Gesamtes Protokol
GutenMorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung isteröffnet.Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit-ten, sich von den Plätzen zu erheben.
Am 2. März 2002 ist der ehemalige Bundestagsabge-ordnete und spätere Wehrbeauftragte des Deutschen Bun-destages, Fritz-Rudolf Schultz, im Alter von 85 Jahrenverstorben.Fritz-Rudolf Schultz wurde 1917 in München geboren.Nach Kriegsteilnahme und Kriegsgefangenschaft leiteteFritz-Rudolf Schultz zunächst das elterliche Weingut inGau-Bischofsheim bei Mainz, bis er sich 1947 als Mit-glied des Gemeinderates erstmals politisch engagierte.1952 wurde er Mitglied des Kreistages, 1953 Landtags-abgeordneter der FDP in Rheinland-Pfalz. Von 1957 anwar er Mitglied des Deutschen Bundestages.Sehr engagiert vertrat Fritz-Rudolf Schultz die Interes-sen der Soldaten in seiner Amtszeit als Wehrbeauftragterdes Deutschen Bundestages von 1970 bis 1975. Dabei warer ein kompetenter und zugleich sehr fürsorglicher Sach-walter der Belange der Soldaten gegenüber ihremDienstherrn, aber auch ein vehementer Vertreter seinesAmtes gegenüber dem Parlament. Seine Forderung nachumfassenderer politischer Bildung des „Bürgers in Uni-form“ wurde, wie man heute rückblickend feststellenkann, wirksam umgesetzt.Nach seiner Amtszeit als Wehrbeauftragter zog sichFritz-Rudolf Schultz aus dem politischen Leben zurücknach Gau-Bischofsheim, wo er am 2. März verstarb.Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von IhrenPlätzen erhoben; ich danke Ihnen.Nun möchte ich der Kollegin Anni Brandt-Elsweiernachträglich zu ihrem 70. Geburtstag, der KolleginAntje-Marie Steen zu ihrem 65. Geburtstag sowie denbeiden Kollegen Joachim Tappe und Peter Friedrich
jeweils zu ihrem 60. Geburtstag sehr herzlich
gratulieren und die besten Wünsche des Hauses aus-sprechen.
Sodann müssen wir einige Wahlen zu Gremien vor-nehmen.Die Amtszeit des jetzigen Verwaltungsrates der Deut-schen Ausgleichsbank endet am 10. Juni dieses Jahres.Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 des Ausgleichsbankgesetzeswerden fünf Mitglieder vom Deutschen Bundestag inden Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank ent-sandt.Die Fraktion der SPD, die das Vorschlagsrecht für dreiMitglieder hat, verzichtet zugunsten der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen auf die Benennung einesMitglieds. Für den Verwaltungsrat der DeutschenAusgleichsbank werden demnach benannt: von der Frak-tion der SPD die Abgeordneten Dr. Rainer Wendund Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, von der Fraktion derCDU/CSU die Abgeordneten Dietrich Austermannund Bartholomäus Kalb sowie von der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen die Abgeordnete ChristineScheel. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Damit sind die genannten Kolleginnen undKollegen als Mitglieder in den Verwaltungsrat der Deut-schen Ausgleichsbank entsandt.Aus dem Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a desGrundgesetzes tritt der Kollege Dr. Ditmar Staffelt alsstellvertretendes Mitglied aus. Als Nachfolger schlägt dieFraktion der SPD den Kollegen Dr. Rainer Wend vor. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist der Kollege Dr. RainerWend als stellvertreten-des Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt.Aus dem Gremium gemäß Art. 41 Abs. 5 des Außen-wirtschaftsgesetzes scheidet der Kollege Dr. DitmarStaffelt ebenfalls aus. Auch hierfür schlägt die Fraktionder SPD den Kollegen Dr. Rainer Wend vor. Sind Sieauch hiermit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist der Kollege Dr. Rainer Wend als Mitgliedim genannten Gremium bestimmt.22177
224. SitzungBerlin, Donnerstag, den 14. März 2002Beginn: 9.00 UhrInterfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Milliardendefizit in der gesetzlichen Krankenversicherung
2. a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung vonÜbergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz – Druck-sache 14/8010 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Über-gangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz – Drucksa-che 14/7280 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeitund Sozialordnung – Drucksache 14/8531 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolbb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Arbeit und Sozialordnung
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Fördern und Fordern – Sozial-hilfe modern gestalten– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, DirkNiebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Für eine Reintegration von Sozial-hilfeempfängern in den Arbeitsmarkt – Anreize für dieRückkehr in das Erwerbsleben erhöhen– zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Maier, Dr. BarbaraHöll, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der PDS: Die Sozialhilfe armutsfest gestalten – Druck-sachen 14/7293, 14/5982, 14/7298, 14/8531 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, DirkFischer , Eduard Oswald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU: Verbesserung der Schiff-fahrtsverhältnisse im Donauabschnitt zwischen Straubingund Vilshofen – Drucksache 14/8484 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-MichaelGoldmann, Horst Friedrich , Dr. KarlheinzGuttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen –Drucksache 14/8497 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister,Dirk Fischer , Eduard Oswald, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU: Notwendigkeit des Saale-ausbaus – Drucksache 14/8485 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe,Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenSabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann,Dr. Klaus Kinkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Den Friedensprozess im Sudan in Gang setzen undnachhaltig fördern – Drucksache 14/8481 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe,Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSU: Lage derMenschen- undMinderheitenrechte in Vietnam – Drucksache 14/8483 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung6. Beratung des Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann,Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Für eine China-Resolution der Europäischen Union auf der58. VN-Menschenrechtskommission – Drucksache 14/8486 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, PetraBläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der PDS: Konkrete Maßnahmen zur Stärkung wirt-schaflicher, sozialer und kultureller Rechte ergreifen –Drucksache 14/8502 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und Medien8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
burg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Eduard Oswald, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Weißbuchüber Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistun-gen – Drucksachen 14/4378, 14/8378 –Berichterstattung:Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich9. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
Weißbuch; Die europäische Verkehrspolitik bis 2010:Weichenstellungen für die Zukunft KOM 370 endg.;Ratsdok. 11932/01 – Drucksachen 14/7409 Nr. 2.38, 14/8480 –Berichterstattung:Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts desAusschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Verordnung der Bundesregierung: Ver-
ordnung über den Versatz von Abfällen unter Tage zur Än-derung von Vorschriften zum Abfallverzeichnis – Drucksa-chen 14/8197, 14/8321, Nr. 2.1, 14/8523 –Berichterstattung:Abgeordnete Rainer Brinkmann
Werner WittlichMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-Schröter
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11. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Verordnung der Bundesregierung: Ver-
ordnung über die Entsorgung von Altholz – Drucksachen14/8198, 14/8321 Nr. 2.2, 14/8522 –Berichterstattung:Abgeordnete Rainer Brinkmann
Franz ObermeierMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-Schröter12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich,Dr. Norbert Blüm, Siegfried Helias, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU: Mit der Internationalen Konfe-renz überEntwicklungsfinanzierung den Abwärtstrend derFinanzmittel für nachhaltige Entwicklung umkehren –Drucksache 14/8482 –13. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu demAntrag der Abgeordneten Klaus Wiesehügel, Dieter Maaß
,Dr.AxelBerg,weitererAbgeordneter der Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zukunft derdeutschen Bauwirtschaft – Drucksachen 14/7297, 14/8506 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Wiesehügel14. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu demAntrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hans-MichaelGoldmann, Horst Friedrich , weiterer AbgeordneterundderFraktionderFDP:MehrChancen fürdieBauwirtschaftdurch weniger Regulierung – Drucksachen 14/7458, 14/8507–Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Hansjürgen Doss15. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Uwe Hiksch,Christine Ostrowski, Rolf Kutzmutz und der Fraktion der PDS:Zukunft derBauwirtschaft –Drucksachen 14/7135, 14/8498 –Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Weiterhin wurde vereinbart, den Tagesordnungs-punkt 17 – Onlinewahlen – bereits heute nach Tages-ordnungspunkt 7 aufzurufen.Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 3 b, 10,21 a und 21 d abgesetzt werden.Des Weiteren mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 221. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zur Mitbe-ratung überwiesen werden.Gesetzentwurf der Abgeordneten Willi Brase,Klaus Barthel , Hans-Werner Bertl,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Christian Simmert, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske, weiteren Abgeord-neten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN zur Änderung des Berufsbildungs-gesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes– Drucksache 14/8359 –überwiesen:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendSind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 a auf:Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-rungAuf dem Weg in eine verbraucherorientierteMarktwirtschaftEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDPvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärung an-derthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährungund Landwirtschaft, Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbrau-
ehrte Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Ver-braucherschutz betrifft alle. Immer mehr Menschen wol-len wissen, wie Produkte hergestellt werden, welcheInhaltsstoffe diese haben, kurz: Sie wollen wissen, wasdrin ist. Verbraucherschutz ist mittlerweile ein interna-tionales Thema. Denken Sie nur an die internationalenWarenströme: Man konsumiert Lebensmittel hier; dieProduktionsstätte liegt aber möglicherweise am anderenEnde des Globus. Deshalb ist Verbraucherschutz immerauch globale Politik.Wir gestalten eine moderne Verbraucherpolitik. Sie istübrigens für die Verbraucher, für die Umwelt, für dieArbeitsplätze und für eine dynamische Wirtschaftsent-wicklung entscheidend.
Eine moderne Verbraucherpolitik will dabei gerade denvorsorgenden Verbraucherschutz weiterentwickeln.Die Bürgerinnen und Bürger müssen auf zwei Dinge ver-trauen können:Erstens. Die angebotenen Produkte sind gesundheitlichunbedenklich und sicher. Wir alle wissen, dass das in denvergangenen Jahren nicht immer der Fall war.Zweitens. Die rechtlichen Voraussetzungen zur Wah-rung ihrer wirtschaftlichen Interessen sind ordentlich ge-sichert. Meines Erachtens hat dabei der Schutz der Ver-braucher bei Gesundheitsgefährdungen – wir haben dasumgesetzt – immer absoluten Vorrang vor wirtschaftli-chen Interessen.
Das heißt, beim vorsorgenden Verbraucherschutz gehtes um den gesundheitlichen Verbraucherschutz, um denwirtschaftlichen Verbraucherschutz und darum, dass
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Verbraucher vor Vertragsabschlüssen die notwendigen In-formationen bekommen und vor Täuschung geschütztwerden. Für die Bundesregierung gehört dazu auch, dieSelbstbestimmung der Verbraucher zu stärken.In einer freiheitlichen Gesellschaft hat jeder Bürger,jede Bürgerin das Recht, das Leben nach eigenen Wün-schen und Werten zu gestalten. Die Verbraucherpolitikdieser Bundesregierung soll für die selbstbestimmtenEntscheidungen der Verbraucher als Marktteilnehmerdie rechtlichen und informationellen Voraussetzungenschaffen.Unser gesellschaftliches Ziel ist, eine ökologisch ori-entierte, soziale Marktwirtschaft verbrauchergerecht um-zusetzen. Darin liegen keine Gefahren, wie manche be-haupten, sondern Chancen, und zwar für diejenigen, diesich darum bemühen, am Markt erfolgreich zu sein, in-dem sie Sicherheit und Anforderungen der Verbrauchermit der Qualität ihrer Produkte verbinden.
Die Bundesregierung hat im letzten Jahr zur Erreichungdieses Ziels viel getan. Ich beginne mit dem gesundheit-lichen Verbraucherschutz. Hier muss der Staat Garantfür Sicherheit und Wahlfreiheit sein, also für die Möglich-keit der Verbraucher, sich zwischen verschiedenen Pro-dukten entscheiden zu können.Wir haben als Erstes mit der Reorganisation des Ver-braucherschutzes begonnen. Wir alle wissen: Die Vorgän-gerregierung hat so manche Behörde zerschlagen. DerSchutz wurde dezentralisiert mit dem Ergebnis, dass eingroßes Durcheinander entstanden ist.
– Na ja, Herr Merz. Sie wissen, wer Herr Seehofer ist undwas er im gesundheitlichen Verbraucherschutz angerich-tet hat, nicht wahr?
Denken Sie doch einmal an die Landwirte. Die hätten somanches Problem und so manchen Einkommenseinbruchnicht gehabt.
Wir haben mit der Reorganisation des gesundheit-lichen Verbraucherschutzes begonnen und setzen diesesneue Bewusstsein um – Vorbeugung, Kooperation undTransparenz. Es wurden zwei Einrichtungen geschaffen,in denen alle Aufgaben gebündelt und konzentriert wer-den: die unabhängige Risikobewertung und Risikoein-schätzung und davon unabhängig das Risikomanagementzum Nutzen der Verbraucher.Meines Erachtens kann es bei der Gesundheit der Men-schen keine Abwägung und keine Kompromisse geben.Hier gilt: Der gesundheitliche vorbeugende Verbraucher-schutz hat höchste Priorität. So verstehen wir den Auftragdes Von-Wedel-Gutachtens.
Wir haben per Organisationserlass seit dem 1. Januar die-ses Jahres bereits ein Bundesinstitut für Risikobewer-tung eingerichtet, das seine Arbeit ohne politische undohne wirtschaftliche Einflussnahme vornimmt. Das sindwir den Menschen schuldig. Dieses Institut wird eine neueKultur schaffen, nämlich eine öffentliche wissenschaftli-che Debatte, an der alle guten Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler teilnehmen können. Das ist keine Ge-heimphilosophie, sondern die Menschen haben das Recht,die wissenschaftlichen Überlegungen zur Gesundheit vonProdukten und Lebensmitteln nachvollziehen zu können.
Wir haben aber noch mehr Instrumente, nicht nur diesebeiden neuen Behörden: Wir nutzen auch das Instrumentder Verbraucherorientierung über Siegel, ein Instrument,das der Markt in der Vergangenheit selber gesucht hat,teilweise in einzelnen Segmenten. Wir haben dazu beige-tragen, dass sich die einzelnen Produktionsstufen zusam-mentun und gemeinsam etwas entwickeln. Wir machendas bei Lebensmitteln; wir haben es beim umweltfreund-lichen Bauen und auch bei Handys begonnen.Das Biosiegel,meine Damen und Herren, ist bereits einvoller Erfolg.
Es ist Vorreiter im Lebensmittelbereich. Wir werdenschon bald ein entsprechendes Zeichen im konventionel-len Bereich haben, weil die Wirtschaft verstanden hat,sich zusammenzutun und Verbraucherinformationen zugeben, und damit erfolgreich ist.
– Ich weiß gar nicht, weshalb Sie aus der FDP dazwi-schenrufen. Sie wollen doch immer, dass die Wirtschaftselbst etwas tut. Nun sind Sie wahrscheinlich neidisch,dass Sie in jahrzehntelanger Regierungsbeteiligung nichtselber darauf gekommen sind. Oder?
Mit den neuen Einrichtungen haben wir meines Erach-tens einen großen Schritt getan. Das geht nicht immerohne Konflikte. Vielleicht, Herr Carstensen, haben Sie esdeshalb nie angepackt. Wir haben es angepackt; wir ste-hen die Konflikte durch und wir machen weiter.Ich weiß eines: Die Verbraucher erleben immer wie-der Skandale. Es gibt Probleme im Lebensmittelbereichund bei Gegenständen des Alltags. Die öffentliche Aus-einandersetzung über dieses Thema und seine Bearbei-tung spricht nicht unbedingt für mehr Skandale, sondernerst einmal für mehr Verbraucheraufklärung, für mehrKontrolle und für ein geschärftes Verbraucherbewusst-sein.Ich will Ihnen das am Beispiel Chloramphenicol beiden Shrimps zeigen. Was hat sich da verändert? Die ein-
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deutige öffentliche Meinung und konsequentes staatlichesHandeln haben dazu geführt, dass wir nicht nur – –
– Da kommt jetzt der Zuruf: „Nachdem Sie wachgeküsstworden sind!“ Wissen Sie was? Sie sitzen hier wie Dorn-röschen. Sie hat noch nie jemand wachgeküsst.
Sie hatten jahrelang Zeit, 16 Jahre Regierungsbeteiligungder CDU/CSU, und Sie wollen mir weismachen, dass Siewie Dornröschen im tiefen Schlaf nie Informationen da-rüber bekommen haben, was in der Lebensmittelproduk-tion in China passiert. Verkaufen Sie sich doch nicht un-ter Wert! Sie haben es nicht angepackt. Das ist dieWahrheit!
Ich weiß, dass in der Organisation nicht alles richtiggelaufen ist. Das dürfen Sie gern noch einmal sagen. FrauWidman-Mauz sagt es auch gern, weil sie sonst nichts zusagen hat. Die öffentliche Meinung haben eindeutig wirbestimmt. Wir haben in Brüssel dafür gesorgt, dass sämt-liche tierische Produkte aus China untersucht werden. Wirhaben das Problem festgestellt und für einen Importstoppgesorgt. Es hat sich gezeigt, dass das funktioniert: DieVolksrepublik China hat nun zugesagt, weil sie am Welt-handel teilnehmen möchte, gänzlich auf Chlorampheni-col, ein Breitbandantibiotikum, zu verzichten. Das hättenwir schon zehn Jahre vorher haben können. Sie, meineDamen und Herren, haben es aber nicht angepackt.
Das zeigt doch ganz klar, dass Lebensmittelsicherheit nurglobal zu erreichen ist; auch diese Frage spielte ja globaleine Rolle, weil China nach Europa und in viele andereLänder exportierte. Wenn man das Thema aber systema-tisch und beharrlich angeht, findet man Wege, Verbrau-cherschutz durchzusetzen.
Wir wissen: Mittlerweile sind sich die Verbraucher ih-rer Möglichkeiten bewusst; gerade im Bereich des wirt-schaftlichen Verbraucherschutzes setzen sie in ersterLinie auf sich selbst und die Vertretung ihrer eigenenInteressen. Ich will das einmal an einem konkreten Bei-spiel verdeutlichen: Bei einer Befragung sahen sich mehrals zwei Drittel der Befragten durch ihre Interessen-vertretungen wie Verbraucherinitiativen und -verbändevertreten. 57 Prozent, also die Mehrheit, bevorzugt immernoch Hilfe zur Selbsthilfe und eigene Urteilsbildung. Ge-rade im wirtschaftlichen Verbraucherschutz wollen wirdeshalb die Interessensvertretungen stärken, aber auch dieVerbraucher bei den Einschätzungen und Bewertungen,die sie selber vornehmen, unterstützen.Damit alle Verbraucherorganisationen, die wir mitBundesmitteln fördern, noch leistungsstärker werdenund ihren zukünftigen Aufgaben gewachsen sind, habenwir neue Strukturen geschaffen. Durch die Gründung ei-ner Dachorganisation, der Verbraucherzentrale Bun-desverband e. V., konnte eine Vernetzung aller 35 Orga-nisationen des Verbraucherschutzes erreicht werden.Der Bundeshaushalt 2002 setzt ein klares Signal zurStärkung der Organisation und der Information. Alleinfür die institutionelle Förderung des Bundesverbandeshaben wir 8,75 Millionen Euro eingeplant, für die Stif-tung Warentest 5,8 Millionen Euro. Das ist noch nicht al-les. Der Zusammenschluss hat sich so schnell etabliert,dass der Bundesverband mittlerweile Partner in vielenFragen, zum Beispiel bei entwicklungspolitischen Pro-jekten des BMZ, ist. Verbraucherschutz ist ein globalesThema und betrifft auch die Entwicklungsländer. DieKooperation von staatlichen und zivilgesellschaftlichenAkteuren ist der richtige Weg, Verbraucherschutz welt-weit umzusetzen.
Wir haben im Kabinett gestern ein Verbraucherinfor-mationsgesetz beschlossen. Damit hat sich die Tür weitgeöffnet. Mit diesem Gesetz wird erreicht, dass Verbrau-cher endlich in bestimmten Bereichen – –
– Machen Sie doch erst mal in den Ländern, in denen diePDS an der Regierung beteiligt ist, einen Hauch davonvor.
Dass der erste Entwurf noch besser war, stimmt. Ich freuemich, dass die Länder, in denen die PDS mitregiert, imBundesrat dafür Sorge tragen werden, dass möglichstschnell möglichst viel davon durchkommt.
– Das ist ja gut, wenn Sie es tun.Dieses Gesetz wird den Verbrauchern selbstbestimm-tes Verhalten als Marktteilnehmern erleichtern. DieBehörden können in unklaren Risikolagen natürlich unterBerücksichtigung von Art. 14 Grundgesetz – Recht ameingerichteten Gewerbebetrieb – eine Abwägung vorneh-men und eine aktive Informationspolitik betreiben.
Eines ist doch klar: Es kann doch nicht wie in der Ver-gangenheit so sein, dass die Medien wild und ohne Endeherumspekulieren und die Behördenvertreter mit einemPflaster auf dem Mund dastehen und sich nicht äußerndürfen. Genau das ändern wir unter Wahrung der Rechteder Marktteilnehmer.
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Bundesministerin Renate Künast22181
Das heißt: Ende der Verschwiegenheitsphilosophie man-cher Behörden in diesem Land; Staat ist Dienst an der Be-völkerung. Dieses Gesetz setzt das um.Natürlich sollte man weitergehen und dieses auf alleProdukte und Dienstleistungen ausdehnen. Aber Sie wis-sen – das ist, wie ich glaube, ein altes chinesisches Sprich-wort –: Jede große Reise beginnt mit dem ersten Schritt.Wir haben ihn getan.
Es gilt, diese Schritte nicht nur auf nationaler Ebene zutun. Der europäische Binnenmarkt ist an der einen oderan der anderen Stelle längst weiter; zugleich sind wir aberauch treibende Kraft auf diesem Markt.
Wir wollen, dass der Staat beim wirtschaftlichen Ver-braucherschutz Anwalt der Verbraucher ist. Er muss dieWahlfreiheit durch Information erreichen, Transparenzherstellen und sicherstellen, dass die Verbraucher – ichsage es einmal salopp – nicht über den Tisch gezogen wer-den. Das Vertrauen der Verbraucher ist nicht etwas, wassich gegen die Wirtschaft richtet. Es muss vielmehr Be-standteil einer soliden und zukunftsfähigen Wirtschafts-politik sein.Schauen Sie sich einmal an, an wen in diesem Jahr dieNobelpreise vergeben wurden. Im Bereich Wirtschafts-wissenschaften sieht man, was das globale Thema ist:Preisträger in diesem Jahr sind die Begründer der moder-nen Informationsökonomie. Das heißt, dass Ökonomieund Information zusammenfinden. Diese Wissenschaftlerhaben die Bedeutung der Verbraucherinformation für dasFunktionieren der Marktwirtschaft deutlich gemacht.Dieser Preis gebührt ihnen zu Recht; ich glaube, es ist einwichtiges Thema. Mit Blick auf diesen Preis und dasThema Verbraucherschutz ist unsere erste Bilanz, dass dieBundesregierung auf dem richtigen Weg ist.
Ich möchte Ihnen einmal zu einzelnen Aspekten Bei-spiele dafür nennen, was wir tun und bewegen. Nehmenwir die Riester-Rente: In diesem Bereich steht der Ver-braucherschutz vor wirklich zentralen Aufgaben, weil esum die Chancen und die Versorgung der Menschen im Al-ter geht. Der Markt tut sich schwer. Auf dem Markt wurdezum Beispiel schon mit Angeboten geworben, als nochgar keine Zertifizierungen erfolgt waren. Hier wird vonden Verbraucherzentralen – dies wird auch von uns finan-ziert – wesentliche Arbeit geleistet, indem sie unabhän-gige Informationen und Beratungen anbieten.
Sie sehen sich an, wie der Bedarf und die Lebenssituationeines bestimmten Menschen, der sich informierenmöchte, aussehen. Auf dieser Grundlage werden dannAngebote für dieses Individuum herausgesucht. Die Ver-braucherzentralen mahnen unseriöse Angebote ab.Jetzt müssen die Anbieter von Produkten für die privateAltersvorsorge den nächsten Schritt tun, nämlich einewirklich bedarfsgerechte Verbraucherinformation undBeratung geben, weil sie am Ende nur damit die Verbrau-cher gewinnen können.Wir wollen im Übrigen an dem gesamten Bereich derAltersvorsorge weiterarbeiten. Wir wollen eine Änderungder zivilrechtlichen Regelung für Altersvorsorgeprodukteund Finanzdienstleistungen allgemein. Das Bundesjustiz-ministerium arbeitet hier an Vorschlägen.Wir wollen aber auch in vielen anderen Bereichen desAlltags die Situation der Menschen verändern. Einigemöchte ich ansprechen.Schauen wir einmal auf die Bahn: Sie ist ein selbstver-ständliches Transportmittel der Mehrzahl der Menschenim Alltag. Wir alle wissen, dass Mobilität zu den Lebens-grundlagen der Gesellschaft gehört. Deshalb muss der Zu-gang zu öffentlichen Verkehrsmitteln garantiert werden.Wenn ich mir die Privatisierung der Bahn ansehe, mussich feststellen, dass es die frühere Bundesregierung ver-säumt hat, Fahrgastrechte festzuschreiben. Ich weiß janicht, meine Damen und Herren von der CDU/CSU undder FDP, wie Sie sich das damals vorgestellt haben. Viel-leicht wie bei Ihrer Eisenbahn zu Hause, mit der Sie spie-len, nämlich dass die Bahn immer fährt, aber gar keineFahrgäste braucht?
Diesen Eindruck muss man haben, wenn man sich an-sieht, welche Regelungen es in diesem Bereich nicht gibt,was hinsichtlich der Fahrgastrechte nicht geregelt wurdeund was in Bezug auf den Servicezustand unakzeptabelist. Es gibt Kundencenter, die monatlich mehr als6 000 Beschwerden erhalten und sagen: Das ist normal. –Ich meine, das ist nicht normal, sondern ein Beweis füreklatante Mängel.
Wir arbeiten an der Verbesserung der Fahrgastrechte;dies wird peu à peu umgesetzt. Ich nenne ein Beispiel:Wenn Verspätungen dazu führen, dass Anschlüsse nichtmehr erreicht werden, oder Züge ganz ausfallen, ist esjetzt endlich so weit, dass die Bahn AG anfallende Kos-ten, zum Beispiel für Übernachtungen, übernimmt. Diesist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Nun wird sierealisiert.
Wir wissen auch noch um andere Themen des Alltags,bei denen sich gerade die Menschen mit niedrigen Ein-kommen Sorgen machten. In Deutschland sind dieMärkte für Strom und Gas vollständig geöffnet. Einenfairen Wettbewerb auf dem Energiemarkt haben wir abernoch nicht völlig erreicht. Die Verbraucherpolitik hat da-rauf zu achten – wir tun das auch –, dass es Qualität derLeistungen, gesundheitliche Unbedenklichkeit, Zugangund Erschwinglichkeit sowie Versorgungssicherheit gibt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Bundesministerin Renate Künast22182
Um noch bestehende Unsicherheiten privater Verbraucherabzubauen, hat das BMWi im Januar dieses Jahres einebundesweite Hotline zum Thema „Wechsel der Stromlie-feranten“ geschaltet. Die Verbraucherzentralen machenentsprechende Beratungsangebote. Insbesondere die Stif-tung Warentest ist an dieser Stelle zu loben.Morgen findet die nächste Verhandlungsrunde für dieneue Verbändevereinbarung Gas statt. Wir brauchen hierschnelle Ergebnisse. Dabei gilt eines ganz klar: Auch beiFusionen werden die Verbraucherrechte berücksichtigt.
Was gehört noch zum Alltag? Weiterbildungs-angebote. Der Markt für Weiterbildung wird immerundurchschaubarer. Allein im Bereich der beruf-lichen Weiterbildung gibt es rund 35 000 Anbieter mit400 000 verschiedenen Programmen. Die Nachfragesteigt; aber unklar ist häufig, ob die Leistungen die Kos-ten rechtfertigen, ob man mit dem Wissen auf dem Marktetwas anfangen kann.
Wir haben über viele Varianten gesprochen. Mit Un-terstützung des Bundesbildungsministeriums wird dieStiftung Warentest jetzt eine neue Abteilung für Weiter-bildungstests aufbauen. Aus vielen Bereichen wissen wir:Das Qualitätsurteil „sehr gut“ der Stiftung Warentest istein begehrtes Werbemittel im Wettbewerb mit anderenAnbietern. Auch in der Bildung werden die Menschenalso in Zukunft eine Antwort auf die Frage bekommen, obes sich lohnt, wenn sie ihr mühsam gespartes Geld in die-sem Bereich einsetzen.Aber auch das ist nicht alles. In Bezug auf die Kauf-verträge, die im Alltag ebenfalls eine große Rolle spielen,haben wir große Projekte umgesetzt, beispielsweise dieModernisierung des Schuldrechts und das Unterlas-sungsklagengesetz. Im Kaufvertragsrecht gilt jetzt nichtmehr eine Gewährleistungspflicht bei Sachmängeln vonsechs Monaten, sondern eine von zwei Jahren. Das schafftSicherheit für die Verbraucher, aber auch für die Anbieter,die im Wettbewerb hohe Qualität produzieren.
Eine weitere Verbesserung ist die Haftung bei fehler-haften oder unverständlichen Montageanleitungen. Sie istin Zeiten von immer mehr Abholkaufhäusern und Selbst-montage im Alltag unverzichtbar. Wer von uns hat sichnicht schon einmal ein ganzes Wochenende oder die Fa-milienstimmung verdorben, wenn er nach der Anleitungeine Schraube mehr gebraucht hätte, als in dem Paketwar? Wir sagen an dieser Stelle: Das ist eine Alltagsver-tragskonstellation, bei der die Haftung geregelt werdenmuss.
Ferner sorgen wir dafür, dass die Ware so beschaffenist, wie die Werbung es darstellt.Wir kümmern uns aber nicht nur um Güter, sondernauch um Menschen in besonderen Lebenslagen, so imInsolvenzrecht. Das neue Insolvenzrecht schützt ver-schuldete Verbraucher wesentlich besser. Die Verfahrens-dauer wurde verkürzt, ein Stundungsmodell eingeführt.Wir sorgen dafür, dass Mittellose nicht aus diesem Ver-fahren herauskatapultiert werden, indem sie schon an denVerfahrenskosten scheitern.Wir haben die Pfändungsfreigrenzen angehoben, so-dass den Schuldnern garantiert ein Existenzminimum zurVerfügung steht. Auch im Anlegerschutz ist eine effektiveDurchsetzung der Schadenersatzansprüche wichtig. Wasist, wenn Prospekte etwas Falsches versprechen? Soll esdann eine Verjährungsfrist von einem oder von drei Jah-ren geben? Wir meinen, es müssen drei Jahre sein. Wirbrauchen eine einheitliche Regelung analog zum Schuld-recht auch beim Finanzmarktförderungsgesetz.
Frau
Bundesministerin, die Redezeit für die Regierungser-
klärung ist abgelaufen.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Darf ich noch ei-
nen Schlusssatz sagen?
Ja, bitte.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Wir haben auch andie älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger gedacht. DasHeimgesetz ist novelliert worden. Wir wissen, dassSchwäche und Abhängigkeit von Kommunikation eineRolle spielen. Bei den Heimverträgen sind höhere Stan-dards zu bieten.Wir denken im Schadensersatzrecht auch an die jungenMenschen, die sich beispielsweise im Straßenverkehr an-ders verhalten als Ältere. Wir denken an ihre Situation imBezug auf die Kommunikationstechniken. Selbst beimRabattgesetz haben wir alte Zöpfe abgeschnitten.
Bis hin zum Kinderspielzeug sind Kinder zu schützen.Erwachsene müssen die Aufgabe übernehmen, die, dienicht lesen können, zu unterstützen.Wir überlassen die Verbraucher nicht den Werbestrate-gen. Durch das Sozialstaatsprinzip und das Primat der Po-litik gilt: Wir wehren Gefahren ab, wir schützen dieSchwächeren. Diese Bundesregierung stellt die Werk-zeuge dafür bereit. Information ist ein entscheidendes In-strument für den Demokratisierungsprozess dieser Ge-sellschaft.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Bundesministerin Renate Künast22183
Wir haben im letzten Jahr eine Menge geschafft. Des-halb will ich an dieser Stelle neben den Verbraucherorga-nisationen auch den Kolleginnen und Kollegen der be-troffenen Ressorts und den Ministeriumsmitarbeiternnoch einmal danken.Meine Damen und Herren, der Kampf um die Durch-setzung der Rechte der Verbraucher hat gerade erst be-gonnen. Wesentliche Voraussetzung für einen Erfolg ist,dass Verbraucherkultur und -gedanken selbstverständ-licher Teil unseres Denkens und unseres Regierungshan-delns werden. Genau dafür stehen wir.
Nach der
Regierungserklärung eröffne ich jetzt die Aussprache. Als
erste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch heuteMorgen wird nach dieser Regierungserklärung mehr alsdeutlich: Die Verbraucherschutzpolitik von Renate Künastist die größte politische Rückrufaktion in diesem Land.
Das einzige funktionierende Schnellwarnsystem ist dasBundeskabinett, wenn es darum geht, Renate Künast ein-zufangen, damit sie keinen weiteren Flurschaden anrich-ten kann.
Frau Künast wird doch geradezu täglich vom Kanzler ab-gekanzelt.
Wo sind denn die lieben Kollegen, bei denen man sichimmer bedankt, zum Beispiel der Bundeskanzler und derBundeswirtschaftsminister?
Ich glaube, da gibt es nicht viel Gemeinsamkeit an diesemKabinettstisch.Jetzt gibt es die neueste preisverdächtige Rhetorik vonIhnen, Frau Künast. Sie wollen eine „verbraucherorien-tierte Marktwirtschaft“ einführen. Es ist ja klar: Wer miteiner zunehmend unsozialen Politik dabei ist, die sozialeMarktwirtschaft geradezu abzuschaffen, der erfindet sol-che neuen Soundbytes.
Dafür sind Sie als Ideologieministerin immer zu haben.
Ich sage Ihnen eines: Die soziale Marktwirtschaft ist derbeste Verbraucherschutz für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer. Sie ist gut für den Wettbewerb, für dieNachfrage und damit gut sowohl für die Verbraucher alsauch für die Arbeitgeber in unserem Land.Ihre Rhetorik, die wir gerade gehört haben, muss mansich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie haben imHaushalt den Bundesverband der Verbraucherzentralendoch nur deshalb gefördert und die entsprechenden Mittelerhöht, weil wir in der Haushaltsdebatte Ihre verstecktenTricks aufgedeckt haben.
Denken wir in diesem Zusammenhang nur an die Energie-beratung. Sie haben doch die Zuschüsse für die unabhän-gige Energieberatung der Verbraucherzentralen gekürzt.
Aber trotzdem tun Sie jetzt so, als seien Sie die Schutzpa-tronin dieser Beratungseinrichtungen.Es ist schön, dass Sie manchmal unsere Papiere lesen.Es freut uns, dass Sie endlich darauf kommen, dass eineStiftung Bildungstest eine gute Sache ist. Wir haben vor-gedacht und Sie schreiben ab. Das begrüßen wir. Ich er-wähne weiterhin, dass Sie regelmäßig einen Verbraucher-schutzbericht erstellen wollen. Wunderbar! Wir haben ihnvor einem Jahr in diesem Haus gefordert.
Machen Sie weiter so! Setzen Sie unsere Vorschläge um!
Durch die zunehmende Mobilität der Menschen, derWaren und der Dienstleistungen sowie durch die welt-weite Vernetzung der Märkte erlangt der Verbraucher-schutz im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft auf re-gionaler, auf nationaler und auf internationaler Ebene eineimmer größere Bedeutung. Wir wissen: Der Verbraucher-schutz ist nicht nur eine Frage der Agrarpolitik, sonderneine Querschnittsaufgabe. Mit fast allen Bereichen in derPolitik hat der Verbraucherschutz Berührungspunkte. DieMenschen erwarten klare Konzepte für diesen umfassen-den und vorbeugenden Verbraucherschutz. Die Devisemuss sein: weg vom Reparaturbetrieb und hin zum vor-beugenden Verbraucherschutz.Unsere Eckpfeiler sind bekannt: Transparenz, Eigen-verantwortung, Kontrolle und Nachhaltigkeit. Aber dasalles gelingt nur, wenn wir Kompetenz und effizientesHandeln bei den Beteiligten vorfinden.
Bei der Bundesregierung kann man davon aber nicht spre-chen.Frau Künast, Sie haben einen umfassenden Verbrau-cherschutz versprochen. Was haben Sie aber nach einemJahr erreicht? Sie haben einen Flickenteppich geschaffen,auf dem man zudem noch ausrutscht, weil er – das ist einegroße Enttäuschung – aufgrund von Untätigkeit, Kompe-tenzmängeln und Skandalen schlecht gewebt wurde.
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Bundesministerin Renate Künast22184
An dieser Stelle komme ich gleich auf das Verbrau-cherinformationsgesetz, das Sie gestern im Kabinettverabschiedet und heute hier auch erwähnt haben: Was istdenn aus Ihrem ehrgeizigen Vorhaben geworden, denKauf nach ethischen Wertvorstellungen zu ermöglichen?Sie haben dazu sogar noch Eckpunkte präsentiert. Dazukann ich nur sagen, dass aus diesem Eckpunktepapier einschlapper Lappen geworden ist. Eine Ihrer angeblich sowichtigen drei Säulen, der Anspruch auf Information ge-genüber den Unternehmen, ist vom Wirtschaftsministersogar einkassiert worden. Die Dienstleistungen fielen, sohört man, der SPD Niedersachsen zum Opfer und sollenjetzt aus dem Anwendungsbereich komplett gestrichenworden sein.Wir von der Union begrüßen grundsätzlich das Vorha-ben, die Transparenz und Informationsmöglichkeiten aufden Märkten zu stärken. Der Begriff des mündigen Ver-brauchers ist aus unserer Sicht keine bloße Floskel: Je in-formierter und aufgeklärter die Verbraucher sind, destobesser können sie den Markt steuern und desto funk-tionstüchtiger ist der Wettbewerb.Aber die Verbraucher benötigen in erster Linie nichtmehr, sondern bessere Informationen.
Wir brauchen keine Fülle zusätzlicher Kennzeichnungs-vorschriften für Spezialisten und Juristen, sondern wirbrauchen klare, verständliche Regelungen für Menschenwie du und ich.
Auf die Qualität der Information kommt es an. Die Infor-mation allein sagt häufig nichts; wir brauchen Erläuterun-gen dazu, also im besten Sinne des Wortes Klasse stattMasse.
Wir brauchen in unserem Land vor allen Dingen keinewillkürliche oder tendenziöse Informationsflut nach demMotto „Freie Fahrt für Panik“.
Aber das passt ja zu Ihrem Ministerium: Nachdem Sie diekonventionelle Landwirtschaft pauschal an den Prangergestellt haben, haben Sie sich jetzt wieder neue Betäti-gungsmöglichkeiten eröffnet. Ihr wissenschaftlicher Bei-rat ist aus Protest gegen eine Satzungsänderung zurück-getreten, weil er um seine Unabhängigkeit fürchtete.
Wer eine solche ideologisch verbrämte Politik macht,nützt dem Verbraucher überhaupt nichts.
Unsere Wirtschaft braucht klare und verlässliche Rah-menbedingungen, nach denen sie agieren kann, nicht aberständig neue Knüppel zwischen die Beine und noch mehrBürokratie.Frau Künast, wo Eigenverantwortung gestärkt werdenkönnte, verfügen Sie noch nicht einmal über Kompetenz.Wird sie Ihnen entzogen oder nehmen Sie sie nicht wahr?Der Kanzler spricht jetzt wieder mit den Bossen. Ihre Kol-legin Schmidt lässt sich Ihre Gesetze wenigstens noch vonder Pharmaindustrie abkaufen. Aber Sie können an dieserStelle noch nicht einmal mitreden.
Sie haben hier von den vielen Informationsmöglich-keiten geredet, die Sie den Menschen verschaffen wollen.Die Bundesregierung hat zum Beispiel im Gesundheits-wesen die Möglichkeit, Informationen zu geben. Aber dablockieren Sie: Eine Politik, die auf Transparenz auch beiden Kosten setzt, wollen Sie nicht. Sie haben doch dieKostenerstattung in der GKV zugunsten des Sachleis-tungsprinzips abgeschafft. Hier hätten wir eine Möglich-keit zu mehr Transparenz. Aber Sie tun es nicht. Im Ge-genteil, bei der Pflege reden Sie zwar von mehr Qualität,wollen dies aber mit noch mehr Bürokratie und noch mehrDokumentation erreichen, anstatt dass Sie die Voraus-setzungen dafür schaffen, dass die Pflegekräfte genugZeit haben, sich am Krankenbett und am Pflegebett denMenschen zu widmen. Dort wäre Ihr Einsatz gefordert.
Sie haben über die Schnellwarnsysteme geredet. DasBeispiel des Chloramphenicols im Shrimpsskandal hättenSie besser überhaupt nicht erwähnt. Das war doch einepeinliche Nummer. Sie, Frau Künast, wurden von denBundesländern nicht nur im Shrimpsskandal, sondernauch im Hinblick auf die BSE-Tests aufgefordert, koordi-nierend tätig zu werden.
In beiden Fällen Fehlanzeige! Sie haben sich auch auf dereuropäischen Ebene nicht darum gekümmert.
Dafür brauchen wir gar nicht nach China, sondern nurnach Polen zu schauen. Es gab keine Äußerung von Ihnenzu den Zuständen der BSE-Tests und zur BSE-Situationangesichts der Tiermehlverfütterung in den EU-Beitritt-staaten. Wo bleibt denn Ihr Engagement an dieser Stelle?Es ist nichts als Rhetorik zu erkennen.Sie haben das Wettbewerbsrecht angesprochen. DieJustizministerin hat Ihren Platz verlassen.
Eine Arbeitsgruppe tagt seit über einem Jahr und legtselbst auf Nachfrage keine Ergebnisse vor. Sitzen Sie daüberhaupt mit am Tisch? – Es gibt keine koordinierteVerbraucherschutzpolitik in unserem Land.
Frau Künast, wohin man in Ihrem Haus auch schaut:von Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle, Nach-haltigkeit, Kompetenz und Effizienz keine Spur. Sie
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Annette Widmann-Mauz22185
haben in Ihrer Regierungserklärung im letzten Jahr ge-sagt: Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Sie haben dieScherben nicht aufgelesen; es sind nicht weniger gewor-den. Das ist aber auch ganz klar; denn mit reiner Rhetorikkann man dies nicht leisten.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Eigentlich ist die Redezeit viel zu schade,
um auf die billige Polemik einzugehen, die die KolleginWidmann-Mauz vorgetragen hat. Es gibt schon einschwaches Bild ab, wenn man hier nur herummotzt, ob-wohl man auf keine gute Bilanz aus der eigenen Regie-rungszeit verweisen kann. Sie haben von der „Ideologie-ministerin“ gesprochen. Angesichts dessen kann man beiIhnen nur von billiger Polemik sprechen.
Wir sind uns wirklich zu schade, uns dies hier anhören zumüssen.
Nun aber zur Regierungserklärung. Dieses Jahr scheintein Jahr der Bilanzen über die Verbraucherpolitik dieserKoalition zu werden. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh-men, dass die Medien Anfang dieses Jahres eine durchauspositive Bilanz gezogen haben. Die heutige Regierungs-erklärung gibt uns Gelegenheit, zu zeigen, dass mit rot-grüner Verbraucherpolitik durchaus schwarze Zahlen ge-schrieben werden können.Wir haben im letzen Jahr vieles erreicht; dies ist in derJahresbilanz des Verbraucherschutzministeriums nachzu-lesen. Für mich ist am wichtigsten, dass viele Diskus-sionen heute anders geführt werden als noch vor zwei Jah-ren. Ein halbes Jahr vor dem ersten deutschen BSE-Fallhaben wir an einem Entschließungsantrag zum Weißbuchfür Lebensmittelsicherheit geschrieben. Damals habenwir noch mit heftigem Protest gegen die Forderung nacheiner Positivliste für Futtermittel gerechnet. Heute ist fest-stellbar, dass diese Forderung überhaupt nichts Gewagtesmehr hat; sie ist selbstverständlich geworden. Auch dasVerbraucherinformationsgesetz, das gestern vom Kabi-nett beschlossen wurde, wäre vor zwei Jahren noch nichtvorstellbar gewesen.
Insbesondere im Prozess der Umsetzung des Weiß-buches für Lebensmittelsicherheit und als Reaktion aufdie BSE-Krise haben wir wichtige Vorsorgemaßnahmenfür die Sicherheit der Lebensmittel getroffen. Wir schaf-fen Transparenz und die notwendigen Bewertungs- undKontrollstrukturen. Damit haben wir für den Lebens-mittelbereich Regelungen gefunden, die den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern den notwendigen Schutz und dieVoraussetzungen für einen bewussten und selbstbestimm-ten Konsum geben.
Wir sehen in dem Verbraucher einen aufgeklärtenMenschen, der selbst in der Lage ist, seine Konsument-scheidungen zu treffen. Die Grundlage dafür – dies istAufgabe der Verbraucherpolitik – ist eine verlässlicheVerbraucherinformation über die Eigenschaften von Pro-dukten und Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit,Haftung und vor allem Gewährleistung.Unser Ziel ist es, den Verbraucherinnen und Verbrau-chern nicht nur im Lebensmittelbereich, sondern auchhinsichtlich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzesden notwendigen Schutz zu geben und die notwendigenAuswahlkriterien zur Verfügung zu stellen. Auch hier ha-ben wir einiges erreicht.Gerade im wirtschaftlichen Verbraucherschutz stehenEntscheidungen an, die für die Verbraucherinnen undVerbraucher von großer Bedeutung sind. Die Kommis-sion hat eine Debatte darüber angestoßen, wie der euro-päische Binnenmarkt auch zu einem Binnenmarkt fürdie Verbraucherinnen und Verbraucher wird. Bisher pro-fitieren diese kaum vom Gemeinsamen Markt. Ins-besondere die unterschiedlichen Rechtsnormen halten siedavon ab, in anderen Mitgliedstaaten zu kaufen.Die Frage der Harmonisierung dieser Regelungenprägt die Diskussion um den gesetzlichen Rahmen für denelektronischen Geschäftsverkehr. Sie wurde von derKommission mit dem Grünbuch Verbraucherschutz fürGeschäftspraktiken im gesamten Bereich des Handels mitVerbrauchern auf die Tagesordnung gesetzt.Wir haben in Deutschland gute Erfahrungen mit einerGeneralklausel im Gesetz gegen den unlauteren Wettbe-werb gemacht, durch die für Verbraucher und Unterneh-men Transparenz geschaffen worden ist. Gleichzeitigbrauchen wir für bestimmte Bereiche spezielle Regelun-gen. Als ein Beispiel sei hier das Fernabsatzgesetz ge-nannt. Diese Kombination halte ich auch mit Blick aufeine europäische Harmonisierung für sinnvoll.Ein funktionierender Wettbewerb mit einer breiten An-gebotspalette sorgt dafür, dass die Verbraucherinnen undVerbraucher Produkte und Dienstleistungen nach ihrenPräferenzen auswählen können. Wettbewerbspolitik istdamit logischerweise auch immer Verbraucherpolitik. Einfunktionierender Binnenmarkt wird auch den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern Vorteile bringen.
Deutschland hat zum Beispiel innerhalb der EuropäischenUnion ein vergleichsweise hohes Preisniveau. Hier kön-nen die Verbraucher profitieren.
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Annette Widmann-Mauz22186
Wir müssen uns allerdings darum kümmern, dass dieseAuswahl für die Verbraucherinnen und Verbraucher auchin Zukunft gesichert bleibt. Konzentrationsprozesse beiBanken, Medien, Versorgungsunternehmen oder im Le-bensmittelhandel können für die Verbraucherinnen undVerbraucher schnell zum Nachteil werden, insbesonderewenn von der Wettbewerbspolitik nicht mehr der natio-nale Markt als relevanter Markt angesehen wird.
Auch bei den Regelungen zum unlauteren Wett-bewerb müssen wir uns fragen, welche Vorschriften alteZöpfe sind und welche Sinn machen. Es ist klar: Wirhaben heute ein anders Bild vom Verbraucher als vor100 Jahren. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass Ver-lässlichkeit und Transparenz im Handel die Regel sind.Kein Mensch kann heute mehr sagen, ob er für sich zumBeispiel den optimalen Handytarif gewählt hat. Wir wol-len nicht, dass durch ständige Sonderverkäufe auch in an-deren Bereichen die Preistransparenz aufgehoben wird.Ich halte es daher für richtig, dass wir in Ruhe darübernachdenken, wie wir die größtmögliche Freiheit und dennotwendigen Schutz der Mitbewerber, des Mittelstandesund der Verbraucher erzielen.In der heutigen Regierungserklärung wurde an vielenBeispielen aufgezeigt, dass der funktionierende Wett-bewerb allein nicht ausreicht, um Verbraucherrechte zuschützen. Auch die Nobelpreisträger für Wirtschaftswis-senschaften im Jahre 2001 haben in ihren Arbeiten aufdem Gebiet des Verbraucherschutzes deutlich gemacht:Auf funktionierenden Märkten entstehen dadurch, dassTransparenz fehlt, suboptimale Ergebnisse.Das heißt: Können Verbraucherinnen und Verbraucherdie Eigenschaften von Produkten nicht einordnen, sind sieauf zusätzliche Informationen angewiesen. Wir werdenihnen diese geben: Wir werden weiter dafür sorgen, dassProdukte und Dienstleistungen so gekennzeichnet wer-den, dass bewusste Kaufentscheidungen getroffen werdenkönnen. Durch die Schuldrechtsmodernisierung wurdenWerbeaussagen verbindlich. Dies ist ein Erfolg für dieVerbraucherinnen und Verbraucher. Wir haben Kenn-zeichnungspflichten eingeführt und werden weitere prü-fen. Ich denke hier an die Strahlung bei Handys oder anden Energieverbrauch bei Kraftfahrzeugen. Wir wollenauch bei weiteren Produkten die Möglichkeiten dafürschaffen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher aufInformationen der Behörden und auch der Unternehmenzurückgreifen können.
Wir unterstützen verstärkt die Verbraucherverbändeund die Stiftung Warentest. Gerade Letztere ist als un-abhängige Stelle für objektive Informationen notwendig.Ich kann mir durchaus auch eine größere Unabhängigkeitfür die Stiftung Warentest vorstellen.
Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher indie Lage versetzen, ihre Rechte auch durchzusetzen. DieSchuldrechtsmodernisierunghat hierFortschritte gebracht.So sorgen wir zum Beispiel mit der Verlängerung der Ge-währleistungsfristen dafür, dass eine guteQualität von Pro-dukten gesichert wird. Wir wollen in Zukunft außerge-richtliche Streitschlichtungsverfahren verstärkt einführen.Auch die Stärkung derVerbraucherverbände ist ein Schritt,umVerbraucherrechte besser durchsetzen zukönnen.
Meine Damen und Herren, wir alle hier im Bundestagwerden heute wieder eine Lanze für den Verbraucher-schutz brechen. Wir werden in der nächsten Zeit aber auchEntscheidungen treffen, bei denen der Verbraucherschutzgefragt ist. Ich nenne Ihnen einige Beispiele:Bisher sind die Beförderungsbedingungen im öffent-lichen Personenverkehr alles andere als kundenfreund-lich.
Hier müssen wir deutliche Verbesserungen erreichen, ins-besondere dann, wenn in Zukunft die Schnittstellen zwi-schen verschiedenen Unternehmen geregelt werden müs-sen. Der Kunde ist kein Bittsteller. Wenn er eine Fahrkartekauft, hat er einen Anspruch darauf, rechtzeitig anzukom-men. Noch ist dieser Schritt aber nicht umgesetzt.Mit der privaten Altersvorsorge haben wir einenneuen Markt für Finanzdienstleistungen geschaffen. Wirwerden beobachten müssen, wie sich dieser entwickelt.Es stellen sich die Fragen, ob die Beratungsangebote rei-chen und ob die angebotenen Produkte seriös sind. Gege-benenfalls werden wir auch hier handeln müssen.Auch auf dem Bildungsmarkt gibt es im Moment eineunüberschaubare Anzahl schwer vergleichbarer Ange-bote. Wir müssen deshalb prüfen, ob wir hier durch unab-hängige Tests oder durch Qualitätssiegel mehr Transpa-renz schaffen können.
An diesen Themen wird sich zeigen, ob wir die Ver-braucherinnen und Verbraucher in ihren Rechten unter-stützen. Wir haben mit dem Verbraucherinformations-gesetz und mit dem, was wir im letzten Jahr gemachthaben, erste Schritte unternommen. Ich bin mir ganz si-cher, dass wir auch in Zukunft noch weitere Schritte zumWohle der Verbraucher und Verbraucherinnen machenwerden.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Sehr geehrteHerren und Damen! Frau Ministerin Künast, Sie habenheute über Eckpunkte dieses neuen Verbraucherinforma-tionsgesetzes gesprochen, das ich ein Placebogesetz
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Jella Teuchner22187
nenne; denn bei dieser Politik und bei diesem Gesetz stehtetwas drauf, was nicht drin ist.
Das ist bezeichnend für Ihre gesamte Politik.Vergegenwärtigen Sie sich einmal, dass die Behördenzwar auskunftspflichtig gegenüber dem Verbraucher, abernicht verpflichtet sind, Informationen einzuholen. Dasheißt doch im Umkehrschluss, dass Sie nur die Infos, dieSie ohnehin haben – Sie kennen diese rechtlich abgesi-cherten Informationen und wollen sie weitergeben –, denVerbrauchern zur Verfügung stellen. Da gehe ich lieberins Internet. Dort erhalte ich mehr Infos als dadurch, dassin den Behörden solche neuen Strukturen geschaffen wer-den.
Die Frage ist auch, wem Sie mit diesem hohen An-spruch an Technik und Auskunftspersonal gerecht werdenwollen. Was bedeutet das für die Kosten? Wer soll sie tra-gen?
Haben Sie sich darüber überhaupt Gedanken gemacht?Mir ist Folgendes ganz besonders wichtig: Frau Minis-terin Künast, ich habe den Eindruck, dass Sie an der Rea-lität völlig vorbei agieren. Wissen Sie eigentlich gar nicht,dass die Lebensmittelwirtschaft auf der einen sowieMediziner und Technologen auf der anderen Seite hinterden Kulissen gemeinsam seit über einem Jahr sehr dezi-diert dabei sind, ein hervorragend ausgeklügeltes Netzvon Daten und Zusatzinformationen auf ein Datennetz zuüberspielen, das den Kunden vor Ort im Laden zur Verfü-gung stehen soll? Die Selbstverpflichtung wird alsoschon längst umgesetzt.
Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand, der auf be-stimmte Inhaltsstoffe allergisch reagiert, in einem Super-markt der Zukunft an eine technologische Einrichtunggeht, kann er mithilfe eines Strichcodes künftig sehr dezi-dierte und wissenswerte Informationen bezüglich Aromenund Allergiestoffe in einem Produkt erhalten. Das nenneich eine Spitzenleistung. Das sind Visionen. Das ist auchein Mehrwert für den Verbraucher. Ich glaube, da hinkenSie völlig hinterher, weil in der Privatwirtschaft vielesschon längst auf dem Weg ist.
Was Sie mit Ihrer Politik versprechen, Frau Künast,wird nicht eingehalten. Dazu gehört auch das ThemaStiftung Warentest. Sie haben sich heute Morgen nocheinmal als Gönnerin und Förderin der Stiftung dargestellt.Ich darf Sie daran erinnern, dass die Stiftung und auch dieFDP-Bundestagsfraktion größten Wert darauf legen, dassdieser Stiftung endlich ein Stiftungskapital zugesprochenwird, damit die Stiftung unabhängig von schwankendenHaushaltslagen ihre Arbeit erledigen kann.
Nehmen wir das Thema Honig. Es ist doch hervorra-gend, wenn 15 oder 16 Sorten in einem Test dargestelltwerden und der Verbraucher eine Übersicht über Qualitätund Preis bekommt. Auch dabei sind Sie furchtbar klein-lich. Die Stiftung Warentest braucht Unabhängigkeit undihr Stiftungskapital, damit diese Säule der Verbraucher-politik und der Verbraucherinformation, die auch beimVerbraucher hoch angesehen ist, gestärkt wird.
Ein anderer inhaltlicher Punkt, bei dem wir als FDP of-fensiv vorangehen, ist die Forderung nach einem Geset-zes-TÜV für Verbraucherbelange.
– Frau Höfken, auch Sie sind gleich an der Reihe. – Dasheißt, künftig könnte auf die Entstehung eines Gesetzes-textes in den zuständigen Ministerien – Frau Ministerin,Sie sind nur noch für die wenigsten Verbraucherthemendirekt zuständig –, zum Beispiel im Justizministerium,Einfluss genommen werden. Hier ist bisher überhauptnichts passiert.
Unsere Vorstellung ist: Wenn ein Gesetz entsteht, dannsollen Verbraucherbelange in den Text eingearbeitet wer-den. Die Auswirkungen auf die Kostenstrukturen, dieBürokratisierung sowie die Klarheit des Anliegens müs-sen deutlich gemacht werden. Dieser Punkt ist also sehrwichtig.Frau Ministerin Künast, Sie haben ständig von Kon-trollen gesprochen. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass wirbundesweit viel zu wenig Kontrolleure haben? Laut EUmüsste eigentlich die dreifache Anzahl an Kontrolleurenin den Ländern vorhanden sein.
– Der Bund und die Länder haben kein Geld. Also mussman sich auf einen Fahrplan einigen. Dieses Thema isthöchst problematisch.Ich nenne Ihnen noch einen Bereich: Landwirtschaftund Bioprodukte. Frau Künast, ist Ihnen eigentlichbekannt – Professor Kuhlmann hat das neulich in einemVortrag sehr gut herausgearbeitet –, dass wir durch dieProduktion hervorragender konventionell erzeugter Le-bensmittel überhaupt erst in der Lage sind, die Ni-schenproduktion von Bioprodukten – das ist sehr wichtigund wird von uns unterstützt –, die marktkonform undnicht per Diktat ablaufen muss, zu betreiben? Ansonstenhätten wir nicht einmal die Möglichkeit, unseren tägli-chen Bedarf zu decken. Auch das ist hochproblematisch.
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Gudrun Kopp22188
Noch einmal zum Thema Honig aus China. FrauKünast, ist Ihnen eigentlich bekannt, dass die chinesischenSorten häufig mit den argentinischen Sorten gemischt wer-den? Wissen Sie auch, dass dann, wenn die Pollen entferntwerden, keinerlei Rückschlüsse auf das jeweilige Her-kunftsland gezogen werden können? Das heißt, wir müs-sen – ich denke, wir sitzen zusammen mit der Wirtschaftund der Industrie, die dieses Problem erkannt haben, in ei-nem Boot – klarer kennzeichnen, damit der Verbraucherweiß, welcher Herkunft das Produkt ist, das er kauft.Verehrte Ministerin: Ideologien sind bewaffnete Ideen.Das hat schon Ignazio Silone gesagt. Wir als FDP-Bundestagsfraktion möchten nicht, dass derlei Waffen ge-gen die Verbraucher gerichtet werden. Machen Sie alsoinhaltsreiche Politik, die die Verbraucher tatsächlich einStück weiterbringt. Hören Sie auf, ihnen vorzugaukeln, eswürde konzeptionell und effektiv etwas für sie getan. Ichbin froh darüber, dass die Wirtschaft längst auf dem rich-tigen Weg ist. Sie wird Ihnen vormachen, was Lebens-mittelinformation und Lebensmittelsicherheit bedeuten.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Höfken vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Kopp, ich kann Ihnen eine gewisse Naivitätnicht absprechen. Bei aller Liebe: Was Sie unter Selbst-verpflichtung und Verantwortung der Wirtschaft verste-hen, haben wir gesehen. Das war ein Laisser-faire ohnevernünftigen Rahmen.
Wie erklären Sie sich denn eigentlich, dass schon wiederShrimps mit Antibiotikarückständen in die Futtermittelgekommen sind? Wie erklären Sie sich die Tiermehlskan-dale der letzten Jahre oder die mangelhaften Labortätig-keiten in Bayern?
Das soll dann alles Selbstverpflichtung der Wirtschaftsein? Ich denke, so kann das nicht laufen.
Man muss über diese Debatte eine bisschen traurigsein. Warum mauzt die CDU mit Schaum vor dem Mund?
Ganz klar: um den Verbraucherschutz klein zu halten, dieDurchsetzung alter Lobbyinteressen wieder zu ermögli-chen und zu verhindern, dass der Dreck unter dem Tep-pich hervorgekehrt wird. Ich kann die Debatte des ganzenletzten Jahres wirklich nicht anders deuten.Wir haben in dieser Woche den Verbraucherschutz-tag. Es geht uns darum, der vermeintlichen und tatsächli-chen Abzocke von Verbrauchern entgegenzuwirken. Esgeht um Aufklärung und Information der Verbraucher so-wie um die Möglichkeit eines Preisvergleiches.
Der Euro ist ja ein Beispiel dafür. Es entpuppen sicheinige Wirtschaftsbereiche oder Betriebe trotzt allerSchwüre, die Euroeinführung nicht zu missbrauchen, alsEuroschmarotzer erster Güte. Es geht um unrechtmäßigeoder zumindest unverschämte Angebote von Dienstleis-tungen bzw. Verkäufe von Produkten, sei es bei Bankenoder Reinigungen bzw. im Lebensmittelbereich. Bei ei-nem Vergleich, der nötig ist und ermöglicht werden muss,geht es nicht nur um die Höhe der Preise, sondern auch umdie Qualität, gerade im Lebensmittelbereich.Um den Verbraucher mündig zu machen, um ihm dienotwendigen Informationen zukommen zu lassen, hatdiese Bundesregierung entschieden gehandelt. Sie hatvöllig neue Strukturen geschaffen, um den Verbraucheraus seinem Mauerblümchendasein, in dem Sie ihn überviele Jahre hinweg gehalten haben, herauszuholen.
Die Verbraucher brauchen, um preiswert – im Sinnevon „den Preis wert“ – Produkte und Dienstleistungenkaufen zu können und am Markt teilnehmen zu können,Information und Transparenz, Beteiligung und Schutz.Die Möglichkeiten dafür sind jetzt geschaffen worden,und zwar durch ganz neue Strukturen, das heißt durch einneues Ministerium, das jetzt Verbraucherschutzminis-terium heißt. Wir vergessen fast, dass es hier einen Para-digmenwechsel gegeben hat, auch mit der MinisterinRenate Künast. Wo gehobelt wird, fallen eben auchSpäne. Sie von der Opposition hobeln ja erst gar nicht.
Zur Umsetzung der neuen Strukturen wurden das Ver-braucherinformationsgesetz und das Neuordnungsgesetzgeschaffen. Es gibt jetzt eine Trennung von Risikobewer-tung und Managementaufgaben. Bewertung und Handelnsind nun getrennt. Wir haben jetzt zum ersten Mal eineStruktur, die es ermöglicht, die Probleme im Verbrau-cherschutz wirklich zu benennen und Regierungshandelnobjektiv zu gestalten. Das ist ein riesiger Schritt in Rich-tung Verbraucherschutz.Zum Verbraucherinformationsgesetz. Was wollenSie eigentlich? Auf der einen Seite sagen Sie, das Gesetzsei ein Placebo, und auf der anderen Seite veranstalten Sieeine große Schreierei, weil es die Wirtschaft beeinträchti-gen könnte.
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Gudrun Kopp22189
Richtig ist, dass es ein riesiger Schritt in Richtung zumehr Verbraucherschutz ist. Denn die Verbraucher habenerstmals Zugang zu den Informationen, die sie brauchen,und die Behörden haben die Möglichkeit – diesen Fall ha-ben wir übrigens gerade wieder in Bayern, wo die Wirt-schaft den Staat verklagt, weil er angeblich Maßnahmenergriffen hat, die nicht in Ordnung waren – , vorsorgendenVerbraucherschutz gefahrlos zu praktizieren.
Das ist nicht nur für die Verbraucher interessant, sondernvor allem auch für die Multiplikatoren, die Presse und dieVerbraucherverbände, die auf diese Art und Weise dieVerbraucherinformation sehr stark verbessern können.Wir haben zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wirhaben die Arbeit der Verbraucherorganisationen und dieInformationstätigkeit der Medien gestärkt und den Zu-gang für die Verbraucher und Verbraucherinnen selbst ge-sichert. Ich meine, das ist ein riesiger Schritt.
Dieser Schritt bezieht sich auf die Lebensmittel und Be-darfsgegenstände, also auf eine sehr große Gruppe vonWirtschaftsgütern. Das scheint Ihnen aber zu wenig zusein. Sie können ohne weiteres die Länder unterstützen.Das tun wir auch. Derzeit haben Sie auch die Gelegenheit,bei der Produktsicherheitsrichtlinienumsetzung noch wei-tere Schritte zu gehen. Wir warten dabei auf Ihre weitereUnterstützung.Auch der Bereich Dienstleistungen wird sicherlichdemnächst diskutiert werden. Wir werden noch weitereSchritte unternehmen – und zwar gern mit der Oppositiongemeinsam –, weil mehr Transparenz auf dem Markt auchInnovationen und mehr Erfolg für deutsche Produkte ge-rade im Wettbewerb mit anderen Ländern bedeutet.Im Verbraucherschutz spielen die Siegel und Labelseine große Rolle für die Transparenz auf dem Markt. DasBiosiegel ist sehr wohl positiv zu erwähnen.
Der Erfolg auf dem Markt ist bereits sichtbar geworden.Durch diese Unterstützung haben wir eine Umsatzsteige-rung um 30 Prozent erreichen können. Die Ökofläche hatsich um 20 Prozent erhöht. Das ist ein riesiger Erfolg. Wirmöchten, dass dieses erfolgreiche Marktsegment nochvergrößert werden kann.
Als Letztes möchte ich die Labels im Bereich der kon-ventionellen Produktion – beispielsweise das QS – an-sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass auch dieses Kon-zept einen positiven Widerhall auf dem Markt findet, unddass auch die neuen Labels in anderen Bereichen wie dieHandy- und Energielabels erfolgreich sein werden.Labels, Verbraucherkennzeichnungen und Zertifizie-rungen bedeuten für die Verbraucher, dass sie Geld sparenkönnen und mehr Qualität erzielen können. Es ist dieseBundesregierung, die diese Möglichkeiten sehr offensivschafft.
Aber Verbraucherpolitik heißt nicht nur, die Verbrau-cher aufzuklären und ihnen Zugang zu Informationen zuverschaffen, sondern sie bedeutet auch Schutz, zum Bei-spiel wenn es um Kinder geht oder die Verbraucher inihren gesundheitlichen Rechten beeinträchtigt sein könn-ten. Auch auf diesem Gebiet sind wir weit fortgeschritten.Im Bereich Gentechnik – das habe ich gerade in derDiskussion gehört – haben wir erreicht, dass es zu einemMonitoring kommt.
Die gesamte Bundesregierung hat verhindert, dass es zueinem unkontrollierten Marktzugang von gentechnischveränderten Produkten kommt, und hat ein entsprechen-des Monitoring und eine wissenschaftliche Untersuchungdes Nutzens und der mit dieser Technologie verbundenenRisiken vorgeschaltet.
Die Bundesregierung und das BMVEL haben auchdafür gesorgt, dass in vielen anderen Bereichen des Ver-braucherschutzes – von den Azofarbstoffen bis zu denKinderspielzeugen – die Verbraucherinnen und Verbrau-cher besser geschützt sind. Sie achten zudem darauf, dassauch über den Lebensmittelbereich hinaus Schritte unter-nommen werden, die dem Verbraucherschutz oberste Pri-orität einräumen.An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Dis-kussion in den letzten Tagen und Wochen zurückkom-men. Es ging in erster Linie darum, dass Gesetze erlassenwerden, die aber nicht befolgt werden. Aus dieser Dis-kussion wurde ersichtlich – ich nenne die Stichworte„BSE-Tests“ und „Chloramphenicol“, insgesamt antibio-tische Rückstände –, dass die Opposition den Verbrau-cherschutz nur zur Instrumentalisierung benutzt.
Wir erleben es bei den BSE-Tests – das schockiert michimmer wieder, obwohl ich vielleicht mit den Jahren darangewöhnt sein sollte –, dass Gruppierungen – die Führervon Genossenschaftsvereinigungen genauso wie der Prä-sident des Deutschen Bauernverbandes – die Regierungenunter Druck setzen. Im Fall des Verbraucherschutzminis-ters Sinner war es die „Stern“-Geschichte. Es gab in derTat eine offene Einflussnahme auf den Verbraucher-schutzminister in Bayern, was die BSE-Tests und die Ver-kehrsfähigkeit bzw. nicht vorhandene Verkehrsfähigkeitvon Fleisch angeht. Im Fall der BSE-Tests und der Anti-biotikarückstände werden plötzlich Gesetzesverstöße ver-
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Ulrike Höfken22190
harmlost. Es gibt aber einen Unterschied: Im Fall der mitAntibiotikarückständen belasteten Shrimps gehen Ihnendie Verbraucherschutzanforderungen nicht weit genug.Hier verlangen Sie – das wäre Ihnen am liebsten – sogarden Sturz der Bundesregierung. Ich kann Ihnen nur sagen:Frau Künast hat konsequent gehandelt; denn sie hat sofortdie bestehenden Informationslücken beseitigt.
Wenn es aber um antibiotische Rückstände im Bereich desPflanzen- und Obstbaus geht, wenden Sie plötzlich andereMaßstäbe an. Ich möchte nicht missverstanden werden:Auch ich bin an einer Lösung der Probleme der Obst-bauern interessiert, die übrigens auf Ihre gesetzgeberi-schen Maßnahmen zurückgehen. Aber man kann nicht mitzweierlei Maß messen und die Bauern – Stichwort „AltesLand“ und die damit zusammenhängenden Verstöße ge-gen das Pflanzenschutzmittelrecht – in die unheilvolle Al-lianz aus mangelhafter Beratung und Kontrolle ziehenund sie bei Gesetzesverstößen bestärken.
Das darf nicht sein. Wenn man es mit dem Verbraucher-schutz ernst meint, dann darf man nur einen einzigenMaßstab anlegen. Das Motto lautet: Information, Kenn-zeichnung, Schutz und Partizipation der Verbraucher beigleichzeitiger Wahrung der Interessen der Wirtschaft. Diebestehenden Gesetze müssen eingehalten werden.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Denn
man kann nicht Gesetzesverstöße verharmlosen und
gleichzeitig erwarten, dass die Verbraucher das neue
Qualitätszeichen QS, das im konventionellen Bereich ein-
geführt wird, entsprechend würdigen. Die Verbraucher
werden dieses Qualitätszeichen nur dann zu würdigen
wissen, wenn sie sehen, dass die Gesetze ernst genommen
werden.
Danke schön.
Das Wort
hat jetzt unsere Kollegin Kersten Naumann von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Frau Künast, man kann sich natürlich al-les schönreden. Aber die Realitäten sehen völlig andersaus, als Sie sie gerade geschildert haben. Ich hoffe trotz-dem, dass Sie Ihre Träume Realität werden lassen können.Wir würden Ihnen dabei gerne helfen.
In einem Koalitionsantrag – daran kann ich mich nochgut erinnern – ist nachzulesen:Verbraucherschutz ist als durchgängiges Leitprinzipanzuerkennen und muss zur politischen Richtschnurbei allen Entscheidungen und Maßnahmenwerden …Wo ist dieses durchgängige Leitprinzip, wenn es um denSchutz vor Täuschung und die wirtschaftliche Übervor-teilung im Zusammenhang mit der Riester-Rente geht?Wo war es, als der Diskurs zur grünen Gentechnik wiedereröffnet wurde, sich die Bundesregierung aber bereits imVorfeld auf einen Schwellenwert von 1 Prozent geeinigthatte? Wo ist dieses durchgängige Leitprinzip, wennes um das Werbeverbot bei Tabak und Alkohol oder umdas Verbot des Rauchens auf öffentlichen Plätzen geht?Lang ist die Liste der schamlosen Abzockereien, gegendie nicht wirkungsvoll vorgegangen werden kann. Zahl-lose Gewinnspiele, ruinöse Immobiliengeschäfte und un-erlaubte Faxwerbung sind nur ein Teil dieser langen Liste.Seit gestern ist klar: Das geplante Verbraucherinfor-mationsgesetz wird den Wirtschaftsinteressen geopfert.Jetzt soll die Auskunftspflicht nur noch gegenüber Behör-den bestehen und nur noch für Lebensmittel gelten. DieWirtschaft, von den Versicherungen über den E-Com-merce bis hin zum Einzelhandel, setzt mit ihren riesigenWerbeetats die Trends. Sie hat den längeren Arm und be-stimmt, was wie in welcher Qualität und welche Informa-tionen auf den Markt kommen. Jährlich werden hierzu-lande über 30 Milliarden Euro für Werbung ausgegeben.Allein die Werbeausgaben im gesamten Tabakbereich be-trugen 1997 rund 45 Millionen Euro. Die Tabakindustriesollte diese Summe lieber in einen Gesundheitsfonds ein-zahlen, um betroffene Patienten und Arbeitsplätze im Ge-sundheitswesen zu retten.
Wenn man dann noch bedenkt, dass diese Werbekostenvon der Steuerschuld abgezogen werden können, dass aberfür eine unabhängige Verbraucherarbeit gerade einmal75 Cent pro Bürger – das sind rund 60Millionen Euro – anöffentlichen Mitteln zur Verfügung stehen, dann wird dieSchizophrenie der Sache deutlich.Verbraucherschutz heißt doch aber auch Verbrau-cheraufklärung. Bildung schützt am besten vor Irre-führung. Verbraucheraufklärung und -information sindeine staatliche Bringeschuld, die von der Wirtschaft zu fi-nanzieren ist.Wie sieht es zum Beispiel mit dem Schutz vonJugendlichen vor Unterhaltungsprodukten wie Videos,Computerspielen und TV-Thrillern nach Zielaltersgrup-pen aus? Längst ist nachgewiesen, dass ein Zusammen-hang zwischen medialer Gewaltdarstellung und zuneh-mender Jugendgewaltbereitschaft besteht. Auch ist be-kannt, dass trotz einer rechtlichen Altersregelung zurAlkoholabgabe ein wirklicher Schutz von Minderjährigenvor dem Kauf von Alkohol nicht besteht. Das beweist ein-mal mehr: Es sind vor allem die Verbraucherrechte im All-tag, gegen die regelmäßig verstoßen wird.
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Ulrike Höfken22191
Verbraucherrechte sind zwar in vielen Gesetzen bishin zum Grundgesetz verankert; Verbraucherschutz in derMarktwirtschaft durchzusetzen ist aber fast so aussichts-los wie der Versuch, mit dem Fahrrad einen Schnellzugeinzuholen.Da offensichtlich ist, dass Wirtschafts- und Verbrau-cherinteressen nicht in Einklang zu bringen sind, müssengesellschaftlich gewollte und für den Verbraucherschutzerforderliche Hygiene-, Umwelt-, soziale und wirtschaftli-che Standards gesetzlich geregelt werden. Selbstkontrolleund Selbstverpflichtung der Hersteller, bestimmte Stan-dards einzuhalten, sind keinesfalls ausreichend. Hier bleibtals einzig Erfolg versprechende Lösung eine verstärkte un-abhängige staatliche Kontrolle; Bund und Länder dürfendie ihnen obliegenden Inspektionen nicht dem Sparprinzipopfern. Praktisch würde dies bedeuten, in allen Unter-nehmen ab einer bestimmten Größe die gesellschaftlicheGütekontrolle einzuführen, die vom Unternehmen zu be-zahlen ist. Es kann nicht sein, dass in der Wirtschaftimmense Gewinne privatisiert werden, während derStaat, also auch die Bundesländer, und damit letztlich derSteuerzahler für die Kontrollaufgaben aufkommt.Deshalb sieht die PDS in folgenden Punkten dringen-den Handlungsbedarf:Erstens. Um die Rechte der Verbraucher zu stärken, be-darf es effizienter personeller und sachlicher Rahmenbe-dingungen für unabhängige Verbraucherarbeit. Für denVerbraucherschutz ist ein Kernhaushalt notwendig. Die-ser muss gesetzlich verankert werden; denn angesichtssteigender Anforderungen durch die Schuldrechtsmoder-nisierung, die Rentenreform, die Telekommunikation, dieEuroumstellung usw. hört man immer wieder: zu wenigPersonal, zu wenig Geld und zu wenig Sanktionsmög-lichkeiten.Zweitens. Verbraucherorganisationen und Bürgerini-tiativen müssen in allen relevanten politischen Gremienvertreten sein.
Wo auch immer Verbraucherrechte tangiert werden, sinddie Verbraucher zu befragen und in die Entscheidungeneinzubeziehen.Drittens. Bei der Liberalisierung und Privatisierungganzer Marktsegmente wie Telekommunikation, E-Com-merce, Gesundheitsdienstleistungen und -pflege sowieprivater Altersvorsorge müssen Bund und Länder dafürSorge tragen, dass Verbraucher am Markt gleiche Chan-cen erhalten. Neue Gesetze zur Anpassung an den EU-Markt, so beim E-Commerce und bei der Riester-Rente,sollen mehr Transparenz bei den Verbrauchern schaffen.Faktisch aber hat sich die Situation verkompliziert, weildie Verantwortung in den privaten Bereich verlagert wor-den ist.Viertens. Eine vorsorgende Verbraucherpolitik erfor-dert die Konzentration von Zuständigkeiten mit wirksa-men Einfluss- und Kontrollrechten wie einem suspensi-ven Vetorecht in der Verwaltung und im Parlament. Wederist die eindeutige Zuordnung der wesentlichen Zuständig-keiten mit der Reorganisation des gesundheitlichen Ver-braucherschutzes abgeschlossen noch ist die vorgeseheneZielstellung mit zwei neuen Institutionen als die beste Lö-sung anzusehen.Fünftens. Die konsequente Durchsetzung des Verursa-cherprinzips im Produkt- und Umwelthaftungsrechtwürde dazu beitragen, dass Reparatur- und Risikokostennicht wie bisher sozialisiert werden, das heißt, dass letzt-lich nicht mehr der Steuerzahler dafür aufkommt.Sechstens. Im Verbraucherinformationsgesetz sindeine Produkt- und Prozesstransparenz, die Sammelklage-befugnis für Verbraucherverbände sowie der öffentlicheZugang zu staatlichen Prüfergebnissen zu verankern. Esist auf keinen Fall nur auf den Lebensmittelsektor und aufdie Auskunftspflicht von Behörden zu beschränken.Siebentens. Bei der Neuausrichtung der Agrar- undErnährungspolitik müssen Lebensmittelproduktion und-hygiene nicht nur gesundheitliche Risiken ausschließen,sondern auch die Belange der Umwelt und ethischeWertvorstellungen, insbesondere was die grüne Gentech-nik betrifft, berücksichtigen.
Damit dem eingangs genannten Leitsatz der KoalitionRechnung getragen wird, muss der Schutz vor gesund-heitlichen und sozialen Risiken sowie rechtlichen undwirtschaftlichen Nachteilen der Verbraucher Vorrang vorwirtschaftlichen Kapitalinteressen haben; denn sonstbleibt alles nur Makulatur.
Das kann weder die Regierung noch die Opposition wol-len, noch wäre dies im Sinne der Verbraucherinnen undVerbraucher.Danke.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte KolleginWidmann-Mauz, es gibt im Schwäbischen ein Sprichwort
– dieses ist aber besonders wichtig –: Erst mit 40 wird derSchwabe gescheit. Bisher habe ich immer gedacht: Dasgilt für die Männer. Ich habe aber festgestellt – Ihr Re-debeitrag ist ein Beweis dafür –, dass das inzwischen auchfür die Frauen gilt – leider.
Ich will in Erinnerung rufen – der Schwabe und auchdie Schwäbin an sich sind manchmal sehr vergesslich –,dass das Jahr 2001 einen Wendepunkt in der Geschichtedes Verbraucherschutzes darstellt. Der BSE-Skandalwar der Höhepunkt einer Entwicklung. Da hilft keinLeugnen und kein Wegsehen. Weder die Musterknaben inBayern noch die Musterknaben in Baden-Württemberg
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Kersten Naumann22192
konnten sicher sein, dass BSE sie nicht erreicht. Sie muss-ten entdecken, dass sie nicht verschont geblieben sind. Alsin Großbritannien vor allem bei Schafen und Rinderndann noch die Maul- und Klauenseuche ausbrach, strebtedas Inferno einen vorläufigen Höhepunkt an.
Die abendlichen Bilder von den brennenden Scheiter-haufen haben das Vertrauen der Verbraucher in die Si-cherheit und in die Qualität landwirtschaftlicher Produktenachhaltig erschüttert und – auch bei uns – eine Schock-welle ausgelöst, die die gesamte Lebensmittelbranche, dieLandwirtschaft, die Ernährungsindustrie und den Handel,in Aufruhr versetzte und die Verbraucherpolitik revolutio-nieren wird, zum Teil sogar schon revolutioniert hat. Einsolches Lob haben nicht wir uns ausgesprochen, sondernHans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts in Mün-chen. Hans-Werner Sinn hat uns attestiert, dass wir auf dieBSE-Krise durch die Neustrukturierung des Ministeriumsund durch die Schaffung neuer rechtlicher Grundlagenentschlossen reagiert haben, um die gläserne Produktionsicherzustellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,was entdecken wir denn da auf einmal?
Auf einmal erklären auch Sie, die Sie nicht mehr in Re-gierungsverantwortung sind, ganz vollmundig, dass Ver-braucherschutzpolitik fester Bestandteil der sozialver-pflichteten marktwirtschaftlichen Ordnung ist. Das mussman sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich kannmir darüber nur verwundert die Augen reiben. Wo warendenn Ihre Konzepte? Wo war denn Ihre sozialver-pflichtete marktwirtschaftliche Ordnung, Ihre entspre-chende Verpflichtung in den letzten 16 Jahren, als Sie diepolitische Verantwortung getragen haben?
Fehlanzeige auf der ganzen Linie!
Wir, die rot-grüne Bundesregierung, haben Bewegungin die Verbraucherpolitik gebracht; wir haben den Re-formstau aufgelöst.
Mit der Schaffung des Bundesministeriums für Ver-braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hatder Verbraucherschutz in Deutschland erstmals Kabi-nettsrang erhalten.
Die neue Stellung des Verbraucherschutzes wollen wirSchritt für Schritt, kontinuierlich festigen und ausbauen.
Die Verbraucherverbände bescheinigen uns, dass wir imBereich der Lebensmittelsicherheit und der Agrarpolitikhoffnungsvolle Signale gesetzt haben. Durch die Moder-nisierung des Schuldrechts haben wir eine Verbesserungder Gewährleistungsrechte erreicht.Jetzt an die Adresse der FDP: Wenn Glühbirnen schnellverglimmen, wenn Anzüge schon nach geringer Benut-zung durchgescheuert erscheinen, wenn Damenstrümpfebei der ersten zaghaften Annäherung eine Laufmaschebekommen, wenn Kühlschränke rosten oder wenn dasGulasch in der Pfanne schrumpft, dann sind die entspre-chenden Produkte Fälle versteckter Qualitätsmängel.
Frau Kopp, der liebe Markt regelt eben nicht alles. Es giltleider noch immer wirklich oft: Mehr Schein als Sein.
Der Laschheitswettbewerb wird bedauerlicherweise ge-stärkt.Auch das in den letzten Jahren immer wässriger ge-wordene Obst, das aufgeblasene, geschmacklose Ge-müse, das Fleisch der mit Hormoncocktails gefüttertenSchweine, der labbrige Schinken, die holländischenRetortentomaten, die furnierten Pressspanmöbel oder dieSahne, die nach dem Schlagen zusammenfällt, finden lei-der ihre Märkte, also die Märkte der Güter mit Quali-tätsmängeln.Es ist ganz verwunderlich oder auch nicht verwunder-lich, dass gerade die Krise auf dem Lebensmittelmarktdazu geführt hat, dass drei Wissenschaftler einen Nobel-preis erhalten haben, nämlich George Akerlof, MichaelSpence und Joseph Stiglitz, die von dem Markt der Le-mon-Güter, der sauren Zitronen, reden und mit ihrenBeiträgen zur Theorie der asymmetrischen Informationeine Begründung für den staatlichen Verbraucher-schutz geliefert haben.
Alle hier im Hause beschwören den mündigen Bürger,den mündigen und aufgeklärten Verbraucher. Richtig,auch wir wollen dieses. Der Staat soll den Bürger nichtgängeln, der Bürger will den Staat nicht vor der Nase ha-ben, er wünscht sich ihn an seiner Seite. Der Verbraucherund die Verbraucherin sind die Schlüsselfiguren für un-sere Verbraucherpolitik.Aber in gleicher Weise – Herr Merz, hören Sie gut zu –,wie BSE und MKS aus den Schlagzeilen der Medien ver-schwunden sind, haben ungeachtet der BSE-Fälle derRindfleischkonsum und die Preise fast wieder das Vor-jahresniveau erreicht.
Also warum eigentlich das Angebot ändern, wenn dieNachfrage stimmt? So werden Sie fragen, und das fragensich auch die Landwirte und der Handel. Es besteht dochgar keine Notwendigkeit zu einer Veränderung. Der
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Ute Kumpf22193
Verbraucher ist an dieser Stelle widersprüchlich. UnsereEinschätzung und Bewertung ist: Veränderungen könnensich auf Dauer nur dann durchsetzen, wenn der Verbrau-cher informiert und befähigt wird, seine Macht tatsächlichmit dem Einkaufskorb einzusetzen, und wenn er dies auchrational tut.Der Werbung kommt bei der Überwindung von Infor-mationsdefiziten zweifelsohne eine wichtige Rolle zu,aber informative Werbung ist selten. Informative Wer-bung wird oft durch Imagewerbung ersetzt. Die Mittel fürImagewerbung wären aber oft besser eingesetzt, um Pro-dukte insgesamt zu verbessern. Deswegen setzen wir aufTransparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle und Nach-haltigkeit. Das sind Schlagworte, Frau Widmann-Mauz,die inzwischen auch die CDU abgeschrieben hat.Staatliche Verbraucherpolitik muss in erster Linie aufAufklärung setzen. Nimmt die Lebensmittelaufsicht bei-spielsweise eine Salami vom Markt, so darf sie nach der-zeitiger Rechtslage zwar über die Tatsache an sich infor-mieren, aber nicht über den Namen des Produktes oderdes Herstellers. Auch Informationen darüber, welche Fir-men regelmäßig gegen das Lebensmittelrecht verstoßen,sind derzeit noch geheime Verschlusssache.Ein aufgeklärter Verbraucher und eine aufgeklärte Ver-braucherin sind zunächst aber auf die umfassende Infor-mation angewiesen. Daher muss ein Verbraucherinfor-mationsgesetz den öffentlichen Zugang zu staatlichenPrüfergebnissen und Bewertungen sicherstellen.
Dieses Ziel verfolgen wir mit unserem Verbraucherinfor-mationsgesetz und mit dem Gesetz zur Neuorganisationdes gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Mit Geheim-niskrämerei ist dann Schluss. Verbraucherinnen und Ver-braucher erhalten bei Lebensmitteln und Bedarfsgegen-ständen freien Zugang zu Produktinformationen, die denBehörden vorliegen. Das gilt für Bund, Länder und Ge-meinden. Das gilt auch für Informationen über die Be-schaffenheit oder die Herstellungsbedingungen und fürHinweise darauf, ob Produkte Allergene enthalten oder obsonstige Untersuchungsergebnisse vorliegen.Freier Zugang zu Information heißt auch, dass dieBehörden darüber hinaus das Recht erhalten, von sich ausüber bestimmte Sachverhalte aktiv zu informieren. Auchbeim Verstoß gegen verbraucherschützende Vorschriftenwerden die Behörden Ross und Reiter und schwarzeSchafe benennen können. Das ist nicht nur im Sinne derVerbraucher; daran müssen auch die Unternehmen, diesich vorschriftsmäßig verhalten, die eine weiße Weste ha-ben und sich von Machenschaften anderer abgrenzen wol-len, ein Interesse haben.
Bei den Diskussionen im Bundesrat wurde aus Baden-Württemberg getönt, auf dieses Gesetz könne man ver-zichten, es gebe in Baden-Württemberg ja ein besseres.Weit gefehlt, liebe badischen und schwäbischen Kolle-gen. Unser Gesetz – es ist zwar in Hochdeutsch verfasst,aber man kann es ins Schwäbische übersetzen – ist bes-ser, denn in dem baden-württembergischen Gesetz hatder Verbraucher keinen allgemeinen Anspruch auf Infor-mation.
Außerdem muss in Baden-Württemberg vor einer Veröf-fentlichung noch eine Hürde genommen werden: Es mussnachgewiesen werden, ob überhaupt ein öffentliches Inte-resse an der Veröffentlichung besteht. Als Drittes mussnoch darüber Beweis geführt werden, dass der Veröffent-lichung keine betrieblichen Belange entgegenstehen.Diese Hürden und Stolpersteine gibt es bei unseremVerbraucherinformationsgesetz nicht. Wir reden nicht nurdarüber, sondern wir handeln auch. Wir schaffen freienZugang zur Information.
Eine Kritik, die wir ernst nehmen, kommt dagegen ausden Reihen der Verbraucherzentralen. Ihnen geht das Ge-setz nicht weit genug. Auch Unternehmen sollten zur In-formation verpflichtet werden. Diese Forderung konntenwir in diesem ersten Schritt leider nicht realisieren, aberwir werden sie nicht aus den Augen verlieren.
– Das habe ich auch nicht behauptet. Es ist immer schoneine Binsenweisheit gewesen, dass man, um nach Pekingoder auf den Gipfel eines Berges zu kommen, erst einmalunten beginnen und den ersten Schritt tun muss.Die Unternehmen können aber auch von sich aus be-weisen, wie ernst sie die Verbraucherinteressen und dieQualität ihrer Produkte nehmen, indem sie sich eineSelbstverpflichtung auferlegen und entsprechende Veröf-fentlichungen von sich aus organisieren.
Dass die Unternehmen gut beraten sind, ihre Geheim-niskrämerei aufzugeben, verdeutlicht ein Vorfall bei demZigarettenhersteller Philip Morris. Rauchen an sich istschon nicht besonders gesund, aber die Bedingungen, un-ter denen Zigaretten hergestellt werden, lassen schongrößte Bedenken aufkommen. Laut „taz“ vom 11. Märzsoll Philip Morris wissentlich 40 Jahre lang Zigaretten mitdefekten Filtern verkauft haben. Zu diesem Schluss kom-men Autoren des Roswell Park Center Cancer Institute inBuffalo, die Forschungs- und Medizindatenbanken desTabakherstellers durchforstet haben.
Alle Dokumente beinhalteten den Terminus Fall-out,mit dem plastikartige Fasern beschrieben wurden, die ander Schnittstelle des Filters entstehen und Krebs auslösenkönnen. Die Autoren vermuten, dass der Defekt bei derHochgeschwindigkeitsherstellung entstehe. Pro Sekundewerden nämlich 250 Zigaretten produziert. Das heißt,dass die Unternehmen nicht nur gehalten sind, über ihreProdukte an sich zu informieren, sondern auch darüber,
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Ute Kumpf22194
welche gesundheitsschädigenden Wirkungen von derHerstellung ausgehen können.
Zum Schluss noch einmal zurück zu unseren Nobel-preisträgern und zur Frage, ob sich staatlicher Verbrau-cherschutz rechnet, legitim ist und ob er auch entspre-chende Wirkungen zeigen kann. Stiglitz, einer derPreisträger und ehemaliger Chefökonom der Weltbank,hat schon früh in seinen Schriften darauf hingewiesen,dass sich informierte Verbraucher in einem Markt mitQualitätsmängeln nicht nur selbst helfen, indem siebessere Kaufentscheidungen treffen können, sondern siedarüber hinaus auch einen positiven externen Effekt aufandere Verbraucher ausüben. Durch ihre Kaufentschei-dungen ermöglichen informierte Verbraucher anderenweniger informierten Verbrauchern, vom Preis auf dieQualität zu schließen. Dies, so der Ifo-Präsident Sinn,rechtfertigt massive staatliche Unterstützungen – hörenSie gut zu, Frau Kopp – für Institutionen, die Informa-tionen über objektve Produkteigenschaften sammeln undverbreiten. Damit schließt sich nämlich der Kreis.Eine vorsorgende Verbraucherpolitik ist ein positiverStandortfaktor.
Wenn die Nachfrageseite gestärkt wird, der Verbraucherzu einem Verbündeten für Qualität auf dem Markt wird,dann können nachteilige Folgen des Wettbewerbs für dienationale Wirtschaft sowie für die sozialen, ökologischenund kulturellen Lebensbedingungen abgewehrt werden.Daran werden wir Schritt für Schritt arbeiten, bis wir andiesem Ziel angekommen sind.Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! In Anlehnung an eineFernsehsendung kann man nach dieser Regierungs-erklärung nur sagen: Was nun, Frau Künast? Was ist vonIhren flotten Sprüchen, die Sie vor einem Jahr machten,übrig geblieben?Die gestrige Tagespresse gibt Antworten darauf. In der„Berliner Zeitung“ steht: „Künasts Verbrauchergesetzwird abgespeckt“. Die „Welt“ schreibt:Künast setzt schärferen Verbraucherschutz nichtdurch.Weiter heißt es:Dabei ist von der ursprünglichen Fassung offenbarnur noch wenig übrig geblieben.Frau Künast, Sie gehen zwar forsch und zum Teil mitVerleumdungen, so wie im „Greenpeace Magazin“ imvorigen Jahr geschehen, gegen die Bauern vor.Wenn aberdas Kanzleramt die Industrie vor zu viel Informations-pflicht schützt, dann geben Sie klein bei und sind plötzlichmit einer Selbstverpflichtung der Wirtschaft zufrieden.
Noch verheerender ist das Urteil in der „FAZ“. Dortheißt es gestern:Der Paradigmenwechsel im Künast-Ministerium er-setzt Wissenschaft durch Okkultismus.Treffender kann man die Agrarwende nicht beschreiben.
Dazu passt, dass der Wissenschaftliche Beirat im No-vember 2001 – dies wurde von Kollegin Widmann-Mauzbereits angesprochen – geschlossen zurückgetreten ist.Sachverstand, Frau Ministerin, ist bei Ihnen nicht gefragt.Erwünscht ist bei Ihnen Hofberichterstattung, um der rot-grünen Argarwende zu huldigen.Die „FAZ“ schreibt weiter:Wissenschaftliche Argumente zählen nicht, das Sa-gen haben Ideologen.
Genau das beschreibt die Situation der deutschen Ver-braucherschutzpolitik.Auch IhreWortwahl, Frau Ministerin, passt zu demAr-tikel in der „FAZ“, in demvonOkkultismusdieRede ist. ImFrühjahr vorigen Jahres sprachen Sie vom magischenSechseck derAgrarwende. Frau Ministerin, Magie hat mitZauberei zu tunundZauberei bedeutet,mit allenmöglichenTricks etwas vorzutäuschen. Sie, FrauMinisterin, täuschenmit Ihrer Politik die Verbraucher und gefährden die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft. FrauKünast, Ihre flotten Sprüche sind nur Schall und Rauch.
Das sehen auch die Wähler so. Die Kommunalwahl,die in Bayern stattgefunden hat, war die 19. Wahl inFolge, bei der die Grünen Stimmen verloren haben.
Die 20. – dann können Sie Jubiläum feiern – wird inSachsen-Anhalt stattfinden. Am 22. September schließtsich dann mit der 21. Niederlage Ihr magisches Dreieck.
Erklären Sie bitte einmal den Verbrauchern – damitkomme ich jetzt zu einer Sachaussage –, was das Füt-terungsverbot von lebensmitteltauglichem tierischenFett bei Kälbern in Deutschland mit dem Verbraucher-schutz zu tun hat. Wenn die Verfütterung dieser Fette eine
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Ute Kumpf22195
Gefahr für unsere Verbraucher darstellt, ist es doch un-verantwortlich, wenn Kalbfleisch aus Belgien, Hollandoder Frankreich bei uns verkauft werden darf. In diesenLändern wird nämlich genau das gleiche tierische Fettverwendet.Was nun, Frau Künast? Verbieten Sie sofort den Importvon Kalbfleisch nach Deutschland oder lassen Sie inDeutschland die Beimischung von tierischem Fett inMilchaustauschern wieder zu?
Wir lassen nicht zu, dass Sie sich bei diesem Themadurchmogeln.Mit der jetzigen Regelung vertreiben Sie dieKälbermast aus Deutschland. Ist es im Sinne des Tier-schutzes und des Umweltschutzes, wenn Kälber ausDeutschland in das europäischeAusland transportiert wer-den und das Fleisch dieserTiere von dort wenig später wie-der in die deutschen Supermärkte gelangt? An dem Bei-spiel sieht man, wie weit Sie von der Realität entfernt sind.
Bauern, die ihren Beruf erlernt haben, werden ge-zwungen, einen Sachkundenachweis nach dem anderenzu erbringen. Wichtiger wäre es, wenn auch Minister, be-vor sie ihr Amt antreten, einen Sachkundenachweis er-bringen müssten.
Damit wäre uns einiges an verbraucher- und agrarpoli-tischer Zauberei in Deutschland erspart geblieben.Frau Verbraucherschutzministerin, wie ist es mitInhaltsstoffen in Lebensmitteln, die in Deutschland ver-boten, in anderen EU-Ländern jedoch zugelassen sind?Wo ist Ihr Aufschrei, wenn Lebensmittel aus anderen EU-Ländern mit bei uns verbotenen Inhaltsstoffen in Deutsch-land verkauft werden? Was nun, Frau Künast? Werden Siedie Importe solcher Lebensmittel im Interesse desVerbraucherschutzes verbieten oder ist weiterhin Schwei-gen im Walde?Ist es nicht eine Verhöhnung der deutschen Obst- undGemüsebauern, wenn Obst und Gemüse aus anderenEU-Ländern hier in Deutschland verkauft werden darf,das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt ist, die inDeutschland verboten sind? Genau in der Woche, in derwir dieses Thema im Verbraucherausschuss behandelt ha-ben, sind auf der Fraktionsebene im Reichstag Äpfel ausItalien verteilt worden. Was nun, Frau Künast? Sind diesePflanzenschutzmittel eine Gefahr für die Verbraucheroder nicht?
Was ist mit den riesigen Tiermehlbeständen in derEuropäischen Union? Es besteht doch die Gefahr, dassdiese Bestände gehortet werden, bis die EuropäischeUnion die Verfütterung von Tiermehl an Schweine undGeflügel wieder zulässt. Graefe zu Baringdorf hat davonbereits gesprochen.
Wann werden Sie im Ministerrat einen Beschluss durch-setzen, dass diese Altbestände schnellstens beseitigt wer-den müssen? Sonst müssen wir nach der Aufhebung desFütterungsverbotes wieder fragen: Was nun, FrauKünast?
Die „FAZ“ wird dann eventuell schreiben, dass dasProblem mit Okkultismus nicht zu lösen ist. Dazu sindSachpolitik und Durchsetzungsvermögen in Brüssel ge-fordert. Beides vermissen Verbraucher und Erzeuger beider deutschen Verbraucherschutzministerin.Nicht nur drei deutsche Tageszeitungen setzen sich,wie eingangs bemerkt – die Aufzählung hätte auch belie-big fortgesetzt werden können –, kritisch mit der Ver-braucherschutzpolitik der rot-grünen Bundesregierungauseinander. Noch vernichtender ist das Urteil von Ex-Agrarminister Funke. In einer Pressemitteilung vom23. Januar 2002 heißt es, er lasse kein gutes Haar an sei-ner Nachfolgerin. Er bilanziert, Frau Künasts ganzesKonzept sei unrealistisch. Es würden unberechtigterweiseÄngste bei den Verbrauchern geschürt. Die deutscheLandwirtschaft verliere an Wertschöpfung und Arbeits-plätzen. Er meint auch, vieles könne er nur noch ironischkommentieren.Ein vernichtendes Urteil von Herrn Funke. Doch wo erRecht hat, hat er Recht, auch wenn er der SPD angehört.
Selbst Peter Struck hat in Sachsen-Anhalt einige For-derungen der grünen Ministerin als abenteuerlich be-zeichnet.In einem freien Markt in Europa werden dem Verbrau-cherschutz nationale Alleingänge nicht gerecht. DieCDU/CSU tritt dafür ein, den Verbraucherschutz europa-weit gleichrangig zu verbessern. Dazu sind statt flotterSprüche in Deutschland sachbezogene Verhandlungen inBrüssel notwendig. Auch für Importe aus Drittländernsind die gleichen Standards im Verbraucherschutz erfor-derlich, wie sie der deutschen Landwirtschaft abverlangtwerden.
Wer sich nur auf Kosten einer Minderheit politisch pro-filiert – wie Sie das tun, Frau Ministerin –, vertreibt dieAgrarproduktion aus Deutschland und erreicht damitnicht mehr, sondern weniger Verbraucherschutz.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein letzter Satz: Die CDU/CSU will einen Verbraucherschutz, aufbauend auf wis-senschaftlichen Erkenntnissen, mit den Bauern und nicht
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einen ideologisch ausgerichteten Verbraucherschutz ge-gen die Bauern.
Kein Berufsstand hat an einer verbraucherorientierten Le-bensmittelerzeugung mehr Interesse als unsere Bauernselbst. Nur zufriedene Verbraucher bleiben auch zufrie-dene Kunden.Danke schön.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt von Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Deß stellthier die Frage,
was die Kälbermast mit dem Verbraucherschutz zu tunhat. Wer diese Frage nach dem BSE-Skandal noch stellt,der hat anscheinend überhaupt nicht verstanden, worumes beim Verbraucherschutz geht.
Ich habe in Ihrem ganzen Redebeitrag nur Polemikgehört,
aber keinen einzigen eigenständigen Vorschlag,
wie die Verbraucher in Zukunft besser geschützt werdensollen.Fakt ist: Sie haben den Verbraucherschutz als Poli-tikfeld überhaupt noch nicht erobert. Fakt ist: Wir habenden Verbraucherschutz in einem Ministerium zusammen-gefasst und damit gestärkt. Fakt ist: Dies ist die erste Re-gierungserklärung im Deutschen Bundestag zum ThemaVerbraucherschutz.
Fakt ist: Die Verbraucher haben in der Person von RenateKünast im Parlament und in der Regierung erstmalig eineStimme.
Worum geht es? Es geht beim Verbraucherschutz imPrinzip um einen Dreiklang: Erstens. Die Verbrauchermüssen die freie Wahl haben. Darauf komme ich nochzurück. Zweitens. Die Verbraucher müssen an Informa-tionen herankommen können, um in ihrem Interesse sach-kundig entscheiden zu können.
Drittens. Der Staat ist dafür verantwortlich, die Gesund-heit der Verbraucher zu schützen und außerdem denSchutz vor Betrug zu gewährleisten. Das sind die dreiSäulen des Verbraucherschutzes, für die sich RenateKünast zusammen mit dem Verbraucherschutzministe-rium verantwortlich fühlt.Herr Deß, ich kann nur sagen: Ich habe in die Sach-kompetenz von Renate Künast als Verbraucherschutz-ministerin tausendmal mehr Vertrauen – wenn man sieht,wie beliebt Renate Künast ist, dann muss man sagen: auchdie Bürger –
als in Ihren ehemaligen Landwirtschaftsminister. Sie habendamals den Dicksten aus Ihrer Fraktion, der am engsten mitden Lobbyisten der Bauernschaft verbunden ist, zum Land-wirtschaftsminister gemacht.
Spätestens seit der BSE-Krise konnte man sehen, dass erdie Interessen der Verbraucher nicht vertreten hat.
Zum Verbraucherschutz gehört, dass die Verbrauchereine Wahl haben.
Wir haben die Liberalisierung bestimmter Märkte schonhinter uns. Wir können uns doch noch daran erinnern, wiebefreit man sich gefühlt hat, als man den Telefondienst-leister selbst wählen konnte. Dieser Wettbewerb hat zuweit gehenden Preisnachlässen bei den Telefontarifen ge-führt.Es gibt jetzt auch die Liberalisierung des Energie-marktes. Auf dem Papier haben wir zwar eine 100-pro-zentige Marktöffnung. Aber wenn man sich die Zahlenanschaut, wie groß die faktische Öffnung des Energie-marktes ist – ich habe die entsprechenden Zahlen aus ei-ner Quelle der EU –, dann zeichnet sich folgendes Bild ab:Finnland 20 bis 30 Prozent, die Niederlande 10 bis 20 Pro-zent, Großbritannien 40 bis 50 Prozent. In Deutschlandhaben wir eine faktische Marktöffnung von nur 5 bis10 Prozent. Das heißt, dass der Verbraucher in diesem Be-reich immer noch nicht die freie Wahl bei den Strom-lieferanten hat.Je kleiner der Kunde ist, umso mehr muss bei der Li-beralisierung darauf geachtet werden, dass die Interessen
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des Verbrauchers berücksichtigt werden. Dass die Groß-industrie bei der Liberalisierung ihre Interessen durchset-zen kann, ist einleuchtend. Sie tut das auch. Es ist aberüberhaupt nicht gewährleistet, dass sich der einzelneKunde durchsetzen kann. Dies im Auge zu haben gehörtzum Verbraucherschutz dazu.
Auf der Tagesordnung steht noch die Novellierung desEnergiewirtschaftsgesetzes. Wir haben darauf gedrängt,dass hier nicht nur der Gasbereich berücksichtigt wird,sondern dass in diesem Zusammenhang auch über Stromgeredet wird. Die Verbändevereinbarung muss endlichverrechtlicht werden, damit auch der einzelne Kunde inder Lage ist zu klagen. Wir wollen, dass das Kartellamt inseiner Funktion durch die Möglichkeit des Sofortvollzugsgestärkt wird. Im Zweifelsfall soll nicht erst der kleineVerbraucher den großen Stromkonzern verklagen, weil erdann drei, vier oder fünf Jahre warten und viel Geld aus-geben muss, um sein Recht zu bekommen. Wir wollenvielmehr, dass das Kartellamt eine Schutzfunktion hat undquasi eine Regulierungsbehörde in Deutschland darstellt,damit der Verbraucher schnell und zügig zu seinem Rechtkommt.
Dazu gehört auch – Renate Künast und auch andere ha-ben das bereits angesprochen –, dass man dafür sorgt, dasses auf diesen Märkten eine Vielfalt der Akteure gibt. Wennes nämlich nur zwei oder drei Anbieter gibt, dann hat mankeine freie Wahl. Die andere Seite ist also, für die Vielfaltder Akteure und damit für Wahlfreiheit zu sorgen. Des-wegen sind Fusionen in diesen Märkten – Renate Künasthat es angesprochen – unter dem Aspekt der Verbraucher-schutzinteressen durchaus kritisch zu betrachten. Wenndas Kartellamt zum Beispiel bei der Fusion von Eon undRuhrgas sagt, hier entstehe ein marktbeherrschender Kon-zern im Gas- und Strombereich, dann ist unter dem Aspektder Verbraucherschutzinteressen ein sehr kritischer Blickdarauf zu werfen.
Im Übrigen habe ich gehört, dass Herr Rexrodt dieseFusion begrüßt. Zugleich ist er – das halte ich in diesemZusammenhang für sehr interessant – im Vorstand einerPR-Agentur, die BP vertritt. BP hat aber ein Interesse andieser Fusion. Die Liberalität scheint also dann auf-zuhören, wenn der schnöde Mammon beginnt.
Wichtig ist Transparenz. Im Hinblick auf die Ener-giemärkte ist von Bedeutung, dass die Bürger wissen, wo-her ihr Strom kommt. Der Strom aus der Steckdose hatkeine Farbe. Daher unterstützen wir die EuropäischeUnion in ihren Bemühungen um den Aufbau eines Zerti-fizierungssystems, das die Voraussetzung dafür ist, dassman wählen kann, ob man Atomstrom, Strom aus erneu-erbaren Energien, einen durchschnittlichen Strommixoder Strom aus der Region kauft. Auch dies ist Teil derVertretung von Verbraucherinteressen.In diesem Zusammenhang muss ich einer meiner Vor-rednerinnen leider widersprechen, die behauptet hat, dasswir die Energieberatung abgebaut hätten.
Das stimmt schlichtweg nicht. Im Jahr 2002 haben wircirca 15 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt,6 Millionen DM mehr als im Jahre 2001.
Angesichts der knappen Haushaltskassen ist das eine be-achtliche Steigerung der Förderung der Energieeinspar-beratung; dies zeigt, dass wir ihr einen besonders wich-tigen Stellenwert beimessen.
Dasselbe gilt für die Unterstützung der Verbraucher-beratung insgesamt. Der Haushaltsansatz für den Dach-verband lag im Jahr 2000 bei 8,5 Millionen Euro, imJahr 2001 bei 9,3 Millionen Euro und im Jahr 2002 bei11,5 Millionen Euro. Diese Stärkung der Verbraucher-beratung zeigt, dass der Verbraucherschutz durch dasVerbraucherschutzministerium in Parlament und Kabinettan Bedeutung gewonnen hat.Ich danke Ihnen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Der Titel Ihrer Regierungserklärung„Auf dem Weg in eine verbraucherorientierte Marktwirt-schaft“ macht wenig Sinn, Frau Künast. Eine Marktwirt-schaft, die Angebot und Nachfrage in Einklang bringt, istautomatisch verbraucherorientiert. Marktwirtschaft bein-haltet bereits Verbraucherschutz.
Insofern kann ich heute Morgen nur staunen; denn manhat den Eindruck, das Thema Verbraucherschutz sei etwasganz Neues. In Wirklichkeit ist es fast so alt wie Methu-salem. Deshalb brauchen wir keine Worthülsen wie „ver-braucherorientierte Marktwirtschaft“. Vielmehr brauchenwir ein schlüssiges Konzept für einen ganzheitlichen Ver-braucherschutz.
Alles, was bislang an Vorschlägen aus dem Verbrau-cherschutzministerium bekannt geworden ist, zeigt, dasssich Verbraucherschutz nach den Vorstellungen von FrauKünast auf den Bereich der Lebensmittelsicherheit be-schränkt.
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Michaele Hustedt22198
Was ist denn diese so genannte Neuorganisation desgesundheitlichen Verbraucherschutzes anderes als dasbloße Durcheinanderwürfeln bereits bestehender nachge-ordneter Einrichtungen des BMVEL?
Sehr geehrte Frau Künast, die Bürger haben sich mehrals das bloße Auswechseln irgendwelcher Türschilder er-hofft: „Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmit-telsicherheit“ statt „Bundesamt für gesundheitlichen Ver-braucherschutz und Veterinärmedizin“. Und das soll eineNeuorganisation des Verbraucherschutzes sein? WennIhnen nicht mehr einfällt, ist das ein politischer Offen-barungseid.
Sie hätten doch nur die Vorgaben des Von-Wedel-Be-richtes umsetzen müssen. Aber nicht einmal dazu hat esgereicht. Im Gegenteil: Die Vorschläge der Bundesregie-rung stehen den in dem Von-Wedel-Gutachten erhobenenForderungen zum Teil diametral entgegen. Deshalb habensich auch die Wissenschaftler des BgVV in einem offenenBrief gegen Ihre Vorschläge für eine Neukonzeption desVerbraucherschutzes ausgesprochen. Wenn Sie sich schonden konstruktiven Vorschlägen der Opposition verschlie-ßen, sollten Sie zumindest auf Ihre Mitarbeiter hören,Frau Künast.
Wie wollen Sie die von Ihnen gewünschten strukturel-len Änderungen umsetzen, wenn Sie für Ihre eigenen Mit-arbeiter nur noch über offene Briefe zu erreichen sind?Wie kommt es, dass Sie trotz der Kompetenz Ihrer Mitar-beiter nicht in der Lage sind, ein schlüssiges Konzept füreine effiziente Neuorganisation des gesundheitlichen Ver-braucherschutzes vorzulegen?
Ihre bisherigen Vorschläge, verehrte Frau Künast, füh-ren nicht zu einer Neuorganisation; sie stellen ein staat-liches Bürokratieförderprogramm dar.
In vier Jahren der Regierungsverantwortung sind die Grü-nen zu regelrechten Ärmelschonerfetischisten geworden.Immer dann, wenn die Grünen an die Lösung eines Pro-blems herangehen, steht am Ende ein neues Behörden-ungetüm. Das bringt nicht mehr Umwelt-, Gesundheits-oder gar Verbraucherschutz. Nach grüner Philosophie solles wohl zeigen, dass man „etwas gemacht“ hat. Der Staatbraucht nach vier Jahren grüner Bürokratiemast dringendeine Entschlackungs- und Abmagerungskur.
Die FDP ist da die geeignete Diätassistentin.Ein Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel mitsage und schreibe vier Einvernehmensbehörden führt zueinem definitiven Bürokratie-Overkill. Frau Künastwird in ihrer Bürokratieverliebtheit nur noch von ihremgrünen Kollegen Jürgen Trittin übertroffen. Jürgen Trittin,der Heilige Bürokratius in Person, Schutzpatron allerBürokraten,
bringt es bei der Umsetzung der EU-Biozid-Richtlinie so-gar auf sieben beteiligte Behörden. Das Fatale dabei ist,dass diese Bürokratieexzesse nicht ein Mehr an Verbrau-cherschutz bringen. Sie kosten vor allem Geld, und zwardas Geld der Verbraucher. Marktwirtschaft und Verbrau-cherschutz sind kein Widerspruch, Bürokratie und Ver-braucherschutz aber sehr wohl.
Ein schlanker Staat ist für die FDP auch eine Form vonpraktiziertem Verbraucherschutz. Das Umweltbundesamtblockiert bereits heute die Zulassung von Pflanzenschutz-mitteln. Das Trauerspiel um die Zulassung von Plan-tomycin gegen den Feuerbrand im Obstbau hateindrucksvoll die Ineffizienz des deutschen Zulassungs-systems belegt. Dabei haben wir zurzeit nur zwei betei-ligte Behörden. Sich vorzustellen, wie es erst mit vierEinvernehmensbehören sein wird, überlasse ich IhrerFantasie.
Frau Kol-
legin Sehn, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja.
Anstatt, wie im Von-Wedel-Gutachten gefordert, eine
klare Struktur aufzubauen, schafft Frau Künast ein regel-
rechtes Behörden- und Kompetenzwirrwarr. Das ist kein
Verbraucherschutz, das ist eine institutionalisierte Form
der Verbraucherverunsicherung.
Frau Kol-
legin Sehn!
Ich komme zum Schluss.
Die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbrau-cherschutzes könnte ein Wendepunkt in der Verbraucher-politik sein. Sie könnte ein Beleg dafür sein, wie diePolitik Strukturen sinnvoll zusammenführt. Sie könntedamit zu einem Sinnbild eines schlanken, modernen Staa-tes werden. Die Bundesregierung ist offensichtlich außer-stande, diese Chance zu nutzen. Echter Verbraucherschutzist deshalb, die Bürger unseres Landes vor dieser ver-brauchten Regierung zu schützen.Danke.
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Marita Sehn22199
Als nächs-
ter Redner hat das Wort der Kollege Peter Bleser von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Eine Umfrage hat ergeben, dass diemeisten Menschen neben der Medizin die Ernährung alsmaßgebend für den Erhalt ihrer Gesundheit ansehen. Esist also verständlich, dass Väter und Mütter höchst sen-sibel reagieren, wenn Lebensmittelskandale bekannt wer-den oder die Qualität von bestimmten Lebensmitteln inZweifel gezogen wird.Die Lebensmittelskandale der letzten drei Jahre habendie Menschen misstrauisch und unsicher gemacht. Wir,die CDU/CSU, nehmen die Sorgen der Menschen, geradewenn es um die Qualität unserer Nahrungsmittel geht,sehr ernst. Die Bundesregierung und Sie, Frau Künast, ha-ben die Verängstigung hingegen genutzt, um eine Ihrerlinks-grünen Ideologie entsprechende Agrarwende zu be-gründen.
Der Bundeskanzler und Sie haben von „Masse stattKlasse“ gesprochen und die Abschaffung der Agrarfabri-ken gefordert. Die modern und nachhaltig produzierendeLandwirtschaft haben Sie zu Ihrem Feindbild erklärt.Frau Künast, Sie sind jetzt 14 Monate im Amt. – Viel-leicht hören Sie auch einmal zu. – Wir fragen Sie deshalb:Was haben Sie in dieser Zeit ganz konkret zur Verbesse-rung des Verbraucherschutzes umgesetzt?
Sind etwa irgendwo in Deutschland Agrarfabriken ge-schlossen worden? Mir jedenfalls ist nichts davon be-kannt geworden.
Die gesetzlichen Maßnahmen im Zusammenhang mitBSE zum Beispiel wurden noch zusammen mit uns vonIhrem Vorgänger eingeleitet. Sie haben sich auf Sprüchebeschränkt, denen keine Taten gefolgt sind. Frau Künast,Sie waren einfach nur laut.
Obwohl Sie alle Zeit und alle Chancen hatten, die ent-sprechenden Vorkehrungen zu treffen, haben Sie schon imJanuar dieses Jahres bei der Abwehr gesundheitlicherGefahren durch aus China importierte Shrimps kläglichversagt.
Einige Hundert Tonnen verseuchten Futters sind in dieNahrungsmittelkette gelangt, Frau Künast.Sie haben es bis heute nicht geschafft, die unter-schiedlichen Vorgehensweisen der Bundesländer im Be-reich der Lebensmittelüberwachung zu koordinieren.Bis heute kommen in Deutschland Lebensmittel ohneentsprechende Kennzeichnung im Wert von 37,3 Milliar-den Euro auf den Markt, welche zu einem überwiegen-den Teil zu Bedingungen erzeugt worden sind, die inDeutschland nicht genehmigt worden wären. So dürfenselbst in den EU-Staaten Pflanzenschutzmittel angewen-det werden, die bei uns verboten sind. Aber Obst undGemüse, die mit diesen Pflanzenschutzmitteln behandeltwerden, sind dann, wenn sie aus anderen EU-Staatenkommen, bei uns verkehrsfähig, während entsprechendbehandelte einheimische Produkte nicht abgesetzt wer-den dürfen.
Frau Ministerin, so geschickt wie Sie hat bisher nochkaum jemand die deutschen Verbraucher getäuscht. An-spruch und Handeln liegen bei Ihnen intergalaktisch weitauseinander.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wer-den jetzt sicher einwenden, dass Sie doch immerhin dasBiosiegel eingeführt haben, ein Siegel, das sich an denniedrigeren europäischen Standards orientiert. Damit ha-ben Sie den deutschen Biobauern einen Bärendienst er-wiesen, die bei ihrer Produktion viel strengere Kriterienanlegen.
Haben Sie das etwa mit Ihrem Spruch „Klasse stattMasse“ gemeint? Umgekehrt würde ein Schuh daraus.Im Übrigen hat mir auf eine Anfrage im Septemberletzten Jahres Ihr Staatssekretär Dr. Thalheim
bestätigt, dass bei uns Produkte aus der ökologischenLandwirtschaft nicht der staatlichen Lebensmittelüberwa-chung unterliegen. Auch dies haben Sie bisher nicht geän-dert.
Vielleicht wird das jetzt anders. Sie wollen zwei neueBundeseinrichtungen schaffen, ein Bundesinstitut für Ri-sikobewertung und ein Bundesamt für Verbraucherschutzund Lebensmittelsicherheit. Dabei sollen Risikobewer-tung und Risikomanagement auch noch an unterschiedli-chen Standorten getrennt wahrgenommen werden. Schondiese Konstruktion lässt erkennen, dass hierbei nichts Ge-scheites herauskommen kann. Denn nur wer das Risiko be-werten kann, kann auch die entsprechenden Empfehlun-gen für dessen Beseitigung erarbeiten.Das ist nicht nur meine Meinung, sondern diese Mei-nung vertreten auch die Mitarbeiter des Bundesinstitutsfür gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinär-medizin, was in einem Brief an Sie, Frau Künast, vomFebruar dieses Jahres deutlich wird. Im diesem Briefheißt es:Das geplante Bundesamt kann, wenn es die Bewer-tung nicht zu seiner Kernkompetenz zählen und auf
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das geplante Bundesinstitut angewiesen sein soll,seine eigenen Entscheidungen und Ratschläge kaumselbst verantworten.Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wir von der CDU fordern unabhängige wissenschaftli-che Lenkungsausschüsse zum Beispiel für Lebensmittel-sicherheit, Produktsicherheit oder zur Unterstützung einernachhaltigen Pflanzenproduktion auf EU-Ebene mit na-tionaler Spiegelung. Die wissenschaftlich fundierten Er-kenntnisse können dann Grundlage für politisches Han-deln werden.Ihnen, Frau Künast, ist wissenschaftliche Unabhän-gigkeit allerdings ein Dorn im Auge. Den wissenschaftli-chen Beirat in Ihrem Haus haben Sie deshalb mit Ihnennahe stehenden Personen besetzt.
Sie scheuen eine wissenschaftliche Debatte, weil Sie umIhr grün-ideologisches Weltbild fürchten.Wer glaubt, dass das Durcheinander damit ein Endehat, irrt. Ganz im Gegenteil: Es kommt zu einer weiterenSteigerung. Sie haben gestern ein Verbraucherschutzge-setz durch das Kabinett gebracht;
vielmehr das, was davon noch übrig geblieben ist. Nunhören Sie zu: Darin heißt es unter anderem, dass Sie mitzusätzlichen Warn- und Auskunftspflichten den bewuss-ten Einkauf nach ethischen Wertvorstellungen ermögli-chen wollen. Wer sagt, was ethisch ist? Machen Sie das,Frau Künast, oder haben wir einen weiteren Ethikrat zuerwarten?
Ein gravierender Nachteil des Gesetzentwurfes ist aberauch – das muss hier immer wieder angesprochen wer-den –, dass er nur die heimischen Produzenten und Pro-dukte und nicht die importierten Waren betrifft.Meine Damen und Herren, es gäbe durchaus die Mög-lichkeit, Verbraucherinformationen zu verbessern undgleichzeitig eine qualitätssteigernde Wirkung zu erzielen.Ich meine die große Palette von No-Name-Produkten,auch Eigenmarken großer Handelsunternehmen genannt.Insbesondere der Lebensmitteleinzelhandel kann in die-sem Bereich keine Transparenz und Klarheit vom Ackerüber den Stall und den Hersteller bis zur Ladentheke fürsich in Anspruch nehmen. Dazu, den leicht erkennbarenNamen des Herstellers auf der angebotenen Ware zu ver-langen, hat dieser Regierung der Mut gefehlt. Wir werdendieses Thema aufgreifen.Beispielhaft geht hier der Deutsche Bauernverbandvor. Mit der Einführung eines eigenen Qualitätssiegelswill er, beim Schweinefleisch beginnend, Transparenzvom Stall bis zur Ladentheke herstellen.
Damit erreicht der Bauernverband etwas, was der Minis-terin weder national noch auf EU-Ebene gelungen ist,nämlich den völligen Verzicht auf antibiotische Leis-tungsförderer in der Schweinemast als Voraussetzung fürdie Teilnahme an dem Qualitätszeichen „QS“ vorzu-schreiben.Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Dierot-grüne Bundesregierung hinterlässt in der Verbrau-cherpolitik ein Chaos.
Die Lebensmittelproduzenten stellen wegen der Unklarheitder zukünftigen Linie der Ernährungs- und Verbraucher-schutzpolitik Investitionen zurück. Das kostet Arbeits-plätze. Die Verbraucher sind verunsicherter als je zuvor.
Wir, die CDU/CSU, werden nach der Wahl ein neuesKapitel in der Verbraucherschutzpolitik aufschlagen.
Zusammen mit den Verbraucherschutzorganisationen undder Wirtschaft wollen wir die Position der Verbraucher amMarkt weit über den Ernährungsbereich hinaus erheblichstärken. Die programmatischen Vorarbeiten hierzu sindbereits weitgehend abgeschlossen.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Imhof.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der gesundheitliche Verbrau-cherschutz, über den ich heute hier noch einmal kurzsprechen will, greift eigentlich in alle Bereiche desVerbraucherschutzes hinein. Logischerweise ist eine Ab-grenzung manchmal sehr schwierig.Fest steht allerdings – ich hoffe, darin sind wir uns indiesem Hohen Hause alle einig –, dass die Gesundheit un-serer Bürgerinnen und Bürger das kostbarste Gut ist; dasgilt es zu bewahren.
– Ja, da dürfen Sie gerne klatschen. – Wir fangen damitbereits sehr weit im Vorfeld an, und zwar mit einer gutenInformationspolitik und einem erheblich erweiterten In-formationszugang für die Verbraucherinnen und Verbrau-cher, die manchmal leider auch Patientinnen und Patien-ten sind.Man kann sich allerdings etwas wundern, wenn mansich manche Presseberichte der vergangenen Tage an-schaut, die sich mit dem Verbraucherinformationsgesetzbeschäftigen. Hier und da wird kräftig gemeckert. Dasist bei neuen Gesetzen ja nicht so ungewöhnlich. Den
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Peter Bleser22201
Unternehmern geht das Gesetz immer noch zu weit.Manchmal ist sogar von Existenzgefährdung die Rede.Ich möchte darauf hinweisen, dass es manche Herstel-ler in der Vergangenheit auch ganz gut ohne unsere Hilfegeschafft haben, sich in existenzgefährdende Absatzkri-sen zu manövrieren. Ich denke dabei an die bereits viel-fach zitierten Lebensmittelskandale – das kann man garnicht oft genug sagen –: an Tiermehl in Futtermitteln, anAntibiotika wie Streptomycin in Bienenhonig, an ver-seuchte Shrimps – diese sind auch schon erwähnt wor-den –, an Salmonellen in Schokolade usw. Dabei kann ei-nem der Appetit wirklich kräftig vergehen. Diese Listeließe sich beliebig fortsetzen.Manche Hersteller konnten sich in der Vergangenheitsicher fühlen – meiner Meinung nach viel zu sicher –,wenn es darum ging, gesundheitsbeeinträchtigende Mittelin den Lebensmittelkreislauf hineinzubringen. Wir aberhaben uns zum Ziel gesetzt, dass sich die Menschen inunserem Land, die ja auch Kundinnen und Kunden sind,sicher fühlen, wenn sie Lebensmittel, Pflegeprodukteoder Medikamente kaufen und verbrauchen.Auf der anderen Seite bedrängen uns natürlich auch dieschon zitierten Verbraucherorganisationen, denen unsereMaßnahmen zur Stärkung des Verbraucherschutzes nichtschnell und nicht weit genug gehen. Dafür haben wir Ver-ständnis. Aber ich möchte genau an deren Adresse deut-lich hervorheben, dass uns ihre Mitwirkung und ihre Stär-kung ein ganz zentrales Anliegen sind. Frau MinisterinKünast und auch unsere verbraucherpolitische Spreche-rin, Frau Teuchner, haben das vorhin sehr deutlich gesagt.Nach Jahren des Stillstands, des Auf-der-Stelle-Tretensund zum Teil auch des Wegschauens haben wir jetzt mitvielen kleinen Schritten in die richtige Richtung – auchkleine Schritte sind Schritte – bewiesen, dass wir uns auchbeim gesundheitspolitischen Verbraucherschutz nicht aufLippenbekenntnisse beschränken. Aber wir wissen natür-lich auch, dass noch sehr viel Arbeit vor uns liegt. Wir sindwild entschlossen, sie in Angriff zu nehmen.
Die Verbraucher bei ihrem selbstständigen Handeln zuunterstützen und ihnen so viel Informationen wie möglichan die Hand zu geben, das zieht sich wie ein roter Fadendurch unsere Verbraucherpolitik. Wir wollen Vorsorgeund Chancengleichheit beim Informationszugang ermög-lichen. Durch das Verbraucherinformationsgesetz wirdaber auch erreicht, dass den Behörden nicht mehr wie sooft in der Vergangenheit die Hände gebunden sind, wennes um die Vermittlung und Weitergabe von Informationengeht. Sie müssen nun sogar von sich aus warnen, wenn sieGesundheitsgefahren befürchten. Aber auch wenn keineGefahr im Verzug ist, wenn es nur darum geht, dass aufdem Etikett einer Wurstkonserve steht, dass kein Rind-fleisch darin enthalten ist, dies aber nicht den Tatsachenentspricht, können sie die Verbraucherinnen und Verbrau-cher von sich aus darüber informieren.Wir treffen damit Vorsorge vor möglichen gesundheit-lichen Gefahren. Aber dieses Vorgehen schützt natürlichauch die verantwortungsvollen Erzeuger und Herstellervon Lebensmitteln. Wir können uns sicherlich noch allegut daran erinnern – es ist noch nicht so lange her –, wieviele Landwirte durch den BSE-Skandal an den Rand ih-rer Existenz gedrängt worden sind, weil die Verbraucher– dabei möchte ich mich persönlich einschließen – totalverunsichert waren und allem und jedem misstraut haben.
Unser Verbraucherinformationsgesetz bietet eine guteGrundlage, um dieses Vertrauen wieder zurückzugewin-nen. Daswird – da bin ich ganz sicher – allen Seiten nutzen.
Dies wird auch an den Gesetzen deutlich, die wir aufden Weg gebracht haben und die ganz besonders dengesundheitlichen Verbraucherschutz in den Mittelpunktgestellt und gestärkt haben, zum Beispiel das Pflege-Qua-litätssicherungsgesetz, das unter anderem die Pflegequa-lität, die Qualitätssicherung und die Kontrolle zum Zielhat, und das Medizinproduktegesetz, in dem es unter an-derem um die effiziente Überwachung von Medizinpro-dukten geht.Auch fördern wir – das will ich an dieser Stelle eben-falls sagen – Modellvorhaben unabhängiger Einrichtun-gen, die sich die Beratung und die Aufklärung von Pati-entinnen und Patienten zum Ziel gesetzt haben. Geradekranke Menschen, aber auch ihre Angehörigen sind oftverängstigt und verunsichert. Sie sind oft in einer Aus-nahmesituation und glauben manchmal – das hängt mit al-ten Strukturen und der Angst vor den „Weißkitteln“ zu-sammen –, am kürzeren Hebel zu sitzen.Wir wollen, dass Patientinnen und Patienten, Ärztin-nen und Ärzte und auch die Vertreter der Krankenkassenauf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren.
Wir wollen Patientinnen und Patienten, die manchmalsehr weitgehende Entscheidungen für ihr Leben treffenmüssen, in ihrer Verantwortung für sich selbst stärken undunterstützen.Wir wollen mündige Patientinnen und Patienten sowiemündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich denke,diesem Ziel sind wir heute ein ganz großes Stück nähergekommen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin!Kolleginnen und Kollegen! Die Presselandschaft gesternwar eindeutig, und zwar eindeutig vernichtend. Die
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Barbara Imhof22202
Ankündigungsministerin Künast ist erneut um Längenhinter ihren großen Sprüchen zurückgeblieben.
Wenn Sie sich, Frau Ministerin, vorhin mit Dornröschenin Beziehung gebracht haben, muss ich Ihnen sagen: Siekommen mir eher vor wie die Nina Hagen der Verbrau-cherpolitik: große Röhre, grelle Auftritte, doch wenn dasScheinwerferlicht aus und die Schminke ab ist, bleibt nurviel Ernüchterung und viel grau in grau.
Ihren Vorgänger im Amt muss ich nicht mehr zitieren,Albert Deß hat das vorhin zur Genüge getan. Sie, FrauMinisterin, haben am 8. Februar 2001 an dieser Stellevollmundig erklärt: „Verbraucherschutz wird jetzt end-lich unter einem Dach gebündelt“. Sie sind mit diesemgroßen Anspruch genauso gescheitert wie mit vielen an-deren Ihrer vollmundigen Erklärungen. So hat Ihr Hausbeispielsweise immer noch keine Zuständigkeiten fürTrinkwasser oder für die Zulassung von Chemikalien,wie wir das gerade aktuell beim Biozid-Gesetz feststel-len. Aber auch bei anderen Verbraucherschutzthemen– Sie haben sie vorhin aufgelistet – wie Strahlenschutzbeim Mobilfunk oder Finanzdienstleistungen müssen Siebei anderen MinisterienAnleihen nehmen, weil Sie selbstbei weitem noch nicht das an Zuständigkeiten haben, wasSie versprochen haben.Statt notwendiger Aufgabenbündelung haben Sie mitIhrer neuen Organisationsstruktur an den Erfordernissenvon Praxis und Wissenschaft vorbei gehandelt. Die Tren-nung in ein Bundesamt für Verbraucherschutz und Le-bensmittelsicherheit sowie ein Bundesinstitut für Risiko-bewertung verlängert die Entscheidungswege und schafftneue bürokratische Hürden. So nennen auch die Verbrau-cherverbände die von Ihnen durchgezogene Aufteilungkontraproduktiv. Dabei hatte das Von-Wedel-Gutachtengefordert, unnötige Schnittstellen und Doppelarbeit zu be-seitigen.Zu einem ähnlich negativen Urteil wie die Verbrau-cherverbände kommt der Bundesverband für Tiergesund-heit, wenn er zur bisherigen Praxis feststellt, dass geradedie Gesamtverantwortung, in der alle Zulassungsschrittevon der Beurteilung der einzelnen Dossiers bis zurErteilung des Zulassungsbescheides zusammengeführtwurden, zu einer erheblichen Steigerung der Effizienzbei Einhaltung höchster Zulassungsstandards geführthabe. Risikobewertung und Risikomanagement können– so meine ich – nur in enger gegenseitiger Abstimmungauf der Basis einer hohen Fachkenntnis erfolgreich durch-geführt werden. Jetzt – so sagt auch der Bundesverband –werde der Verfahrensablauf weiter verlängert. Zusätzli-cher Abstimmungsbedarf mit der europäischen Behördewerde notwendig und in der Folge würden die überwie-gend mittelständischen national operierenden Unterneh-men die Verlierer der Umstrukturierung sein. – So viel zuIhrem neuen Weg in der Marktwirtschaft.Noch eine Stufe kritischer wird Ihre Festlegung gese-hen, wonach künftig BBA, BfR, UBA und BVL als Ein-vernehmensbehörden fungieren müssen. Jede Bewer-tungsbehörde müsse also – so schreiben es die Fachleute –wissenschaftliche Teilbereiche der anderen Bewertungs-behörden mit bearbeiten und damit Doppelarbeit leisten.Das Ganze führe letztlich zu einem Mammutverfahren,das konträr zu den Erkenntnissen des Von-Wedel-Gutach-tens stehe. – So die Fachleute und die Wissenschaft, abervon denen halten Sie ja, wie vorhin zu hören war, relativwenig.Insgesamt muss eine Abkoppelung von eigener For-schung – das ist eigentlich einleuchtend – auf Dauer einRisikomanagement, das ja an der aktuellen wissen-schaftlichen Entwicklung orientiert sein muss, zuneh-mend problematisch werden lassen. So schreibt auch dasVon-Wedel-Gutachten konsequenterweise, dass eine va-lide wissenschaftliche Politikberatung durch eine Institu-tion ohne eigene qualifizierte wissenschaftliche Arbeitnicht möglich sei. Der Kompetenzwirrwarr in IhremHause ist also keineswegs behoben und Ihre großartigeAnkündigung vom vergangenen Jahr wieder einmalnichts als heiße Luft.Lassen Sie mich an einem Beispiel ausführen, wieschlecht der Verbraucherschutz in Ihrem Hause noch im-mer funktioniert. Gerade gestern – das ist sicherlich auchfür die Kollegen sehr interessant – habe ich ein Schreibendes hessischen Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaftund Forsten erhalten, in dem wieder einmal Ihre Untätig-keit angesprochen wird. Sie, verehrte Frau Ministerin, ha-ben bereits am 10. September vergangenen Jahres vomhessischen Sozialministerium eine Mitteilung erhalten,dass bei Rückstandsproben von Honig Carbendazim-Rückstände festgestellt worden waren, und zwar interes-santerweise auch bei zwei Ökohonig-Proben.
Das hessische Ministerium hatte danach Grenzwertüber-schreitungen festgestellt und Ihr Haus gebeten, seineRechtsauffassung zur lebensmittelrechtlichen Beurtei-lung der Rückstände umgehend mitzuteilen.Meine Damen und Herren, bis zum heutigen Tage liegtweder dem Land Hessen eine Beurteilung aus IhremHause vor, noch gibt es von Ihnen eine Antwort darauf, obbei der Zulassung Carbendazim-haltiger Mittel vor derbald wieder stattfindenden Rapsblüte Änderungen im Zu-lassungsverfahren erfolgen müssen.
Ich will das nicht problematisieren. Aber wenn eineMinisterin ständig die Worte „Verbraucherschutz“ und„Verbraucherinformation“ in der Öffentlichkeit herum-tönt, muss wohl auch festgestellt werden: Wenn sie inner-halb von fünf Monaten nicht in der Lage ist, Ihrem Amts-kollegen zu antworten, dann bleibt sie um Längen hinterIhrem eigenen Anspruch zurück.
Solange Sie, Frau Ministerin, noch nicht einmal sol-che einfachen Vorgänge beherrschen, sollten Sie meinerMeinung nach den Begriff „vorsorgenden Verbraucher-schutz“ zurückhaltender benutzen. Wie wollen Sie denndie Millionen Verbraucher in Deutschland informieren,
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Helmut Heiderich22203
wie Sie es mit Ihrem Gesetz angeblich vorhaben, wennSie selber innerhalb von fünf Monaten nicht in der Lagesind, Ihrem Ministerkollegen in Hessen eine Antwort zugeben?
Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Sie beiden Honigproben gerade in der letzten Zeit äußerst hef-tig reagiert, die Grenzwerte auf ein Zehntel zurückgefah-ren haben und damit auch – das ist schon häufiger hierausgeführt worden – ein riesiges Problem für die Obst-bauern in Deutschland geschaffen haben. Welch ein er-neuter Widerspruch zwischen Ihren Worten und IhremHandeln!Ähnliche Widersprüche sind in Ihrem Hause beispiels-weise hinsichtlich der Rückstände von Dicloran in Erd-beeren zu verzeichnen. Werden die Früchte aus andereneuropäischen Ländern importiert, dann werden bis zu100fach höhere Rückstände toleriert als bei entsprechen-der deutscher Ware. Das entspricht einem Verhältnis1:100, Frau Ministerin. In Ihrer Rede auf der Grünen Wo-che am 12. Januar haben Sie verkündet:Mögliche Konflikte zwischen Verbraucherschutz beiLebensmitteln und Liberalisierung des Welthandelsdürfen nicht zu Lasten unserer Lebensmittelsicher-heit und -qualität gehen,In den Fällen, die ich eben vorgetragen habe, handeln Sieaber ganz anders. Entweder sind die Grenzwerte in ande-ren europäischen Ländern gesundheitlich unbedenklich– dann müssen aber auch die deutschen Obstbauernnach diesen Grenzwerten produzieren dürfen – oder dieHöchstwerte sind nicht hinnehmbar; dann müssen Siedafür sorgen, dass der Import schleunigst verhindert wird.
Ansonsten ist all Ihr Gerede von den Rückstands-Höchst-mengenverordnungen nichts anderes als politischer Ak-tionismus auf dem Rücken der heimischen Bauern undVerbraucher.
Frau Ministerin, ich zitiere zum Abschluss aus der„FAZ“ von gestern:Wissenschaftliche Argumente zählen nicht, das Sa-gen haben die Ideologen.Mit vielen Entscheidungen Ihres Hauses bestätigen Siediese Aussage. Ich meine, es wird Zeit, dass der Verbrau-cher die Gelegenheit nutzt, sich von einer solchen Ideolo-gie zu befreien.Schönen Dank.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 14/8520 soll an den Ausschuss für Verbrau-cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tages-ordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung zu dem Antrag auf Genehmigung zumVollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnah-mebeschlüsse erweitert werden. Die entsprechendeDrucksache liegt Ihnen vor.
Gibt es Widerspruch gegen die Erweiterung der Tages-ordnung? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gericht-licher Durchsuchungs- und Beschlagnahme-beschlüsse– Drucksache 14/8536 –Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommenworden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatz-punkte 2 a und 2 b auf:4. Erste Beratung des von der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zum optimalen Fördern und Fordern inVermittlungsagenturen
– Drucksache 14/8365 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialordnungFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussZP 2a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Verlängerung von Übergangsregelun-gen im Bundessozialhilfegesetz– Drucksache 14/8010 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grüneneingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVer-längerung von Übergangsregelungen im Bun-dessozialhilfegesetz– Drucksache 14/7280
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Helmut Heiderich22204
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 14/8531 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolbb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-nung
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFördern und Fordern – Sozialhilfe moderngestalten– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L.Kolb, Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPFür eine Reintegration von Sozialhilfeemp-fängern in den Arbeitsmarkt – Anreize für dieRückkehr in das Erwerbsleben erhöhen– zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Maier,Dr. Barbara Höll, Dr. Klaus Grehn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der PDSDie Sozialhilfe armutsfest gestalten– Drucksachen 14/7293, 14/59/82, 14/7298,14/8531 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. KolbNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Es gibt kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort derMinisterpräsident des Landes Hessen, Roland Koch.Roland Koch, Ministerpräsident (von Ab-geordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seiteiner ganzen Reihe von Monaten gibt es eine für jedendeutlich vernehmbare Diskussion über die Frage, wie wirmit Menschen, die seit langer Zeit arbeitslos sind und dieAnsprüche an die staatlichen Sozialsysteme haben, um-gehen sollen, damit möglichst viele von ihnen eineChance haben, in Zukunft wieder ins Erwerbslebenzurückzufinden. Angesichts von 4,3 Millionen Arbeits-losen – wir alle wissen, in Wahrheit sind es 6 Millionen,wenn man diejenigen, die in Arbeitsbeschaffungsmaß-nahmen sind, hinzurechnet –,
bei 1,6 Millionen Sozialhilfeempfängern in der Bun-desrepublik Deutschland, bei ständiger Zunahme derZahl der Langzeitarbeitslosen, die weit über dem Durch-schnitt anderer europäischer Staaten liegt, und an-gesichts der in den letzten vier Jahren ständig gestiege-nen Zahl der Sozialhilfeempfänger, die länger als fünfJahre Sozialhilfe beziehen, ist es in der Tat an der Zeit,die Politik der ruhigen Hand zu beenden und endlich et-was zu tun.
– Haben Sie wirklich keine besseren Argumente als denHinweis auf die Geschichtsbücher? Versuchen Sie einmaldie Zukunft zu gestalten! Ich dachte immer, die SPDwollte einen Beitrag zur Zukunft der Menschen leisten.
Wenn man nach fast vier Jahren, in denen man an der Re-gierung war, nichts anderes anzubieten hat als den Hin-weis, dass andere vorher regiert haben, dann hat man vierJahre lang zu wenig getan. Darüber müssen wir, bitteschön, diskutieren.
Wir haben inzwischen – das gilt jedenfalls für meinBundesland, vielleicht sogar im besonderen Maße – in ei-ner ganzen Reihe von Landkreisen und Regionen, auf-bauend auf jeweils eigenen Ideen, Modellversuchedurchgeführt und durchaus Erfolge bei der Etablierungvon neuen Beratungssystemen an der Basis gehabt. Esgibt hier Vorreiter, die inzwischen glücklicherweise bun-desweit eine Rolle spielen. Sie alle haben nur ein großesProblem: Sie können auf der Grundlage des Job-AQTIV-Gesetzes – Frau Staatssekretärin, Sie werden nachhersicherlich noch etwas dazu sagen – zwar ein paar theore-tische Vorarbeiten leisten. Aber die Tatsache, dass Anträgeauf Sozial- und Arbeitslosenhilfe in einem Büro bearbei-tet werden, bedeutet noch lange nicht, dass in Zukunft nurnoch ein Formblatt für eine Hilfemaßnahme ausgefülltwerden muss. Nein, es werden weiterhin zwei sein; denndie Zahl der Formblätter hat sich nicht reduziert, sie dür-fen bestenfalls auf einem Schreibtisch ausgefüllt werden.Auch wenn ein Modell im Main-Taunus-Kreis oder imMain-Kinzig-Kreis oder sonst wo in Hessen erfolgreichist, ist es verboten, es auf das ganze Bundesland auszu-dehnen; Ihre Versuchsklausel verhindert das. Wir sindüber den Zeitpunkt hinaus, uns nur gegenseitig Vor-schläge zu machen. Wir müssen zu handeln beginnen;denn die Zahlen entwickeln sich so. Darum geht es beidiesem Gesetzentwurf.
Ich bin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrück-lich dankbar dafür, dass sie dieses Thema ergänzend zuden Beratungen im Bundesrat auch hier zur Sprachebringt. Ich sehe, dass man im Bundesrat im Augenblickauf Zeit spielt, und es ist zu erwarten, dass sozialdemo-kratische Kollegen das möglicherweise auch hier tun. Da-bei besteht, wenn ich eine Äußerung der Frau Staats-sekretärin vor einiger Zeit in einer Zeitung richtigverstanden habe und wenn ich an die Reaktionen meinesniedersächsischen Kollegen Gabriel denke, darüber, dass
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer22205
Arbeitslosen- und Sozialhilfe heute zusammengehören,überhaupt kein Streit. Irgendwann muss der Grundsatz„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ zur Geltung kom-men. Dafür müssen wir jetzt eine Chance haben.
Der Gesetzentwurf bringt für unsere Tradition in derBundesrepublik Deutschland möglicherweise an einemPunkt einen neuen Ansatz: Es soll möglich sein, eine Auf-gabe, die zum Bereich der Sozialpolitik gehört, in denBundesländern unterschiedlich zu lösen.In der Diskussion des letzten halben Jahres ist vielfachdas Stichwort „Wisconsin-Modell“ gefallen. Dieses Mo-dell ist nur eines von vielen, aber es ist immerhin eines,bei dem es gelungen ist, im ersten Jahr 60 Prozent undüber einen längeren Zeitraum 90 Prozent derer, die dortSozialhilfeempfänger waren, wieder in Arbeit zu vermit-teln. Das ist doch ein Grund, zumindest einmal hinzu-schauen. Ich habe immer nur gesagt: Lassen Sie uns dieMarke von 50 Prozent der erwerbsfähigen Sozialhilfe-empfänger erreichen! Zumindest das müssten wir unsdoch als Anspruch gegenseitig zumuten können.
Zur Wahrheit gehört auch: Das Gesetz, das in Wiscon-sin angewandt worden ist, wäre niemals nationales US-amerikanisches Gesetz geworden, wenn erst alle nationa-len Überlegungen – das gilt für einen Kontinent und auchfür ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland – an-gestellt worden wären und man erwogen, abgewogen,angehört, noch einmal diskutiert, geprüft, ausprobiert undwieder verworfen hätte. Im US-amerikanischen Rechtgibt es aber die gute Möglichkeit, Ausnahmeregelungenfür einzelne Staaten vorzusehen und ihnen zu erlauben,abweichend vom Bundesrecht etwas zu versuchen. Nur soist es möglich gewesen, in Wisconsin, in Oregon, in Tei-len von Kalifornien bestimmte Modelle auszuprobieren.
Die Erfolge, die ich genannt habe – 60 Prozent und90 Prozent –, haben am Ende die Demokraten imamerikanischen Parlament, die ursprünglich skeptischwaren, dazu gebracht, dieses Modell zur Regierungs-vorlage von Bill Clinton in der zweiten Amtsperiode zumachen. Die Häuser des amerikanischen Parlaments ha-ben dann das, was vorher politisch streitig war, einstim-mig beschlossen. Auch in den USA gäbe es diese Mög-lichkeit der Unterstützung bis zum heutigen Tage nicht,wenn sie nicht in einigen Regionen hätte ausprobiert wer-den können.Geben Sie uns in der Bundesrepublik Deutschland mitihrem Föderalismus doch die Chance, Modelle nicht nurzu diskutieren, sondern in einem bestimmten Rahmenauch auszuprobieren, sodass es am Ende vergleichbareZahlen und Daten gibt!
Dazu brauchen wir bundesrechtliche Rahmenbedin-gungen, die uns erlauben, einige Voraussetzungen zuschaffen. So müssen wir die rechtliche Möglichkeit ha-ben, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe miteinander zuverzahnen. Wir müssen das, was derzeit im SGB III steht,und das, was im BSHG steht, zusammenführen. Wir müs-sen dafür sorgen, dass es eine Landeskompetenz dafürgibt, die kommunale Sozialhilfe hinzuzunehmen.
Es wird häufig darüber geredet, dass man viel Geld fürIntegrationsarbeit braucht. Wir geben mehr als 25 Milli-arden Euro im Bereich der Arbeitsförderung aus. Dabeihabe ich noch nicht einmal alle Sozialhilfezahlungen ausden Kommunen an Langzeitarbeitslose dazugerechnet. Eswird mehr Geld als in jedem anderen industriellen Staatder Erde dafür eingesetzt. Damit müssen wir effizienterarbeiten, als wir es zurzeit tun. Wir tun es nicht, weil je-der für sich arbeitet.
Vorher müssten wir einige Prinzipien klären. Das Sys-tem in Deutschland, dass Sozialhilfeansprüche zunächstAnsprüche auf Geldzahlung sind, die gelegentlich durchKooperation und Hilfepläne ergänzt werden, müssen wirverändern. Aus meiner Sicht ist Sozialhilfe ein Angebotder Solidargemeinschaft, der Gesellschaft an leistungsbe-reite Einzelne, sie darin zu unterstützen, den Weg zurückin normale wirtschaftliche Verhältnisse zu finden. Es isteine zweiseitige Vereinbarung.Nur in Modellregionen – in dieser Situation sind Siezurzeit – wird ein Hilfeplan durchgeführt, weil es nur dortmöglich ist. Wir unterstellen – das kann man auf derGrundlage des Gesetzes tun –, dass es sich dabei um ei-nen Verwaltungsakt handelt. Das ist die einzige Chance.Was geschieht dann? Es wird eine Klage des Betroffenenbeim Verwaltungsgericht gegen den Hilfeplan geben, waseine zweijährige Aufschiebung bewirkt. Dies ist einer derGründe, warum in den Sozialämtern von der Hilfeplanungunter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit sehr wenigGebrauch gemacht werden kann. Das zeigen die Modell-versuche.
Das muss so nicht sein. Man kann das ändern. Manmuss dafür sorgen, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfeetwa hinsichtlich der Betreuung von Kindern und des An-gebots von Qualifikationen – zurzeit finanziert aus unter-schiedlichen Haushaltstöpfen; dabei sind unterschiedli-che Vorschriften hinsichtlich der Rechnungslegung undunterschiedlicher Haushaltsjahre zu beachten – zentralorganisiert werden. Im Augenblick prasseln auf den ein-zelnen Beamten all diese Vorschriften, die für den einenBereich wie für den anderen zutreffen, herab.Warum lösen Sie das nicht für fünf Jahre in irgend-einem Bundesland, beispielsweise in Hessen, auf? Warumüberlassen Sie die Organisation nicht einer einzigen Insti-tution? Lassen Sie uns prüfen, was passiert, wenn wir uns
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Ministerpräsident Roland Koch22206
um die Sache kümmern können, weil wir uns nicht mehrum die Vorschriften kümmern müssen!
Ich möchte, dass jeder, der sich bei einer Institutionmeldet, die sich um Arbeits- und Sozialhilfe kümmert,weiß, dass es eine Art Leiter von Maßnahmen gibt: AmAnfang gibt es ein Angebot im ersten Arbeitsmarkt– prima –; dann ein Angebot im zweiten Arbeitsmarkt– besser als keines –; wenn beides nicht funktioniert, gibtes ein gezieltes Qualifizierungsprogramm, damit maneine Chance hat, über den zweiten Arbeitsmarkt in denersten zu kommen; wenn das alles nicht funktioniert – daskann auch sein –, gibt es eine gemeinnützige Arbeit, biswir eine andere Lösung finden; wenn auch das nicht funk-tioniert, gibt es den Bereich der therapeutisch betreutenArbeit, um den Arbeitslosen in einen geregelten Tagesab-lauf einzubinden, um ihn auf Dauer wieder eingliedern zukönnen.Rechnen Sie doch einmal für die Länder, in denen SieWahlkreise haben, aus, wie viele Millionen wir zurzeit fürProgramme ausgeben, die das Ziel haben, Menschen mit-hilfe sozialpädagogischer Betreuung das Pünktlich-zur-Arbeit-Gehen beizubringen. Das muss nicht sein. Wirmüssen eine anschlusslose Möglichkeit der Wiederein-gliederung schaffen, damit jeder trotz Eintritt der Arbeits-losigkeit – in welcher Situation auch immer – im Kreis-lauf eines normalen Lebens bleibt.
Das ist durchaus ein erheblicher Anspruch an den Staat,an die Kommunen, die Länder – wir wären bereit, unsauch auf den Gebieten zu engagieren, auf denen wir zur-zeit keine Zuständigkeit haben – und an den Bund.
Es ist wichtig, zunächst einmal festzustellen: Wir müssenin der Tat für jeden das Passende finden. Aus meiner Sichtbesteht erst dann die Berechtigung, jeden, der nicht bereitist, sich in diesen Prozess zu integrieren, zu fragen, ob ertatsächlich anspruchsberechtigt ist.
Wir müssen auch über die Sanktionsmöglichkeiten– wenn man sie so nennen möchte – diskutieren. Die heutevorhandenen Sanktionsmechanismen für Alleinstehendesind aus meiner Sicht nachhaltig wirksam. Wenn eine So-zialverwaltung die verwaltungsrechtlichen Vorschriftenund einiges andere überwindet, reichen sie möglicher-weise aus. Bei jemandem, der eine Familie mit zwei Kin-dern hat und der sagt, er sei nicht bereit, sich dem Hilfe-plan zu unterwerfen oder eine Arbeit aufzunehmen, machtder maximale Betrag, der abgezogen werden kann, einenverschwindend geringen Teil der gesamten sozialen Sub-ventionsleistungen aus, die über verschiedene Tranchenund verschiedene Institutionen ausgereicht werden; Stich-worte: Sozialhilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Haus-brandbeihilfe, Möglichkeiten der Erziehungsunterstüt-zung bis hin zu Ausbildungsprogrammen.
Ich bin dafür – das werden wir in der nächsten Legis-laturperiode durchsetzen –, dass wir mithilfe des Fami-liengeldes dafür sorgen, dass die Kinder aus der Sozial-hilfe herauskommen.
Auf der anderen Seite bin ich auch dafür, dass wir dafürsorgen, dass jeder – unabhängig vom Familienstand –weiß, dass Kooperation erforderlich ist, weil der Staat sei-nerseits entsprechende Angebote gemacht hat.Das Ärgerliche an dieser wie auch an vielen anderenwirtschafts- und sozialpolitischen Diskussionen dieserTage ist, dass das eigentlich alle wissen.
Wenn Sie intensiv – unter sechs, acht oder zehn Augen –mit den Beteiligten reden, stellen Sie fest, dass niemandsagt, ein solches Vorgehen sei falsch. Auch im Bundesratund in Fachausschüssen wird bestenfalls die Vertagungauf die Zeit nach der Bundestagswahl beschlossen. Eswird nicht beschlossen, eine solche Initiative abzulehnen.In der Tat wäre es schwierig, dies zu begründen. Ich frageSie: Warum wollen Sie wieder warten? Dankenswerter-weise engagieren Sie sich politisch in dieser Debatte. Ichals Hesse mache Ihnen ein Angebot: Wenn das alles so un-brauchbar ist, lassen Sie mich doch hereinfallen. LassenSie es uns in Hessen machen, meine Damen und Herren.Dann zeigen wir Ihnen, ob es geht oder nicht. Hören Sieauf, nur theoretisch darüber zu reden.
Ich will Ihnen ein letztes Beispiel, den Grund nennen,warum wir glauben, uns mit einigem Selbstbewusstseindarum kümmern zu können. Wir haben in den vergan-genen Jahren zusammen mit dem Landesarbeitsamt durcheine Umstellung der Arbeitsförderung ein Sonder-programm des Coaching der Vermittlungsagentur fürarbeitslose schwerbehinderte Arbeitnehmer in unse-rem Land eingeführt.
Wir haben 2001 in nur einem Jahr eine Reduzierung desAnteils derjenigen, die als Schwerbehinderte arbeitslossind, von 22 Prozent erreicht.
Im Bundesgebiet ist es, wenn man nur die westdeutschenLänder nimmt, ein Rückgang von 6 Prozent.Wir sind sehr optimistisch, dass wir es schaffen kön-nen. Das bisher Erreichte ist eine Leistung des Landes zu-sammen mit der Hauptfürsorgestelle, dem Landesarbeits-amt und den Landkreisen. Wir haben im Vergleich allerBundesländer den größten Rückgang bei den Langzeitar-beitslosen in der Bundesrepublik Deutschland.
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Ministerpräsident Roland Koch22207
Deshalb sage ich Ihnen: Gehen Sie doch das Risiko ein,mich und meine Regierung ausprobieren zu lassen, ob wires schaffen. Wir wären bereit, zugunsten derjenigen indiesem Lande, die seit längerer Zeit auf Beschäftigungwarten, das Risiko einzugehen.Vielen herzlichen Dank.
Zur Geschäfts-
ordnung erhält der Kollege Repnik das Wort.
Frau Präsidentin!
Wir diskutieren derzeit über eines der größten Probleme,
das die Bundesrepublik Deutschland berührt, nämlich
über die Fragen, wie man die Arbeitslosigkeit verringern
und den Abbau von Arbeitslosigkeit verbessern kann. Wir
stellen fest, dass bei diesem für die Bundesrepublik
Deutschland wichtigen Thema kein einziger Bundes-
minister auf der Regierungsbank sitzt, auch nicht der zu-
ständige Bundesminister Riester. Wir beantragen hiermit,
den Bundesminister Riester ins Plenum des Deutschen
Bundestages zu zitieren.
Ebenfalls zur
Geschäftsordnung erhält die Abgeordnete Susanne
Kastner das Wort.
Herr Kollege Repnik, die
zuständige Parlamentarische Staatssekretärin spricht in
dieser Debatte noch. Sie können das der Rednerliste ent-
nehmen.
– Das mag Ihnen nicht reichen. – Wir lehnen Ihren Antrag,
den Bundesminister herbeizuzitieren, ab, weil wir glau-
ben, es ist guter parlamentarischer Brauch, dass die
Staatssekretärin in einer solchen Debatte spricht.
– Frau Präsidentin, dann beantrage ich eine Unterbre-
chung für eine Fraktionssitzung.
Gibt es weitere
Wortmeldungen zur Geschäftsordnung?
Nach einer Beratung unter den Geschäftsführern ent-
scheide ich so, wie in diesem Haus immer entschieden
wurde, dass nämlich der Antrag auf Unterbrechung, wenn
er von einer großen Fraktion gestellt wird, anderen Anträ-
gen vorgeht.
– Sie können sich dazu verhalten, wie Sie wollen. Aber
das ist auch in der Vergangenheit immer Übung dieses
Hauses gewesen. Ich habe mich darüber noch einmal in-
formiert.
Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten.
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder
eröffnet.
Im Rahmen der Geschäftsordnungsdebatte wurde der
Antrag auf Erscheinen des Ministers gestellt. Da sich der
Minister jetzt im Saal befindet, gehe ich davon aus, dass
der Antrag in der Sache erledigt ist.
Dies ist auch die Meinung der Geschäftsführer.
Wir können also bei gut gefülltem Haus in der Debatte
fortfahren. Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete
Brigitte Lange.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der hessische Löwe hat gebrüllt
– warten Sie es ab! –; Sie sehen uns zutiefst erschreckt.
Ich kann nur sagen: Wegen dieser Rede hätte WalterRiester nicht kommen müssen.
Ich kann verstehen, dass Sie bekümmert sind, dass derMinister dem hessischen Ministerpräsidenten nicht seinOhr geliehen hat. Aber warum sollte er auch? Er hat dochnichts Neues gesagt.
Der Atem, der ihm bei seiner Rede entwich, enthielt jedeMenge heiße Luft.
Er ist nach vorne gestürmt und hat hier weit geöffneteScheunentore eingerannt;
denn vieles von dem, was er aufgezählt hat, steht bereitsim Gesetz und wird auch praktiziert. Dies hätte er auch inseinem Hessenland leicht erfahren können, wenn er nicht
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Ministerpräsident Roland Koch22208
den Umweg über Wisconsin genommen hätte und dannWisconsin-geblendet hier hereingestürmt wäre.
Sehr verehrter Herr Koch, es macht sich nie gut, wennman die Sozial- und Arbeitsämter im eigenen Land – ichkomme aus Hessen und kenne mich ein bisschen aus – sodarstellt, als müsse der Ministerpräsident nach Berlin ra-sen, um eine Pressekonferenz zu geben und dort von Maß-nahmen zu erzählen, die schon seit Jahren, schon vor sei-ner Regierungsübernahme und nachher auch trotz derRegierungsübernahme durch ihn, durchgeführt werden.
Sie haben hier eine Menge Dinge angeführt, zum Bei-spiel, dass es nicht möglich sei, einen Hilfeplan zu erstel-len. Wo leben Sie denn?
– Doch, hat er. Ich habe es mir notiert.
Die Erstellung eines Hilfeplans ist ebenso möglichwie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Arbeitsamtund Sozialamt, und zwar über die bestehenden Modelle– Hessen hat übrigens auch drei Modelle – hinaus. Mankann dies durchaus machen. Es läge auch in Ihrer Macht,die entsprechende Unterstützung zu leisten,
damit auch die restlichen 10 Prozent der Arbeits- und So-zialämter in Ihrem Land – 90 Prozent machen es näm-lich – in die Lage versetzt werden, die Hilfen gebündeltanzubieten.
Herr Koch, Sie schlagen vor, einen individuellenHilfeplan zu erstellen. Sie sagen sogar, dass die Mehrheitder Sozialhilfeempfänger ihre Situation überwinden undarbeiten will. Wenn Sie schon einen individuellen Hilfe-plan vorschlagen, müssten Sie auch begreifen, was Sie aufder anderen Seite bei den Sanktionen verlangen.
Wenn man den Gedanken konsequent durchdringt, dassman zusammen mit dem Hilfeempfänger einen Plan ent-wickelt und mit ihm zusammen diese Schritte von Anfangan geht, stellt sich die Frage der Sanktionen völlig anders.
Sie haben angesprochen, dass die Sanktionen, also dieKürzung von Leistungen – in einem ersten Schritt um25 Prozent und dann möglicherweise um bis zu 100 Pro-zent – vor allem bei Alleinstehenden angewandt werde,bei Familien jedoch wirkungslos sei. Das ist im Sinne desSozialhilfegesetzes. Sie werden nicht ernsthaft erwartenkönnen, dass ein Sachbearbeiter im Sozialamt einem Fa-milienvater die Leistungen kürzt, wenn er ganz genauweiß, dass er damit die Kinder trifft.
Der Vater, der sich weigert, Arbeit aufzunehmen, der vieleProbleme hat oder alkoholabhängig ist, wird zum Beispielseinen Alkoholkonsum nicht einschränken, damit seineKinder vernünftig leben können.
In solchen Fällen ist also eine individuelle Handhabungder Sanktionsmechanismen durchaus gerechtfertigt.Aber noch einmal: Wenn wir – wir haben es bereits inunseren Gesetzen berücksichtigt – von Anfang an konse-quent, erfolgsorientiert und mit den anderen zusammeneinen Hilfeplan erstellen, ist die Frage der Sanktionennicht mehr in der Weise wichtig, wie Sie es immer wiederherausstellen.
Und ganz nebenbei: Sie sollten sich noch einmal voneinem Sozialamtsleiter die richtigen Zahlen zu den Leis-tungsempfängern vorlegen lassen
und Sie sollten sich noch einmal darüber informieren las-sen, wie viele von den Sozialhilfeempfängern wirklich er-werbsfähig und arbeitslos sind.
Das sind nämlich wesentlich weniger als Sie angedeutethaben. Von den geschätzten – es gibt bisher nur Schät-zungen darüber – zwischen 600 000 und 800 000, diewirklich erwerbsfähig arbeitslos sind und vermittelt wer-den müssen, befindet sich nach den Angaben des Deut-schen Städtetages ein Teil bereits in Maßnahmen.Wenn Sie tatsächlich meinen, von den 600 000 bis800 000 wenigstens die Hälfte wieder in Arbeit bringen zukönnen, kann ich das nicht als ein wahnsinnig ehrgeizigesZiel empfinden. Das ist wirklich herzlich wenig. Wir ha-ben andere Vorstellungen.
– Ja, die braucht man auch. Hektik bewirkt überhauptnichts.
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Brigitte Lange22209
– Wir können ganz ruhig sein und Sie können jetzt auchganz ruhig zuhören.Eine zweite Bemerkung: Sie haben gesagt, dass sehrviele länger als fünf Jahre Sozialhilfe beziehen.
– Ja, der hat eine Tröstung nötig!
– Ich warte noch einen kleinen Moment.Herr Koch, die durchschnittliche Verweildauer vonLeistungsempfängern in der Sozialhilfe liegt laut Bun-desamt für Statistik bei zweieinhalb Jahren. Sie habengesagt, dass Sie die Langzeitarbeitslosigkeit in Hessen ab-bauen. Das tun wir bundesweit; Sie können es nachvoll-ziehen.
Dass Sie für die Behinderten etwas tun, ist in Ordnung;das wollten wir auch so.
Über diejenigen, die einen Lohn erhalten, der nur ge-ringfügig höher als die Sozialhilfe ist, wird gesagt, dasssie deswegen nicht wieder ins Erwerbsleben zurückkeh-ren. Ich sage Ihnen aber: Genau das stimmt nicht; denn dieFamilien, also bei der Gruppe, wo der Lohnabstand amgeringsten ist, beziehen in der Regel weniger als ein Jahr– viele sogar nur ein halbes Jahr – Sozialhilfe. Das nureinmal zu den Zahlen. Wie gesagt, es lohnt sich, diese an-zuschauen.Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, mit dem ichim Plenum heute eigentlich anfangen wollte. Es war bis-her aber nett.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Fördern und For-dern – Sozialhilfe modern gestalten“ – so haben wir un-seren Antrag, den wir heute verabschieden wollen, über-schrieben. Wir brauchen eine Reform unseres 40 Jahrealten Sozialhilfegesetzes, das im Kern aktuell gebliebenist und nach wie vor gewährleistet, dass niemand unterdem menschenwürdig Lebensnotwendigen, dem sozio-kulturellen Existenzminimum, leben muss.Unsere sechs Eckpunkte benennen Weichenstellungenfür eine umfassende Reform. Es geht also nicht um Puz-zeleien an einzelnen Paragraphen, nicht um Reförmchenund schon gleich gar nicht um „Verschlimmbesserungen“,wie wir es aus der letzten Wahlperiode so gut kennen. Esgeht vielmehr darum, das Sozialhilfegesetz den verän-derten Anforderungen anzupassen. Es gibt eine verän-derte Empfänger- und Ursachenstruktur.
Das erfordert, dass wir das im Grundsatz fabelhafteSystem auf seine problemgerechte Leistungsfähigkeitüberprüfen, Schnittstellen zu den anderen sozialen Siche-rungssystemen abklopfen und es wieder so fit machen,dass es seinem Auftrag gerecht werden kann,
nämlich Menschen aufzufangen und sie so schnell wiemöglich wieder aus diesem System heraus zu fördern. Da-rauf lege ich Wert.An dieser Stelle sage ich auch: Geldleistungen alleinersetzen keine Ursachenbewältigung. Nicht alle Ursachenlassen sich durch Sozialhilfe lösen. Das alarmierende Pro-blem von Kindern in der Sozialhilfe zum Beispiel mussaußerhalb der Sozialhilfe geregelt werden. Wir sind dabei,Lösungen zu erarbeiten.
– Ihr Kandidat hat gesagt, dass das Geld, um das zu fi-nanzieren, nicht vorhanden ist. An Ihrer Stelle wäre ichganz ruhig.
Frau Kollegin
Lange, ich muss Sie leider darauf hinweisen, dass Ihre Re-
dezeit vorbei ist.
Lassen Sie mich einen letzten
Satz sagen. Wir haben mit unseren vorgelegten sechs Eck-
punkten die Weichen richtig gestellt.
Ihre Vorwürfe treffen uns nicht. Die Fachwelt hat unsere
Reformziele bestätigt. Sie ist bereit, uns auf diesem Re-
formprozess zu begleiten.
Wir werden diese Reform weiterhin in Ruhe vorbereiten
und sie in der nächsten Wahlperiode umsetzen.
Danke.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer.
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Brigitte Lange22210
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nun zurernsthaften Reformdebatte zurückkehren.
Die Fülle der Anträge, die heute für die Debatte zur Re-form des einfachsten sozialen Netzes in Deutschland vor-gelegt worden sind, zeigen, dass es in der Sozialhilfe undin der Arbeitslosenhilfe in der Tat einen hohen Reform-bedarf gibt. Der Thematik, dieses System für die Zukunftzu reformieren, haben Sie sich jetzt durch den Jubel zu ei-ner Rede, die sicherlich dem üblichen Niveau der Kolle-gin nicht angemessen ist, entzogen.Was Sie uns heute hier vorlegen – ich meine den zwei-ten Punkt, nicht das OFFENSIV-Gesetz und die entspre-chende Initiative des Landes Hessen; darauf komme ichgleich –, ist ein Gesetzentwurf zur Änderung des Bundes-sozialhilfegesetzes. Das ist die Verlängerung der Verlän-gerung einer Übergangsregelung.
Die ganze Legislaturperiode haben Sie eine Sozialhilfe-reform angekündigt, die Sie nicht einmal in Ansätzen fer-tig gebracht haben. Der Antrag, den Sie heute vorlegen, istso vage, dass er weit hinter dem zurückliegt, was heuteschon vielerorts Praxis in den Sozialämtern und den Ar-beitsämtern der Bundesrepublik Deutschland ist.
Das zeigt nicht nur die Dringlichkeit einer Reform. Eszeigt auch, wie notwendig es ist, sich über die Prämissendieser Reform klar zu werden, und dass es Mut braucht,diese Reform anzugehen.Ich will ein paar der Prämissen darstellen. Wir alle wis-sen, dass es arbeitsfähige Hilfeempfänger gibt. Was wirbrauchen, ist eine Sozialpolitik, die diese Menschen wie-der in die Lage versetzt, den Sprung in den ersten Ar-beitsmarkt zu schaffen.
Dazu ist unser gegenwärtiges Sozialhilferecht nicht wirk-lich geeignet. Durch die Tatsache, dass praktisch jederHinzuverdienst auf die Sozialhilfe angerechnet wird, istkein wirklicher Ansatzpunkt vorhanden.
Das heißt, wenn man eine Brücke in den ersten Arbeits-markt schaffen will, muss man dafür sorgen, dass die An-rechnungsregelungen in der Sozialhilfe anders ausgestal-tet werden. Nach unserem Vorschlag sollten 50 Prozentzunächst in der Hand des Arbeitsfähigen und Arbeitswil-ligen verbleiben. Diese Anrechnungssätze sollten dannweiter hochgefahren werden. Nur so wird ein Sprungbrettin den ersten Arbeitsmarkt geschaffen.
Zweiter Punkt: „Fördern und fordern“ nennen Sie es.Aber Sie ziehen nicht die Konsequenzen daraus. Wir sa-gen: keine Leistung ohne die Bereitschaft zur Gegenleis-tung. Nur dann können wir in der Tat dafür sorgen, dassdiejenigen, die wirklich etwas leisten wollen, dazu kom-men, während diejenigen, die auf unsere Unterstützungangewiesen sind, diese auch bekommen. Das kann zumBeispiel infolge von Kindererziehung der Fall sein. Wirmüssen aber auch durch eine andere Verwaltung, eine an-dere Organisation, direkte Ansprachemöglichkeiten fürdie Hilfeempfänger schaffen, damit sie stärker gefördertwerden und zeigen können, was sie zeigen wollen.
Es muss dabei ein dritter Punkt sichergestellt sein – dasist genau der Punkt, um den sich die Koalition herum-drückt: Es muss Möglichkeiten für Sanktionen geben.
– Sie sagen, die Sanktionen gebe es heute schon. Es gibtdie Möglichkeit einer teilweisen Kürzung,
die aber – das war die Erfahrung, die uns von den So-zialämtern mitgeteilt worden ist – nicht ausreicht, weil sieaufgefangen werden kann und deshalb nicht wirklich ei-nen Anreiz bietet.An dieser Stelle, Herr Koch, möchte ich Ihnen Folgen-des sagen: Das, was Sie in Ihrem OFFENSIV-Gesetz vor-schlagen, ist bis auf einen Punkt heute schon möglich undwird in vielen Bereichen auch bereits praktiziert – leidernicht überall in Hessen. Es wird zum Teil in dem so ge-nannten MoZArT-Modellversuch umgesetzt; ein sehr de-korativer Name für etwas sehr einfaches, nämlich die Zu-sammenarbeit von Sozialamt und Arbeitsamt. Aber längstnicht alle Möglichkeiten, die diese Modellprojekte bieten,werden ausgeschöpft. Umsetzbar ist das heute schon, undzwar nicht nur in den Modellprojekten. Ich würde mirwünschen, dass auch in Hessen sehr viel stärker davonGebrauch gemacht wird.Es gibt nur einen Punkt, der nicht möglich ist, nämlichschärfere Sanktionen gegenüber denjenigen, die wirklichnicht den Willen haben mitzumachen. Wer nicht mitma-chen kann, braucht unsere Hilfe und soll sie auch in Zu-kunft bekommen. Von dem, der nicht mitmachen will,müssen wir die Bereitschaft zur Gegenleistung verlangen.Wenn sie nicht vorhanden ist, muss es Sanktionsmöglich-keiten geben.
Letzter Punkt dazu: Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfemüssen zusammengefasst werden. Das ist genau derPunkt, vor dem Sie zurückschrecken.
Wir haben dafür einen eigenen Antrag vorgelegt. Es istdie einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass mehrereFormulare ausgefüllt werden müssen. Auch nach IhremModell, Herr Koch, brauchen Sie noch zwei Formulare.Nur wenn Sie es so machen, wie wir es vorgeschlagen ha-ben, nämlich eine einheitliche, transparente Leistung aus
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einer Hand verwirklichen, dann können Sie wirklich eineVereinfachung ohne Schnittstellen haben.Eine solche Reform verdient den Namen Reform. Das,was hier vorgelegt worden ist, ist viel Schaum. Lassen Sieuns zur Ernsthaftigkeit zurückkehren; dann können wirvielleicht noch etwas machen.Danke.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren hier wirklich über einen ausgekochten Plan.
Ich denke, Sie hätten sich, bevor Sie das eingebrachthaben – gerade als Parteien mit dem C in Ihren Partei-namen –, an einen Ausspruch des ehemaligen Ruhr-bischofs Hengsbach erinnern sollen. Er hat Folgendes ge-sagt:Habe ich ohne wichtigen Grund durch eine Wort-meldung eine Sitzung verlängert und somit mich undandere von der Familie fern gehalten, lieber Gott,dann hilf mir, mein großes Maul zu halten, bis ichweiß, worüber ich rede.
Meine Damen und Herren, ich meine, dass man wirk-lich hätte nachdenken sollen, bevor man etwas fordert,was längst möglich ist. Herr Koch hat in seiner Rede vor-hin selber deutlich gemacht, dass es – übrigens auch imLand Hessen – möglich ist, Experimente oder eigeneWege auf das gesamte Land auszuweiten. Sie haben daszum Beispiel bei den Behinderten auch getan – das habenSie vorgetragen – und das ist auch gut so.Aber Sie wollen sich mit Ihren Vorschlägen bzw. mitdem so genannten OFFENSIV-Gesetz mit 30 Prozent derMittel aus den Versicherungsleistungen für Arbeitslosefür Job-Center in Hessen bedienen. Sie wollen 30 Pro-zent der Mittel von den Arbeitsämtern in die Job-Centerumschichten.
Das ist es doch, was Sie für Hessen durchsetzen wollen.Ich kann Ihnen aber versichern, dass die Beschränkungen,die es auf Bundesebene gibt, gut sind. Wir wollen nicht,dass Sie in Hessen für sich allein entscheiden können, wasmit den Mitteln der Versicherten gemacht wird.
Des Weiteren schlagen Sie vor, dass der hessische bzw.kochsche Weg einer Experimentierphase bis 2007 ausge-dehnt werden soll. Wir haben vor – das ist Ihnen bekannt;es ist auch in dem zweiten Gesetzentwurf, den wir heutenoch diskutieren werden, dargelegt –, in der nächsten Le-gislaturperiode, die im Herbst beginnt, vieles von dem,was heute schon vorbereitet und möglich ist umzusetzen,nämlich zum Beispiel die Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe in ein gemeinsames Angebot,
die Maßnahmen im Rahmen von MoZArT, was auch inHessen bereits gemacht wird. Dabei handelt es sich umMaßnahmen, die bereits so weit fortgeschritten sind, dasswir am Beispiel von Best Practice die besten Lösungen fürdie gesamte Bundesrepublik Deutschland finden können.Dazu müssen wir nicht abwarten, bis Hessen 2007 seineExperimentierphase beendet hat.
Das OFFENSIV-Gesetz, das Sie einbringen, ist an ei-ner Stelle offensiv. Es greift nämlich offensiv in die De-batte um Hängematten und Faulenzer ein. Das ist der Hin-tergrund.
Ich meine, dass wir die Diskussion so nicht mehr führendürfen. Herr Koch hat diese Begriffe hier nicht benutzt;aber er hat sie zum Beispiel in seiner Pressemitteilung, inder er das OFFENSIV-Gesetz in Hessen vorgestellthat,verwendet.Reden wir doch einmal über die Sanktionen. Sie wol-len sie ausweiten und verschärfen. Das haben Sie hierwieder vorgetragen. Es gibt bereits Sanktionsmög-lichkeiten. Man kann die Eckregelsätze bei den Sozial-hilfeempfängern um 25 Prozent kürzen und bei mehr-fachem Verstoß sogar die gesamte Sozialhilfe streichen.Das reicht Ihnen als Sanktionsmöglichkeiten offenbarnicht aus. Ich weiß nicht, wie weit Sie noch gehen wollen.
– Dass die FDP sagt, dass dies richtig ist, wundert unsnicht. Denn Sie wollen – das zeigen Ihre Debattenbeiträ-ge – verlässliche und vernünftige Sozialhilfe, um dieLeute in den Stand zu versetzen, sich flexibel auf den Ar-beitsmärkten zu bewegen. Stattdessen wollen Sie bei denbestehenden Sanktionen noch nachlegen – hinsichtlichder Sozialhilfe habe ich das eben ausgeführt – und redendie beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfebestehenden Sanktionsmöglichkeiten einfach klein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Dr. Irmgard Schwaetzer22212
Dass die Arbeitslosen heutzutage so gut wie jeden Jobannehmen müssen, ist Ihnen bekannt. Was sie jedochbrauchen, ist Hilfe, um in die Jobs hineinzukommen. Siemüssen qualifiziert werden und brauchen Angebote auseiner Hand. Dabei stehe ich ganz auf Ihrer Seite, HerrKoch. Aber solche Angebote sollten wir nicht erst nach2007, sondern schon in der nächsten Legislaturperiodeeinführen.
Herr Koch, Sie haben von einem notwendigen Para-digmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik gesprochen.Richtig! Wir haben diesen notwendigen Paradigmen-wechsel mit dem Job-AQTIV-Gesetz eingeleitet. Nur, un-ser Paradigmenwechsel ist anders als der kochsche; dennwir setzen auf die Integration in den erstenArbeitsmarkt, und zwar mit einem Set von Maßnahmen,mit vernünftiger Beratung und mit Eingliederungsverein-barungen. Die Integration muss im Vordergrund stehen.Die Menschen dürfen nicht erst langzeitarbeitslos sein,bevor ihnen geholfen wird. Es muss ihnen sofort geholfenwerden. Der Gedanke der Integration muss, wie gesagt,im Vordergrund stehen.Ihr Paradigmenwechsel zielt auf etwas ganz anderesab. In Ihrer damaligen Pressemitteilung – auch das habenSie heute hier nicht so deutlich gesagt – ist zu lesen, dassjede Arbeit – ich betone: jede – würdiger sei als der Be-zug von Transferleistungen. Herr Koch, das ist der Para-digmenwechsel, den Sie wollen.
– Frau Schwaetzer, ich glaube Ihnen, dass Sie das richtigfinden. – Wenn wir über diesen Paradigmenwechsel dis-kutieren, müssen wir auch über die Arbeitslosen in denneuen Ländern reden – ich glaube, Herr Laumann von derCDU/CSU-Fraktion wird mich sicherlich darin unterstüt-zen –, zum Beispiel über einen älteren Ingenieur, der ar-beitslos geworden ist, oder über eine junge Frau, die nachder Erziehungsphase wieder in den Arbeitsmarkt hinein-finden muss. In diesen Fällen kann es doch nicht darumgehen, dass jede Arbeit angenommen werden muss. Sol-chen Menschen muss vielmehr eine Arbeit angebotenwerden, die ihnen die Chance bietet, irgendwann auf demersten Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Daran müssenwir uns orientieren.
Was Sie in der jetzigen Debatte suggerieren – das istdas Gefährliche –, ist, dass Faulheit und Hängemat-tenmentalität die Ursache seien, die wir bekämpfen müss-ten. Nein, das ist nicht das Problem.
Sicherlich gibt es schwarze Schafe unter den Arbeits-losen. Aber die gibt es auch in anderen Bevölkerungs-gruppen. Das ist aber bestimmt nicht der Punkt, an demwir unsere Politikkonzepte ausrichten müssen. Das Pro-blem sind vielmehr
der große Mangel an Arbeitsplätzen und das „Miss-match“, dass also die Qualifikationen der Bewerber unddas Anforderungsprofil der Stellen nicht zusam-menpassen.Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen den Menschenmehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen, ge-rade auch den jungen. Sie sind bereits sehr flexibel, undzwar so flexibel, dass es schon wieder zu einem Problemwird, wenn man sieht, wie viele junge Menschen aus denneuen Ländern abwandern.
Wir müssen sie mithilfe einer stabilen und verlässlichenSozialpolitik in die Lage versetzen, die Anpassungspro-zesse zu leisten, die der Arbeitsmarkt ihnen abverlangt.Man darf ihnen aber nicht das Arbeitslosengeld oder so-gar die Sozialhilfe vollständig streichen. Das ist nicht un-sere Vorstellung von Fördern und Fordern.
Wir brauchen die Betreuung aus einer Hand. Das seheich ganz genauso. Das ist richtig. Wir brauchen natürlichauch ein vernünftiges Verhältnis zwischen Fördern undFordern. Die Eingliederungspläne, die wir auf den Weggebracht haben und mit deren Hilfe die Arbeitslosen vielindividueller beraten und vermittelt werden können, er-möglichen auch die Nutzung der vorhandenen Sanktions-möglichkeiten. Sie werden heute häufig nicht angewandt.Aber es gibt sie. Eine Verschärfung der Sanktionen ist da-her nun wirklich nicht notwendig.Frau Schwaetzer, Sie haben vorhin dazwischen-gerufen: Warum legen Sie nicht schon jetzt die Arbeits-losen- und Sozialhilfe zusammen?
Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren etwas ge-macht, was Sie nie geschafft haben: Wir haben das Pro-jekt „MoZArT“ aufgelegt. Es gibt in vielen Städten in die-sem Land genau das, was Sie immer fordern.
Bedenken Sie aber: Man kann eine solch grundsätzlicheReform wie die jetzige, bei der es um viele Menschen undum viel Geld geht, nicht übers Knie brechen. Wir wollenkeine Schnellschüsse; wir wollen tatsächlich helfen.
– Herr Niebel, das Nebelhorn ruft wieder.
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Dr. Thea Dückert22213
Wir wollen eine Gemeindefinanzreform,
weil wir nicht, wie Herr Koch, wollen, dass sich die Kom-munen aus der Arbeitslosenversicherung bedienen unddass die geplanten Reformprojekte – Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfe sowie die entsprechenden Betreuungs-angebote aus einer Hand – die Kommunen zusätzlichfinanziell belasten. Deswegen brauchen wir die Einbet-tung in eine Gemeindefinanzreform
und das – das gebe ich gerne zu – schaffen wir in dennächsten vier Monaten nicht mehr.
Wir werden das aber in der nächsten Legislaturperiode an-gehen.
– Doch, Herr Niebel, wir schon!Sie haben gerade dargestellt, was Sie wollen. Sie wol-len das Modell Wisconsin. Die eine Hälfte, die Hilfe undbessere Betreuung betrifft, ist in Ordnung. Sie wollen aberauch die andere Hälfte und die ist nicht in Ordnung, weilsie nicht sozial verträglich ist, weil die Sozialhilfe für be-stimmte Personengruppen irgendwann vollständig gestri-chen wird. Das kann nicht sein.Sie reden über etwa 800 000 Sozialhilfeempfänger, diearbeitsfähig sind. Davon ist die Hälfte in Arbeit oder inProjekten.
Es bleiben also etwa 400 000 Sozialhilfeempfänger. Siebenutzen das – das werfe ich Ihnen vor –, um den Sozi-alabbau, den Abbau von Sozialhilfe und die gänzlicheStreichung von Sozialhilfe wieder in die Diskussion zubringen. Das ist eine vordergründige Debatte. Wir habenmit dem Job-AQTIV-Gesetz und mit dem Antrag „För-dern und fordern – Sozialhilfe modern gestalten“, den wirheute verabschieden werden,
den richtigen Weg eingeschlagen. Wir wollen das trans-parent machen. Wir wollen natürlich die Selbstverant-wortung der Menschen, die ohne Arbeit sind, stärken. Wirwollen die Best-Practice-Beispiele aus dem MoZArT-Projekt umsetzen. Das ist unser Antrag; das ist unsereLinie.Sie – das sage ich Ihnen noch einmal – wollen eineFaulenzerdebatte nach vorn bringen,
die Betroffenen nicht integrieren, sondern ihnen letztlichselbst die Schuld für die Arbeitslosigkeit geben. Diese un-soziale Debatte machen wir nicht mit.Danke schön.
Das Wort hat die
Abgeordnete Pia Maier.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Hessen hat das OFFENSIV-Gesetz in denBundesrat eingebracht und ist damit zum Glück geschei-tert. Im Bundestag wird es als Unionsinitiative wohl eben-falls scheitern. Ich hoffe nur, dass es nicht Gegenstand dernächsten Unterschriftenkampagne in Hessen wird.
Würde dieses Gesetz verabschiedet, entstünde wirklichein skurriler Wettbewerb. Es gäbe einen Wettbewerb zwi-schen den Bundesländern darum, welches Land amschnellsten die schlechtesten Regelungen für Sozial- undArbeitslosenhilfe erlassen kann, um die Arbeitslosen undSozialhilfeempfänger dann am effektivsten zu gängeln.Nur gut, dass Sie damit im Bundesrat gescheitert sind!Sie wollen für die Länder weit gehende Öffnungsklau-seln für die Sozialleistungen einführen. Geöffnet wirdaber nur nach unten. Das kann doch wirklich kein Ziel vonSozialpolitik sein.
Bisher sind die Regeln dafür, wann jemand Sozialleis-tungen erhält, in den wesentlichen Grundzügen im ganzenBundesgebiet gleich. Die Regelsätze der Sozialhilfe un-terscheiden sich in den alten und neuen Bundesländernkaum voneinander – mit Ausnahme der Mindestregel-sätze in Bayern.Ich möchte gern ein Beispiel dafür anführen, was dievon Ihnen vorgeschlagenen Änderungen vermutlich be-wirken würden: In Wiesbaden beträgt der volle Regel-satzbedarf für eine Familie mit zwei Kindern zurzeitungefähr 961 Euro – ohne Miete. Bei einer Leistungsein-schränkung nach § 25 BSHG – das sind die Sanktionen,die Sie ausbauen wollen – gilt bundesweit, dass für dieVerstöße des Vaters nicht die ganze Familie haften muss.Deswegen wird bei Fehlverhalten des Vaters nur sein Teilder Sozialhilfe gekürzt. Diese Sanktionen wollen Sie ver-schärfen. Es soll nicht mehr nur beim Bedarf des Vatersgekürzt werden, sondern die ganze Familie soll den Gür-tel enger schnallen.Nehmen wir die Familie in Wiesbaden als Beispiel. Sieerhält 961 Euro Sozialhilfe. Der Vater weigert sich, eine
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Dr. Thea Dückert22214
Arbeit anzunehmen, die das Amt für zumutbar hält. InHessen würde, wenn ich die vorgeschlagenen Regelungenrichtig verstehe, die Sozialhilfe um wahrscheinlich bis zu190 Euro gekürzt. Zöge diese Familie nur wenige Kilo-meter weiter nach Mainz, würden nur ungefähr 60 Euroabgezogen. In Hessen bekäme die Familie also 130 Euroweniger als in Rheinland-Pfalz. In der gleichen Situationmüsste die gleiche Familie aufgrund unterschiedlichenLandesrechts mit deutlich unterschiedlichen Sozialleis-tungen auskommen, und das auf dem niedrigsten Lebens-niveau. Dieses Beispiel steht für nur eine von mehrerenSanktionen, die Sie verschärfen wollen.Das OFFENSIV-Gesetz will gerade bei Familien, dievon Sozialhilfe leben, sparen, um den Lohnabstand zu er-höhen. Das ist hessische Sozialpolitik, die von der PDSnicht mitgetragen wird.
Mit diesem Gesetz schüfen Sie deutlich unterschiedlicheLebensbedingungen für Hilfeempfänger und -empfänge-rinnen. Das geht weit über das hinaus, was in Modellver-suchen bislang zugelassen wurde. Der grundgesetzlichenPflicht zur Herstellung gleicher Lebensbedingungenwiderspricht das wirklich massiv.Außerdem würden Sie die angrenzenden Länder inZugzwang bringen. Die Länder müssten versuchen, ver-gleichbare Regelungen zu schaffen, weil sonst womög-lich alle Sozialhilfeempfänger von Wiesbaden nachMainz – das würde Mainz wohl auch nicht wollen – zö-gen. Das darf kein Ziel einer ausgleichenden Politik sein.Mit dem OFFENSIV-Gesetz will man Arbeitsloseschnell in Niedriglohnjobs bringen. Dafür breiten Siehier das ganze Instrumentarium aus, mit dem Arbeitslosegegängelt werden können, damit sie Arbeit annehmenmüssen: egal wie sie bezahlt wird, egal was man vorhergemacht hat oder welche Qualifikation man hat. Sie wol-len auch, dass jemand, der 600 Euro Arbeitslosenhilfebekommt, eine Arbeit für 500 Euro annehmen muss.Hauptsache, es wird gearbeitet, egal zu welchen Bedin-gungen!Dieser Ansatz ist viel zu kurzsichtig, erstens für dieNiedriglöhner selbst. Wer für einen Hungerlohn – derLohn reicht gerade noch so zum Leben – dauerhaft arbei-tet, hat nicht mehr genug in der Tasche, wenn er dann vonKrankengeld, Arbeitslosengeld oder Rente leben muss,die auf der Grundlage dieses Lohns berechnet wird.Zweitens. Gerade schlecht bezahlte Jobs werden alserste abgebaut, wenn ein Betrieb Mitarbeiter entlässt. DieGefahr, gleich wieder arbeitslos zu sein, ist also enormhoch.Drittens. Mit solchen Vorschlägen setzen Sie das ge-samte Lohngefüge unter Druck. Wenn es immer mehrLeute gibt, die schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen,steigt der Druck auch auf diejenigen, die noch etwas mehrbekommen, auf Lohn zu verzichten. Die Lohndumping-spirale nach unten bekäme neuen Schwung. So haben Ar-beitnehmer immer weniger Geld in der Tasche, das sieausgeben können und mit dem die Nachfrage angeregtwerden könnte. Das ist keine Politik mit Weitsicht fürmehr Beschäftigung.
Auf die eigentlich spannenden Fragen geben Sie garkeine Antwort: Wo sollen die Leute denn eigentlich allearbeiten? Wo sind denn die Stellen, die von den Arbeits-losen – mit entsprechendem Druck – angetreten werdenkönnten? In Hessen kommen auf derzeit 267 000 Arbeit-suchende ganze 37 000 gemeldete offene Stellen. DasMissverhältnis von sieben Bewerbern pro offener Stellemüssen Sie doch erst einmal umkehren, bevor Sie mit sol-chen Vorschlägen kommen.
Aber: So was kommt eben von so was. Die HessischeLandesregierung hat ihre Ideen in Wisconsin geklaut.
Dort herrscht nahezu Vollbeschäftigung. Programme die inWisconsin bei Vollbeschäftigung funktionieren, lösen ganzandere Probleme als die, die wir hierzulande haben. Hiersind zu wenig Arbeitsplätze das Problem und nicht zu we-nig Arbeitskräfte wie in Wisconsin. Die Orientierung aufBilligjobs schafft neue Probleme, die wir noch gar nicht indem Ausmaß haben, wie sie in den USA schon bestehen:Die Zahl der Working Poor, also derer, die um leben zu kön-nen, mehrere Jobs brauchen, ist in den USAdeutlich höher.Zum Glück haben wir solche Zustände noch nicht.
Wir haben ein höheres Maß an sozialer Sicherheit undausgleichender Gerechtigkeit als die Vereinigten Staaten.So soll es auch bleiben.Wenn Sie die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen wol-len, dann müssen Sie Arbeitsplätze schaffen. Geben Sieden Kommunen zum Beispiel Geld für Investitionen! Of-fenbach hat schon lange kein Geld mehr im Stadtsäckel.Schaffen Sie doch eine Pauschale ohne Kofinanzierung,die die Stadt ausgeben kann! Einziges Kriterium: Auf-tragsvergabe an Betriebe, die Arbeitslose einstellen. Da-mit könnten Sie die Arbeitslosigkeit abbauen.
Wenn Sie die Arbeitslosigkeit dauerhaft abbauen wol-len, dann sollten Sie besser die Nachfrage ankurbeln. DieArbeitslosenhilfe abzuschaffen, den Ärmeren noch weni-ger zu geben, hilft der Nachfrage nicht. Stattdessen sollteTariftreue mit öffentlichen Aufträgen belohnt werden.Sie sollten die vorhandene Arbeit besser verteilen, stattÜberstunden zu dulden und öffentliche Arbeitsplätze inden Bereichen einzurichten, die sich ohnehin für kein Un-ternehmen betriebswirtschaftlich rechnen.
Sie sollten die soziale Sicherheit stärken, statt sie weiter-hin aufzulösen.
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Pia Maier22215
Hier stehen sich wirklich zwei Prinzipien gegenüber:Soziale Unsicherheit oder soziale Sicherheit schaffen?Die Union und Ministerpräsident Koch wollen Unsicher-heit und weniger soziale Leistungen. Sie wollen mehrDruck, damit schlechtere Arbeit angenommen wird, da-mit die Löhne sinken und die, die Arbeit zu vergeben ha-ben, noch reicher werden.Die PDS stellt diesem Sozialabbau ein Konzept sozia-ler Sicherheit entgegen, verteidigt klare Ansprüche aufSozialleistungen und das Recht auf ordentlich bezahlteArbeit. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn, deruntere Standards sichert, und ein Vergabegesetz gegenBilliganbieter.
Statt Abschaffung der Arbeitslosenhilfe schlagen wir dieEinführung einer Grundsicherung vor.
Außerdem sollen die Kommunen besser von den Kostender Arbeitslosigkeit entlastet und alle Sozialhilfeempfän-gerinnen und -empfänger in die Arbeitslosenversicherunggeholt werden.Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Sätze zurSozialhilfereform der Bundesregierung sagen, die wirheute auch mit verabschieden. Sie verlängern mit dieserSozialhilfereform die Regelung, dass die Regelsätze analogzur Rente angepasst werden. Die Regelsätze sind mangelsSteigerung in den letzten Jahren ohnehin schon zu niedrig.Nach der Rentenreform steigen jetzt die Renten noch gerin-ger. Die BfA veröffentlichte gerade, dass die Renten in die-sem Jahr mit der alten Regelung – vor der Riester-Reform –um einen Prozentpunkt mehr gestiegen wären. Es wird Sienicht wundern, dass die PDS dem nicht zustimmt, sonderneine Anpassung der Regelsätze nach Lebenshaltungskostenfordert, um eine schleichende Armut zu vermeiden.Herr Koch, Sie können sich sicher sein: Gegen dasOFFENSIV-Gesetz werden wir offensiv vorgehen.Danke.
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike
Mascher.
U
Frau Präsidentin!Sehr verehrte Damen und Herren! In Deutschland gibt esschon seit längerem, nicht erst seitdem der Ministerpräsi-dent aus Hessen sich in die Diskussion eingeschaltet hat,eine Diskussion darüber, wie der Grundsatz „Fördern undFordern“ in den großen sozialen Sicherungssystemen um-gesetzt werden soll. Diese Diskussion mit Vorschlägenvon sehr unterschiedlicher Qualität spiegelt sich auch inden Anträgen wider, die wir heute beraten.Die Regierungskoalition legt konkrete Regelungenvor, die für die laufende Arbeit der Sozialämter wichtigsind, und einen Antrag, der zeigt, wie wir das große Pro-jekt für die nächste Legislaturperiode angehen wollen, dieReform der Sozialhilfe und die Kodifizierung im Rah-men des Sozialgesetzbuches als XIII. Buch.
Diese Reform muss auch eine Neujustierung der Hilfe zurArbeit im Rahmen der Sozialhilfe und der Arbeitslosen-hilfe im System der Arbeitslosenversicherung bringen.Der Umfang allein dieses Projektes wird deutlich, wennwir uns die finanziellen Größenordnungen vor Augenführen, Frau Dr. Schwaetzer. Daraus ersieht man auch,warum man das nicht hoppla hopp machen kann.
Die Arbeitslosenhilfe hatte 2000 ein Volumen von12,78 Milliarden Euro, davon allein 3,84 Milliarden Eurofür Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, finanziertaus den Steuermitteln des Bundes. 4,9 Milliarden EuroHilfe zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Sozialhilfe-bezieher und ihre angehörigen Bedarfsgemeinschaftenwurden von Ländern und Kommunen finanziert und1,1 Milliarden Euro haben die Kommunen für Hilfezur Arbeit ausgegeben. Diese Leistungen gehen an1 460 000 Arbeitslosenhilfebezieher und circa 950 000 er-werbsfähige Sozialhilfeempfänger und ihre Familien. Ins-gesamt brauchen rund 2,7 Millionen Menschen in unse-rem Land Sozialhilfe.Der Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundes-regierung im vergangenen Jahr erstmals vorgelegt hat, sagtuns, wie es um die Lebenslage dieser Menschen bestellt ist.
Er zeigt, wie Menschen ökonomisch absteigen. Er be-schreibt, welche sozialen Gruppen besonderem Risikoausgesetzt sind. Es sind vor allen Dingen Frauen, Allein-erziehende, Familien mit mehreren Kindern und Zuwan-dererfamilien, die so in Not geraten, dass sie Hilfe zumLebensunterhalt brauchen. Allein bei den Kindern unter18 Jahren gibt es rund 1Million Sozialhilfeempfänger. Ichglaube, wir sind uns alle darüber im Klaren, dass ein rei-ches Land wie die Bundesrepublik sich diesen Skandalnicht länger leisten kann.
Fehlende Arbeitsplätze, schlechte Qualifikation, geringesErwerbseinkommen, Überschuldung, fehlende Kinderbe-treuungsplätze – Herr Singhammer, vor allen Dingen inBayern – gehören zu den wichtigsten Ursachen von Be-dürftigkeit, hier speziell von Alleinerziehenden.
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Pia Maier22216
Die Zahl der Menschen, die Hilfe zum Lebensunterhaltaußerhalb von Einrichtungen bekommen, hat sich alleinwährend der Regierungszeit von Helmut Kohl mehr alsverdoppelt. Hinter dieser Zahl stehen nicht nur schweremenschliche Schicksale, sondern auch große finanzielleBelastungen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat im Jahr2000 insgesamt rund 9,5 Milliarden Euro gekostet. Die Er-fahrungen der Praxis und die Analyse der Anforderungen,die an ein zukunftsfähiges System der Sozialhilfe gestelltwerden, zeigen, dass wir eine grundlegende Reform brau-chen. Die Bundesregierung, die Fraktionen von SPD undBündnis 90/Die Grünen, aber auch die Kommunen und ei-nige Länder haben hier schon erste Schritte unternommen.Wir haben in den drei Jahren, die wir jetzt an der Re-gierung sind, ein ganzes Bündel von Gesetzen auf denWeg gebracht, die wesentlich dazu beitragen, dass Men-schen erst gar nicht sozialhilfebedürftig werden.
Ich nenne beispielsweise die steuerliche Entlastung vonArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Entlastungvon Familien, die Verbesserung des Familienlastenaus-gleichs,
die Wohngeldreform, die Sie seit 1990 haben schleifenlassen,
die soziale Grundsicherung im Alter und bei dauerhafterErwerbsminderung aus medizinischen Gründen, die Ar-beitsmarktpolitik, das Programm zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit. Es zeigt sich auch ein Erfolg dieserPolitik: Die Zahl der Sozialhilfebedürftigen ist seit 1998um insgesamt 7 Prozent zurückgegangen.Die Sozialhilfe ist und bleibt für uns eine unverzicht-bare Säule des Sozialstaates. Wir müssen sie stärken undauf neue Anforderungen ausrichten.
Unser Ziel ist es, den Menschen die Führung eines Lebenszu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht,wenn eigene Mittel, familiäre Unterstützung und vorran-gige Sozialleistungen immer noch nicht ausreichen undder Hilfesuchende sich aus eigener Kraft nicht helfenkann. Die Sozialhilfe soll auch in Zukunft nicht nur diematerielle Existenz sichern, sondern auch die Teilhabe amsozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermög-lichen. Wir wollen das zum Beispiel durch die nationalenAktionspläne gegen Armut und soziale Ausgrenzung er-reichen, die wir gemäß Beschluss der EU in Lissabon imJahr 2000 im Zweijahresturnus vorlegen werden.
Frau Kol-
legin Mascher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Meckelburg?
U
Ja.
Bitte
schön, Herr Meckelburg.
Ich bitte um
Verzeihung, Frau Mascher, dass meine Frage ein bisschen
Abstand zu dem hat, was Sie gerade gesagt haben. Es war
etwas schwierig, Kontakt zum Präsidium zu bekommen.
Eben haben Sie aufgelistet, was Sie in der Sozialpoli-
tik alles gemacht haben und was nach Ihrer Aussage dazu
geführt hat, dass es allen besser geht. Würden Sie mir für
Ihr Haus und damit diese Bundesregierung bestätigen,
dass in den Jahren 2000 und 2001, wo die Rentenanpas-
sungen niedriger als die Inflationsrate lagen und die So-
zialhilfesätze an diese gekoppelt waren, die Sozialhilfe-
empfänger immer weniger in den Taschen hatten, da die
Inflation stärker als die Sozialhilfesätze gestiegen ist?
Können Sie mir das bestätigen?
U
Nein, das kann ichIhnen nicht bestätigen.
Wir verstehen die Sozialhilfe als Hilfe zur Selbsthilfemit dem Ziel, Menschen wieder zu befähigen, unabhän-gig von der Sozialhilfe zu leben. Das heißt vor allem,Menschen wieder ins Erwerbsleben zu integrieren. Wirstehen hier vor einer sehr komplexen Herausforderungund vor einer Aufgabe, die Sachkompetenz und sorgfäl-tige Abstimmungen voraussetzt, aber auch soziales Ge-spür und soziale Intelligenz verlangt. Aus gegebenem An-lass appelliere ich nicht nur an die Kollegen derOpposition, sondern an uns alle, verantwortungsvoll mitdem Thema Sozialhilfe umzugehen und keine Illusionenzu nähren, dass man hopplahopp Armut beseitigen und So-zialhilfebezug verringern kann, aber auch keine Vorurteilezulasten der Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosen-hilfe zu befördern und das soziale Klima in unserem Landzu verschlechtern. Das haben insbesondere die Kindervon Sozialhilfeempfängern nicht verdient.
Ich finde es problematisch, wenn Herr Stoiber vor-rechnet, wie viele neue Stellen sich bei Umsetzung seinerVorschläge schaffen ließen, oder wenn Herr Koch Sün-denböcke schafft, indem er suggeriert, dass sich das Pro-blem der Sozialhilfe von allein löse, wenn man – erlaubenSie mir das Bild – die Daumenschrauben nur ein weniganziehe.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher22217
Meine Damen und Herren, wir sprechen von Proble-men, die mehrere Millionen Menschen betreffen, Men-schen, die oft ganz unverschuldet in eine schwierige Le-benslage geraten sind.
Ich denke, wir alle sind uns einig, dass diese MenschenRespekt und gezielte Hilfe verdienen. Das ist jedenfallsder Anspruch, mit dem die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen an die Reform der Sozialhilfe he-rangehen.Wir haben das in dem Antrag „Fördern und Fordern –Sozialhilfe modern gestalten“ im Einzelnen dargelegt.
– Frau Dr. Schwaetzer, ich vertraue auf Ihre Lesefähig-keit. – Wichtige Aspekte sind dabei:Erstens. Die eigentliche Notlage: Der Hilfebedürftigemuss stärker in den Vordergrund gestellt werden. Vorran-giges Ziel der Leistung ist die Überwindung der Hilfe-bedürftigkeit bei Arbeitslosigkeit, Überschuldung undWohnungslosigkeit. Die Bearbeitung von Familienpro-blemen und die Auflösung von Betreuungsdefiziten ge-lingen nur dann, wenn sich der Hilfesuchende aktiv betei-ligt. Wir wollen die Hilfebedürftigen stärker in denHilfeprozess einbeziehen. Sie sollen als Partner ernst ge-nommen werden. Denn wir sind sicher, dass das ein ers-ter wichtiger Schritt ist, um eine Notlage zu überwinden.Anreize und Sanktionen können den Prozess unterstützen,sind aber kein Selbstzweck.Zweitens. Geldleistungen der Sozialhilfe, also der Re-gelsatz, Unterkunftskosten und einmalige Leistungen,müssen nach wie vor als soziale Leitplanken zur Über-windung einer Notlage gesehen werden. Das bedeutet, siemüssen so ausgestaltet sein, dass keine soziale Ausgren-zung erfolgt, aber auch so, dass sie nicht dazu verleiten,sich darin einzurichten. Die Geldleistungen müssen, ins-besondere im Bereich der einmaligen Leistungen, verein-facht werden. Der Betroffene muss wissen, womit er wirt-schaften kann, und soll nicht ständig als Bittsteller mitungewissem Ausgang antreten müssen. Die Verwaltungmuss von den komplizierten Einzelfallregelungen entlas-tet werden.Drittens. Diese tiefgreifende Umgestaltung der Sozial-hilfe kann man nicht einfach von oben verordnen. Wirwollen deswegen all die Erfahrungen, die wir mit der Ex-perimentierklausel, der Pauschalierung von Sozialhilfe-leistungen und den verschiedenen Projekten im Bereichder Hilfe zur Arbeit gemacht haben, auswerten. Dabeiwollen wir nicht bis zum Jahr 2007 warten. Dieses Datumwird ja in dem Gesetzentwurf, der in Hessen ausgebrütetworden ist, nahe gelegt.
Wir wollen den Grundsatz des Förderns und Forderns,den wir schon im Job-AQTIV-Gesetz umgesetzt haben,auch im Bereich der Sozialhilfe zur Geltung bringen. Aberman muss ganz klar sagen: Wir wollen keine Sanktionen,die zum Beispiel so weit gehen, dass Kinder vom Fehl-verhalten ihrer Eltern betroffen werden. Das kann nichtunsere Politik sein.
Eines lässt die CDU/CSU in ihrem Antrag ganz lockerbeiseite, nämlich die Schlüsselfrage: Wie wird das alles fi-nanziert? Was bedeutet das für die Finanzverfassung?Sich einfach an der Arbeitslosenversicherung anzudockenund sie zur Finanzierung anzuzapfen, das halte ich fürkein seriöses Konzept.
Das Ziel der Bundesregierung ist eine umfassende So-zialhilfereform. Wir befinden uns auf gutem Kurs. Wirbrauchen keine neuen Experimentierklauseln bis 2007.Wir brauchen auch keine Schnellschüsse. Die Vorarbeitenfür die Reform werden vorangetrieben.Die von Peter Hartz geleitete Kommission wird zuorganisatorischen Fragen sowie zu den Schnittstellenzwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Vorschlägeerarbeiten. Die Kommission zur Gemeindefinanzreformwird die Fragen der Finanzverantwortlichkeiten zwi-schen Bund, Ländern und Gemeinden klären. Wirwerden die Erfahrungen mit den Experimentierklau-seln und den MoZArT-Projekten sowie die Ergebnisseder Arbeit zum Beispiel der Bertelsmann Stiftung aus-werten.
Wir werden sehr genau sehen, was in den Familien- sowieKinder- und Jugendberichten zur Situation von Frauenund Alleinerziehenden steht. Wir werden eine Sozialhil-fereform durchführen, die abgestimmt ist und die zwarkeine Patentrezepte enthält, aber eine wirklich grund-legende Neuordnung dieses wichtigen Bereiches mit sichbringt.
Wir versprechen hier nicht, den Königsweg erfunden zuhaben. Wir behaupten auch nicht wie Herr Koch oder HerrStoiber, wir hätten den Stein der Weisen in der Tasche,
ohne ein Finanzierungskonzept zu haben. Wir wollennicht fünf Jahre warten,
bis wir bundesweit das Ziel einer besseren Integrationdurch Erwerbsarbeit erreichen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher22218
Als
nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Was wir heute im Deut-schen Bundestag erleben, ist schon sehr bezeichnend.Trotz des Höchststands der Arbeitslosenzahlen von4,3 Millionen und trotz der Tatsache, dass wir heute daszentrale Thema der Zusammenlegung von Arbeitslosen-und Sozialhilfe diskutieren, glänzte der Bundesministerfür Arbeit zunächst einmal durch Abwesenheit
und musste erst durch eine Initiative der Opposition dazubewegt werden, sich gnädig dazu herabzulassen, endlichin diesem Hohen Hause zu erscheinen.Das passt zusammen: erst 1,2 Millionen Arbeitsloseaus der Statistik herauswerfen und dann, wenn im Bun-destag darüber debattiert wird, nicht da sein.
Stärker kann man seine Verachtung und Nichtachtung derArbeitslosen in Deutschland nicht ausdrücken, als esWalter Riester hier tut.
Nachdem Sie nun endlich da sind, Herr Minister, wol-len Sie nachher auch noch das Wort ergreifen.
Nach den vielen Absichtserklärungen, die wir nun gehörthaben, erwarte ich von Ihnen, dass Sie hier klipp und klarsagen, wie Sie Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusam-menführen wollen und das Hilfeinstrumentarium fürLangzeitarbeitslose einheitlich so ausgestalten wollen,dass es tatsächlich Wirkung hat.Denn es ist doch merkwürdig: Bei der CDU/CSU, beider FDP,
bei den Koalitionsfraktionen wird erklärt, sie wollten Ar-beitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen. Aber esgeschieht nichts. Auch heute geschieht nichts. Das ist dasFaktum.
Es geschieht nur eines: Auf Antrag der Bundesregierungwerden heute mehrere Übergangsfristen im Bundes-sozialhilfegesetz noch einmal bis zum Jahr 2004 verlän-gert, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, nichts zu tun.Das ist das, was heute beschlossen wird: ein Gesetz zumNichtstun!
Sie haben angekündigt, eine Sozialhilfereform durch-zuführen; daran darf ich Sie erinnern. Sie haben derzeitnoch die Mehrheit im Deutschen Bundestag. Sie stellenderzeit die Bundesregierung. Sie könnten handeln!
Stattdessen legen Sie dem Deutschen Bundestag einenweiteren Antrag vor, in dem Sie erklären, was Sie allesgerne machen würden, wenn Sie auch in der nächstenLegislaturperiode wieder an die Regierung kommenkönnten.Ich will Ihnen eines sagen:
Ihre Methode des Vertröstens, die Sie heute anwenden,und Ihre Ankündigungen sind deswegen Schall undRauch, weil Sie, wenn Sie so weitermachen, nach dem22. September gar keine Gelegenheit mehr haben werden,das, was Sie jetzt erzählen, in die Tat umzusetzen.
Mit dem Entwurf des OFFENSIV-Gesetzes liegt jetztwenigstens ein konkreter Vorschlag vor, den Sie be-schließen könnten,
um einen ersten Schritt zu unternehmen – ich betone:nicht, um alle Probleme zu beseitigen –, um Arbeitslosen-und Sozialhilfe wirklich zusammenzuführen:
gemeinsame Job-Center und die gleichen Beratungs- undHilfemöglichkeiten für alle Hilfebezieher, gleiche Zu-mutbarkeitsschranken für alle Langzeitarbeitslosen, glei-che Förderinstrumentarien, gleiche Möglichkeiten, beiArbeitsaufnahme etwas hinzuzuverdienen und damit ei-nen besseren Arbeitsanreiz zu haben als bisher, gleicheMöglichkeiten der Qualifizierung, gleiche Sanktions-möglichkeiten, wenn Hilfe und Arbeitsgelegenheit trotzAngebot abgelehnt werden.Sie wissen ganz genau, dass in all Ihren schönenModellversuchen, die Sie so sehr loben, eines bleibt:Die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen desSozialhilfegesetzes und des SGB III stehen nebenei-nander.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002 22219
Wir machen ein Angebot zu einem ersten Schritt, bei-des wirklich zusammenzuführen. Dabei könnten Sie mit-machen. Aber Sie sagen: Nein, das vertagen wir.
Sie haben große Schreckensszenarien entworfen, dieaber alle daneben liegen. Uns geht es um das Prinzip, dassder Arbeitslose einen Betreuer bekommt und dass er nuraus einem Geldtopf Förderung erhält.
Wir bieten den arbeitslosen Menschen, die eine Arbeit su-chen, eine Eingliederungsvereinbarung an.
In diesem verbindlichen Vertrag zwischen Hilfebezieherund dem Amt sollen Rechte und der Anspruch auf Leis-tungen, aber auch entsprechende Gegenleistungen fest-geschrieben werden.
– Ich muss so laut sprechen, weil ihr die Wahrheit nichtvertragen könnt und deshalb dazwischenruft. Das ist derPunkt.
Anstatt den richtigen Schritt zu gehen – dass man ihngehen kann, beweist das OFFENSIV-Gesetz –, zählen SieIhre Bedenken auf, die schon seit Jahrzehnten vorge-tragen werden. Der neue Chef der Bundesanstalt für Ar-beit, der von Ihnen ins Amt gesetzte Florian Gerster,
hat in einem Gespräch mit der „Frankfurter AllgemeinenZeitung“ festgestellt:Deutschland ist zu langsam, zu bedenklich, zuschwerfällig, was die Flexibilisierung vonArbeitsver-hältnissen in der ergänzenden Beschäftigung angeht.Wir ziehen mit unserem Gesetzentwurf daraus die Konse-quenz. Aber Rot-Grün blockiert.
Sie von Rot-Grün haben zum Thema Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfe einen Antrag der Belanglosigkeiten vor-gelegt. In dem Titel Ihres Antrages sprechen Sie so schönvon „Fördern und Fordern“. Sie haben sich in der Über-schrift leider etwas geirrt. Der Titel müsste heißen: Verta-gen und Vertrösten.
Das ist Ihre Antwort an die Menschen, die in DeutschlandArbeit suchen und die in Deutschland auch Arbeit findenkönnten. Es ist nämlich offenkundig, dass in einem brei-ten Beschäftigungssegment gerade für diejenigen, die alsLangzeitarbeitslose heute auf Arbeitslosen- und Sozial-hilfe angewiesen sind, Beschäftigung aktiviert werdenkönnte, wenn man nur wollte.Aber derzeit gibt es diese Beschäftigung leider nicht inForm legaler, sondern vorwiegend in Form illegaler Ar-beit. Ein Spitzenergebnis rot-grüner Politik ist: Deutsch-land ist Spitze bei der Schwarzarbeit. Die Schwarzarbeitin Deutschland hat mittlerweile einen Anteil von 16,3 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts.
Damit liegt Deutschland im Vergleich der Industriestaatenauf Platz drei hinter Italien und Spanien. Die legale Wirt-schaftstätigkeit in Deutschland schrumpft dank Ihrer Po-litik; die illegale Beschäftigung nimmt zu.Unser Angebot, den Niedriglohnsektor zu aktivieren,Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebeziehern zu helfen, inBeschäftigung zu kommen und dafür eine zusätzlichestaatliche Förderung zu erhalten, schafft die Voraus-setzung, damit aus illegaler Arbeit legale Arbeit werdenkann. Das ist übrigens nicht nur die Position derCDU/CSU, sondern auch die Position des von Ihnen insAmt gehievten Herrn Gerster. Er erklärt in einem Inter-view mit dem „Spiegel“:Ich bin überzeugt, dass wir nach diesem Prinzip eineVielzahl neuer Stellen etwa im Handel, in derLandwirtschaft oder der Gastronomie schaffen kön-nen – Jobs, die heute allenfalls schwarz gemachtwerden. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, um mitgezielten staatlichen Zuschüssen das riesige Be-schäftigungsfeld gering qualifizierter Tätigkeitenetwa in Privathaushalten zu erschließen.
Was Gerster kapiert hat, das fordern wir schon lange. Aberes wird von Rot-Grün bis zum heutigen Tag blockiert.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode vor bald vier Jah-ren ist diese rot-grüne Regierung mit dem Motto angetre-ten, sie müsse einen angeblichen Reformstau auflösen.
Heute, vier Jahre später, müssen wir angesichts der dra-matischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt feststellen,dass der Reformstau in Deutschland einen Namen hat.Der Name lautet Rot-Grün.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
PeterWeiß
22220
Deutschland ist mittlerweile, was Wirtschaft und Ar-beitsmarkt anbelangt, in Europa auf einem Abstiegsplatz.Die Regierungsmannschaft ist konzeptionslos und beiDebatten gar nicht mehr anwesend, der Trainer am Endeseiner Ideen. Wir wollen, dass Deutschland im Interesseseiner Bürgerinnen und Bürger wieder um die Meister-schaft spielt. Dazu brauchen wir eine neue Mannschaftund einen neuen Trainer. Vertragsabschluss für die Neuenist am 22. September.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Niebel von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Nachdem die SPD wegen derRede von Ministerpräsident Koch eine Sondersitzung ih-rer Fraktion beantragt hatte, hatten Kollege Riesenhuberund ich gehofft, dass sie darüber nachdenkt, was sie inden letzten dreieinhalb Jahren aus ihrem Versprechen,eine Sozialhilfereform umzusetzen, gemacht hat, und an-schließend hier im Plenum des Deutschen Bundestagesfeststellt, nur eine Verlängerung einer Verlängerung einerÜbergangsregelung komme dem versprochenen Anspruchnicht wirklich nahe.
Leider haben wir uns geirrt. Das ist schade. Aber Sie ha-ben noch 219 Tage lang Zeit, Ihr Versprechen zu erfüllenund die steuerfinanzierten Hilfesysteme so umzubauen,dass sie den betroffenen Menschen Zukunftschancen er-öffnen.
Das von der Union vorgelegte OFFENSIV-Gesetz gehtin die richtige Richtung, verfolgt aber in erster Linie nurdas Ziel, noch einmal deutlich darauf hinzuweisen, dassSie mit Ihrer totenstarren „ruhigen Hand“ dreieinhalbJahre lang nichts getan haben. Es reicht nicht aus, sich da-mit herauszureden, dass andere vor Ihnen regiert hätten.Sie trugen dreieinhalb Jahre lang die Verantwortung undhaben in dieser Zeit Ihre Versprechen nicht erfüllt. Dafürwerden Ihnen die Wählerinnen und Wähler am 22. Sep-tember die Quittung geben.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es zwei steu-erfinanzierte Transferleistungssysteme, die für ein unddenselben Lebenssachverhalt, nämlich die Unterstützungderer, die sich ihren Lebensunterhalt nicht durch eigeneErwerbstätigkeit finanzieren können, gedacht sind undderen Verwaltung 3,5 Milliarden Euro kostet. Die fürdiese Doppelverwaltung benötigten Steuergelder solltensinnvollerweise für die Unterstützung derjenigen Men-schen ausgegeben werden, die in diesem Land Hilfe brau-chen, weil sie nicht alleine für sich sorgen können.Allein der Umstand, dass sich das Drittel der Arbeits-losenhilfeempfänger, das ergänzende Leistungen zumLebensunterhalt bezieht, in ihren wesentlichen wirt-schaftlichen Verhältnissen vor zwei wildfremden Beam-ten quasi entkleiden muss – dies hat etwas mit der Würdeder Menschen zu tun, die nicht selbst für ihren Lebens-unterhalt sorgen können –, lässt es als sinnvoll erscheinen,Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzufassen.
Natürlich ist es sinnvoll, dass man versucht, all die-jenigen, die aus der Versicherungsleistung herausgefal-len und bei der steuerfinanzierten Bedürftigkeitsleistung– wie auch immer sie dann heißt – angekommen sind, ein-heitlich und umfassend zu betreuen. Selbstverständlichbrauchen wir mittelfristig Job-Center, in denen staatlicheund private Vermittler gemeinsam und in Konkurrenz zu-einander Bildungsträger, Therapieangebote und im Zwei-felsfall auch gemeinnützige Tätigkeiten anbieten. DiesenWeg verbauen Sie in dieser Legislaturperiode, statt dieletzten 219 Tage Ihrer Regierungszeit zu nutzen, auf die-sem Weg den ersten Schritt zu gehen.
Ein Fallmanager, der die Lebensumstände der Einzelnengenau kennt, der den zu betreuenden Personen Hilfestel-lungen geben kann, ist genau der Richtige, damit sie wie-der in den Arbeitsprozess hineinkommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Fau-lenzerdebatte, die Sie uns hier unterstellen wollen, hat IhrBundeskanzler angestiftet. Das muss man ihm auch im-mer wieder sagen. Natürlich gibt es keine Leistung ohnedie grundsätzliche Bereitschaft zur Gegenleistung. Weraber nicht in der Lage ist, etwas leisten zu können, brauchtunsere Hilfe. Dafür brauchen wir angesichts der heuteknappen Haushaltsmittel jeden verfügbaren Euro. Damitdiejenigen, die nichts leisten können, unsere Hilfe be-kommen, müssen wir also all diejenigen sanktionieren,die nichts leisten wollen.
Wir müssen die Schwachen vor den Faulen schützen.Erlauben Sie mir ein Beispiel. Sie haben vielfach da-rauf hingewiesen, dass ich aus der Arbeitsvermittlungkomme. Ich kann nur sagen: Man lernt aufgrund prak-tischer Erfahrungen. 1994 gab es im politischen Umfeldeine Diskussion, an die ich mich noch sehr genau erin-nere; damals war ich noch Arbeitsvermittler. Es wurde da-rüber diskutiert, ob die Arbeitslosenhilfe nicht auf dreiJahre befristet werden sollte.
– Dies haben Sie schon in zwei Debatten gemacht, lieberKollege, allerdings im Rahmen von Aktuellen Stunden, unddort konnten Sie keine Zwischenfrage stellen. Nun habenSie die Gelegenheit, aufzustehen und eine Frage zu stellen.Dann bekommen Sie eine Antwort. Mit Ihren Beschimp-fungen können Sie in Aktuellen Stunden fortfahren.Ich kann mich noch erinnern, wie viele Arbeitslosen-hilfeempfänger, die bereits zwei, drei oder auch fünf Jahre– bis hin zu 16 Jahren – Arbeitslosenhilfe bezogen haben,
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PeterWeiß
22221
plötzlich beim Arbeitsamt erschienen und außerordentlichglaubwürdig erklärten, wie dringend sie schon immer undgerade jetzt eine Arbeit suchen. Nach Ende der Diskus-sion über einer Befristung der Arbeitslosenhilfe hat mandiese Arbeitslosenhilfebezieher nicht mehr gesehen.Mit anderen Worten: Es gibt natürlich einen großenTeil jener, die händeringend Arbeit suchen. Es gibt aberauch genügend andere, bei denen man hier und da nach-helfen muss, damit das System nicht so stark strapaziertwird, dass diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen, nichtmehr versorgt werden können. Deswegen ist dies der rich-tige Ansatz.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen Antrag einge-bracht, der auch die Finanzierung gemeinsam mit denKommunen regelt. Natürlich brauchen wir dafür eineGemeindefinanzreform, Frau Dückert. Was dazu abervon Rot-Grün in dieser Legislaturperiode vorgelegt wor-den ist, war eine „gemeine“ Finanzreform. So wird dasnicht funktionieren.
Für dieBundesregierung hat jetzt der Bundesminister WalterRiester das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Herr Abgeordneter Weiß, ich weiß nicht genau, gegenwen oder für wen Sie sprachen. Als ich hierher kam, habeich mich gefreut, dass der Plenarsaal aufgrund des kleinenAufstands voll war; denn ich dachte, ich könnte zu dieserwichtigen Frage einmal vor allen im Parlament sprechen.
Ich sehe jetzt, dass Ihre Fraktion, Herr Niebel, hier nochnicht einmal mehr mit ihrem Anteil von 7 Prozent vertre-ten ist. So ernst also nehmen Sie dieses Thema.
Da wir gerade bei dem Stichwort „ernst“ sind: HerrMinisterpräsident Koch, als Sie das erste Mal Ihre Über-legung öffentlich geäußert haben, habe ich dies bereits ge-sagt: Ich teile Ihre Auffassung in vielen Punkten, nämlichdann, wenn sie sich auf die gut entwickelte Praxis bezieht,die es nicht zuletzt auch in Bereichen Ihres Landes gibt.Ich kenne die Praxis, die im Main-Kinzig-Kreis ent-wickelt worden ist, sehr genau. Dies ist zum Teil in dasJob-AQTIV-Gesetz aufgenommen worden.Was ich allerdings nicht für richtig halte, ist, bis zumJahr 2007 eine Experimentierklausel aufzunehmen, da dieZusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe unddie Neugestaltung viel schneller vonstatten gehen müssen.Was ich ebenfalls nicht teile, ist die Auffassung, dassSanktionsmöglichkeiten im Einzelfall sozusagen flächen-deckend zwingend notwendig sind; denn dafür müsstenwir ein entsprechendes Angebot an Arbeitsplätzen haben.Das will ich nicht, um es einmal deutlich zu sagen.
Mit einem solchen Anspruch kämen wir flächendeckend– dies ist nicht polemisch gemeint, ich will nur zum Nach-denken anregen – zu einem zweiten Arbeitsmarkt.Mein Ziel ist es, alles dafür zu tun, dass mit der Zu-sammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe denje-nigen, die arbeitsfähig sind, ein schneller Zugang zumersten Arbeitsmarkt ermöglicht wird.
An diesem Ziel müssen sich die Organisations- und Fi-nanzstränge ausrichten. Dies bedeutet aber, dass wir pa-rallel dazu eine Gemeindefinanzreform in Angriff neh-men. Noch in diesem Monat wird die Regierung dieZusammenführung dieser beiden Projekte vornehmen.Unser Ziel ist es, spätestens Ende 2004 die gesamte Re-form abgeschlossen zu haben und sie mit den entspre-chenden Schritten der Arbeitsmarktreform zu verbinden.Nun zu dem, was bereits geschehen ist. Meine Damenund Herren, über die Hälfte der Arbeits- und Sozialämterin Deutschland haben in den letzten drei Jahren enge Ko-operationen entwickelt, die sie auch praktizieren.
Zum Teil sind sie über die Modellprojekte MoZArT ent-sprechend unterstützt worden.
Herr Ministerpräsident, gerade in den zwei am meistenentwickelten Teilen Ihres Landes, im Main-Kinzig-Kreisund in Wiesbaden, ist das der Fall. Genau das unterstüt-zen wir. Genau das ist in der Praxis entwickelt worden.Meine Damen und Herren von der Opposition, ich darfSie vielleicht daran erinnern, dass Sie damals, als der un-bequeme Schritt anstand, die Rentenversicherungs-beiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger an den Zahlbe-trägen auszurichten, alle samt und sonders dagegengestimmt haben.
Bei dieser Frage darf man sich nicht in die Büsche schla-gen. Deswegen bezweifle ich, dass Sie reformfähig sind.Dort, wo es unbequem wird, wo es über Spruchblasen hi-nausgeht, ducken Sie sich sofort.
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Sie waren lange Jahre reformunfähig. 1997 war „Re-formunfähigkeit“ das Wort des Jahres. Sie haben sichauch in Ihrer Oppositionszeit als reformunfähig erwiesen.
Weil ich das weiß, kann ich solche Kleinaufstände, wieich sie vorhin erlebt habe, wo man auf einmal das Hausfüllt und es schlagartig wieder verlässt, wenn es um dieDiskussionen geht, leider nicht mehr ernst nehmen.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! HerrMinister Riester, fünf Minuten seichte Ankündigungsrhe-torik ersetzen keine einzige Tat.
Davon haben die Menschen hier im Plenum und auch die-jenigen, die uns sonst zusehen, zunehmend die Nase voll.Durch Ihre Regierungszeit zieht sich ein roter Faden:
Es begann mit dem Spruch, an den sich viele noch erin-nern: Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser.
Heute, nach dreieinhalb Jahren, stellen wir – und nicht nurwir – fest: Es ist vieles, ja sogar nahezu alles schlechtergeworden.
Die Menschen können dies auch sehr genau überprüfen.Das Einzige, was Konjunktur hat,
ist die Schwarzarbeit. Der Kollege hat schon darauf hin-gewiesen, dass sie mit 16,5 Prozent der regulären Wirt-schaftsleistungen einen neuen traurigen Höchststand er-reicht hat. Die Menschen suchen Auswege aus einemüberbordenden Abgabenstaat.
Die Bilanz, die Sie jetzt vorweisen – das ist ein sehrernstes Thema und diese muss man auch im Zusammen-hang sehen –, ist deprimierend.
Die deutschen Sozialversicherungen sind in der Krise.Obwohl der Arbeitsmarkt allein aus demographischenGründen jedes Jahr um 200 000 Menschen schrumpft, istdie Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen jetzt auf4,3 Millionen angestiegen.
Die Krankenversicherung gerät aus den Fugen. DieBeiträge steigen und betragen im Durchschnitt nunmehr14 Prozent. Die Pflegeversicherung wird von Ihnen Mo-nat für Monat angezapft und Gelder der Versicherten wer-den in andere Systeme überführt. In der Rentenpolitiksind Sie trotz der Ökosteuer gescheitert.
Trotz Ökosteuer wird der Rentenbeitrag im nächsten Jahrauf 19,3 Prozent steigen.
Die Menschen zahlen doppelt: Ökosteuer und höhereBeiträge.
Über allem schwebt wie ein Wetterleuchten die he-raufziehende demographische Katastrophe, die uns allebesorgt macht. Ihre Rezepte darauf sind Ankündigungenund Versprechungen, die Sie immer wieder kassieren.Die Lage ist so ernst, dass wir eine Neujustierung derSozialversicherungssysteme und eine Generalrevisionder Arbeitsmarktordnung brauchen. Das OFFENSIV-Gesetz, das von Hessen initiiert worden ist und das derhessische Ministerpräsident hier in einer überzeugendenWeise begründet und dargelegt hat,
haben wir gerne als Initiative übernommen, weil es genaudiese Neujustierung beinhaltet.
– Herr Kollege, Sie brauchen sich nicht zu erregen, ichsage Ihnen schon, worum es geht.
Es geht nicht darum, Politik mit einer neuen Mitleid-losigkeit zu betreiben, sondern wir wollen vielmehr einenim guten Sinne verstandenen mitfühlenden Sozialstaat er-richten.
Das bedeutet, dass diejenigen, die leistungsfähig sind,ihre Leistung für das Ganze einbringen müssen, und dassdie Menschen, die nicht in der Lage sind, entsprechendeLeistungen zu bringen, auch weiterhin mit unserer Hilfeund unserem Engagement rechnen können.
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Bundesminister Walter Riester22223
Ich sage Ihnen ganz konkret, welche beiden Gruppenwir meinen. Zum einen meinen wir Familien mit Kin-dern, die es ganz besonders schwer haben. Frau Staats-sekretärin, in einem stimme ich Ihnen zu: Es ist ein Skan-dal, dass noch immer eine so große Zahl von KindernSozialhilfe beziehen muss. Wir wollen dem mit dem Fa-miliengeld ein Ende setzen.
Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen, man muss die Zwischen-
rufe verstehen können. Bei 30 Zwischenrufen gleichzeitig
geht das nicht. – Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schemken?
Gerne.
Kollege
Schemken, bitte
Es wäre ganz gut,
wenn Sie jetzt einmal aufmerksam zuhören würden. Viel-
leicht frage ich ja in Ihrem Sinne.
Herr Kollege Singhammer, wie bewerten Sie den Vor-
wurf, der bezüglich der Kinderbetreuung hier soeben ge-
genüber dem Land Bayern gemacht wurde? Ich gehe da-
von aus, dass Sie – bezogen auf die Metropole München –
dazu eine Auskunft geben können.
Herr KollegeSchemken, die Kollegin Mascher hat darauf hingewiesenund gemeint, sie müsse dem Freistaat Bayern einen be-sonderen Nachholbedarf in Sachen Kindergartenver-sorgung vorhalten.
Dies ist nicht richtig. Es gibt allerdings eine einzige Aus-nahme: In der rot-grün regierten Landeshauptstadt Mün-chen sind die Zahlen in Bayern am schlechtesten. Das isteine Schande.
Ich darf den Gedanken von gerade aufgreifen, bei wel-chen Gruppen wir mehr tun müssen: Das sind zum einendie Familien und zum anderen die Menschen mit einemHandicap bzw. einer Behinderung. Das meine ich mit ei-nem mitfühlenden Sozialstaat.Das heißt aber auch – das ist der vollständig richtige An-satz –, dass Menschen, die gesund und tatkräftig sind unddie keinenAnhanghaben,mehr tunmüssenundnichtmehrdamit rechnen können, sich in einem sozialen Netz ohneeigenes Engagement längere Zeit aufhalten zu können.Das ist richtig und notwendig; dahinter stehen wir auch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, soziale Un-gerechtigkeit entsteht vor allem dann, wenn Leistungs-unterschiede nicht beachtet werden, wenn also derjenige,der mehr tun kann, nicht gefordert wird und derjenige, dermehr Hilfe braucht, die entsprechende Hilfe nicht erhält.Das OFFENSIV-Gesetz ist genau das richtige Rezept ge-gen eine Entwicklung, die die Menschen in unserem Landimmer mehr beklagen.
– Herr Kollege, das ist keine Mogelpackung, das ist einkonkreter Antrag, der umgesetzt wird, wenn wir mit IhrerHilfe die entsprechende Mehrheit erhalten und Sie nichtbloß die übliche Ankündigungsrhetorik verwenden, dieSie seit vielen Jahren hier praktizieren.
Ich komme jetzt zu einem wichtigen Punkt: Damit dieMenschen aus dem Bereich der sozialen Fürsorge wiederheraus und auf eigene Füße kommen,
brauchen wir ein abgestimmtes System. Wir haben unsnicht mit Ankündigungen aufgehalten, sondern wir habeneine klare Konzeption vorgelegt.
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Zunächst komme ichzum Geringverdienerbereich. Wir haben als Grenze400 Euro vorgeschlagen. Ihr 630-DM-Gesetz war dasgrößte Feuerwerk für mehr Schwarzarbeit in Deutschlandin den letzten 20 Jahren.
Wir wollen die Menschen wieder in eine legale Beschäf-tigung zurückholen und wir wollen insbesondere den Ein-stieg in eine Beschäftigung erleichtern. Deshalb habenwir 400 Euro vorgeschlagen. Die Geringverdiener sollenkeine zusätzlichen Abgaben zu entrichten haben und diePauschalsteuer wird vom Arbeitgeber ganz unbürokra-tisch entrichtet.Der nächste Schritt ist das Einfädeln in die Beschäf-tigung, ohne gleich hohe Abgaben an die Sozialversiche-rung entrichten zu müssen, damit ein gleitender Übergangerreicht wird. Damit wird Schwarzarbeit vermieden undder Einstieg erleichtert. Unser Gesamtkonzept, das, waswir heute Vormittag besprochen haben, bedeutet für die-jenigen, die in der Sozialhilfe sind, eine Hilfe, um wiederin Arbeit zu kommen. Dies geschieht nicht nur mit gutenWorten, sondern vor allem auch mit Taten, wie wir siefestgelegt haben.
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Johannes Singhammer22224
Das ist ein geschlossenes Konzept. Hätten Sie das ver-wirklicht, dann stünden Sie nicht vor einem solchenScherbenhaufen, wie das bei Ihnen der Fall ist.
Ich verspreche Ihnen an dieser Stelle: Wir werden es an-ders machen. Ich bin mir auch sicher: Wir werden es bes-ser machen.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Walter Hoffmann von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrSinghammer, ich hatte nicht den Eindruck, dass der hes-sische Ministerpräsident seine Position in einer überzeu-genden Art und Weise dargelegt hat.
Das ist sicherlich eine subjektive Auffassung von Ihnengewesen. Die anwesende Mehrheit dieses Hauses hat diesin der Tat nicht so gesehen.
Aber ich bekenne: Es ist bemerkenswert, dass er andieser Diskussion heute teilnimmt. Es ist deshalb bemer-kenswert, weil es mittlerweile verdeutlicht, wer in derimmerhin zweitgrößten Bundestagsfraktion in der Sozial-politik den Ton angibt.
Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf – normaler-weise macht man das nicht –,
dann empfehle ich Ihnen schlicht und ergreifend: Ent-wickeln Sie eigenständige, selbstkritische Positionen!Lassen Sie sich nicht von Hessen an der Leine führen!
Wenn es nun so wäre, dass in der Diskussion qualita-tive Sprünge entstanden wären, dann hätte ich das akzep-tiert. Aber wir alle haben mitbekommen, dass das in die-ser Sache nicht geschehen ist. Vieles von dem, was wirheute diskutieren, ist Ausdruck von Aktionismus, dernicht durch die Sache selbst, sondern nur durch die Vor-wahlkampfzeit und durch nichts anderes zu begründen ist.
Ihre Forderung, zum Beispiel Vermittlungsagenturenfür Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger einzurichten,
ist im Kern völlig richtig. Daran gibt es überhaupt nichtszu deuteln.
Die Grundidee der Zusammenfassung von Beratung, Be-treuung, Vermittlung und Leistungsauszahlung in einerHand kann nur von jedem unterstützt werden. Aber genaudas machen wir auch.
Sie rennen mit Ihrer Forderung offene Türen ein. Es istvon mehreren Vorrednern bereits gesagt worden: Es gibt,unterstützt mit 15 Millionen Euro, auch in CDU/CSU-ge-führten Bundesländern bundesweit 30 Modellversuche.Dort wird eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwi-schenSozial- undArbeitsämternerprobt.Genaudortgibt esgemeinsameAnlaufstellen, indenenHilfebedürftigebeiderSysteme, von derBeantragung vonLeistungen über die Er-arbeitung von Eingliederungsplänen bis hin zur Vermitt-lung, im Grunde genommen von einer Stelle betreut wer-den. Das ist in der Sache richtig und sinnvoll. Deshalb sageich noch einmal: Wir sollten diese Modellversuche–sie laufenzumgrößtenTeil imFrühjahrdieses Jahresaus–sinnvoll mit Kreativität und Fantasiereichtum auswertenund dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen.Ich will noch einmal das unterstreichen, was der Bun-desarbeitsminister gerade gesagt hat. Ich warne sogar da-vor, Herr Koch, Ihren Antrag anzunehmen; denn die Da-tierung Ihres Antrages bis zum Jahre 2007 würdepraktisch bedeuten, dass wir eine richtige Reform der Ar-beitslosen- und Sozialhilfe erst ab dem Jahre 2007 ange-hen könnten. Das dauert uns viel zu lange. So lange wol-len wir nicht warten. Wir wollen dies bereits im Jahre2003 nach der gewonnenen Bundestagswahl machen.
Es ist bereits – ich will das nicht wiederholen – aufviele Modellprojekte auch in Hessen hingewiesen wor-den. Ein Modellprojekt läuft im Main-Kinzig-Kreis. Siealle kennen diese Projekte und wissen, dass sie gut laufen.Mit ihnen ist es gelungen, die Zahl der Sozialhilfeemp-fänger drastisch zu verringern. Das ist eine von uns allenanzuerkennende Leistung.
Es bleiben einige wirklich schwer zu veränderndeFakten.Fakt ist, dass wir die Zahl der Sozialhilfeempfängernur zu einem bestimmten Prozentsatz verringern können,denn nur ein kleiner Teil von ihnen ist – ich glaube, dashat man mittlerweile verstanden – arbeitsfähig.
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Johannes Singhammer22225
Zweiter Fakt ist: Alle Drohungen mit Kürzungen derSozialhilfe laufen im Grunde genommen leer. Wir könnenbereits mit der bestehenden Rechtslage Kürzungen vor-nehmen. Die Frage, die ich mir immer wieder gestellthabe, ist: Was will man eigentlich erreichen, wenn mandas konkret weiß?Der dritte Punkt – man muss auch das klar und deutlichfesthalten –: Das System und das Angebot von stärkererBetreuung und Sanktionen auf beiden Seiten setzen vo-raus, dass eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzenexistiert. Ich denke, wir haben ein paar gute und richtigeSchritte gemacht. Es ist das Job-AQTIV-Gesetz erwähntworden, wir setzen im Moment das rheinland-pfälzischeNiedriglohnmodell um. Das sind Schritte in die richtigeRichtung, die wir weiter fortführen möchten. Es wird un-ser aller Aufgabe sein, in diesem Segment – im Dienstleis-tungssektor, im Niedriglohnbereich – verstärkt Arbeits-plätze zu schaffen, damit wir den Sozialhilfeempfängernund den Arbeitslosenhilfeempfängern etwas Konkretesanbieten können.Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Alle Vorschlägezur Verbesserung der individuellen Beratung und Hilfedürfen nicht die bestehenden Modellprojekte und Versu-che ignorieren und quasi einen Neubeginn in der Diskus-sion fordern. Bundesweite Spezialregelungen sind nichtnur bezogen auf die einzelnen Länder verfassungsrecht-lich unmöglich, sondern führen auch zu Flickenteppi-chen, die die Entwicklung einheitlicher Lebensverhält-nisse in den Regionen massiv erschweren werden. Daswollen wir auf keinen Fall.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Von daher
bleiben der Vorwurf – Herr Koch, ich kann das nicht än-
dern – des Populismus und der Verdacht, dass, wie schon
einmal, diesmal auf Kosten der Minderheit der Sozialhil-
feempfänger aus Stimmungen Wählerstimmen gemacht
werden sollen. Das ist nicht nur abgekocht, sondern im
wahrsten Sinne des Wortes abgebrüht.
Wir werden uns dagegen ganz massiv wehren.
Herr Kol-
lege Hoffmann, Ihre Redezeit ist weit überzogen. Kom-
men Sie bitte zum Schluss.
Wir sollten
also die bestehenden Handlungsmöglichkeiten mit den
Experimentierklauseln nutzen und das Angebot des neuen
Job-AQTIV-Gesetzes in der Praxis umsetzen, die Erfah-
rungen aus den 30 MoZArT-Projekten ebenfalls weiter
entwickeln und die vorhandenen kommunalen Experi-
mente umsetzen. Ich bin davon überzeugt, dass wir
mit einer ruhigen Hand die Reform der Sozialhilfe in
der nächsten Legislaturperiode angehen werden. Herr
Singhammer, dann wird es uns gelingen, einen mitfühlen-
den Sozialstaat zu entwickeln.
Ichschließe die Aussprache.Zum Tagesordnungspunkt 4: Interfraktionell wirddie Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache14/8365 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Zum Zusatzpunkt 2 a: Abstimmung über die von derBundesregierung sowie von den Fraktionen der SPD unddes Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent-würfe zur Verlängerung von Übergangsregelungen imBundessozialhilfegesetz auf Drucksachen 14/8010 und14/7280. Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnungempfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/ 8531, die genannten Gesetzentwürfe alsGesetz zur Verlängerung von Übergangsregelungen imBundesozialhilfegesetz in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derübrigen Fraktionen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen?– Der Gesetzentwurf ist da-mit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen.Zusatzpunkt 2 b: Der Ausschuss für Arbeit- und So-zialordnung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 14/ 8531 die Annahme des An-trags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 14/7293 mit dem Titel: „Fördernund Fordern – Sozialhilfe modern gestalten“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung desAntrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5982mit dem Titel „Für eine Reintegration von Sozialhilfe-empfängern in den Arbeitsmarkt – Anreize für die Rück-kehr in das Erwerbsleben erhöhen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegen-stimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung derCDU/CSU-Fraktion angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und So-zialordnung unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/8531 die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der PDS auf Drucksache 14/7298 mit dem Titel „Die
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Walter Hoffmann
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Sozialhilfe armutsfest gestalten“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen derCDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 k – eshandelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfah-ren – sowie die Zusatzpunkte 3 a bis c auf:20.a)Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an dem NATO-geführtenEinsatz auf mazedonischem Territorium zumSchutz von Beobachtern internationaler Orga-nisationen im Rahmen der weiteren Implemen-tierung des politischen Rahmenabkommensvom 13. August 2001 auf der Grundlage desErsuchens der mazedonischen Regierung vom8. Februar 2002 und der Resolution Nr. 1371
des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 26. September 2001– Drucksache 14/8500 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzeszur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
– Drucksache 14/8448 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Tourismusc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnde-rung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungs-gesetzes und straßenverkehrsrechtlicher Vor-schriften
– Drucksache 14/8447 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Innenausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurErrichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzie-rungsgesellschaft zur Finanzierung von Bundes-
– Drucksache 14/8449 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismuse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Grundstoffüberwachungsgesetzes– Drucksache 14/8387 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheitf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-tung einer Stiftung Deutsche Geisteswissen-schaftliche Institute im Ausland, Bonn– Drucksache 14/8465 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medieng) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes über den AuswärtigenDienst
– Drucksache 14/8225 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussRechtsausschussh) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkom-men über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfungder organisierten Kriminalität zwischen der Regie-rung der Bundesrepublik Deutschland und der Re-gierung der Republik Litauen vom 23. Februar 2001und zwischen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der Republik
brachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Än-derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes– Drucksache 14/8450 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenj) Beratung des Antrags der Abgeordneten PetraBläss, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDSDie Gewaltspirale im Nahen Osten beenden– Drucksache 14/8271 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms22227
k) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungÜbereinkommen über nukleare SicherheitBericht der Regierung der BundesrepublikDeutschland für die Zweite Überprüfungsta-gung im April 2002– Drucksache 14/7732 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateBlank, Dirk Fischer , Eduard Oswald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUVerbesserung der Schifffahrtsverhältnisse imDonauabschnitt zwischen Straubing und Vils-hofen– Drucksache 14/8484 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Horst Friedrich ,Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPAusbau der Donau zwischen Straubing undVilshofen– Drucksache 14/8497 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Meister, Dirk Fischer ,Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUNotwendigkeit des Saaleausbaus– Drucksache 14/8485 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Gesetzentwürfe auf Drucksache 14/8447und Drucksache 14/8449 sollen zusätzlich an den Haus-haltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist sobeschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 b, c und e bis mauf. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassungen zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zu den Abstimmungen.Tagesordnungspunkt 21 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Vorbereitung einer bundeseinheitlichenWirtschaftsnummer– Drucksache 14/8211 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussfür Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/8505 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Hansjürgen DossDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologieempfiehlt auf Drucksache 14/8505, den Gesetzent-wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetz-entwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktion und der PDS-Fraktion bei Enthal-tung der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP ange-nommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis ange-nommen.Tagesordnungspunkt 21 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu den Verträgen vom 15. September 1999 desWeltpostvereins– Drucksache 14/7977 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschussfür Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/8446 –Berichterstattung:Abgeordneter Werner Schulz
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologieempfiehlt auf Drucksache 14/8446, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist zweiterBeratung einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf isteinstimmig angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms22228
Tagesordnungspunkt 21 e:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Februar2001 zur Ergänzung des Abkommens vom5. April 1993 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Lettland überden Luftverkehr– Drucksache 14/7419 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/8355 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert KönigshofenDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 14/8355, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 21 f:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Okto-ber 2000 zur Änderung und Ergänzung desAbkommens vom 18. Juni 1991 zwischen derBundesrepublik Deutschland und dem StaatBahrain über den Luftverkehr– Drucksache 14/7978 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/8356 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert KönigshofenDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 14/8356, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 21 g:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Juni2001 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung der Repu-blik Kap Verde über den Luftverkehr– Drucksache 14/7976 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/8357 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert KönigshofenDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 14/8357, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 21 h:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Gesetzes vom 20. Mai 1997zur Revision des Übereinkommens vom20. März 1958 über die Annahme einheitlicherBedingungen für die Genehmigung derAusrüs-tungsgegenstände und Teile von Kraftfahrzeu-gen und über die gegenseitige Anerkennung derGenehmigung– Drucksache 14/7245 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/8405 –Berichterstattung:Abgeordneter Manfred HeiseDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen empfiehlt auf Drucksache 14/8405, den Ge-setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmigangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf isteinstimmig angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 21 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 362 zu Petitionen– Drucksache 14/8369 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 362 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und derFDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms22229
Tagesordnungpunkt 21 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 363 zu Petitionen– Drucksache 14/8370 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 363 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP beiEnthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 21 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 364 zu Petitionen– Drucksache 14/8371 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 364 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP beiGegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungpunkt 21 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 365 zu Petitionen– Drucksache 14/8372 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 365 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion beiGegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 21 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 366 zu Petitionen– Drucksache 14/8373 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 366 ist einstimmig an-genommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e sowie dieZusatzpunkte 4 bis 7 auf:5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RudolfBindig, Lilo Friedrich , Angelika Graf
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten ChristaNickels, Dr. Angelika Köster-Loßack, KerstinMüller , Rezzo Schlauch und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN58. Tagung der VN-Menschenrechtskommis-sion in Genf– Drucksache 14/8376 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zu dem Antragder Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENStärkung der wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Rechte im Völkerrecht und im in-ternationalen Bereich– Drucksachen 14/7483, 14/8406 –Berichterstattung:Abgeordnete Heide MattischeckHermann GröheChrista NickelsSabine Leutheusser-SchnarrenbergerCarsten Hübnerc) Beratung des Antrags der Abgeordneten RudolfBindig, Lilo Friedrich , AngelikaGraf , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-neten Christa Nickels, Dr. Angelika Köster-Loßack, Cem Özdemir, weiterer Abgeordneterund der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENWeltweite Bekämpfung und Ächtung der Folter– Drucksache 14/8488 –d) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Menschenrechteund humanitäre Hilfe zu demAntrag der Abgeordneten Hermann Gröhe,Annette Widmann-Mauz, Monika Brudlewsky,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUIm Namen der „Ehre“ – Gewalt gegen Frauenweltweit ächten– Drucksachen 14/7457, 14/8404 –Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Graf
Monika BrudlewskyChrista NickelsSabine Leutheusser-SchnarrenbergerCarsten Hübnere) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, InaAlbowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPSklaverei weltweit verhindern– Drucksache 14/8280 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten HermannGröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Dr. Klaus
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms22230
Kinkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPDen Friedensprozess im Sudan in Gang setzenund nachhaltig fördern– Drucksache 14/8481 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten HermannGröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/ CSULage der Menschen- und Minderheitenrechtein Vietnam– Drucksache 14/8483 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 6 Beratung des Antrag der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,Hildebrecht Braun , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPFür eine China-Resolution der EuropäischenUnion auf der 58. VN-Menschenrechtskommis-sion– Drucksache 14/8486 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten CarstenHübner, Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSKonkrete Maßnahmen zur Stärkungwirtschaft-licher, sozialer und kultureller Rechte ergreifen– Drucksache 14/8502 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dasWort die Kollegin Heide Mattischeck von der SPD-Frak-tion.
Herr Präsident! LiebeKollegen! Liebe Kolleginnen! Die Stärkung der wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist undbleibt eine wichtige Aufgabe – national wie auch interna-tional. Der Ausschuss für Menschenrechte und huma-nitäre Hilfe hat im vorletzten Jahr eine Anhörung zu die-sem Thema durchgeführt. Diese Anhörung hat uns nocheinmal wichtige Anregungen für unsere Arbeit im Aus-schuss gegeben.Obwohl alle Vertragsstaaten mit der Unterzeichnungdes Sozialpakts die Gleichrangigkeit dieser Rechte mitden bürgerlichen und politischen Rechten anerkannt ha-ben, spielte der Sozialpakt zumindest in der westlichenWelt lange eine eher untergeordnete Rolle. Darüber hi-naus geriet er in den ideologischen Ost-West-Streit.Während die Entwicklungsländer und bis zum Ende desKalten Krieges auch der Ostblock dem Sozialpakt denVorrang gaben, drängte der Westen vorrangig auf die Um-setzung des Zivilpakts. Auf der Wiener Menschen-rechtskonferenz im Jahre 1993 wurden die Unteilbarkeitund die Gleichrangigkeit beider Pakte noch einmal deut-lich bestätigt.Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind inder Regel nicht einklagbar. Die einzige Kontrollinstanzauf internationaler Ebene bildet das Berichtsverfahrenvor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale undkulturelle Rechte beim Wirtschafts- und Sozialrat derVereinten Nationen. Gegenüber diesem Ausschuss be-richtet auch die Bundesrepublik Deutschland regelmäßigüber den Stand der nationalen Bemühungen bei der Um-setzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellenRechte. Die Themen in den vergangenen Berichten warenunter anderem das immer noch vorhandene wirtschaftli-che Ost-West-Gefälle in unserem Land und zum Beispielder Status Asylsuchender. Gerade hierzu haben wir nunbei der Novellierung des Ausländerrechts und im Rahmendes Zuwanderungsgesetzes Initiativen ergriffen. Auch dasin Stellungnahmen immer wieder kritisierte Informati-onsdefizit hinsichtlich der Armut in Deutschland ist mitdem im letzten Jahr vorgelegten Armutsbericht weitge-hend beseitigt worden. Gelöst worden sind allerdingsnoch nicht alle Probleme in diesem Bereich.Trotzdem besteht auch bei uns weiterhin kein Grund,sich auf Lorbeeren auszuruhen, zumal man wohl kaumvon Lorbeeren sprechen kann, wenn es um die Erfüllungelementarer und schon vor Jahrzehnten kodifizierterRechte geht. SPD undGrüne fordern deshalb in ihremAn-trag die Bundesregierung auf, die Empfehlungen desAus-schusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechtenicht nur konstruktiv aufzugreifen, sondern auch publik zumachen, um damit das öffentliche Bewusstsein zu schär-fen.Weitere wichtige Forderungen sind die immer wiederangemahnte frühzeitige und regelmäßige EinbeziehungderNichtregierungsorganisationen in dieVorbereitung derzukünftigen Berichte und eine bessere geschlechtsspezi-fische Differenzierung der Berichterstattung.
Um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte end-lich wirkungsvoller durchsetzen zu können, muss es auchfür den Sozialpakt ein individuelles Beschwerdever-fahren entsprechend der Regelung für den Zivilpakt
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms22231
geben. Das ist eine Forderung, die wir in unserem Antragnoch einmal aufgegriffen haben. Man muss sagen, dasssich gerade die deutsche Regierung dafür schon in derVergangenheit immer wieder auch bei der MRK beson-ders stark gemacht hat.Nötig ist die Entwicklung und die Durchsetzung vonVerhaltenskodizes für transnationale Unternehmen – dasist mir besonders wichtig –, die sich an den Konventionender Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsor-ganisation orientieren und die für Deutschland weitge-hend selbstverständliche Praxis auch für andere Standorteumsetzen.Insgesamt muss es Ziel unserer Politik sein, die Wirk-samkeit staatlicher Steuerungsinstrumente auch und ge-rade gegenüber der globalisierten Wirtschaft zu erhalten,um der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Schutz undzur Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kul-turellen Rechte in vollem Umfang nachkommen zukönnen.An dieser Stelle möchte ich auf eine Forderung in un-serem Antrag besonders hinweisen. Die Bundesregierungwird aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen umgesetzt wer-den und die deutsche nationale Kontaktstelle für dieLeitsätze als interministerielle Struktur eingerichtet wird,in der die Sozialpartner und die Nichtregierungsorga-nisationen in allen wichtigen Fragen beteiligt werden.Ein weiterer Hinweis ist mir in diesem Zusammenhangbesonders wichtig: Weder die Weltbank noch der IWF,noch die WTO sind an die Menschenrechtspakte gebun-den. Sie sind in den letzten Jahren zunehmend – nichtganz zu Unrecht – in die Kritik geraten. Wir regen deshalban, dass jene Vertragsstaaten, die zugleich Anteilseignervon IWF und Weltbank sind, in ihren so genannten Staa-tenberichten an den UN-Ausschuss für die WSK auch ihrePolitik gegenüber den internationalen Finanzsituationensowie ihre in den Gremien vertretenen Positionen darstel-len. Ich denke, das ist eine ganz wichtige und umfassendeForderung, deren Umsetzung – das wissen wir alle – nochsehr lange dauern wird. Wenn wir dies aber nicht angehen,immer wieder darauf hinweisen und die Bundesregierungauffordern, weiterhin danach zu handeln, werden all dieProbleme, die wir zurzeit auf der Welt haben, nicht gelöstwerden können.Die 58. Sitzung der Menschenrechtskommission derVereinten Nationen, die MRK, findet in diesem Jahr – wiewir alle wissen – in einer besonders angespannten Zeitstatt. Die Zuspitzung der Konflikte um Kaschmir und inPalästina, die Fortdauer des Bürgerkrieges in Tschetsche-nien und eine Vielzahl anderer regionaler und lokalerKonflikte gehen allesamt mit gravierenden Menschen-rechtsverletzungen einher. Daraus leiten sich eine Reihevon Forderungen in unserem Antrag zur MRK ab.Die nationale, regionale und internationale Umsetzungder in Durban vereinbarten Maßnahmen gegen Rassismusund Fremdenfeindlichkeit muss organisiert werden.Die Unterzeichnung und Ratifizierung der VN-Kon-vention gegen transnationales organisiertes Verbrechensowie das Zusatzprotokoll zur Vorbeugung, Bekämpfungund Bestrafung des Menschenhandels, insbesonderedes Frauen- und Kinderhandels, müssen vorangebrachtwerden.
Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über dieRechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kin-dern an bewaffneten Konflikten und das Zusatzprotokollzum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betref-fend den Handel mit Kindern sowie Kinderprostitutionund Kinderpornographie muss unterzeichnet und ratifi-ziert werden.Die Auseinandersetzung um die weltweite Ächtungund Abschaffung der Todesstrafe – damit haben wir unshier sehr häufig zu Recht beschäftigt – muss weitergeführtwerden.
Die Einhaltung der Menschenrechte und die Verfol-gung begangener Menschenrechtsverletzungen an vielenOrten der Welt muss thematisiert und in den Blick der Öf-fentlichkeit gestellt werden, nicht zuletzt in Tschetsche-nien, in Tibet, in Xinjiang und in den kurdischen Gebie-ten der Türkei. Darauf müssen wir immer wiederhinweisen und sollten das vor dem Hintergrund aktuellerAktionen nicht vergessen.Mit besonderer Sorge verfolgen wir die Entwicklungder Menschenrechtssituation in einzelnen Staaten. Wennich diese nenne, heißt das nicht, dass es nicht auch in an-deren Staaten der Welt Probleme gibt. Einheimische wieinternationale Menschenrechtsorganisationen – das habeich eben schon erwähnt – berichten aus Tschetschenienvon schweren Menschenrechtsverletzungen auf beidenSeiten. Es darf kein Krieg gegen die Bevölkerung geführtwerden. Das Vorgehen der russischen Streitkräfte stehtweiterhin nicht im Einklang mit dem humanitären Völ-kerrecht.Die Türkei hat mit den Verfassungsänderungen im letz-ten Jahr sicher einen wichtigen Schritt hin zu einer even-tuellen Mitgliedschaft in der EU getan. Die Menschen-rechtslage ist aber nach wie vor mehr als unbefriedigend:Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit, Folter in denGefängnissen, Beibehaltung der Todesstrafe usw.Wir begrüßen das Vorhaben der indonesischen Regie-rung, ein Menschenrechtsgericht zur Ahndung der Ver-brechen in Osttimor einzusetzen. Aber zum Beispiel diegewaltsame Räumung eines Armenviertels in Jakartadurch die Polizei verletzt die Menschenrechte der Bevöl-kerung.Der Rechtsstaatdialog mit China ist zu begrüßen. DieListe der Menschenrechtsverletzungen in China ist jedochlang: die exzessive Anwendung der Todesstrafe, die Ad-ministrativhaft zur Umerziehung durch Arbeit, das Verbotpolitischer Opposition, die Verfolgung religiöser Minder-heiten und die noch zunehmende Unterdrückung der Ti-beter und der Uiguren.In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung unsererAnträge.
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Heide Mattischeck22232
Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung ma-chen, die mir besonders am Herzen liegt. Wir haben seitdem 11. September viele Diskussionen um die Bekämp-fung des Terrorismus geführt. Wir sind uns alle darin ei-nig, dass dieser Terrorismus, vor allen Dingen aber seineWurzeln und Ursachen, bekämpft werden müssen. Vielesvon dem, was ich gesagt habe, trägt dazu bei bzw. kanndazu beitragen.Es geht bei der Terrorismusbekämpfung aber auch umdie Einhaltung der Menschenrechte bei dem, was wir ge-gen den Terrorismus tun. Auch wenn Wut, Trauer undSchmerz über diese entsetzlichen Verbrechen vom11. September manchmal individuell verständlich sind,dürfen die Reaktionen einer zivilisierten Gesellschaftnicht dazu führen, dass man bei der Bekämpfung des Ter-rorismus die Menschenrechte außer Kraft setzt – wederbei uns noch anderswo.Danke schön.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Brudlewsky von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Zu den wichtigsten Themenim Parlament gehören unzweifelhaft die Menschenrechte– die der Bewohner im eigenen Land, aber auch dieRechte der Menschen in anderen Ländern der Welt. DerMenschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestageshatte seit Beginn dieser Legislaturperiode daher keinenMangel an Arbeit.Es ist gut, dass die Menschenrechte im Bewusstseinder Menschen und auch im Bewusstsein der Politik immerfester verankert sind. In einer Reihe von Ministerien sinddie Menschenrechte mit eigenen Arbeitsstäben in diealltägliche Arbeit integriert. Weiterhin finden bilateraleGespräche mit anderen Staaten vonseiten unserer Regie-rung oder auch im Rahmen der EU und anderer interna-tionaler Gremien heutzutage auch immer unter dem Ge-sichtspunkt der Achtung der Menschenrechte statt.Diese Einbeziehung der Menschenrechte auf allen Ge-bieten hat wesentlich dazu beigetragen, Anfragen zur Ver-besserung der Menschenrechte weltweit schneller voran-zubringen, als dies zu Zeiten des Kalten Krieges möglichwar. Aber sogar heute unter rot-grüner Regierung hat manschnell lernen müssen, dass man aus politischer Rück-sichtnahme, aus Gründen der Diplomatie in manchemLand die Menschenrechtsfrage behutsamer ansprechenmuss, als man dies noch vor einigen Jahren zu Regie-rungszeiten von Helmut Kohl gefordert hat.Die zu dieser Debatte vorliegenden Anträge sind einQuerschnitt aus vielen einzelnen schicksalhaften Beispie-len, die aus aller Welt an uns herangetragen und bei unsberaten wurden. Durch Berichte von mutigen Menschen-rechtsvertretern oder durch Parlamentarierreisen erfuhrenwir direkt vor Ort noch intensiver, als dies durch Medien-berichte möglich ist, vom Leid vieler Millionen Kinder,Frauen und Männer in aller Welt. Vor allem das Schicksalder Kinder, die als schwächstes Glied aus allen Ausein-andersetzungen hervorgehen, muss uns Ansporn genugsein zu handeln. Wer wie ich Hunderte von Kindern alsWaisen, als Hungernde, als Krüppel, als Minenopfer, alsKindersoldaten gesehen hat oder sich an die vielen Kin-der in den Flüchtlingslagern Afrikas erinnert, den lassensolche Bilder nicht mehr los.Es ist eigentlich mit dem normalen Menschenverstandnicht zu fassen, welche Grausamkeiten im Allgemeinen inder Welt heute noch systematisch verübt werden und wasim Besonderen Frauen und Mädchen in nicht wenigenLändern der Welt nach wie vor zugefügt wird. In denzurückliegenden Monaten ist ganz besonders die Situa-tion von Frauen durch die jüngsten Ereignisse in Afgha-nistan in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Es wareigentlich beschämend, aber in gewisser Weise auch be-zeichnend, den weltweiten Aufschrei der Öffentlichkeitbei der Sprengung der Buddhaskulpturen durch die Tali-ban zu hören, während es andererseits vorher das jahre-lange Schweigen der Öffentlichkeit gegenüber der ent-setzlichen und menschenverachtenden Lage insbesondereder Frauen in Afghanistan gab.
Hier hat ein Regime nicht nur die Hälfte seiner Bevölke-rung demokratischer Grundrechte beraubt, sondern sievielmehr ganz aus dem öffentlichen Leben verbannt undzu Leibeigenen des anderen Geschlechts gemacht. Dasdarf die Weltgemeinschaft nie mehr zulassen.Diejenigen, die zur Zeit der Talibanherrschaft und jetztwieder in Afghanistan und auch in Pakistan vor Ort wa-ren, können sicher noch viel detaillierter auf die momen-tane Lebenssituation dort eingehen. Ich möchte zu diesemThema nur sagen: Es ist eine erfreuliche Tatsache, dassüber den Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Im Namen der‚Ehre’ – Schandemorde und Gewalt gegen Frauen welt-weit ächten“ im Ausschuss Einigkeit bestand.Angesichts der verheerenden Gewalt von beidenSeiten im Nahen Osten kann man mit Spannung die Sit-zung der Menschenrechtskommission der Vereinten Na-tionen erwarten. Zum 58. Mal tritt dieses internationaleGremium in einigen Wochen in Genf zusammen. Im ent-sprechenden Antrag der Koalition werden zwar einigewichtige Fakten dargelegt, jedoch fehlt uns in diesem An-trag eine klarere Benennung bestimmter gravierenderMenschenrechtsverletzungen, die uns, wenn überhaupt,zu schwammig formuliert sind.Gerade angesichts der Lage in Tschetschenien kannman sich unseres Erachtens nicht auf die Aussage be-schränken, dass es dort Menschenrechtsverletzungen aufbeiden Seiten gibt, sondern man muss aufzeigen, dass hierseit Jahren, schon lange vor dem Geschehen am 11. Sep-tember, unter dem Vorwand, Terroristen zu bekämpfen,Zivilisten grausam gefoltert und ermordet wurden undnoch werden.
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Heide Mattischeck22233
In den letzten Tagen war in einigen großen Zeitungenüber das Wirken so genannter Todesschwadronen der rus-sischen Armee und der berüchtigten Sondereinheiten desInnenministeriums zu lesen, die unter Duldung der russi-schen Regierung Hunderte tschetschenischer Männerverschleppen und brutalst zu Tode foltern. Bei allem Ver-ständnis für die weltweite Antiterrorallianz, der sich auchRussland angeschlossen hat: Diese darf nicht als Feigen-blatt und Vorwand für die Verfolgung und Unterdrückungeigener missliebiger Bevölkerungsgruppen dienen.
Dem muss die freie Welt, dem müssen wir entgegentretenund eine klare Trennung zwischen Terroristenbekämp-fung und dem Tschetschenien-Problem einfordern.Ich hatte deshalb beim Putin-Besuch in Berlin und sei-ner Rede hier im Hohen Hause für mich persönlich dieKonsequenz gezogen, nicht an dieser Plenarveranstaltungteilzunehmen, sondern stattdessen vor dem BrandenburgerTor zusammen mit der Gesellschaft für bedrohte Völkerauf diese gravierenden Menschenrechtsverletzungendurch die russische Regierung hinzuweisen. Wir müssendarauf aufmerksam machen, dass keine Medien in diesesGebiet kommen, um über die wirklichen Schicksale derBetroffenen zu berichten. Wenn Berichte herausgelangen,dann nur, weil es immer wieder todesmutige Frauen undMänner wagen, die Wahrheit herauszutragen. Werden siemit Film- oder Fotomaterial von den russischen Behördengefasst, dann drohen ihnen langjährige Gefängnisstrafen,Folter oder sie verschwinden einfach für immer.Es genügt auch nicht festzustellen, dass die Verhältnis-mäßigkeit der Mittel nicht gewahrt bleibt. Vielmehr mussdie russische Regierung klar und deutlich aufgefordertwerden, den Krieg gegen das tschetschenische Volk sofortzu beenden.
Es wäre auch dringend notwendig, eindringliche Forde-rungen nach einer internationalen Untersuchung der Men-schenrechtsverletzungen in Tschetschenien zu erheben.Auch China kommt in dem Koalitionsantrag verhält-nismäßig gut weg. Schon der einleitende Passus „trotzermutigender Zeichen“ lässt erst einmal Hoffnung aufkei-men, die aber dann schon wieder im Keim erstickt wird.Was sich jedoch in China, dem Land, in dem in sechs Jah-ren die sportliche Jugend der Welt zu den OlympischenSpielen zusammentreffen wird, wirklich abspielt, ist einTrauerspiel und lässt noch lange nicht auf Verbesserungder Menschenrechtslage hoffen. Fast täglich bekommenwir Meldungen über die schwierige Menschenrechtslagein Tibet, über die Sanktionen gegen die Falun-Gong-Be-wegung und die schwierige Lage der Christen im Land.Es darf nicht sein, dass der Welt bei den OlympischenSpielen nur jubelnde Parteikader zuwinken und die Op-position in dieser Zeit weggeschlossen wird und nach demOlympiaereignis alles so weiter geht wie bisher.
Kolumbien, Simbabwe und der Sudan gehören meinesErachtens ebenfalls zwingend in die Reihe der Länder, indenen viele Opfer durch Menschenrechtsverletzungen zubeklagen sind; sie werden in dem Antrag aber leider nichterwähnt.Trotz dieser Anmerkungen, die darauf hinweisen, dassuns dieser Antrag zu verhalten, zu vorsichtig ist, trotz un-serer Bemängelungen werden wir den Antrag aber nichtablehnen, sondern uns der Stimme enthalten.Einer Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag derFDP „Sklaverei weltweit verhindern“, der zunächst nochan die Ausschüsse überwiesen wird und daher noch nichtzur Abstimmung kommt, steht unsererseits nichts imWege.Ich merke, dass ich mich doch ein wenig lange ausge-lassen habe, möchte aber noch sagen, dass es ein Glücks-fall ist, dass die UN unseren ehemaligen InnenministerGerhart Baum als Sonderbotschafter für die Region desSudan eingesetzt hat und sich ein sehr positiver Dialogmit uns und vielen NGOs über den Sudan entwickelt hat,der der Region hoffentlich bald friedlichere Zeitenbringt.Abschließend möchte ich generell feststellen, dass imAusschuss für Menschenrechte trotz der eben aufgezeig-ten Meinungsverschiedenheiten doch die Meinungen vonKoalition und Opposition in Fragen der Menschenrechtehäufig enger beieinander liegen, als dies in anderen Aus-schüssen der Fall ist. Ich möchte bei dieser Gelegenheitausdrücklich all meinen Kolleginnen und Kollegen imAusschuss für das gute Miteinander bei der nicht immerleichten Arbeit für die Rechte der Menschen in aller Weltdanken. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir in Ein-zelfragen verschiedene Auffassungen haben und daherunterschiedlich abstimmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für IhreAufmerksamkeit.
Das Wort
hat jetzt unsere Kollegin Christa Nickels vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!„Die 58. Sitzung der ... MRK findet in diesem Jahr ineiner besonders angespannten Zeit statt.“ Sie findet ziem-lich genau ein halbes Jahr nach den Terroranschlägen vom11. September 2001 statt, „die in vielen Staaten einen Po-litikwechsel bewirkt haben, in dem neue Allianzen sowieneue Schwerpunkte ... entstanden sind“. So lautet es imAntrag der Koalitionsfraktionen zur MRK, der heute aufder Tagesordnung steht. Allmählich werden die Struktu-ren dieser neuen Politikansätze, ihre Chancen und auchihre großen Risiken, klarer erkennbar. Die neuen Heraus-forderungen in der Menschenrechtspolitik gewinnen anSchärfe.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Monika Brudlewsky22234
Wir als Angehörige der Nachkriegsgeneration – so er-scheint mir das ziemlich oft – leben bis heute in demGrundgefühl, dass die demokratische, rechtsstaatlich ver-fasste Zivilgesellschaft eine für alle Zeit garantierteGrundkonstante ist, die uns nie verloren gehen kann. Aberallmählich erkennen wir gerade vor dem Hintergrund derglobalen Herausforderungen, dass sich jede Generationsolcher Errungenschaften wie der Menschenrechte neuvergewissern, sie neu erkämpfen und sichern muss.
Angesichts dessen stelle ich mit großem Erstaunen undauch immer wieder mit Erschrecken fest, wie viele Wäch-ter und Anwälte der Menschenrechte in der Stunde derNot die Menschenrechte offenbar als eine Schönwet-terveranstaltung für blauäugige Gutmenschen, welt-fremde Fantasten oder – das liest man wörtlich so – „ver-zärtelte Weicheier“ ansehen. Wer aber so argumentiert,liefert den Diktatoren und Menschenschindern in der Weltungewollt eine Steilvorlage; das muss man ganz klar unddeutlich sagen. Von daher gesehen wird gerade auch in derglobalisiert zugespitzten Auseinandersetzung die Gefahrgrößer, dass der Antiterrorkampf mit menschenrechtlichfragwürdigen Mitteln geführt wird.Darum haben wir als Koalitionsfraktionen die Bundes-regierung noch einmal aufgefordert – wir wissen, dass siedas auch tut –, auf der 58. MRK in Genf entschieden da-rauf zu bestehen, dass menschenrechtliche Standards imAntiterrorkampf eingehalten werden und dass die Ver-hältnismäßigkeit der Mittel auch in dieser Extremsitua-tion gewahrt bleibt. Menschenrechtsrabatt im Anti-terrorkampf darf es unter gar keinen Umständen geben,wenn man die Menschenrechte an sich nicht gefährdenmöchte.
Seit dem 11. September 2001 ist es nach meiner Ein-schätzung Methode geworden, islamistische Fundamenta-listen einseitig als die eigentlichen Feinde der Menschen-rechte zu betrachten. Dabei dürfen wir nicht vergessen,dass es Gründe dafür gibt, weshalb der Islamismus bereitsseit den 70er-Jahren auf dem Vormarsch ist und weshalbsich islamistische Oppositionelle immer wieder kämpfe-risch für die Wiedereinführung der Scharia einsetzen.Die internationalen Menschenrechtspakte werden invielen muslimischen Ländern nicht als Grundlage einergemeinsamen und werteorientierten Politik begriffen,sondern lediglich – wie es auch seinen Niederschlag inder Kairoer Erklärung von 1990 findet – als Ausdruckwestlicher Werte und westlichen Hegemoniestrebens.Das liegt auch mit daran, dass die betroffenen Ländersehr oft unter der Kolonialisierung und deren menschen-rechtlich zweifelhaften, brutalen Methoden gelittenhaben.Aber – das möchte ich hier genauso deutlich sagen –ein interkultureller Dialog darf nicht weichspülerisch nurauf Harmonie aus sein. Vielmehr müssen wir auch die Un-vereinbarkeit von Teilen dieser Kairoer Erklärung und derScharia mit dem universellen Anspruch der internationa-len Menschenrechtspakte auf die Tagesordnung setzenund intensiv darüber diskutieren, wenn wir die Men-schenrechte als Magna Charta für eine sich globalisie-rende Welt weiter erhalten wollen. Das ist ein sehr wich-tiger Punkt. Darum ist der interkulturelle Dialog in derAuseinandersetzung keine Marginalie, sondern muss insZentrum gerückt werden.Ich finde es wichtig, dass wir neben diesen sehr klarenund deutlichen Differenzen auch daran anknüpfen, wasuns allen unstrittig gemeinsam ist, zum Beispiel die wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Wir müssendeutlich machen, dass die Menschenrechte aus schreckli-chen, leidvollen Erfahrungen und auch aus einer Wider-standsbewegung gegen Unterdrückungsmaßnahmen ge-boren sind, aus Erfahrungen mit dem Totalitarismus undmit Religionskriegen, um nur zwei besonders drastischeBeispiele zu nennen. Am Ende des 30-jährigen Krieges inEuropa war ein Drittel der Bevölkerung tot. ÄhnlicheLeidenserfahrungen, die natürlich nicht direkt vergleich-bar sind, gibt es auch in muslimischen Gesellschaften. Siesind letztlich transkulturell. Es ist zentral, dass wir andiese transkulturellen Erfahrungen anknüpfen und sie alsGrundlage dafür sehen, dass nur das Beharren auf denMenschenrechten wirtschaftliche, kulturelle und sozialeWohlfahrt ermöglicht und Freiheit sichert.Darum finde ich es auch sehr begrüßenswert, dass dieBundesregierung bei der Menschenrechtskommissioneine Resolution zum Recht auf Wohnen einbringen wird.In diesem Punkt sind alle einer Meinung, aber er ist beiweitem noch nicht vollständig umgesetzt. Das ist einerichtige Herangehensweise, um nicht nur das Trennende,sondern auch das Gemeinsame zu beraten.Wichtig ist, dass wir in Bezug auf die Bekämpfungder Folter – das fordern wir in unserem Antifolterantrag,der Ergebnis einer Anhörung des Menschenrechtsaus-schusses ist, mit dem wir auch die weltweite Kampagnevon Amnesty International gegen Folter unterstützen wol-len – von der Menschenrechtskommission einfordern,dass sie einen Schwerpunkt auf dieses Thema setzt. FrauBrudlewsky hat es schon gesagt: Der Antrag hat eine ganzneue, schreckliche Aktualität, zum Beispiel vor dem Hin-tergrund der schrecklichen Entwicklungen in Tschetsche-nien.Wir haben gerade wieder neue Informationen darü-ber bekommen, in welch menschenverachtender WeiseMenschen gequält, gefoltert, umgebracht werden oderverschwinden. Es kann unter keinen Umständen angehen,dass Russland aufgrund der Tatsache, dass es nun einwichtiges Mitglied der Antiterrorkoalition ist, ein Men-schenrechtsrabatt gegeben wird. Gerade unter Bündnis-partnern gilt, dass Folter und grausame Behandlung ab-zuschaffen sind. Das ist mehr als eine Frage despolitischen Willens. Wir müssen das unter allen Umstän-den durchsetzen. Wir müssen die Unkultur der Straflosig-keit gemeinsam bekämpfen.Für mich ist sehr erfreulich – da möchte ich auch aufmeine Erfahrungen von über einem Jahr als Vorsitzendedes Menschenrechtsausschusses hinweisen –, dass derMenschenrechtsausschuss über alle verschiedenen, auchpolitischen, Auffassungen hinweg in den wesentlichenFragen gemeinsam an einem Strang zieht, dass er sichnicht für irgendwelche partei- oder machttaktischenSpielchen operationalisieren lässt. Wir haben in den
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letzten Jahren, seit der Menschenrechtsausschuss einVollausschuss des Deutschen Bundestages ist, Maßstäbefür die absolut notwendige Kultur gesetzt, dass man in Fra-gen der Menschenrechte mit aller Energie über die Frakti-onsgrenzen hinweg gemeinsam vorgeht. Ich möchte michsehr dafür bedanken, dass das möglich ist und dass wir unsvor entscheidenden Sitzungen im Bundestag die nötigeZeit nehmen, diese Fragen zu debattieren.Danke schön.
Für
die FDP-Fraktion spricht jetzt Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSituation der Menschenrechte, ihre Achtung und Durch-setzung sowie die Ahndung ihrer Verletzungen, ist kurzvor Beginn der 58. Konferenz der Menschenrechtskom-mission der Vereinten Nationen nicht gut. War es schonauf der letzten Tagung, der 57. Konferenz im vergangenenJahr, äußerst schwierig, den bestehenden Standard derMenschenrechte zu verteidigen und wichtige Länderreso-lutionen überhaupt auf die Tagesordnung zu bringen, sinddie Fronten in diesem Jahr noch stärker verhärtet.Seit den fürchterlichen Anschlägen vom 11. Septemberletzten Jahres steht die Bekämpfung des internationalenTerrorismus im Mittelpunkt internationaler Politik. DieBeteiligung an der Terrorismusbekämpfung, die aktiveTeilhabe an der Antiterrorallianz, zumindest ihre aktiveDuldung, haben die Achtung der Menschenrechte in denHintergrund treten lassen. In manchen Staaten wird der11. September instrumentalisiert, um endlich, auch unterInkaufnahme von Menschenrechtsverletzungen oder ihrerbewussten Begehung, gegen Minderheiten, die jetzt aus-schließlich Terroristen zu sein scheinen, vorgehen zukönnen.Da kämpfen beispielsweise die Russen in Tschetsche-nien nunmehr auch oder ausschließlich gegen den Terro-rismus, wobei sie sich nur sehr eingeschränkt in die Kar-ten schauen lassen wollen und vor Repressionen nichtzurückschrecken. Nicht nur die Pressefreiheit ist in man-chen Staaten ein Opfer des Terrorismus geworden, wie esder Beauftragte der OSZE für die Freiheit der Medien unddie Pressefreiheit in unserem Ausschuss vor wenigen Ta-gen eindeutig und unmissverständlich feststellte.Die Voraussetzungen für die 58. Konferenz derMenschenrechtskommission sind also nicht besondersgut. Da die Vereinigten Staaten derzeit nicht Mitglied derMenschenrechtskommission sind – die Zeichen stehenaber gut, dass sich das bald ändern wird –, fehlt für dieThematisierung mancher wichtigen Anliegen die trei-bende Kraft.
Das erleben wir gerade auch in diesem Jahr am Bei-spiel der Befassung mit der Menschenrechtslage in derVolksrepublik China. Die Vereinigten Staaten waren,wenn auch mit einer gewissen selektiven Wahrnehmung,
die Akteure für die Einbringung einer Resolution, in derdie Verletzung der Menschenrechte angesprochen wurde.Aber für diese Menschenrechtskonferenz ist auch nachden bisherigen Bewertungen durch Vertreter der Bundes-regierung kaum damit zu rechnen, dass sich irgendetwasauf diesem Gebiet tun wird. Die Vereinigten Staaten kön-nen als Beobachter nicht die aktive Rolle spielen, die not-wendig wäre. Innerhalb der EU wiederum scheint keinKonsens erreichbar zu sein.Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb, anknüpfendan die sich in den letzten Jahren wiederholenden Debat-ten, leider wieder einen Antrag einbringen müssen, um dieBundesregierung aufzufordern, sich mit der Unterstüt-zung des gesamten Parlamentes dafür einzusetzen, dass esmithilfe der EU und auch anderer Partner in der MRK zueiner Befassung mit der Menschenrechtslage und der Ver-letzung der Menschenrechte in China kommt.
Das Thema sollte zumindest auf der Tagesordnung stehen.Wir sollten auch das Europäische Parlament, das schonAnfang Februar diesen Beschluss gefasst hat, für unsereUnterstützung heranziehen. Alle Parlamentarier sind sicheinig, und es muss doch möglich sein, dass angesichts die-ses Drucks die Regierenden mehr erreichen können.
Leider ist es nicht unbedingt die Sache des Bundes-kanzlers, das Thema der Menschenrechtsverletzungen inChina direkt anzusprechen. Wir erinnern uns noch alle da-ran, dass er sagte, er wolle sich nicht die Ritualisierungder Menschenrechte zu Eigen machen, wie es vorher an-geblich der Fall war. Er wollte bei seinem letzten Besuchin China noch nicht einmal die Situation von vielen Häft-lingen und Dissidenten ansprechen. Man kann vieles ander Politik der alten Regierung bis 1998 kritisieren. Aberdie Menschenrechtsverletzungen waren immer ein unver-zichtbarer Punkt in den Gesprächen mit der chinesischenSeite. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie sich indieser Hinsicht uns gegenüber eingelassen haben.
Ich komme zu einem zweiten wichtigen Punkt. Sie,meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,sprechen in Ihrem Antrag zur 58. MRK-Konferenz die Si-tuation in Indonesien kurz an. Heute startet das nationaleAd-hoc-Tribunal in Jakarta, um sich endlich, nachdem fastdrei Jahre vergangen sind, mit den schwersten Menschen-rechtsverletzungen, die es im Zuge des Referendums inOsttimor gab, zu befassen und die Verantwortlichen zurRechenschaft zu ziehen. Wir wissen alle: Das Schlimmsteist, wenn sich impunity, also Straflosigkeit, durchsetzt.Wenn es dadurch keine Konsequenzen geben würde, wäre
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es eine Ermutigung der Machthaber, fast schon eine Auf-forderung, die Menschenrechte zu verletzen.
Es ist ein erster richtiger Schritt, der jetzt in Jakarta ge-gangen wird. Machen wir uns aber bitte nichts vor: ObMenschenrechtsstandards eingehalten werden, ist äußerstzweifelhaft. Es wurden zu Recht Bedenken von AmnestyInternational und von Watch Indonesia an den ausge-wählten Richtern und Staatsanwälten im Hinblick auf ihreUnabhängigkeit geäußert. Wer steht vor Gericht? Von denursprünglich 30 Personen, die auf der Liste des damaligenGeneralstaatsanwaltes Darusman standen, sind nur noch18 übrig geblieben. Darunter befinden sich nicht mehr dieoberen Ränge des Militärs. Wir dürfen angesichts der ers-ten Schritte in die richtige Richtung nicht zulassen, dassdurch ein solches Verfahren die Standards von Men-schenrechten langfristig weiter gesenkt werden.
Das nationale Ad-hoc-Tribunal darf nicht ein Beispieldafür sein, wie man künftig Menschenrechtsverletzungenaufarbeitet.Leider ist meine Redezeit fast zu Ende. Aber ichmöchte noch kurz bemerken, dass natürlich auch Indone-sien auf der MRK behandelt werden muss. Es sollte ver-sucht werden, die dortigen Probleme mithilfe einer Reso-lution zu verdeutlichen. Wir wissen, wie schwierig diesist. Aber man muss sich diesem Unterfangen widmen.Lassen Sie mich noch ein Wort zum Sudan sagen. Wirhaben zusammen mit der CDU/CSU einen Antrag einge-bracht, der jetzt an die Ausschüsse überwiesen werdenwird. Ich bitte darum, dass auch der Sudan auf die Tages-ordnung der 58. MRK-Konferenz gesetzt wird, weil sichdie Menschenrechtslage dort bisher nicht verbessert hat.
Es ist wichtig, dass es auf der Konferenz auch eine kriti-sche Resolution zum Sudan geben wird.Verbessert hat sich lediglich, dass ein Sonderbericht-erstatter ins Land darf und dort Gespräche führen undauch in Gefängnisse gehen kann. Damit funktioniert end-lich das Monitoring. Für diesen Sonderberichterstatterbrauchen wir aber ein weiteres Mandat, damit er die jetztbegonnene Aufgabe fortsetzen kann.Ich bedanke mich.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Aufgrund der knappen Redezeit be-schränke ich mich heute auf die Anträge zu den wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Um esgleich vorweg zu sagen: So sehr der Antrag von SPD undBündnis 90/Die Grünen auf die Gleichrangigkeit vonbürgerlichen und politischen Freiheitsrechten auf der ei-nen Seite und von wirtschaftlichen, sozialen und kulturel-len Rechten auf der anderen Seite abhebt, so sehrreproduziert er gleichzeitig die bisherige Abwehrhaltungder allermeisten Regierungen gegen eine juristisch ver-briefte Garantie genau dieser WSK-Rechte.Dem Feststellungsteil kann ich in weiten Passagen jazustimmen. Aber die Skepsis gegenüber den WSK-Rech-ten wird im Forderungsteil offenkundig, indem man buch-stäblich mit der Lupe nach konkreten Forderungen suchenmuss. Fast könnte man meinen, hier spricht die Bundes-regierung selbst
– ich zitiere schon noch genug daraus –, wenn es etwaheißt, sie werde aufgefordert, „in dem Bemühen nichtnachzulassen“, „Empfehlungen ... nicht nur konstruktivaufzugreifen, sondern auch publik zu machen“, „nachMöglichkeit ... vorzunehmen“, noch einmal „konstruktivaufzugreifen“, „sich dafür einzusetzen, dass ... berück-sichtigt“ wird, usw. Der beste Beleg für diese parlamenta-rische Bettvorlegerlyrik ist folgende Forderung:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, ... die Prüfung, ob die Revidierte Europä-ische Sozialcharta ratifiziert werden kann, zügigfortzusetzen und Bedenken, die einer Ratifizierungentgegenstehen, in geeigneten Fällen durch eine Än-derung des innerstaatlichen Rechts auszuräumen; da-bei ist sicherzustellen, dass ein ausreichenderGestaltungspielraum für Gesetzgebung und Praxiserhalten bleibt; ...Wenn das, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Forde-rung sein soll, dann höchstens eine Aufforderung zur Ar-beitsverweigerung.
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Revidierte Europä-ische Sozialcharta bereits 1996 verabschiedet wurde, alsovor sechs Jahren. Aber prüfen Sie nur zügig weiter; viel-leicht lässt sich ja doch noch etwas ausräumen, und sei esdie letzte Hoffnung auf konkrete Schritte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Millionen Menschenauf der Welt werden die elementarsten Menschenrechtevorenthalten: Freiheit, Demokratie, der Schutz vor staat-licherWillkür. Dagegenmussman unmissverständlich Po-sition beziehen, nicht zuletzt auf der Menschenrechtskom-missionssitzung in Genf, besser noch durch eine kohärenteAußenpolitik. Die Äußerungen von BundeskanzlerGerhard Schröder, nach dem 11. September erscheine dasVorgehen Russlands in Tschetschenien in einem anderenLicht, lassen da ebenso besorgt aufhorchenwie dieRambo-Manieren und die Bündnispolitik des US-Präsidenten.Werdie Nordallianz in Afghanistan – ich rede bewusst nichtvon PräsidentKarsai und einigenwenigen anderen – in denSattel der Macht hebt, sollte nicht vergessen, dass sichviele ihrer Vertreter in der Vergangenheit schlimmster
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Menschenrechts- und Kriegsverbrechen schuldig gemachthaben. Ich denke hier etwa an General Dostum, den stell-vertretendenVerteidigungsminister.
– Das wissen Sie doch genau. Das ist überhaupt nichtabenteuerlich; das sagt Ihnen jeder, der sich mit der Pro-blematik auskennt.
Inwieweit sich diese Leute in Menschenrechtsfragenund insbesondere in Fragen der Rechte der Frau von denTaliban unterscheiden, wird sich erst noch herausstellenmüssen. Wir konnten uns dies in Afghanistan jedenfalls inTeilen persönlich vor Augen führen lassen.Doch genau so, wie sich angesichts der Menschen-rechtslage in Afghanistan oder in Tschetschenien, im Na-hen Osten oder in Indonesien die Frage nach den elemen-tarsten Bürger- und Freiheitsrechten stellt, drängt sichdort wie hier die Frage nach den WSK-Rechten auf. Mankann das nicht trennen; solche Probleme gibt es nicht nurin der so genannten Dritten Welt, sondern auch vor unse-rer eigenen Haustür.Eine Reihe von Fachleuten hat bereits konstatiert, Zu-stände wie in Städten der Dritten Welt hätten unsere Me-tropolen erreicht: französische Vorstädte, Vorstädte Ham-burgs oder Stadtteile Berlins. Dies sind Orte, an denensich Armut und soziale Ausgrenzung über Generationenfortsetzen, wo Bildung und Kultur aus der Reichweite vie-ler Menschen verschwunden sind, Orte, die Elend sind,die Elend produzieren und die Elend verstetigen. Wirmüssen das nicht zügig prüfen, liebe Kolleginnen undKollegen, sondern Aufgabe von Politik ist es, das zu än-dern – hier und in andern Teilen der Welt.
Wer die Idee der Globalisierung, wer kosmopolitischesDenken befürwortet, der muss einer sich globalisierendenÖkonomie eine sich globalisierende Gesellschaft mit so-zialen, kulturellen, wirtschaftlichen sowie bürgerlichenund politischen Rechten entgegensetzen, damit der ein-zelne Mensch nicht dazu verurteilt bleibt, Spielball über-mächtiger Kräfte zu sein.
Die konsequente Forderung nach einen Individualbe-schwerderecht auch bei Verstößen gegen den WSK-Pakt,die in Ihrem Antrag nur leicht anklingt, ist dafür ein ers-ter wichtiger Schritt, wenn auch kein Allheilmittel. Eswäre ein Signal, dass die Gleichrangigkeit von politischenund WSK-Rechten strukturell ernst genommen wird. DieBundesregierung sollte dabei eine Vorreiterrolle spielen.Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wirddazu allerdings wenig beitragen.
Deshalb kann ich Sie nur dringend auffordern, sich beiden Ausschussberatungen mit unserem deutlich konkrete-ren WSK-Antrag intensiv auseinander zu setzen.Aus Zeitgründen nur noch einen Satz zu dem Antragder CDU/CSU zu so genannten Ehrenmorden. KolleginBrudlewsky hat eben in ihrer letzen Bundestagsrede da-rauf Bezug genommen und hat dargestellt, dass es hierzugroße Einigkeit im Ausschuss gab. Mein jüngster Besuchmit dem Menschenrechtsausschuss in Pakistan hat mir dieDramatik dieser Problematik nochmals verdeutlicht. Wirwerden dem Antrag selbstverständlich zustimmen. Ichfinde es wichtig, Folgendes in diesem Zusammenhanghervorzuheben: Gewalt gegen Frauen, liebe Kollegen,ist vor allem ein Problem der Männer.
Die Frauen sind in allererster Hinsicht Opfer, die sich ent-weder selber wehren oder des rechtlichen wie gesell-schaftlichen Schutzes bedürfen. Aber lösen können siedas Problem nicht. Das ist Aufgabe des männlichen Teilsder Welt.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen heute zweikonkrete Anträge vor, die sich mit zwei Arten vonMenschenrechtsverletzungen befassen. Ich möchte aufdiese beiden Anträge, also auf den Antrag zum Thema der„Ehrenmorde“ an Frauen und auf den Antrag zumThema Folter, eingehen.Vor knapp zwei Jahren lernte ich in der deutschen Bot-schaft in Islamabad Hian Jilani, eine Rechtsanwältin ausLahore, kennen. Sie erzählte, wie 1999 eine 28-jährigePakistanerin in ihrer Kanzlei erschossen wurde, weil siesich von ihrem Mann scheiden lassen wollte. Die Mutterdes Opfers hatte den Mörder mit in die Kanzlei gebracht.Nach dem Mord verließen beide in aller Seelenruhe dieKanzlei.Ein halbes Jahr später war trotz der Anstrengungen derRechtsanwältin weder gegen den Mörder noch gegen dieMutter ermittelt oder gar Anklage erhoben worden. DerVater der Ermordeten war weiterhin Vorsitzender derHandelskammer in Peshawar, obwohl er die Ermordungder Tochter öffentlich gutgeheißen hatte. Die Begründungfür dieses Verbrechen war: Die Familienehre habe ge-wahrt werden müssen, weil die Tochter das Unvorstell-bare verlangt hatte, nämlich die Scheidung. Die Rechts-anwältin musste um ihr Leben fürchten.Dies beschreibt einen ganz spektakulären Fall eines sogenannten Ehrenmordes. Das Wort „Ehrenmorde“ sollteman dabei immer in Anführungszeichen setzen;
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denn den Euphemismus sollte man sich in dem Fall spa-ren und besser von dem sprechen, was es wirklich ist,nämlich von „Schandemorden“.
Noch immer sterben Frauen an den Verletzungen, dieihnen zugefügt werden. Aber nicht immer sterben sie. ImFrauenhaus der Shanaz Bokhari in Rawalpindi habe ichvor ziemlich genau einem Jahr Frauen besucht, die auchmir, einer Frau gegenüber, das Tuch nicht vom Gesichtgenommen haben, weil sie durch die Brandnarben so ent-stellt waren, dass sie sich geschämt haben, sich zu zeigen.Jede Bewegung, die diese Frauen gemacht haben, war we-gen der Vernarbungen die schiere Folter.Frau Bokhari hat seit 1994 durch Recherchen an denKrankenhäusern in Islamabad und Rawalpindi mehrereTausend solcher Fälle untersucht und erfasst und sich umdie körperliche und seelische Rehabilitation dieser Frauengekümmert. Sie hat auf Anregung der SPD-Bundestags-fraktion für ihre Arbeit erst kürzlich den Menschenrechts-preis der Stadt Weimar erhalten. Ich bin glücklich, heutehier mitteilen zu können, dass es uns gelungen ist, einedauerhaftere Förderung für ihr Frauenhaus zu finden.
Der Antrag, der uns heute vorliegt, beschreibt dieHintergründe dieser unglaublichen Menschenrechtsverlet-zungen. Diese Frauen, die wir damals gesehen haben,waren von ihren Vätern, Söhnen, Brüdern, Onkelnverstümmelt worden, um die vermeintlich beschädigte Fa-milienehre wieder herzustellen. Dabei genügt für die Ver-letzung dieser Ehre oft eine unbewiesene Vermutung.Manchmal ist es nur ein Traum, den der Mann hatte. Oft sindaber selbst dies nur vorgeschobene Gründe. Oft ist esschlicht und einfach so, dass die Frau einer anderen, neuenFrau Platz machen muss. Diese Vorgehensweise istBestandteil einer gesellschaftsimmanenten alltäglichenGewalt gegen Frauen, die in einer Reihe von Ländern, vor-wiegend in Asien und dem Nahen Osten, praktiziert wird.Wie nimmt die nationale Politik dieser Länder dieseVerbrechen wahr? In Jordanien kämpft das Königshausgegen diese Praxis. Im 1999 aufgelösten pakistanischenParlament haben allerdings lediglich vier von insgesamt87 Abgeordneten einem Gesetzentwurf zum Schutz derFrauen vor Schandemorden zugestimmt. Auch die derzei-tige Regierung unter General Musharraf nimmt zumin-dest meines Erachtens diese Menschenrechtsverletzungenzu wenig ernst. So hat die pakistanische Justizministerinvor wenigen Wochen in einem Gespräch, welches wir mitihr führen konnten, zwar über schwierige Beweisführun-gen, fehlende finanzielle Unterstützung, Korruption undeine fehlende Kooperation mit den Provinzen geklagt,aber ein wirksames Konzept, eine konkrete Maßnahmegegen diese Dinge hat sie nicht vorlegen können.Die heutige Debatte macht deutlich, dass wir partei-übergreifend über solch entsetzliche Verbrechen und dieUntätigkeit des Staates nicht einfach hinweggehen, son-dern Druck auf die Länder machen wollen, in denen diesePraxis vorherrscht. Wir werden deshalb dem Antrag derCDU/CSU in der vom Ausschuss geänderten Form zu-stimmen.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sa-gen, was auch schon die Kolleginnen Brudlewsky undChrista Nickels erwähnt haben: Wir sind uns in diesemAusschuss oft einig. Das hat etwas mit den Themenberei-chen zu tun, mit denen wir uns beschäftigen. Ich glaubeaber, dass es auch etwas damit zu tun hat, wie die Mitar-beiter die Vorlagen vorbesprechen, wie man versucht, auf-einander zuzugehen.
Ich möchte infolgedessen die Gelegenheit nutzen, auchden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein herzlichesDankeschön zu sagen.
Internationaler Druck ist auch bei der weltweitenBekämpfung der Folter notwendig. Obwohl ihr Verbotin zahlreichen Konventionen verankert ist, ist die Folter inmindestens 70 Ländern der Welt immer noch eine weitverbreitete Praxis. Nach dem 11. September 2001 hat beimanchem die Akzeptanz der Folter sicherlich nicht geradeabgenommen. Gefoltert wird in diesen Ländern insbeson-dere in Polizeistationen in den ersten Stunden und Tagender Haft und zur Erpressung von Geständnissen, aberauch in Gefängnissen. Das immerwährende Abspielenvon Musik – von den Nazis gegenüber den Mitgliedernder Roten Kapelle angewandt – ist genauso Folter wieVergewaltigung, Elektroschocks an Genitalien oder einBaby vor den Augen der Mutter vor einen scharfen Hundzu legen. Dass dies Praxis ist, haben wir bei einer Reise indie Türkei erfahren. Folteropfer sind oft politisch und re-ligiös Andersdenkende, Mitglieder von Minderheiten undsehr oft auch Frauen und Kinder.Folter bereitet nicht nur körperliche Schmerzen, son-dern verwundet die Psyche des Opfers nachhaltig. DieScham über die Erniedrigung in der Folter verschließt denOpfern oft den Mund. Erst lange Zeit nach den traumati-sierenden Erlebnissen können viele Menschen darübersprechen; manche können es nie. Man muss auch wissen,dass Folter die Persönlichkeit der Opfer grundlegend ver-ändert. Aggressivität und Depressionen gehören zu kli-nisch feststellbaren Folgen. Dies bestätigt unter anderemdas Zentrum für Folteropfer in Berlin, das wir sowohlvom Ausschuss als auch von der Fraktion her öfter be-sucht haben. Bei der Vernehmung von Folteropfern, zumBeispiel im Rahmen eines Asylverfahrens, muss deshalbsehr sensibel vorgegangen werden. Ich freue mich, dassdas Bundesamt für die Anerkennung ausländischerFlüchtlinge seine Mitarbeiter diesbezüglich inzwischenintensiv schult.
Folter findet nicht nur in den Ländern des Südens statt.Es gibt aber eine Reihe von Ländern, in denen die Folter
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alltäglich ist. Ich nehme an, dass wir uns im Ausschuss beider Beratung der heute eingebrachten Anträge zu Vietnamund zum Sudan auch mit diesem Themenbereich beschäf-tigen werden. Folter kann nicht mit der kulturellen Eigen-art oder der Notwendigkeit von Geständnissen entschul-digt werden. Um Folter zu verhindern, müssen Foltererhart bestraft werden und dürfen nicht von Vorgesetztengedeckt werden können.Hilfreich sind hierbei sicherlich Besuche von interna-tionalen Delegationen in Polizeistationen und Gefängnis-sen, die eine gewisse Öffentlichkeit der Vorgänge herstel-len können. Unabdingbar ist eine bessere Ausbildung desPersonals der Polizei und in den Haftanstalten. Hierbeibietet die Bundesregierung bereits einer Reihe von Län-dern ihre Hilfe an. Hilfe für die Opfer und Unterstützungfür die örtlichen Hilfsorganisationen und kritischen Me-dien müssen hinzukommen.Einwichtiges Fazit ist:Wer die Folterwirksambekämp-fen und den Folteropfern helfen will, muss an vielen Punk-ten der nationalen und internationalen Politik ansetzen.Eindimensionale Lösungen wird es hier nicht geben.Ich meine, der vorliegende Antrag fasst in sehr guter,um nicht zu sagen in hervorragender Weise – das sage ichnicht deshalb, weil der Antrag von uns kommt – die Er-gebnisse einer Anhörung des Menschenrechtsausschussesvom 17. Oktober 2001 zusammen und formuliert daraus18 diesbezügliche Forderungen an die Bundesregierung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden unsfreuen, wenn wir die vorhin beschriebene und beschwo-rene Einmütigkeit auch in diesem Zusammenhang bei Ih-nen finden könnten.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Heiner Geißler von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn manheute in die Tageszeitungen schaut und die Berichte überkonkrete Menschenrechtsverletzungen liest, weiß mangar nicht so richtig, wo man anfangen soll.Weil es eine grundsätzliche Frage ist, will ich den Vor-fall mit der nigerianischen Frau hier noch einmal zurSprache bringen. Sie wurde vergewaltigt und soll jetzt ineinem bestimmten Bundesstaat in Nigeria wegen Ehe-bruchs gesteinigt werden. Das sind keine Einzelexzessevon sexualneurotischen Mullahs, sondern es ist ein Sys-tem zu erkennen. Wegen der Einführung der Scharia inNigeria sind inzwischen 10 000 Christen geflüchtet.Wir müssen uns mit dieser Form des Islamismus aus-einander setzen. Diese Barbarei religiös zu begründen, isteine mindestens genauso schlimme Blasphemie wieKreuzzüge, Hexenverbrennungen und Inquisitionen.
Diese barbarische und extreme Form des Islamismus istgenauso zu ächten wie die weltweite Folter. Man kanndies nicht damit begründen, dass es im Namen Allahs ge-schieht. Das ist ein Missbrauch des Namens Gottes. Dashaben wir hier bei der letzten Debatte schon festgestellt.Die Anmaßung, Menschenrechte verletzen zu dürfen– wie es zum Beispiel die Singapur-Schule, Malaysia undandere tun –, auf eine eigene kulturelle Tradition zurück-zuführen, ist nichts anderes als eine Irreführung und dientvielmehr ausschließlich der ideologischen Zementierungder eigenen Machtposition.Das gilt im Übrigen auch für Saudi-Arabien.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, über den wir imMenschenrechtsausschuss schon ein paar Mal auch mitdem Innenminister geredet haben: In der „SüddeutschenZeitung“ erscheint heute im NRW-Report ein Berichtüber das Abschiebegefängnis in Neuss. Ich will zu demSchicksal der kurdischen Frau, die nach 13 Jahren abge-schoben werden soll, nicht Stellung nehmen. Ihr Vater hathier Asyl oder zumindest eine Duldung bekommen, weiler gefoltert wurde. Diese Sache ist bekannt. Aber dieseFrau, die nach 13 Jahren abgeschoben werden soll, hat ge-sagt, dass sie kein Türkisch, sondern nur Deutsch könne.Mir ist etwas anderes aufgefallen. Die Betreuungs-gruppe „efa“ kritisiert ausdrücklich, dass innerhalb diesesGefängnisses in Neuss, in dem 72 Frauen auf die Ab-schiebung warten, weder eine Psychologin noch eineÜbersetzerin für die oftmals traumatisierten Frauen tätigist. Sie verurteilt, dass es Männer sind, die diese Insassin-nen medizinisch betreuen. Wir alle miteinander waren unsnach langen Diskussionen darüber einig, dass geradetraumatisierte Frauen nicht wieder in die Hände vonMännern fallen sollen, weil sie dann nach den Erfahrun-gen, die sie gemacht haben, einfach unfähig sind, Aus-künfte zu geben.Frau Nickels, ich möchte vorschlagen, dass wir an denInnenminister von Nordrhein-Westfalen herantreten, da-mit er sich um dieses Gefängnis und die dortigen Verhält-nisse kümmert.
Beim Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin habeich mich darüber informiert, dass nach Möglichkeit ver-mieden werden soll, diese traumatisierten Frauen von Po-lizeiärzten überprüfen zu lassen. Zudem bleibt die Frage,ob sie dazu überhaupt in der Lage sind. Sie sind dafürauch gar nicht ausgebildet.Ich will etwas zur Folter sagen. Sie gehört ganz zwei-felsfrei zur widerwärtigsten und perversesten Form derIntoleranz gegenüber Untergebenen und Gefangenen.Diese perverse Form der Intoleranz erlauben sich vieleStaaten und sie wird auch von Behörden durchgeführt.Frau Graf hat die Zahlen genannt. Ich will sie nicht nocheinmal vertiefen. Aber nach dem letzten Bericht von „am-nesty“ – die Zahlen stammen aus dem Jahre 1999 – kam
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Angelika Graf
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es in 125 Staaten zu Folter und Misshandlungen von Ge-fangenen. In 81 Staaten starben Menschen an der Folgesystematischer Folter.Dazu gehören auch solche, mit denen Deutschland in-tensive Beziehungen pflegt. Ich will diese Staaten einmalnennen. Es sind China, die Türkei, Indonesien, der Irak,der Iran, Syrien, Birma, Algerien, Tunesien, Mexiko, In-dien und leider auch Israel. Auch das muss man ehrlichsagen.
In den meisten Ländern gibt es sogar offizielle Folterme-thoden, die im Polizeiunterricht gelehrt werden. Allein inSyrien sind es 36 offizielle Foltermethoden.Damit die Bundesregierung nicht glaubt, ich würdeblauäugig die Philosophie vertreten, man solle die wirt-schaftlichen Beziehungen zu Ländern abbrechen, in de-nen gefoltert wird, will ich hinzufügen: Ich bin mir darü-ber im Klaren, dass wir dann mit drei Vierteln der Weltkeine wirtschaftlichen Beziehungen mehr unterhaltenkönnten. Aber wir alle miteinander im Bundestag habenschon 1988 unsere eigene Regierung, aber auch die Un-ternehmer aufgefordert, dass sie in diesen Staaten beiihren politischen, diplomatischen und wirtschaftlichenVerhandlungen und sonstigen Gesprächen gleichzeitigimmer wieder die Frage der Menschenrechte ansprechen.
Ich finde, das muss bekräftigt werden.Wir sollten wirklich dafür sorgen, dass wir, bevor wirdas Wort Euro in den Mund nehmen – so muss man ja jetztsagen –, immer wieder die Menschenrechtsfragen anspre-chen. Ich möchte den Minister ausdrücklich ermuntern,dies auch in der Zukunft fortzusetzen.
Das gilt auch Staaten gegenüber, mit denen wir traditio-nell oder aufgrund gemeinsamer Zukunftsperspektivengute Beziehungen haben.Dürfen Geschäftsbeziehungen, Gewinne oder der Ab-schluss von Verträgen wirklich so die Hirne von De-mokraten und Unternehmern verwirren, dass sie dieFolterknechte nicht mehr sehen, die hinter ihren Ge-schäftspartnern stehen und grinsen? Kannibalen werden,wenn sie mit Messer und Gabel essen, nicht zu zivilisier-ten Menschen und haben vor allem nicht das Recht, imNamen derer zu sprechen, die sie gefressen haben,
so sagt der Satiriker und Lyriker Stanislaw Jerzy. Es gehtaber jedem so. Jeder normale Bürger muss doch miss-trauisch werden, wenn der Polizeihund mit dem Schwanzwedelt. Das müsste somit auch für jeden Geschäftsreisen-den gelten.Was China anbelangt: Ich höre dauernd die Klagenwegen der Korruption. Auf dem letzten Volkskongress hatder Ministerpräsident laut darüber Klage geführt. Mankann die Korruption in China nicht so bekämpfen, wie esdort gemacht wird. Korruption kann man nur bekämpfen,wenn man eine unabhängige Staatsanwaltschaft und einefreie Presse hat. Überall auf der Welt werden die Korrup-tionsfälle nicht von den Regierungen aufgedeckt. Sie sindmeistens darin verwickelt. Das ist doch klar: Es hat dannkein Mensch ein Interesse daran, dass es herauskommt.Korruptionsfälle werden in aller Regel nur durch Journa-listen, durch die Presse, aufgedeckt. Wenn China mit derKorruption fertig werden will – es wäre sinvoll gewesen,wenn das der Inhalt dieses Antrages gewesen wäre –, dannmuss es endlich die Presse- und Informationsfreiheit ein-führen. Das ist der beste Weg, um mit diesem Geschwürfertig zu werden.
Peter Weiss hat in seinem Drama „Die Ermittlung“ denGesang von der Schaukel geschrieben; ein unglaublichesGedicht. Er beschreibt darin die so genannte Boger-Schaukel, die in den Konzentrationslagern der SS ein be-liebtes Folterinstrument war, das insbesondere bei Judenausprobiert wurde. Jetzt lese ich in dem letzten Berichtvon Amnesty International, dass ausgerechnet in Israel dieFolter wieder systematisch eingeführt wird.Was schlimmer ist, lieber Herr Fischer – ich muss dashier sagen und Sie werden sicherlich mit mir übereinstim-men –:Wir müssen auf etwas anderes aufpassen. Seit dem11. September wird in den Vereinigten Staaten die Fragediskutiert, ob Menschenrechte nicht ein Luxusgut der Zi-vilisation seien, auf dieman inNotzeiten schon einmal ver-zichten könnte. Jonathan Alter, ein berühmter Journalist,schreibt in „Newsweek“: Es wird Zeit, über die Folternachzudenken. Das FBI verdiene eine Chance. – Heutesteht in der „Zeit“, dass das nicht nur Spinnereien von Jour-nalisten sind, sondern dass die Sache bereits realisiert wird.Die „Washington Post“ hat einen Fall recherchiert, wo einVerdächtiger von den Philippinen nach Ägypten transpor-tiert worden ist, weil man ihn nicht in den USA selber fol-tern will. Man bringt die Leute in befreundete Staaten, diedann sozusagen diese Sauarbeit für die Demokraten ver-richten. Ein hoher Beamter hat der „Washington Post“ be-stätigt, dass es Dutzende ähnlicher Fälle gibt.Wir müssen feststellen, dass niemals der Zweck dieMittel heiligen darf, vor allem nicht, wenn es sich bei denMitteln um Mord oder Folter handelt.
Man kann natürlich viele Gründe anführen, auch von-seiten der Polizei. Es gäbe aber auf der Welt kein Haltenmehr. Alle Staaten, die wir und andere westliche Demo-kratienmitMühe undNot durch unsereBemühungen dazugebracht haben, denWeg des Rechts, auch des internatio-nalen Rechts, zu gehen, würden doch in die unmenschli-chen Praktiken zurückfallen. Der gesamte zivilisatorischeFortschritt, den wir erreicht haben, würde infrage gestellt.Folter in den USA – das ist unglaublich. In den Vereinig-ten Staaten sollte nicht die Folter eingeführt, sondern end-lich die Todesstrafe abgeschafft werden.
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Dr. Heiner Geißler22241
Wir verlieren sonst jede moralische Position.Der amerikanische Justizminister, der zu den christli-chen Fundamentalisten gehört, sollte vielleicht in seinemAmtszimmer ein Kreuz aufhängen und daran denken, dassdort jemand hängt, der systematisch zu Tode gefoltert wor-den ist. Das könnte auch ein Anlass sein, über den funda-mentalistischen christlichen Standpunkt nachzudenken.Wenn die westlichen Demokratien mit der Folter be-ginnen, dann haben sie kein Recht mehr, die Verbrechender Despoten und Tyrannen dieser Erde zu brandmarkenund zu verfolgen.
Dann können wir die Bemühungen aufgeben, die Men-schenrechte zum integralen Bestandteil der Außenpolitikzu machen. Das aber ist unser gemeinsames Ziel.
Das Wort
hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Siemich – was sicherlich ungewöhnlich ist – mit einem Dankan den Ausschuss und an Sie, Frau Vorsitzende, beginnen,weil es sich gerade im Bereich der Menschenrechte alsunglaublich hilfreich erweist, dass die Regierung immerwieder auf das Parlament und auch zunehmend auf dasEuropäische Parlament verweisen kann und dass dabeidie Frage der Menschenrechte und das Selbstbewusstseindes Parlaments – dabei kommt dem Ausschuss eine ganzbesondere Bedeutung zu – in den Gesprächen mit Regie-rungen, deren Menschenrechtsbilanz fragwürdig undmanchmal sogar äußerst zweifelhaft und kritikwürdig ist,für uns von sehr großer Wichtigkeit sind.
Auch der Hinweis auf den Ratifikationsvorbehalt desEuropäischen Parlaments bei Partnerschafts- und Asso-ziationsabkommen, die überaus hilfreich und nützlichsind, erweist sich in Menschenrechtsfragen immer alssehr hilfreich. Deswegen möchte ich mich an dieserStelle bedanken.Man muss aber auch sehen, dass der Kampf um dieDurchsetzung der Menschenrechte einen elementarenBestandteil unserer Außenpolitik darstellt. Dies gilt vorallen Dingen seit dem 11. September. Denn wenn wir imKampf gegen den internationalen Terrorismus bestehenwollen, dann müssen wir begreifen, dass es sich nicht nurum eine machtpolitische Auseinandersetzung, sondernvor allem auch um eine Werteauseinandersetzung handelt.
Es wäre einer der fatalsten Erfolge des islamistischen Ter-rorismus, wenn er uns dazu bringen würde, im Kampf ge-gen ihn unsere eigenen freiheitlichen und menschenrecht-lichen Grundwerte infrage zu stellen.
Wenn wir uns auf die kommende Tagung der Men-schenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf,die in wenigen Tagen beginnen wird, vorbereiten, ist es si-cherlich wichtig und richtig, dass wir uns dieses 11. Sep-tembers und der Herausforderungen, vor denen wir stehen,bewusst werden. Aber ich betone noch einmal: Im Kampfgegen den Terrorismus wird es auch Bündnisse mit Regie-rungen geben müssen, deren eigene Menschenrechtsbilanzalles andere als zweifelsfrei ist. Aber für unsere eigeneHaltung als Europäer und Deutsche muss klar sein, dassDemokraten, Menschenrechtsgruppen und Initiativen, diesich für Entrechtete und Unterdrückte einsetzen und sichauf die Charta der Vereinten Nationen und die internatio-nalen Menschenrechtskonventionen berufen, die Freiheit– auch Meinungs- und Organisationsfreiheit – und Ge-rechtigkeit wollen und sich für soziale Rechte einsetzen, inuns immer einen unbestechlichen Anwalt haben werden.
Das gilt auch und gerade seit dem 11. September. Deswe-gen muss ich das, was Sie, Frau Leutheusser-Schnarren-berger, gesagt haben, zurückweisen. Ich weiß aus eigenerErfahrung, dass bei allen Gesprächen, die der Bundes-kanzler und ich in China führen, die Menschenrechts-agenda, die Lage der Christen und der Dissidenten in denGefängnissen in der Volksrepublik China und die Demo-kratisierung immer zentrale Punkte darstellen.
Ich kann dem Kollegen Geißler in diesem Punkt nur zu-stimmen und ihm den Vollzug der Regierung melden. Beidieser Bundesregierung mit mir als Außenminister ran-gieren Geschäfte in der Tat nicht vor den Menschenrech-ten. Ich denke, das muss ich hier nicht noch einmal nach-drücklich unterstreichen.
Es ist mir vorhin sehr schwer gefallen, ruhig zu blei-ben, als sich die PDS bei den Menschenrechtsfragen zuWort gemeldet hat.
– Ich sagte ja: Es ist mir schwer gefallen, ruhig zu bleiben.Kollege Hübner, Sie haben offenbar noch nicht erlebt, wiees ist, wenn ich richtig laut werde. Für meine Verhältnissewar ich vorhin noch oberruhig.
Ich möchte Ihnen Folgendes sagen – das wird gewiss auchder eine oder andere in Ihren Reihen so sehen –: Sie dürf-ten sich an der Debatte über die Menschenrechte eigent-lich nicht mehr beteiligen, wenn Sie sich von der Solida-ritätskundgebung, die ein Teil Ihrer Partei vor dem
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Dr. Heiner Geißler22242
Schöneberger Rathaus für Herrn Milosevic veranstaltethat, nicht zweifelsfrei distanzieren, wobei distanzierender falsche Begriff ist.
Ich frage mich, was Sie eigentlich mit solchen Leuten ge-mein haben.
– Eben! Dann müssen Sie aber auch die Konsequenzenziehen, wenn Sie mit solchen Leuten nichts zu tun haben.Ich unterstelle Ihnen ja gar nicht, dass Sie mit solchenLeuten etwas gemein haben. Nur, es muss zweifelsfreiklar sein, dass es mit solchen Leuten wie Herrn Milosevickeine Solidarität geben darf. Sie müssen sich vielmehr imRahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens vor dem Inter-nationalen Strafgerichtshof verantworten. Das scheint mirder entscheidende Punkt zu sein.
– Herr Hübner, bitte.
Wir haben das
auf dem kurzen Dienstweg erledigt. Das ist zwischen
Herrn Fischer und mir so üblich.
Bitte, Herr Hübner.
Herr Außenminister, sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in den letzten
Jahren weder im Fall Milosevic noch in anderen Fällen
von Menschenrechtsverletzungen, die in direktem oder
indirektem Zusammenhang mit der Politik beispielsweise
sozialistischer Länder stehen, ein Blatt vor den Mund ge-
nommen habe, auch nicht in der Plenardebatte etwa über
die Menschenrechtsverletzungen in China? Sind Sie be-
reit, zu akzeptieren, dass ich es für problematisch halte,
dass Sie mir solche Dinge vorhalten, wenn ich mich zu
Menschenrechtsproblemen in anderen Ländern zu Wort
melde? Ich empfinde das als eine Retourkutsche, die we-
der dem Sachverhalt noch dem Redner angemessen ist.
Herr Hübner,
Sie müssen stehen bleiben.
Meinetwegen kann er sich auch hinsetzen. Ich antworteihm trotzdem.
Herr Kollege Hübner, Sie haben gerade ein hohes Maßan Sensibilität gezeigt, das Sie bei Ihrer Kritik an der Re-gierungskoalition vermissen ließen. Das möchte ich nichtweiter vertiefen. Aber ich kann mich noch sehr gut an IhreReden erinnern, die Sie während des Kosovo-Krieges ge-halten haben. Auch das möchte ich nicht vertiefen. Da-mals konnte keine Rede davon sein, dass Sie kein Blattvor den Mund genommen hätten. Sie haben ganz einfachgeschwiegen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich fand esunerhört, dass es eine Veranstaltung unter der Überschrift„PDS – Solidarität mit Milosevic“ vor dem SchönebergerRathaus gab. So etwas darf es nicht geben. Das ist alles,was ich Ihnen sagen wollte. Ich würde mich freuen, wennSie das klarstellten.
Wir stehen vor einer wichtigen Konferenz. Ich denke,dass sich nun, nachdem Italien seine Kandidatur zurück-gezogen hat, vier Länder aus der westlichen Gruppe, da-runter Deutschland und die USA, um die vier freien Plätzein der VN-Menschenrechtskommission bewerben wer-den. Ich bin mir sicher, dass die USAwieder Mitglied die-ser Kommission sein werden. Ich halte das unter allen Ge-sichtspunkten für sehr wichtig. Ich finde es auch richtig,dass wir in der westlichen Gruppe ein Rotationsverfahreneinführen werden. Dann werden wir nicht länger von derGnade höchst zweifelhafter Mitgliedsländer abhängigsein. Solche Mitgliedsländer dürfen nicht entscheiden,wer Mitglied der VN-Menschenrechtskommission wer-den kann und wer nicht.
Das heißt aber auch, dass die Bundesrepublik Deutsch-land, die von Anfang an Mitglied der VN-Menschen-rechtskommission ist, beim nächsten Mal aussetzen wird.Ich kündige das bereits hier an. So ist es in der westlichenGruppe abgesprochen worden, damit das Rotationsver-fahren in Gang gesetzt werden kann.Noch ein Wort zu einzelnen Ländern: Die China-Reso-lution hat bisher leider noch keine Mehrheit gefunden,auch nicht beim letzten Mal. Die amerikanische Initiativehat im Verfahren keine Mehrheit gefunden, obwohl dieEuropäische Union entschlossen war, zuzustimmen. Ichsage Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in diesemZusammenhang: Es ist von überragender Bedeutung, dassdie Europäer in Menschenrechtsfragen eine geschlossenePosition einnehmen. Ich würde mir sicherlich in vielenFragen eine härtere Gangart wünschen. Damit hätte ichauf der nationalen Ebene überhaupt kein Problem. Tatsa-che ist aber, dass wir einen europäischen Konsens brau-chen. Dieser europäische Konsens ist gerade im Rahmender Vereinten Nationen unverzichtbar und das gilt auchfür die Menschenrechtskommission. Das ist anders als infrüheren Jahren und anders als zu der Zeit, in der ich imersten Jahr Außenminister war. Die Bedeutung einer ge-schlossenen europäischen Position nimmt zu.Wir werden uns dennoch darum bemühen, dass die Si-tuation in Tschetschenien thematisiert wird. Selbst wennes zur Situation in China keine Resolution geben wird,werde ich das – das kann ich Ihnen hier schon zusagen –in der Rede thematisieren. Ich habe bisher in jedem Jahr
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Bundesminister Joseph Fischer22243
in meiner Rede die entscheidenden Punkte benannt; dasgilt auch für andere.
– Es ist typisch, dass der Zwischenruf „Auch von denUSA?“ von Ihnen kommt,
und ich will Ihnen auch sagen, warum. Da unterscheideich mich übrigens vom Kollegen Geißler, allerdings garnicht so sehr in dem, was er in der Sache kritisiert hat,nämlich dass es in Rechtsstaaten und Demokratien zumBeispiel Folter nicht geben darf,
dass es dafür keinen Grund gibt, dass der Zweck dieMittelnicht heiligt. Ich erinnere mich aber daran, dass es inschwierigerenZeitenbei uns diesbezüglich auch schon ein-mal einzelne andere Meinungen gegeben hat, nicht unbe-dingt von Personen aus dem politischen Spektrum, das mirnahe steht. Ich meine die 70er- und frühen 80er-Jahre; ichkönnte auchNamennennen. Ichunterstelle Ihnendanichts.Die USA und Israel sind Rechtsstaaten und Demokra-tien, in denen wie bei uns zum Teil abwegige Positionengeäußert werden. Nur, sie sind Rechtsstaaten und das un-terscheidet sie elementar von den anderen Fällen, die Siegenannt haben. Jeder dort kann bis zum obersten Gerichts-hof gehen. Ich vertraue völlig auf die rechtsstaatliche Tra-dition dieser beiden Demokratien. Bei allem, was wir imEinzelfall bei uns und auch bei ihnen zu kritisieren haben,würde ich sie niemals in einem Atemzug mit Iran, mit Sy-rien und mit anderen Staaten nennen. Ich habe schwersteBedenken, dies gleichzusetzen.
Demokratien und Rechtsstaaten sind nicht vor Fehlernund Irrtümern und auch nicht vor abwegigen Meinungengefeit – das gilt für unsere eigene Demokratie ebenfalls –,aber sie haben ein Verfahren, das um Lichtjahre besser ist,gerade weil sie Rechtsstaaten sind: Es gibt den Indivi-dualschutz für jede einzelne Bürgerin und für jeden ein-zelnen Bürger. Deswegen finde ich, dass der Zwischenruf„Auch von den USA?“ in diesem Zusammenhang schlichtund einfach an der Sache vorbeigeht.Meine Damen und Herren, wir werden die schwierigenLänderresolutionen auf der Konferenz diskutieren. Wirwerden uns auch bemühen, die Fragen, die Sie angespro-chen haben, zum Beispiel Folter, zu thematisieren. Ichglaube, dass die Frage der Vereinbarkeit der Scharia mitden Konventionen das zentrale Thema im Dialog mit demIslam ist.
Ich habe mir erlaubt, das auch in dieser Offenheit auf derIstanbuler Konferenz anzusprechen.Die Tagung der Menschenrechtskommission wird ineinem sehr, sehr schwierigen Umfeld stattfinden. Wirwerden auf der Grundlage unserer bisherigen Position,nämlich dass die Menschenrechte integraler Bestandteilunserer Grundwerte und damit auch unserer Politik sind,wie in den vergangenen Jahren auch dort klar Stellung be-ziehen.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Herr Kollege Geißler das Wort.
Lieber Herr Fischer,
ich bin völlig ungeeignet, vom Bundesaußenminister als
Kritiker der USA charakterisiert zu werden. Selbstver-
ständlich sind Israel und die Vereinigten Staaten Demo-
kratien. Umso höhere Ansprüche – das ist das Problem –
müssen sie an sich selber stellen.
Ich will das einmal von der Geschichte her betrachten,
auch wenn Vergleiche da immer gefährlich sind. Ich er-
wähne die Gefangenen auf Guantanamo. Einem Muslim
den Bart abzuschneiden
und ihn kahl zu scheren ist ungefähr genauso schlimm,
wie wenn man einem Juden das Käppi zerfetzt. Wir haben
in früheren Zeiten ähnliche Bilder gesehen. Wenn ferner
Präsident Bush das Wort „Kreuzzug“ in den Mund nimmt,
dann ist das für viele Muslime genauso schlimm wie das
Wort „Holocaust“ für Juden. Damit werden die Vereinig-
ten Staaten und wir mit ihnen eines Stückes unserer mo-
ralischen Autorität beraubt.
Ich bringe hier eine Sorge zum Ausdruck, wenn ich da-
rauf hinweise, dass solche Gedanken in unseren rechts-
staatlichen Demokratien geäußert und von Verwaltungen
möglicherweise sogar aufgenommen werden. Aus Solida-
rität zu den Vereinigten Staaten müssen wir in der Lage
sein, so etwas zu kritisieren.
Zur Erwiderung
hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
das Wort.
Herr Kollege Geißler, es war nicht meine Absicht, Ihnenvorzuschreiben, was Sie zu kritisieren und was Sie nichtzu kritisieren haben. Wo kämen wir denn da hin? Hier, imBundestag, muss alles kritisiert werden können.
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Bundesminister Joseph Fischer22244
Gestatten Sie mir allerdings, darauf hinzuweisen, dassich schlicht und einfach in der Reihung ein Problem ge-sehen habe. Für mich besteht in der Tat ein Unterschied.Demokratien haben einen höheren Standard zu halten; in-sofern ist an sie, auch an uns selbst, ein höherer Maßstabanzulegen. Wir müssen einfach sehen: Diese Debatte stehtim Zusammenhang mit dem furchtbaren Terroranschlagvom 11. September. Sie wurde in den USA selbst – dasmuss man auch sehen – auf das Schärfste zurückgewie-sen. Das ist nicht die Entscheidungsgrundlage.Ich hätte mir von Anfang an gewünscht, dass in Guan-tanamo bis zur Klärung des Rechtsstatus die entsprechen-de Konvention über die Behandlung von Kriegsgefange-nen gilt. Darauf haben die Europäer, die EuropäischeUnion, aber auch die Bundesregierung hingewiesen. Es istdann zu einer entsprechenden Entscheidung gekommen.Aber eines bitte ich Sie, zu bedenken: Wir müssen Achtgeben, dass wir uns begrifflich nicht völlig vergaloppieren.Kreuzzüge sind das eine. Bei der Einnahme Jerusalems1099 durch das erste Kreuzfahrerheer wurde die gesamtemuslimische und jüdische Bevölkerung abgeschlachtet –alle. Ich würde das aber nicht mit dem Holocaust gleich-setzen. Insofern rate ich in diesem Zusammenhang – manhat es mit, wie ich finde, einmaligen Menschheitsverbre-chen zu tun – zu einer sehr präzisen Wortwahl; denn sonstbekommen wir eine Debatte, die meines Erachtens in eineSackgasse führt. Das kann nicht im Interesse des gemein-samen Einsatzes für die Menschenrechte sein.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christoph Moosbauer.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Außenminister hatmir leider Redezeit weggenommen. Ich werde prüfen, obdas eine Verletzung meiner politischen Rechte ist.
Ich unterstütze die Bundesregierung in ihrem Bemühen,die Menschenrechte zum Kern der Außenpolitik zu ma-chen und dementsprechend zu berücksichtigen, natürlichweiterhin.Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, KofiAnnan, hat an dieser Stelle, vor dem Bundestag, kürzlichnoch einmal betont, dass es die gemeinsame Anstrengungder Staatengemeinschaft sein muss, einen nachhaltigenFrieden zu schaffen. Er hat damit auch darauf hingewie-sen, dass es nicht nur darauf ankommt, Konflikte in derWelt zu beenden, sondern vor allen Dingen darauf, De-mokratie und Menschenrechte dauerhaft zu wahren. Da-her ist es auch unsere Aufgabe, den zivilen Frieden täglichaufs Neue zu wahren sowie für die Demokratie und dieMenschenrechte auch in unserem Land zu kämpfen.
Freiheit und Demokratie zu erringen ist für viele Län-der erst ein Anfang. Demokratie bewährt sich vor allenDingen im Umgang mit den Menschenrechten.
In vielen Teilen der Erde bleiben vielen Menschen rudi-mentäre Menschenrechte tagtäglich versagt. Die Kollegin-nen und Kollegen haben auf Tschetschenien, auf Paläs-tina, auf Tibet, auf den Sudan und auf viele andere Ortedieser Welt hingewiesen. Aber auch in Gesellschaften, dieDemokratie und Freiheit errungen haben, werden jedenTag bürgerliche, politische und auch soziale Rechte ver-letzt. Daher ist die im Sozialpakt festgeschriebene Be-richtspflicht der Staaten keine lästige Fleißaufgabe, son-dern eine wichtige Instanz bei der Umsetzung der im Paktfestgehaltenen Rechte.Durch den uns vorliegenden Antrag zur „Stärkung derwirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Völ-kerrecht und im internationalen Bereich“ soll gerade die-ses Instrument gestärkt werden. In ihm wird die Bundes-regierung aufgefordert, bei der Erstellung ihres Berichtsauch die zivilgesellschaftlichen Organisationen einzubin-den, die gegenüber Verletzungen der im Sozialpakt nie-dergelegten Rechte oft sensibler sind.Außerdem soll in Zukunft der Bericht publik gemachtund auch öffentlich diskutiert werden. Das schafft nichtnur zusätzliche Transparenz, sondern stärkt auch das Be-wusstsein für die Bedeutung dieser Rechte in der Öffent-lichkeit. Nur wenn dieses Bewusstsein geschärft wird, kön-nen die Menschenrechte dauerhaft verteidigt werden. DieBerichtspflicht und die im Antrag vorgesehene Stärkungdes Instruments als gering abzutun, wie es oft getan wird,ist daher falsch.Zusätzlich müssen wir aber engagiert auf ein Zusatz-protokoll zum Sozialpakt hinarbeiten, das die Möglich-keit von praktikablen Individual- und auch Kollektivbe-schwerden ermöglicht, wie es etwa beim Zivilpakt derFall ist. Erst wenn betroffene Menschen ihre Rechte auchwirksam einklagen können, ist der Wesensbestand derMenschenrechte gesichert.
Auch das steht im Antrag, im Übrigen nicht im Konjunk-tiv, wie der Kollege Hübner sagte. Ich will es einmal zi-tieren:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, ... für ein Zusatzprotokoll zum UN-Sozial-pakt einzutreten ...Wollte man es noch stärker formulieren, hätte man nur sa-gen können, man müsse die Bundesregierung zwingen,dass das passiert. Das können wir natürlich nicht.Ich danke dem Menschenrechtsausschuss für seine Ar-beit und ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen fürdie vielen Anträge, die jetzt vorliegen. Wenn wir es wirk-lich schaffen, die Menschenrechte zum Kernbestandteilder Außenpolitik zu machen, dann haben wir hier im Par-lament gute Arbeit geleistet.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Bundesminister Joseph Fischer22245
Vielen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „58. Tagung der VN-Menschenrechtskom-
mission in Genf“. Wer stimmt für den Antrag auf Druck-
sache 14/8376? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Enthaltung aller anderen Fraktionen ange-
nommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8406
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen „Stärkung der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte im Völkerrecht und im
internationalen Bereich“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei
Enthaltung von FDP und PDS angenommen worden.
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen zur weltweiten Bekämpfung und Ächtung der
Folter, Drucksache 14/8488. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist einstimmig angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8404 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Im
Namen der ‚Ehre‘ – Gewalt gegen Frauen weltweit äch-
ten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 e sowie Zusatzpunkte 4 bis 7:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8280, 14/8481, 14/8483, 14/8486
und 14/8502 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Fraktion der CDU/CSU
Maßnahmen der Bundesregierung für eine na-
tionale Bildungsoffensive zur mittel- und lang-
fristigen Behebung des Fachkräftemangels im
IT-Bereich
– Drucksachen 14/4172, 14/6943 –
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Norbert Hauser.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarktin Deutschland ist in eine Schieflage geraten. Wir habenauf der einen Seite 4,3 Millionen Arbeitslose zu beklagen.Hinzu kommen noch einmal etwa 1,7 Millionen Personenin Arbeitsförderungsmaßnahmen. Auf der anderen Seitebeklagen wir einen gewaltigen Fachkräftemangel. In derZukunft wird es darauf ankommen, diesen gordischenKnoten in der Bildungs-, Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-politik zu durchschlagen.Auch in der IT-Branche gibt es einen Fachkräfteman-gel. Im letzten Jahr waren etwa 75 000 Stellen – so hat manerrechnet – unbesetzt. Die Schätzungen differierten zwi-schen 50 000 und 150 000 Stellen. Demgegenüber gab esfast 70 000 Ingenieure und Naturwissenschaftler, die eineStelle suchten, und 32 200 EDV-Fachleute, die arbeitsloswaren. Dies ist eine enorme Verschleuderung von Hu-mankapital, die sich eigentlich kein Staat leisten kann.
Die Bundesregierung hat bis heute auf diese Problemekeine geeignete Antwort gefunden. Es gibt eine Reihe vonProgrammen; das ist durchaus löblich. Es fehlt aber einGesamtkonzept, und zwar nicht nur für den IT-Bereich.Weil dies fehlt, greift die Bundesregierung immer wiederzu Ersatzlösungen.
So stellt es auch eine Ersatzlösung dar, wenn sie meint, siekönnte diese Probleme mit einem neuen Zuwanderungs-recht bekämpfen. Dabei vergisst sie aber, dass wir es, wieeben gerade angesprochen, mit Millionen von Arbeits-losen, Umschülern und Menschen in ABM zu tun haben.Diese Menschen dürfen wir nicht links liegen lassen.
Wir müssen uns darum kümmern, dass diese Menschen inArbeit kommen. Wir glauben, dass hier ein großes Poten-zial vorhanden ist, aus dem sich auch Fachkräfte schöp-fen lassen.Die Zuwanderung – das räume ich durchaus ein – magin dem einen oder anderen Fall eine Lösung darstellen, siebeseitigt aber eben nicht das Grundproblem. Es sind – da-rauf hat die Bundesregierung gestern hingewiesen –etwa 11 000 Greencards erteilt worden. Etwa 8 000 bis9 000 Arbeitnehmer von diesen 11 000, die in den Genusseiner Greencard gekommen sind, haben die Möglichkeitergriffen und ihre Arbeitsverhältnisse tatsächlich angetre-ten. Dies, meine Damen und Herren, ist doch angesichtsder Größe des Problems nicht mehr als ein Tropfen aufden heißen Stein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Christoph Moosbauer22246
– Sie haben offensichtlich nicht zugehört, Herr Kollege.Sie müssten gelegentlich das Lesen unterlassen.Hier handelt es sich lediglich um einen Tropfen auf denheißen Stein.
Die Greencardlösung hat deutlich gemacht, dass es mög-lich ist, Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Sie wissenganz genau, dass wir das vorliegende Zuwanderungsge-setz nicht benötigen, um die Probleme im Spitzen- undFachkräftebereich zu lösen.
Hier gibt es durchaus untergesetzliche Möglichkeiten,zum Beispiel auf dem Verordnungswege, um dieses Pro-blem zu lösen.
– Ich wäre den Anwesenden auf der Regierungsbankdankbar, ihre Zwischenrufe, wenn sie denn schon welchemachen, so vernehmlich zu machen, dass man sie auchversteht. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen die entsprechen-den Paragraphen zu nennen. Denken Sie an § 9 Nr. 9 derArbeitsgenehmigungsverordnung. Schauen Sie dort hi-nein; dann sehen Sie, dass es heute schon möglich ist, die-sem Fachkräftemangel zu begegnen.
Darf ich Sie
kurz unterbrechen? Die Regierungsbank darf keine Zwi-
schenrufe machen.
Darauf wollteich mit meiner Äußerung aufmerksam machen, Frau Prä-sidentin.
Sie bringen ja immer wieder die Begründung, dass dieWirtschaft Zuwanderung verlange, weil sie der Ansichtsei, der Fachkräftemangel lasse sich nur über Zuwande-rung lösen. Schauen Sie sich einmal die Umfrage an, dieder Deutsche Industrie- und Handelskammertag Endevergangenen Jahres vorgelegt hat. Es wurden 21 000 Un-ternehmen befragt; von diesen haben 12 Prozent angege-ben, dass sie ausländische Arbeitskräfte anzuwerben ge-denken. Auf die Frage, warum denn dieser Prozentsatz sogering sei, nämlich nur 12 Prozent, wurde die Antwort ge-geben, dass zum einen die Kosten für die Suche auslän-discher Arbeitskräfte zu hoch seien, zum anderen die In-tegration in den hiesigen Arbeitsprozess zu schwierig seiund schließlich unabdingbar für den Einsatz ausländi-scher Arbeitskräfte in der Bundesrepublik die Beherr-schung der deutschen Sprache sei. Dies sei eben bei die-sen Menschen weitestgehend nicht der Fall.Wir brauchen also Lösungen vor Ort für die jetzt Arbeitsuchenden Menschen. Zuwanderung wird uns dabei nichtbesonders weiterhelfen.
Wir wollen den Fachkräftemangel in Deutschland durchMaßnahmen auf den Gebieten der Schul- und Hochschul-bildung, der dualen Berufsausbildung und der Weiterbil-dung beseitigen. Bereits Jungen wie Mädchen muss derUmgang mit Technik zur Normalität werden. Schülerin-nen und Schüler sind für naturwissenschaftliche und tech-nische Fächer zu begeistern. Die Fehler der Vergangen-heit, in der Technik und Fortschritt oft verteufelt wurden,dürfen sich nicht wiederholen.Aber man darf natürlich auch die weiterführendenSchulen nicht vernachlässigen. Wie man es richtig macht,zeigt uns zum Beispiel – man höre und staune – der Frei-staat Bayern.
– Ich kann Ihre Begeisterung nachvollziehen. – Dort wirddie IT-Ausbildung bereits in der Mittelstufe – hören Siegut zu! – begonnen und gehört damit zum Basisunterricht.
An den bayerischen Gymnasien nehmen mehr als29 000 Schüler des Wahlpflichtbereichs Mathematik imneunten und zehnten Schuljahr an Informatikkursen teil.Hinzu kommen mehr als 22 000 Schüler, die Informatikals Wahlkurs belegen. Das heißt, 46 Prozent eines Jahr-gangs haben ausgezeichnete Computerkenntnisse. Das istein Pfund, mit dem sich wuchern lässt.
Wir beklagen immer wieder zu lange Studienzeiten,ohne wirklich Gravierendes dagegen zu unternehmen.Stellen Sie sich einmal eine Verkürzung der Studienzeitum nur ein Jahr vor. Das brächte dem Arbeitsmarkt in ei-nem Zeitraum von fünf Jahren 40 000 zusätzliche Akade-miker. Das ist das Doppelte von dem, was Sie mit derGreencard erreichen wollten, und ein Vielfaches von dem,was Sie tatsächlich mit der Greencard erreicht haben.Gerade im Akademikerbereich werden wir auf einenerheblichen Fachkräftemangel zusteuern, wenn wir nichtrechtzeitig reagieren. Von 1998 bis 2010 werden insgesamtetwa 1,3Millionen Akademiker aus dem Arbeitsleben aus-scheiden. Der Bedarf für diesen Zeitraum wird auf etwa1,1 Millionen Akademiker geschätzt. Das heißt, wir brau-chen jährlich mindestens 200000 Hochschulabsolventen.Laut Kultusministerkonferenz erlangen in den nächs-ten Jahren jeweils circa 350 000 junge Leute die Hoch-schulreife; aber nur etwa zwei Drittel dieser jungen Men-schen nehmen ihre Chance zum Studium wahr. Das heißt,mehr als 150000 junge Menschen streben zwar einen qua-lifizierten Schulabschluss an, wollen aber danach keineHochschule besuchen. Auch hier ist ein enormes Poten-zial, das es auszuschöpfen gilt.30 Prozent der jungen Menschen mit Hochschulreifeabsolvieren zunächst einmal eine herkömmliche duale Be-rufsausbildung. Offensichtlich bietet ein Hochschulstu-dium in ihren Augen keine ausreichende Basis für eine be-rufliche Zukunft. Sie beklagen mangelnden Praxisbezug.
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Norbert Hauser
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Dieser Praxisbezug muss hergestellt werden. Eine Lö-sung in diesem Fall heißt: duale Studiengänge. Sie ent-sprechen dieser Anforderung. Sie wecken die Bereitschaftzum Studium und haben den unschätzbaren Vorteil, dasssie die Dauer von acht Jahren für eine duale Erstausbil-dung plus Studium auf einen Zeitraum von fünf Jahrenverkürzen. Das heißt also, die jungen Menschen stehendem Arbeitsmarkt drei Jahre früher zur Verfügung. Diesist ein gigantisches Potenzial zur Behebung des Fachkräf-temangels.
Deutschland muss sich international ausrichten, wennes im Wettbewerb bestehen will. Dazu gehört, dass derWissenschaftsstandort Deutschland Werbung in eigenerSache macht.
Hochschulen sind bei der Gründung von Offshoreeinrich-tungen zu unterstützen. Studenten, die ihren ersten Ab-schluss im Ausland machen, um dann ihre Studien inDeutschland fortzusetzen, gehören zu unserer Zielgruppe.
Der Wettbewerbsbeitrag der Bundesregierung lautet:Mittelkürzung für deutsche Kulturarbeit im Ausland.
Deutsche Schulen werden geschlossen, Goethe-Institutewerden geschlossen, der Deutschen Welle werden dieMittel gekürzt. Das ist kein Kampf um die besten Köpfe,
das ist Resignation. Wir brauchen keinen Rückzug, wirbrauchen eine Offensive.
Ein Letztes: Wettbewerb funktioniert nur, wenn esgenügend Freiheit für die Bildungsträger gibt. Unser Bil-dungssystem erstickt an bürokratischen Vorgaben undeinengenden Gesetzen. Die Bildungsanbieter in Deutsch-land sind besser, als einige in diesem Hause es vermuten.Geben wir ihnen die Chance, ihre Zukunft selbst in dieHand zu nehmen. Unser Antrag ist ein erster Schritt indiese Richtung. Haben Sie den Mut und stimmen Sie zu,damit der Fachkräftemangel wirksam bekämpft werdenkann.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.
W
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt imHause sicherlich Einigkeit darüber, dass die Bildung einSchlüsselfaktor bei der Bewältigung des strukturellenWandels von der Industriegesellschaft zur Informations-und Wissensgesellschaft darstellt und dass wir davon aus-gehen müssen, dass dieser Wandel mit steigenden Tätig-keitsniveaus und Arbeitsplatzanforderungen verbundenist und deshalb zu einem höheren Bedarf an qualifiziertenFachkräften führt. Aus diesem Grund steht das ThemaFachkräftemangel auf der Tagesordnung aller hoch ent-wickelten Industriestaaten. Wir alle müssen uns fragen,inwieweit wir dieser Situation durch geeignete Maß-nahmen Rechnung tragen.Sie wissen, dass der Fachkräftemangel bei der Regie-rungsübernahme ein sehr brisantes Problem der IT-Bran-che war. Der Bundesverband Informationswirtschaft,Telekommunikation und neue Medien bezeichnete denMangel an IT-Fachkräften seinerzeit als die entschei-dende Wachstumsbremse der deutschen Informations-wirtschaft. Damals konnte man von Ausbildungsplätzenund Ausbildern in größerem Umfang noch nicht reden.Die Absolventenzahlen im Fach Informatik stürzten abund der IT-Weiterbildungsmarkt war von Wildwuchs ge-prägt.Die Regierung hat umgehend gehandelt. Sie kann deut-liche, auch international beachtete Erfolge vorweisen. Umdas einmal klar zu sagen: Mit Ihrer Großen Anfrage hink-ten Sie schon im Jahr 2000 den Entscheidungen derBundesregierung hinterher.
Mit dem Entschließungsantrag bemühen Sie sich nunkrampfhaft, den Abstand zwischen den Entscheidungenund dem Handeln der Regierung und den Forderungen derOpposition nicht zu groß werden zu lassen.Bereits im Sommer 1999 haben wir im Bündnis fürArbeit zusammen mit der Wirtschaft und den Gewerk-schaften die Offensive gegen den Fachkräftemangel imIT-Bereich gestartet. Mit dem darauf aufbauenden Sofort-programm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs vomMärz 2000 – das war vor Ihrer Großen Anfrage – hat dieseBundesregierung parallel zur Greencardinitiative eineBildungsoffensive gestartet, die ein Bündel von Maßnah-men umfasst
und alle Bildungsebenen – duale Berufsausbildung, Wei-terbildung und Studium – einschließt.Ihre Rede, lieber Kollege Hauser, ist ein sehr vorder-gründiger Versuch in einem Wahljahr, das Thema Zuwan-
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derung aus innenpolitischen Profilierungsgründen gegendie notwendigen Maßnahmen zur Aus- und Weiterbil-dung, die diese Bundesregierung längst durchführt, aus-zuspielen.
Wenn Sie wirklich ein Interesse daran haben, dass hochqualifizierte Fachkräfte aus aller Welt, wie Sie in IhremText immerhin noch verbalisieren, nach Deutschlandkommen, dann müssen Sie sich sehr gut überlegen, ob Siemit Ihrer Position des Ausspielens der notwendigenInteressen unserer jungen Menschen und der schon in Ar-beit Befindlichen gegen das Thema Zuwanderung wirk-lich einen Beitrag zu dem angemessenen Umgang auchdieser Gesellschaft mit den Talenten, die aus aller Welt zuuns kommen sollen, leisten.
Ich denke, dass wir heute eine positive Bilanz ziehenkönnen. Wir hatten uns vorgenommen, bis zum Jahre2002 die Ausbildungsplätze im IT-Bereich und im Be-reich der Medienberufe auf 40 000 zu erhöhen. Ende 2001gab es über 70 000 Ausbildungsplätze im Vergleich zu14 000 im Jahr 1998.
Sie verschweigen aus sehr vordergründigen wahltakti-schen Gründen sehr gerne, dass wir die IT-Weiterbil-dungsmaßnahmen von Erwerbslosen in den Jahren 2000und 2001 auf jeweils 46 000 Teilnehmerinnen und Teil-nehmer pro Jahr ausgeweitet haben.
Das bedeutet, dass wir in diesem Bereich zusätzlich über10 000 Erwerbslose pro Jahr ausgebildet haben.Gemeinsam mit den Ländern haben wir schon im Jahr2000 das Programm zur Weiterentwicklung des Informa-tikstudiums gestartet, das mit Mitteln in Höhe von 50Mil-lionen Euro bis zum Jahre 2004 dazu beiträgt, die Studien-kapazitäten zu erweitern und die Studienstrukturen sowiedie Praxisorientierung zu verbessern. Lassen Sie uns überdie Zahlen reden! 1997 gab es 11 000 Studienplätze. Jetztsind es 27 000 Studienplätze.
Ist das kein Erfolg dieser Regierung?
Sie sollten sich an dieser Stelle sehr gut überlegen, obSie Ihre sehr vordergründige Kampagne, die auf einer Be-schreibung der Situation basiert, die vielleicht für 1998angebracht gewesen wäre, fortsetzen wollen, mit der dieGreencard gegen die Ausbildung von Inländern ausge-spielt werden soll.
Ich sage ganz deutlich: Diese Regierung hat von An-fang an ein integriertes Konzept der Förderung der Bil-dung im beruflichen Bereich, im akademischen Studiumsowie im Bereich der Aus- und Weiterbildung gestartet,was dazu führt, dass wir erstmals seit der langen Zeit derUntätigkeit, die Ihre Regierung an den Tag gelegt hat, dieBegabungsreserven für einen zukunftsträchtigen Be-reich umfassend ausschöpfen.
Alle Prognosen weisen gegenwärtig darauf hin, dasswir die Talsohle bei den Informatikabsolventen längstdurchschritten haben. Das Institut der deutschen Wirt-schaft rechnet in den nächsten Jahren mit sukzessiv stei-genden Absolventenzahlen auf circa 15 000 bis 2005. Dasbedeutet, dass es gegenüber dem Durchschnitt Mitte der90er-Jahre mehr als eine Verdoppelung geben wird. DieStudierenden gibt es bereits.Die Greencard ist ein Erfolg. Es kam nicht darauf an,möglichst viele Menschen nach Deutschland zu holen. Eskam vielmehr darauf an, dass Fachkräfte, die bei uns ge-braucht werden, nach Deutschland kommen.
Wenn wir durch unsere Ausbildungsanstrengungen dazubeigetragen haben, dass es nicht 20 000 oder 25 000, son-dern nur 11 000 Menschen sind, die nach Deutschland ge-kommen sind, weil wir aus wachsenden Ressourcen jun-ger qualifizierter und weiterqualifizierter Arbeitskräfteschöpfen können, dann ist das etwas, worüber ich michnicht beklagen kann.Ich will einen weiteren Punkt nennen. Unser Bundes-ministerium hat in der letzten Woche im Rahmen eines in-ternationalen Kongresses die wesentlichen Eckpunkte un-serer Reform der IT-Weiterbildung vorgestellt, dieinternational hohe Anerkennung und Nachfrage erfährt.Die Reform setzt Qualifikationsstandards für 29 markt-gängige Spezialistenprofile in diesem Bereich. Sie wurdegemeinsam mit Gewerkschaften, Verbänden und Unter-nehmen entwickelt. Wir wollen damit die Voraussetzungschaffen, praxisnahe Qualifizierungen in einem Unter-nehmen mit der wissenschaftlichen Ausbildung an einerHochschule zu kombinieren. Sie könnten dies heute un-eingeschränkt begrüßen und uns dafür loben,
dass wir gemeinsam mit der Wirtschaft und mit allen Ver-bänden diese strategische Weichenstellung für ein qualifi-ziertes IT-Weiterbildungssystem in Deutschland geschaf-fen haben. Wir sind auch europaweit eines der erstenLänder, das die Vereinbarungen zum European CreditTransfer System in diesem Bereich für die IT-Weiterbil-dung umsetzt.Ich schließe mit einer letzten Bemerkung: Sie sind spätmit Ihren Anträgen und mit Ihren Vorschlägen. Um dasam Beispiel Offshore-Gründungen deutlich zu machen:Sie stellen dieses Thema heute in Ihrem Entschließungs-antrag erstmals zur Debatte. Wir handeln aber bereits. Sie
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Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen22249
wissen, dass eine Reihe von deutschen Universitäten indieser Richtung von uns unterstützt werden und erste Ini-tiativen in vielen Ländern der Welt starten. Wir wünschenIhnen weiterhin viel Glück, mit Ihren Forderungen an dasheranzukommen, was diese Regierung schon längst um-setzt.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Lieber Herr Catenhusen, ich bin gern bereit,Sie zu loben.
Aber so dramatisch gut, wie Sie es darstellen, ist es natür-lich auch nicht. Wenn Sie hier mit Zahlen operieren, dieauf das Jahr 1998 zurückverweisen, dann dürfen Sie nichtvergessen, dass diese Berufe in jenem Jahr neu eingeführtworden sind.
Angesichts dessen ist es kaum möglich, dass sie zu die-sem Zeitpunkt schon das heutige Mengenniveau erreichthatten.Trotzdem ist die FDP-Fraktion bereit und willens, an-zuerkennen, dass die Bundesregierung reagiert hat.
Sie haben in Ihrer Antwort auf das 100-Millionen-Son-derprogramm zur Weiterentwicklung des Informatikstu-diums verwiesen. Das ist ein ordentliches Programm. DesWeiteren haben Sie auf Tausende von Teilnehmern anWeiterbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen der BAund auf das Internet für Arbeitslose, Frauen und Um-schüler verwiesen. Herr Catenhusen, hier ist es mit demLoben nicht getan, hier fehlt uns die Erfolgskontrolle.Dies betrifft insbesondere die BA. Es liegen keine verläss-lichen Zahlen darüber vor, ob diese Schulungen auch zuEinstellungen führen. Wenn Sie keine Erfolgskontrollehaben, können Sie im Hinblick auf die Qualität auch nichtnachregeln.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass die Dis-kussion über die Bundesanstalt fürArbeit endlich ange-fangen hat und die Effizienz dieser Anstalt auf dem Prüf-stand steht. Dies gilt insbesondere für eine ganzeGeneration von IT-Fachkräften zwischen 45 und 55 Jah-ren, auf die Herr Hauser eben schon hingewiesen hat. Siestehen ohne Chance auf einen Job auf der Straße. Ende2001 – lassen Sie sich diese Zahl einmal durch den Kopfgehen – waren es immerhin 34 000 arbeitslose IT-Kräfte.Ich frage mich natürlich, was die Bundesregierung imHinblick auf diese Leute macht. Hier muss deutlich effi-zienter und erfolgsorientierter gefördert werden. Die11 000 Greencards, die Sie, Herr Catenhusen, eben ange-führt haben, sind im Vergleich dazu wahrlich nur ein lauesLüftchen.
Im Schulbereich sind wir vorangekommen; das sehenwir genauso. Fast alle Schulen verfügen inzwischen übereinen Internetzugang, eine wachsende Anzahl auch übermoderne Computer. Ich betone allerdings, HerrCatenhusen, dass wir vorangekommen sind; denn einGroßteil dieses Fortschritts ist nicht zuletzt auf das bei-spielhafte Engagement von Eltern und Sponsoren undweniger auf das segensreiche Wirken der Bundesregie-rung zurückzuführen.
Aber auch dieses Engagement reicht nicht, was dieBundesregierung selbst zugibt. Sie sagt nämlich in ihrerAntwort auf die Große Anfrage, bis 2005 könnten unge-fähr 350 000 IT-Fachkräfte gewonnen bzw. ausgebildetwerden. Der Technologiebericht des Wirtschaftsministersstellt aber schon für 2002 einen Bedarf von 350 000 IT-Fachkräften fest. Das ergibt eine Lücke von drei Jahren,Herr Catenhusen. Mit Ausbildung ist dies nicht zu schaf-fen; wir brauchen – hier widerspreche ich Ihnen sehrenergisch, Herr Hauser – auch qualifizierte Fachkräfte ausdem Ausland.
Dieser Punkt stört uns übrigens an dem Antrag derCDU/CSU.
Es ist erneut der Versuch, das Thema Zuwanderung in et-was hineinzumischen, bei dem wir uns alle einig sind. Wirwissen doch, dass wir qualifizierte Kräfte aus dem Aus-land brauchen, und sollten dies nicht dergestalt in eine De-batte hineinbringen, dass wir plötzlich die Leute mitStammtischargumenten aufhetzen, um Wahlkampfpunktezu machen.
Wir werden heute den Entschließungsantrag an denAusschuss überweisen. Ich kann sagen, dass uns vieles anihm gefällt. Die Maßnahmen, die Sie zur Integration aus-ländischer Studenten angeführt haben, liegen auf unsererLinie. Das gilt auch für die Quoten, in deren Rahmen dieHochschulen selbst aussuchen dürfen. Wir sind uns mitIhnen, aber auch mit Herrn Catenhusen einig, dass es ander Zeit ist, die Geschwindigkeit im Ausbildungsbereichzu erhöhen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir im
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Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen22250
Ausschuss Ihrem Antrag folgen, warten aber zunächst dieDebatte ab.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei demThema der heutigen Debatte stößt man natürlich auf denBegriff der Greencard; dies ist hier schon mehrfach an-gesprochen worden. Seit knapp zwei Jahren können Com-puterexperten und -expertinnen aus Nicht-EU-Ländernaufgrund der Greencardregelung bei uns arbeiten.
Über 10 000 Arbeitserlaubnisse wurden bereits ausge-stellt. 88 Prozent davon gingen – das erwähne ich nur amRande – an Männer.Was gab es nicht alles an Befürchtungen, insbesonderevon konservativer Seite: Ganze Zuwanderungswellenkönnte diese Greencard auslösen, vergleichbar mit derEinwanderung in den 50er- und 60er-Jahren. Heute wis-sen wir mehr. Die Greencard war sicherlich notwendig;sie ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der IT-Markt ist sehr komplex und erfordert spezifische Qualifi-kationen sowie ständige Weiterbildung, bringt aber leiderauch häufig wechselnde Arbeitgeber und Einsatzorte mitsich. Hierdurch sowie durch die vielen Weiterbildungs-maßnahmen, die leider viel zu häufig am Markt vorbeigehen, lässt sich das scheinbar unverständliche Verhältnisvon bis zu 30 000 arbeitslosen EDV-Fachleuten auf dereinen und einem hohen Fachkräftebedarf auf der anderenSeite erklären. Die Überprüfung der Qualifizierungsmaß-nahmen von Arbeitslosen ist also auch für den IT-Bereichdringend erforderlich.Gerade gestern war ich auf der Cebit und habe michdort von der guten Zukunftsfähigkeit des IT-Marktesrund um die neuen Technologien überzeugen können. DieBundesregierung ist sich dieser Bedeutung vollkommenbewusst und hat zahlreiche Maßnahmen getroffen, umdiesen innovativen, aber auch schwierigen Arbeitsmarktfür alle zu öffnen: für Arbeitslose aus anderen Bereichenwie für Spezialisten und Spezialistinnen aus dem Aus-land.Wegen der guten Zukunftsaussichten dieser Jobs ist esbesonders wichtig, Mädchen und Frauen frühzeitig fürdiese Bereiche zu interessieren. So hat sich die Bundesre-gierung vorgenommen, den Anteil der Frauen bei den Stu-dienanfängern in Informatikstudiengängen bis zum Jahr2005 von jetzt 17 Prozent auf 40 Prozent zu steigern.
Das kann uns auch gelingen. Schon jetzt zeigt sich einwachsendes Interesse junger Frauen an den neuen Tech-nologien, an einem naturwissenschaftlichen oder techni-schen Studium.
Während Ende 1997 rund 11 000 junge Frauen ein Stu-dium in den Bereichen Ingenieurwissenschaften, Informa-tik und Elektrotechnik aufnahmen, waren es im Winterse-mester 1999/2000 bereits fast 15 000. Diese Entwicklungist mehr als erfreulich und wird durch das 100-Millionen-Sofortprogramm der Bundesregierung zur Verbesserungdes Informatikstudiums weiter anhalten.Die wesentlichen Ursachen des heutigen Fachkräfte-mangels liegen in der Bildungspolitik der 90er-Jahre.
Die Weichen wurden nicht rechtzeitig gestellt, um dietechnologischen und bildungspolitischen Herausforde-rungen, die durch die neuen Informations- und Kommu-nikationstechnologien entstanden sind, frühzeitig zu er-kennen.
Was Helmut Kohl und Co jahrelang ausgesessen haben,kann man nicht innerhalb kürzester Zeit zum Galoppierenbringen. Doch Rot-Grün ist hier auf einem sehr gutenWeg. Jetzt wird gesurft und gehandelt.
– Das tue ich leider nicht, muss ich gestehen.Wichtig sind – das wurde von Herrn Catenhusen be-reits angesprochen – zum einen die Offensive zum Abbaudes Fachkräftemangels im Rahmen des Bündnisses fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und dasSofortprogramm der Bundesregierung zur Deckung desIT-Fachkräftebedarfs in Deutschland. Außerdem werdenbis zum Jahr 2004 für die Entwicklung von Lehr- undLernsoftware für Schulen, Hochschulen und Berufsbil-dung circa 650 Millionen DM von der Bundesregierungbereitgestellt.
Die Anzahl der Computer und der Internetanschlüssewurde in den letzten Monaten massiv gesteigert. Geradedeshalb ist die Integration der neuen Medien in Schuleund Universität nach wie vor eine ganz zentrale bildungs-politische Aufgabe.
Mir persönlich liegt in diesem Zusammenhang beson-ders die Förderung von Mädchen und jungen Frauen
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am Herzen. Gestern auf der Cebit fühlte ich mich nochimmer allein unter Männern.
Dies muss sich nach und nach ändern.
Auch hier sind wir mit Unterstützung der rot-grünen Bun-desregierung auf einem guten Weg. Stellvertretendmöchte ich in diesem Zusammenhang zwei Projekte er-wähnen: Sachsen-Anhalt veranstaltet für Mädchen tech-nische Sommerakademien und unterstützt Patenschaftenmit Hochschulen und Fachhochschulen. In Thüringengibt es ähnliche Initiativen, die von der Koordinierungs-stelle „Wissenschaft und Technik für Schülerinnen“ be-gleitet werden.
Die Aufgeschlossenheit von Mädchen für naturwissen-schaftliche Themen, insbesondere für die modernen In-formations- und Kommunikationstechnologien, sollenProjekte wie „girls@D21“ oder „Idee-IT“ wecken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch viel zutun, um unsere Gesellschaft für die Herausforderungender Informationsgesellschaft fit zu machen.
Die kurzfristige Gewinnung von IT-Fachkräften oderauch die erfreuliche Mitteilung, dass alle deutschen Schu-len mittlerweile am Netz sind, reichen bei weitem nichtaus. Wir brauchen eine Bildungspolitik, die flexibel mitder Berufsausbildung umgeht und nicht in starren Struk-turen verharrt.
Wir wollen eine Informationsgesellschaft ohne Barrie-ren aufbauen, in der sich junge Frauen genauso selbststän-dig bewegen wie netzbegeisterte Seniorinnen und Senio-ren. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung und bedankemich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Große Anfragen dienen ei-nerseits der Bundesregierung, ihre Taten der Vergangen-heit lobend zu erwähnen, und andererseits der Opposition,diese kritisch zu hinterfragen und meistens etwas schwarzzu malen.Ich möchte zunächst einmal einige lobende Worte aus-sprechen: Den Trend, dass Deutschland Schlusslicht imIT-Geschehen zu werden drohte, hat diese Bundesregie-rung zumindest gestoppt.
Während der Kohl-Regierung ist eher nichts passiert undwir haben den Anschluss völlig verpasst.
Inzwischen sind wir bei einem international vergleich-baren Standard angelangt. Es ist sehr erfreulich, dass in-zwischen fast alle Schulen über einen Internetzugang ver-fügen. Gleichfalls geht die Ausstattung mit Computernin einem großen Tempo voran.Dennoch – das zeigt die Antwort der Bundesregierungauf die Große Anfrage – wird häufig auf die Privatwirt-schaft gesetzt.
Dies gefällt mir nicht unbedingt, wenngleich auch ichnicht verhehlen will, dass Sponsoring in diesem Bereichein Weg sein kann. Ich denke aber, dass auch die Bundes-regierung Verantwortung trägt und man sich nicht nur aufdas Sponsoring verlassen darf. Zudem wird natürlich hierversucht, auf Bildungsinhalte Einfluss zu nehmen.
Die Bildungsinhalte sollten doch unabhängig festgelegtwerden.
Ein zweiter Aspekt ist, dass zum Beispiel die Telekomganz großzügig ungefähr 33 000 Schulen mit Internetzu-gängen ausgestattet hat
– insoweit prima –, die Folgekosten aber häufig auf dieSchulen bzw. Kommunen umgelegt werden. In Branden-burg mussten PCs bereits wieder vom Netz genommenwerden, weil man sich die Folgekosten nicht leisten kann.Der Internetzugang ist also nicht alles. Die Hard- undSoftware gehören dazu.Hinzu kommen die so genannten Fachkräfte. Lehrerin-nen und Lehrer befinden sich auch heute noch häufig inder Situation, dass ihnen die Schülerinnen und Schülerzeigen, wie man mit dem PC umzugehen hat, und nichtumgekehrt. Auch diesem Trend gilt es etwas entgegenzu-setzen.
Ich glaube – das ist ein Aspekt, den ich hier noch ein-bringen möchte –, dass Medienbildung nicht in erster Li-nie Spezialistenausbildung, sondern Allgemeinbildungist. Häufig wird betont, dass für Naturwissenschaften,
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Grietje Bettin22252
Mathematik und Biologie mehr getan werden muss. In-zwischen ist aber die gesamte Content-Ebene, sind alsodie Inhalte genauso wichtig. Dazu gehört der Englischun-terricht genauso wie der Deutschunterricht. Der Schwer-punkt darf nicht immer nur auf die naturwissenschaftli-chen Fächer gelegt werden. Ich halte eine breit gefächerte,gute Allgemeinbildung für die eigentliche Grundlage füreinen guten Umgang mit den Herausforderungen in derIT-Branche.
Eine gute Allgemeinbildung ist Grundlage für den Um-gang mit den Medien. Deswegen hoffe ich, dass wir stattdes Trends zur Spezialisierung den Weg hin zu einer so-zial gerechten, allgemeinen Schulausbildung, zu einer all-gemeinen Medienbildung in der Bundesrepublik finden.Dies ist neben der Lösung des Zuwanderungsproblemsdie beste Voraussetzung dafür, um den Herausforderun-gen einer zunehmenden IT-Entwicklung gerecht werdenzu können.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleichmit einer Bemerkung zum Kollegen Mayer beginnen, dervorhin, als es darum ging, dass mehr IT-Experten imLande beschäftigt werden sollen, den goldigen Zwi-schenruf gemacht hat, dass es auch vorher schon möglichgewesen sei. Lieber Kollege Mayer, sobald ein IT-Expertein Deutschland sein Informatikstudium abgeschlossenhatte, ist er aus unserem Land rausgeflogen. Am nächstenTag musste er Deutschland verlassen, weil er hier nur Gastwar. Das haben Sie uns hinterlassen. Erzählen Sie hieralso bitte nicht einen solchen Unsinn!
Gelegentlich bin ich zwar dankbar dafür, dass die Op-position Anträge stellt. Aber sie sollten schon ein wenigmit der Realität in diesem Lande zu tun haben. LieberHerr Kollege Hauser, ich weiß nicht, ob Sie den vorge-legten Antrag als Ihr politisches Testament verstehen undob es Ihre letzte Rede war; denn eigentlich müsste einendieser Antrag ob der Gehaltlosigkeit ratlos machen
oder verzweifeln lassen. Sie nehmen Ihren eigenen Antragnicht ernst. Ich will auf diesen einmal eingehen.Sie sagen heute, wir müssten uns um die Behebung desFachkräftemangels im IT-Bereich kümmern. Ich kannIhnen nur sagen: Prima, das hätten Sie eventuell vor zweiJahren sagen können, als Sie nach der Cebit-Äußerung desKanzlers Ihre unsägliche Kampagne „Kinder statt Inder“gestartet haben. Sie wissen ganz genau, dass das auf derCebit auf den Weg Gebrachte im Grunde genommen dieGrundlage dessen ist, was wir heute miteinander disku-tieren können. Hier sind Sie zu spät gekommen.Jetzt müssen Sie sich einig werden, was Sie wollen. Siesagen uns, dass mit der Greencard – ich zitiere aus IhremAntrag – eine wirkliche Lösung des Problems nicht er-reicht werde. Umgekehrt sagte gestern Ihr Kanzlerkandi-dat – nach langem Würgen gefunden –, dass im Falle ei-nes Wahlsieges bei der Bundestagswahl am Green-card-Konzept festgehalten werden solle. Ich weiß garnicht, warum Sie die Wahl gewinnen wollen. Mal ganz da-von abgesehen, dass man bei Ihnen keinen eigenständigenPunkt erkennen kann. Wenn Sie die Wahl gewinnen wol-len, um das fortzusetzen, was diese Bundesregierung aufden Weg gebracht hat, ist ein Wahlsieg Ihrerseits völligüberflüssig. Dies ist er im Übrigen aber ohnehin.
– Sie müssen die Realitäten mal ein bisschen zur Kennt-nis nehmen!Nun stellen Sie eine Vielzahl von wunderbaren Forde-rungen bezüglich der studentischen und wissenschaftli-chen Kräfte in Deutschland auf. Was tun Sie aber? FrauKollegin Flach, genau die Punkte, die Sie in Ihrem eige-nen Antrag fordern, wollen die Union und – wenn ichHerrn Westerwelle richtig verstehe – auch Herr Wester-welle aus rein parteipolitischen und taktischen Gründenvor der Bundestagswahl im Bundesrat scheitern lassen.Das ist etwas, was nicht zusammenpasst.
Man kann natürlich fragen, woran es liegt. Ich sage esIhnen: Wir führen im Moment eine Kampagne durch undSie geraten unter Druck. Wir haben die Hochschulen unddie deutschen Wissenschaftseinrichtungen darauf auf-merksam gemacht, dass Sie die dringend notwendigeInternationalisierung im deutschen Wissenschafts-bereich und in der deutschen Hochschullandschaft ver-hindern wollen, weil Sie einige rechtsradikale bayerischeStammtische mobilisieren wollen und sich nicht für dieZukunftsprobleme in diesem Land interessieren. Das istFolge dessen, was Sie tun.
Jetzt hätte ich mich beinahe aufgeregt; aber so ist eseben.Ich komme nun auf das zurück, was wir geleistet ha-ben. Sie verkürzen das immer ein wenig auf die Green-card-Debatte. Es gibt noch einige andere Dinge; Wolf-Michael Catenhusen hat darauf hingewiesen. Zu IhrerZeit waren 15 Prozent der Schulen am Netz, bei uns sindes heute alle allgemein bildenden Schulen.
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Angela Marquardt22253
– Fragen Sie doch einmal, was das mit der Bundesregie-rung zu tun hat und wer die Initiative D21 gemeinsam mitder Regierung und der Wirtschaft auf den Weg gebrachthat. Das sollten Sie einmal nachschauen.
Kollege Mayer sagte, dass Bayern ein Vorbild sei. Wiesah es denn an den bayerischen Berufsschulen aus, bevordie Bundesregierung das Zukunftsinvestitionsprogrammfür Berufsschulen auf den Weg gebracht hat?
Es gab doch ganze Landkreise, in denen keine IT-Fach-klassen eingerichtet werden konnten, weil die armenMenschen keine Computer hatten.
So war der Sachverhalt. Dann haben wir mit 125 Milli-onen Euro – das sind 250 Millionen DM – dafür gesorgt,dass auch in Bayern an den Berufsschulen IT-Fachklasseneingerichtet werden konnten.
– Sie können hier noch so toben; das ist die Wahrheit überden Freistaat Bayern.Herr Kollege Repnik, in Baden-Württemberg war esim Übrigen ähnlich. Das Land hat groß getönt, dass es dieMittel, die der Bund gibt, verdoppeln wolle. Keinen Pfen-nig hat der Ministerpräsident, der vor der Wahl verkündethat, dafür sorgen zu wollen, dass alle Schüler kostenlos andie Computer können, zur Verfügung gestellt.
– Herr Repnik, toben Sie nicht rum, stellen Sie eine Zwi-schenfrage! Es ist Ihnen unbequem, dass Sie mit derWahrheit, die aber nicht Ihre Wahrheit ist, konfrontiertwerden.
Kommen wir zurück zum Zuwanderungsgesetz undzur Verbesserung der Situation ausländischer Studieren-der, die wir in Deutschland haben wollen. Wir werden ent-sprechende Maßnahmen ergreifen. Was fordern Sie? Siefordern die Bundesregierung auf, die Aufenthaltserlaub-nis ausländischer Studierender nach erfolgreichem Ab-schluss in Deutschland gegebenenfalls bis zu einem hal-ben Jahr für die Suche nach einem angemessenenArbeitsplatz zu verlängern. Dem kann ich nur zustimmen.Das ist prima. Wir stellen uns übrigens ein Jahr und nichtnur ein halbes Jahr vor. Genau das, was im Zuwande-rungsgesetz steht, ist Ihre Forderung im heutigen Antrag.Stimmen Sie dem zu, was wir auf den Weg gebracht ha-ben! Hören Sie auf, die Stammtische zu mobilisieren!
Ein weiterer Punkt: Sie fordern die Bundesregierungauf, gemeinsam mit der Exportwirtschaft im Ausland umhoch qualifizierte Kräfte zu werben. Auch dies ist einerder Schwerpunkte des modernen Zuwanderungsgesetzes.Aber was ist heute passiert? Heute Morgen war HerrKoch hier und hat uns mit seinen Ausführungen die Zeitgestohlen. Herr Koch ist es, der im Moment Unter-schriften gegen das sammeln will, was Sie in Ihrem An-trag selbst fordern. Da das Wort „Heuchelei“ von derFrau Präsidentin wahrscheinlich gerügt würde, möchteich von einer heuchlerischen Politik sprechen, die Siehier betreiben.
Ich will Ihre
Lebhaftigkeit nicht durch eine Rüge unterbrechen.
Ich danke Ihnen.
Wir müssen etwas tun.
Wir müssen in der Tat die Attraktivität unserer Hochschu-
len für ausländische Studierende und Lehrende verbes-
sern. Hören Sie auf – das ist wirklich eine ernsthafte Bitte
an Sie –,
das, was Sie selbst als richtig erkennen, durch stoibersche
und kochsche Winkelzüge zu ersetzen! Das nimmt
Ihnen im Land niemand ab. Im Grunde schadet es dem
Standort Deutschland in unglaublicher Weise. Sie haben
die Chance, im Bund und in den Ländern, in denen Sie zu-
sammen mit der FDP noch regieren, Ihren eigenen Antrag
ernst zu nehmen. Sie können im Bundesrat dem, was Sie
hier fordern, zustimmen. Dazu fordere ich Sie auf.
Ansonsten kann ich nur sagen: Vielen Dank für die
Steilvorlage durch Ihre Große Anfrage. Es ist wirklich ge-
lungen, Ihre Versäumnisse aufzuzeigen und unsere Er-
folge darzulegen.
Verabschieden Sie sich von Ihrer nicht mehr in die Zeit
passenden Politik! Stimmen Sie dem, was wir auf den
Weg gebracht haben, zu, um hier Ihren Beitrag zu leisten!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe dieAussprache.
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Jörg Tauss22254
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSUauf Drucksache 14/8492 soll zur federführenden Bera-tung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innen-ausschuss, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss fürWirtschaft und Technologie, den Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an denAusschuss für Kultur und Medien überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungFortschrittsbericht zum Aktionsprogramm derBundesregierungInnovation und Arbeitsplätze in der Informati-onsgesellschaft des 21. Jahrhunderts– Drucksache 14/8456 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstHerr Staatsminister Hans Martin Bury.H
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wenn ein bayerischer Ministerpräsident dieseWoche über die Cebit marschiert und erklärt: „Den Auf-schwung sehe ich hier noch nicht“, dann ahne ich, woherIhre Schlusslichtdebatte kommt: Die Schlusslichter sieht,wer hinterherfährt.
Deutschland aber startet in das Rennen um die Märktevon morgen aus der Poleposition. Wir in Deutschland ha-ben mit 56 Millionen Mobilfunknutzern, 31 Millionen In-ternetzugängen und einer weltweit herausragendenTelekommunikationsinfrastruktur eine ausgezeichneteStartposition für die Nutzung mobiler Dienste und An-wendungen. Jeder fünfte ISDN-Anschluss weltweit liegtin einem deutschen Haushalt oder Unternehmen; bei derAusstattung mit breitbandigen DSL-Anschlüssen habenwir im letzten Jahr sogar die Vereinigten Staaten überholt.Wir haben in unserem Land eine neue Offenheit undBegeisterungsfähigkeit für die Chancen neuer Technolo-gien und die wachsende Bereitschaft, Zukunft gemeinsamzu gestalten. Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktions-programm, dessen Fortschrittsbericht wir heute debattie-ren, den Startschuss gegeben. Wir sind nicht mehr dasDeutschland in den Zeiten der Kohl-Ära, das drohte, denAnschluss zu verpassen. Wir sind heute in Europa Markt-führer im E-Commerce. Nur in den USA gibt es mehrelektronische B2B-Marktplätze als bei uns. Die Domain„.de“ ist weltweit das am meisten verbreitete Länderkür-zel. Bereits zwei Drittel der deutschen Betriebe verfügenüber eine Webseite, 20 Prozent ermöglichen ihren Kundendie Onlinebestellung über das Internet.Die Bundesregierung hat sich an die Spitze der Bewe-gung gesetzt. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist Vorsit-zender des Beirats der Initiative D 21, in der Unternehmerund Politik gemeinsam daran arbeiten, optimale Bedin-gungen für den Wandel im Informationszeitalter zu ent-wickeln.Die Initiative D 21 entspricht dem Leitbild eines akti-vierenden Staates und ist für mich ein Musterbeispiel fürPublic Private Partnership: gemeinsam Ziele zu defi-nieren, konkrete Umsetzungsschritte zu vereinbaren undsie zu erreichen. Denken Sie etwa an das Aktionspro-gramm zur Beseitigung des Fachkräftemangels oder andie Initiative „Schulen ans Netz“.
Als wir die Regierung übernahmen, war zwar das pa-pierlose Büro dort schon erfunden.
Doch ein ambitioniertes E-Government-Programm habenerst wir aufgelegt. Bis 2005 wollen wir alle internetfähi-gen Dienstleistungen der Bundesverwaltung online be-reitstellen; denn die Daten sollen laufen, nicht die Bürger.
E-Government hat zudem einen Link zu E-Democracy.Wir nutzen die Möglichkeiten des Internets für mehrTransparenz und die Beteiligung der Bürgerinnen undBürger an Entscheidungsprozessen. So haben wir bei-spielsweise über Internetforen nicht nur Interessenver-bände, sondern die gesamte interessierte Öffentlichkeit ander Erarbeitung einer Strategie für nachhaltige Entwick-lung beteiligt. Heute Mittag hat der Bundeskanzler live imChat mit der Internet-Community diskutiert.Wir werden auf dem Weg in die Wissens- und Infor-mationsgesellschaft darauf achten, dass es nicht zu einervon manchen befürchteten Spaltung unserer Gesellschaftin Vernetzte und Unvernetzte oder in User und Loserkommt; denn der Zugang zu und die Beherrschung derneuen Medien entscheidet mehr und mehr über die Chan-cen im Erwerbsleben und über gesellschaftliche Teilhabe.Teilhabe an den Chancen ist deshalb der rote Fadenunserer Politik, ob beim Anschluss aller Schulen – die15 Prozent im Jahr 1998 wurden in der vorangegangenenDebatte mehrfach erwähnt –, bei der Ausstattung derBibliotheken oder bei der Integration in Schulunterrichtund Weiterbildung, der Netzanbindung aller Hochschulenmit Hochgeschwindigkeitszugängen und bei gezieltenFörderprogrammen für Seniorinnen und Senioren, für Be-hinderte oder für Kinder im Rahmen der Kampagne„Internet für alle“.Vor uns liegen faszinierende Möglichkeiten. DenkenSie an die Telematik, das Gesundheitswesen oder den
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Bildungssektor. Wer die Chancen sieht, wird auch die Ri-siken beherrschen und die Herausforderungen bestehen.Eine Herausforderung liegt darin, die besten Köpfe zu ge-winnen, ihre Ideen in Deutschland zu verwirklichen unddamit zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen. Mitder Greencard ist uns das schon sehr gut gelungen. JederInhaber einer Greencard hat im Schnitt zwei bis drei zu-sätzliche Arbeitsplätze im Lande geschaffen.Mit einer vernünftigen Steuerung von Zuwanderunglassen sich also Wachstumspotenziale erschließen. Mankann aber auch wie die Union die Augen vor der Realitätverschließen. Dann, meine sehr geehrten Damen und Her-ren von der Union, ist man irgendwann „world wideweg“.
Wir werden auf dem Weg in die Wissens- und Infor-mationsgesellschaft weiter vorangehen. Sie mögen dannweiterhin beklagen, dass Sie nur die Schlusslichter sehen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Heinz Riesenhuber.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bury,Sie haben uns in einer eindrucksvollen Weise dargestellt,wie glanzvoll die Bundesregierung in den vergangenendrei Jahren gearbeitet hat
und wie trüb die Kohl-Ära gewesen ist.
Es ist schon eine faszinierende Debatte. Was ist in derKohl-Ära passiert? In dieser Ära ist Folgendes passiert:Wir haben die Normen und Standards in Europa aufge-baut, von denen heute unsere Überlegenheit in Bezug aufdas Mobilfunknetz und ISDN herrührt.
Wir haben 26 Länder auf eine Schmalband-ISDN-Norm gebracht. Wir haben GSM aufgebaut und damitMobilfunklizenzen erst möglich gemacht. Wir haben ein-heitliche Infrastukturen in Europa geschaffen. Wir habenden Telekommunikationsmarkt liberalisiert. Wir habendie Märkte geöffnet.
Wir haben die Ausschreibung der Mobilfunklizenzendurchgeführt. Dies alles ist der Ausgangspunkt, von demSie leben.Herr Bury, Sie sagen, Sie haben die Quote der Inter-netanschlüsse in den Schulen von 15 auf 80 oder 90 Pro-zent gebracht. Das ist großartig. Das Entscheidende waraber, mit dieser Aktion überhaupt zu beginnen. Dass Siejetzt weiter sind – Gott sei Dank. Ein Zwerg auf denSchultern des Riesen schaut weiter als dieser, sagte SirIsaac Newton.
Wir wünschen Ihnen weiterhin einen glanzvollen Weit-blick, der uns alle beglücken wird.
Was in diesen Jahren geschehen ist, ist beglückend.Wenn ich allerdings Ihre Pressemeldungen lese, gibt esschon Momente der Nachdenklichkeit. Das eine ist, dassSie so tun, als ob die Bundesregierung in Weisheit undGüte gehandelt hätte.
Das ist aber ein Missverständnis. Das Gute ist, dass dieseTechnik aus den Märkten, den Unternehmen und der Wis-senschaft kommt und nichts ist, was der Staat in seinerWeisheit und Güte zu organisieren hätte. Was die Wirt-schaft vom Staat verlangt, sind faire Wettbewerbsbedin-gungen in den Märkten, der Schutz des geistigen Eigen-tums und die Integrität der Kontrakte. Alles, was sich anProblemen abzeichnet, lässt sich unter diesen drei Prä-missen aufführen. Der Staat erbringt dabei – ich kann dasnur wieder in Erinnerung rufen – eine gute Leistung dann,wenn er nicht stört.Was wir in diesen Jahren erreicht haben, haben Siehoch gepriesen. Wir haben in der Tat ein flächendecken-des Telefonfestnetz, 40 Millionen Fernsehgeräte – wennman nur die angemeldeten Geräte rechnet –
und weit über 50 Millionen Handys. Die gesamte Infra-struktur ist vorhanden. Dies alles ist erfreulich und ist et-was, was wir Ihnen gern als Teil der Grundlage, auf derSie fortfahren können, hinterlassen haben.
Über Ihre Pressemeldung schreiben Sie als Überschrift:„Deutschland jetzt Spitze in der Informationsgesellschaft“.
Wenn man so etwas schreibt, muss man sich überlegen, obdas nicht eine große Versuchung bedeutet, sich auf demauszuruhen, was man hat.Es ist auch reizvoll, andere Meinungen zu lesen. HerrEierhoff ist Vorstand von Bertelsmann. In einer anderenEigenschaft ist er Vorsitzender der Kommission für Tele-kommunikation und Multimedia des BDI. Eine ganzeReihe von klugen Leuten ist in dieser Kommison. Was sa-
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gen sie zu der Frage: Deutschland ist Spitze. Der Anteilder Internetnutzer beträgt in den USA und in Skandina-vien über 55 Prozent,
in Großbritannien und in den Niederlanden mehr als45 Prozent, in Deutschland 37 Prozent.
Das ist nicht ausgesprochen Spitze, aber immerhin. Beiden Pro-Kopf-Ausgaben für Information und Telekommu-nikation liegen hinter uns also nur noch Irland, Spanien,Portugal und Griechenland.Die Internetangebote des Staates sind eine interessanteSache. Sie sprachen von Ihren glanzvollen Leistungen imE-Government. In den Internetangeboten liegen nach ei-ner Untersuchung – ich meine, sie stammt von Accen-ture – nur Belgien und Italien hinter uns in Europa. Soglanzvoll scheint die Leitfunktion des Staates hier nicht zusein.Wenn Sie so tun, als hätten Sie alles erreicht, dann ha-ben wir die Befürchtung, dass sich die Bundesregierungentspannt zurücklehnt. Ich sage nur: Wer sich auf seinenLorbeeren ausruht und sich auf sie setzt, trägt sie amfalschen Körperteil.
Insofern ist das, was wir hier vortragen, keine unfreund-liche Kritik an dem, was Sie tun. Wir geben vielmehr ei-nen brüderlichen Rat, ganz im Sinne der „admonitiofraterna“, von der Luther spricht, um den Irrenden auf denrechten Weg zu geleiten.Der BDI hat Wünsche angemeldet. Natürlich ist dieNutzung des Internets an den Schulen eine prächtige Sa-che. Es wird sicherlich ein Problem sein, die Infrastrukturauch in Zukunft auf dem neuesten Stand zu halten. Ent-scheidend ist aber die Frage, wie die Lehrer mit denneuen Technologien umgehen.
In Deutschland sind 63 Prozent der Lehrer nicht im Um-gang mit Computern und Internet ausgebildet. Nur29 Prozent der Lehrer in Deutschland nutzen Computerund Internet im Unterricht. Im EG-Durchschnitt sind esaber 36 Prozent. Nur noch in Spanien, Portugal und Grie-chenland setzen die Lehrer die neuen Technologien imUnterricht seltener ein als in Deutschland. Alle anderenLänder liegen beim Einsatz von Computern und Internetim Unterricht vor uns. Ich sage das nicht, um Sie zu är-gern, Herr Bury. Auch ich möchte lieber einen glückli-chen Staatsminister sehen. Ich sage Ihnen das nur, damitSie wissen, dass hier noch etwas getan werden muss.
– Er hat schon drei Viertel der Regierungszeit überstan-den. Ich bin sicher, dass er auch noch das letzte Viertelüberstehen wird. Dann werden wir wieder die Sache mitRuhe und Gelassenheit auf den Weg bringen.
Wir möchten auf eine Reihe von Fragen weiter-führende Antworten haben. Das Problem der Vereinheit-lichung der Mehrwertsteuersätze in Europa ist ordent-lich gelöst worden. Aber nun muss auch die OECD einKonzept entwickeln, das verhindert, dass die Unterneh-men in Nicht-EG-Staaten abwandern, um die dortigenVorteile zu nutzen, und dann den Firmen im EG-MarktKonkurrenz machen.Ich würde gerne wissen, ob die Bundesregierung darandenkt, Rundfunkgebühren auf multimediafähigen PCs zuerheben.
Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Sie wollendes Weiteren den elektronischen Gesundheitspass ein-führen.
Ich kann dazu nur feststellen: Hier gibt es bisher keinegroßen Fortschritte, auch nicht in der Frage des Daten-schutzes. Sie sprechen von der elektronischen Signatur.Dies ist in der Tat eine wichtige Sache. Wir haben schondamals – ich freue mich über Ihren Beifall – die elektro-nische Signatur eingeführt, als sie nur noch in Utah –manche werden sicherlich wissen, dass dies ein Bundes-staat in den USA ist – genutzt wurde.
Es ist aber jetzt entscheidend, dass die elektronische Sig-natur in der Praxis so eingesetzt wird, dass sie in allen Ge-schäften so einfach wie eine handschriftliche Unterschriftgenutzt werden kann. Wir haben zweifellos eine ganzeMenge erreicht. Das ist erfreulich. Aber es gibt eine Füllevon einzelnen Fragen, die noch beantwortet werden müs-sen.Ich sehe am Blinken des roten Lichts auf meinem Pult,dass mich die Präsidentin ermahnt, zum Schluss zu kom-men.In der Pressemeldung der Bundesregierung, die sicher-lich lehrreich ist, ist zu lesen:Erstmals hat die Bundesregierung konkrete undmessbare Ziele zur Gestaltung des Wegs in die In-formationsgesellschaft gesetzt.Wenn man weiterliest und versucht herauszufinden,welche konkreten Maßnahmen in der Zukunft geplantsind, dann stellt man fest, dass sich ein Viertel des Textesnur mit Perspektiven beschäftigt. Man findet so gut wiekeine einzige Zahl. Es ist lediglich zu lesen, dass bis 2005der Anteil der Internetnutzer auf 70 Prozent gesteigertwerden soll. Das ist zwar erfreulich. Aber das entsprichtlediglich den gängigen Prognosen. Man erfährt in derPressemitteilung der Bundesregierung des Weiteren, dasses den ehrgeizigen Plan gibt, den Anteil der mittelständi-schen Betriebe, in denen das Internet rundum genutzt
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wird, von 15 Prozent auf 20 Prozent zu steigern. Auch dasentspricht lediglich der gängigen Prognose. Im Übrigenist das nichts, was der Bundesregierung anheim gegebenwäre. Ich stelle also fest: Die „Perspektiven“ des Berichtsenthalten keine konkreten Zahlen und Ziele. Dann solltenSie aber auch nicht so tun, als ob Sie die Gestalter der IT-Welt wären. Sie sind es mitnichten. Wenn Sie es aberschon nicht sind, dann sollten Sie wenigstens die Ent-wicklung des IT-Bereichs nicht behindern.
Das, was jetzt läuft, kann nicht planifikatorisch erfasst wer-den. Insofern ist es weise, dass Sie keine konkreten Zahlennennen. Aber dann sollten Sie nicht ankündigen, dass Siesich „konkrete und messbare Ziele“ gesetzt hätten.Das, was jetzt heranwächst, ist die Wissensgesell-schaft. Dies bedeutet nicht nur das Zusammenwachsenvon Computer, Telefon und Fernsehen. Nein, in einer sol-chen Gesellschaft wächst das Wissen. Sie erwächst ausWissen. Eine solche Gesellschaft versteht es, mit Wissenverantwortlich umzugehen und Zukunft zu gestalten,ohne dabei Rohstoffe zu verbrauchen. Dies zu stützen,Dynamik und Unternehmungsgeist freizusetzen, demEinzelnen die Lust daran zu geben, Zukunft zu gestalten,die neuen Märkte nicht mit Fragen der Fondsbesteuerung,über die wir, Frau Staatssekretärin, herzliche Gesprächeführen, zu bedrängen, die Leute nicht mit Vorschriften fürdie Business Angels zu entmutigen, sondern Dynamik zubegründen und zu erweitern, Schwung und Lebensfreudeder Unternehmer zu erreichen, das ist eine der hohen Auf-gaben der Bundesregierung. Ich bin zuversichtlich, dassSie die nächsten Monate, die Sie das Land noch regieren,in diesem Geist für unsere gemeinsame Zukunft in diesemschönen Land konstruktiv nutzen.
Das Wort hat
jetzt die Staatssekretärin Margareta Wolf.
M
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! HerrRiesenhuber, es ist durchaus legitim, glaube ich, dass wiruns glanzvoll darstellen. Wir freuen uns selbstverständ-lich darüber, dass Sie die Ergebnisse unserer Politikdurchaus als positiv dargestellt haben.Vielleicht wissen Sie, dass ich eine Anhängerin vonGelassenheit bin, verehrter Herr Kollege, aber ich habedoch den Eindruck – dabei will ich gar nicht großartig denBlick zurück wagen –, dass man vor vier oder fünf Jahrenmehr hätte tun können, was die Präsentation der Bundes-regierung im Internet angeht. Gegen Ende der letzten Le-gislaturperiode habe ich irgendwo einmal gelesen – darankann ich mich noch erinnern –, dass das Rüttgers-Minis-terium einen Internetauftritt hat. Daraufhin habe ich dasInternet auf alle Ministerien hin durchgeguckt. Kein Mi-nisterium hatte einen Internetauftritt. Das Rüttgers-Mi-nisterium hatte auch noch keinen, weil das noch nicht frei-geschaltet war. Wir haben jetzt Open Source in allenMinisterien. Das ist durchaus ein Erfolg, denke ich, dersich sehen lassen kann.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wir habenden großen Sprung vom Mittelfeld in die Spitzengruppegeschafft und davon haben wir alle etwas.Herr Riesenhuber, weil Sie in unserem Fortschrittsbe-richt Zahlen vermisst haben, möchte ich Sie jetzt mit ei-nigen Zahlen behelligen. Die Zahl der Internetnutzerin-nen und -nutzer hat sich von Ende des Jahres 1998 bisheute verdoppelt. Inzwischen sind fast die Hälfte der In-ternetnutzer Frauen. Die Zahl der Mobilfunknutzerinnenund -nutzer ist erheblich gestiegen und liegt heute mit56 Millionen über der Zahl der Festnetzanschlüsse. DieIuK-Branche ist – das ist gemeinsame Meinung in diesemHaus – die Wachstumsbranche unserer Wirtschaft mit800 000 neuen Arbeitsplätzen.Ich fände es schon schön, wenn einmal konzediertwürde, dass das Aktionsprogramm „Innovation undArbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahr-hunderts“ – so etwas hat es vorher noch nicht gegeben –,das von meinem Haus erarbeitet worden ist, die Grundlagefür diesen Erfolg geschaffen hat. Lassen Sie mich dazu ei-nige Schwerpunkte hervorheben:Wir haben durch gezielte Informations-, Demonstrati-ons- und Aufklärungskampagnen im Rahmen der Initia-tive „Internet für alle“ Bevölkerungsgruppen angespro-chen, die mit diesem Medium vorher überhaupt nochnicht in Berührung gekommen waren. Es waren vor allemSeniorinnen und Senioren, aber auch Frauen, die durchdiese Demonstrationskampagnen für das Internet begeis-tert werden konnten.Wir haben den Mittelstand davon in Kenntnis gesetzt,was dieses Medium für ihn bedeuten kann. Das haben wirdurch 24 regionale Kompetenzzentren gemacht. Mit demHandwerk zusammen haben wir ein Internetportal aufge-baut. Ich bin froh und glücklich darüber, dass heute mehrals zwei Drittel der deutschen Betriebe mit einer eigenenWebsite im Internet präsent sind. Jeder zweite Betriebnutzt das Internet heute für Onlinebeschaffung – auch dasist, glaube ich, ein Resultat der intensiven Kampagne, diewir in Sachen E-Commerce durchgeführt haben –; das istein Wettbewerbsfaktor, der die kleinen und mittleren Un-ternehmen zukunftsfähig macht.Das Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr unddas Gesetz zur digitalen Signatur sind angesprochen wor-den. Das sind ganz wichtige Gesetze, gerade auch unterdatenschutz- und verbraucherschutzrechtlichen Gesichts-punkten. Wir haben damit die Sicherheit im Netz erheb-lich ausgebaut und somit auch die Akzeptanz dieses Me-diums erhöht.Wir haben Gründerwettbewerbe und Internetpreiseausgeschrieben. Ich glaube, das waren für neue Arbeits-plätze, für Unternehmensgründungen und für Innovatio-nen in diesem Bereich durchaus wichtige Motoren.10 000 qualifizierte Arbeitsplätze wurden geschaffen. Ge-rade in der letzten Zeit haben wir vermehrt Frauen mit die-
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sen Preisen ausgezeichnet. Wir werden dies hoffentlichauch weiterhin tun. Selbstverständlich konnten wir das al-les nur durch die intensive Zusammenarbeit mit der Wirt-schaft erreichen. In der Initiative D21 – Herr Bury hat esangesprochen – wurde ein ganz wichtiger Rahmen für dieentscheidenden Schritte gesetzt.Ich habe mich vorhin über die Einlassungen von HerrnHauser, was die Verzahnung zwischen Greencard und Zu-wanderungsgesetz angeht, ziemlich geärgert. Wir solltenzur Kenntnis nehmen, dass 80 Prozent der Greencard fürkleine und mittlere Unternehmen infrage kommen. Jetztzu sagen, die Greencard sei nicht angenommen worden,weil die infrage kommenden Personen zu teuer seien,führte zu einer Stimmung, die wir in unserem Land nichtzulassen sollten. Ich möchte Sie wirklich auffordern, die-ses Thema nicht zum Wahlkampfthema zu machen.
– Ja, aber man weiß nicht, was morgen wieder kommt.
Diese Kakophonie ist wirklich allgegenwärtig.Ich möchte jetzt auf den Fortschrittsbericht zu spre-chen kommen. Weil wir natürlich nicht stehen bleiben,sondern weitergehen, und weil wir wissen, dass sich dieEntwicklung immer mehr beschleunigt, haben wir unsneue, konkrete Ziele gesetzt: Die Internetnutzerquotesoll – das wurde schon angesprochen – bis 2005 auf70 Prozent steigen. Unser Ziel ist auch, dass sich breit-bandige Internetanschlüsse bis 2005 als dominierendeZugangstechnologie etablieren. Ein weiteres Ziel ist es,den Anteil der mittelständischen Unternehmen mit um-fassenden E-Business-Strategien von heute 12 Prozentauf 20 Prozent im Jahre 2005 zu steigern. Das BMI hat dieE-Government-Initiative BundOnline 2005 auf den Weggebracht, durch die bis 2005 über 350 Dienstleistungender Bundesverwaltung online bereitgestellt werden sol-len. Das spart nicht nur Kosten, sondern es ist auch bür-gerfreundlich und ein Beitrag zum Bürokratieabbau.Lassen Sie mich aus Sicht des Bundeswirtschaftsminis-teriums einige künftige politische Schwerpunkte nennen,mit denen wir die Informationsgesellschaft voranbringenwollen:Erstens. Die zentrale Voraussetzung für die Weiterent-wicklung der Informationsgesellschaft ist die Verfügbar-keit von komplexen multimedialen Anwendungen. Fürdie Bundesregierung hat deshalb der Ausbau der Infra-struktur für Breitbandkommunikation hohe Priorität. Wirwerden unsere marktöffnende Telekommunikations- undWettbewerbspolitik fortsetzen.Zweitens. Wir werden den Übergang zum mobilen In-ternet sowie die Konvergenz von Informations- undKommunikationstechnik und neuen Medien zielgerichtetfördern.Drittens. Die Bundesregierung will die Chancen fürE-Government und E-Democracy nutzen, und zwar nichtnur im Rahmen der bereits genannten Initiative „BundOn-line 2005“, sondern auch – das ist sehr wichtig – auf kom-munaler Ebene. Dort arbeiten wir mit dem DeutschenStädte- und Gemeindebund und mit dem Deutschen Land-kreistag zusammen. Es gibt in den Kommunen – ich ver-weise auf die E-Mail-Adresse MEDIA@Komm – bereitssehr erfolgreiche Projekte. Das sind alles Projekte, die zueiner bürgernahen Verwaltung und zu einem vermehrtenAbbau von Bürokratie führen. Von daher weisen sie, wieich finde, in die richtige Richtung.Viertens. Im Bereich der IT-Sicherheit kommt es da-rauf an, den flächendeckenden Einsatz der digitalen Sig-natur voranzutreiben und den Mittelstand von dem ent-scheidenden Wettbewerbsfaktor IT-Sicherheit noch mehrzu überzeugen.
Auf europäischer Ebene werden wir die Schwerpunkteunserer IT-Politik aktiv in den neuen Aktionsplan„eEurope 2005“ einbringen. Die Bekämpfung der digitalenSpaltung zwischen armen und reichen Ländern wird damit– das ist wichtig – wirklich zum politischen Schwerpunkt.Wir werden uns in diesem Sinne in den einschlägigen Gre-mien der G 8 und der Vereinten Nationen engagieren.Lassen Sie mich abschließend noch auf die Cebit hin-weisen. Die dort vertretenen 8 000 Unternehmen aus allerWelt illustrieren auf beeindruckende Weise – das sollteuns alle herzlich begeistern, Herr Kollege Riesenhuber –das Entwicklungstempo in dieser Branche und die Vielfaltder Informationsgesellschaft. Das große Interesse an derCebit verdeutlicht die enormen ökonomischen Chancen,die in der IuK-Technologie gerade für unsere Volkswirt-schaft liegen. Ich hoffe, dass wir weiter an diesem Ziel ar-beiten.Herr Riesenhuber, ich empfehle Ihnen dringend dieLektüre des Berichtes. Er ist gerade aus der Druckerei ge-kommen und ich schicke ihn Ihnen noch heute zu.
– Nein.Danke schön.
Ich möchte einekurze Ermahnung loswerden: Wenn in einer Debatte dreiMitglieder der Bundesregierung reden und alle ihre Re-dezeit überziehen, wird es wirklich schwierig. Ich binnach der Geschäftsordnung gehalten, Sie nicht zu stop-pen, aber ich bitte darum, das bei den nächsten Redendoch zu bedenken.Wir sind gerade informiert worden, dass wir eine Ab-stimmung dazwischenschieben. Ich unterbreche deshalbjetzt die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt.Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einerweiteren Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahl-prüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Genehmi-gung zum Vollzug eines gerichtlichen Durchsuchungs-
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Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf22259
und Beschlagnahmebeschlusses erweitert werden. Es han-delt sich um eine Ergänzung zu der bereits heute Morgenbeschlossenen Angelegenheit. Erhebt sich dagegen Wider-spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe somit Zusatzpunkt 17 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gericht-licher Durchsuchungs- und Beschlagnahme-beschlüsse– Drucksache 14/8550 –Wir kommen sofort zu Abstimmung. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig, mit denStimmen des ganzen Hauses, angenommen worden.Jetzt machen wir in der Debatte zum Tagesordnungs-punkt 7 weiter. Das Wort hat der Abgeordnete RainerFunke.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Der vorliegende Fortschrittsbericht derBundesregierung zu Innovationen und Arbeitsplätzen inder Informationsgesellschaft ist in meinen Augen ein gu-ter Sachstandsbericht und eine gute Grundlage für dieweiteren politischen Diskussionen
und für die Weiterentwicklung unserer Informationsge-sellschaft. Man soll auch einmal die Wahrheit sagen.
Meine Damen und Herren, auch wenn die Börse zur-zeit die Werte des Neuen Marktes und insbesondere dieNew-Economy-Werte abstraft und sich bei vielen Unter-nehmen dieser Branche früher vorhandene Blütenträumenicht realisieren lassen, wage ich die Prognose, dass dieNew Economy erst am Anfang einer grandiosen wirt-schaftlichen Entwicklung steht. Da ist es nur natürlich,dass sich gerade in der Anfangsphase solch umwälzenderwirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen dieSpreu vom Weizen trennt. Langfristig wird sich die IT-Re-volution, also die Verknüpfung von Computereinsatz undNetzwerkstrukturen, durchsetzen und einen hohen Anteilan der Steigerung unseres Bruttosozialprodukts haben,
weil die damit verbundenen Innovationen zu höheremgesamtwirtschaftlichem Wachstum führen. Die Steige-rung der Produktivität wird auch international zur Ver-besserung unserer Wettbewerbsfähigkeit führen.
Noch nie konnten wir in solch einem Umfang wieheute Information in Wissen transformieren. Aufgabe derPolitik wird es sein, diese Entwicklung zu einer umfas-senden Informationsgesellschaft zu begleiten und zu un-terstützen. Vieles ist in der Vergangenheit – häufig, HerrTauss, Gott sei Dank auch partei- und fraktionsübergrei-fend – beschlossen worden. So haben Sie zum Beispielbeim Telekommunikationsgesetz mitgewirkt. Das ist eineEntwicklung, die durchaus positiv zu beurteilen ist.Wir sollten auch in Zukunft durch Wettbewerb imTelekommunikationssektor für Innovation und preis-werte Angebote, zum Beispiel im Internet, sorgen. DasTelekommunikationsgesetz ist dabei eine gute Grundlage.Die Politik und insbesondere das Bundesministerium fürWirtschaft – das ist gerade in enge Gespräche eingebun-den; es wäre doch ganz nett, wenn Sie zuhören und dieDiskussion begleiten würden –, das eine gewisse Verant-wortung auch für die Regulierungsbehörde trägt, sorgeneben zurzeit nicht dafür, dass private Anbieter und Tele-kom gleiche Startchancen haben.
Natürlich will ein Ex-Monopolist seine wirtschaftlichstarke Position am Markt nutzen. Dafür hat jeder Ver-ständnis. Aufgabe der Regulierungsbehörde ist es jedoch,für fairen Wettbewerb zu sorgen. Dazu sollte auch dasWirtschaftsministerium beitragen; denn es hat die Fach-aufsicht über diese Regulierungsbehörde.
Vermisst habe ich in dem an und für sich guten Berichtder Bundesregierung jedoch eine Antwort auf die Frage,wie gerade der Wettbewerb durch die Förderung von jun-gen innovativen Unternehmen gestärkt werden könnte,zum Beispiel durch Zurverfügungstellung von VentureCapital, und zwar nicht nur von staatlichen Institutionenwie der KfW, sondern auch von privaten Gesellschaften.Genauso wichtig sind die rechtlichen Rahmenbedin-gungen im Urheberrecht. Die EU-Richtlinie zur Harmo-nisierung des Urheberrechts in der Informationsgesell-schaft gibt den Rahmen vor, wie ein Schutz von Werkenund eine angemessene Vergütung bei Werknutzung auch imdigitalen Umfeld gewährleistet werden können. DieseRichtlinie muss zügig umgesetzt werden. Von besondererBedeutung ist die zukünftige Regelung des Rechts der pri-vaten Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werke.
Wir haben uns ausdrücklich für die Förderung von DRM-Systemen ausgesprochen.Obwohl die Bundesregierung immer wieder betont,welche Bedeutung sie der Informationstechnik beimisst,hat sie den von ihr seit langem angekündigten Entwurf zurUmsetzung der EU-Richtlinie, die ich gerade erwähnthabe, bis heute nicht vorgelegt. Interessanterweise ist auchkein Vertreter des Bundesjustizministeriums heute anwe-send; das scheint es nicht übermäßig zu interessieren.
– Das hoffe ich sehr. Vielen Dank für diese Vorlage, HerrHeil. – Während sich alle Beteiligten einig sind, dass essich bei dieser Reform des Urheberrechtsgesetzes um einfür die Urheber und die IT-Wirtschaft gleichermaßen zen-
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer22260
trales Thema handelt, verhindert die Bundesregierung aufdiese Weise die notwendige Diskussion
und hemmt durch ihre Untätigkeit die Etablierung vonSystemen zu digitalem Rechtemanagement. Das könnenSie nicht bestreiten, Herr Tauss.
Alles in allem kann man sagen, dass wir gerade auf demGebiet der Informations- und Kommunikationstechnologieam Anfang einer rasanten Entwicklung stehen. Aufgabe derPolitik ist es, die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Ver-fügung zu stellen, damit diese Kommunikationstechnolo-gie nicht durch zu große Regulierung behindert, sonderngefördert wird. Wir sollten davon Abstand nehmen, dieseMärkte immer nur zu regulieren.
Wir sollten nur das tun, was unbedingt notwendig ist,denn gerade auf diesem Gebiet gilt, dass Freiheit undDeregulierung für Innovation sorgen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bierstedt.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Man hatte die Absichtanzukündigen, dass ich hier meine erste Rede halte. Dasstimmt für diesen Deutschen Bundestag, ich hatte aller-dings schon Gelegenheit, mich im letzten Deutschen Bun-destag zu äußern. Aus diesem Grunde muss ich auf dieseEhre verzichten.
Gestatten Sie mir zu Beginn eine kurze Bemerkung,Frau Staatssekretärin Wolf. Sie haben vorhin in Ihren Aus-führungen darauf verwiesen, dass der Mittelstand generellvon der IT-Sicherheit überzeugt werden müsste. Ich glau-be, da kommt ein etwas falscher Zungenschlag in die De-batte. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass gerade der Mit-telstand an der IT-Sicherheit kostengünstig partizipierenkann. Diesen Ansatz sollten wir gemeinsam wählen. Es istmir wichtig, das einzufügen.Ich kann der positiven Tendenz in der vorliegendenUnterrichtung durch die Bundesregierung zustimmen.Seit dem Regierungswechsel gab es in diesem Politikfeldtatsächlich einen auch außerhalb des Parlamentes wahr-nehmbaren Fortschritt zu verzeichnen.
Gestatten Sie mir diese Bemerkung trotz meiner erst seitdrei Wochen wieder bestehenden Zugehörigkeit zu die-sem Hohen Hause.
– Genauso ist es, Herr Kollege Tauss, Jörg. – Nach Jahreneiner mehrheitlichen Fokussierung auf die reine Technik-ausstattung bleibt zu hoffen, dass Sie, meine Damen undHerren von der Koalition – auch du, Jörg –, Ihre Zuwen-dung zu den mehr inhaltlichen Themenkreisen und Lö-sungsansätzen auch finanziell weiterhin umsetzen könnenund dass Sie im Diskurs mit den in diesem Sinne positivBetroffenen bleiben.Ihre Bilanz wäre zumindest aus meiner Sicht deutlichbesser ausgefallen,
wenn Sie neben den in der Wirtschaft geschaffenen Ar-beitsplätzen auch noch darauf hätten verweisen können,dass Sie mit den Ländern und Kommunen Mittel undWege gefunden hätten, wie man zum Beispiel die vielenABM-Stellen oder auch das ehrenamtliche Engagementim außerschulischen Bereich – ich meine in den Compu-terkabinetten oder in den Internetcafés – in ordentlich do-tierte und feste Arbeitsplätze umwandeln kann. Wenn wiruns wirklich auf dem Weg in die Informationsgesellschaftbefinden – was auch immer dies heißen mag –, danngehört doch wohl auch dieser Bereich unverzichtbar undgleichberechtigt dazu. Wertevermittlung im fakultativenBereich, das Lehren und Lernen, mit Daten und Inhaltenumzugehen, muss institutionalisiert werden.Ich möchte mich noch kurz zu dem Bereich E-Govern-ment in Ihrer Unterrichtung äußern: Lobenswerte An-sätze und Ergebnisse sind allemal vorhanden. Aber diemehrheitliche Kommunikation der öffentlichen Verwal-tung mit dem Bürger und der Bürgerin, mit der Wirtschaftund innerhalb der Verwaltungen oder die Kommunikationmit der örtlichen Legislative findet doch wohl unterhalbder Bundesebene statt. Dort ist das Geld bekanntlichknapp. Jeder für die Selbstbefassung – in diesem Statusbefinden sich immer noch viele Verwaltungen im Zugeder Findung von E-Government-Lösungen – ausgegebeneEuro fehlt der Verwaltung für ihre eigentliche Dienstleis-tungswahrnehmung.Natürlich sollen und können E-Government-Lösungenden Dienstleistungscharakter erhöhen und den Aufwandder Selbstverwaltung minimieren. Dazu benötigen, wieModellprojekte zeigen, die Verwaltungen nicht unerheb-liche Mittel im investiven Bereich. Darüber hinaus sindsie mit ihrer derzeitigen personellen Ausstattung schlicht-weg überfordert. Auch die Folgekosten für die erhöhtenQualifikationsanforderungen und die Wissenserforder-nisse sind schwerlich aufzubringen.Noch eine Schlussbemerkung: E-Government-Lösun-gen sind, strategisch eingesetzt, ein hervorragendes Navi-gationsmittel in der Kommunikation mit der Verwaltung.Allerdings ändern sie nichts am eigentlichen Grundübelunserer Verwaltungsvielfalt. Mir wurde neulich vorge-rechnet, dass ein privater Häuslebauer alles in allem mit187 Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften leben muss.Er oder sie wird sich mittels E-Government-Lösungen si-cherlich leichter zurechtfinden.
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Rainer Funke22261
Ob er oder sie sich dabei glücklicher fühlt und ob es ins-gesamt preiswerter wird, wage ich dennoch zu bezwei-feln.Ich bedanke mich.
Geübt ist geübt:
Sie haben Ihre Redezeit auf die Sekunde genau einge-
halten.
Das Wort hat als Nächstes der Abgeordnete Hubertus
Heil.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Herr Riesenhuber, ich habe
Ihnen sehr begeistert zugehört. Ihre rhetorischen Fähig-
keiten sind nicht zu schlagen. Aber beinahe hätten Sie ge-
sagt – Sie haben es wohl vergessen –, Helmut Kohl habe
das Internet erfunden.
Diesen Eindruck hatte ich, als Sie darauf hingewiesen ha-
ben, was alles Tolles Sie gemacht haben und dass wir das
fortsetzen würden. So ist es nicht, Herr Riesenhuber; auch
Sie wissen das. Bis 1998 hatten wir eine Administration,
die in diesem Bereich kaum ansprechbar war.
Ich will nicht die Frage der Rohrpost bemühen oder noch
einmal darauf eingehen, dass der frühere Bundeskanzler
Kohl die Datenhighways eher dem Verkehrsministerium
zugeordnet hat. So war das doch, Herr Kollege. Sie waren
übrigens einer der wenigen, der sich in der früheren Re-
gierung tatsächlich darum bemüht hat, in diesem Bereich
ein Ansprechpartner zu sein.
Das möchte ich Ihnen gerne zugestehen.
Seit 1998 haben wir eine Bundesregierung, die in die-
sem Bereich so etwas wie einen Masterplan aufgestellt
hat. Das ist das Aktionsprogramm, dessen Zwischenbi-
lanz wir heute ziehen. Es gibt technische Innovationen,
die den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändert
haben. Die Erfindung des Buchdrucks, der Dampfma-
schine, des Telefons oder des Automobils – das muss ich
als Niedersachse, aus der Nähe von Wolfsburg kommend,
immer wieder feststellen – sind solche Innovationen.
Aber auch heute können wir feststellen, dass die neuen
Medien, speziell das Internet, eine Technologie sind, die
unsere Art zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften, mas-
siv verändert. Wir haben eine Bundesregierung, die die
Chancen und Aufgaben erkannt und genutzt hat, die wirt-
schaftlichen Potenziale, die diesem Bereich innewohnen,
für unser Land zu erschließen.
1999 haben wir das Programm „Innovationen und
Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft des
21. Jahrhunderts“ auf den Weg gebracht. Es umfasst klare
Zielvereinbarungen und konkrete Maßnahmen, die in en-
ger Abstimmung zwischen Politik und Wirtschaft, dem,
was man „Community“ nennt, umgesetzt worden sind.
In der heutigen Debatte ziehen wir Bilanz. Um es vor-
wegzunehmen: Ich glaube, dass der Begriff „Fortschritts-
bericht“, mit dem diese Bilanz übertitelt ist, sehr treffend
ist, da dieser Bericht eine Erfolgsstory beschreibt, die wir
seit 1998 in diesem Bereich geschrieben haben.
Ich möchte die Erfolge im Einzelnen darstellen, weil
vorhin von Herrn Riesenhuber angemahnt wurde, konkret
den Zusammenhang herzustellen zwischen einer Ent-
wicklung, die sich Ihrer Meinung nach ganz automatisch
vollzieht, und den Maßnahmen, die wir durchgeführt ha-
ben und die sicherlich in vielen Bereich dazu geführt ha-
ben, dass Effekte, die schon vorhanden waren, verstärkt
wurden und so das Vorankommen befördert haben.
Der erste Erfolg ist, dass sich die Zahl der Internet-
nutzer in unserer Regierungszeit von 14 Millionen auf
über 30 Millionen verdoppelt hat. Natürlich, Herr
Riesenhuber, wäre eine Steigerung auch zu erwarten ge-
wesen, wenn wir nicht regiert hätten. Das will ich gar
nicht bestreiten. Es ist aber auch wichtig, in der Politik
den richtigen Hintergrund dafür zu schaffen: Die Kosten
sind gesunken. Das hängt damit zusammen – da sind wir
uns sicherlich einig –, dass wir eine wettbewerbsorien-
tierte Telekommunikationspolitik machen. Ebenso spielt
eine Rolle, dass wir für die Akzeptanz des Internets in die-
ser Gesellschaft werben. Das hat diese Bundesregierung
in einer vielfältigen Art und Weise getan.
Wir haben zweitens bis Herbst 2001 alle Schulen ans
Netz angeschlossen.
Auch das war eine Initiative, die mit der Politik dieser
Bundesregierung zusammenhängt. Ich sage hier, im Ge-
gensatz zu einigen anderen, nicht, wir hätten das Internet
erfunden. Das ist Quatsch. Aber ohne die Initiative des
Bundeskanzlers und der Bundesregierung, ohne die Zu-
sammenarbeit mit D21 wäre es nicht gelungen, alle Schu-
len ans Netz zu bringen. Auch das ist eine ganz erhebliche
Leistung.
Drittens hat sich die Zahl der Mobilfunknutzer seit
dem Jahr 2000 in Deutschland mehr als verdoppelt. In-
zwischen übersteigt die Zahl dieser Anschlüsse sogar
schon die Zahl der Festnetzanschlüsse.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Riesenhuber?
Gerne doch.
Bitte.
Die Frau Präsi-dentin hatte sich einen Moment entspannt, deshalb mussich drei Sätze zurückgehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Wolfgang Bierstedt22262
Ich werde gleich
abgelöst.
Herr Kollege
Heil, würden Sie mir darin zustimmen, dass bei der Frage,
wie weit die Liberalisierung der Kommunikationsmärkte,
die Sie angesprochen haben, vorangeschritten ist, die
Liberalisierung der Ortsnetze eine entscheidende Rolle
spielt? Wie sehen Sie Ihre Möglichkeiten, die Bundesre-
gierung zu unterstützen, diese so zu liberalisieren, dass wir
auch dadurch konkurrenzfähige Internetangebote zu ent-
sprechend niedrigen Preisen bekommen, deren Senkung
um etwa 30 Prozent bis jetzt nur durch einige große Fir-
men erzwungen worden ist, während wir bei den Fernge-
sprächen eine Senkung von über 90 Prozent haben?
Herr Kollege Riesenhuber, icherinnere daran, dass wir – nicht ich persönlich; damalswar ich noch nicht in diesem Haus – die Liberalisierungim Deutschen Bundestag gemeinsam auf den Weg ge-bracht haben. Der Kollege Bury, der jetzt Staatsministerist, war damals maßgeblich daran beteiligt, auch andere,zum Beispiel Arne Börnsen. Ich erinnere daran, dass dieRegulierungsbehörde eine Institution ist, die sich umWettbewerb verdient gemacht hat. Ich weiß, dass wir imOrtsnetzbereich eine Diskussion über die so genannteBottleneck-Problematik haben. Ich weiß aber auch, dasses falsch wäre, wenn wir als Staat hier kräftig regulierendeingreifen würden.
– Nein, es geht um Regulierung, um Wettbewerb durch-zusetzen. Das ist doch der Hintergrund Ihrer Frage. –Dafür haben wir die Regulierungsbehörde, die in diesemBereich als unabhängige Behörde tätig ist
und dafür sorgt, dass wir Schritt für Schritt vorankom-men. Insofern glaube ich, dass wir auf einem guten Wegsind. Wenn wir uns in der Analyse einig sind, dass wir indiesem Bereich nur mit Wettbewerb vorankommen, dannhaben wir etwas gemeinsam. Ich glaube, dass wir die Er-folge auf diesem Gebiet nicht kleiner reden sollten, als siesind.
Tatsache ist doch, dass wir in diesem Bereich die Kostendurch den Wettbewerb ganz kräftig gesenkt haben. Im Übri-gen wurden auch im Ortsnetzbereich die Kosten gesenkt. Esgibt technische Lösungen – das wissen Sie auch –, die die sogenannte Flaschenhalsproblematik im Ortsnetzbereich lö-sen könnten. Ich nenne in diesem Zusammenhang die An-wendung Wireless Local Loop.
Die technische Entwicklung schreitet voran. Dafür tunwir eine ganze Menge.Viertens möchte ich sagen, dass die Branche der In-formations- und Kommunikationstechnologien – wirführen hier eine wirtschaftspolitische Debatte – mit über800 000 Beschäftigten und einem Anteil von 8 Prozent amBruttoinlandsprodukt mittlerweile zu einem der führen-den Wirtschaftszweige in unserem Land geworden ist.
Herr Kollege Riesenhuber, ich will Ihnen verdeutli-chen, wieso die Bundesregierung und wir der Überzeu-gung sind, dass die Aussage, dass Deutschland in Europaeine Spitzenposition erreicht hat, nicht eine euphemisti-sche Wendung ist, sondern einen realen Zahlenhinter-grund hat. In Deutschland verzeichnet der elektronischeHandel einen Umsatz von 25 Milliarden Euro. Damitsteht unser Land auf Platz eins in Europa. Darauf könnenwir ruhig einmal stolz sein.
Im Übrigen sollten wir deutlich machen – Herr KollegeFunke, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das angesprochenhaben –, dass wir das Gerede, wir würden von einem Ex-trem der New Economy, nämlich von der absolut blindenEuphorie von der Art eines Goldrausches vor anderthalbJahren, in das andere Extrem, nämlich die absolute Ver-drossenheit in diesem Bereich, fallen, nicht zulassen dür-fen. Die Cebit, die in diesen Tagen stattfindet, ist in dieserBeziehung eine sehr erfolgreiche Veranstaltung, weil siedeutlich macht, dass jetzt die Spreu vom Weizen getrenntwird und dass Unternehmen, die wertschöpfend tätig sind,nach vorne kommen. Der Branchenverband Bitkom hatvorhergesagt, dass wir für das Jahr 2002 insgesamt damitrechnen können, dass der Umsatz dieser Branche auf diebeträchtliche Summe von über 143Milliarden Euro steigt.Auch das hat etwas damit zu tun, dass ein Rahmen gesetztwurde.Lassen Sie mich die zentralen Maßnahmen nennen,die wir auf den Weg gebracht haben, um den Ordnungs-rahmen voranzubringen. Auch dazu haben Sie, HerrRiesenhuber, vorhin zwar vieles erzählt, aber nicht in derrichtigen Reihenfolge. Richtig ist, dass Sie ein Signatur-gesetz gemacht haben. Richtig ist aber auch, dass wir eineNovelle des Gesetzes zur digitalen Signatur in dieserLegislaturperiode auf den Weg gebracht und beschlossenhaben.
Damit haben wir erreicht, dass wir in Deutschland eineSicherheitsinfrastruktur haben, die dazu führen kann, dassdie elektronische Signatur zu einem vollständigen Ersatzder handschriftlichen Unterschrift wird. Dass wir ge-meinsam dafür werben und diese Möglichkeit populärmachen, ist gar keine Frage. Ich werbe auch dafür, denMenschen klar zu machen, dass es diese einfache Mög-lichkeit mit einem hohen Sicherheitspotenzial gibt.Die zweite Maßnahme, die ich nennen möchte, ist dasE-Commerce-Gesetz, das wir im Bundestag verabschie-det haben. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen,Frau Kollegin Wöhrl – Sie sprechen ja nach mir –, sagen,dass wir das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung ab-geschafft haben.
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Damit haben wir auch für den Handel faire Wettbewerbs-bedingungen geschaffen. Ich kann mich daran erinnern,dass die Abstimmung ein bisschen chaotisch war. DieCDU/CSU-Fraktion hat zum Teil dagegen gestimmt undhat sich zum Teil enthalten. Sie wollten die Entwicklungverzögern. Wir haben aber dieses Wettbewerbshindernistatsächlich beseitigt.Ich will zum Schluss Folgendes deutlich machen:Wettbewerbsorientierte Telekommunikationspolitikmuss eine Politik sein, in der der Staat – Stichwort „BundOnline 2005“ – als Vorbild auftritt. Es handelt sich umeine Politik, die dafür sorgt – das war Gegenstand der vor-herigen Debatte –, dass wir in diesem Bereich die Quali-fikation verbessern. Dass die Zahl der Ausbildungsplätzekräftig gestiegen ist und dass sich die Zahl der Studentenim IT-Bereich seit 1998 verdoppelt hat, sind Punkte, diedeutlich machen, dass wir in Deutschland auf einem gutenWeg sind.Es ist, wie gesagt, eine Zwischenbilanz. Wir habenZiele bis zum Jahre 2005. Ich bin der festen Überzeugung,dass es diese Bundesregierung ist, die im Jahre 2005– Herr Kollege Riesenhuber, ich weiß nicht, ob Sie danndem Parlament noch angehören werden – einen entspre-chenden Bericht vorlegen wird, der zeigt, wie erfolgreichdieses Programm am Ende war.Herzlichen Dank.
Nun gebe
ich der Kollegin Dagmar Wöhrl das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir leben im Zeitalter derKommunikationsrevolution. Wir wissen, dass sich dieneuen Kommunikationstechnologien so rasant wie nie zu-vor entwickeln, dass das Internet die neue Basistechnologiedarstellt, dass eine breite Internetnutzung für die Wettbe-werbsfähigkeit unserer Wirtschaft und für neue Arbeits-plätze entscheidend ist und dass das Internet die Effizienzder internationalen Arbeitsteilung in einem bisher nichtgekannten Ausmaß steigert. Deutschland ist ein rohstoff-armes Hochlohnland. Angesichts dessen dürfen wir natür-lich nicht nachlassen, die Nutzung der Informationstech-nologien, vor allem des Internets, zu fördern. In diesemPunkt sind wir in diesem Hause sicherlich einer Meinung.Wir wissen auch, dass mit der Liberalisierung desTelekommunikationsmarktes von 1997 unter der altenRegierung die besten Voraussetzungen für die Entwick-lung des IuK-Sektors in Deutschland geschaffen wurden.
Damals haben wir uns an die Regel gehalten, dass durch-schlagende Erfolge beim Wandel zur Informationsgesell-schaft nur erzielt werden, wenn man das Tempo und dieRichtung vorgibt. Das heißt, die Schnellen fressen dieLangsamen. Diese Erfahrung haben alle modernen Unter-nehmen gemacht; sie hat für die gesamte VolkswirtschaftGültigkeit.Deshalb ist die Politik gefordert, hier die richtigenRahmenbedingungen zu schaffen, die für Investorenverlässlich sind, die Innovationen nicht hemmen, sondernanregen, und die vor allem international wettbewerbs-fähig sind. Hier müssen wir auf breiter Front zu einer steu-erlichen Entlastung kommen;
denn nur so können wir künftig im boomenden Informa-tions- und Kommunikationssektor verlorenen Boden wie-der gutmachen.
Es ist doch offenkundig, meine Damen und Herren,dass Aktienoptionen kein normales Einkommen darstel-len. Sie sind mit Risiken behaftet. Deswegen müssen wirendlich dazu übergehen, die Stock Options so zu besteu-ern, dass junge und innovative Technologieunternehmenin Deutschland nicht schlechter gestellt werden als bei un-seren europäischen Nachbarn.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, Deutschland verfügt, wie wir alle wissen, über eingroßes Potenzial ausgewiesener Fachleute und innovati-ver Unternehmen. Dennoch haben wir im IuK-SektorNachholbedarf.
Deswegen brauchen wir endlich eine umfassende, breitangelegte Offensive zur Informationsgesellschaft. MeineDamen und Herren von der Regierung und der Koalition,hier gebe ich Ihnen einen guten Rat: Machen Sie es sicheinfach und schauen Sie nach Bayern. Dann wissen Sieganz genau, wie man eine Zukunftsoffensive angeht.
Nicht umsonst sind in Bayern 30 Prozent aller Internet-Start-ups beheimatet.Das Aktionsprogramm der Bundesregierung erwecktnur vordergründig den Anschein, dass sie hier aktiv han-delte. Im Wesentlichen ist es nur eine Bündelung von Ak-tionen, die bereits vor zwei Jahren von der Enquete-Kom-mission „Zukunft der Medien in Wirtschaft undGesellschaft“ vorgeschlagen wurden.
– Sie haben das doch nur gebündelt und nichts Neues aufden Weg gebracht. – Außerdem ist Ihr Aktionsprogrammalles andere als ehrgeizig. Wenn Sie nur die Vision haben,dass Deutschland eine europaweite Spitzenposition habensolle, dann sind Sie wirklich bescheiden.
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Hubertus Heil22264
Deutschland darf sich bei den neuen Medien und Dienstennicht mit der Europaliga begnügen.
Wir müssen Visionen und Ziele haben und weltweit an derSpitze mitspielen wollen. Es reicht nicht aus, zu sagen,wir wollten in Europa nach vorn.
Hier ist auch ein breiter Zugang zum Internet beson-ders wichtig. Die neuesten Erhebungen in Deutschlandsind aber nicht sehr positiv. Vielmehr zeigen Sie, dass diedigitale Spaltung in den vergangenen Jahren zugenom-men hat. Die Kluft zwischen denjenigen, die selbstver-ständlich und kompetent mit dem PC umgehen können,und denjenigen, die das Internet nicht nutzen, ist groß. DieUmfragen zeigen, dass diese Kluft künftig noch größersein wird.In dem Gestrüpp von unkoordinierten Programmenund Aktionen hat es die Bundesregierung nicht geschafft,die Zahl der Internetnutzer in allen Alters- , Bildungs- undEinkommensschichten zu steigern.
Sie müssen die Spaltung, die zwischen Usern und Losernbesteht, nun endlich wirkungsvoll bekämpfen und Chan-cengleichheit beim Zugang zum Netz schaffen.
Frau Kolle-
gin Wöhrl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heil?
Nein, ich lasse heute
keine Zwischenfrage zu. – Es gibt in Deutschland noch zu
viele digitale Analphabeten. Diese Menschen dürfen wir
zukünftig nicht vom gesellschaftlich-politischen Leben
ausschließen.
Sie stellen sich hier hin und rühmen sich, dass die Si-
tuation der Schulen bei der Ausstattung mit Computern
und Internetzugängen verbessert worden sei. Das hilft
nicht viel; denn Sie haben vergessen, für die Wartung und
die Pflege dieser Computer zu sorgen. Warum sagen Sie
das nicht?
Sie haben in Ihrem Programm „Schulen ans Netz“ ver-
säumt, die Folgekosten zu berücksichtigen. Sprechen Sie
einmal mit den Schulträgern vor Ort, denen in den nächs-
ten Jahren erhebliche Ausgaben ins Haus stehen werden,
bei denen sie nicht wissen, wie sie sie aufbringen sollen.
Sie haben hier eklatante Versäumnisse zu verantworten.
Ihre Zwischenrufe zeigen, dass ich mit meinen Aussagen
den Nerv getroffen habe.
Es wäre viel sinnvoller, wenn Sie endlich zu einem
effizienten E-Government kommen würden, und zwar
zu einem E-Government, das mehr ist als der „elektroni-
sche Amtsschimmel“, meine Damen und Herren von der
Koalition. Es gibt eine neue Studie der Unternehmensbe-
ratung Accenture. Sie hat die Entwicklung des E-Govern-
ment in 22 Ländern untersucht. Wo landen wir? Deutsch-
land liegt nicht im vorderen Bereich – ausnahmsweise
auch nicht auf den letzten Plätzen –, sondern auf Platz 15.
Die Analyse, die hinsichtlich der Positionierung
Deutschlands abgegeben wird, ist niederschmetternd. Es
ist zu lesen, dass es keine Zukunftsvision für das E-Go-
vernment und keine politische Koordinierung der ver-
schiedenen Strategien gebe.
Daran kann man sehen, dass die Bundesregierung bei die-
sem Thema vollständig verschlafen hat. Sie verliert sich
in einer Reihe von unkoordinierten Einzelprojekten.
Man könnte bei dem, was Sie hier auf den Weg gebracht
haben, von einem „virtuellen Flickenteppich“ sprechen.
Es kommt aber nicht auf die Anzahl von Aktionen, Pro-
jekten und Programmen an, sondern es ist, gerade bei un-
serer dezentralen Verwaltungsstruktur, wichtig – das wis-
sen Sie –, zu einer Vernetzung und einer Koordinierung zu
kommen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Bilanz Ihres
Aktionsprogramms zeigt deutlich, dass Sie trotz aller
High-Tech-Rhetorik, die Sie an den Tag legen, die eigent-
lichen Probleme des Standortes Deutschland, wenn über-
haupt, nur tröpfchenweise angehen. Und wenn eine
Lösung greift, dann nur in Ländern, in denen die CDU
oder die CSU regiert.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen
Hubertus Heil.
Liebe Frau Kollegin Wöhrl,zum Schluss hätte ich analog zu dem, was Sie davor ge-sagt haben, gesagt, Herr Stoiber habe das Internet erfun-den, wenn Herr Kohl das nicht schon gewesen ist. Damüssen Sie sich einigen.Ich will kurz zwei Punkte ansprechen, die mich ge-ärgert haben, weil sie sachlich nicht stimmen. Erstens. Siehaben gesagt, in unserer Regierungszeit habe sich dieZahl der Internetnutzer nicht nennenswert erhöht. Hal-ten Sie eine Steigerung von 14 Millionen auf über 30 Mil-lionen Internetnutzer, also mehr als eine Verdopplung in-nerhalb von drei Jahren, nicht für nennenswert?
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DagmarWöhrl22265
Zweitens. Auch Sie haben das Problem der digitalenSpaltung, der Teilung in Angeschlossene und Ausge-schlossene, angesprochen. Als wir hier in diesem Parla-ment einen Antrag dazu vorgelegt haben, da haben wirvon Ihrer Fraktion nicht nur keine Zustimmung bekom-men, sondern Ihr Kollege von Klaeden hat darüber hinausdazwischengerufen, das sei Klassenkampf. Was dennnun? Wir tun etwas gegen die digitale Spaltung in dieserGesellschaft, und zwar mit ganz konkreten Maßnahmen,beispielsweise mit denen, die wir eben diskutiert haben.Sie ignorieren das.Zusammengefasst muss ich sagen, Frau KolleginWöhrl, dass ich sehr enttäuscht bin, wenn versucht wird,so billig zu sagen, dass in Bayern alles klasse sei und imBund tue man gar nichts. Ich bitte Sie, etwas genauer in dasProgramm hineinzusehen. Das ist nicht nur ein Sammel-surium von Maßnahmen, sondern es ist ein zusammen-hängender Masterplan für die Informationsgesellschaft inDeutschland.
Ich erbitte
jetzt Ihre Aufmerksamkeit für den nächsten Redner, den
Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium
für Bildung und Forschung, Wolf-Michael Catenhusen.
W
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele habenIhren krampfhaften Versuch, Frau Wöhrl,
hier zum Beispiel die verwegene These vorzutragen, dasswir im Bereich der Internetnutzung in den letzten Jahrengar nicht vorangekommen seien, mit einem gewissenAmüsement verfolgt. Aber wir befinden uns ja in einemWahljahr und nach 22 Jahren versucht wieder einmal einbayerischer Ministerpräsident, republikweit Renommeezu gewinnen. Die Zahl der Internetnutzer hat sich jedochseit 1998 auf 30 Millionen gesteigert und damit mehr alsverdoppelt.
Die Beteiligung von Frauen am Internet ist von 30 Pro-zent um 15 Prozent auf heute schon über 45 Prozentgestiegen. Auch die Generationsblockade der älterenGeneration besteht weitgehend nicht mehr. Auch für über50-, 60- oder 70-Jährige ist die Internetnutzung keinThema mehr. Meine Mutter beispielsweise ist 79 Jahre alt,arbeitet am PC und hat auch einen Internetanschluss.
Dazu kann ich Ihnen, Frau Wöhrl, nur sagen: Das Ge-spenst, das Sie beschreiben, ist Ihre eigene Wahrneh-mung, eine Wahrnehmung, die jemand hat, wenn man ausBayern mit Sendungsbewusstsein in den Rest der Repu-blik hinausgeht. Also jedem das Seine.
Wir halten daran fest: Das Aktionsprogramm ist diestrategische Grundlage einer Innovationspartnerschaftauf dem Gebiet der Informationsgesellschaft. Was wirbrauchten und die alte Regierung nicht zustande gebrachthat, war eine strategische Verständigung zwischen Regie-rung, der informationstechnischen Industrie, der Wirtschaftinsgesamt und der Wissenschaft: In welche Richtung solldenn eigentlich die Entwicklung in der Informationsge-sellschaft gehen?Deshalb haben Sie, Herr Riesenhuber, völlig Recht:Diese Bilanz ist eine gemeinsame Erfolgsbilanz vonRegierung, Wirtschaft und Wissenschaft sowie Bund,Ländern und Gemeinden, die ihren Teil dazu beigetragenhaben. Aber dies ist der Weg, den wir für die Informa-tionsgesellschaft gestalten.
Sie möchten bitte nüchtern zur Kenntnis nehmen, dassdie europäischen Regierungschefs mit der Lissabon-Erklärung genau den gleichen Weg beschritten haben.Sie haben dort einen Masterplan bis zum Jahre 2010 ver-einbart, mit dem die europäischen Regierungen und dieEuropäische Kommission gemeinsam den USA bei derEntwicklung und Gestaltung der Informationsgesellschaftebenbürtig werden wollen. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel.Wenn wir darüber reden, mit den USA konkurrenzfähigzu werden, kann man als bayerische Politikerin vielleichtnoch darüber nachdenken, ob das nur eine nationale Auf-gabe ist. Wir jedenfalls sind schon längst einen Schrittweiter.
Mit Tony Blair, Jospin und vielen anderen Regierungs-chefs in Europa haben wir eine gemeinsame Perspektiveentwickelt. Ich denke, wir sind an einer Stelle auch sehrehrgeizig: Wir wollen in Deutschland und auch weltweiteine Vorreiterrolle spielen, ein breitbandiger Internet-zugang soll die dominierende Zugangstechnologie zumInternet werden. Ich denke, in der Kombination von Aus-bau von DSL, der rechtzeitigen und breiten Nutzung vonUMTS und unserer Kabelinfrastruktur haben wir dieChance, in den nächsten Jahren eine weltweite Spitzen-stellung anzustreben und zu erreichen. Wir haben auf die-sem Gebiet ehrgeizige Ziele.Dass dieser Bereich zur Chefsache in der Politik ge-worden ist, ist das, was wir brauchen. Eines ist auch deut-lich geworden: Wir haben seit 1998 die Forschungsmit-tel für Bildung, Forschung und Entwicklung im BereichInformationstechnik um fast 40 Prozent
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Hubertus Heil22266
von 550 Millionen Euro im Jahr 1998 auf 766 Milli-onen Euro im Jahre 2002 gesteigert. Damit stoßen wir dieWeiterentwicklung sowohl der Basistechnologien für dasInternet als auch eine stärkere Softwareentwicklung an,die gerade für die mittelständische Industrie von beson-derer Bedeutung ist.Ich weise nur darauf hin, dass wir gerade im schuli-schen Bereich von der Symbolpolitik von „Schulen ansNetz“ von 1998 weggekommen sind.
Wir haben die Innovationspartnerschaft zwischen öffent-lichem und privatem Sektor, um diese Anschlüsse zu rea-lisieren, gestärkt. Jede Schule ans Internet! Wir wissen,dass dies Folgeaufgaben und Folgekosten hat. Jeder musshier seine Verantwortung tragen. Wir als Bund haben,ohne dass dies unsere ureigene Aufgabe war, eine Reihevon Maßnahmen ergriffen. Wir haben geholfen, die IT-Ausstattung in den Berufschulen für die beruflicheBildung zu verbessern. Wir haben Internetecken und-cafés in öffentlichen Bibliotheken und Einrichtungen ge-schaffen.Eines muss man aber auch deutlich sagen: Natürlichstehen die Länder in der Verantwortung, bei der Lehrer-ausbildung weiterzukommen. Viele Länder haben in denletzten zwei Jahren mit den notwendigen Schritten be-gonnen. Das Tragen der Folgekosten ist eine gemeinsameAufgabe. Das kann der Bund nicht für die Länder und Ge-meinden erledigen. Ich lache mich ja kaputt, wenn FrauWöhrl der Meinung ist, wir sollten die Aufgaben an derBasis und ein notwendiges, kostengünstiges Managementvon IT-Systemen in den Schulen finanzieren.
Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ich glaube auchnicht, dass das ganz ernst gemeint war.Ich denke, dass es darauf ankommt, dass der Bund dieInitiativen startet, mit denen wir in der Innovationspart-nerschaft Schwerpunkte setzen können. Lassen Sie michdas abschließend an zwei Beispielen verdeutlichen. DerBlick richtet sich auf den Kontent, den Inhalt. Wie könnenwir im Bildungssystem eine qualitativ hochwertige Aus-bildung unter Nutzung der neuen Technologien ge-währleisten? Dazu haben wir zwei Maßnahmen ergriffen,mit denen wir international Vorbild sind:Mit mehreren 100 Millionen Euro fördern wir die Ent-wicklung qualifizierter Bildungssoftware für alle Einrich-tungen des Bildungssystems, von den Schulen über dieHochschulen bis hin zur beruflichen Aus- und allgemei-nen Weiterbildung. Das ist unser erster Beitrag.Der zweite Beitrag ist die Einführung multimedialge-stützter Studiengänge in den verschiedensten Bereichendes deutschen Hochschulsystems auf breite Ebene.Meine Damen und Herren, das sind Flaggschiffpro-jekte, mit denen wir Bildung und Beschäftigung nachvorne bringen. Ich denke, die Bilanz dieser Debatte zeigt,dass wir auf dem richtigen Weg sind. In den Zwischentö-nen – auch der Beiträge der Opposition – ist deutlich ge-worden, dass Sie gerne möchten, dass es noch schnellerund besser geht, dass die Richtung aber stimmt.Danke schön.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8456 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen Wi-
derspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Tauss,
Harald Friese, Ludwig Stiegler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Grietje Bettin, Cem
Özdemir, Kerstin Müller , Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
E-Demokratie: Onlinewahlen und weitere
Partizipationspotenziale der neuen Medien
nutzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
und der Fraktion der CDU/CSU
Voraussetzungen für die Durchführung
von Onlinewahlen
– Drucksachen 14/8098, 14/6318, 14/8466 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Sylvia Bonitz
Grietje Bettin
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus ist
damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Harald Friese für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ge-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mirzunächst eine Anmerkung Richtung CDU/CSU-Fraktion.Sehr geehrte Kollegin Bonitz, wir bedauern es wirklich,dass wir keine Einigung über einen gemeinsamen Antragerzielt haben. Ich sage Ihnen, dass es der Sache gut getanhätte, einen gemeinsamen Antrag zu stellen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen22267
Worum geht es? Es geht hier heute um eine Posi-tionsbestimmung des Deutschen Bundestages, welcheKonsequenzen wir aus neuen Informations- undKommunikationstechnologien und aus dem verändertenKommunikationsverhalten der Menschen ziehen. Darausleiten sich folgende Fragen ab: Verändern sich die Formenpolitischer Kommunikation und hat dies Auswirkungenauf die Teilnahme der Menschen an der politischen Dis-kussion? Weil dies Fragen sind, die alle Fraktionen undalle Parteien gleichermaßen betreffen, haben wir Ihnen ei-nen gemeinsamen Antrag geradezu auf einem silbernenTablett angeboten. Sie haben sich aber verweigert,
weil in dem Antrag folgender Satz enthalten ist – ich zi-tiere –:Denkbar sind darüber hinaus mittelfristig die Ermög-lichung der elektronischen Stimmabgabe bei Volks-abstimmungen ...Das hat bei Ihnen geradezu panische Reflexe undAngstzustände ausgelöst, weil sie befürchten, dass damiteine mittelbare Zustimmung zum Instrument einer Volks-abstimmung verbunden sei.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich mussSie wirklich fragen: Wie viel Angst haben Sie eigentlichvor dem Volk?
Wir werden Ihren Antrag ablehnen und ich sage Ihnenauch, warum: Sie springen viel zu kurz. Sie können nichtdie von Ihnen zu Recht beklagte Tatsache, dass es immermehr Nichtwähler gibt, verändern, indem Sie ein neuesWahlverfahren einführen. Das ist zu kurz gesprungen. Diepolitische Teilhabe ist kein technisches Problem. Die Ur-sachen, warum Menschen nicht mehr zur Wahl gehen,sind ganz andere.
Das hat etwas mit Parteien- und Politikverdrossenheit so-wie der fehlenden Transparenz politischer Entscheidun-gen zu tun.
Es hat absolut nichts mit der Frage zu tun, ob uns nebender Urnen- und der Briefwahl noch ein drittes Wahlver-fahren zur Verfügung steht. Politische Teilnahme ist mehr,als online wählen zu dürfen und die Teilnahme an neuenKommunikationsformen.
Wir wollen die Chancen ausloten, die sich durch eineveränderte Gesellschaft ergeben. Wir nehmen auch zurKenntnis, dass junge Menschen andere Formen der Kom-munikation haben und diese praktizieren. Wir wissen,dass das Internet für mehr Informationen und deshalbauch für mehr Transparenz sorgen kann. Damit haben wirdie Voraussetzungen für politisches Interesse, politischeDiskussionen und politische Teilhabe definiert. Das hatetwas mit Informationen, Transparenz und auch Glaub-würdigkeit zu tun.Deshalb ist es für uns wichtig – das werden wir heuteausdrücklich beschließen –, dass das E-Demokratie-Projekt des Deutschen Bundestages fortgesetzt undschnell abgeschlossen wird, mit dem Modelle der elek-tronischen Demokratie erprobt werden. Wir wollen,dass das E-Government-Programm des Programms„BundOnline 2005“ zügig umgesetzt und verwirklichtwird. Im Rahmen dieses Programms sollen auch schonTestwahlen in anderen gesellschaftlichen Bereichen on-line praktiziert und durchgeführt werden.Aber eines muss ich dazu sagen: Bundestags- oderLandtagswahlen haben eine andere Bedeutung als andereWahlen; denn in den Wahlen konkretisiert und konstitu-iert sich die Demokratie. Deshalb müssen bei Bundestags-und Landtagswahlen bestimmte Bedingungen unabding-bar erfüllt sein. Das sind nämlich die Wahlgrundsätze: un-mittelbar, frei, gleich, allgemein und geheim.
Eines darf aber nicht infrage gestellt werden: Bei On-linewahlen muss ganz klar identifiziert werden können,ob tatsächlich der Wahlberechtigte wählt. Die Geheim-haltung muss sichergestellt sein. Die Geheimhaltungmuss auch nach Abschluss des Wahlvorganges sicherge-stellt sein, weil die Geheimhaltung der Wahl nicht nur einRecht des Bürgers – das ist es auch –, sondern auch eineVerpflichtung ist, über die nicht disponiert werden kann.Auch müssen wir sicherstellen, dass die Wahldaten gegenAngriffe von außen geschützt sind. Es kann vorkommen,dass man eine Wahl wiederholen muss.Deshalb bitte ich Sie: Mäkeln Sie doch nicht amInnenminister herum, wie Sie das in der ersten BeratungIhres Antrages gemacht haben. Wir sind dankbar, dass un-ser Innenminister keinen Schnellschuss macht,
sondern in seinem Hause eine Arbeitsgruppe eingesetzthat, um genau diese Fragen zu prüfen, zum Beispiel ob dieGeheimhaltung und die Identifizierung sichergestelltsind.
Sie verweisen darauf, dass bei der Briefwahl dieGeheimhaltung nicht sichergestellt sei, meine Damen undHerren Kollegen von der CDU/CSU.
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Harald Friese22268
Sie können doch nicht anhand der Tatsache, dass bei derBriefwahl die Geheimhaltung nicht sichergestellt ist, ab-leiten, dass wir ein drittes Wahlverfahren einführen, beidem die Geheimhaltung ebenfalls nicht sichergestellt ist.Die Bedeutung der Briefwahl wird zurückgehen; denndas Bundesinnenministerium plant, dass bis zum Jahre2006 alle Wahllokale in Deutschland miteinander vernetztsind, sodass ich an jedem Ort, an dem ich mich befinde,wählen kann, und damit der Grund für Briefwahl, nämlichAbwesenheit vom Wohnort, nicht mehr vorliegt.
Dies scheint mir im Augenblick wichtiger als manches an-dere zu sein. Dies ist ein erster Schritt, um die Wahlbetei-ligung zu erhöhen und die Gefahr der mangelnden Ge-heimhaltung bei der Briefwahl zu verringern.
Wir sind offen für Innovationen und Veränderungen.
Wir wollen die Chancen neuer Kommunikationsformennutzen. Wir werden aber auch sorgfältig prüfen, ob dieBedingungen, die ich formuliert habe, erfüllt werden.Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.Vielen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Sylvia Bonitz.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CeBIT hat ge-rade wieder ihre Tore geöffnet und zeigt uns, wie mobileKommunikation Welten verbindet. In rund sechs Monatenist Bundestagswahl. Sie zeigt uns, was die Wählerinnenund Wähler mit ihrer Stimmabgabe verbinden: einenSonntagsspaziergang, vielleicht schlechtes Wetter, einemuffige Wahlkabine sowie Stift und Wahlzettel. Im güns-tigsten Falle hat das Wahlvolk in Vorausahnung des wahl-sonntäglichen Schmuddelwetters oder aufgrund ernsthaf-ter Verhinderungsgründe von seinem Recht auf BriefwahlGebrauch gemacht.Während unser Wahlbürger zwar von seinem Heim-PCaus online shoppen, online banken und online chattendarf, so darf er eines nicht: online wählen.In den letzten Jahren hat die Zahl der Internetnutzerweltweit stark zugenommen. Auch bei uns in Deutschlandnutzen inzwischen 30 Millionen Menschen das Internetzur Unterhaltung, zur Kommunikation oder zur Informa-tionsbeschaffung. Immer mehr bundesdeutsche Haushaltesind mit PCs ausgestattet. So gewinnt angesichts einer ste-tig wachsenden Zahl von Internetnutzern die Möglichkeitder Onlinestimmabgabe zunehmend an Bedeutung. Diemittels Internet abgegebene Wählerstimme könnte damitdie herkömmliche Stimmabgabe im Wahllokal oder perBriefwahl um ein attraktives, zeitgemäßes Angebot er-gänzen.Der Weg dorthin scheint mit dieser Bundesregierungsehr steinig zu werden.
Erst im Februar wurde bekannt, dass frühestens 2006– Herr Friese, Sie haben es gesagt – die Wahllokale mit-einander vernetzt werden und dann Onlinewahlen vor Ortmöglich sein sollen. Dies ist zwar ein erster richtigerSchritt, dennoch sind echte Onlinewahlen nach den Vor-stellungen der Bundesregierung frühestens 2010 geplant.Es fällt auf, dass neben plakativen Ankündigungen,Deutschland befinde sich auf dem Wege zu Onlinewah-len, konkrete Schritte in diese Richtung bislang nicht er-kennbar sind. Zwar erwähnt die Regierungskoalition inihrem Antrag eine Arbeitsgruppe im Bundesinnenminis-terium, die sich mit der Vorbereitung für die Durch-führung von Onlinewahlen beschäftigt,
doch leider ist die Informationspolitik über den Fortgangdieser Aktivitäten spärlich. Es hat den Anschein, als obman bis auf kleinere Erfolge nicht recht vorankäme.Worum geht es nun in unserem Unionsantrag? Um beider Realisierung endlich voranzukommen, fordern wir dieBundesregierung auf, einen Bericht über die gesetzlichen,sicherheitstechnischen und verwaltungsrelevanten Erfor-dernisse für Onlinewahlen sowie die Maßnahmen zu ihrerRealisierung vorzulegen. Gleichzeitig wird die Bundesre-gierung aufgefordert darzulegen, unter welcher zeitlichenPerspektive und mit welchem technischen, personellensowie finanziellen Aufwand erste Onlinewahlen auf denunterschiedlichen Ebenen durchgeführt werden können.Die Bundesregierung soll geeignete Projekte zur Er-probung von Onlinewahlen entwickeln und dabei die Er-fahrungen aus den Ländern oder anderen gesellschaftli-chen Bereichen heranziehen. Eine ganz entscheidendeVoraussetzung – Sie haben das auch erwähnt, Herr Kol-lege Friese – kommt dabei der Entwicklung eines siche-ren und manipulationsfreien Wahlsystems zu, um die Ver-traulichkeit der Wahlentscheidung zu gewährleisten. DasVertrauen der Bürger in die Sicherheit einer solchenWahlalternative ist schließlich die Grundvoraussetzungfür ihre allgemeine Akzeptanz.
Onlinewahlen können letztlich nur durchgeführt wer-den, wenn die grundgesetzlichen Anforderungen desArt. 38 an allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und ge-heime Wahlen erfüllt sind.
So müssen gewährleistet sein: erstens die eindeutige Fest-stellung der Wahlberechtigung, zweitens die dauerhafteGeheimhaltung der abgegebenen Wahlentscheidung, drit-tens die gebotene Einmaligkeit der Stimmabgabe undStimmzählung und viertens die Nachprüfbarkeit derWahlergebnisse. Vor allem aber muss der gesamte
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Harald Friese22269
Wahlvorgang sicher vor Manipulationen geschützt wer-den. Hackerattacken zur Fälschung von Wahlergebnissendürfen keine Chance haben.
Die Bundesregierung soll diese Bedingungen in Mo-dellprojekten testen und letztlich die Funktionalität dieserWahlalternative sicherstellen. Ist all dies gewährleistet,wird auch die Bevölkerung das Angebot von Onlinewah-len gewiss annehmen.Um jedoch keine Missverständnisse aufkommen zulassen, sage ich an dieser Stelle deutlich: Es geht uns beidem Begriff der Onlinewahl um die Schaffung einer zu-sätzlichen Möglichkeit der Stimmabgabe neben Urnen-und Briefwahl. Von einem vollständigen Ersatz der bishe-rigen Wahlmöglichkeiten kann zum gegenwärtigen Zeit-punkt keine Rede sein.Was spricht eigentlich dagegen, das Wahlrecht mit derEinführung einer zeitgemäßen zusätzlichen Stimmabga-bemöglichkeit zukunftsgewandt fortzuentwickeln und zuergänzen? Schließlich wurde auch die Briefwahl ersteinige Jahre nach dem Entstehen der Bundesrepublikzugelassen. Erst seit 1957 dürfen Wählerstimmen perBriefwahl abgegeben werden. Dabei ist die Briefwahl-möglichkeit seinerzeit vom Bundesverfassungsgerichtausdrücklich nur als Ausnahme genehmigt worden. Siesollte auf diejenigen beschränkt sein, die am Wahltag auseinem gesundheitlichen oder anderen trifftigen Grundnicht im Wahllokal erscheinen können.Aus dieser Ausnahme hat sich allerdings in den letztenJahren eine stetig gestiegene Zahl von Briefwählern ent-wickelt. So betrug der Anteil der Briefwahlstimmen beider Bundestagswahl 1998 allein 16 Prozent. In Münchenwurde sogar jede vierte Stimme per Briefwahl abgegeben.Was läge also näher, als angesichts einer stetig wachsen-den Zahl von Internetnutzern demnächst auch die Mög-lichkeit der Stimmabgabe mittels dieses elektronischenMediums zuzulassen? Sie wäre in vielen Fällen beque-mer, weil die sonst erforderliche Anforderung von Brief-wahlunterlagen entfällt.Um aber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsgerecht zu werden, gilt weiterhin der Grundsatz, dass derWähler sein Kreuz in der Wahlkabine zu machen hat.Wenngleich dieser Grundsatz zunehmend unterlaufenwird, so bleibt doch festzustellen: Eine komplette Wahlper Internet widerspräche wohl zumindest derzeit auchunserer Wahlkultur. Einige kritisieren gar, eine Stimm-abgabe per Mausklick tangiere die Würde des Wahlaktes.Da unser Anliegen fraktionsübergreifend grundsätzlichbegrüßt wird, bedaure ich es umso mehr, dass SPD undGrüne unserem Antrag vermutlich die Zustimmung ver-weigern werden.
Schade, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen derKoalition, ein Problem damit haben, dass eine gute Ideevon Ihrem politischen Mitbewerber formuliert wurde.
Ihr nachgeschobener Koalitionsantrag ist – wie sooft – mit rot-grünen Verbalblähungen angereichert, diesich in einer Selbstbeweihräucherung der Regierungs-arbeit verlieren. So frage ich mich, warum Sie es nötig ha-ben, das Projekt „BundOnline 2005“ als E-Government-Initiative der Bundesregierung immer wieder in denHimmel zu loben. Selbst Bundesinnenminister OttoSchily ist sich für einen Gastbeitrag in der gestrigen Aus-gabe der „Welt“ nicht zu schade.
Hat der Minister derzeit nicht Wichtigeres zu tun? Viel-leicht sollte er zum Beispiel erst einmal sein eigenes Hausin den Griff bekommen. Vielleicht würde das denÜberblick über die etwas unübersichtliche Nachrichten-lage von der V-Mann-Front beim NPD-Verbotsverfahrenerleichtern.
Hier gilt das Motto: Die Hütte brennt, sein Laden penntund der Minister Texte schreibt, damit er im Gedächtnisbleibt.
Wer solche Prioritäten setzt, sollte Mitarbeitern dankbarsein, die einen nicht mit wichtigen Informationen belästi-gen.Im Übrigen – das sei auch erwähnt – ist das Projekt„Bund online 2005“ bei einem internationalen Vergleichschon in der ersten Runde durchgefallen, wie der„Spiegel“ in seiner jüngsten Ausgabe meldet. Peinlich istauch, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, den Entwurf für ein Informationsfreiheitsgesetz inIhrem Antrag erwähnen. Dieser Entwurf des Innenminis-teriums ist aber noch nicht einmal im Bundeskabinett ver-abschiedet, geschweige denn in den Bundestag einge-bracht worden.
Eine wahre Zumutung findet sich allerdings an eineranderen Stelle in Ihrem Antrag wieder. Darin heißt es:Denkbar ist darüber hinaus mittelfristig die Ermögli-chung der elektronischen Stimmabgabe bei Volksab-stimmungen oder aber die Ermöglichung der elek-tronischen Einreichung von Petitionen.
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Sylvia Bonitz22270
Was wir von der Union auf keinen Fall wollen, ist dieschleichende Einführung von Volksabstimmungen überden elektronischen Umweg.
Onlinewahlen sind eine dritte, ergänzende Möglichkeitder Stimmabgabe neben Urnenwahl und Briefwahl.
Es ist zu billig, wenn Sie versuchen, Onlinewahlen mitdem Volksentscheid zu verknüpfen, nur weil Sie Angsthaben, keine parlamentarische Mehrheit für die Ein-führung von Plebisziten zusammenzubekommen. Für unssind dies zwei verschiedene Paar Schuhe.Ich appelliere daher an Sie: Trennen Sie die Einführungvon Onlinewahlen sauber von dem Thema Volksent-scheid. Befreien Sie Ihren Antrag von falschen Lobge-sängen auf regierungseigene Projekte, die noch nicht ein-mal die Kinderkrankheiten überwunden haben. Reden Sieder Bevölkerung nicht ein, dass Sie mit Ihrem Antrag– wie Sie schreiben – der Politikverdrossenheit und derIntransparenz politischer Entscheidungsprozesse begeg-nen wollen, solange Sie den Korruptionsskandal in derSPD noch nicht einmal ansatzweise aufgeklärt haben.
Ich sage das ohne Häme und Schadenfreude. Denn wasder SPD-Filz in Nordrhein-Westfalen angerichtet hat,schadet der Politik insgesamt.Befreien Sie Ihren Antrag von diesem überflüssigenBallast und konzentrieren Sie sich auf unser gemeinsamesKernanliegen: die zukunftsgewandte Option, eine zusätz-liche Onlinestimmabgabe zügig einzuführen. Wir stim-men doch in diesem wichtigen Punkt überein. Also könnteunser Antrag heute eine breite Mehrheit in diesem Hausefinden.Es ist noch viel zu tun, um die Sicherheit solcher elek-tronisch gestützter Wahlverfahren gewährleisten zukönnen. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf,einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Erst mussdie Bundesregierung ihre Hausaufgaben machen. Dannkönnen wir – hoffentlich bald – auch per Mausklickwählen.Herzlichen Dank.
Ich erteile
das Wort der Kollegin Grietje Bettin für Bündnis 90/Die
Grünen.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Siesich Folgendes vor: Es ist Bundestagswahl und niemandgeht hin. Dieses Schreckensszenario ist nicht so unwahr-scheinlich; denn Politik- und Wahlverdrossenheit schla-gen insbesondere bei Wahlen auf unterer Ebene immerstärker zu Buche.Doch zukünftig ist auch Folgendes vorstellbar: Es istBundestagswahl, niemand geht hin und es wird trotzdemgewählt, und zwar per Mausklick am Computer. Für vieleist wohl auch Letzteres ein Schreckensszenario nach demMotto: Die neuen Medien dominieren ohnehin schon im-mer mehr unseren Alltag. Nun soll auch noch die gute alteWahlurne durch einen schnöden PC ersetzt werden?Meine Antwortet lautet: Nein, wir brauchen Vielfalt. Es istBundestagswahl und viele machen mit – so muss einer derSlogans lauten –, und zwar in der Wahlkabine, per Brief-wahl oder in Zukunft zusätzlich per Mausklick.Rot-Grün ist sich vollkommen im Klaren darüber, dassOnlinewahlen zukünftig ein wichtiges Mitbestimmungs-instrument sein müssen und auch sein werden. Allerdingsdarf sich das Thema elektronische Mitbestimmung kei-nesfalls nur auf das Thema Onlinewahlen beschränken. DerFantasie im Hinblick auf elektronische Mitbestimmungsind nach Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen erst einmalkeine Grenzen gesetzt. Sofort fallen mir Volksabstimmun-gen und Petitionen als sinnvolle Möglichkeiten der elek-tronischen Mitbestimmung ein. Aber auch die Virtualisie-rung der Sitzungen von Parlamentsausschüssen halte ichgrundsätzlich für sinnvoll.Bündnis 90/Die Grünen befindet sich in Sachen elek-tronischer Partizipation zweifellos in einer Vorreiterrolle.Am kommenden Samstag veranstalten die Grünen inSchleswig-Holstein – das ist mein Landesverband – einenvirtuellen Parteitag. Unter „www.gruener-parteitag.de“können ab Samstag Menschen mit und ohne Parteibuchder Grünen über Anträge mitdiskutieren und selber Vor-schläge einbringen.
Wir sind gespannt, direkt zu erfahren, was die Menschenvon uns erwarten und welche politischen Bereiche sie vonuns stärker als bisher beachtet sehen wollen. Wir wollenmit diesem Parteitag nicht nur ein junges Publikum an-sprechen. Wir wollen uns vielmehr generell allen politischinteressierten Menschen im Land öffnen. Wir probierenmit diesem virtuellen Parteitag neue Wege der politischenKommunikation aus.
Kritische Stimmen bleiben nicht aus und werden vonuns selbstverständlich ernst genommen. Doch von einer„elektronischen Diktatur“ – so hat es eine große Regio-nalzeitung in Schleswig-Holstein formuliert – kann nunwirklich keine Rede sein. Wir wollen mit dem geplantenvirtuellen Parteitag keineswegs die gesamte politischeKommunikation inklusive der wichtigen Gespräche in derLobby in das Netz verlegen. Wir wollen den Bürgerinnenund Bürgern vielmehr eine zusätzliche Möglichkeit bie-ten, sich in die Politik einzumischen und einzubringen.
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Sylvia Bonitz22271
Wenn es uns nicht gelingt, mithilfe der elektronischenDemokratie für mehr Mitbestimmung zu sorgen, dann ha-ben wir etwas falsch gemacht. E-Demokratie heißt nichtComputerdemokratie, sondern mehr Demokratie.
Doch wir haben noch einen langen Weg zurückzule-gen, bevor bedeutende Wahlen über das Netz durchge-führt werden können. Geeignete Verfahren müssen erstgründlich erprobt und evaluiert werden. Hier sind wir inDeutschland mit Unterstützung der Bundesregierung aufeinem sehr guten Weg.
Es gibt im Bundesgebiet bereits mehrere vorzeigbare Pi-lotprojekte. So schrieben vor kurzem 234 Wählerinnenund Wähler in Marburg ein Stück Internetgeschichte, alssie als erste Wahlberechtigte überhaupt bei einer Land-ratswahl ihre Stimme online abgeben durften.Doch nicht nur die technische Funktionsfähigkeit vonOnlinewahlen, sondern auch die breite Aufklärung derBürgerinnen und Bürger über das elektronische Wahlver-fahren muss gewährleistet sein, um für die notwendigeAkzeptanz in der Bevölkerung zu sorgen.
Ohne die umfassende Vermittlung von Medienkompetenzwird es uns nicht gelingen, die neuen Medien so einzu-setzen, dass sie für alle und nicht nur für eine computeri-sierte Minderheit da sind.Die Bundesregierung ist mit ihrem Schritt-für-Schritt-Programm in Sachen Onlinewahlen sicherlich auf einemguten Weg. Als ersten Schritt sollen sich die Bürgerinnenund Bürger in den Wahllokalen an die elektronischeStimmabgabe per PC und dann, in nicht allzu ferner Zu-kunft, auch an die Stimmabgabe per heimischen PC ge-wöhnen, die, wie gesagt, nur eine Möglichkeit von vielendarstellt. Das langfristige Ziel ist, Kommunalwahlen, aberauch Landtags- und Bundestagswahlen über das Netz ab-zuwickeln.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge-meinsam dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen undBürger stärker in die Politik einmischen, egal, ob onlineoder offline. Hauptsache, wir haben ein offenes Ohr fürihre Belange. Und dabei können uns die neuen Mediensehr hilfreich sein.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die
FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Schmidt-
Jortzig.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Sowie Griechenland Inbegriff der Demokratie ist und Eng-land oder Großbritannien – so müssen wir wohl besser sa-gen – Inbegriff des Parlamentarismus ist, soll Deutsch-land jetzt offensichtlich Inbegriff der elektronischen Wahlwerden. Ich hoffe, dass wir da den Mund nicht zu vollnehmen und die Erwartungen nicht zu hoch setzen; dennes ist uns ja noch nicht einmal gelungen – dieser Seiten-hieb sei schon gestattet –, in diesem Haus die elektroni-sche Abstimmung einzuführen.
Liebe Grietje, Sie haben gesagt, dass Sie einen virtuel-len Parteitag veranstalten. Ich hoffe, dass der nicht soschief geht wie der in Baden-Württemberg, bei dem mannicht einmal die Wahlberechtigungen richtig hinbekam.
Aller Anfang ist schwer, aber wir sollten das Thema in derTat angehen.Das Internet hat in den letzten Jahren eine gigantischeEntwicklung genommen. Lieber Herr Tauss, verehrteFrau Wöhrl – sie ist leider nicht mehr hier –, ich vermuteeinmal, dass der Siegeszug des Internets auch ganz unab-hängig von irgendwelchen grandiosen Politiken, welcherFarbe auch immer, zustande gekommen wäre.
Ich jedenfalls habe mir meinen PC nicht auf Initiative derRegierungspolitik hin zugelegt.Heute besteht die Möglichkeit, an nahezu jedem Ortder Welt über eine Unmenge an Informationen zu verfü-gen, sich Meinungen zu bilden und auch Meinungen aus-zutauschen. Das Internet ist deshalb zu einem politischenFaktor geworden und es gilt, die darin liegenden Mög-lichkeiten auszuschöpfen.Lassen Sie mich das an einigen Aspekten verdeutli-chen, wenngleich die meisten hier schon angeklungensind. Bei der letzten Bundestagswahl haben circa 8 Milli-onen Bürgerinnen und Bürger – das sind immerhin rund16 Prozent der Wähler – von der Möglichkeit der Brief-wahl Gebrauch gemacht. Das heißt, die dezentraleStimmabgabe nimmt zu. Auch die mit der Freizügigkeiteinhergehende Mobilität der Bevölkerung lässt sich insFeld führen. Man möchte für die Wahl unabhängig vonseinem Wohnort sein, sich möglicherweise auch mit demPC in die Natur begeben können.Viele Bürger beklagen mit Recht die häufig gegebeneNichtdurchschaubarkeit politischer Vorgänge. Ziel musses also sein, wieder mehr Bürger für die Politik zu inte-ressieren, indem Transparenz bzw. Information über dasGeschehen verschafft wird. Das kann – darüber gibt es imHaus auch keinerlei Dissense – durch Internetnutzung er-reicht werden.
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Grietje Bettin22272
Meine Damen und Herren, das Potenzial, das in derMöglichkeit der Onlinewahl liegt, sollte daher nicht un-terschätzt werden. Die FDP unterstützt deshalb dieBemühungen, in diesem Bereich zu technischen, sozialenund juristischen Lösungen zu gelangen.
Dass wir vorhandene Bedenken ernst nehmen, ist keineFrage. Jeder Mann und jede Frau hat schon benannt, wodie Bedenken liegen, nämlich bei der Anwendung derWahlrechtskriterien des Art. 38 des Grundgesetzes, wasdie Bundestagswahl betrifft. Insbesondere der Grundsatzder Allgemeinheit der Wahl würde verletzt, wenn manBürger, die sich mit der neuen Technologie nicht an-freunden wollen, ausschlösse oder wenn man diejenigenausschlösse, die keinen PC haben. Das ist aber nicht ge-plant. Um es kurz zu machen: Im Hinblick darauf, dass dieWahl geheim und unmittelbar sein muss, sind natürlichauch noch Probleme zu lösen.Die FDP stimmt der Beschlussempfehlung des Innen-ausschusses zu.
– Der Antrag ist nicht schlecht; sonst würden wir nicht zu-stimmen.Zum Schluss will ich noch etwas zur Erheiterung desHauses zum Besten geben. Gerade wir Liberale könnender Perspektive der Onlinewahl offenbar zuversichtlichentgegensehen; denn, wie mir berichtet wurde, hat beieiner vor einiger Zeit durchgeführten virtuellen Wahlzum Internetkanzler die liberale Kandidatin Malta mit28,72 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung vonimmerhin 82,6 Prozent enorm erfolgreich abgeschnitten.Das werten wir einmal als gutes Omen.Besten Dank.
– Nach oben ist die Skala offen.
Für die
PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schmidt-Jortzig,ein sozialistischer Kandidat hat bei einer solchen Abstim-mung sogar einmal gewonnen. Ich hoffe, das bedrückt Siejetzt nicht sehr. Das war im vergangenen Jahr.
Hier ist zum Ausdruck gebracht worden, dass die feh-lenden Onlinewahlen weder an der Politikverdrossenheitnoch an der Tatsache, dass viele Menschen zurzeit nichtmehr zur Wahl gehen, schuld sind; vielmehr hat das Des-interesse an demokratischen Verfahren natürlich andereGründe. Einer dieser Gründe ist vielleicht, dass sich die-ses Haus auf einen gemeinsamen Antrag, zu Onlinewah-len zu kommen, nicht einigen konnte. Ich finde das sehrschade, weil ein solches Vorhaben nicht gegen irgendje-mand gerichtet ist, sondern uns allen dient.
Auch ich finde die Aussicht, Abstimmungen per Inter-net durchzuführen, sehr verlockend. Ich glaube, geradefür Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist das einegute Alternative zu den bisher bestehenden Möglich-keiten.Wahlen müssen frei sein. Das heißt, sie müssen ano-nym sein und ohne Druck erfolgen. Im Wahllokal kannman das kontrollieren. Auch bei der Briefwahl kann mandas einigermaßen kontrollieren. Wird im großen Maßstabam PC abgestimmt, lässt sich immer weniger kontrollie-ren, inwiefern eine Wahl frei erfolgte. Nur ein Beispiel:Hat eine Ehefrau, die den PC ihres Mannes nutzt, oder ha-ben Jugendliche, die am heimischen PC ihre Stimme ab-geben – ich denke an Wahlen, an denen man ab dem16. Lebensjahr teilnehmen darf –, wirklich ohne Druckabgestimmt oder wurde Einfluss genommen? DiesenAspekt muss man natürlich beachten. Er spricht letztlichaber nicht gegen die Durchführung von Onlinewahlen.Wichtiger sind für mich jedoch die von Kollege Frieseschon angesprochenen technischen Fragen, was Geheim-haltung etc. betrifft. Wir müssen einerseits die Authenti-zität feststellen und andererseits eine hundertprozentigeGeheimhaltung der Wahlentscheidung gewährleisten. Esmuss bei den Onlinewahlen natürlich Datensicherheit ge-ben. Kollege Tauss, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze:TKÜV, Cybercrime-Konvention
– nein, natürlich nicht –; ich könnte es weiter ausführen.Es gibt Begehrlichkeiten des Bundesinnenministeriumsbezüglich der Überwachung von Verbindungsdaten. Dasalles sind Entwicklungen, die den Datenverkehr durch-sichtiger machen und die Anonymität zerstören. Das kanndazu führen, dass wir letztlich keine Onlinewahlen erle-ben werden.Kollege Tauss – ich habe gerade zum Ausdruck ge-bracht, dass ich Sie schätze –, ich möchte Sie kurz zitie-ren, wenn Sie erlauben:Die Überwachungswut im Internet übersteigt schonjetzt alles, was wir aus der Offlinewelt kennen.Wohl wahr, Kollege Tauss.
Ich hoffe, dass wir beide gemeinsam etwas dagegen tun.Onlinewahlen dürfen kein Feigenblatt werden und eineSicherheit im Netz vortäuschen, die so nicht gegeben ist.Die in den USA erneut aufgeflammten Diskussionen zudem Thema Kryptographie zeigen auch, wohin die Ent-wicklung geht. Ich hoffe, dass die Bundesrepublik un-missverständlich zum Ausdruck bringt, dass sie für Kryp-tographie ist. Wir warten noch darauf, dass aus einemBericht Schlussfolgerungen gezogen werden.
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Dr. Edzard Schmidt-Jortzig22273
Das E-Demokratie-Projekt muss weitergeführt wer-den. Ich finde, das ist eine sehr gute Initiative der Bun-desregierung. Man kann sich auf einen gemeinsamen An-trag offensichtlich nicht einigen, weil es unterschiedlicheHerangehensweisen an demokratische Verfahren gibt. Ichhalte die Möglichkeit von Volksabstimmungen über dasInternet wirklich für eine hervorragende Ergänzung. Ichweiß überhaupt nicht, was dagegen spricht, es sei denn,man hat Angst, kontrolliert zu werden.
Als letzter
Redner spricht nunmehr der Kollege Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kol-leginnen und Kollegen! Ich möchte der guten Ordnunghalber auf Folgendes aufmerksam machen: Die Tatsache,dass wir hier nicht elektronisch abstimmen können, gehtauf einen damaligen Mehrheitsbeschluss von CDU/CSUund FDP zurück.
Ich sage das nur, damit es hier keine Missverständnissegibt. Wir hatten damals keine Mehrheit in diesem Hause.Hier sind noch nicht einmal entsprechende Kanäle gelegtworden. Heute würde das Legen dieser Kanäle sehr vielGeld kosten. Das ist eigentlich schade.Liebe Kollegin Bonitz, Sie wissen, Sie schätze ich auchsehr – nachdem wir uns heute hier alle schätzen, KolleginMarquardt, Kollegin Bettin. Ich glaube, bei diesem The-ma haben wir zum Teil wirklich Berührungspunkte überFraktionen hinweg; das sollte man schon sagen. Weil ichglaube, dass wir heute schon an einer Stelle sind, wo wirmöglicherweise auch über die Zukunft von Parlament undParlamentarismus reden, Kollegin Bonitz, will ich für dieChronisten, die später einmal gucken, wie das anno 2002war, festhalten, dass ich es war – das sei in aller Beschei-denheit angemerkt –, der das Thema Onlinewahl in derletzten Legislaturperiode in den Abschlussbericht derEnquete-Kommission hineingeschrieben hat.
Damals haben wir heftige Diskussion mit Ihrer Seite da-rüber geführt. Dies nur zur historischen Redlichkeit. Aberwenn wir uns heute weitgehend einig sind, ist das dochganz prima.Ich gebe Ihnen, Kollegin Marquardt, und allen anderenvöllig Recht, die hier gesagt haben, bevor wir über elek-tronisches Wählen reden, müssen wir natürlich zunächsteinmal darüber reden, dass die Netze sicher sein müssenund dass der Staat nichts tun darf, um Netze unsicher zumachen. Wir müssen über die Möglichkeit von Anony-misierungs- und Pseudonymisierungsverfahren reden.Das sage ich jetzt auch als Forschungspolitiker. DasThema ist außerordentlich spannend und könnte einengroßen Schub für die IT-Industrie und für die Software-industrie in Deutschland auslösen. Das ist überhauptkeine Frage.
Ich kann Ihrem Antrag, Kollegin Bonitz, heute nichtzustimmen, weil ich die Reduzierung auf das Thema On-linewahlen für problematisch halte, so interessant es ist.Gerade unter diesem Gesichtspunkt haben wir es damalsübrigens in den Abschlussbericht der Enquete-Kommis-sion hineingeschrieben.Wir haben gesagt: Sichere Wahlenim Internet würden voraussetzen, dass wir ein sicheres In-ternet haben. Ein sicheres Internet wäre übrigens auch Vo-raussetzung für viele weitere tolle positive Entwicklun-gen in Geschäftsprozessen. Da haben wir uns einen Schuberhofft. Man stelle sich vor, bis in die letzte Kommuneund in das letzte Wahlamt hinein würde über die Fragediskutiert: Wie können wir verhindern, dass die SPD derCDU/CSU 1 Million Stimmen abnimmt? Das werden wirschon wegen Ihres Kanzlerkandidaten tun; das ist keineFrage. Aber es sollte ja nicht elektronisch manipulierbarsein – natürlich auch nicht anders herum, das will ich Ih-nen natürlich zugestehen.Wenn wir über diese Dinge reden, reden wir über mehr.Selbstverständlich ist elektronisches Wählen spannend.In geschlossenen Netzen könnten wir es heute schon tun.Deswegen schlagen wir vor, elektronische Wahlen bei-spielsweise bei Wahlen nach dem Betriebsverfassungs-gesetz und bei den Wahlen zu den Sozialversicherungs-trägern zu ermöglichen. Niemand würde uns daranhindern, das in diesen Bereichen auszuprobieren. Ichwarne aber davor – das tun auch alle Informatiker –, beider höchsten Wahl, die wir in diesem Lande haben, bei derBundestagswahl mit elektronischen Wahlen zu beginnen.Kollegin Bonitz, Sie sollten es deshalb auch nicht zum Ge-genstand von Angriffen auf die Bundesregierung machen.Wir sollten in geschlossenen Netzen Erfahrungen sam-meln, zum Beispiel in Betrieben, bei Studentenparlamen-ten, bei der Testwahl für Schülerinnen und Schüler, unduns langsam vortasten. Gerade bei der Frage der IT-Sicherheit ist ein Zeitraum von zehn Jahren nicht zu lang.Darüber habe ich auch mit den führenden IT-Experten inunserem Lande gesprochen, die vor einem Schnellschussgewarnt haben. Diese Warnungen sollten wir beachten.
Wir reden über mehr als über elektronisches Wählenper Mausklick. Ihr Antrag greift einfach zu kurz; der Kol-lege Friese hat schon darauf hingewiesen. Bertolt Brechtsprach in seiner Rundfunktheorie einmal von der groß-artigen Möglichkeit, dass es auch für politische Kommu-nikation ganz andere Chancen gäbe, wenn man einenKommunikationsapparat hätte, der nicht nur empfängt,sondern es einem auch ermöglicht, selbst zu senden. Daswar in den 30er-Jahren eine tolle Vision.Aus diesem Grunde wollen wir eben nicht nur darüberreden, die Leute alle vier Jahre einen Mausklick machenzu lassen, sondern wir wollen darüber reden, ob das mehr
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Angela Marquardt22274
Partizipation in vielen Bereichen mit sich bringen kann.Sie haben Angst vor dem Volk, weil Sie sich gegen Volks-abstimmungen wenden.
Das zentrale demokratietheoretische Problem auf derkonservativen Seite des Hauses ist, dass Sie Angst vordem Volk haben, weil Sie befürchten, es würde Ihnenmöglicherweise an ein paar Punkten nicht mehr folgen.
Da werden Sie über Ihren Schatten springen müssen undSie werden das auch tun.Jede Demokratie lebt von aktiver Teilnahme. DieChance der neuen Medien ist selbstverständlich nicht,dass sie automatisch zu mehr Demokratie führen. Aberwenn wir ein Mehr an Demokratie wollen, dann geben unsdas Internet und die neuen technischen Möglichkeiteneine herausragende Chance, Bürgerinnen und Bürgerauch an den Prozessen hier im Parlament stärker zu betei-ligen. Das wollen mit unserem E-Demokratie-Projektausprobieren. Das ist ein ganz schwieriger Prozess bis hinzu den Fragen, welche Software eingesetzt wird und wiesicher kommuniziert werden kann. Das sind alles keineprofanen Probleme. Wir müssen dazu stehen, dass wireine solche Beteiligung von außen tatsächlich habenwollen.Es gibt drei positive Möglichkeiten: Wir müssen denMenschen vereinfachte nutzerorientierte Zugänge zu re-levanten Informationen geben. Wir müssen kompliziertepolitische Verfahren bürgernah nachvollziehbar darstel-len. Wir haben die Chance, in einen dauernden direktenDialog mit Bürgerinnen und Bürgern zu treten. Das ist dieZielsetzung, die wir mit all dem verbinden.Auch dieses Parlament hat gute Chancen, hierzu in dennächsten Jahren Beiträge zu leisten. Mit aller Deutlichkeitsage ich mit Blick auf die Regierungsbank: Selbstver-ständlich kann ich mir vorstellen, dass wir die Mög-lichkeiten auch nutzen werden, um Regierungshandeln– dabei ist es egal, wer gerade regiert; wir werden nochlange regieren – für uns als Parlamentarier transparenterzu machen, sodass wir früher in Erfahrung bringen kön-nen, was die Ministerien machen. Hier bietet sich einehervorragende Chance, zusätzlichen Sachverstand für dasParlament zu mobilisieren.Die Akzeptanz und die Legitimation politischer undparlamentarischer Prozesse können wir, Herr Präsident– Sie erinnern mich ja schon an die Zeit –, mithilfe derTechnik, wenn wir es wollen, erhöhen. Die Technik rich-tet es nicht von alleine. Ein Mehr an Demokratie könnenwir aber, wenn wir es denn wollen, mithilfe der Technikrealisieren.
Ich würde mich freuen, wenn Sie alle unserem Antragzustimmen. Die FDP hat ja bereits ein positives Beispielgegeben, indem Herr Schmidt-Jortzig ein zustimmendesVotum signalisierte. Vielen Dank dafür. Vielleicht sprin-gen auch die anderen über ihren Schatten. Springen Sienicht zu kurz! Haben Sie Mut! Stimmen Sie dem Antragvon Rot-Grün zu!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innen-
ausschusses auf Drucksache 14/8466. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die An-
nahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8098 mit dem
Titel: „E-Demokratie: Onlinewahlen und weitere Partizi-
pationspotenziale der neuen Medien nutzen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men von CDU/CSU bei Enthaltung der PDS-Fraktion mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP ange-
nommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 14/6318 mit dem Titel:
„Voraussetzungen für die Durchführung von Online-
wahlen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Statistik über die Beher-
– Drucksache 14/6392 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Tourismus
– Drucksache 14/8475 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brunhilde Irber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
D
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Siewissen, verdient die Tourismusbranche als eine Branche,die in Deutschland immerhin rund 8 Prozent zum Brut-toinlandsprodukt beiträgt, rund 3Millionen Menschen be-schäftigt und 105 000 Ausbildungsplätze bereitstellt, diebesondere Aufmerksamkeit der Bundesregierung. Es ist
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Jörg Tauss22275
uns durch ein vielfältiges Engagement gelungen, die Be-deutung der Tourismuswirtschaft als Wirtschaftsfaktorin der Öffentlichkeit zu verankern und ihr mehr Anerken-nung zu verschaffen.Auch die Novellierung des Beherbergungsstatistik-gesetzes ist ein Weg in die richtige Richtung. Letztlichmisst doch das Instrument Statistik Leistungen und stelltsie für die Öffentlichkeit vergleichbar dar. Es ist mit Si-cherheit richtig, dass man auf der einen Seite möglichstviel wissen will, um feinsteuern zu können; auf der ande-ren Seite besteht immer die Sorge, dass die zusätzlich be-lastet werden, die in der Praxis tätig sind. Wir haben ge-meinsam versucht, einen goldenen Mittelweg zu finden,um sowohl dem einen wie auch dem anderen AnliegenRechnung tragen zu können.
Mit der Beschlussempfehlung des Tourismusausschus-ses zum Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wireinen für alle Beteiligten, wie ich denke, tragfähigenKompromiss gefunden. Dafür bedanke ich mich auch vondieser Stelle aus.Gleichzeitig ist erreicht worden, dass wir den europä-ischen Vorgaben Rechnung getragen haben, zum Beispielden Informationsanforderungen der EG-Tourismussta-tistik-Richtlinie, die somit von Deutschland erfüllt wer-den kann. Mit der Aufnahme der Pflicht der Erfassung derZimmerauslastung in den Gesetzentwurf wird darüber hi-naus einer langjährigen Forderung der Tourismuswirt-schaft entsprochen.Saldiert können wir sagen: Trotz der Erfassung zusätz-licher Zahlen wird es beimAufwand eine Nettoeinsparunggeben.Damit ist einZiel, daswirunsgesetzt haben, erreicht.
Es ist auch wichtig, dass nicht vergessen worden ist,insbesondere den Bereich der Vorsorge- und Rehabilita-tionseinrichtungen mitzuberücksichtigen. Dies ist eben-falls ein Wunsch der Länder und der Tourismusverbändeund wird von der Bundesregierung in vollem Umfangemitgetragen. Ich glaube, dass damit die bisherige Trans-parenz beibehalten werden kann, die wir uns alle wün-schen und die insbesondere in jenen Ländern und Regio-nen Bedeutung hat, in denen Kurgäste die überwiegendeAnzahl von Touristen ausmachen, sodass für Unterneh-mer in der Tourismusbranche Investitionsentscheidungenerleichtert werden.
Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurf in Verbin-dung mit der Beschlussempfehlung Ihre Zustimmung zugeben.
Ich glaube, dass das im Zusammenhang mit der Interna-tionalen Tourismusbörse, die bekanntlich am Sonnabendin Berlin eröffnet wird, sehr gut ist. Dies ist ein Signal, dasdeutlich macht, Herr Hinsken, dass die Politik auch ein-mal zusammenstehen kann, wenn es darum geht, die Sa-che voranzubringen.
Insoweit ist das sicherlich auch für die FDP- und dieCDU/CSU-Opposition ein wichtiges Anliegen.
Die Bundesregierung hat im Hinblick auf den Tou-rismus zahlreiche wichtige Schritte getan: Die Steuer-reform wirkt. Die Konsolidierung des Haushaltes, dieEntbürokratisierung, die Aufgabe von Rabattgesetzund Zugabenverordnung, die Investitionsförderung, diewir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ auf einem ho-hen Niveau haben festsetzen können, und auch die Zu-wendung für die DZT sind einige von vielen Punkten,die die Bundesregierung zugunsten des Tourismus auf-gelegt hat.Lassen Sie mich abschließend auf Folgendes hinwei-sen: Wer sich die Zahlen des deutschen Tourismus in denvergangenen Jahren anschaut, der wird feststellen kön-nen, dass der Tourismus tatsächlich eine Wachstums-branche in Deutschland ist.
Ich möchte einmal die Zahlen nennen: Wir hatten 1997287,2 Millionen Übernachtungen in Deutschland. Es sindjetzt 326,6 Millionen. Betrachtet man die Zahlen nachBundesländern aufgefächert, so sei an dieser Stelle derHinweis erlaubt, dass es insbesondere in den neuen Bun-desländern gelungen ist,
in diesem wichtigen Bereich fast durchweg erfreulicheAkzente zu setzen.
– Es ist immer alles besser zu machen. Würde diese Mög-lichkeit in unserem Leben nicht bestehen, wären wir nichtmehr perspektivisch genug ausgerichtet.In Berlin – ich fange einmal mit meinem Bundeslandan – stieg die Zahl der Übernachtungen von 8,3 Millionenauf 11,3 Millionen, in Mecklenburg-Vorpommern von13,3 Millionen auf 19,8 Millionen. Das zeigt, dass dortviel in Bewegung ist,
dass in den Tourismus investiert wird und dass es auch inden neuen Bundesländern attraktive Angebote gibt. Ichnenne hier – damit niemand sagt, ich wäre parteipolitischeinäugig – genauso gern die südlichen neuen Bundeslän-der Thüringen und Sachsen, die auf diesem Gebiet eben-falls große Erfolge zu verzeichnen haben.
Ich möchte abschließend sagen: Wir werden auf dieserLinie fortfahren. Wir laden Sie alle ein, weiter mitzuhel-fen, den Tourismus in Deutschland zu unterstützen und zufördern sowie Deutschland im Blick auf den Tourismusweiter attraktiv zu gestalten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt22276
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einleitend freueich mich, dass wir unsere Kollegin Brunhilde Irber weiterin den Reihen der Tourismuspolitiker des Deutschen Bun-destages begrüßen dürfen. Mein Dank gilt daher LandratChristian Bernreiter von der CSU mit seinem überragen-den Wahlergebnis von 59,2 Prozent bei den Landratswah-len im Kreis Deggendorf.
Er hat dafür gesorgt, dass die SPD-Bundestagsfraktionnach dem Ausscheiden von Staatssekretär Mosdorf nichtnoch mehr von ihrem tourismuspolitischen Sachverstandverliert.Ein gutes Beispiel für mangelnden tourismuspoliti-schen Sachverstand ist die von Rot-Grün geplante Ände-rung des Beherbergungsstatistikgesetzes, über die wirheute debattieren. Von dem ursprünglichen Regierungs-entwurf ist durch die vehementen Proteste der Tourismus-branche und der Opposition kaum noch etwas übrig ge-blieben. Erst im Bundesrat wurde der Irrweg IhresGesetzentwurfes auch von SPD-geführten Bundesländernbeendet und wurden die Hauptforderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingearbeitet. Insofern kann ichIhnen für unsere Fraktion hier und heute mitteilen, dass wirdem Gesetzentwurf zustimmen.
Zur Verdeutlichung: Es war die rot-grüne Bundesre-gierung, die die Übernachtungen in Kurkliniken aus derstatistischen Erfassung streichen wollte. Eine verantwort-liche und langfristige Tourismus- und Infrastrukturpolitikder deutschen Heilbäder und Kurorte fordern undgleichzeitig den Kommunen kein verlässliches Zahlen-material als Planungsgrundlage zur Verfügung zu stellen,das ist rot-grüner Sachverstand pur.Es war die rot-grüne Bundesregierung, die nur nochÜbernachtungen in Beherbergungsbetrieben mit mehr alszwölf Betten statistisch erfassen wollte. Derzeit liegt dieGrenze bei acht Gästebetten. Den effizienten Einsatz vonSteuermitteln bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmenwie bei Verkehrswegen, Wasser- und Abfallentsorgung for-dern und gleichzeitig Bund, Länder und Kommunen diePlanungsgrundlagen dafür entziehen – Sachverstand à laRot-Grün.Es war die rot-grüne Bundesregierung, die die Fest-legung der Abschneidegrenze mit einem Verweis auf dasGaststättengesetz regeln wollte. Für diese Verbindungvon Gaststättengesetz und Beherbergungsstatistikgesetzgab es keine sachliche Begründung. Änderungen im Gast-stättengesetz hätten damit Veränderungen in der Touris-musstatistik zur Folge haben können. Auch hier zeigt sichdie Vorstellung von rot-grünem Sachverstand.In der nächsten Legislaturperiode sollte grundsätzlichüberlegt werden, ob tourismusrelevante Einzelgesetze ineinem eigenen Tourismusgesetz zusammengefasst wer-den können,
um etwas mehr Klarheit für die Branche zu schaffen, einealte Forderung auch unseres Ausschussvorsitzenden ErnstHinsken.
Leider wurde die Forderung der CDU/CSU-Bundestags-fraktion, zumindest einmal im Jahr die Betriebe mitweniger als acht Betten statistisch zu erfassen, nicht er-füllt. Für eine strategische und nachhaltige Tourismus-politik wären aber gerade diese Zahlen von unschätzbarerBedeutung. Gott sei Dank haben wir im Osten Deutsch-lands ein Projekt, das uns nähere Auskunft über die Be-deutung dieses touristischen Graumarktes gibt.
Das Sparkassen-Tourismusbarometer, das jährlich durchden Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverband und ei-nige Agenturen mit neuen Themen fortgeschrieben wird,gibt den Ländern und Kommunen nunmehr seit vielenJahren Ratschläge für eine positive Entwicklung des Tou-rismus zwischen Fichtelberg und Rügen.
Am kommenden Montag wird im Rahmen der ITB die-ser bisher noch nicht durch die Statistik erfasste Grau-markt im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
Vorab schrieb die „Fremdenverkehrswirtschaft“ am7. März dieses Jahres: „Während das offizielle Übernach-tungsvolumen für 2001 insgesamt 57,5 Millionen Über-nachtungen in den neuen Bundesländern umfasst, liegtdas ‚wahre‘ Marktvolumen mit 159,1 Millionen Über-nachtungen mehr als zweieinhalb Mal so hoch. Zu diesemVolumen tragen Aufenthalte in Privatzimmern und Feri-enwohnungen, der Sofatourismus – private Verwandten-und Bekanntenbesuche –, das Dauercamping und dieÜbernachtung in Freizeitwohnsitzen bei – ein bislang indieser Höhe völlig unbekannter und daher auch im touris-tischen Marketing weitgehend vernachlässigter Markt.“Wie Sie sehen, werden riesige Wirtschaftspotenzialeund erbrachte Leistungen von unserem bisherigen Statis-tiksystem leider einfach ausgeblendet. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht daher durchaus weitere Ver-besserungsmöglichkeiten im Statistikgesetz. Denn dasSparkassen-Tourismusbarometer belegt, dass man auchohne zusätzliche Bürokratie, ohne zusätzliche Kosten fürdie Betriebe und bei gleichzeitiger Wahrung des Daten-schutzes zeitnahe Daten über die touristische Lage der Öf-fentlichkeit sowie politischen und wirtschaftlichen Ent-scheidungsträgern zur Verfügung stellen kann. – Wie Siesehen: Die Statistik ist nicht alles, aber ohne Statistik istalles nichts.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt22277
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Siemich die heutige Debatte für einen Ausblick auf die ITB,die größte Tourismusmesse der Welt, nutzen, die über-morgen hier in Berlin beginnt. Die ITB ist unzweifelhaftein Seismograph für die bevorstehende Saison. DerDeutschlandtourismus wird wahrscheinlich von der ge-stiegenen Nachfrage nach erdgebundenen Verkehrsmit-teln profitieren.
Damit ist die große Chance verbunden, neuen Zielgrup-pen die hohe Qualität des deutschen Tourismusangeboteszu präsentieren.
Im Gegensatz zu allgemein rückläufigen Gästezahlen ha-ben viele Regionen in Deutschland in den letzten Mona-ten noch Gäste hinzugewinnen können. Es freut mich be-sonders, dass dies auch für sächsische Tourismus- undFeriengebiete zutrifft.
Die Absage einiger großer Reiseveranstalter und Flugge-sellschaften bzw. deren deutlich reduzierter Messeauftrittauf der ITB zeigt die Kurzsichtigkeit dieser Unternehmen,die die erstbeste Gelegenheit nutzen, sich vom wichtigeninternationalen Messestandort Berlin zu verabschieden –ein falsches Zeichen zur falschen Zeit.
Abschließend möchte ich in der heutigen Debatte eineBilanz der rot-grünen Tourismuspolitik ziehen. Die Bun-desregierung hätte in den vergangenen Jahren die Chan-cen der Branche für mehr Arbeitsplätze beherzter nutzenkönnen und müssen.
Offensichtlich gehört die große Liebe unseres Wirtschafts-ministers Dr. Müller aber wohl vor allem der Energie-wirtschaft.
– Davon habe ich bisher leider sehr wenig mitbekommen,Herr Kubatschka.
Sein Interesse für die mittelständisch geprägte Tourismus-branche als Jobmaschine und Leitökonomie des 21. Jahr-hunderts hält sich dagegen leider in Grenzen. Das Ein-zige, was unter Wirtschaftsminister Dr. Müller gewachsenist, ist die Schwarzarbeit. Hierzu nur eine Zahl: In diesemJahr wird mit einem Volumen von 350 Milliarden Eurogerechnet.
Wir werden diese politische Einstellung zu den Millionenvon fleißigen und engagierten Mitarbeitern, Unterneh-mern und Existenzgründern ab dem 22. September wiederzur Herzenssache einer von uns geführten Bundesregie-rung unter Kanzler Edmund Stoiber machen.
Im Gegensatz zu Minister Müller hat der scheidendeStaatssekretär Siegmar Mosdorf die Initiativen der Oppo-sition zu würdigen gewusst und viele unserer Ideen über-nommen. Erinnert sei hier nur an das „Jahr des Tourismusin Deutschland 2001“, die Bemühungen, das Sparkassen-Tourismusbarometer auf das ganze Bundesgebiet auszu-weiten, und die Entwicklung der deutschen Nationalparkezu einer eigenständigen Premiummarke. An dieser Stellehoffe ich, dass uns der neue Staatssekretär, Herr Staffelt,ebenfalls seine Unterstützung im Ausschuss zusagt undseine Punkte entsprechend setzen wird.
Der Deutschen Zentrale für Tourismus als FensterDeutschlands in vielen Staaten der Erde möchte ich fürunsere Fraktion ein herzliches Dankeschön sagen. Wirwollen nach dem 22. September 2002 die DZT deutlichstärken. Hier sehe ich keine Alternative.
Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht außer Achtlassen: Tourismuspolitik ist die beste und nachhaltigste,vielleicht auch kostengünstigste Außen- und Entwick-lungspolitik. Deutschland ist Reiseweltmeister und leistetdamit direkt und indirekt auch einen wichtigen Beitragzur Wirtschaftsentwicklung vieler Länder unserer Erde.Eine Debatte zur Mittelstands- und Tourismuspolitik,bei der das Thema Rahmenbedingungen nicht angespro-chen wird, ist wie ein Blinder, der über die Farben spricht.
Als ostdeutscher Abgeordneter möchte ich hier die Be-trachtung besonders auf die Situation in den neuen Bun-desländern lenken. Seit 1999 sinkt in Ostdeutschland dieKaufkraft stetig. Die Arbeitslosigkeit war seit 1990 nochnie so hoch wie unter Kanzler Schröder.
Die Investitionsquote in den neuen Ländern geht seit Jah-ren zurück. Dafür wächst die Zahl der Unternehmensplei-ten auch im Tourismus auf ein neues Rekordniveau, wieheute „Die Welt“ schreibt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Klaus Brähmig22278
In diesen Zusammenhang passt ein Kommentar überden Ostparteitag der SPD aus der „Freien Presse“ inChemnitz von heute – ich zitiere –:Auf dem SPD-Ost-Parteitag in Magdeburg hatSchröder vollmundig den A-72-Bau zwischenChemnitz und Leipzig versprochen. Kurz darauf ru-derten Mitarbeiter im Bundesverkehrsministeriumbereits wieder zurück. Ihr Motto: So war das allesnicht gemeint. Kein Wunder, dass Sachsens Wirt-schaftsminister Schommer nun eine verbindlicheZusage verlangt. Und zwar vor dem Wahltag.
Meine Damen und Herren, die Halbwertszeit von Kanz-lerversprechen liegt bei Gerhard Schröder mittlerweile nurnoch bei Stunden. So sieht es also aus, wenn ein SPD-Bun-deskanzler den Aufbau Ost zur Chefsache macht. Die rot-grüne Bundesregierung ist besonders in den ostdeutschenLändern ein Risikofaktor mit erheblicher Standortgefähr-dung.Zusätzlich lässt sich die Sozialdemokratie zur Erhal-tung ihrer Macht mehr und mehr auf die Bündnisse mitder PDS ein.
– Hören Sie doch einmal zu!
Überall, wo diese Bündnisse bestehen, sackt die Wirt-schaft in den Keller. Insofern stellt sich für mich dieFrage, warum der Genosse der Bosse und selbsterklärteWirtschaftskanzler Gerhard Schröder nun sogar auf Bun-desebene versteckte Bündnisangebote an die PDS aus-sendet.
Anscheinend regiert bei Rot-Grün nur noch die Panik.Die Angst vor dem Machtverlust geht um.
Diese Politik hat uns auch im EU-Vergleich die rote La-terne eingebracht. Deutschland ist in den wichtigstenwirtschaftlichen Kennzahlen erstmals Schlusslicht in Eu-ropa. Weltwirtschaftliche Krisen gab es auch schon vordem 11. September 2001 und auch zu Zeiten einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung. Der entscheidende Un-terschied dabei ist: Unter Bundeskanzler Helmut Kohl
waren wir selbst in der Krise noch die Lokomotive inner-halb Europas.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brähmig, ich muss Sie jetzt ein wenig bremsen. Ihre
Redezeit ist nämlich abgelaufen.
Ich bin sofort fertig,
Frau Präsidentin. – Heute, unter Gerhard Schröder, sind
wir nur noch der Bremsklotz.
Kollege Hinsken hat diese Situation vor zwei Wochen
von diesem Platz aus sehr anschaulich dokumentiert.
Das Tohuwabohu auf der Regierungsbank verdeutlichte,
wie dünnhäutig die rot-grüne Bundesregierung gewor-
den ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brähmig, sehr geduldig bin ich heute nicht.
Ja, Frau Präsidentin. –
Die Bundesregierung inszeniert bei jeder sich bietenden
Gelegenheit angebliche Erfolge mit riesigen Show-Effek-
ten. Wir werden sie aber nicht aus dieser Schlusslicht-
debatte herauslassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt haben Sie selbst
das Stichwort Schlusslicht gegeben. Das rote Licht leuch-
tet schon eine Weile.
Erlauben Sie mir noch
einen letzten Satz.
Die letzten vier Jahre waren für Deutschland insgesamt
und für die Tourismuspolitik im Besonderen vier verlo-
rene Jahre. Der Mittelstand und die Wähler werden am
22. September Rot-Grün die Quittung präsentieren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr ge-ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn die Opposition hier ein ganz schrecklichschwarzes Falschbild malt: Der Tourismus in unseremLand entwickelt sich gut, und zwar auch deswegen, weilSie in der Opposition sitzen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Klaus Brähmig22279
Weltweit zählt nämlich Deutschland neben den USA,Spanien, Frankreich und Italien nach wie vor zu den at-traktivsten Urlaubszielen.
– Euch erschließt er sich überhaupt nicht.Mit dem vorliegenden Gesetz wurde die Beherber-gungsstatistik an zahlreiche gesetzliche, wirtschaftlicheund europarechtliche Anforderungen angepasst. Das be-grüßen wir alle, wie wir auch schon von Ihnen gehört ha-ben. Ich gehe hier nur auf wenige Details ein:Erstmals werden jetzt die angebotenen Gästezimmerund nicht nur die Gäste und die Zahl ihrer Übernachtun-gen erfasst. Dieser auf den ersten Blick kleine Fakt hateine große Wirkung. Die Branche erhält so einen viel ge-naueren Überblick über das bestehende Angebot und kanngegebenenfalls gezielt die Bedarfslücken füllen.Das neue Beherbergungsstatistikgesetz sieht auch vor,das Erhebungsprogramm zu straffen. Bund und Länderwerden durch diese Neuerung Kosten sparen. Das ist, wiesicherlich auch Sie zugeben werden, eine gute Sache.Nicht alles ist von uns geändert worden. Wenn sich Al-tes bewährt hat, kann man es belassen. Dazu sage ich nur,dass die vorgesehene Streichung der Kur- und Rehaein-richtungen aus der Beherbergungsstatistik wieder zurück-genommen worden ist. Als Ärztin war ich immer dafür,dass diese Daten erhoben werden; denn das Kur- undBäderwesen stellt ein unverzichtbares Potenzial der Tou-rismuswirtschaft dar. Die in diesem Bereich getätigtenÜbernachtungen sind ohne Zweifel dem touristischenVerbrauch zuzuordnen, da sich Kur- und Rehateilnehmervor Ort wie Touristen verhalten;
nur werden sie in diesem Fall Patient, Kurgast und Well-nesstourist genannt. Sie kaufen ein, gehen manchmal zumEssen aus und statten gelegentlich, mit oder ohne Kur-schatten, dem Kino, dem Theater oder der freien Natur ei-nen Besuch ab. Der Deutsche Heilbäderverband bezeich-net diese Gäste deshalb zu Recht als „Säule für die lokaleund die regionale Tourismuswirtschaft“.Abschließend möchte ich die Gründe nennen, die michzu der Überzeugung bringen, dass zukünftige Statistikenüber die Beherbergung, aber auch über die anderen Indi-katoren der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischenEntwicklung des Tourismus in unserem Land einen posi-tiven Trend aufzeigen werden, und zwar dank Rot-Grünund unserem Sachverstand, Herr Brähmig. Mit unseremTourismusförderprogramm haben wir unter anderem dieVoraussetzungen dafür geschaffen, dass Betreiber vonEinrichtungen ihre Anlagen mit moderner Technologieausstatten können und dass damit ein gewichtiger Beitragzum Umweltschutz sowie für ein verbessertes Investiti-onsklima und so auch für den Arbeitsmarkt geschaffenwird. Die Bundesregierung stellt dafür Gelder in spe-ziellen Förderprogrammen bereit.Mit der erfolgreichen Einführung der Umweltdach-marke Viabono kann sich der Kunde nun zuverlässig da-rüber informieren, ob sein Hotel umweltschonend geführtwird, die Küche Produkte aus der Region anbietet und ober auch ohne Auto an sein Reiseziel kommen kann.Immer mehr Touristen – die meisten kommen, wie icheben schon sagte, aus Deutschland; aber wir werbendafür, dass auch Ausländer hierhin kommen – entscheidensich für Ferien in unseren Großschutzgebieten, also inNationalparken, Biosphärenreservaten und Naturparken.Diese sind Qualitätsmarken für ganze Regionen. Darausergeben sich große Chancen auch für den Tourismus. Dievon uns auf den Weg gebrachte Imagekampagne fürDeutschlands Nationalparke kam also genau zur richtigenZeit.Mit dem neuen Bundesnaturschutzgesetz haben wirein modernes Naturschutzrecht geschaffen, das die Be-wahrung unseres nationalen Naturerbes auf eine deutlichverbesserte Grundlage stellt, das Landschaftserleben fürdie Menschen deutlich verbessert und damit dem Touris-mus dient, der auf den Erhalt dieser Landschaft angewie-sen ist. Wir müssen die Menschen für das Land Deutsch-land begeistern.Veränderungen führen wir auch im Bereich der Mobi-lität und des Verkehrs herbei, indem wir die Förderungumweltschonender Verkehrsträger gewährleisten, waswiederum eine Entlastung für die Umwelt bedeutet. Hierist auch die deutlich verbesserte Kooperation mit derDeutschen Bahn AG zu nennen, die zum Jahr des Touris-mus schon gut war und die auch jetzt zum InternationalenJahr des Ökotourismus ihren Beitrag leistet.Wir als Rot-Grün haben uns nicht nur viel für denDeutschlandtourismus vorgenommen, sondern die Bilanzkann sich schon jetzt sehen lassen. In den nächsten Mo-naten werden von uns weitere Initiativen in den Bundes-tag eingebracht werden. Ich hoffe, dass Sie auch diesendann zustimmen werden.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Sylvia Voß22280
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Ernst Burgbacher für die Fraktion der FDP.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie daran erin-
nern, dass wir uns über das Beherbungsstatistikgesetz un-
terhalten.
Das wurde bisher fast vergessen.
Ich möchte zunächst betonen, dass ich es für gut halte,
dass wir dieses Gesetz heute wahrscheinlich mit großem
Konsens verabschieden werden.
Das ist ein Zeichen dafür, dass es in diesem Hause durch-
aus möglich ist, inhaltliche, sachlich gerechtfertigte
Dinge im Konsens zu regeln, nachdem man sich zusam-
mengerauft hat. In diesem Gesetzentwurf von Rot-Grün
waren Dinge strittig. Wenn keine Änderungen vorgenom-
men worden wären, hätten wir mit Sicherheit nicht zuge-
stimmt.
Es sollte der Kur- und Rehabereich aus der Touris-
musstatistik herausgenommen werden. Das hätte – ich
denke da zum Beispiel an mein Heimatland Baden-Würt-
temberg – für Tourismusländer fatale Folgen gehabt; denn
gerade im Zuge der Gesundheitsreform haben sich die
Kur- und Rehaorte umgestellt. Für sie spielt heute Touris-
mus die größte Rolle. Wenn dieser Bereich herausgenom-
men worden wäre, hätte das von der Förderung bis zu vie-
len anderen Dingen Konsequenzen gehabt, die äußert
kontraproduktiv gewesen wären.
Wir als Opposition haben das von Anfang an angemahnt.
Wir, CDU/CSU und FDP, haben gemeinsam immer ge-
sagt, dass wir so nicht zustimmen werden.
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir sind der
Regierung und den Regierungsfraktionen weit entgegen-
gekommen, indem wir ihnen immer Zeit gegeben haben,
Kompromisse zu finden. Wir hätten dies auch publikums-
wirksam nach außen verkaufen können. Wir haben dies
nicht getan, sondern haben im Sinne einer Lösung, die uns
in der Sache weiterbringt, versucht, einen gemeinsamen
Weg zu finden. Ich bin froh, dass die Regierung dann auf
diesen Weg eingeschwenkt ist und wir heute einen Ge-
setzentwurf vorliegen haben, mit dem wir alle leben kön-
nen und der auch zur vollsten Zufriedenheit aller Betei-
ligten ist.
Ich möchte auch ein wenig über den Inhalt reden. Hin-
sichtlich der Bettenstatistik begrüße ich es sehr – das ist
wichtig –, dass die Abschneidegrenze von acht Betten bei
der statistischen Erfassung bleibt. Wir reden alle in Sonn-
tagsreden darüber, Bürokratie abzubauen. Sobald es aber
konkret wird, sind wir ganz schnell bereit, neue Regelun-
gen einzuführen. Deshalb habe ich mich immer dagegen
gewehrt, noch eine zusätzliche Statistik zu schaffen. Wir
können jetzt gleichzeitig mit der Prüfung einer Möglich-
keit der Erfassung statistisch sicherer Daten bei kleineren
Betrieben prüfen, wie man an anderer Stelle Statistiken
einsparen kann. Ich glaube, dass dies der richtige Weg ist.
Das begrüße ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich.
Von den Vorrednern wurde viel zum Deutschlandtou-
rismus gesagt. Ich denke, wir alle hier in diesem Hause
sind uns darüber einig, dass der Tourismus ein Wirt-
schaftsfaktor für die Bundesrepublik ist, der weit wichti-
ger ist, als dies in der Öffentlichkeit und leider manchmal
auch in diesem Hohen Hause wahrgenommen wird. Des-
halb ist es richtig, dass wir gemeinsam versuchen, weitere
Maßnahmen zu treffen. Ich appelliere aber auch an die
Regierungsfraktionen, diesen Weg weiter zu beschreiten
und Dinge, die richtig sind, aber von der Opposition kom-
men, nicht nur deshalb abzublocken, weil sie von der Op-
position kommen.
Ich würde mich freuen, wenn wir bei der Frage der
Ausschilderung von touristischen Attraktionen an Auto-
bahnen weiterkämen. Ich denke aber, wir kommen hier
weiter.
Ich freue mich aber auch auf die nachfolgende Debatte.
Wir haben jetzt in einem wichtigen Punkt Konsens erzielt.
Ich hoffe immer noch, dass wir auch nachher bei der Ab-
schaffung der Trinkgeldbesteuerung Konsens erzielen.
Gehen Sie noch einmal in sich. Wir werden darüber noch
einmal inhaltlich diskutieren. Aber es bleibt noch Zeit für
Sie, um nachzudenken. Wenn nicht, machen Sie doch wie
heute Morgen eine kurze Fraktionssitzung und be-
schließen Sie das. Dann kämen wir heute zu zwei Eini-
gungen. Darüber wären alle am Tourismus Beteiligten
sehr froh.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einen solchen Werbe-
block schon für die nächste Debatte haben wir auch nicht
alle Tage. Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosel
Neuhäuser für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Brähmig, in zehn Minu-ten lässt sich viel sagen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002 22281
Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass Sie ein wenigmehr Inhalt rübergebracht hätten.
– Das war eine Wahlkampfrede, aber sie verhallt ir-gendwo.Wir haben 1998 den TAB-Bericht diskutiert. Die Re-gierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP hatten dieGrundlage für diesen Bericht geschaffen. Damals habenwir festgestellt, dass es in der Bundesrepublik Deutsch-land eine unterschiedliche Datenlage gibt, diese auch kri-tisiert und die Bundesregierung aufgefordert, dies zu än-dern. Ich denke, die vorliegenden Gesetzentwürfe, die wirheute zu beschließen haben, tragen im Wesentlichen dazubei, diese Unterschiedlichkeit zu beseitigen und die statis-tische Erfassung zu vereinfachen.Der Tourismus als Wirtschaftsfaktor findet in derwissenschaftlichen Literatur, in Veröffentlichungen undin Debatten von Politik und der Tourismusbranche selbereine breite Resonanz und wird gern für die Darstellung ei-nes positiven Images benutzt. Wir haben dies auch vorhinbei der Rede des Staatssekretärs Staffelt gehört. Man fin-det zum Beispiel Zahlen zum Beitrag der Tourismuswirt-schaft zum Bruttoinlandprodukt, zur Wertschöpfung, zurBeschäftigungs- und Ausbildungssituation, zur Umsatz-entwicklung, zu Übernachtungszahlen usw. Aber genaudiese Daten sind wenig transparent und nicht immer trag-fähig, weil sie sehr unterschiedlich „gehändelt“ werden.Sowohl die amtliche Statistik als auch die wissen-schaftliche Forschung liefern voneinander abweichendebzw. schwer vergleichbare Zahlen. Deshalb sagen Exper-ten immer wieder, dass Prognosen und perspektivischeBetrachtungen für die Zukunft des Tourismus mit Vorsichtzu benutzen sind. Wenn die Datenlage so widersprüchlichwar und ist, dann lässt sich in der Politik nur unzureichendüber die Bedeutung des Tourismus in der Wirtschaft kom-munizieren, lassen sich wirtschaftliche Risiken ebensowie Wachstumspotenziale nur unzureichend darstellenund sind angemessene Instrumente und Maßnahmenschwierig zu wählen.Ich möchte ein Beispiel dafür, wie es mit der Datenlageinsgesamt aussieht, nennen. Es geht um den Bereich derKinder- und Jugendreisebranche. Die Bundesarbeits-gemeinschaft der Kinder- und Jugenderholungszentren,das Deutsche Jugendherbergswerk, das Kolping Famili-enwerk, die Naturfreundejugend und das Reisenetz grün-deten 1998 den runden Tisch der Unterkünfte. Sie bewirt-schaften insgesamt 1 130 Beherbungsstätten mit 102 000Betten für junge Gäste mit jährlich etwa 13 MillionenÜbernachtungen. Die Datenbank über Kinder- und Ju-gendunterkünfte erfasst aber nur knapp 5 000 Häuser. Wofinden wir diesen wichtigen Bereich als Wirtschaftsfaktorwieder? Wer schmückt sich mit diesen Zahlen? Hier seheich unter anderem eine mögliche neue Herausforderungfür das Tourismusbarometer des Ostdeutschen Sparkas-sen- und Giroverbandes.Liebe Kolleginnen und Kollegen, um diese unbefriedi-gende Situation zu beheben, war es an der Zeit, Verbesse-rungen der amtlichen Statistik und eine fundierte ökono-mische Grundlagenforschung im Bereich des Tourismuszu unterstützen. Die wirtschaftliche Bedeutung und diePerspektiven des Tourismus können so stärker in denBlickpunkt wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischerBetrachtungen gerückt werden. Es wäre geradezu absurd,der Tourismusbranche die Basis für eine qualifizierteBranchenbeobachtung zu beschneiden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Neuhäuser, jetzt muss ich Sie aber ermahnen.
Ja. – Nein, ich habe keine
sieben Seiten mehr.
Die Beherbungsstatistik ist Grundlage für tourismus-
politische Entscheidungen, für infrastrukturelle Planun-
gen und für Maßnahmen der Tourismuswerbung und der
Marktforschung. Deshalb werden wir diesen zwei Gesetz-
entwürfen zustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmalmöchte ich unserem bisherigen Parlamentarischen Staats-sekretär im Wirtschaftsministerium Mosdorf namens derSPD-Fraktion für seine Arbeit sehr herzlich danken. Ichbin überzeugt, dass dies mit unserem neuen Staatssekre-tär, Herrn Ditmar Staffelt, genauso sein wird.
Ich weiß, dass er die Interessen der Tourismusbranche undder Tourismuspolitik im Wirtschaftsausschuss bereits ve-hement vertreten hat. Herr Staatssekretär, ich freue mich,dass Sie bereits heute hier zu diesem Thema geredethaben.Manche Tage erhellen einen wirklich und man weiß,woran man ist. So hat mir auch die geschmacklose Be-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Rosel Neuhäuser22282
merkung des Kollegen Brähmig zu meiner Wahlnieder-lage in Bayern gezeigt, woran ich mit ihm bin. Ich weißjetzt, was für ein Mensch Sie sind. Die weitere Zusam-menarbeit werde ich entsprechend gestalten.
– Herr Hinsken, auch Ihre heuchlerische Einlassungmöchte ich nicht weiter werten.
Ich möchte jetzt zum eigentlichen Thema kommen, dadas nicht das Thema der Auseinandersetzung ist. Es gehtvielmehr um das Beherbergungsstatistikgesetz, dessenNovellierung wir heute beschließen. Das Beherbergungs-statistikgesetz hat für die Betriebe in der Analyse der Kon-junktur einen unschätzbaren Wert. Es ist ein unverzicht-bares Hilfsmittel für Investitionen im Gastgewerbe undgenießt eine hohe Priorität bei der heimischen Wirtschaft.Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich beimStatistischen Bundesamt in Wiesbaden und bei den Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesfinanzministe-riums für die in diesem Zusammenhang geleistete Arbeitund auch für die Arbeit, die durch die Entschließung nochentstehen wird, bedanken.
Die Novelle wird allen Interessen gerecht werden: Ers-tens hat sie erreicht, dass die Statistik in Bezug auf dieHarmonisierung der Europäischen Union angepasst wird.Zweitens ist ein 20-jähriges Ringen der Hotelbranche umeine Erfassung der Auslastung der Zimmer jetzt endlicherfolgreich. Herr Brähmig, Sie und Ihre Fraktion hätten16 Jahre lang Gelegenheit gehabt, diesen Wunsch derBranche zu erfüllen, in der Statistik die Zimmerauslas-tung und nicht nur die Bettenauslastung zu erfassen.
Dies haben Sie nicht getan. Dies ist jetzt ein Erfolg derrot-grünen Bundesregierung und zeigt, wie mittelstands-freundlich wir sind.
Sie reden zwar immer, aber handeln nicht.
Sie bluffen nur und ergehen sich in Larmoyanz. Ihre Redewäre vielleicht vor dem Kreisverband Pirna, aber nichtvor dem Deutschen Bundestag passend gewesen.
Drittens bleiben die Vorsorge- und Rehaeinrichtungen inder statistischen Erfassung. Für diese Betriebe entstehendurch die Berichtspflicht keine nennenswerten Belastun-gen. Auch darum ging es natürlich. Im Kur- und Bäder-wesen sind im Jahr 2000 2 Millionen Patienten versorgtworden. Dies entspricht einer Zahl von 51,6 MillionenÜbernachtungen.Für diese Übernachtungen erhalten die Gemeinden dieSchlüsselzuweisungen in den Bundesländern, die diesenach der Beherbergungsstatistik vergeben. Das ist für dieKommunen äußerst wichtig. Zusätzlich erhalten die Ge-meinden dafür die Kurtaxe. Durch die Streichung aus demGesetz wären vermutlich die Zahlungen der Kurtaxe, diedie Kranken- und Rentenversicherungsträger für die Kur-gäste abführen, eingestellt worden. Ich glaube, es ist einriesiger Erfolg, dass wir das verhindert haben.
Ich möchte mich ausdrücklich bei dem KollegenBurgbacher für die konstruktive Zusammenarbeit be-danken.
– Herr Hinsken, auch hier gilt das strucksche Gesetz, dasskein Gesetzentwurf das Parlament so verlässt, wie er he-reingekommen ist.
Ansonsten wäre das Parlament überflüssig, wenn nur dieBeschlüsse der Regierung umgesetzt würden.
Vorlagen zu beraten ist unsere Aufgabe. Diese haben wirmit und nicht gegen die Regierung erfolgreich gelöst.
Jetzt komme ich zu einem anderen Erfolg. Wir habenim Jahr 2000 bei den Patientenzahlen Zuwächse um6,8 Prozent gehabt. Zum Vergleich: 1997, als Sie an derRegierung waren, gab es einen Rückgang um 17,8 Pro-zent. 1998 haben wir mit einem Zuwachs von 10,8 Pro-zent, 1999 von 9,7 Prozent aufgeholt.
Bei der Beschäftigung gab es im Jahr 2000 einen Zu-wachs um 4,1 Prozent. Ich glaube, dass man auch noch ei-nen weiteren Aspekt hinzufügen kann, dass nämlich auchdie Umsätze im Gastgewerbe wieder gestiegen sind undzwar um 0,9 Prozent.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Brunhilde Irber22283
– Wenn ich mehr Redezeit hätte, könnte ich darauf nocheingehen. Aber ein wichtiger Punkt, der in dieser Novelleenthalten ist, ist der, dass künftig auch eine Erhebung fürBetriebe unter acht Betten einmal jährlich stichproben-artig gemacht werden soll.
Nach unserer Meinung soll dies bei den prädikatisiertenOrten in Deutschland geschehen.
Leider habe ich kaum noch Redezeit, sonst könnte ichnoch auf einen anderen Punkt eingehen.
Die Statistik ist im Ganzen auch billiger geworden.Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt, da wir einenHaushalt haben, bei dem wir jeden Euro dreimal umdre-hen müssen. Diesen Schuldenberg, der der Grund dafürist, dass wir jetzt so sparen müssen, haben Sie uns nach16 Jahren Regierung hinterlassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie ha-
ben sicherlich schon das Blinklicht gesehen, was das Ende
Ihrer Redezeit bedeutet.
Entschuldigung, Frau Präsi-
dentin, für die Überziehung. – Ich möchte jetzt zum
Schluss kommen. Lassen Sie mich noch einen Dank an
den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband ausspre-
chen. Er hat auf die zehnjährige Totalerhebung der Gast-
stätten und die sechsjährige Kapazitätserhebung verzich-
tet. Dies hat zu einer Erleichterung geführt.
Auf die übrigen Erfolge unserer Politik kann ich jetzt
leider nicht eingehen. Ich möchte aber noch darauf hin-
weisen, dass wir im Jahr 2000 ein Rekordjahr im Deutsch-
landtourismus hatten und im Jahr 2001 trotz des 11. Sep-
tember eine Zunahme bei den Übernachtungen von
1 Prozent hatten.
– Das hat auch etwas mit unserer guten Politik zu tun.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf aufDrucksache 14/6392 zur Neuordnung der Statistik überdie Beherbergung im Reiseverkehr. Der Ausschuss fürTourismus empfielt unter Buchstabe a) seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 14/8475, den Gesetzentwurfin der Ausschussfassung anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-nommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich von den Plätzen zu erheben. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit denStimmen aller Fraktionen angenommen worden.
– Es ist nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Tourismus un-ter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung die An-nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Ent-schließung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – DieEntschließung ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktionangenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9, der bereits vondem Kollegen Burgbacher angekündigt worden ist, auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert,Bartholomäus Kalb, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Trink-geldfreibetrages– Drucksache 14/4938 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Ernst Burgbacher, Gerhard Schüßler,Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Einkommen-
– Drucksache 14/5233 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 14/6216 –Berichterstattung:Abgeordnete Horst SchildKlaus-Peter WillschErnst Burgbacher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Brunhilde Irber22284
– Drucksachen 14/6217, 14/8427 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Christa LuftHans Jochen HenkeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Erster Redner ist für die SPD-Fraktion der KollegeHorst Schild.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Hinsken, wir kommen in der Sache
schon voran. Bislang haben wir das Thema immer zu viel
späterer Stunde diskutiert. Aber die Hartnäckigkeit, mit
der die Antragsteller ihr Anliegen vertreten, ist durchaus
beeindruckend.
Ich verhehle nicht, dass für eine Modifizierung der Trink-
geldbesteuerung auch in unserer Fraktion und dort ins-
besondere bei den Tourismuspolitikern durchaus Sympa-
thie besteht.
– Moment.
Wenn der Gesetzgeber das geltende Recht bei der Be-
steuerung von Trinkgeldern modifizieren will, sollte er
sich zunächst mit den rechtlichen Fragen eines solchen
Vorhabens gründlich befassen. Das ist bislang bei den An-
tragstellern nicht erfolgt. Der Gesetzgeber ist in seinem
politischen Wollen an das Gleichheitsgebot des Art. 3 des
Grundgesetzes und an die höchstrichterliche Rechtspre-
chung gebunden. Er ist insofern gehalten, die daraus fol-
genden Steuerprinzipien auch bei gesetzgeberischen Vor-
haben zu beachten. Das Anliegen, das einem sehr am
Herzen liegt, allein reicht nicht aus.
Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel der
steuerlichen Behandlung der Trinkgelder zu verdeutlichen.
Nach §3 Ziffer 51 des Einkommensteuergesetzes beträgt
der gegenwärtige Freibetrag für Trinkgelder 1 224 Euro.
Die Dimension dieses Freibetrages wird am besten an-
hand eines Beispiels verdeutlicht: Nimmt man eine Be-
schäftigte, die jährlich 24 000 Euro verdient – das ist in
der Branche schon ein relativ hohes Einkommen – und zu-
sätzlich 5 Prozent Trinkgeld bekommt, dann ergibt sich
ein Trinkgeld von 1 200 Euro, das völlig steuerfrei bleibt.
– Das ist in Ordnung. Das ist die gegenwärtige Rechts-
lage. Man kann durchaus die Auffassung vertreten, dass
das angemessen und ausreichend ist.
Lassen Sie mich einige Gesichtspunkte zur Steuersys-
tematik vortragen, mit denen Sie sich oder wir uns ausei-
nander setzen müssen. Nach der ständigen Rechtspre-
chung des Bundesfinanzhofs – das ist nicht neu – sind
Trinkgelder Arbeitslohn und zu versteuerndes Einkom-
men.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?
Moment, Frau Präsidentin. –
Deshalb reicht es nicht, wenn Sie in Ihrem Antrag schrei-
ben, das sei nicht mehr zeitgemäß, Herr Burgbacher. Das
ist eine Kategorie, mit der wir im Steuerrecht nichts an-
fangen können.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich gehe davon aus,
dass Sie die Frage zulassen.
Herr Kollege Schild,
können Sie mir sagen, wie viel Geld der Staat durch die
Trinkgeldsteuer im vergangenen Jahr bzw. in den vergan-
genen Jahren jeweils eingenommen hat?
Pflichten Sie in dem Fall nicht dem Bundeswirtschafts-
minister Müller bei, der gesagt hat: „Wenn man schon
nicht weiß, wie viel Geld damit eingenommen wird, kann
sie wieder abgeschafft werden“?
Herr Kollege Hinsken, ich ver-suche gerade, deutlich zu machen, dass es bei solchen Fra-gen um Gleichbehandlung, Verfassungsgrundsätze unddie Steuersystematik geht.
Ob es um Einnahmen in Höhe von 3 Millionen oder30Millionen Euro geht, ist nicht die entscheidende Frage.
Entscheidend ist, dass jede steuerliche Regelung auf denPrüfstand der Verfassungsmäßigkeit gestellt werdenmuss.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Vizepräsidentin Petra Bläss22285
Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir es zuerst beur-teilen. Dann können wir immer noch über die steuerlichenAuswirkungen reden.Herr Kollege Hinsken, ich fahre jetzt fort.
– Das Problem ist doch, dass Sie von einer völlig vereng-ten Sicht ausgehen, wenn Sie die Frage in den Mittelpunktstellen, ob damit Steuerausfälle in Höhe von 3 Millionenoder 30 Millionen Euro verbunden sind.
Ich möchte auf Folgendes aufmerksam machen: DasEinkommensteuerrecht muss die verfassungsrechtlichenPrinzipien der Besteuerung nach der Leistungsfähig-keit und der gleichmäßigen Besteuerung aller Steuer-pflichtigen erfüllen. Das ist Ihnen doch bekannt, HerrKollege Hinsken und Herr Kollege Michelbach. Der Ge-setzgeber kann doch nicht willkürlich handeln.
Er hat diese Prinzipien zu beachten. Dazu darf ich ausdem Urteil des Bundesfinanzhofs zur Frage der Trink-geldbesteuerung aus dem Jahr 1999 zitieren:Würden ... freiwillige Trinkgelder von der Besteue-rung völlig freigestellt, so würde dies andererseitsden Anspruch auf Gleichbehandlung derjenigen Ar-beitnehmer berühren, die bei gleicher wirtschaftli-cher Leistungsfähigkeit ihren Arbeitslohn in vollemUmfang zu versteuern haben.Das hat der Bundesfinanzhof unter ausdrücklicher Wür-digung des Vorschlags von Professor Bareis ausgeführt.Das ist eine Kernaussage des Bundesfinanzhofs zur Be-steuerung von Trinkgeldern, die wir bei jeder Änderungdes Steuerrechts zu berücksichtigen haben.Das Argument – das bringt die FDP in ihrem Antragvor –, eine völlige Nichtbesteuerung von Trinkgeldern seigerechtfertigt, weil ein ungleichmäßigerVollzug derBe-steuerung durch die Finanzämter erfolge, trifft zumindestnach Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht zu. Trotz-dem werden wir die Bundesregierung bitten, eine Be-standsaufnahme durchzuführen, in der die Praxis derFinanzverwaltungen in den einzelnen Ländern aufgelistetund vergleichbar gemacht wird. Das ist eine wesentlicheVoraussetzung für einen solchen Nachweis. Der Bundes-finanzhof hat festgestellt, dass der Nachweis, dass es zueiner ungleichmäßigen steuerlichen Behandlung komme,von den Klägern nicht erbracht werden konnte. Wir wer-den die Bundesregierung bitten und hoffentlich bald einenBericht bekommen, der es uns erlaubt, zur Frage der steu-erlichen Behandlung in den einzelnen Bundesländern et-was mehr zu sagen. Nach der Rechtsprechung wendet dieFinanzverwaltung – jedenfalls nach den bisherigen Er-kenntnissen – im Zweifelsfall maßvolle Schätzgrößen beider Trinkgeldbesteuerung an.Ein wichtiger Punkt ist weiterhin, dass in der Steuer-politik das Postulat der Verbreiterung der Bemessungs-grundlage bei sinkenden Steuersätzen verwirklicht wird.Darin waren wir uns alle einig. Das steht in der Begrün-dung eines jeden Gesetzentwurfes. Das heißt, es soll keineAusnahmetatbestände geben und die Gleichmäßigkeit derBesteuerung soll gewährleistet sein. Es sind schließlichdie Ausnahmen von der Steuerregel, die unser Steuersys-tem ständiger Kritik aussetzen.Wir – das gilt sicherlich nicht nur für die Finanzpoli-tiker – sollten darauf achten, dass unser Steuerrecht nichtdurch weitere Ausnahmen unüberschaubar wird und zueiner ungleichmäßigen Steuerbelastung führt, die dannwiederum auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsge-richts steht.
Das haben wir in der Vergangenheit ja mehrmals erlebendürfen, zuletzt bei der Frage der steuerlichen Behandlungder Alterseinkünfte. Es waren ja nicht gesetzgeberischeMaßnahmen der jetzigen Koalition, die Anlass für das Ur-teil waren.Mir drängt sich auch die Vermutung auf, dass sowohlCDU/CSU als auch FDP die Folgewirkung ihrer Vor-schläge nicht hinreichend im Blick haben. Schon dieBareis-Kommission hat ausdrücklich darauf hingewie-sen, dass ein Missbrauch durch Umwandlung von Lohn-bestandteilen in Trinkgelder im Falle ihrer Steuerfrei-heit unterbunden werden muss. Zumindest darauf müssteman sich verständigen. Es würde ansonsten zwangsläufigein Anreiz für Arbeitgeber bestehen, den regulären Lohnmit Hinweis auf steuer- und sozialabgabenfreie Trinkgel-der zu senken.
Das würde die Position der Arbeitnehmer gegenüber derder Arbeitgeber schwächen. Schon gegenwärtig – auchdas gilt es zu bedenken – liegt der im Gastronomiebereichgezahlte Tariflohn mit Hinweis auf anfallende Trinkgel-der unter dem für vergleichbare Tätigkeiten. Zumindestist das nach meiner Erkenntnis bei Tarifverträgen in Ba-den-Württemberg – das dürfte kein Einzelfall sein – derFall. Wir können auch ins Ausland schauen: Wer in dieUSA reist, wird feststellen, dass er böse angeschaut wird,wenn er weniger als 25 Prozent des Rechnungsbetrags alsTrinkgeld gibt. Das liegt daran, dass dort aufgrund ent-sprechender Regelungen Kellner sowie anderes Bedie-nungs- und Servicepersonal fast ausschließlich von denTrinkgeldeinnahmen leben müssen. Das wollen wir je-denfalls nicht.Wie Sie wissen, knüpfen die Sozialabgaben an diesteuerliche Qualifizierung der Einnahmen an. FehlendeSozialversicherungsabgaben können sich auch nachteiligfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auswirken.Denken Sie nur an die Altersvorsorge! Es hat Folgen fürdie Alterseinkünfte, wenn 4 Prozent und mehr des Ein-kommens nicht sozialversicherungspflichtig sind. Siesollten also nicht immer beklagen, wir trügen zur ständi-gen Senkung des Niveaus der gesetzlichen Rente bei.Sie müssen sich schon fragen lassen, ob sich bei derUmsetzung Ihrer Vorstellungen nicht ein Gerechtigkeits-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Horst Schild22286
problem hinsichtlich der anderen Steuerpflichtigen ergibt.Ich habe das ja bereits bei dem Grundsatz der gleich-mäßigen Besteuerung ausgeführt. Man kann das aberauch ganz konkret darstellen – ich hebe dabei auf das Ver-fassungsgebot der steuerlichen Gleichbehandlung ab –:Warum sollen Arbeitnehmer Trinkgelder gar nicht oder,wie es die CDU/CSU vorschlägt, erst ab 2 100 Euro ver-steuern, während Freiberufler freiwillig gegebene Zuzah-lungen oder Trinkgelder vom ersten Euro an versteuernmüssen? Das mag in der Praxis nicht so bedeutend sein.Wenn man das aber einer rechtlichen Überprüfung unter-ziehen würde, dann würde man sicherlich feststellen, dassdas ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ist.
– Das ist ein anderes Problem. Aber daran können Sie dieFolgewirkung Ihrer Vorschläge sehen. In der Diskussionüber die in Ihren Anträgen erhobene Forderung, den Frei-betrag für Trinkgelder anzuheben bzw. sie steuerlich ganzfreizustellen, hat der Bundesverband des DeutschenGroß- und Außenhandels darauf hingewiesen, dass dasauch für die Arbeitnehmerrabatte gelten müsse. Hier gehtes nicht mehr um 3 Milliarden oder 4 Milliarden Euro,sondern um ganz andere Dimensionen.
– Es ist in unserer Fraktion bisweilen möglich, dass mananderer Auffassung als der Kanzler ist.
Der Kanzler wird allerdings das letzte Wort haben. Daraufkönnen Sie sich verlassen.Ich möchte noch auf einen anderen Sachverhalt hin-weisen. Sie sprechen – das gilt insbesondere für den An-trag der FDP-Fraktion – von Schenkungen.Bekommt einArbeitnehmer aber ein Geschenk von einem Dritten, dannhandelt es sich nach unserem gegenwärtigen Einkom-mensteuerrecht um Einnahmen, die nach § 8 des Einkom-mensteuergesetzes zu versteuern sind. Eine Zuwendung,die einem Arbeitnehmer – es spielt keine Rolle, ob vomArbeitgeber oder von einem Dritten – gewährt wird undderen Wert die Grenze von 50 Euro monatlich über-schreitet, muss in vollem Umfang versteuert werden.Auch das berührt den Gleichheitsgrundsatz. Ich sage janicht, dass man das nicht ändern kann. Aber man muss eswenigstens bedenken. Ich frage insbesondere die Kolle-gen von der FDP-Fraktion: Sieht so eine gerechteBesteuerung aus? – Ich denke, hier müssen Sie sich nochein bisschen mehr einfallen lassen.Nicht zuletzt müssen wir auch bedenken, dass nebenden Steuereinnahmen zwangsläufig auch die Einnahmender Sozialversicherungen zurückgehen werden. Ich habedas vorhin im Zusammenhang mit der Rente deutlich zumachen versucht.Auf die Fragen, die ich hier aufgeworfen habe, gebenIhre Anträge keine Antwort. Deshalb werden wir ableh-nen müssen.All die Fragen, die ich formuliert habe, werden die Ko-alitionsfraktionen sorgfältig prüfen. Vom Ergebnis dieserPrüfung – in diesem Prozess sind wir bereits – werden wirunsere weitere Haltung abhängig machen.
Weil ich noch einige Sekunden Redezeit habe, sei mirnoch ein Wort ganz zum Schluss erlaubt: Sie haben in die-ser Frage 16 Jahre nichts getan.
Da wird uns sicherlich zugestanden werden, dass wir nochein paar Tage benötigen, um diese Prüfung zum Abschlusszu bringen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSUspricht jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch.Klaus-Peter Willsch (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Schild, wir besprechen das Themanicht zuletzt deshalb, weil bei jeder Gelegenheit, wennmehr als drei Kellner oder Hoteliers zusammenstehen, ir-gendeiner von den Sozis aufspringt und sagt: Wir schaf-fen die Trinkgeldbesteuerung ab. Nur, wenn es darauf an-kommt, das hier im Bundestag umzusetzen, geschiehtnichts. Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinan-der.
Auf die steuersystematischen Gesichtspunkte, die Sieangeführt haben, werde ich gleich eingehen, Herr Schild.Vorab möchte ich eine Würdigung der Situation vor-nehmen.Wir haben heute drei Varianten zur Auswahl. Nach derersten Variante, die Herr Burgbacher gleich begründenwird, soll – das ist der Kern – ein neuer Ausnahmetatbe-stand in unserem ohnehin schon komplizierten Steuer-recht geschaffen werden. SPD und Grüne legen wie in denmeisten Politikbereichen die Nullvariante vor und sagen:Ruhige Hand! Wir machen gar nichts. Es besteht keinHandlungsbedarf. –
Die CDU/CSU als die große bürgerliche Kraft in derMitte der Gesellschaft
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Horst Schild22287
legt wie immer einen vernünftigen Vorschlag vor.
Zunächst zu den geschätzten Kollegen von der FDP.Auch wir von der CDU/CSU wollen nicht, dass das Trink-geld, das wir jemandem, weil er uns gut bedient hat, weiler uns eine hervorragende Serviceleistung geboten hat,zukommen lassen, eben in Anerkennung dieser persönli-chen Leistung, in den klammen Kassen von Eichel landet.Wir wollen eine Dienstleistungskultur in Deutschland.Wir wollen die Wachstums- und Beschäftigungschancen,die im Tourismussektor, einem der wenigen noch wach-senden Wirtschaftszweige, vorhanden sind, für unsereVolkswirtschaft nutzen.
Wir wollen gegenüber den dort Beschäftigten, die unsmitten in der Nacht, an Sonn- und Feiertagen, wann im-mer wir den Service haben wollen, bedienen, diese be-sondere Wertschätzung zum Ausdruck bringen können,ohne das Gefühl haben zu müssen: Das landet letztlichdoch bei Eichel im Sack.
Aber wir müssen natürlich die ständige Rechtspre-chung des Bundesfinanzhofs – Herr Schild, insoferngehe ich auf Ihren Beitrag ein – in Betracht ziehen. Zunennen sind die Problembereiche „Gleichheit der Belas-tung“ und „Gleichheit der Belastungswirkung“. Es gibtauch in anderen Wirtschaftsbereichen vielfach variableGehaltsbestandteile, die leistungsbezogen gewährt wer-den. Damit ist das Trinkgeld natürlich vergleichbar. Soempfindet es auch der einzelne Trinkgeldempfänger. Weiler eine Leistung besonders gut erbracht hat, bekommt ermehr für diese Leistung. Genau so wird es wahrgenom-men. Insofern ist die Einteilung des BFH, dass das einGehaltsbestandteil ist, nicht so einfach von der Hand zuweisen.Ihre einfache Lösung – mit Verlaub, liebe Kollegen vonder FDP – ist eben nur vermeintlich einfach. Sie lädt zumGestaltungsmissbrauch ein.
Deshalb können wir sie im Rahmen unserer Einkommen-steuersystematik nicht abbilden.Wir haben einen synthetischen Einkommensteuerbe-griff.Dabei wird alles, was in einer Wirtschaftsperiode zu-fließt, sei es aus unselbstständiger Arbeit, sei es aus Ver-mietung und Verpachtung, seien es Zinseinnahmen ausVermögen, zusammengefasst. Dann werden die Werbungs-kosten, die man aufwenden muss, um dieses Einkommenzu erzielen, abgezogen und es wird noch die persönlicheSituation berücksichtigt. So kommen wir zu dem Ein-kommen, das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wi-derspiegelt, und das ist die Bemessungsgrundlage für dieEinkommensteuer. Daran haben wir immer festgehalten.Deshalb ist unsere Antwort die richtige. Nach zwölfJahren – 1990 erfolgte die letzte Anpassung – muss derFreibetrag wieder kräftig angehoben werden, damit das,was wir mit der Einführung dieses Freibetrags erreichenwollten, ökonomisch auch noch bewirkt wird.
Liebe Kollegen von der SPD und von den Grünen,wenn man in einem Bereich einen Freibetrag einführt, sogeschieht dies, weil man erkannt hat, dass es zur Vermei-dung übermäßigen Verwaltungsaufwands im Verhältniszur Ergiebigkeit der betreffenden Steuereinnahmen klugist, Bagatellfälle unter den Tisch fallen zu lassen. Wennman diese Richtung einmal eingeschlagen hat, dann mussman logischerweise auch den nächsten Schritt gehen:Wenn sich Inflation und Gehaltsentwicklung fortent-wickelt haben, dann muss man die Freibeträge periodischanpassen. Das haben wir bei den Übungsleiterpauschalenund in anderen Bereichen gemacht. Das muss man auchauf diesem Gebiet machen. Wir schlagen konkret vor, denFreibetrag von 2 400 DM auf 4 200 DM, also um 75 Pro-zent, zu erhöhen. Nach zwölf Jahren des Stillstands ist daskeine übermäßige Steigerung.Wir würden damit den überwiegenden Teil der Trink-geldeinnahmen steuerfrei stellen, ohne dass – dieseBremse wäre nach wie vor vorhanden – die Möglichkeitzum Gestaltungsmissbrauch gegeben ist. Damit würdezugleich den Finanzbehörden das Signal gegeben, dassder Gesetzgeber nicht der Auffassung ist, angesichts derknappen Ressourcen der Finanzbehörden müsse sozusa-gen mit Hochdruck darauf geachtet werden, ob auch dieletzte Trinkgeldmark richtig deklariert ist. Stattdessenvertreten wir die Auffassung: Wir wollen, dass das, wasdurch Trinkgelder durchschnittlich verdient wird, steuer-frei bleibt.
Wir können auf diese Art und Weise eingeübte, relativeinfache Handhabungen in der betrieblichen Praxis fort-setzen, seien es Tronc- oder Verteilungssysteme mit Punk-ten, über die auch diejenigen, die nicht direkt an der Kun-denfront, sondern in der Küche, am Empfang oder woauch immer ihren Dienst tun, an der Gesamtleistung, diedas Haus erbringt, beteiligt werden. Unser Vorschlag istalso schlüssig. Er hat eine innere Logik. Er bewegt sichim Rahmen unseres synthetischen Einkommensteuerbe-griffes.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir sinduns einig, dass die Bürger bei uns zu viel Steuern und zuviel Abgaben zahlen.
Dieses Problem gehen wir gemeinsam an. Unsere Lösunglautet: dreimal 40 Prozent. Wenn wir ab September an derRegierung sind, dann werden wir mit Ihnen vereinbaren,das Ziel zu erreichen,
dass der Staat niemandem in diesem Land mehr als40 Prozent Steuern abnimmt, dass der Gesamtsozialversi-cherungsbeitrag und dass die Staatsquote unter 40 Prozentfallen. Das müssen wir in Deutschland erreichen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Klaus-PeterWillsch22288
Zur Tourismuspolitik von SPD und Grünen passt nureine Überschrift: Versprochen – gebrochen!
Dasselbe gilt für alles, was Sie im wirtschafts-, finanz undsteuerpolitischen Bereich vorgelegt haben. Im Mai 1998– Frau Kastner, Sie haben das damals verantwortet – wur-den die tourismuspolitischen Grundsätze der SPD aufge-stellt. In dem entsprechenden Papier steht zum ThemaMaßnahmen – ohne irgendeinen Vorbehalt – die schlichteForderung nach der Abschaffung der Trinkgeldbesteue-rung. Dieses Versprechen haben Sie den Bürgern gege-ben. Warum erfüllen Sie dieses Versprechen denn jetzt,wo Sie die Mehrheit haben, nicht?
Versprochen – gebrochen!Anfang 1999 sagte Bundesminister Müller bei derITB-Eröffnung – dies ist ein anderer Bereich, über den wirauch schon diskutiert haben –, er werde sich nachhaltigdafür einsetzen, dass die Umsatzsteuerbelastung im Ho-telleriebereich reduziert wird. Nichts ist geschehen. Ver-sprochen – gebrochen!Noch am 5. Februar dieses Jahres hat BundesministerMüller auf einer Veranstaltung des TourismusverbandesOstbayern in Plattling die Abschaffung der Trinkgeldbe-steuerung gefordert. Mein Kollege Hinsken verfolgt alles,was im touristischen Bereich passiert, sehr aufmerksamund er ist der beste Sachwalter für Tourismus in Deutsch-land überhaupt.
Er hat diese Aussage des Bundesministers nicht auf sichberuhen lassen, sondern gleich Müllers Kollegen Eichelgefragt, wie es mit diesem Vorhaben stehe. Auf HinskensFrage an das Haus Eichels, ob man die AuffassungMüllers teile, hat Herr Diller gesagt: Herr Müller begeg-net diesem Ansinnen mit Sympathie; aber an der Haltungdes Bundesfinanzministers ändert sich nichts.
Wir können uns doch einen Wirtschaftsminister spa-ren, der das, was er vorhat, nicht durchsetzen kann. Zu-mindest sollte er sich nicht öffentlich äußern; denn das,was er ankündigt, wird sowieso nicht umgesetzt.
Wir sind schon heute gespannt, welches neue VersprechenBundesminister Müller am nächsten Samstag bei derEröffnung der diesjährigen ITB geben wird. Später wirdes gebrochen. Wir sind sicher, dass es wieder so kommenwird.Der Fisch fängt bekanntlich am Kopf an zu stinken.Das lässt sich auch durch einschlägige Zitate von Bun-deskanzler Schröder belegen. Im März 1999 sagte er beimBundesverband der deutschen Tourismuswirtschaft zurTrinkgeldbesteuerung: Darum werde ich mich persönlichkümmern.
Das ist die schlimmste Drohung, die in diesem Land fürirgendeinen Politikbereich ausgesprochen werden kann.
Die Bürger wissen schon Bescheid: Der Bundeskanzlerliebt die Inszenierung im grellen Scheinwerferlicht. DerBundeskanzler liebt es, dem jeweiligen Publikum mitschmeichelnden Worten zu gefallen,
und der Bundeskanzler liebt markige Worte wie „Chef-sache“, „Machtwort“, „mich selbst kümmern“. Aberwenn es an die Umsetzung geht und die Fernsehschein-werfer ausgeschaltet sind, sucht der Bundeskanzler schonwieder nach der Schlagzeile für die nächste Tageszeitung.Die Menschen bleiben mit ihren Problemen zurück. Ver-sprochen – gebrochen, so auch beim Kanzler.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,Sie können sich nicht mehr so leicht wie wir, die CDU undCSU, auf steuersystematische Gründe berufen. Sie habendie Steuersystematik verlassen. Es gibt in unserer Ein-kommensbesteuerung den synthetischen Einkommens-begriff doch nicht mehr;
denn Sie haben die Mindestbesteuerung eingeführt, dieEinschränkung bei der Verlustverrechnung vorgenommenund das Vollanrechnungsverfahren aufgegeben. All daswaren Angriffe auf den Einkommensbegriff, der der Ein-kommensbesteuerung zugrunde lag. Insofern können Siediesen Vorwand heute nicht mehr vorbringen, wenn Siegegenüber den Interessengruppen und Ihren Wählern be-gründen wollen, warum Sie Ihre Wahlversprechen nichteinlösen.Sie haben mit Ihrer Steuerreform die großen Kapital-gesellschaften entlastet. Das hat zunächst ein Kursstroh-feuer an den Börsen entfacht, aber von den Entlassungenin Hunderter- und Tausenderpäckchen bei denen, die Sieso einseitig durch die Freistellung von Veräußerungserlö-sen entlastet haben, lesen wir noch immer. Für den Mit-telstand in diesem Land gab es Steine statt Brot. Das wirktsich heute aus.
Ich muss zum Schluss kommen.
Ansonsten würde ich Ihnen all das aufzählen, was Siesonst noch verbrochen haben. Teilzeitrecht: Jetzt kann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Klaus-PeterWillsch22289
man sagen, dass man nur noch halbtags arbeiten will, undein halbes Jahr später verlangen, wieder ganztags arbeitenzu können. Betriebsverfassungsrecht: Funktionärswirt-schaft statt Sozialpartnerschaft. 630-Mark-Jobs: Damithaben Sie den Arbeitsmarkt zugeriegelt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Willsch,
für die Aufzählung bleibt jetzt wirklich keine Zeit mehr.
Wir werden am
22. September die Mehrheit in diesem Land erringen und
dann eine Politik für Wachstum und Beschäftigung in die-
sem Land machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeWillsch, Ihre Rede war so, dass Sie dafür von uns nichteinmal Trinkgeld bekommen hätten.
Sie verdient die übliche Qualitätsmarke: Hokuspokus,Simsalabim. Es ist einfach nicht zu glauben, was Sie ge-sagt haben.
Ich komme aus dem Osten und weiß aufgrund Ihrer Re-gierungszeit genau, was „Versprochen – gebrochen“ heißt.
Zurück zum Thema. Ich denke, auch Ihnen, liebe Kol-leginnen und Kollegen, geht es so: Seit man mit dem Eurozahlt, gibt man entweder gar kein Trinkgeld oder einfachzu viel.
Ohne weiter darüber nachzudenken, runden wir die unge-nauen Beträge auf. Oder haben Sie den Kellner schon ein-mal gebeten, von 36,80 Euro auf 39,50 Euro heraus-zugeben?
Nein, man sagt dann: 40 Euro.
– Sie können ja nicht einmal zuhören. Wie wollen Siedann Beträge berechnen?
Damit habe ich ein wesentliches Problem geschildert,das im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht. Nicht ein-mal wir, die Gäste, wissen gleich, wie viel Geld wir fürguten Service drauflegen sollen.
Wie aber nun können es die Finanzämter genau wissen?Wir wissen, dass sie es nicht können. Und wenn man et-was nicht genau weiß, versucht man es mit Schätzungen.Damit schafft man aber ein neues Problem. Bei derSchätzung des Trinkgeldes muss nämlich eine Vielzahlvon Faktoren berücksichtigt werden: die finanzielle Leis-tungsfähigkeit der Kunden, die Höhe der Rechnung,
die Art des Betriebes, die wirtschaftliche Rahmenlage und– nicht zu vergessen – die typischen Eigenheiten der Gäs-te, die standortspezifisch sind. Zusätzlich erschwert wirddiese Schätzung dadurch, dass in Deutschland im Gegen-satz zu sehr vielen anderen Ländern kein fester Prozent-satz für Trinkgelder gilt. Diese Faktoren sind kaum ob-jektiv zu ermitteln, diese Daten kann kein Finanzamtverlässlich erheben und bewerten.
Es fehlen aber auch belastbare Angaben über die Höhe desSteueraufkommens aus der Trinkgeldbesteuerung.Rein steuersystematisch betrachtet ist eine Trinkgeld-steuer zweifelsfrei im Grundsatz richtig. Darüber habenwir jetzt und auch schon zu früheren Terminen hier sehrausführlich gesprochen. Trinkgelder stellen eben Ein-kommen dar wie andere Entlohnungen auch. Es ist si-cherlich nicht unproblematisch, wenn Einkommen inForm von Trinkgeldern steuerfrei gestellt wird, Einkom-men in anderer Form dagegen voll versteuert werdenmuss. Das Gerechtigkeitsgefühlwird hier sicherlich ver-letzt.Doch das Gerechtigkeitsgefühl kann auch durch diePraxis der Erhebung der Trinkgeldsteuer verletzt werden.Die Finanzämter haben im Umgang mit der Dienstleis-tungsgesellschaft scheinbar schlechte Erfahrungen ge-macht, denn einem Taxifahrer, einer Friseurin oder ande-ren Angestellten des Dienstleistungssektors trauen sienicht zu, einen ebenso freundlichen Service wie die ange-sprochenen Kellner zu bieten. Man vermutet deshalb, sieerhalten weniger Trinkgeld. Die Finanzämter gehen da-von aus, dass bei solchen Berufen der Freibetrag nicht er-reicht wird.Wenn der Steuerpflichtige, der Trinkgelder bezieht, inseiner Steuererklärung keine Angaben zur Höhe desTrinkgeldes macht, muss das Finanzamt davon ausgehen,dass es unterhalb des Freibetrages liegt. Während die Mit-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Klaus-PeterWillsch22290
arbeiter des Finanzamtes das den Friseurinnen glauben,versuchen sie bei Kellnern den Gegenbeweis anzutreten.Das ist relativ erfolglos, denn es gibt für die eingenom-menen Trinkgelder keine Aufzeichnungspflicht. Deswe-gen existieren die bereits angesprochenen Schätzungen.Ein komplizierter Fakt jagt hier den anderen: Fehlendeobjektive Maßstäbe bei der vorgenommenen Schätzungder Trinkgelder durch das Finanzamt wiegen finanzielleNachteile, die durch den erheblichen Verwaltungsauf-wand entstehen, nicht auf. Steuergesetze aber müssen zu-mindest als Nebenzweck die Erzielung von Einnahmenvoraussetzen.Zur Verwaltungsvereinfachung wurde 1954 ein Frei-betrag eingeführt, der dann im Jahre 1990 auf 2 400 DM– das sind 1 224 Euro, wie schon gesagt – verdoppeltwurde. Eine lohnende Verwaltungsvereinfachung ist da-durch aber keinesfalls eingetreten. Die Abhängigkeit vonden richtigen Angaben der Arbeitnehmer konnte durchdiese Regelung nicht aufgehoben werden. Denn selbstwenn Angaben des Schuldners vorliegen, müssen dieBehörden prüfen, ob er denn die Wahrheit spricht.
Zudem nehmen die pflichtbewussten Männer und Frauenvon den Finanzbehörden und -gerichten selbst dannSchätzungen vor, wenn ihnen keine Angaben vorliegen.Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten gehtdavon aus, dass im Hotel- und Gaststättengewerbe rund100 000 Personen Trinkgeld beziehen. Die Einnahmenvon etwa 90 Prozent der Beschäftigten bleiben unterhalbder festgesetzten Grenze. Die eingenommenen Steuernkönnen dann aber nur Peanuts sein, die durch hohe Ver-waltungskosten für Überprüfungen und Schätzungen da-hinschmelzen dürften. Ich denke, Verwaltungseffizienzbuchstabiert man anders. All dies führt zu Überlegungen,wie das Problem gelöst werden kann. Die von CDU/CSUund FDP vorgelegten Vorschläge lehnen wir ab. KollegeSchild hat hierzu Hinreichendes und Ausreichendes ge-sagt. Die Tourismuspolitiker der Koalition sind sich aberdarin einig, dass weiter an einer Lösung gearbeitet werdenmuss. Sie können sich sicher sein, dass wir das auch tun.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte gerne, damit wir wissen,über was wir reden, eine Passage zitieren:Eine Form der Anerkennung für die Beschäftigten imGastgewerbe stellt das Trinkgeld dar, mit dem Gästeihre Zufriedenheit ausdrücken. Die Besteuerung desTrinkgelds als Arbeitslohn verkennt den persönli-chen Charakter dieser Anerkennung und ist daher ab-zuschaffen.
Dieses Zitat stammt nicht aus FDP-Papieren, sondern ausden tourismuspolitischen Leitlinien der SPD, FrauKastner, von 1998.
Wir geben Ihnen jetzt die Gelegenheit, Ihr Wahlverspre-chen einzulösen. Sie müssen heute nur zustimmen und dieWähler sind mit Ihnen zufrieden.
Lieber Herr Schild, niemand versteht, dass Sie nichtzustimmen wollen. Wir haben auch im Finanzausschussdie Argumente ausgetauscht. Ihre Einwände sind ja alleberechtigt, aber bei der Diskussion sind die Gegenargu-mente immer schwächer geworden. Wie lässt es sich dennrechtfertigen, dass in Hotellerie und Gastronomie massivkontrolliert wird, in allen anderen Bereichen aber nicht?Das widerspricht der Gleichmäßigkeit der Besteuerungund kann deshalb so nicht aufrechterhalten werden.
Wir sprechen von steuersystematischen Überlegungen.Da habe ich nun wirklich Schwierigkeiten mit einem Ar-gument, das, so glaube ich, auch von Ihnen, lieber HerrWillsch, kam und das so nicht gelten kann. Es ist ja rich-tig: Es gibt höchstrichterliche Urteile, gemäß denenTrinkgeld versteuert werden muss. Aber, meine liebenKolleginnen und Kollegen, wir sind der Gesetzgeber.
Wenn es solche Urteile gibt, wir aber anderer Ansichtsind, dann ändern wir doch das Gesetz! Genau das wollenwir tun. Wer soll es denn sonst tun? Deshalb legen wirheute einen solchen Gesetzentwurf vor.
Auch Sie wissen ganz genau, dass für besonders gutenService Trinkgeld gegeben wird. Ich möchte das klarstel-len: Wenn ich schlecht bedient werde, gebe ich keinTrinkgeld. Wenn ich gut bedient werde, gebe ich Trink-geld. Aber dann möchte ich nicht, dass es in der Taschevon Herrn Eichel oder Herrn Diller landet. Es soll bei dembleiben, dem ich es gebe.
Wir müssen endlich bereit sein umzudenken. Wir ge-hen bisher nach der Devise vor: Wer nett serviert, wird ab-kassiert. Wir wollen Leistung belohnen. Deshalb müssenwir die Steuern insgesamt senken. Wir müssen in diesemZusammenhang das Steuersystem vereinfachen und vor-her muss die Trinkgeldsteuer abgeschafft werden.
Es lohnt sich übrigens, einen Blick in die Nachbar-länder zu werfen. Herr Diller, die Bundesregierung hattemir vor zwei Jahren auf eine diesbezügliche Anfrage
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Sylvia Voß22291
geantwortet, dass in fast allen Ländern der EuropäischenUnion Trinkgeld besteuert wird. Jetzt besagte eine neueAntwort der Bundesregierung, dass es nur zwei Ländergibt, von denen das bekannt ist. Alle Länder um unsherum besteuern Trinkgeld faktisch nicht. Das muss maneinmal wahrnehmen.
Jetzt, verehrter Herr Schild, noch einmal zu Ihren Ar-gumenten: Sie haben die Bareis-Kommission von 1994und, so glaube ich, auch Professor Kirchhoff angespro-chen. Von beiden Seiten wird die Abschaffung derTrinkgeldbesteuerung vorgeschlagen.
Professor Kirchhoff schlägt in seinem Karlsruher Entwurfzur Reform des Einkommensteuergesetzes vor – ich habees dabei und kann es Ihnen vorlegen –, auf die Trinkgeld-besteuerung zu verzichten. Das ist Kirchhoff im Original.
Er sagt eindeutig, dass trotz der weiteren Verbreiterungder Bemessungsgrundlage die Trinkgeldbesteuerung wegmuss.
– Nein, ich zeige es Ihnen nachher.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Sie wollen einen halben Schritt gehen, indem Sie sagen:Wir setzen den Freibetrag hoch. Lieber Herr Willsch, ichmuss Sie jetzt auf Folgendes hinweisen: Mehrere Kolle-gen aus Ihrem Ausschuss sagen öffentlich ebenfalls, dassdie Trinkgeldbesteuerung weg muss. Der bayerischeWirtschaftsminister Wiesheu hat öffentlich gefordert, dieTrinkgeldbesteuerung abzuschaffen. Deshalb fordere ichSie auf, nicht einen halben Schritt zu gehen, sondern mituns zu springen und mitzumachen.
Hätten Sie dies bereits früher getan, dann wären wir indieser Frage vielleicht einen Schritt weiter.Es geht noch um etwas anderes. Es geht darum, dassviele Tausende Menschen in unserem Land abends undam Wochenende arbeiten. Wir verlangen von ihnen einer-seits, dass sie freundlich sind, und haben andererseits dieMotivationsbremse Trinkgeldbesteuerung. Schaffen wirsie doch ab! Sorgen wir für mehr Servicequalität inDeutschland! Sorgen wir dafür, dass sich Lächeln inDeutschland wieder lohnt!
Ich appelliere jetzt wirklich an alle in diesem HohenHause. Der Kanzler hat es versprochen.
Herr Wiesheu hat es versprochen. Die SPD hat es ver-sprochen. Wirtschaftsminister Müller hat es vor zwei Mo-naten öffentlich versprochen.
Vor diesem Hintergrund kann es doch nicht sein, dass Sieheute die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung wiederablehnen. Das würde kein Mensch verstehen. Sorgen Siedafür, dass sich Lächeln wieder lohnt! Wenn Sie es heutenicht tun, dann wird Ihnen im September vielleicht dasLachen vergehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Auch wenn wir heute schonzum vierten Mal über die Frage der Trinkgeldbesteuerungdiskutieren, werden wir das Problem wiederum nicht lö-sen. Denn wo kein Wille ist, ist auch kein Weg.
Trinkgelder sind für viele Beschäftigte, insbesonderein der Gastronomie und im Friseurwesen, nach wie vorlebensnotwendig, da ihre Löhne so niedrig sind, dass siekaum zum Leben reichen. Eine entsprechende Sozial-abgabenpflicht durch den Arbeitgeber wäre eigentlicheher notwendig als eine Besteuerung.
Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit oder im Alter istaufgrund der niedrigen Löhne nicht gegeben und derGang zum Sozialamt gegenwärtig fast unvermeidlich.Steuersystematisch ist es sicher richtig, dass eigentlichjede Mark Einkommen besteuert werden muss. Es gibtviele Bereiche, in denen die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer einen ähnlich niedrigen Lohn wie die Beschäf-tigten in der Gastronomie haben und alles besteuert wird.Aber – das wissen Sie doch alle – gerade im Gastrono-miebereich arbeiten immer mehr, inzwischen die Hälfteder Beschäftigten, auf Teilzeitbasis. Im Vergleich zumproduzierenden Gewerbe werden relativ viele Lehrstellenangeboten. Das ist positiv. Doch die Mehrheit der jungenLeute suchen nach der Ausbildung ihr Glück in anderenBereichen, weil die Löhne so niedrig und die Arbeitsbe-dingungen schlecht sind.Hinzu kommt, dass eine tatsächliche Gleichstellungnicht sichergestellt werden kann, da die Höhe der Trink-gelder entweder freiwillig angegeben werden muss oderdas Finanzamt diese auf der Grundlage der Umsätzeschätzt.Letzteres ist gerade gegenwärtig sehr problematisch.Nach der Euroumstellung hat man zwar in manchen Gast-stätten das Gefühl, in den Speisekarten sei die D-Markdurch den Euro ersetzt worden und der Preis – und damitauch der Umsatz – habe sich verdoppelt. Das Trinkgeld ist
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Ernst Burgbacher22292
damit nicht automatisch gestiegen. Im Gegenteil – da kön-nen Sie einmal Kellner, Taxifahrer oder Ihre Friseurin fra-gen –, es wird gegenwärtig sehr viel weniger Trinkgeldgegeben als noch vor einem halben Jahr. Von dem Ver-waltungsaufwand in den Finanzämtern will ich hier garnicht reden.Wesentlich mehr Steuern könnten wir zum Beispieldurch zeitnahe Betriebsprüfungen einnehmen, aber dafürfehlen uns ja bekanntlich die Leute. Wesentlich mehrSteuereinnahmen könnten wir auch haben, hätten wirnicht diese verunglückte Reform zur Einkommens- undUnternehmensbesteuerung.
Gewinne aus dem Verkauf von Beteiligungen bleibensteuerfrei, nur bei den Niedriglohnempfängerinnen und-empfängern sind wir steuersystematisch konsequent.Den Kleinen beißen eben die Hunde.Die Erhöhung der Freibeträge, wie die CDU/CSUsie fordert, ist eine Nachbesserung, die für die Betroffe-nen eine gewisse Verbesserung bedeuten würde. Nur wirddas Problem dadurch nicht generell gelöst und wir habenes in der nächsten Legislaturperiode wieder auf der Ta-gesordnung.Die PDS-Fraktion unterstützt den Vorschlag der FDP,die Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Das ist endlich einmal ein
konsequenter Schritt.
Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Erhöhung des Trinkgeld-
freibetrages auf Drucksache 14/4938 . Der Finanz-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 14/6216, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist gegen die Stim-
men der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-
und der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach un-
serer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Einkom-
mensteuergesetzes auf Drucksache 14/5233. Der Finanz-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6216, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion, der PDS-Fraktion und einige Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der Mehrheit der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der
Abgeordneten Dirk Fischer , Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, Eduard Oswald, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei
Verkehrsdienstleistungen
– Drucksachen 14/4378, 14/8378 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Weißbuch
Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Wei-
chenstellungen für die Zukunft
KOM 370 endg.; Ratsdok. 11932/01
– Drucksachen 14/7409 Nr. 2.38, 14/8480 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Karin Rehbock-Zureich.
Sehr verehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! DieWachstumsprognosen hinsichtlich des Verkehrs sind ein-deutig: Bis 2015 nimmt der Personenverkehr in Deutsch-land um 20 Prozent zu, der Güterverkehr nimmt um64 Prozent zu. Die enormen Folgen dieser Zunahme lie-gen auf der Hand. Uns allen ist klar: Allein auf der Straßelässt sich diese Herausforderung nicht bewältigen. Dazubenötigen wir ein integriertes Verkehrssystem, das alleVerkehrsträger nach ihren Stärken einsetzt. Die Schienewird dabei eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt nicht nurfür die Situation in der Bundesrepublik, sondern dies giltauch EU-weit.Das Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis2010: Weichenstellungen für die Zukunft“ resultiert ausder zentralen Erkenntnis, dass die Steuerung der Ent-wicklungen im Verkehrsbereich notwendig und dasZusammenspiel aller Verkehrsträger unerlässlich ist, danur so die Mobilitätsbedürfnisse der Bürgerinnen undBürger und auch der Wirtschaft dauerhaft gesichert wer-den können.
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Heidemarie Ehlert22293
Die zentralen Rahmenbedingungen müssen erfülltwerden. Hier geht das Weißbuch in die richtige Richtung.Es bietet gute Ansätze und ist eine wichtige Basis für eineeuropaweit ökonomisch und ökologisch dauerhaft trag-bare Mobilität. Langfristziele sind die Entkopplung vonVerkehrs- und Wirtschaftswachstum und das Erreichenausgewogener Verkehrsträgeranteile. Nur so ist dem pro-gnostizierten Zuwachs zu begegnen. VorgeschlageneMaßnahmen sind die Einflussnahme auf die Preise desStraßenverkehrs, Begleitmaßnahmen zur Effizienzsteige-rung anderer Verkehrsträger und gezielte Investitionen intranseuropäische Verkehrsnetze. Dies ist wirtschaftlichsinnvoll und verkehrspolitisch notwendig.
Selbstverständlich gibt es auch Themen, die in diesemWeißbuch aus unserer Sicht nicht ausführlich genug be-handelt wurden. Hier sind es besonders die Maßnahmen,die dazu beitragen, Klimaschutzziele wie die Verringe-rung des Schadstoffausstoßes und der Lärmemissionen zuerreichen. Hier sind weitere Anstrengungen notwendig,gerade im Hinblick auf die Erreichung der Klimaschutz-ziele, die im Kioto-Protokoll vorgesehen sind.In den Beratungen auf europäischer Ebene zur Umset-zung der Weißbuch-Vorschläge muss die Bundesregie-rung vor allen Dingen folgende Akzente setzen: Da istzum einen die Stärkung der Wettbewerbsposition derSchiene sowie der See- und Binnenschifffahrt und zumanderen die Beschleunigung der Marktöffnung im Be-reich des Schienenverkehrs, und zwar im Personen- wieim Güterverkehr. Ein weiterer wichtiger Punkt ist dieStärkung der Interoperabilität. Hier legen wir besonderenWert auf die Verbesserung der grenzüberschreitendenVerkehre; denn dies ist der Markt der Zukunft.
Auch hinsichtlich der Stärkung der Intermodalität desVerkehrssystems haben die Bundesregierung und dieSPD-Fraktion zusammen mit den Grünen, unserem Ko-alitionspartner, wichtige Weichenstellungen für die Zu-kunft schon beschlossen und zum Beispiel die Mittel fürdie Kombiverkehre im Haushalt verstärkt, um so eindeutliches Zeichen zu setzen. Das Fördervolumen lag2001 bei 150 Millionen DM bzw. 75 Millionen Euro. Diekontinuierliche Erhöhung dieser Mittel seit Regierungs-übernahme spiegelt den politischen Willen wider, diePotenziale des Kombiverkehrs und die Verlagerung derGüterverkehre auf die Schiene zu unterstützen.
Ein ganz wichtiges Vorhaben, das Sie über Jahrzehntein den Schubladen liegen ließen, ist die Stärkung desVerursacherprinzips bei der Anlastung der Infrastruk-turkosten. Wir werden schrittweise von einer Haushaltsfi-nanzierung zu einer Nutzerfinanzierung der Verkehrsin-frastruktur übergehen.Des Weiteren wird auf der Tagesordnung der EU dieErhöhung der Verkehrssicherheit und die Reduzierung dernegativen Umweltwirkungen des Verkehrs stehen. Dasseine Reduzierung der Schadstoff- und Lärmemissionenvon besonderer Wichtigkeit ist, liegt auf der Hand. Wirhalten es aber auch für wichtig, die faire Anlastung allervom Verkehr verursachten Kosten auf EU-Ebene zu erör-tern. Dazu gehört auch das Thema Mineralöl- und Kfz-Besteuerung.
Bei diesem Thema gibt es noch große Defizite auf EU-Ebene, was eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedin-gungen im Straßengüterverkehr angeht. Dabei wird einSchwerpunkt der zukünftigen Verkehrspolitik auf der Ent-wicklung einheitlicher Rechtsvorschriften im Hinblickauf die Kraftstoffbesteuerung und die Nutzerentgelte lie-gen müssen.Im Arbeits- und Sozialrecht haben wir bereits Fort-schritte erzielt. Wir haben die Kontrollen verbessert undmit dem EU-Führerschein die Voraussetzungen dafürgeschaffen, dass sozialversicherungspflichtige Arbeits-verhältnisse die Normalität im Transportbereich werden.
Vergleichbare Wettbewerbsbedingungen kann es nurbei fairem Wettbewerb in ganz Europa geben. Um die Un-gleichgewichte in Europa zu vermindern, muss der Sub-ventionswettlauf beendet und Subventionsabbau betrie-ben werden.Gerade mit der Einführung der LKW-Maut gehen wirden ersten Schritt hin zu einer Nutzerfinanzierung derStraßenverkehrsinfrastruktur. Es erscheint in diesem Zu-sammenhang geboten, die Entlastungsmaßnahmen fürdas Verkehrsgewerbe auf die Tagesordnung zu setzen,denn vom Grundsatz her schafft eine LKW-Maut kein Un-gleichgewicht und keine Verzerrungen im Transport-markt, da die Maut für alle LKWs auf deutschen Auto-bahnen gilt, egal, aus welchem Land sie kommen.Die Transportwirtschaft leidet heute noch unter derkonzeptionslosen Liberalisierung vergangener Jahre. Lei-der sind gerade unter Ihrer Regierung die Märkte auf EU-Ebene liberalisiert worden, ohne dass zur gleichen Zeiteine Harmonisierung erfolgt wäre. Vielmehr ist zu IhrerRegierungszeit die Harmonisierung der Liberalisierunghinterhergerannt.
Wir haben damit begonnen, diese Defizite aufzuarbei-ten. Bis 2003 sollen nach unserem Willen die Subventio-nen im Mineralölsteuerbereich auslaufen. Auch haben wirdafür gesorgt, dass es bei der EU-Osterweiterung imSinne des heimischen Gewerbes zu ausreichenden Über-gangsfristen kommen wird.Die Maut für schwere LKWs auf deutschen Straßen,die seit Jahren auf der Tagesordnung stehen könnte, umhier zu einem gerechteren Wettbewerb unter den Ver-kehrsträgern zu kommen, wird im Vermittlungsverfahrenvon Ihnen leider behindert. Von Ihnen wird nach demMotto „Zurück in die Steinzeit“ aus rein taktischen Über-
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Karin Rehbock-Zureich22294
legungen heraus ein wichtiges Infrastrukturprojekt ver-hindert – dieses Projekt geht weg von der Haushalts-finanzierung und hin zu einer Nutzerfinanzierung, um eu-ropaweit eine Chancengleichheit der Verkehrsträgerherzustellen –, und zwar zum Schaden aller Verkehrs-träger.
Dieses Verhalten geht auch zulasten eines Infrastruk-turprojektes, bei dem wir durch die Einführung einerLKW-Maut Marktführer sein könnten, nämlich bei derEntwicklung eines über Satellit gesteuerten neuen Sys-tems. Hier könnten wir die Vorreiterrolle in Europa spie-len. Dies muss Ihnen bewusst sein, wenn Sie diese Ver-hinderungspolitik hier weiter betreiben.
Wir haben mit der LKW-Maut, deren Einnahmen indas Gesamtsystem der Verkehrsinfrastruktur zurück-fließen sollen, ein Projekt auf die Tagesordnung gebracht,das den integrativen Ansatz dieses Verkehrssystems deut-lich macht. Es macht darüber hinaus deutlich, dass wireine Chancengleichheit für alle Verkehrsträger erreichenwollen und dass wir dies europaweit angehen müssen. Mitden Harmonisierungsschritten, die hierfür nötig sind, ma-chen wir einen großen Schritt in Richtung Mobilität.Ich fordere Sie dazu auf, dass Sie dem Grundsatz die-ses Weißbuches, das für die Zukunft des Wettbewerbsaller Verkehrsträger in Europa eine neue Dimension dar-stellt, zustimmen und dass die Harmonisierungsansätze,die im Weißbuch aufgezeigt werden, von Ihnen mitgetra-gen werden. Lassen Sie uns gemeinsam diesen wichtigenSchritt tun! Ich denke, in diesem Hause sind alle der Mei-nung, dass dieses Weißbuch eine Grundlage für die Ge-staltung zukünftiger Mobilität darstellt, die wir alle unter-stützen müssen. Manches ist selbstverständlich auch ausunserer Sicht noch verbesserungswürdig. Die Bundesre-gierung hat von uns den Auftrag, diese Änderungsvor-schläge aufzugreifen und durchzusetzen.Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Wir haben unse-rerseits einen Antrag vorgelegt, der alle Punkte aufgreift.Wir bitten Sie, diesem Antrag zuzustimmen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dirk Fischer.Dirk Fischer (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich kann die Bundes-regierung nur dazu auffordern, die Interessen der deut-schen Verkehrswirtschaft und unserer Betriebe in Bezugauf die Arbeitsplätze bei kommenden Ratstagungen derEU-Verkehrsminister verstärkt vorzutragen; denn dieHarmonisierung derWettbewerbsbedingungen für dasVerkehrsgewerbe muss weiterhin als vordringliches Zielder europäischen Verkehrspolitik definiert werden.Natürlich haben Sie, Frau Kollegin Rehbock-Zureich,Recht, wenn Sie sagen, dass der Grundsatz „erst Harmo-nisierung, dann Liberalisierung“ nicht verwirklicht wur-de, sondern dass Mitte der 80er-Jahre die Liberalisierungan die erste Stelle gerückt ist und dadurch Harmonisie-rungsdefizite geblieben sind.
Daraus folgt, dass wir um so hartnäckiger einfordern müs-sen, dass diese Defizite abgebaut werden, weil in einemeuropäischen Binnenmarkt Wettbewerb nur unter glei-chen Bedingungen funktioniert.
Ich darf feststellen, dass wir immer noch keine fai-ren Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Verkehrs-gewerbe haben. Die Wettbewerbsverzerrungen bei denverkehrsspezifischen Gebühren und Abgaben, bei dentechnischen Regelungen und den Sozialvorschriften, ins-besondere bei ihrem Vollzug, müssen abgebaut werden.Denn aus dem unterschiedlichen Vollzug entstehen per-manent weitere Wettbewerbsverzerrungen.Unser Land ist sicherlich bei der Umsetzung und An-wendung von Gemeinschaftsrecht am EU-treuesten. Des-wegen müssen wir auch verlangen, dass die Kommissionden gleichmäßigen Vollzug des Gemeinschaftsrechts imAuge behält. Ohne Harmonisierung stehen viele mittel-ständische Unternehmen der Transportwirtschaft in unse-rem Lande vor dem Aus oder der Ausflaggung. Beideskostet Steueraufkommen, beides kostet Arbeitsplätze undverschärft die Arbeitsmarktsituation in unserem Land.
Natürlich müssen Sie sich immer wieder dazu beken-nen, dass Sie in dieser Legislaturperiode, in der Sie in die-sem Hause die Mehrheit haben, die Situation durch eineeinseitige Steuer- und Abgabenpolitik erheblich ver-schärft haben und dass Sie eben nicht – eingepasst in dieeuropäische Entwicklung – gehandelt haben, sonderndass Sie unser Gewerbe noch dramatisch höher einseitigbelastet haben, während andere Länder – Frankreich,Belgien, Italien
und insbesondere die Niederlande als ein Hauptwett-bewerber auf der Straße – ihrem Gewerbe gezielt durchEntlastung geholfen haben. Während dort also das Ge-werbe entlastet worden ist, ist es bei uns dramatisch mehrbelastet worden.Nun wollen Sie mit Ihrem Mautgesetz ohne einen aus-reichenden Harmonisierungsbeitrag voll zuschlagen. Hier
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Karin Rehbock-Zureich22295
soll unserem Gewerbe, das seinen Umsatz überwiegendauf unserem Markt generiert, ohne nennenswerte Harmo-nisierung eine achtfach höhere Gebührenbelastung aufge-brummt werden.
Frau Rehbock-Zureich, ich sage noch einmal: Es gehthier nicht um das Ob; es geht hier nicht um den Grundsatz.Auch wir haben in unserer Regierungszeit die Umstellungeiner zeitbezogenen Euro-Vignette auf eine strecken-bezogene, nutzungsabhängige Gebühr vorbereitet.
Es geht vielmehr um das Wie. Es geht hier nicht um Tak-tik, sondern um die Existenz deutscher Unternehmen undum die Arbeitsplätze deutscher Arbeitnehmer.
Bezüglich der Umstellung der Haushaltsfinanzierungauf die Nutzerfinanzierung kostet es verdammt vielGlaubwürdigkeit, wenn diejenigen, die bezahlen müssen,nachweisen, dass ein erheblicher Anteil des Aufkommensnicht in die Verbesserung der Infrastruktur geht, son-dern im Haushalt verschwindet. Es ist nahezu das Dop-pelte dessen, was heute schon über die Euro-Vignette imHaushalt verschwindet. Das und nichts anderes ist derKernpunkt unseres Konflikts.
Wir sind Ihnen – um das deutlich zu sagen – in unsererKompromissbereitschaft in zwei Punkten erheblich ent-gegengekommen: Zum einen werden wir bis zu einem ge-wissen Grad eine Quersubventionierung anderer Ver-kehrsträger und ihrer Infrastruktur akzeptieren, wenn esum die Erreichung eines Gesamtkompromisses geht.
Zum anderen sind wir im Hinblick auf die blauen Briefe,die diese Bundesregierung aus Brüssel bekommt, und imHinblick auf die nahezu unhaltbaren Zusagen, die bis zumJahre 2004 gemacht worden sind, sogar bereit, hinzuneh-men, dass der Status quo im Haushalt nicht angetastetwird. Aber alles, was darüber hinausgeht, muss zusätzlichals Harmonisierungsbeitrag erbracht werden. Es muss fürdas Gewerbe zumindest einen geringen flankierendenSchutz geben.
Das ist der Punkt, um den wir streiten, nicht aber um denGrundsatz.
Es gibt auf europäischer Ebene dringenden Hand-lungsbedarf, da die Kommission mit ihrem Weißbuch nurdie Wettbewerbsregulierung und weniger die Wettbe-werbsharmonisierung beabsichtigt. Ich glaube, dass dierot-grüne Regierungskoalition Unrecht hat;
denn das Weißbuch stimmt in wichtigen Punkten ebennicht mit den verkehrspolitischen Zielsetzungen desDeutschen Bundestages überein. Der Deutsche Bundes-tag ist gegenüber Brüssel, gegenüber der Kommission,geradezu verpflichtet, diese Nichtübereinstimmungenherauszuarbeiten.Stetiges Verkehrswachstum bedingt einen großen In-frastrukturausbaubedarf. Die EU-Kommission sieht abervornehmlich Infrastrukturinvestitionen zugunsten derSchiene vor. Ich halte das für einigermaßen weltfremd.Wenn ich mir Ihren Verkehrsbericht anschaue und die Zu-wächse im Straßengüter- und Straßenpersonenverkehr,die dort aufgezeigt und prognostiziert werden, zugrundelege, muss ich sagen, dass ich dieses für einigermaßenweltfremd halte. Es ist keine realistische Perspektive fürdie anderen Verkehrsträger.
Richtigerweise stellt die Kommission fest, dass dasFehlen leistungsfähiger Verkehrsinfrastrukturnetze weit-gehend unterschätzt wird. Mit Sicherheit hat sie damitaber auch unsere Bundesregierung gemeint, die dieses ineklatanter Weise tut. Es ist doch ein Widerspruch, wennSie in der Investitionspolitik nur einseitige Schwerpunktesetzen, die überhaupt nicht umsetzbar sind.Meine Damen und Herren, bei der Revitalisierung derEisenbahnen will Europa die Trennung von Netz undBetrieb als Ziel der Schienenverkehrspolitik verwirk-lichen. Das steht ausdrücklich in der EU-Verord-nung 1107/70 neu, der so genannten Infrastrukturricht-linie.
Damit sollen Wettbewerb, Wachstum, ein geringerer öf-fentlicher Zuschussbedarf und Privatisierung möglichund monopolistische Strukturen aufgebrochen werden.Die Grundvoraussetzung dafür ist die Unabhängigkeitdes Netzes;
denn für die Schaffung weiterer Kapazitäten ist dies uner-lässlich. Ich kann nur eines sagen: Frau Rehbock-Zureich,dieses mickrige und unzureichende Task-Force-Ergebnisist, gemessen an dem, was Herr Minister Bodewig inStuttgart auf dem Parteitag der Grünen gesagt hat – die-sem haben Sie zugejubelt –, in Wahrheit Bodewig hochminus Drei.
Eines ist doch ganz klar – das sagt Ihnen jeder Sachver-ständige und Sie können auch die Kommission fragen –:
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Dirk Fischer
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Mit diesem Ergebnis erfüllt Deutschland die EU-Richt-linie nicht.
Es besteht ein weiterer Handlungsbedarf. Unseremmittelständischen Verkehrsgewerbe dürfen keine weite-ren Sonderlasten aufgebürdet werden, weil ein fortbeste-hender und immer höherer Zuschussbedarf unseres mo-nopolistischen Eisenbahnunternehmens den Wettbewerbverhindert. Wenn wir uns die finanziellen Ergebnisse derBahnreform bis heute anschauen, erkennen wir, dassdiese Aussage sehr zutreffend ist. Sie können die Hand-lungsverweigerung auf einem Felde nicht durch ein über-bordendes Belasten der mittelständischen Verkehrsunter-nehmen ausgleichen. Das ist eine Politik, die nach meinerAuffassung voll daneben geht.
Zum Bau der transeuropäischen Netze ist zu bemer-ken, dass in den Randregionen deutlich wird, dass dieNachbarländer ihre Baumaßnahmen bis an die Grenzevorangetrieben haben. Die nicht sehr finanzstarke Tsche-chische Republik hat eine entsprechende Autobahnver-bindung gebaut. In Deutschland gibt es auf der A 6 nachwie vor erhebliche Defizite.
Das ist die Wirklichkeit. Dort werden die Projekte voran-getrieben, während in Deutschland zu viel diskutiert undzu wenig getan wird.
Deutschland darf sich nicht mit wohlklingenden Ankün-digungen zufrieden geben, sondern muss auch die kon-kreten Maßnahmen umsetzen.Wenn der Bundesverkehrsminister dem DeutschenBundestag bei der Debatte über das Weißbuch der EU-Kommission – das ist sozusagen die Magna Charta der eu-ropäischen Verkehrspolitik – die Ehre seiner Anwesenheitgegeben hätte – das hätte ich für erforderlich gehalten –,würde ich ihm jetzt zurufen: Herr Minister Bodewig, dieBauleistung muss hoch- und die Propagandaleistungmuss heruntergefahren werden. Das wäre allemal besser,als permanent umgekehrt zu handeln.
Lassen Sie mich ein Wort zu unserem Antrag „Weiß-buch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienst-leistungen“ sagen; ich komme damit auf den Ausgangs-punkt meiner Rede zurück. Auch hier im Hause ist esunbestritten, dass es gravierende Harmonisierungsdefi-zite bei den Wettbewerbsbedingungen im Bereich derTransportwirtschaft, nämlich beim Straßengüterverkehrund bei der Binnenschifffahrt, gibt. Die Beseitigung die-ser Defizite im europäischen Güterverkehrsmarkt ist Zielder zukunftsorientierten Verkehrspolitik meiner Frak-tion.Wir wollen die europäische Marktordnung weiterausbauen. Wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass faireWettbewerbsbedingungen auch für unsere deutschen Un-ternehmen entstehen.Die Harmonisierung ist Voraussetzung für die Markt-öffnung. Die EU-Kommission muss daher zügig einWeißbuch über die noch fortbestehenden Regelungs- undVollzugsdefizite zur Harmonisierung der Wettbewerbs-bedingungen für die Verkehrsdienstleistungen im europä-ischen Binnenmarkt – quasi wissenschaftlich genau – er-arbeiten. Daraus ergibt sich auch Regelungsbedarf imHinblick auf den Beitritt der Staaten aus Mittel- und Ost-europa und die damit verbundene Erweiterung des Ver-kehrsmarktes; denn eine Erweiterung in dieser Situationführt zu weiteren Marktverwerfungen.Das Weißbuch soll als Grundlage dienen, einen Maß-nahmenkatalog zu erstellen, der einen zügigen Abbaudieser Defizite bewirkt und damit faire Wettbewerbsbe-dingungen für alle Marktteilnehmer gewährleistet. Esreicht nicht aus, schöne Ziele zu definieren, sondern esmüssen konkrete und konsequente Maßnahmen ergriffenwerden.
Ich sage deutlich: Wer das Weißbuch ablehnt, will dieWahrheit verschleiern und nicht zum Handeln gezwungenwerden. Einen SPD-Antrag, in dem dies von der Europä-ischen Kommission gefordert wird, habe ich bisher nochnicht gelesen. Wir sind im Interesse unserer deutschenFirmen und ihrer Arbeitnehmer zum Handeln verpflichtet.Deswegen müssen wir Druck auf Europa machen, endlichdie Wahrheit auf den Tisch zu legen. Dann fällt, aufDeutsch gesagt, der politische Handlungskatalog untenheraus.
Ich erteile KolleginFranziska Eichstädt-Bohlig das Wort.
legen! Lieber Kollege Fischer, nach Ihrer Rede habe ichfolgenden Eindruck: Erstens: Sie haben das Ergebnis derTask Force nicht verstanden.
Zweitens: Sie haben das vorliegende Weißbuch der EUnicht verstanden. Drittens – das ist Ihr Hauptproblem –:Sie haben offenbar die Verkehrsprobleme, vor denen einLand mitten in einem sich erweiternden Europa heute undin den nächsten Jahren steht, nicht begriffen.Ihre Forderung heißt: Weiter so wie bisher! Steckt im-mer mehr Geld in den Straßenbau! Baut einfach die dritteund vierte LKW-Spur, um die Warteschlangen der LKW,die praktisch rollende Lagerhallen sind, zu vermeiden. Solösen wir die Probleme. – Das kann es wirklich nicht sein.
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Dirk Fischer
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Ich hatte gedacht, Sie hätten im Laufe der Legislaturperi-ode ein bisschen mehr von den Problemen begriffen.
– Die Probleme muss man doch endlich ernst nehmen.Ich nenne Ihnen jetzt die Zahlen der EU, die für einLand in der Mitte Europas besonders gravierend sind: Al-lein bis 2010 werden wir einen Zuwachs von 38 Prozentim Personen- und von 24 Prozent im Güterverkehr haben.Wenn diese Zahlen zutreffen, dann müssen wir von die-sem „Weiter so!“ im Straßenausbau wegkommen. Denn:Erstens. Die Straßen sind schon sehr verstopft. Zweitens.Wir können nicht – wir haben über den drohenden blauenBrief schon diskutiert – ständig weiter Geld in denStraßenausbau stecken. Das geht nicht. Dass dies auchökologisch unverträglich ist, sollten Sie inzwischen ge-lernt haben.
Demgegenüber ist gerade das EU-Weißbuch für die eu-ropäische Verkehrspolitik bis 2010 ein sehr guter Hand-lungsrahmen, um eine verträgliche Mobilität nationalund in Europa zu gewährleisten. Es ist auch eine Bestä-tigung für die Politik, die Rot-Grün in diesen vier Jahrenbegonnen und umgesetzt hat und auch weiterhin betreibenwird. Von daher gibt die EU mit ihrem Weißbuch die ent-scheidende Unterstützung für unsere Strategie.Unsere Strategie ist: Die jahrzehntelange einseitigeBevorzugung der Anteile für den Verkehrsträger Straßemuss endlich zurückgefahren werden. Dafür muss derAusbau des umweltfreundlichen Schienenverkehrs undder Binnenschifffahrt dort, wo sie umweltverträglich ist,gefördert werden. All dies muss in ein richtiges Gleichge-wicht gebracht werden. Es muss umgesteuert werden, umdie Straßen, insbesondere unsere überfrachteten Autobah-nen, endlich zu entlasten. Dieses Ziel werden wir in Ko-operation mit der EU weiterhin verfolgen.
Ich muss ganz klar sagen: Die LKW-Maut, die inGrundzügen auch von Ihnen unterstützt wird, ist ein ganzzentraler Baustein. Ich sage es noch einmal – meine Kol-legin Karin Rehbock-Zureich hat es eben schon gesagt –:Es geht nicht, dass Sie jetzt einfach Forderungen stellen,man solle jetzt über so viel Harmonisierung all das weg-kompensieren, was die LKW-Maut eigentlich bringt, da-mit wir endlich ein Stück weit von der Steuerfinanzierungzur Nutzerfinanzierung kommen. Das ist das Erste, waswirklich sehr wichtig ist. Wir können keine Harmonisie-rung machen, die das Ganze letztlich wieder aufkom-mensneutral macht. Ich bin gespannt, was Sie, Herr Kol-lege Friedrich dazu sagen. Wir haben es erlebt, wie Sie inder Arbeitsgruppe zum Vermittlungsausschuss die Ver-handlungen blockiert haben.Ich sage als Zweites – es ist sehr wichtig, sich das klarzu machen –: Die Probleme des Verkehrsgewerbes liegennicht so sehr in diesem Bereich, sondern im Sozialdum-ping, der Konkurrenz von Billigstfahrpreisen in einemruinösen Wettbewerb um niedrige Löhne und um niedrigs-te Steuerabgaben, indem man den Standort des Unterneh-mens ins Ausland verlagert. Von daher besteht das Pro-blem – Sie hatten das vorhin zugegeben – , dass wirwährend Ihrer Regierungszeit nicht nur in Deutschland,sondern europaweit ein Zuviel an Liberalisierung hatten,das zu einem ruinösen Wettbewerb geführt hat. An diesenSchrauben muss gedreht werden. Die LKW-Maut ist einsinnvolles Instrument, gerade um mehr Chancengleich-heit und Gerechtigkeit zwischen den ausländischen Fahr-zeugen, die durch unser Land fahren, und unseren eigenenzu bekommen. Das wird auch vom Verkehrsgewerbelängst anerkannt. Von daher heißt unsere Formel: EinStück weit Harmonisierung, Ausgleich und Kompensa-tion über die Mineralölsteuer und ansonsten eine LKW-Maut, die als Lenkungsinstrument wirklich greift.Als Drittes ist besonders wichtig, dass die Maut antei-lig auf Straße, Schiene und naturverträgliche Binnen-schifffahrt gelenkt wird und dass wir damit Schritt fürSchritt in ein integriertes Verkehrskonzept umsteuern undein Verhältnis im Verkehr erreichen, das die Straße ent-lastet und der Schiene das abverlangt, was sie wirklichleisten kann. Daran arbeiten wir systematisch weiter, auchdie nächsten vier Jahre in Kooperation mit Europa. Dannsind wir ein Stück weiter.
Das Wort hat nun Kol-
lege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich in die-ser Wahlperiode alles richtig verstanden habe, dann hatdie Bundesregierung unter Führung von SPD und Grünendem deutschen Gewerbe im Januar 2001 versprochen, mitder Umstellung der Maut von der Zeitbezogenheit auf dieStreckenbezogenheit würde es eine Harmonisierung aufgrößtmöglichem europäischen Niveau geben.
Frau Rehbock-Zureich, Sie sagen, wir hätten eine Har-monisierungslast hinterlassen. Wenn man zugrunde legt,was Sie im Januar 2001 dem Gewerbe versprochen haben,und sich dann anhand der vorgelegten Zahlen anschaut,was Sie mit der Maut dem Gewerbe zur Verfügung stel-len, kann man sagen: Offensichtlich ist der Harmonisie-rungsbereich, den Sie akzeptieren, in der Größenordnungvon 260 Millionen Euro zu sehen. Mehr sind Sie nicht be-reit, dem Gewerbe zur Verfügung zu stellen, und dies beieiner Gesamtbelastung des deutschen Gewerbes durch dieMaut von immerhin 2,6 Milliarden Euro. Das ist ungefährein Verhältnis von 10 zu 1.Wenn das alles zutrifft, sollten Sie sich fragen lassen,wem Sie eigentlich Vorwürfe machen. Zu einem Zeit-punkt, wo Sie angeblich Harmonisierungsdefizite festel-len, beschließen Sie die Ökosteuer. Sie beläuft sich mitt-lerweile auf 24 Pfennig plus 4 Pfennig Umsatzsteuer. Siebeschließen eine Maut, die das deutsche Gewerbe nicht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Franziska Eichstädt-Bohlig22298
entlastet, sondern belastet. Das alles geschieht vor demHintergrund der zu erwartenden EU-Osterweiterung.Dann, Frau Kollegin Rehbock-Zureich, hilft Ihnen auchkeine noch so lange Übergangsfrist.
Wenn sie nämlich in einer vorgegebenen Zeit nicht in derLage sind, national die Kosten zu senken, dann könnenSie sich die Übergangsfrist sparen. Sie verlängern eigent-lich nur das Problem, aber Sie lösen es nicht. Das ist daseigentliche Defizit. Deswegen verstehe ich nicht, warumSie im Ausschuss ein Weißbuch auf Antrag der Kollegender Unionsfraktion ablehnen, in dem Europa aufgefordertwird, Defizite in der Harmonisierung einmal deutlich zumachen. Denn dann weiß man, wo man ansetzen muss.Es nützt doch nichts, im Wege einer Selbstfindungs-gruppe nach dem Motto „Gut, dass wir darüber geredethaben“ in jedem Weißbuch der EU erneut festzustellen,dass zwar aufgezeigt worden ist, was zu tun ist, dass aberder Rat – oder wer auch immer – das nicht verstanden hat.Es nützt dem deutschen Gewerbe nichts und es nützt erstrecht nichts, auf nationaler Ebene dauernd neue Kostenfür das deutsche Gewerbe zu erfinden, die andere umge-hen.Wenn ich mich recht erinnere, dann ist das, was imJahr 2000 von allen schon genannten Ländern dem jewei-ligen Gewerbe eingeräumt worden ist, mit Zustimmungder Bundesregierung erfolgt, ohne dass deswegen Wider-spruch eingelegt worden ist. Es nützt dem deutschen Ge-werbe auch nichts, wenn Sie jetzt sagen, das läuft zumJahresende aus. Die Spritpreise steigen mittlerweile wie-der an. Die Rohölpreise steigen ebenfalls. Ich bin ge-spannt, wie es weitergeht. Sie werden sich wundern, wasandere Länder – Italiener, Belgier, Franzosen oder Nie-derländer – noch alles erfinden, um aus diesem Verspre-chen wieder herauszukommen.Wir kommen zum Thema Bahn. Das ist offensichtlichdie allein selig machende Lösung. Im Jahr 2001 ist großgetönt worden, die Bahn habe einen Güterzuwachs inHöhe von 1,5 bis 2 Prozent erzielt. Das galt als Leistungvon Herrn Mehdorn. Wir haben erwidert, das liege aus-schließlich an der Wirtschaftsentwicklung insgesamt.Jetzt liegt die Statistik für das Jahr 2001 vor: minus 2 Pro-zent. Das ist dann offensichtlich auch die Leistung derBahn. Denn wenn der Zuwachs die Leistung der Bahn ist,dann gilt das auch für ein Minus. Deswegen verstehe ichnicht, dass Sie uns dauernd erzählen wollen, mit Ihrer Po-litik würden Sie Probleme im Hinblick auf den Güter-markt lösen. Nein, es bleibt dabei: Wir müssen endlichWettbewerb auf der Schiene darstellen.
Wir müssen echte Leistungsfähigkeit auf der Schieneschaffen, sonst wird das Ganze nichts. Selbst die Bahngibt zu: 15 Cent Maut pro Kilometer auf der Autobahnbringen eine Güterverlagerung von der Straße auf dieSchiene von bestenfalls 1 Prozent. Wenn das Ihre Lösungist, dann stehen Sie sehr schnell im Wald. Deswegen wirdes Zeit, dass ab September wieder eine andere Verkehrs-politik stattfindet.In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Uni-onsfraktion und werden Ihre Anträge ablehnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wohl im-mer so, dass man einem umfangreichen Weißbuch wiedem vorliegenden alles oder fast alles – viele Fakten,Vorteile und eine ganze Reihe liebenswerter Vorhaben –für alle Fraktionen entnehmen kann. Das hat auch Vor-teile. Ich würde zum Beispiel das in dem Weißbuch vor-gesehene notwendige Vorhaben erwähnen, die Zahl vonjährlich 40 000 Straßenverkehrstoten in Europa zu hal-bieren.Ich meine, dass das Wichtigste, das man zum Weiß-buch feststellen kann, der folgende Widerspruch ist. Ei-nerseits wird in der Gesamtorientierung zu Recht festge-stellt, dass eine Verlagerung auf Schiene und Wasser, undzwar eine Rückführung der Anteile von Straße und Luftauf das Niveau von 1998 zugunsten von mehr Anteilenvon Schiene und Wasser, notwendig ist.
Gleichzeitig wird aber allseits festgestellt, dass manweiter Flughäfen und Straßen bauen und Engpässe be-seitigen müsse. Ich meine, wir machen dabei auf EU-Ebene den gleichen Fehler wie auf bundesdeutscherEbene, indem man eine parallele Förderung aller Ver-kehrsträger vornimmt. Aber auf dem derzeitigen hohemNiveau wird man keine wirkliche Wende in diesem Be-reich erreichen.Was stattdessen notwendig wäre, sind zwei Dinge.Erstens sollten wir das Thema Transportintensität un-tersuchen, nämlich die Tatsache, dass für eine Ware dergleichen Qualität von Jahr zu Jahr – ein Glas Wasser, einMikrofon, ein Auto oder ein Fahrrad – mehr Transport-kilometer anfallen und immer weitere Wege zurückge-legt werden, ohne dadurch in irgendeiner Weise einenwirtschaftlichen Vorteil zu haben. Zweitens müssen wirüber die individuelle Mobilität diskutieren, bei dernicht über mehr Kilometerfraß mehr Genuss heraus-kommen muss. Zum Beispiel bietet Ryanair an, für 10,20 oder 30 Euro europaweit überall hinfliegen zu kön-nen. Selbstverständlich wird dann jede Art von Touris-mus im eigenen Land bzw. im Nahbereich nicht mehrrealisierbar sein.Interessant ist, dass keiner meiner Vorredner – ich kanndas beurteilen; denn ich bin der letzte Redner in dieser De-batte – darauf hingewiesen hat, dass auf Seite 11 desWeißbuches eine grundlegende Strategie zur Entkopp-lung von Verkehrswachstum und Wirtschaftswachs-tum gefordert wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Horst Friedrich
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– Kollege Friedrich, eine solche Entkopplung findetnicht im Verkehrs-, sondern nur im Energiebereich statt.Die Industrie verbraucht nämlich trotz Wirtschafts-wachstums immer weniger Energie. Aber im Verkehrs-bereich geht man noch immer davon aus, dass der Ver-kehr im gleichen Maße wie die Wirtschaft wachsenmuss. Das hat beispielsweise schon die Kollegin Reh-bock-Zureich gleich zu Beginn ihrer Rede deutlich ge-macht. Sie sprach davon, dass das Wirtschaftswachstumirgendwie auf die Verkehrsträger verschoben werdenmüsse. Ich glaube, dass es nicht verschoben werdenmuss. Nach meiner Auffassung ist es möglich, das öko-nomische System so zu gestalten, dass es Wirtschafts-wachstum ohne Zunahme des Verkehrs gibt. Das müsstedas Ziel sowohl auf bundesdeutscher Ebene als auch aufEU-Ebene sein.Danke schön.
Ich schließe die Aus-sprache.Zusatzpunkt 8: Wir kommen zur Abstimmung über dieBeschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8378 zu demAntrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weiß-buch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienst-leistungen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/4378 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP bei Stimmenthaltung der PDS an-genommen.Zusatzpunkt 9: Wir kommen zur Abstimmung über dieBeschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8480 zu der Un-terrichtung durch die Bundesregierung über das Weiß-buch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010:Weichenstellungen für die Zukunft“. Der Ausschuss emp-fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnisder genannten Unterrichtung, eine von den Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vorgeschlageneEntschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimmver-hältnissen wie zuvor angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss in Kenntnis der genannten Unterrichtung, einevon der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP abgelehnt.Ich rufe die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Ver-ordnung der BundesregierungVerordnung über den Versatz von Abfällen un-ter Tage und zur Änderung von Vorschriftenzum Abfallverzeichnis– Drucksachen 14/8197, 14/8321 Nr. 2.1, 14/8523 –Berichterstattung:Abgeordnete Rainer Brinkmann
Werner WittlichMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Ver-ordnung der BundesregierungVerordnung über die Entsorgung von Altholz– Drucksachen 14/8198, 14/8321 Nr. 2.2,14/8522 –Berichterstattung:Abgeordnete Rainer BrinkmannFrank ObermeierMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterIch eröffne die Aussprache und schließe sie gleich wie-der; denn alle Reden sind zu Protokoll gegeben, und zwardie der Kolleginnen Hustedt, Homburger, Bulling-Schröter und Altmann sowie der Kollegen Brinkmann,Wittlich und Obermeier.1)Zusatzpunkt 10: Wir kommen zur Abstimmung überdie Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnungder Bundesregierung über den Versatz von Abfällenunter Tage und zur Änderung von Vorschriften zum Ab-fallverzeichnis, Drucksache 14/8523. Der Ausschussempfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8197 zu-zustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS ange-nommen.Zusatzpunkt 11: Wir kommen zur Abstimmung überdie Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung derBundesregierung über die Entsorgung von Altholz,Drucksache 14/8522.Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache14/8198 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenvon SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung von FDP und PDS angenommen.
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Dr. Winfried Wolf22300
1) Anlage 2Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JohannesSinghammer, Horst Günther , UlrichAdam und weiterer AbgeordneterDokumentation der freigelegten russischenGraffiti-Inschriften im Reichstagsgebäude inhistorisch gerechtfertigtem Umfang– Drucksache 14/6761 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenJohannes Singhammer das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kein an-deres Gebäude in Deutschland trägt ein so hohes Maß anGeschichtlichkeit wie der Sitz des Deutschen Bundesta-ges, der Reichstag. Dieser Antrag will zu einer Balance,zu einem inneren Gleichgewicht dieses Gebäudes mit sei-nen historischen Häutungen und der erfolgreich prakti-zierten demokratischen Bundesrepublik Deutschland bei-tragen.Um jedes Missverständnis von vornherein auszu-schließen: Es geht nicht darum, die Eroberung des Reichs-tags durch die Rote Armee und damit das tatsächliche,aber auch symbolhafte Ende der nationalsozialistischenSchreckensherrschaft zu verdrängen, zu verwischen odergar die Geschichte umzuschreiben. Niemand von den Un-terzeichnern beabsichtigt Derartiges.Der jetzige Zustand kann aber nicht überzeugen. Aufmehr als 100 Metern Seitenlänge in mehreren Etagen desReichstags erscheinen Graffiti der sowjetischen Soldaten.An keiner Stelle des Gebäudes werden die in kyrillischerSchrift angebrachten Signaturen übersetzt.
An keiner Stelle erfolgt eine Erklärung des historischenZusammenhangs. Zu 90 Prozent enthalten die Graffiti Na-men, in den wenigsten Fällen Inhalte. Eine erhebliche An-zahl der Originalgraffiti wurde beseitigt. Das Selektions-kriterium war vermutlich ein obszöner oder verletzenderInhalt. Jedenfalls ist bereits eine Auswahl getroffenworden.Unser Antrag hat zum Ziel, dass die Graffiti an einemOrt konzentriert erhalten bleiben, dass sie übersetzt wer-den und dass den Besuchern der historische Hintergrunddes Reichstags erklärt wird. Wir wollen darüber hinauseine Debatte dazu anstoßen, wie sich die erfolgreichsteDemokratie Deutschlands, die Bundesrepublik und ihrParlament, in dieses Gebäude in einer lebendigen Weiseeinbringen kann.Die Eroberung des Reichstagsgebäudes und der Siegüber den Nationalsozialismus waren zugleich Ausgangs-punkt zunächst eines demokratischen Experiments, mitt-lerweile einer fest verankerten erfolgreichen Demokratie,der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Umzug desDeutschen Bundestags im Jahr 1999 von Bonn nach Ber-lin in den Reichstag begann keine neue Zeitrechnung; siebegann schon wesentlich früher, nämlich spätestens 1949mit der Gründung der Bundesrepublik. Seither haben Ge-nerationen von Parlamentariern eine erfolgreiche, fest ge-gründete demokratische Staatsform ausgebaut. Daraufkönnen wir stolz sein.
Aber kaum etwas im Gebäude des Reichstags erinnertdaran. Während die Parlamente unserer europäischenNachbarn oder auch die Parlamente in Übersee Repräsen-tanten und Grundlagen ihrer Demokratie eindrucksvolldarstellen, findet Erinnerung im Sinne von Realpräsenzals Vergegenwärtigung unserer demokratischen Ge-schichte in diesem Parlamentsgebäude kaum oder nur un-genügend statt. Nirgendwo erscheint der Text des Grund-gesetzes, weder im Original noch dem Inhalt nach, alsGrundlage unserer parlamentarischen Verfasstheit.
Nirgendwo wird auf die tragende Struktur der Bundes-republik, die Bundesländer, hingewiesen. Jeglicher Hin-weis auf die Länder fehlt. 100 Meter Graffiti, aber keineinziges Wappen eines Bundeslandes an den Wänden desReichstags, das führt zu einer ungewollten Verdrängungder Bundesstaatlichkeit.Nirgendwo wird auf die Präsidentinnen und Präsiden-ten dieses Hohen Hauses hingewiesen. Jede Erwähnungder Persönlichkeiten, die den Parlamentarismus nach1945 geprägt haben, fehlt, während in Bonn vor dem Um-zug – viele werden sich daran noch erinnern –, dieGemälde der Präsidenten, beispielsweise im Vizepräsi-dentenbereich des Plenarsaalbaus, zu sehen waren.Damit entfernt sich der Bundestag von einer Tradition,die andere angesehene Parlamente pflegen. Selbstver-ständlich hängen im Capitol in Washington, der Haupt-stadt der Vereinigten Staaten, die Bilder der bisherigenSpeakers. Natürlich können beispielsweise in Österreichdie Porträts aller Präsidenten im Empfangssalon betrach-tet werden. Ähnliches gilt für andere demokratische Län-der. Die Kanzler der deutschen Nachkriegsdemokratie,wie Konrad Adenauer oder Willy Brandt, sind im Reichs-tag nicht existent.Das Reichstagsgebäude in seiner jetzigen Form ist dasErgebnis des Wunders der deutschen Einheit. Warumweist beispielsweise nichts auf diese glückliche Wendungder deutschen Geschichte hin?
Warum wird der Einigungsvertrag bzw. der Zwei-plus-Vier-Vertrag an keiner Stelle gezeigt?
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Präsident Wolfgang Thierse22301
Die Verengung der Geschichtlichkeit auf 100 Meternicht erklärte Graffitidarstellung verspielt eine Chance.Wir alle wissen, dass sich Deutschland mit seiner Ge-schichte schwer tut und Gedenktage in unserem Landvielfach als Freizeit verstanden werden. Viele beklagenden Mangel an positiver Geschichtlichkeit. Nutzen wirdeshalb die Chance, unsere erfolgreiche Demokratie andem Ort darzustellen, wo sie sich täglich ereignet! Graf-fiti allein sind zu wenig für dieses Haus.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Singhammer, was Sie so-eben gemacht haben, war sehr geschickt: Erst stellen Sieeinen Antrag, mit dem Sie dazu auffordern, etwas zu ent-fernen, und dann sprechen Sie über etwas, was Ihrer Mei-nung nach hinzugefügt werden soll.
Das ist vielleicht dialektisch. Ihr Antrag ist – das gilt auchfür seine Begründung – sehr kurz. Es ist wie früher bei denAufsätzen: Man sollte über den Elefanten schreiben undhat sich nur auf das Schreiben über die Schlange vorbe-reitet.Das Reichstagsgebäude ist kein Haus der Geschichte;aber es ist ein Haus mit Geschichte.
Dies sichtbar gemacht zu haben ist jedenfalls für mich dasGroßartige an der heutigen architektonischen Gestaltung.
Dort, wo es möglich war, wurde nicht geglättet, wurdenicht verputzt, wurde nicht geweißt, sondern es wurdenStolpersteine gelassen, Brüche in unserer Geschichtesymbolisiert. Das zeigt sich an den abgeschlagenen Orna-menten, die wir in den Gängen sehen, an geschliffenenund ungeschliffenen Steinblöcken in den Wänden undnatürlich in den restaurierten Inschriften sowjetischerSoldaten, von denen die Reichstagsruine voll war, undzwar überall und nicht nur in diesem begrenzten Teil. Sieerinnern an die schrecklichen Folgen der Naziherrschaftund an das befreiende Ende dieser Diktatur und des Krie-ges. Daran ändert übrigens nichts, dass der Reichstag– trotz Reichstagsbrand – fälschlicherweise als Symbolfür Nazideutschland in Anspruch genommen wurde.Diese Graffiti sind authentische Zeitzeugnisse, die, imursprünglichen Sinne des Begriffes „Denkmal“, Denk-malcharakter besitzen. Es sind keine von der Obrigkeitverordneten, sehr häufig ästhetisch verquasten Sieger-oder Heldenmonumente, sondern sie sind – gestatten Siemir, dass ich das so sage – Ausdruck des Triumphs und desLeids der kleinen Leute.
Da stehen nämlich Namen. Ihnen sind die Namen der ein-fachen Leute zu wenig. Sie brauchen Bilder von Präsi-denten. Das macht den Unterschied aus.Meine Damen und Herren, diese authentischen Zeit-zeugnisse wollen Sie zumindest in großen Teilen weißen,unsichtbar machen, Sie wollen die Wände sauber waschen.
Dies, meine Damen und Herren von CDU/CSU, wird undkann man nicht als schlichten Reinigungsvorgang inter-pretieren, sondern als einen bedenklichen Umgang mitden Schattenseiten unserer deutschen Geschichte.
Nun sagen Sie, Sie wollen die Graffiti nur noch, abereben doch, an einem Ort belassen – ich habe den Antragnämlich gelesen – und sie auf einen „gerechtfertigten Um-fang“ reduzieren. Letzteres ist übrigens meines Erachtensbereits geleistet. Ich glaube nicht, dass dies den Wünschenaller entspricht.
Von einem, der schon früher gegen die Graffiti wet-terte, diesen Antrag aber erstaunlicherweise nicht unter-zeichnet hat – vielleicht, weil ihm der Antrag nicht weitgenug geht? –, von Herrn Zeitlmann, liegt ein Zitat vor,von dem ich wohl vergebens hoffe, dass es falsch ist.
– Hören Sie ruhig einmal zu! – Den Erhalt der Graffiti be-zeichnete er als „Kotau vor den Siegermächten“. Nunüberlasse ich Ihnen die Bewertung dieser Aussage ange-sichts der Schrecknisse zwischen 1933 und 1945.
Dieses Zitat sollte man vielleicht neben den Inschriftenanbringen, vielleicht in Sütterlin, damit Jugendliche esnicht lesen können.
Zumindest macht diese Aussage deutlich, dass es vielegibt – sicher nicht alle Unterzeichner dieses Antrages –,denen es nicht um mehr oder weniger Inschriften geht,sondern um die Inschriften selbst.Nun hat es in der Tat vor Jahren die Überlegung gege-ben, die Zahl der Graffiti zu reduzieren. Schon allein einArgument sollte uns überzeugen, diese Diskussion nichtwieder aufzunehmen, nämlich die Antwort auf die Frage,wie die Besucher des Reichstagsgebäudes auf die Graf-fiti und auch auf ihre Anzahl reagieren. Ich bin Berliner
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Johannes Singhammer22302
und habe oft die Möglichkeit, auch in sitzungsfreien Wo-chen mit Besuchern durch dieses Haus gehen. Ich macheoft von dieser Möglichkeit Gebrauch. Meine Damen undHerren, ob Sie mir das nun glauben oder nicht: Ich habenoch keinen Besucher gehabt, der die Graffiti, auch imderzeitigen Umfang, infrage stellte.
Im Gegenteil, mein Hinweis, dass einige Kollegen dieseGraffiti verringern wollen, lässt immer nur den Zeigefin-ger an die Stirn schnellen. Ich habe mich auch beim Be-sucherdienst erkundigt. Der Besucherdienst kommt zudemselben Ergebnis.Ich mache auch immer deutlich, wer diese Graffiti re-duzieren will. Ich sage, dass es lediglich Abgeordnete vonCDU und CSU mit einem etwas fremdgehenden Libera-len sind und dass die Sozialdemokraten, die den Initiato-ren zunächst auf den Leim gegangen sind, sich schnellwieder von diesem Antrag distanziert haben.
Dass man das deutlich macht, gehört dazu.Meine Damen und Herren, noch ein letzter Hinweis. Esist Ihnen vielleicht nicht bewusst oder Sie wollen es nichtwahrhaben: Diese Graffiti bieten spannende Diskussions-anstöße, vor allen Dingen bei Gesprächen mit Jugend-lichen.
Wenn die Graffiti an einem anderen Ort zu finden wären,wäre die Aufmerksamkeit noch viel stärker. Wissen Sie,was die Besucher des Reichstagsgebäudes, die die Mög-lichkeit hatten, auf diese Etage zu kommen, sagen, wennSie sie fragen, was eigentlich das Interessanteste an die-sem Reichstag ist? Sie nennen zwei Sachen: die Kuppelund die Graffiti.
– Dies darf man einmal sagen. – Das sind die Antworten,die Sie hören.Meine Damen und Herren, das Schöne und Beruhi-gende an diesem Antrag ist, dass er in diesem Haus nie-mals eine Mehrheit finden wird.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag ist sicherlichberechtigt. Es lohnt sich sicherlich, über diesen Antrag zudiskutieren. Aber ich bin anderer Meinung. Ich bin des-halb anderer Meinung, weil wir uns in der Baukommis-sion und im Kunstbeirat – in beiden bin ich Mitglied –sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigt haben. Als wirdarüber in der Baukommission das erste Mal vom Archi-tekten informiert und wir gefragt wurden, wie wir damitumgehen wollen, habe ich nicht erlebt, dass jemand mas-siv dagegen gesprochen hat. Man hat das eine Argumentgegen das andere abgewogen und überlegt, in welchemUmfang man die Graffiti belassen solle. Aber die Tat-sache, dass ein Zeitzeugnis erhalten bleiben soll, war nieumstritten.
Jetzt ist es eine Frage des politischen Instinkts und derpolitischen Bewertung, wie man diese Debatte führt. Eslohnt sich nicht, wie ich finde, hier eine Schärfe hinein-zubringen. Wir können hier mit ebenso großer Gelassen-heit diskutieren, wie wir über das Kunstwerk von HansHaacke und über andere Dinge diskutiert haben. Wir soll-ten alles vermeiden, was hier eine Schärfe hineinbringenkönnte. Viele Leute würden das nicht verstehen, auch ichnicht.
Ich hielte das für kontraproduktiv. Die Ausführungen vonHerrn Singhammer waren mehr als dürftig. Er sagte, dasser nicht zufrieden mit den Hinweisen auf Historie und un-seren föderativen Staat, mit denen der Reichstag bisherausgestattet ist, ist. Darüber kann man diskutieren undauch unterschiedlicher Meinung sein. Wenn er aber In-schriften, die nicht wir angebracht haben, die nicht auf un-sere Initiative zurückgehen, sondern bezüglich derer wirnur die Entscheidung getroffen haben, sie zu belassen, re-duzieren und auf das dokumentarisch Notwendige zu-rückführen will, muss er sich schon fragen lassen, was dertiefere Gehalt seiner Argumente ist.
Zwar kann man darüber streiten, was dokumentarischnotwendig ist; die Diskussion darüber – darauf bin ichstolz – haben wir aber in den Gremien des Bundestages,in denen diese Fragen behandelt worden sind, in einer ru-higen und sachlichen Art geführt.
Ich bin stolz darauf, dass wir Größe gezeigt haben undnicht eine kleinkarierte Diskussion darüber geführt haben,ob jetzt hier ein Meter zu viel oder dort ein Meter zu we-nig erhalten bleiben soll, sondern die Dinge einfach sohingenommen haben. Natürlich haben wir die Denkmal-pflege herangezogen und mit dem russischen Botschafterdarüber gesprochen, was seiner Meinung nach richtig undnotwendig ist.
Wir haben uns dabei auf einen Umfang geeinigt, der ak-zeptabel ist und auch akzeptiert worden ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Eckhardt Barthel
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Auch ich, lieber Kollege von der SPD-Fraktion, habenoch nie jemanden getroffen, der beim Rundgangmit mirdurch den Reichstag an den Graffitis Kritik geübt hätte.Die Besucher waren hochinteressiert und gespannt aufdas, was man ihnen in diesem Zusammenhang erzählt hat.Viele, vor allen Dingen die jungen Leute, auf die es unsganz besonders ankommt, können sich das alles gar nichtmehr so richtig vorstellen.
Über Kunst kann man streiten. Hier wollen wir aberkeine Veränderung. Hier akzeptieren wir den Status quonicht nur, sondern treten offensiv für seine Bewahrungein, weil wir wissen, dass darin ein Selbstverständnis zumAusdruck kommt, das uns zu unserer eigenen Größe ge-reicht.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Heinrich,ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gesagt haben, mandürfe hier keine Schärfe hineinbringen. Ich war wirklichdrauf und dran, sehr ironisch und scharf zu reden. Ich willjetzt einen Gang zurückschalten; Sie haben nämlich völ-lig Recht: Solch ein Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg.Ich habe mich natürlich gefragt, was die Antragstellerumtreibt: Ist es nur Reinlichkeitswahn, wie ihn die Deut-schen oft haben?
Sind Ihnen vielleicht die Wände zu beschmutzt? Ich binaber zu dem Schluss gekommen, dass es das allein nichtsein kann. Dann habe ich mir gesagt: Vielleicht kommt esihnen doch auf den Inhalt an: dass nämlich Siegesin-schriften von Sowjetsoldaten als Zeichen der Schmachbzw. Schande vorhanden sind.
Jetzt spreche ich nach Herrn Heinrich – wie gesagt, ichbin ganz milde – und sage: Man kann Geschichte ja Gottsei Dank nicht umschreiben.
– Ich nehme alles zurück. – Politiker pflegen Geschichtepermanent zu ihren eigenen Gunsten umzuschreiben. Re-gime schreiben sie sowieso um.
Man kann zwar vorübergehend einiges versuchen, aber defacto kann man vieles nicht fälschen.Als Nächstes habe ich mich gefragt: Wollen die An-tragsteller die Geschichte einhegen? Wollen sie sie mu-sealisieren – das wurde ja sehr deutlich – und an einem Ortverstecken, an dem man den sowjetischen Kilroys mög-lichst überhaupt nicht begegnet? Das war doch offen-sichtlich das Ziel.Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb sage ich Ih-nen: Wir tagen hier im „Deutschen Bundestag im Reichs-tag“.
So lautet die komplizierte und offizielle Bezeichnung.
– Darin zeigt sich die Schwierigkeit deutscher Geschichte,Frau Lengsfeld. Der Deutsche Bundestag hat diese Ge-schichte mit vollem Bewusstsein angenommen, als er sei-nen Sitz hier im Reichstag, so wie er zum damaligenZeitpunkt war, eingenommen hat.
Er möchte diese Geschichte mit all ihren Höhen und Tie-fen – mit den Kilroys wie auch mit der schönen, transpa-renten Kuppel – annehmen.Mit jeder russischen oder sonstigen Parlamentarier-gruppe – ich treffe viele aus dem Bereich der GUS-Staa-ten – gehe ich durch die Korridore. Die Menschen sind be-wegt und dankbar dafür, dass wir diese Inschriftenerhalten haben. Sie finden in den Ortsangaben der In-schriften ihre Landsleute wieder.Ich möchte Ihnen, obwohl ich kein Russisch sprechenkann, sagen, was dort geschrieben steht – denn so viel Ky-rillisch habe ich mir angeeignet –: „Moskau–Berlin“ oder„Kaukasus–Sotschi–Warschau–Berlin–Elbe“. Die Ukrai-ner finden Kiew und Odessa. Selbst die vier Soldaten, dieaus dem fernen sibirischen Osten von der pazifischenKüste her kamen, schrieben ihre Namen unter „Chaba-rowsk–Moskau–Berlin“. An einer Stelle gibt es auch eineInschrift in georgischer Sprache. Diese haben Sie viel-leicht noch nicht entdeckt.
Ich weiß nicht, ob Sie diese dann besonders hegen wollen.
Alle Inschriften, die ich zitiere, stehen an ganz ver-schiedenen Stellen. Sie können gar nicht alle zusammen-bringen. Es gibt auch eine amerikanische Inschrift in la-teinischen Lettern, die da lautet: „E. Kenedy“. Dahintersteht geschrieben: „13. May 1945“. Dies zeigt: Es gibtdoch einige Amerikaner, die sich mit den Russen verbrü-dert und hier ebenfalls unterschrieben haben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Ulrich Heinrich22304
Deshalb möchte ich einen russischen Kollegen zitie-ren, der mir Folgendes gesagt hat: Wenn wir in Moskaudoch erst so weit wären, dass wir auch in der Duma dieOrte des Gulag an die Wand schreiben könnten! Des-halb sollten Sie begreifen, dass Sie auf diese Inschriftenstolz sein müssten. Vielleicht zeigt dies eine solcheÄußerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den meisten derBesucher, von denen ich gesprochen habe, gehe ich auchin die Lobby der Plenarebene, in den Raum mit denBüchern zum Gedenken an unsere von den Nazis umge-brachten oder in das Exil vertriebenen Kollegen aus derWeimarer Zeit. Die russischen oder ukrainischen Besu-cher blättern in den Büchern. Dort finden sie die Namenunserer ehemaligen Kollegen aus der KPD, der USPD,der SPD, dem Zentrum und – wenn Sie sie sich selbst an-gesehen haben, wissen Sie es – selbst aus dem Christlich-Sozialen Volksdienst und der DNVP. Sie beeindruckt dieBreite des Widerstands gegen die Nazidiktatur. Sie ver-stehen, dass die ersten Opfer der Nazidiktatur die deut-schen Politiker selbst und ihre Parteien waren.Aber nur, wer sich auch der Soldaten erinnert, die ausden Weiten Russlands hierher gekommen sind, um denFaschismus zu besiegen, hat das Recht, an die eigenenOpfer zu erinnern. Bewusst bleiben muss uns beides: dieschmachvollen und die ehrenhaften Seiten der deutscheGeschichte.
Deshalb denken Sie noch einmal gründlich nach. Wer-fen Sie Ihren Antrag in den Papierkorb! Im Papierkorblandet er, wie ich das Plenum und Herrn Heinrich ver-standen habe, so oder so.
Ich erteile Kollegen
Heinrich Fink, PDS-Fraktion, das Wort.
Ich möchte eindeutig fest-halten, sehr verehrter Herr Präsident, sehr verehrte Kolle-ginnen und Kollegen: Für die Neugestaltung des ge-schichtsträchtigen Reichstages steht der Name SirNorman Foster, für das Parlament in der Zeit des Umbausder Name Rita Süssmuth, der damaligen Präsidentin desDeutschen Bundestages; ihr zur Seite stand die Bau-kommission.
Die Neugestaltung ist in einem demokratischen Prozessvollzogen worden. Darunter fallen auch die Graffiti.Bei den Umbauarbeiten des Reichstagsgebäudes fürden Deutschen Bundestag wurden kyrillische Inschriftenfreigelegt, die 1945 nach der Eroberung des Gebäudesvon sowjetischen Soldaten angebracht wurden. Diese Be-schriftungen wurden durch die BundesbaugesellschaftBerlin mbH dokumentiert und mithilfe der russischenBotschaft übersetzt.Von der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundes-tages und dem Botschafter der Russischen Föderationwurde im April 1996 gemeinsam eine Auswahl der In-schriften definiert, die restauriert und erhalten werdensollten. Unabhängig hiervon hat der Denkmalpfleger desLandes Berlin, Professor Engel, zusammen mit dem BüroSir Norman Foster in einem größeren Umfang erhaltens-werte Inschriften festgelegt. Grobes Kriterium hierbeiwar, nur Flächen zu berücksichtigen, die zu mehr als50 Prozent mit Inschriften versehen waren. Die Inschrif-ten wurden mit hohem finanziellen Aufwand fachgerechtrestauriert. Sie müssen erhalten bleiben.Bei jedem Rundgang mit Besuchergruppen bin je-denfalls ich beeindruckt, dass Architekt und Baukommis-sion die Inschriften sowjetischer Soldaten in gemeinsa-mer Entscheidung erhalten haben, mit denen die Soldatenin den ersten Stunden des Kriegsendes die Wände des zer-störten Reichstages spontan zu einer Kapitulations-urkunde gemacht haben. Eine Inschrift drückt das in zweiWorten aus: Woina kaputt – der Krieg ist zu Ende. Kürzerkann der Sieg über den deutschen Hitlerfaschismus nichtdefiniert werden.
Jeder Name ist doch ein bleibendes Lebenszeichen fürTausende Gefallene der Roten Armee, die noch wenigeTage zuvor auf den Seelower Höhen in der letztenSchlacht um Berlin ihr Leben lassen mussten. Laut Antragsollen aber nun diese Namen, weil sie nur nichts sagendeWiederholungen ohne weitere Hinweise seien, auf einen„historisch gerechtfertigten Umfang“ reduziert werden.Gerade diese Reduzierung würde dem architektonischenKonzept, das sich gerade auch der Geschichte desReichstages verpflichtet weiß, widersprechen.
Foster bekennt:Die Graffiti von 1945 traten aus der deutschen Ge-schichte hervor, die die Soldaten der siegreichenSowjetarmee nach der Eroberung Berlins an dieWände gekritzelt hatten. Diese Inschriften bewegtenmich sehr – jede einzelne davon ein lange der Ver-gessenheit anheim gefallener Hinweis auf leidvollepersönliche Erfahrungen. ... Ich begann zu begreifen,dass keine noch so gelungene Ausstellung die Spurender Vergangenheit eindrucksvoller bezeugen kannals dieses Bauwerk.Ich fände es sehr bedauerlich, wenn die Enkel der Be-freier von Berlin zum Beispiel in Moskau, Kiew undNowgorod in der Zeitung lesen müssten, dass die Namender Helden von damals dem deutschen Volk heute histo-risch ungerechtfertigt zu viel Platz wegnehmen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Dr. Helmut Lippelt22305
Ich hoffe, dass solche Artikel nie geschrieben werdenkönnen. Deshalb bitte ich Sie, mit mir alles zu tun, dieseAntikriegsautogramme zu erhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Meine Fraktion setzt sich
ausdrücklich dafür ein, dass die Schriftzüge denkmalge-
schützt bleiben und damit die Befreiung vom Hitler-
faschismus dokumentiert wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Horst Kubatschka für die Fraktion der SPD.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandelnheute einen Gruppenantrag und keinen Fraktionsantrag;diesen Hinweis halte ich für wichtig. Sonst müssten wiruns nämlich über die außenpolitische Wirkung dieses An-trages unterhalten. In der Russischen Föderation hat manfür diesen Antrag wenig Verständnis.
Hören Sie auf den russischen Botschafter, dann wüsstenSie es. – Da es aber ein Gruppenantrag ist, ist für mich deraußenpolitische Aspekt nicht so wichtig. Ich möchte denAntrag aus geschichtlicher und denkmalpflegerischerSicht betrachten. Geschichte und Denkmalpflege sind Po-litik, mit Geschichte und Denkmalpflege wird Politik ge-macht.
Norman Fosters faszinierende Bauidee bestand darin,das noch vorhandene Vergangene sichtbar zu lassen unddas Neue klar erkennbar zu machen. Alte und neue Bau-substanz grenzen sich klar ab, sie stoßen aufeinander undwenden sich zu etwas Neuem. Die Spuren der deutschenGeschichte sind klar erkennbar. Dazu gehören auch dieGraffiti. Die Verringerung ihrer Zahl, die der Antrag for-dert, würde der Bauidee zuwiderlaufen. Die Bauidee istsowohl außen wie im Inneren durchgehalten. Die Kuppelhalte ich für eine Glücksidee. Es freut mich immer wie-der, dass sie zu einer touristischen Attraktion in Berlinwurde. Die Menschen stehen Schlange, um in die Kuppelzu gelangen.
Die Kuppel ist aber viel mehr als nur eine touristische At-traktion. Über den Besuch der Kuppel ergreifen die Bür-gerinnen und Bürger Besitz von ihrem Parlament – ich be-tone: ihrem Parlament –: Es entsteht Identifizierung mitder Demokratie. Die Menschen erleben den Ort, an demDemokratie umgesetzt wird. Diese Möglichkeit wird vonvielen Menschen wahrgenommen.Bedauerlicherweise, aber notwendigerweise ist das In-nere des Bundestages nicht so leicht zugänglich. Deswe-gen führe ich möglichst viele Bürgerinnen und Bürgerdurch diesen Teil des Hauses. Dies machen alle Abgeord-neten dieses Hauses. Beim Rundgang stoßen wir natür-lich auf die Graffiti. Ich erzähle, dass an 17 Stellen nahezu200 Graffiti erhalten geblieben sind. Ich erzähle aberauch, dass sehr wohl auch Graffiti entfernt wurden:Deutschfeindliche Parolen sind – übrigens in Zusammen-arbeit mit der russischen Botschaft – beseitigt worden. Ichberichte weiter, dass es für die sowjetischen Soldaten inBerlin fast eine Pflichtaufgabe war, sich in den Ruinen desReichstages zu verewigen. Sicher schwang bei dieserHandlung auch die Freude mit, den Krieg überlebt zu ha-ben. Es herrschte aber auch Trauer über die durch dieDeutschen zerstörte Heimat und über die gefallenen Ka-meraden. Sicher war aber auch Stolz dabei, zusammen mitden Amerikanern, Briten und Franzosen sowie den ande-ren Alliierten Deutschland vom Faschismus befreit zu ha-ben. All dies ist nachvollziehbar und hat sich in Form derGraffiti erhalten. Damit sind diese ein Teil der deutschenGeschichte an einem markanten Ort.
Die Graffiti waren durch den Wiederaufbau des Reichsta-ges hinter Verkleidungen verschwunden. Sie waren ausdem geschichtlichen Gedächtnis getilgt. Beim Umbauwurden sie wieder entdeckt und erhalten.Der Reichstag ist ein geschichtlicher Ort und ein Sym-bol für das wiedervereinigte Deutschland. Er ist aber auchein Symbol für den schmerzhaften Weg Deutschlands zurDemokratie, für den langen Weg nach Westen. Wir müs-sen auch die bitteren Seiten der deutschen Geschichte aus-halten. Geschichte ist nicht teilbar. Ich weiß, dass Ge-schichte interpretierbar ist. Jede Generation schreibt ihreGeschichte – deswegen mein leichter Protest, Herr Kol-lege Lippelt, bei Ihren Ausführungen. Aus diesem Grundemüssen sichtbare Zeichen bleiben. Die vorhandenenGraffiti als Teil unserer Geschichte müssen erhalten blei-ben. Dieses geschichtliche Gedächtnis darf nicht ge-schmälert werden. Wenn wir die Zahl der Graffiti redu-zieren, wie es der Antrag will, engen wir auch unserGedächtnis ein. Die Graffiti sollen möglichst unsichtbargemacht werden, um so aus dem geschichtlichen Ge-dächtnis verdrängt zu werden.
Es wäre ein erneutes Vergessen wie nach dem Wiederauf-bau des Reichstages. Diesen Akt des Vergessens dürfenwir nicht zulassen. Eine Vielzahl von Graffiti sind Namen.Sie müssen erhalten bleiben, denn sie repräsentieren Ein-zelschicksale, es ist Geschichte von unten.
Es sind diejenigen, die den Krieg erleiden mussten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch ein-mal auf die Besucher zurück, die wir alle durch den
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Dr. Heinrich Fink22306
Reichstag führen. Den meisten Besuchern müssen wir dieGraffiti erklären, denn die kyrillische Schrift kann kaumjemand lesen. Dies trifft natürlich vor allem für Besuche-rinnen und Besucher aus den alten Bundesländern zu.In diesem Zusammenhang weise ich auch immer aufden Gruppenantrag der Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU hin.
– Ihr „Sehr gut!“ werden Sie jetzt vielleicht überdenken. –Ich habe dieselben Erfahrungen wie zwei meiner Vorred-ner gemacht und muss Ihnen sagen: Ob alt, ob jung, obFrau, ob Mann, niemand hat für diesen Antrag Verständ-nis. Die Mehrheit dieses Hauses hat für diesen Antragauch kein Verständnis. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Vera Lengsfeld für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Am Anfang stelle ich allenAnwesenden die Frage, an welcher Stelle sich die SS-Ru-nen befinden und ob Sie auch der Meinung sind, dass dieSS-Runen zur notwendigen Dokumentation gehören, weilsie Teil unseres Selbstverständnisses sind?
– Wieso? Diese Runen existieren und man muss sich mitihnen auseinander setzen.
– Ach ja, auch das ist Geschichte? So, so.
Ein demokratischer Staat muss der eigenen Geschichtegedenken und er muss das symbolisch an Orten der poli-tischen Macht tun, vor allen Dingen in Parlamenten. Ermuss dies erst recht hier im Reichstagsgebäude tun, dadieser Ort selbst ein Nationalsymbol ist. Aber es kommtgerade in einem demokratischen Parlament darauf an,welcher Geschichte man sich politisch erinnert; denn andieser Erinnerung zeigt sich, welche Auffassung man vonseinem Staat hat. Jedes Erinnern im politischen Raum istGeschichtspolitik. An unserem Erinnern werden wir er-kannt. Aber nicht jede Spur der Geschichte ist gleichbe-deutend und nicht jede Spur der Geschichte hat etwasmit der demokratischen Tradition der BundesrepublikDeutschland und ihres Parlaments zu tun.
Der Kaiser mochte das Reichstagsgebäude nicht; ernannte es Reichsaffenhaus und verbannte es aus der da-maligen Mitte Berlins vor das Brandenburger Tor. Bis zu-letzt widersetzte er sich der Inschrift auf dem Westportal,„Dem Deutschen Volke“. Die Nazis mochten das Hausnoch weniger. Niemals war der Reichstag Symbol natio-nalsozialistischer Politik.Die Inschriften sowjetischer Soldaten im Reichstags-gebäude erinnern an die Eroberung Berlins durch die RoteArmee. Sie zu bewerten ist dem Gemeinschaftswerk derVersöhnung, Verständigung und dem Vertrauen zwischenDeutschen und Russen keineswegs abträglich, wie be-hauptet wird, im Gegenteil. Zwar hat die Rote Armee ei-nen Teil Deutschlands unzweifelhaft vom Nationalsozia-lismus befreit, nicht aber vom Totalitarismus. Zu unsererGeschichte gehört eben auch, dass der nationalsozialisti-schen Diktatur in einem Teil Deutschlands die real-sozia-listische Diktatur folgte.
– Aber sicher hat die Rote Armee etwas mit der real-so-zialistischen Diktatur der DDR zu tun; denn die DDRhätte ohne die Rote Armee gar nicht existieren können.Ich bitte Sie, Herr Kollege!
Die sowjetischen Soldaten haben im Mai 1945 kom-munistische Siegesbekundungen, Verwünschungen odereinfach nur Namenszüge hinterlassen; Letztere machen95 Prozent aller über den Reichstag verteilten Restesowjetischer Geschichte aus. Nach meiner Auffassungmüssen sie in diesem Umfang nicht dokumentiert blei-ben.
– Was dokumentieren sie denn? Es war alles andere alseine Armee eines freiheitlich-demokratischen Landes, dieden Reichstag eroberte. Die Inschriften zeugen zum Teilvon der totalitären Geschichte der Sowjetunion.
– Natürlich, der kleine Soldat hat das an die Wände ge-schrieben. Wenn der kleine Soldat eine Huldigung Stalinsan die Wände geschrieben hat, dann kann er natürlich et-was dafür, meine Damen und Herren.Das Andenken an die gefallenen sowjetischen Soldatensoll nach unserem Antrag an einer dafür eigens eingerich-teten Gedenkstelle im Reichstagsgebäude bewahrt wer-den. Wir sollten daneben aber nicht vergessen, dass der
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Horst Kubatschka22307
zerbombte Reichstag während des Endkampfes um Ber-lin Notspital und Schutzkeller für schwangere Frauen war.Wir sollten nicht vergessen, dass sich die Kämpfe um Ber-lin und die Eroberung des Osten Deutschlands unter un-geheuren Verbrechen vollzogen. Es ist im Sinne der An-tragsteller deshalb zureichend, einen ausgewählten Platznebst Gedenktafel und Übersetzungen diesen Tatsachenzur Verfügung zu stellen.Dieses Gebäude repräsentiert unsere Demokratie. DasParlament hat vor allen Dingen der demokratischen Tra-dition in Deutschland zu gedenken. Wir müssen symbo-lisch an unsere freiheitlichen Traditionen erinnern:
an die Ausrufung der Republik durch Scheidemann, dieGott sei Dank wirkungsvoller war als die Ausrufung dersozialistischen Republik, oder an den Widerstand gegendie sowjetische Blockade. Als die Sowjets 1948 gegenden ganzen westlichen Teil der Stadt die Blockade errich-teten, versammelten sich 350 000 Deutsche vor demReichstag. Ernst Reuter machte ihnen Mut und appelliertean alle Völker der Welt, den Blick auf das freie Berlin zurichten. Wir müssen nicht zuletzt – das sage ich auch mitgroßem Ernst – an das legendäre Konzert an Pfingsten1986 vor dem Reichstag erinnern, das Unter den Lindenzu den ersten Rufen „Die Mauer muss weg“ führte. Dassind die demokratischen Traditionen der BundesrepublikDeutschland, die wir in den Mittelpunkt stellen sollten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6761 an den Ausschuss für Kultur und
Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter,
Wolfgang Bierstedt, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zurAufhebung des Magnetschwebe-
bahnplanungsgesetzes
– Drucksache 14/8300 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Eva Bulling-Schröter, Wolfgang Bierstedt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Keine Entscheidung über den Bau einer Ma-
gnetschwebebahn-Strecke in der Bundesrepu-
blik Deutschland ohne Einstellung der entspre-
chenden Bundesmittel in den Bundeshaushalt
– Drucksache 14/8296 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten Redezeit erhalten soll. –
Ich höre auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die PDS-
Fraktion ist der Kollege Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es gab inden Jahren 1998 und 1999 zwei verkehrspolitische Duft-marken der neuen Regierung, und zwar zum einen denBaustopp für die Strecke Nürnberg–Erfurt und zum ande-ren das Aus für die Transrapid-Strecke Hamburg–Berlin.Als der Baustopp für die Strecke Nürnberg–Erfurt disku-tiert wurde, haben wir darauf hingewiesen, dass, wennman nur einen Baustopp verhängen und stattdessen keinealternativen Maßnahmen realisieren würde, im Osten zuRecht gesagt werde, dass das einseitig eine Maßnahmegegen den Osten sei, und dass Druck ausgeübt werde, denBaustopp wieder aufzuheben. Genau das ist passiert; Bun-deskanzler Schröder hat das vor einigen Tagen gesagt.Es bleibt der Transrapid. Ich glaube, dass an diesemBeispiel das Desaster der Verkehrspolitik von SPD undGrünen noch deutlicher wird. In den ersten acht Jahrennach der Wende haben wir uns bei der Fahrzeit auf derStrecke Hamburg–Berlin langsam an die Fahrzeit von1934 herangetastet. Wir haben dann erlebt, dass die Fahr-zeit vier Jahre lang gleich geblieben ist, und zwar bei zweiStunden und acht Minuten. Es wurde vier Jahre lang, alsowährend einer ganzen Legislaturperiode, keine Verbesse-rung auf dieser Strecke erzielt.Die Technik des Transrapid wird als brillant angese-hen. Im September 2000 wurde ein Knebelvertrag zwi-schen dem damaligen Verkehrsminister Klimmt und demTransrapid-Konsortium geschlossen, wonach bis zum30. Juni dieses Jahres eine Willenserklärung zum Bau ei-ner oder mehrerer Transrapid-Strecken in Deutschlandvorliegen müsse und dass anderenfalls pro Jahr 35 Milli-onen DM für die Optimierung dieser Technik bezahlt wer-den müssten.Pünktlich haben wir jetzt eine Machbarkeitsstudie fürzwei Projekte vorliegen, einmal für die Strecke zwischenMünchen und München-Flughafen und zweitens für dieStrecke zwischen Dortmund und Düsseldorf. Die Situa-tion in München möchte ich nur kurz streifen. SPD undGrüne vor Ort in München sagen Nein zu dem Projekt,aber Stoiber sagt Ja. Damit ist die absurde Situation ein-getreten, dass eine Art Stoiber/Schröder-Schnellbahn ge-baut werden kann, aber das gegen den Willen der Stadt-regierung in München.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Vera Lengsfeld22308
Im Ruhrgebiet – dort liegt die Strecke Dortmund–Düs-seldorf, die am relevantesten sein dürfte und die wahr-scheinlich versucht werden wird zu bauen – ist die Situa-tion noch burlesker und noch grotesker. Hierzu möchteich drei Aspekte nennen.Erstens. Bisher ist in allen Parteien, in denen es Trans-rapid-Befürworter gab, immer gesagt worden, dass dieTransrapid-Technik eine Technik für Höchstgeschwindig-keit im erdgebundenen Verkehr sei. Bei der Strecke Dort-mund–Düsseldorf soll jetzt eine bereits existierende undfunktionierende Hauptverkehrsader genommen und pa-rallel dazu eine Transrapid-Strecke gebaut werden. DieHöchstgeschwindigkeitsbahn wäre dann praktisch eineTurbostraßenbahn. Dies wäre eine völlige Veränderungund Entwertung der eigentlichen Technik.Zweitens. Wir erleben bei dieser Strecke – ähnlich wiedamals bei der Strecke Hamburg–Berlin – eine unheim-liche Schönrechnerei in Bezug auf Fahrzeit, Bauzeit,Kosten und die Fahrgastzahl. Wenn man dies als Milch-mädchenrechnung bezeichnen würde, wäre dies eine Be-leidigung aller Milchmädchen.
Um nur einen Aspekt zu nennen: Die Rechnung in derMachbarkeitsstudie sieht so aus: Die Fahrt mit diesemZug zwischen Dortmund und Düsseldorf ist ein Premium-angebot. Gleichzeitig müssen, um zu dem gewünschtenErgebnis zu kommen, die Pendler in den Hauptverkehrs-zeiten zu 30 Prozent stehen; und dies im Premiumange-bot, welches mehr kostet als die normale Bahn. An diesemBeispiel wird klar, wie hier schöngerechnet wird. Ichglaube, dass der Kollege Königshofen nachher auch da-rauf eingehen wird, wie mit dieser Schönrechnerei derBock zum Gärtner gemacht wird.Ein weiteres Beispiel für Schönrechnerei ist, dass denInstituten, die die Machbarkeitsstudie gemacht haben, ge-sagt wurde, sie bekämen weiteres Geld beim Bau derStrecke, wenn sie die Strecke machbar rechnen würden.Drittens. Ich glaube, dass das Argument dafür, warumman eine Turbostraßenbahn baut, Sinn macht. Es machtSinn, weil die Transrapid-Technik auf der Strecke bis zumJahre 2001 mit 2,5 Milliarden DM subventioniert wurde.Zudem sollen die Baukosten zu 70 oder 80 Prozent sub-ventioniert werden. Darüber hinaus wird aber jetzt gesagt:Wenn wir dies zu einer Nahverkehrstrecke machen, kön-nen wir Regionalisierungsgelder nehmen. Wenn alleFahrten zu 60 Prozent vom Bund subventioniert werdenund auch noch Regionalisierungsgelder hineinfließen,macht die Strecke Sinn. Das ändert allerdings nichts da-ran, dass die Strecke absolut unsinnig ist, weil hier eineHochgeschwindigkeitstechnik im regionalen Nahverkehreingesetzt werden soll.Wir erleben, wie sich jetzt überall vor Ort Widerstanderhebt. Ich glaube nicht, dass sich die Situation so wie inMünchen entwickeln wird, wo das Projekt einfach einetote Angelegenheit bleiben wird. Vielmehr wird bereitsjetzt in Düsseldorf und Essen Nein zu dieser Strecke ge-sagt. In Duisburg und Mülheim haben SPD und Grüne mitnur einer Stimme Mehrheit die Strecke momentan nochverteidigt. Wahrscheinlich werden aber auch diese Städteentlang der geplanten Strecke kippen.Die PDS hat einen Gesetzentwurf und einen Antragvorgelegt. Zu unserem Antrag möchte ich sagen: Alle Par-teien sollten sich – das wäre das Mindeste – darauf eini-gen, dass nicht noch einmal das Modell Scharping ange-wandt wird, damit nicht noch einmal nach Karlsruhegegangen werden muss, weil Bundesmittel für ein – inmeinen Augen, nicht in Ihren – unsinniges Projekt ver-sprochen werden, wofür nirgendwo im Haushalt Bundes-mittel eingestellt sind. Diese Versprechen dürfen nicht ge-macht werden. Die bisher von den Regierungsparteiengemachten diesbezüglichen Versprechen sollten zurück-genommen werden.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhard Weis für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach meinen Zählun-gen ist es in dieser Legislaturperiode ungefähr die achteDebatte zum Transrapid. Angesichts der leeren Ränge istdie Frage, warum wir heute Abend darüber miteinanderdebattieren, tatsächlich berechtigt. Wir haben diesesThema auch im Fachausschuss schon ausgiebig bespro-chen. Aber wenn es gewünscht wird, stelle ich die Ge-schichte des Transrapid noch einmal dar.
Wir haben uns nach langem Überlegen aufgrund wirt-schaftlicher Erwägungen entschlossen, den Transrapidzwischen Hamburg und Berlin nicht zu bauen und damitendlich eine Hängepartie zu beenden. Wir haben aber hierim Deutschen Bundestag überlegt, wie wir das Know-how der Schwebebahntechnik für Deutschland erhaltenund sichern können. Zu diesem Sicherungskonzept gehörtunsere Entscheidung – die auf industriepolitischen Erwä-gungen beruht – die Anwendung in Schanghai zu unter-stützen.Bei einer Rückschau auf die Beiträge der PDS in denvergangenen Debatten und auch bei Betrachtung der heu-tigen Vorlagen der PDS drängt sich mir nur ein Eindruckauf: dass die PDS offensichtlich ein neurotisches Verhält-nis zur Magnetschwebebahntechnik hat.
Mir als Ingenieur ist ein solch grundsätzlich ablehnen-des Verhältnis zu einer an sich ganz attraktiven Verkehrs-technik rätselhaft. Man mag zu den Projekten Metrorapidim Ruhrgebiet oder Flughafenanbindung an München ste-hen, wie man will. Tatsache ist aber doch, dass mit derMagnetschwebebahntechnik eine Verkehrstechnik zurVerfügung steht, die die Möglichkeit bietet, schneller undbei Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h sogar leiser alsmit herkömmlichen öffentlichen Verkehrsmitteln ein Zielzu erreichen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Dr. Winfried Wolf22309
Wir können auch davon ausgehen, dass die Umweltbe-lastungen zumindest nicht höher sein werden als bei her-kömmlicher Schienentechnik. Nur ein Narr könnte erwar-ten, dass ein neues Verkehrsmittel, das in BallungsräumenMobilität für viele Tausende von Menschen sichern soll,mit keinerlei Eingriffen in Natur, Landschaft oder Städte-bau verbunden sein würde. Wer das annimmt, könnte Ver-kehrsplanungen schlechthin beenden. Irgendwie scheintmir die PDS diesen Punkt erreicht zu haben.
In ihrem Antrag nimmt die PDS Bezug auf die beidenMagnetschwebebahnprojekte in Nordrhein-Westfalenund Bayern. Es wurde schon kurz dargestellt, wie es zudiesen Projekten kam, wie das Auswahlverfahren aussahund wie sich schließlich herauskristallisierte, dass die bei-den Projekte in Nordrhein-Westfalen und Bayern die aus-sichtsreichsten aus der Liste der von den Bundesländernvorgelegten Projekte sind. Die Machbarkeitsstudien wur-den im Februar übergeben. Dann fiel auch die Entschei-dung, die ausgewählten Projekte entsprechend den bereitsgenannten industriepolitischen Erwägungen und den Zu-sagen zu bezuschussen. Meine Fraktion steht zu diesenZusagen. Innerhalb des Rahmens, den wir bezüglich derbeiden Schwebebahnprojekte in Nordrhein-Westfalenund Bayern mit den Zuschüssen setzen wollten, herrschtnunmehr Klarheit und Planungssicherheit.Ich möchte hier mit zwei Irrtümern aufräumen. AlsErstes gibt es eine Reihe von Kritikern, die jetzt lamen-tieren, dass der Bund bei den Projekten in Nordrhein-Westfalen und Bayern zu hohe Risiken übernehmenwürde. Richtig ist, dass es sich weder beim Metrorapidnoch bei der Flughafenanbindung an München um einBundesprojekt handelt. Bei beiden Strecken handelt essich stattdessen um regionale Verkehrsprojekte. DieVerantwortung für die Realisierung liegt in vollem Um-fang bei den beiden Bundesländern.
– Aus industriepolitischen Gründen wollen wir diese Pro-jekte bezuschussen. Wie gesagt, das tun wir mit dem Restder Summe, die für die Strecke Hamburg–Berlin zur Ver-fügung stand. Dabei handelt es sich um einen gedeckeltenBetrag, den wir später nicht erhöhen werden. Diese Be-zuschussung stellt auch keine Projektbeteiligung dar.
Der Bund wird keine weiteren Risiken übernehmen, we-der für den Bau noch für den Betrieb.
Zweitens. Es ist auch ein Irrtum, dass zum gegenwär-tigen Zeitpunkt irgendeine Notwendigkeit bestünde, füreine haushaltsrechtliche Absicherung der beiden regio-nalen Projekte im Bundeshaushalt zu sorgen. Richtig istdagegen, dass die Länder am Zuge sind. Es ist deren Auf-gabe, ein schlüssiges Finanzierungskonzept vorzulegenund den Eigenanteil der beiden Länder verbindlich darzu-stellen. Wir wissen, dass beide Länder konkrete Vorstel-lungen haben und sich zu diesen auch äußern werden. Eserscheint mir wichtig, dass an dieser Stelle auch auf dieunterschiedliche Verantwortlichkeit zwischen den födera-len Ebenen hingewiesen wird.Die PDS unterstellt uns mit ihrem Antrag, wir würdenmit dem Haushaltsrecht nicht sorgfältig umgehen. Ichweise das mit Entschiedenheit zurück.
Ebenso weise ich die Unterstellung in dem Gesetzentwurfder PDS zurück, beim Magnetschwebebahnplanungsge-setz handele es sich um ein Bürgerknebelungsgesetz.
Die Begründung der PDS zu ihrem Gesetzentwurf isteinfach haarsträubend, so als hätten wir hier chinesischeVerhältnisse. Dann wird auch noch das „Handelsblatt“ alsKronzeuge für die Notwendigkeit des PDS-Vorstoßesherangezogen. Das alles ist schon ziemlich abenteuerlichund wohl nur mit dem bereits eingangs erwähnten neuro-tischen Verhältnis der PDS zur Magnetschwebetechnik zuerklären.Meine letzte Anmerkung: Jedes große industriepoliti-sche Projekt ist natürlich nicht frei von Risiken. Wenn esnun zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen gelingt, diesevöllig neue Verkehrstechnologie mit ihrem hohen Ent-wicklungspotenzial darzustellen, dann hat das nicht nurfür Nordrhein-Westfalen, sondern auch für den Indus-triestandort Deutschland eine Bedeutung. Das ist genauder Hintergrund dafür, warum wir als SPD-Bundestags-fraktion an unserer Zusage zur Gewährung eines Zu-schusses für diese Projekte festhalten.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr
Kollege Weis, dass Sie Ihre Redezeit nicht ausgeschöpft
haben.
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der
Kollege Dirk Fischer.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! DerGesetzentwurf zur Aufhebung des Magnetschwebebahn-planungsgesetzes soll wohl heute das vollenden, was dieBundesregierung mit ihrer Zerstörung des Schienenpro-jektes Hamburg–Berlin begonnen hat. Eine hochmoderneund umweltfreundliche Technologie soll in Deutschlandlebendig begraben werden.
Der Antrag lässt sich nur mit einer Fundamentaloppo-sition gegenüber der Magnetschwebebahntechnologie er-klären. Deswegen ist eine inhaltliche Auseinandersetzungwahrscheinlich nicht mehr möglich. Technologische Mo-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Reinhard Weis
22310
dernisierungsimpulse sowie Impulse für den Arbeitsmarktwürden im Keim erstickt werden. Die technologische Po-leposition bei dem spurgeführten Hochgeschwindig-keitsverkehr in Europa würde verschenkt werden. Dassdie Magnetschwebebahntechnologie europäische Distan-zen in den spurgeführten Verkehrssystemen schrumpfenlassen würde, wird einfach ignoriert.Befänden wir uns nicht im Wahljahr, wäre die Zahl de-rer, die den Transrapid lieber tot als lebendig sähen, deut-lich höher. Die Grünen könnten sich aus ideologischerVerblendung weiterhin grundsätzlich gegen jede Art vonHighspeed positionieren. Auch die SPD müsste nicht auswahltaktischem Kalkül den Metrorapid in NRW und dieFlughafenanbindung München – ohne jeden Kabinetts-entscheid und ohne jede Bundestagsbefassung mit quali-fizierten Unterlagen – durchpeitschen.Wir hätten hierzu noch Fragen zu stellen. Während für292 Kilometer zwischen Hamburg und Berlin auf völligneuer Trasse ein Betrag von 6,1 Milliarden DM und keinPfennig mehr als nicht mehr finanzierbar galt, sind jetztfür 79 Kilometer zwischen Düsseldorf und Dortmund aufvorhandener Bahntrasse 2,6 Milliarden Euro für die In-frastruktur nicht zu viel. Während es bei der Strecke Ham-burg–Berlin unabdingbar war, keinen Parallelverkehr zuakzeptieren, ist bei der Strecke Dortmund–Düsseldorfmittlerweile jede Menge Parallelverkehr unschädlich. Aufgroßen Werbetafeln in NRWwird verkündet: Für die Fuß-ball-WM 2006 muss alles fertig sein. Uns will man erklä-ren, dass für ein Ereignis von zwei oder drei Wochen, indenen vielleicht zwei Spiele in Dortmund und, wenn eshoch kommt, noch zwei in Düsseldorf stattfinden, ein sol-ches Investment argumentativ begründbar ist.
Hierzu erklärt die Industrie, dass dies bis 2006 niemalsfertig werden kann, weil Planungsgrundlagen fehlen. Beider Strecke Hamburg–Berlin war ein halbes Jahr Probe-betrieb eingeplant, um nur jedes Verkehrs- oder Sicher-heitsrisiko auszuschalten. Ich sage der Industrie: Clementund Schwanhold werden euch den schwarzen Peter schonfrüh genug zuschieben; da könnt ihr ganz sicher sein.Es gibt also Fragen über Fragen, die noch zu stellenwären. Der Löwenanteil der von Bodewig versprochenenBundesmittel hat eine Höhe von 2,3 Milliarden Euro. DerSteuerzahler gibt durch unsere Entscheidung fast 5 Milli-arden DM aus.
Herr Kollege Weis, bei aller persönlichen Wertschätzungfür Sie: Es ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus, dassSie hier erklären, das sei kein Bundesprojekt.
Der Steuerzahler hat einen höheren Anspruch an die Aus-übung der Verantwortung des Deutschen Bundestages imUmgang mit seinen schwer verdienten Steuermitteln. Daskann ich wohl behaupten.
1,75 Milliarden Euro fließen – das ist für uns natürlichnicht nachvollziehbar; es gibt überhaupt keine Unterla-gen, warum das so ist – nach Nordrhein-Westfalen, wosich SPD-Ministerpräsident Clement dank dieser Wahl-kampfhilfe als erfolgreicher Hightechförderer feiern las-sen kann. Der Verdacht, dass Parteipolitik der sachlichenBewertung vorgezogen wurde, liegt nahe. Außerdem istBodewigs Ankündigung eine unverbindliche Absichtser-klärung und keine verlässliche Finanzierungsgrund-lage. Eine Finanzierungszusage kann in dieser Legis-laturperiode in haushaltsrechtlich unbedenklicher Weisenur durch einen Nachtragshaushalt erfolgen; denn imBundeshaushalt 2002 sind weder Barmittel noch Ver-pflichtungsermächtigungen eingestellt.Bei der Vorstellung der Machbarkeitsstudien istschlicht und ergreifend die Unwahrheit gesagt worden.
In der „Frankfurter Rundschau“ und der „Frankfurter All-gemeinen Zeitung“ ist diese Unwahrheit an die lesendeBevölkerung weitergegeben worden, weil Sie nicht selbergeprüft haben. Es verstößt gegen die elementaren Mitwir-kungsrechte des Parlamentes, wenn eine unverbindlicheZusage von Bundesmitteln von der nordrhein-westfä-lischen Landesregierung als ausreichende Planungs-grundlage bezeichnet wird, um im weiteren Verfahren dieMaßnahme zu planen und auszuführen. Schon die Bestel-lung der Militärflugzeuge A400M führte zur Abgabe ei-ner uneingeschränkten Unterwerfungserklärung vor demBundesverfassungsgericht. Wie oft soll dieser Vorgangnoch passieren?
Die permanente Verletzung des parlamentarischenHaushaltsrechtes hätten wir uns einmal in unserer Regie-rungszeit erlauben sollen. CDU/CSU und FDP haben dasBudgetrecht des Deutschen Bundestages immer ernst ge-nommen. Der Fachausschuss für Verkehr hat einen An-spruch auf Beteiligung und Information. Sie haben durch-gesetzt, dass wir bei Transrapidprojekten drei großeHearings durchgeführt haben. Die Vorgängerregierunghat beratungsfähige Unterlagen paketweise geliefert. Eshat Parlamentsbeschlüsse gegeben. SPD und die Grünen,die sich gelegentlich als Erfinder der Demokratie darstel-len, sollten sich – ich sage es in aller Härte und Deutlich-keit – dafür schämen, wie hier das Parlament abgefertigtwird.
Es passt ins Bild, dass Herr Bodewig über das Landzieht, Presseerklärungen abgibt und Konferenzen durch-führt sowie Geld verteilt, aber nicht hier sitzt, wo es da-rum geht, uns zu erläutern, warum er was zugesagt hat.
Wir verlangen eine Kabinettsentscheidung. Diese Un-terlage muss dann dem Deutschen Bundestag zur Ent-scheidung vorgelegt werden, die Fachausschüsse müssen
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Dirk Fischer
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damit befasst werden. Ihnen gegenüber muss der Nach-weis des verkehrlichen Nutzens und der Wirtschaftlichkeiterbracht werden. Es muss klargestellt werden, zulastenwelcher Bereiche der Bundesanteil von 2,3 MilliardenEuro im Verkehrsetat gewonnen werden soll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie müssen nun bitte
zum Schluss kommen.
Frau Präsiden-
tin, ich komme zum Ende.
Es muss deutlich gemacht werden, was Sie mit „andere
Bundesmittel“ für Transrapidstrecken meinen und woher
Sie diese nehmen wollen. Ich kann nur eines sagen: Die-
ses Material muss dem Parlament umgehend geliefert
werden. Wir können uns mit dem bisherigen Verfahren
nicht abspeisen lassen. Wenn Sie das nicht tun, werden
wir Grund haben, nach dem 22. September beim Transra-
pid eine seriösere Politik zu machen, als es von dieser Re-
gierung mit Spiegelfechtereien geschieht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-legin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen.
Kollegen! Wie gesagt, wir reden zum wiederholten Malüber das Lieblingsspielzeug einiger Herren. Ich glaube, esgeht nicht nur darum, dass einige ein neurotisches Ver-hältnis zum Transrapid haben. Andere haben offenbar einso erotisches Verhältnis, dass sie das immer wieder hierausleben müssen. Ich weiß auch nicht, warum das seinmuss, egal, ob es von der linken oder von der rechten Seitekommt.
Ich will mich auf den Punkt konzentrieren, der sowohlvon Herrn Kollegen Fischer angesprochen wurde als auchim Antrag der PDS vorkommt, nämlich die Behauptung,es werde das Haushaltsrecht verletzt. Das ist nicht derFall.
– Nein, Sie kennen offenbar das Haushaltsrecht nicht,Herr Kollege Fischer. Von daher sollten Sie an dieserStelle etwas üben.Wir haben sehr wohl genau darauf ge-achtet.
– Sie sollten sich mit dem Vorgang wirklich einmal be-schäftigen und nicht immer nur Reden halten über Dinge,über die Sie sich offenbar nicht ausreichend informiert ha-ben.Der Bund hat sich bei der Beendigung des ProjektesHamburg–Berlin – das auf Initiative der Deutschen BahnAG nicht verwirklicht wurde, weil ihr die Finanzierung zuaufwendig war – verpflichtet, dass er, wenn in Deutsch-land neue Strecken gebaut werden, bereit ist, die rest-lichen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Jetzt sind die Machbarkeitsstudien von Nordrhein-Westfalen und München vorgelegt worden. Auf dieserGrundlage hat sich der Bund bereit erklärt,
– als Absichtserklärung; es wäre gut, wenn Sie zuhörenwürden –, dafür die verfügbare oder kalkulatorische Rest-summe bis zu 2,3 Milliarden Euro bereitzustellen. Aberdie Projekte sind und bleiben in voller Finanzverantwor-tung der beiden Länder.
– Es gibt noch keine gesetzliche Basis für diese Finanzie-rung.
Es wäre gut, wenn Sie das endlich kapieren würden. Viel-leicht sollten Sie sich den Vertrag einmal durchlesen. Ichhabe Ihnen eben schon erklärt, dass ein Vertrag gemachtworden ist. Wenn Sie Fragen haben, dann melden Sie sichzu einer Frage, statt mir die Redezeit zu nehmen.
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Dirk Fischer
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– Offenbar können Sie solche Verträge nicht lesen, sonstwüssten Sie es besser.Kurzum, die Projekte liegen hinsichtlich der Finanzie-rung und Wirtschaftlichkeit in der Verantwortung derLänder
und müssen von ihnen hinsichtlich ihrer Wirtschaftlich-keit, ihrer konkreten Machbarkeit, des Planfeststellungs-verfahrens und des gesamten Verfahrens erst einmal aufden Weg gebracht werden. Erst auf dieser Grundlage wirdim Haushalt – das wird selbstverständlich erst in dernächsten Legislaturperiode der Fall sein – darüber be-funden,
inwieweit die Mittel für diese Projekte ausbezahlt werdenkönnen.Ich beende jetzt meine Rede, weil die Kollegen offen-bar nicht das Interesse haben, sich so weit darüber zu in-formieren, dass sie wissen, was Sache ist.
Es tut mir wirklich Leid. Ich hatte von den Mitgliederndes Verkehrsausschusses erwartet, dass sie sich die Mühemachen, sich die Verträge anzusehen,
und zur Kenntnis nehmen, was Herr Bodewig als Ab-sichtserklärung abgegeben hat, wobei er aber das Limitsehr deutlich angesprochen hat.
– Meine Güte! Es tut mir Leid, liebe Kolleginnen undKollegen.
Da der Kollege Fischer in Sachen Transrapid offenbardoch sehr dumm ist und nicht einmal zuhören kann, tut esmir Leid.
Lassen wir das für heute einfach so stehen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ring frei für den Kol-
legen Horst Friedrich von der FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtenicht unbedingt ringen, aber es war schon ein Lehrstückder Parlamentsgeschichte. Ausgerechnet Sie, FrauEichstädt-Bohlig, wagen es, dem Deutschen Bundestageine Lehrstunde im Haushaltsrecht zu geben. Das ist dochder Höhepunkt der Frechheit.Was Sie persönlich mit dem A400M und der Haus-haltssituation jeden Tag aufs Neue abliefern, müsste Sieeigentlich dazu bringen, sich zu dem Thema Haushalts-recht und der Beachtung des Parlaments etwas devoter zuverhalten.
Das ist schon ein starkes Stück.Zu den Anträgen der PDS-Fraktion: Dass Sie, HerrKollege Wolf, diese Anträge stellen, überrascht michnicht. Auch das Ergebnis überrascht mich nicht; denn esist wenigstens konsequent. Was hat sich gegenüber derDiskussion über die Strecke Hamburg–Berlin bei den bei-den in den Blick genommenen Strecken – der Metrorapid-Strecke und der Strecke München Hauptbahnhof bis zumMünchner Flughafen – geändert? Die SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen, die uns damals vorgeworfen haben,alle unsere Gutachten mit verkehrswirtschaftlicherGrundlage seien Schall und Rauch, Hausnummern, unse-riös und Ähnliches mehr, machen nun das Gleiche.
Für die Strecke Hamburg–Berlin wurde alles infrage ge-stellt. Nun hören wir zu unserer großen Überraschung:Das ist kein Bundesprojekt. Aber auf welcher Berech-nungsgrundlage sind im Haushalt noch 5 Milliarden DMaufgeführt? Wie werden die denn ausgegeben?Wenn ich es bisher richtig begriffen habe, ist der Bundim Verkehrswegebau nur für die Sachen zuständig, dieauch Bundesangelegenheiten sind. Im Gegensatz zu uns,die wir bei der Strecke Hamburg–Berlin die 6,1 Milliar-den DM tatsächlich in den Haushalt eingestellt hatten– auch aufgeteilt in der Finanzierung –, ergibt sich bei Ih-nen bestenfalls aus einer Fußnote im Haushalt, dass mangegebenenfalls beabsichtige, die restlichen Mittel, dienoch nicht bei der Strecke Hamburg–Berlin – der Schie-nenstrecke – für die Vorfinanzierung der Verwirklichungdes Eisenbahnkreuzungsgesetzes ausgegeben wordensind, irgendwann für den Bau des Transrapids auf den bei-den Strecken zur Verfügung zu stellen.Nun haben wir erlebt, wie virtuelles Geld verteilt wird,das noch gar nicht in den Haushalt eingestellt worden ist.Plötzlich prescht die nordrhein-westfälische Staatskanzleivor und erklärt, die Verteilung der Gelder für die Magnet-schwebebahnstrecken in NRW und Bayern stehe schonlange fest: 75 Prozent der Gelder würden an NRW und25 Prozent an Bayern gehen. Das war natürlich ein Feh-ler. Das haben Sie auch erkannt und deshalb schnell
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Franziska Eichstädt-Bohlig22313
erklärt, alles sei noch offen. Nach Vorlage der Gutachtenwerden die Gelder – überraschenderweise – exakt nachdem angekündigten Schlüssel verteilt. Komisch, darüberregt sich kein Mensch mehr auf.Die Begründung für diesen Verteilungsschlüssel istsehr pfiffig: Herr Clement erklärt öffentlich, NRWmüsseeinen höheren Zuschuss aus der Bundeskasse bekommen,weil die geplante Strecke in NRW nicht so rentabel seinwerde wie die in Bayern. Das ist natürlich die Krönungund endlich das Eingeständnis, dass der Ministerpräsidentdes Landes NRW, der als großer Reformer, Erneuerer undModernisierer angetreten war, eigentlich mit leeren Hän-den dasteht. Weil Herr Clement jetzt händeringend einPrestigeprojekt braucht, wird der Transrapid als Metrora-pid missbraucht, ohne dass klare Finanzierungsgrundla-gen vorhanden sind.
Ihre Berechnungsgrundlagen für die heutigen Magnet-schwebebahnstrecken sind schlechter als unsere für dieTransrapid-Strecke Hamburg–Berlin, die Sie damals ve-hement kritisiert haben. Was mussten wir uns nicht allesvon Frau Staatssekretärin Gila Altmann anhören, die da-mals verkehrspolitische Sprecherin der Grünen war! Bis-her habe ich von ihr zu den Berechnungsgrundlagen fürdie Strecken in NRW und Bayern kein einziges Wortgehört. Dazu kann man nur sagen: Mein lieber Mann,Grüne, wie weit ist es mit euch gekommen!
Es kommt aber noch schlimmer. Das Ganze wird sogarnoch als der große Durchbruch verkauft nach dem Motto:Die Technik war ja gut, wir müssen sie nur umsetzen.Dazu kann ich nur sagen, liebe Kollegen von Rot-Grün:Setzt sie endlich um! Schafft eine Finanzierungsgrund-lage für diese seriöse Technik, damit der Transrapid nichtnur in Schanghai, sondern auch bei uns gebaut werdenkann. Das, was Sie bisher abgeliefert haben, ist eineFrechheit und keine Unterstützung für eine moderneTechnik!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das letzte Wort in die-
ser Debatte hat der Kollege Norbert Königshofen für die
CDU/CSU.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der „Spiegel“schreibt am 4. März 2002:Es gehört zu den größeren Momenten im Lebeneines Verkehrsministers, wenn man mal eben so2,3 Milliarden Euro für ein Zukunftsprojekt untersVolk bringen darf. Das Problem dabei ist nur das: Erhat dieses Geld nicht. Es ist nicht da, jedenfalls nichtim Bundeshaushalt 2002.Es gibt auch keine Verpflichtungsermächtigung; dennein entsprechender Antrag der Union wurde ja bekanntlichbei den Haushaltsberatungen im letzten November abge-lehnt. Es gibt – darauf ist bereits hingewiesen worden –auch keine Beratungen und keine Anhörungen im Ver-kehrsausschuss und keine Entscheidungen. Dennoch ver-teilt Herr Bodewig – darauf wurde schon hingewiesen –fiktives Geld, und zwar 1,45 Milliarden Euro an NRWund 0,55 Milliarden Euro an Bayern. Wir brauchen abereine seriöse Beratung; denn es stellen sich ja eine MengeFragen.Frau Eichstädt-Bohlig, es gibt zwar keine Verträge oderdergleichen. Aber wir haben etwas Interessantes zurMachbarkeitsstudie über die Metrorapid-Strecke in NRWgefunden. Uns liegt eine „Gemeinsame Erklärung des Ver-kehrsministeriums in NRW und des Konzerns DeutscheBahnAG“ vom 11. Juli 2001, unterschrieben von Clementund Mehdorn, vor. Darin wird festgehalten, dass im Rah-men der notwendigen Vergabeverfahren der Know-how-Vorsprung der an der Machbarkeitsstudie beteiligten Fir-men angemessen zu berücksichtigen sei. Im Klartext: Wirdaufgrund der Machbarkeitsstudie der Metrorapid gebaut,haben die Verfasser der Studie gute Chancen, ein riesigesStück vom Planungskuchen zu bekommen. Damit wir wis-sen, worüber wir reden: Es geht dabei um Gesamtpla-nungskosten in Höhe von 334 Millionen Euro!
Da verwundert es nicht, dass sich die entscheidendenEckdaten innerhalb eines Wochenendes verändern. Inves-titionskosten: rund 500 Millionen Euro weniger; das sind14 Prozent weniger. Betriebskosten: rund 11,5 MillionenEuro pro Jahr weniger; das sind 18,5 Prozent weniger. DieFahrgastprognose wird von 25 Millionen auf 34,5 Milli-onen Fahrgäste heraufgesetzt; das sind sage und schreibe40 Prozent mehr. Da kann man schon fragen: Warum sobescheiden? Man hätte ja auch noch mehr hineinschrei-ben können.
Auf dieser Grundlage vergibt nun der Herr BodewigGeld!Woher das restliche Geld kommen soll – der Metrora-pid in Nordrhein-Westfalen kostet 3,2 Milliarden Euro –,weiß niemand.
Es wird gesagt: Wir bekommen günstige Kredite. – Wiedie aber getilgt werden sollen und wie die Zinszahlungenfinanziert werden sollen, sagt niemand. Nur ein Beispiel:Für einen Kredit von 1 Milliarde Euro fallen Kreditkostenin Höhe von 75 bis 80 Millionen Euro pro Jahr an. Wennman die Betriebskosten von 50 Millionen Euro dazu-nimmt, dann kommt man auf 130 Millionen Euro. Diefährt der Metrorapid nie ein.Auch der verkehrliche Nutzen ist sehr umstritten. DieGewerkschaft Transnet schreibt am 25. Februar 2002 inihrem „Un-Machbarkeitspapier“, dass der Metrorapid zuvermehrt gebrochenem Verkehr, zu erhöhten Fahrpreisenund zu Arbeitsplatzverlusten führt, und kommt zu demSchluss: Der Metrorapid ist verkehrspolitisch überflüssig,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2002
Horst Friedrich
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der Nutzen ist nicht absehbar und die Kosten sind nichtkalkulierbar.All das hätten wir gern geprüft, aber Vorlagen habenwir nicht. Vielleicht kann Herr Großmann seinem Minis-ter einmal sagen, dass es für ihn – als ehemaliger Ge-werkschaftssekretär hat er ja eigentlich guten Kontakt zuseinen Kollegen – ganz gut wäre, auf seine Kollegen vonTransnet zu hören.Wie notiert doch der „Spiegel“ unter dem Titel„Kurtchens Mondfahrt“ – ich zitiere –:So ist das immer bei ihm.– Gemeint ist Minister Bodewig.Was er auch anpackt, irgendetwas funktioniert nie.Irgendetwas kommt immer dazwischen. Irgendetwasist nie ganz zu Ende gedacht.
Ich schließe mich an und sage: So ist es auch hier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir bleibt jetzt nur
noch, die Aussprache zu schließen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8300 und 14/8296 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Alle sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 15. März 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.