommunen ungeniert bedienen kann.100 Millionen Euro werden aus dem kommunalen Inves-titionsfonds locker in den hessischen Landeshaushalt um-geleitet.
– 200 Millionen Euro wurden bestätigt.
Auch sonst ist Herr Koch nicht kleinlich im Hinblickauf Luftbuchungen und fiktive Einnahmen. Aber er ver-kündet natürlich, dass er die Konsolidierung des Haushal-tes fortführen will. Schließlich habe man ja in der laufen-den Legislaturperiode eine erfolgreiche Konsolidierungdurchgeführt.
Konsolidierung bei einer Neuverschuldung in Höhe von2 Milliarden Euro und Buchungen, die selbst der Hessi-sche Städtetag als politisch unzulässig und rechtlich be-denklich bezeichnet? Herr Koch sollte einmal eine bru-talstmögliche Überprüfung seines Haushaltes veranlassen,bevor er den Wählern so etwas vorsetzt.
Vielleicht holt er sich ja Rat bei seinen Kollegen ausSachsen. Von dort bekommt er bestimmt ein paar tolle Hin-
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weise, wie man den Kommunen jede Menge Geld aus derTasche ziehen kann. Die CDU in Sachsen hat die Schlüs-selzuweisungen wieder gesenkt. In einer Stadt in meinemWahlkreis, in Oelsnitz im Erzgebirge mit 13000 Ein-wohnern, macht das in diesem Jahr eine Summe von300000 Euro aus.
– Weil die Schlüsselzuweisungen heruntergefahren wor-den sind. Warum denn sonst?
Das Schlimme ist: Sachsen hat es – meines Wissens alseinziges Bundesland – nicht nötig, sich finanziell an derLandeswohlfahrt zu beteiligen. Ich weiß nicht, warum dasin Sachsen noch Landeswohlfahrt heißt und nicht Wohl-fahrt der Kreise und kreisfreien Städte. Auf die wird dasnämlich umgewälzt. Man sollte einmal überlegen, wer be-stellt und wer bezahlt.Das Problem ist,
dass die Kommunen diejenigen sind, die das ausbadenmüssen, was die Länder auf die Kommunen abwälzen.Die Länder stecken nämlich das Geld, das sie vom Bundbekommen, in die eigene Tasche.
Sachsen brüstet sich doch überall damit, dass es dieniedrigste Verschuldung hat. Aber es gibt dort jede MengeKommunen, die am Boden liegen, weil sie vom Land dieGelder, die ihnen zustehen, nicht bekommen.
Dafür kann der Bund nichts!
Das ist ein Landesproblem!Mir kann man nicht vorwerfen, dass ich mich in denKommunalfinanzen nicht auskenne. Ich bin seit 1994Kommunalpolitikerin!
Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad
Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Scheel, Sie haben von Nebelkerzen gespro-chen. Sie sollten das, was Sie in den Zeitungen verkün-den, einmal damit vergleichen, wie Sie in den Ausschüs-sen und im Bundestag abstimmen. Dazwischen liegenWelten.
Dass Sie nicht gemerkt haben, dass bei den Kommu-nen etwas nicht stimmt, verstehe ich nicht. Die nieder-sächsischen Kommunen haben schon im Jahre 200110 Prozent ihrer laufenden Ausgaben mit Kassenkreditenbestritten. Wenn das kein katastrophaler Zustand ist, dannweiß ich nicht, wie man das ansonsten bezeichnen soll.Falls Sie das wirklich nicht begriffen haben, frage ichmich, auf welche Art und Weise Sie sich mit Kommunal-finanzen beschäftigt haben. Die „FAZ“ hat diesen Zu-stand vor kurzem als „Schröders Erbe“ bezeichnet. Das,was er in Niedersachsen angerichtet hat, hat er nahtlos imBund fortgesetzt.
Die Menschen haben endlich den Unterschied zwi-schen Gerhard Schröder und einer Telefonzelle begriffen:Bei der Telefonzelle müssen sie erst bezahlen und dürfendann wählen. Bei Gerhard Schröder dürfen sie erst wählenund müssen dann bezahlen.
Deshalb, mein lieber bibelfester Herr Kollege, wird zuLichtmess, also in der übernächsten Woche, das passieren,was auch schon früher passiert ist: Altes Personal wird indie Wüste geschickt und neues Personal kommt. Denn dieMenschen haben dies durchschaut.
Drei Ursachen sind maßgeblich für die kommunaleFinanzkrise: die katastrophale Wirtschaftslage, die Ein-griffe von Bund und Ländern in die Kommunalhaushalteund die Ausgabenexplosion. Ihre Wirtschaftspolitik ist esgewesen, die die Abwärtsspirale in Deutschland eingelei-tet hat. Sie haben immer noch nicht begriffen: Wer dieSteuern erhöht, wird am Ende weniger Einnahmen haben.Das trifft die Kommunen viel härter als die anderenEbenen.
Wenn die Kommunen noch die Finanzkraft von 1991 hät-ten, dann könnten sie im Rahmen von Investitionendurchaus ein halbes Prozent mehr zum Bruttosozialpro-dukt beitragen. Diese Möglichkeit haben Sie ihnen weg-genommen. Deswegen können die Kommunen keine Auf-träge mehr vergeben. Das heißt, es gibt weniger Arbeit,mehr Arbeitslose, weniger Steuereinnahmen und mehrSozialhilfeausgaben. Mit Ihren Maßnahmen treiben Siediesen Kreislauf an.Sie sagen, Sie würden nicht an Steuererhöhungen den-ken. Dazu muss ich feststellen: Ihr künftiger Finanzminis-terkandidat – denn alle Ministerpräsidenten, die abge-wählt worden sind, haben auf der Regierungsbank Platzgenommen –
Simone Violka
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Jochen-Konrad Frommekommentiert Ihre Politik als Voodoo-Ökonomie. Er istkein sehr glaubwürdiger Zeuge; denn er spricht von einerErhöhung der Erbschaftsteuer, der Vermögensteuer, derVerkaufsteuer, der Dienstwagensteuer, der Akademiker-steuer, der Erbschaftsteuer, der Spekulationsteuer, derTabaksteuer, der Ökosteuer und der Versicherungsteuer.Meine Damen und Herren, das ist Ihr Fehler: Sie neh-men den Menschen und der Wirtschaft die Kaufkraft undbeschleunigen den Kreislauf nach unten.
Sie bereichern sich schamlos an den Kommunen. EinBeispiel dafür ist die letzte Tarifrunde. Einer Ihrer Haupt-sprecher war ja der niedersächsische Finanzminister, deroffensichtlich um seinen Job fürchtet und deshalb einemunverantwortlichen Abschluss zugestimmt hat. Wie siehtdenn die Bilanz des Tarifabschlusses aus? Der Bund hatMehreinnahmen von 97 Millionen Euro, weil er nämlichdurch den Tarifabschluss mehr Steuern zusätzlich ein-nimmt, als er überhaupt Kosten hat. Die Länder haben467 Millionen Euro minus und die Kommunen 1,8 Milli-arden Euro minus. Diesen Abschluss haben Sie nur ge-macht, weil Sie zu den Wahlen keinen Streik haben woll-ten. Stattdessen haben Sie einen vernünftigen Abschlussverhindert. So gehen Sie vor.
– Dank der Enthaltung von Niedersachsen ist das Ergeb-nis zustande gekommen. Jetzt frage ich mich: Was istdenn in Niedersachsen los? Die haben doch nur Angst ge-habt! Das waren doch Ihre Leute.Sie bereichern sich auf unsägliche Art und Weise beiden Kommunen. Ich nehme nur einmal das Beispiel Kin-dergeld. Ihre Ministerpräsidenten Voscherau – da sitztschon der Nach-Nachfolger –, Eichel, Schröder undLafontaine – wo ist er eigentlich? Ach nein, der kommterst wieder –
haben im Grundgesetz festgeschrieben, dass die Kommu-nen nicht stärker belastet werden dürfen.
– Von dem hat damals noch keiner geredet; der lag nochin den Windeln. –Wenn ich mir die Bilanz ansehe, stelle ich fest, dassLänder und Kommunen 1,6 Milliarden Euro mehr alsnach der grundgesetzlich vorgeschriebenen Regelungzahlen.Das ist Ihre Politik „zugunsten“ der Kommunen. Des-wegen haben sie keine Finanzkraft mehr. Deswegen kön-nen sie keine Ausgaben mehr vornehmen. Stimmen Siedeswegen endlich einem richtigen Kurs zu! Betreiben Siedie richtige Wirtschaftspolitik! Betreiben Sie Aufgaben-abbau auf der Ausgabenseite, damit die Haushalte endlichwieder saniert werden! Stimmen Sie als Sofortmaßnahmeder Gewerbesteuerumlagensenkung zu! Denn das gehtschnell. Das kann jeder Kämmerer ausrechnen. Da kanner Hoffnung schöpfen. Daraus kann er Aufträge für dieWirtschaft machen. Dann kann es weitergehen.Aber reden Sie nicht von der „Wundertüte“ Gemeinde-finanzreform!
– Wir wollen eine, aber die richtige. – Sie haben gesagt:Da gibt es keine Minderausgaben; da gibt es keine Mehr-einnahmen. Wenn es keine Mehreinnahmen gibt und mansich mit der Ausgabenseite nicht beschäftigt, kann bei derGemeindefinanzreform keine Sanierung der Kommunal-finanzen herauskommen. Das ist doch Ihr Problem.
Sie leben in einer völlig anderen Wirklichkeit. Sie ma-len sich wie Frau Scheel ein Bild und sagen: Bis 2001 waralles in Ordnung;
erst vor ein paar Tagen haben wir durch den Städtetag da-von erfahren. – So haben Sie es eben gesagt. Sie haben diejahrelangen Meldungen gar nicht zur Kenntnis genom-men.Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal.Eines ist doch völlig klar: Die Menschen haben erkannt,dass sie mit Ihnen auf der Abwärtsspirale und nicht auf derAufwärtsspirale weiterkommen. Deswegen wird es am2. Februar die Einleitung einer Wende geben. Sie werdendann einen neuen Finanzminister haben. Wir freuen unsschon auf seine Voodoo-Ökonomie.
Nun hat die Parlamentarische Staatssekretärin Frau
Dr. Barbara Hendricks das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal: Ich werde natürlich auch in der nächs-ten Woche und in der Zukunft sehr gerne und effizient mitFinanzminister Eichel zusammenarbeiten.
Herr Kollege Kolbe, Sie haben vorhin eine Ge-schichte erzählt: Angeblich sollten Schülerinnen undSchüler selber Toilettenpapier in die Schule mitbringen.Sie haben dann gesagt: Das stimmte zwar nicht, wurdeaber zunächst geglaubt. – Genau so verfahren Sie hier:Das stimmt zwar nicht, soll aber zunächst geglaubt wer-den.
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Diese – im doppelten Sinne – Latrinenparolen, die Siedurch dieses Beispiel verstärkt haben, muss man einmaldeutlich zurückstoßen.In den ganzen 90er-Jahren hat das Gewerbesteuerauf-kommen aller Kommunen in der BundesrepublikDeutschland zusammen in der Größenordnung von 40 bis45 Milliarden DM gelegen. Im Jahr 1998 betrug das Ge-werbesteueraufkommen 46 Milliarden DM. Im Jahr 1999waren es 50Milliarden DM. Im Jahr 2000 wurden 53Mil-liarden DM und damit ein Nachkriegsrekord erreicht.
Wir hatten, wie Sie wissen, schon 1999 und 2000 un-sere ersten Steuersenkungsschritte eingeleitet, bei der Ein-kommensteuer, im Eingangsteuersatz, im Spitzensteuer-satz und bei der Anhebung des Grundfreibetrages. Dieentscheidende Steuerreformstufe kam im Jahr 2001.
Trotz all Ihrer Debatten – man muss die Steuern senken,damit die Wirtschaft läuft –, war es leider so, dass imJahr 2001 die Gewerbesteuer bei einer Größenordnungvon 46 Milliarden verharrte. Damit war übrigens wiederdie Größenordnung von 1998 und eigentlich der ganzen90er-Jahre erreicht.
In der Tat war das im Verhältnis zur einsamen Spitze desJahres zuvor von 53 Milliarden DM ein deutlicher Ein-bruch. Aber es war die Größenordnung, die in den ganzen90er-Jahren die Gewerbesteuer in der BundesrepublikDeutschland ausgemacht hat. Wir haben die abschließen-den Zahlen für das Jahr 2002 noch nicht; wir haben hierbisher nur geschätzte Zahlen. Ich vermute, dass wir etwain der Größenordnung des vergangenen Jahres liegen wer-den. Ich kann das natürlich nicht genau sagen. Wahr-scheinlich liegt das Gewerbesteueraufkommen wieder inder Größenordnung der ganzen 90er-Jahre.Jetzt kommen wir noch einmal zur ständig erhobenenForderung nach einer Absenkung der Gewerbesteuer-umlage.
Kollege Scheelen hat schon darauf hingewiesen: Alswir das Steuersenkungsgesetz beschlossen haben, betrugdas Aufkommen der Gemeinden am Steueraufkommen12,3 Prozent. Inklusive der Erhöhung der Gewerbesteuer-umlage wurden die Kommunen mit einem Anteil von8,9 Prozent an den Steuereinnahmeausfällen beteiligt. Siesind also unterproportional beteiligt worden.
Das haben die kommunalen Spitzenverbände anerkannt.Im Gesetz steht, dass wir im Jahr 2004 den angemessenenAusgleich über die Gewerbesteuerumlage überprüfenwerden.
Im Jahr 2006 werden wir sie wieder absenken. Dies ge-schah mit Zustimmung der kommunalen Spitzenver-bände. Selbstverständlich hat sich das Steueraufkommenin den letzten Jahren insgesamt nicht positiv entwickelt,
weder für die Kommunen noch für den Bund und die Län-der. Trotzdem stimmt die anteilige Finanzierung derKommunen natürlich immer noch genauso wie vorher.
Deswegen ist die isolierte Forderung nach einer Absen-kung der Gewerbesteuerumlage einfach nicht zu verste-hen.Ich darf im Übrigen noch auf Folgendes aufmerksammachen: Zwei Drittel der Gewerbesteuerumlage gehenzugunsten der Länder und ein Drittel zugunsten des Bun-des.
Als die bayerische Landtagsfraktion der SPD nach demersten Vorpreschen der Bayerischen Staatsregierung, wo-für sie im Bundesrat zunächst keine Mehrheit gefun-den hatte, den Antrag gestellt hat, wenigstens in Bayernzwei Drittel zugunsten der Kommunen zu geben, habensie es natürlich abgelehnt.
Daran erkennt man ja auch, dass dies alles nur Schaufens-teranträge sind, die den Zweck haben: Das stimmte zwarnicht, sollte aber zunächst geglaubt werden. Das sage ichnoch einmal in Ihre Richtung.
Jetzt kommen wir noch einmal zu anderen Punkten.Herr Flosbach hat hier angekündigt: Wenn wir das Steu-ervergünstigungsabbaugesetz jetzt verabschieden wür-den, dann wäre dies der endgültige Todesstoß für die deut-sche Wirtschaft und damit einhergehend der endgültigeTodesstoß für die deutschen Kommunen.
Als Beispiel hat Herr Kollege Flosbach die so genannteMindestgewinnbesteuerung angesprochen. Ich weiß auch,dass das von Sachverständigen und Interessenvertreternin der Anhörung durchaus kritisch betrachtet worden ist.
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara HendricksIch darf Sie aber darauf hinweisen, dass im Haushaltsplandes Landes Hessen für das Jahr 2003 unter Bezugnahmeauf Körperschaftsteuer und Mindestgewinnbesteuerung140 Millionen Euro an Mehreinnahmen eingestellt wor-den sind, weil der famose Kollege Koch sonst überhauptkeinen verfassungsmäßigen Haushalt mehr aufstellenkönnte.
Mit derselben Begründung – zusätzliche Einnahmenaus der Mindestgewinnbesteuerung – hat der KollegeMüller im Saarland plus 10 Millionen Euro in seinen zu-gegebenermaßen kleineren Haushalt eingestellt. HörenSie also auf, hier herumzureden! Nur mit diesen Maßnah-men können Ihre Kollegen aus den Ländern ihren Haus-halt wenigstens noch verfassungsgemäß aufstellen, imVollzug werden sie es bei dem Ausgabeverhalten, das siean den Tag legen, nicht schaffen.
Ich möchte noch einen Hinweis zur so genannten Las-tenverschiebung machen. Ich weiß, man soll nach vornschauen, aber wenn gerade Sie sagen, wir würden eineVerschiebung zulasten der Kommunen vornehmen, danndarf man doch einmal daran erinnern, dass im Zuge derNovellierung des § 218 StGB die alte Bundesregierungmit den alten Mehrheiten in diesem Parlament den Kom-munen aufgegeben hat, Kindergartenplätze für alle Drei-bis Sechsjährigen zu schaffen. Das ist eine zweifellossinnvolle Maßnahme, aber beschlossen ohne irgendeinenAusgleich!
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine kurze Unter-
brechung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es wäre schon gut,
wenn hauptsächlich der gemeldete Redner oder die ge-
meldete Rednerin das Wort hätte. Das gilt für alle Seiten.
Es erleichtert vor allen Dingen die Vermittlung dessen,
was hier gemeint ist, nach draußen.
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Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Sie wissen genau,
dass wir 410 Millionen Euro – die Kollegin Kerstin
Andreae hat darauf hingewiesen – zur Finanzierung der
Grundsicherung an die Kommunen über die Länder über-
weisen. Zudem haben wir ins Gesetz geschrieben, dass
wir im Jahr 2005, also nach zwei Jahren, eine Spitzab-
rechnung vornehmen werden. Das ist das Konnexitäts-
prinzip in Reinkultur.
Die meisten Kommunen wären froh, wenn ihre Länder so
mit ihnen umgehen würden.
Dann stellt sich die Frage: Was ist mit den Personal-
kosten? Ich will ein Beispiel nennen. Mein Heimatkreis
Kleve hat 300000 Einwohner. Der Landrat geht davon aus,
dass es 300 Fälle von Grundsicherung im Kreis Kleve gibt.
Dafür können Sie nicht einmal eine zusätzliche Person be-
schäftigen; denn das würde ja bedeuten, dass sie bei rund
200 Arbeitstagen etwa anderthalb Anträge pro Tag behan-
deln müsste. Sie nehmen doch wohl nicht ernsthaft an, dass
man dafür tatsächlich zusätzliches Personal einstellen muss.
Ein kurzer Hinweis: Manchmal sind die Forderungen
der Kommunen, was die Personalkosten anbelangt, etwas
seltsam. Ich erinnere an einen Oberbürgermeister in die-
sem Fall mit SPD-Parteibuch, der erklärt hat – inhaltlich
mag man davon halten, was man will, das will ich hier
nicht debattieren –, wegen der Einführung der gleichge-
schlechtlichen Lebenspartnerschaften müsse er fünf zu-
sätzliche Standesbeamte einstellen. Wahrscheinlich gibt es
in der ganzen Bundesrepublik noch nicht einmal 1 000 ein-
getragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften,
aber in einer bestimmten Großstadt brauchte man fünf zu-
sätzliche Standesbeamte! Manchmal ist das Klagen ein
bisschen arg weit hergeholt.
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Frau
Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Städte, Gemeinden und Landkreise schlagen Alarm.Die schwerste kommunale Finanzkrise in der Geschichteder Bundesrepublik schwebt wie ein Damoklesschwertüber den allermeisten der 14 000 Rathäuser und 323 Land-ratsämter in Deutschland. Mitte des Jahres 2002 hattendie Kommunen Kassenkredite in Höhe von insgesamt11,7 Milliarden Euro in Anspruch genommen, zehnmalmehr als noch 1992. Das Finanzierungsdefizit der Städte,Gemeinden und Landkreise wird in diesem Jahr voraus-sichtlich die Rekordhöhe von 9,9 Milliarden Euro errei-chen, das sind gut 3 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr.Man muss klar sagen: Die rot-grüne Bundesregierungträgt mit ihrer Steuer- und Haushaltspolitik die Hauptver-antwortung für die größte kommunale Finanzkrise seitdem Zweiten Weltkrieg. Mit ihrem Steuersenkungs- undUnternehmensteuergesetz aus dem Jahr 2000 hat die Steu-erreform Löcher in bis dato nicht bekanntem Umfang in
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die kommunalen Haushalte gerissen und damit den Be-stand kommunaler Selbstverwaltung überhaupt gefährdet.
Rot-Grün war schon vor viereinhalb Jahren mit demVersprechen angetreten, das Gemeindefinanzsystem aufden Prüfstand zu stellen und die Finanzkraft der Kommu-nen zu stärken.Aber auch CDU/CSU und FDPkönnen nicht so tun, alshätten sie mit der Misere nichts zu tun. Sie haben fort-während die Gewerbesteuer ausgehöhlt und damit einwahrlich unrühmliches Erbe mit negativen Auswirkungenauf die Kommunalfinanzen hinterlassen. Auch wenndiese Situation jetzt noch verschärft wurde, ist es wahrlichnicht gerechtfertigt, dass Sie, meine Damen und Herrenvon CDU/CSU und FDP, sich hier jetzt als Heilsbringerfür die Kommunen aufspielen.
Denn das Erbe, das Sie den Kommunen hinterlassen ha-ben, war kein gutes.Zurück zur Verantwortung der Bundesregierung: Nurauf Druck der kommunalen Spitzenverbände war von derBundesregierung wenige Wochen vor der letzten Bundes-tagswahl überhaupt eine Kommission für die Reform derKommunalfinanzen eingesetzt worden. Leider, so mussman sagen, lautet das unrühmliche Fazit bis jetzt: AußerSpesen nichts gewesen! Die beiden nach der Bundestags-wahl angesetzten Kommissionssitzungen fielen durchVerschulden der Bundesregierung buchstäblich ins Wasser.Die Kommunen brauchen jetzt als Soforthilfe dreierlei;ich will Ihnen die diesbezüglichen Vorschläge der PDSunterbreiten.Erstens. Die im Rahmen der Steuerreform beschlos-sene Erhöhung der Gewerbesteuerumlage muss rückgän-gig gemacht werden. Damit hätten die Städte und Ge-meinden sofort 2,3 Milliarden Euro an Gewerbesteuermehr in der Tasche.
Zweitens. Die gewerbesteuerliche Organschaft, dieeine für viele Kommunen verheerende Gewinn- und Ver-lustrechung im Rahmen eines Konzerns ermöglicht, mussabgeschafft werden.Schließlich drittens. Beginnend mit dem Bundes-haushalt 2003 muss in Einzelplan 60, Allgemeine Finanz-verwaltung, eine kommunale Investitionspauschale desBundes für ostdeutsche Städte und Gemeinden sowieKommunen in strukturschwachen Regionen des altenBundesgebietes mit einem Volumen von ungefähr 3 Mil-liarden Euro verankert werden. Dies gab es übrigensschon einmal, in den Jahren 1991 und 1993.
Bundesminister Stolpe hat diese Idee aufgegriffen. Jetztmuss er mit unser aller Unterstützung für eine solide Fi-nanzierung sorgen. Dafür hat er auch unsere Unterstüt-zung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit auch
am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 30. Januar 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.