Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Sachstand zum „Galileo“-
Projekt.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen, Herr Bodewig. Bitte sehr.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat heute
beim Projekt „Galileo“ einen Durchbruch erzielt. Ich
möchte kurz auf die Historie eingehen.
Ziel der Bundesregierung war von Anfang an, das Pro-
jekt als PPP-Modell, also als privat-öffentliche Partner-
schaft – unter wesentlicher Beteiligung privater Finanz-
mittel –, zu realisieren. An diesem Ziel halten wir fest.
Gleichwohl war ein neuer Kabinettsbeschluss notwendig,
weil eine Studie von Price Waterhouse Coopers eine
stärkere öffentliche Beteiligung an den Investitionen und
– bis 2015 zeitlich begrenzt – auch an der Betriebsphase
für erforderlich hält. Der Verkehrsministerrat im Dezem-
ber konnte der Fortsetzung des Projektes noch nicht zu-
stimmen, weil diese Studie erst wenige Tage vor der Ver-
kehrsministerratssitzung eingebracht wurde.
Die Finanzierung möglicher Mehrkosten musste ge-
klärt werden. Nach den Schätzungen könnten auf
Deutschland für den Zeitraum bis 2015 circa 600 Mil-
lionen Euro zukommen. Ich sage ausdrücklich „könnten“;
denn die EU-Kommission hat zugesagt, Mehrkosten
durch echte Umschichtungen im EU-Haushalt ohne zu-
sätzliche Belastung der nationalen Haushalte zu finan-
zieren. Für den Fall, dass dennoch Mehrbelastungen für
die nationalen Haushalte entstehen, war im Vorhinein eine
Lösung zu suchen.
„Galileo“ stiftet außer im Verkehrsbereich auch für die
gesamte Luft- und Raumfahrt, für viele Bereiche des
Wirtschaftslebens, wie etwa die Finanzdienstleistungen
oder die Geodäsie, die Umweltbeobachtung und die
Landwirtschaft erheblichen Nutzen. Nicht zuletzt ist es
natürlich ein außen-, europa- und industriepolitisch be-
deutendes Projekt.
Price Waterhouse Coopers hat im Übrigen einen Nut-
zen-Kosten-Quotienten von 4,6 ermittelt. Das ist mehr als
bei vielen anderen europäischen Projekten. Das Kabinett
hat sich deshalb darauf geeinigt, eventuell anfallende
Mehrkosten auf mehrere Schultern zu verteilen. Ich gehe
aber davon aus, dass die EU-Kommission die eigene Ver-
pflichtung, nämlich im Falle von Mehrkosten Umschich-
tungen im EU-Haushalt vorzunehmen, realisieren wird.
Damit die Kosten beherrschbar bleiben, wird das
gemeinsame Unternehmen, das in den nächsten vier Jah-
ren die Entwicklungsphase umsetzt, die Errichtung und
den Betrieb von „Galileo“ im Wettbewerb ausschreiben.
Der Kabinettsbeschluss fordert ausdrücklich die Konzes-
sion, den Vertrag mit einer Deckelung, einer Obergrenze,
abzuschließen. Ausschreibungsergebnisse werden für En-
de 2003 erwartet. Auf dieser Basis wird dann endgültig
über „Galileo“ zu entscheiden sein.
Der Kabinettsbeschluss ermöglicht eine Zustimmung
zum Projekt im Verkehrsministerrat Ende März. Damit
wäre die Bedingung erfüllt, dass Deutschland am ESA-
Programm einen entsprechenden Anteil zeichnen kann,
um die deutsche Industrie in eine Führungsrolle für dieses
Projekt zu bringen. Die Bundesregierung erwartet dann
allerdings umgekehrt ein massives Engagement der deut-
schen Industrie. Die Privatwirtschaft ist aufgefordert, sich
am Standort Deutschland mit dem Ziel der Schaffung von
zusätzlichen Arbeitsplätzen in besonderem Maße zu en-
gagieren.
Die jetzt benötigten Mittel für die Zeichnung des ESA-
Anteils an der Entwicklungsphase sind im Bundeshaus-
halt 2002 mit 155 Millionen Euro veranschlagt. Die Ent-
sperrung dieser Mittel wird nach der Entscheidung des
Verkehrsministerrates vorbereitet.
21809
220. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Beginn: 13.00 Uhr
Vielen Dank, Herr
Bundesminister.
Wird dazu das Wort gewünscht? – Bitte sehr, Frau Kol-
legin.
Frau Präsidentin! Herr Mi-
nister, Sie haben in Bezug auf „Galileo“ ein ganz neues
Projekt angesprochen: Es besteht eine Vermischung zwi-
schen der EU und der ESA. Hier gibt es, gerade was die
Industriepolitik betrifft, unterschiedliche Finanzierungs-
kriterien. Bei der EU steht ganz klar der Wettbewerb im
Vordergrund, dem ein Rückflussprinzip entgegensteht. Im
Gegenzug gibt es bei der ESA pro Projekt ganz klare
Rückflusskriterien. Wie werden Sie dies aus industrie-
politischer Sicht miteinander vereinbaren?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Sie wissen ja, dass beide Räte, der
ESA-Ministerrat und der Verkehrsministerrat, in dichter
zeitlicher Abfolge getagt haben. Die Grundentscheidung
war, dass es im Rahmen des ESA-Programms Zeichnun-
gen gibt und dass auf der Verkehrsseite über die TEN-Mit-
tel ein ähnlich hoher Beitrag, der ja schon im EU-Haus-
halt eingestellt worden ist, eingesetzt wird.
Ich gehe davon aus, dass dieses Projekt den Kriterien
der ESA, also den technologischen Kriterien, entspricht,
dass gleichzeitig aber auch ein großes wirtschaftliches
Interesse vorhanden ist; denn mit diesem Satellitensystem
ist wirtschaftlicher Nutzen zu erzielen. Das heißt, hier
können Zusatzdienstleistungen durch Gebühren, die er-
hoben werden, refinanziert werden. Gleichzeitig sage ich
aber: Das Basissignal für „Galileo“ bleibt frei.
Bitte sehr.
Herr Minister, ich muss
nachhaken, weil Ihre Ausführungen meine Frage nicht
ganz beantwortet haben.
Die Hälfte der Mittel stammt aus der ESA. Hier ist
ganz klar festgelegt: Wenn die deutsche Beteiligung
25 Prozent beträgt, dann werden bis zu 98 Prozent an Auf-
trägen wieder an die Industrie zurückgespielt. Das ist ganz
klar geregelt. Dies widerspricht aber eigentlich den EU-
Kriterien, nach denen die Ausschreibung ganz klar nach
Wettbewerbsgesichtspunkten erfolgt, – dass also der bil-
ligste Anbieter den Zuschlag bekommt. Wie wollen Sie
dies miteinander verbinden?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Wenn ESA-Mittel eingesetzt werden,
dann gelten für diese Mittel natürlich auch die Regeln der
ESA. Das heißt, hier werden Mittel aus der Techno-
logieförderung eingesetzt. Sie wissen ja, dass jedes Land
einen Anteil zeichnet. Wir tun dies entsprechend dem
deutschen Sozialprodukt. Dies sind rund 165 Milli-
onen Euro. 10 Millionen Euro sind ja schon eingesetzt.
Das bedeutet, dass wir dann über eine Haushaltsentschei-
dung 155Millionen Euro zeichnen würden. Daran können
Sie erkennen, dass dieser Betrag auch wieder zurück-
fließt; denn das Ziel ist, dass die hoch entwickelte Luft-
und Raumfahrt in Deutschland an diesem Projekt beteiligt
wird.
Bei diesem gemeinschaftlichen Unternehmen geht es
ja darum, den vor allem für die Betriebsphase notwen-
digen Aufwand in hohem Maße privatwirtschaftlich er-
folgen zu lassen. Bisher gingen wir davon aus, dass die
Entwicklungs- und Validierungsphase öffentlich ist und
dass die Finanzierung der Betriebsphase ausschließlich
privat erfolgt. Jetzt aber zeigt uns dieses Gutachten auf,
dass es hier zu einer Mischung kommt. Das heißt, dass
mehr öffentliches Kapital in der Errichtungsphase einbe-
zogen werden muss, dass aber auch in der Betriebsphase
öffentliches Kapital notwendig ist. Dieses gemeinschaft-
liche Unternehmen, das in der EU das erste Unternehmen
dieser Art nach Art. 171 EG-Vertrag ist, wird ja durch-
geführt, um genau diese Fragen zu klären. Deswegen fin-
det die Ausschreibung statt. Aber für alle Entwicklungen,
für die ESA-Mittel eingesetzt werden, gelten auch die
ESA-Kriterien.
Frau Kollegin Aigner,
Sie dürfen weiter fragen. Bitte sehr.
Sie haben schon angespro-chen, dass es drei Phasen gibt, vor allem die Betriebs-phase, in der auch die Refinanzierung insbesondere derprivatwirtschaftlichen Mittel erfolgen soll. Hier bestehteine Unterteilung in drei Bereiche: Der erste Bereich be-steht aus den frei zugänglichen Diensten, die jeder, derschon jetzt GPS nutzt, dann kostenlos nutzen kann, derzweite Bereich ist im Wesentlichen der für den Bahn- undFlugverkehr, und der dritte Bereich besteht aus solchenDiensten, die der Staat in Anspruch nehmen kann. Kannich daraus schließen, dass zukünftig für diese Dienste andie später zu gründende Betreiberfirma bezahlt wird?Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- undWohnungswesen: Dies wäre ein Vorgriff auf ein Projekt,das zurzeit in der Entwicklung ist. Darüber hinaus gibt esnoch eine ganze Reihe von anderen Diensten – von demErkennen der Bestellung von Feldern in der Landwirt-schaft bis hin zu deren betriebswirtschaftlicher Nutzungdurch große landwirtschaftliche Betriebe. All dies ist ja inder Entwicklung. Deswegen, glaube ich, macht es Sinn,heute an die deutsche Wirtschaft zu appellieren und zu sa-gen: Wir haben kein großes Interesse daran, dass sichDeutschland als Staat materiell einbringt, sondern daran,dass sich die deutsche Wirtschaft frühzeitig beteiligt,um Zusatznutzen zu erhalten und zusätzliche Dienstleis-tungen zur Verfügung zu haben.Lassen Sie mich aber auch auf das von Ihnen ange-sprochene GPS-System zu sprechen kommen. Es ist nochkostenlos. Natürlich ist die Kostenlosigkeit dieses Sys-tems vor dem Hintergrund einer europäischen Alternativezu sehen. Sie wissen, dass die Nutzung zurzeit kostenfreiist, dass es aber keine Garantie gibt für diejenigen, diedieses System in Anspruch nehmen, dass die Nutzung je-derzeit und längerfristig möglich ist. Das sollten wir in-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 200221810
dustriepolitisch vor dem Hintergrund, dass Leistungenüber GPS laufen, zumindest zur Kenntnis nehmen.
Möchten Sie noch
eine Frage stellen? – Bitte sehr.
Für diejenigen, die später gekommen sind: Es geht um
das „Galileo“-Projekt.
Damit kein falscher Zun-
genschlag in die Sache kommt: Ich bin zu 100 Prozent da-
von überzeugt, dass „Galileo“ sinnvoll ist und zwingend
umzusetzen ist. Ich weiß, dass GPS auf Dauer nicht unein-
geschränkt und nicht in der Qualität wie der von „Galileo“
zur Verfügung stehen wird. Ich bitte Sie deshalb, meine
Fragen nicht falsch zu interpretieren.
Es wird nun ein Joint Undertaking gegründet. Wie ste-
hen die Chancen, dieses Projekt nach Deutschland zu ho-
len? Es sind wohl Standorte in Brüssel oder in Italien im
Gespräch. Welche Aktivitäten planen Sie, damit das Pro-
jekt nach Deutschland kommen kann?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Dieses gemeinsame Unternehmen wird
erst durch Rechtsverordnung gebilligt, wenn wir es im
Ministerrat beschließen. Wir sind bei den Vorbereitungen
schon sehr weit. Es gibt aber noch keine Entscheidung
über Vorsitz und Sitz. Das Projekt wird in einem europä-
ischen Prozess entwickelt. Von unserer Seite gibt es Vor-
stellungen. Ich glaube aber, es macht Sinn, den Prozess im
Verkehrsministerrat so zu organisieren, dass nicht nur
Wünsche geäußert werden, sondern dass man sich auch
darauf verständigt, wie sie realisiert werden können. In-
sofern ist es jetzt noch zu früh, darüber zu sprechen.
Wollen Sie als Bundesregie-
rung das Projekt in Deutschland haben?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Ich möchte als Erstes, dass wir das Pro-
jekt „Galileo“ im Verkehrsministerrat voranbringen und
die zwingenden Voraussetzungen für die Realisierung re-
geln. Diese Entscheidung sollte nicht mit anderen The-
men, die zu gegebener Zeit zu klären sind, befrachtet wer-
den.
Sie haben noch eine
Frage? – Bitte sehr.
Das angesprochene Joint
Undertaking ist die eine Sache, die die Kundenseite be-
trifft. Der zweite Punkt ist: Wenn das Projekt im weiteren
Verlauf in die Betreiberphase übergeht, in der ein wirt-
schaftlicher Nutzen entsteht, soll eine Betreiberfirma ge-
gründet werden. Es sind mehrere Firmen angesprochen;
meines Wissens sind Alcatel, Alenia und Astrium mit da-
bei. Es handelt sich um mehrere Firmen, die an verschie-
denen Enden ziehen. Jeder will die Betreiberfirma in sein
Land holen. Es gibt auch Bestrebungen, die Betreiber-
firma nach Deutschland zu holen. Wie planen Sie dieses
Vorhaben zu forcieren oder zu unterstützen und was ha-
ben Sie gegebenenfalls schon eingeleitet?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Sie wissen, dass es sich um ein europä-
isches Projekt handelt. Ich müsste jetzt die gleiche Ant-
wort geben wie auf Ihre vorhergehende Frage: Wir müs-
sen dies in Gesprächen klären. Ich werde nicht vor einer
Verkehrsministerratssitzung die Grundentscheidung, für
die wir heute im Kabinett wichtige Voraussetzungen ge-
schaffen haben, mit anderen Fragen befrachten. Natürlich
gibt es über dieses Thema Gespräche und ich bin mir si-
cher, dass wir über hervorragende Industrieunternehmen
sowie ein Know-how, das in eine solche Betreiberfirma
hineingehört, verfügen. Darin stimmen wir direkt überein.
Gibt es zu diesem
Thema weitere Fragen? – Herr Kollege Koppelin, bitte
sehr.
Herr Minister, darf ich Sie
in diesem Zusammenhang fragen, ob bei der Kabinettsbe-
ratung die am Wochenende bekannt gegebene Finanzie-
rung des Transrapid in Bezug auf die Länder Bayern und
Nordrhein-Westfalen eine Rolle gespielt hat und ob Sie im
Kabinett für die Art der Finanzierung gelobt worden sind?
Es handelt sich ja um das Modell Scharping: Bestellen,
ohne Geld zu haben. Dieses Modell kann durchaus noch
von anderen Ministern übernommen werden.
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Herr Kollege Koppelin, über die posi-
tiven Reaktionen im Kabinett rede ich nur im Kabinett
und nicht außerhalb. Ich will Ihnen aber etwas anderes sa-
gen: Sie selber wissen aufgrund der Anmerkungen zu dem
entsprechenden Titel des Haushalts, dass wir alle dieses
Projekt wollen. Das war immer der Sinn, den der Haus-
haltsgesetzgeber verfolgt hat. Dies ist aus den Erläute-
rungen zu erfahren. Deswegen geht es heute nicht um eine
Bewertung, sondern darum, festzustellen, dass auch die-
ses von Ihnen angesprochene Projekt ein sehr wichtiges
technologisches Projekt ist. Ich glaube, darin stimmen wir
überein.
Herr Kollege
Koppelin, Sie haben eine weitere Frage.
Herr Minister, da Sie geradegesagt haben, dass wir alle das Projekt wollen – für dieFDP kann ich das unterstützen –, darf ich Sie fragen, obdas auch auf den grünen Koalitionspartner zutrifft. Wiekann ich mir sonst erklären, dass der Ministerpräsidentvon Nordrhein-Westfalen, Herr Clement, zu HerrnMöllemann von der Oppositionspartei FDPgeht und drin-gend um Unterstützung bittet, weil er sich der Zusiche-rung der Grünen nicht sicher sei?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Bundesminister Kurt Bodewig21811
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- undWohnungswesen: Ich glaube nicht, dass die Regierungs-befragung Auftakt von Wahlveranstaltungen sein soll mitMutmaßungen, die vielleicht wahltaktischen Hintergrundhaben. Ich glaube, wir sollten über das reden, was ist.Ich kann Ihnen sagen, dass in Nordrhein-Westfalen aufder Basis dieser Finanzentscheidung zurzeit an Finanzie-rungskonzepten gearbeitet wird. Es gab ja einen klarenZeitplan, nämlich zunächst die Feststellung des Plafondsund dann eine Entscheidung darüber, wie die Mittel aufbeide Länder so aufgeteilt werden, dass beide Projekte zurealisieren sind. Das war die Grundvoraussetzung und dasist erfolgt. Jetzt können die beteiligten Bundesländer wei-ter planen. Ich glaube, das ist die richtige Reihenfolge.
Das fordert nun die
Kollegin Katrin Göring-Eckardt zu einer Frage heraus.
Ihnen noch mir Uneinigkeiten in Bezug auf dieses Projekt
bekannt sind, weder in NRW noch im Bund?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Ich kann das bestätigen.
Frau Kollegin Aigner
hat noch eine Frage. – Bitte sehr.
Das Projekt „Galileo“ ist
zwar Ihrem Ressort zugeordnet, aber es ist letztendlich
natürlich auch ein forschungspolitisches Projekt und wird
sehr stark von dieser Seite unterstützt. Die Raumfahrt
spielt hier natürlich eine ganz wesentliche Rolle. In die-
sem Bereich stellt sich immer wieder die Frage, ob es Nut-
zungen über alle Ressorts gibt; das hat jetzt offensichtlich
Früchte getragen. Aber es geht natürlich auch in den Be-
reich Dual use, es stellt sich also die Frage der militäri-
schen Nutzung. Wie stellen Sie sich dazu, dass man „Ga-
lileo“ durchaus auch militärisch nutzen und es vielleicht
auf andere Projekte übertragen könnte?
Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen: Im Rat gibt es einen großen Konsens
darüber, dass es sich hierbei um ein ziviles Projekt mit ei-
ner zivilen Nutzung handelt. Das ist die Grundvorausset-
zung.
Ich kann aber bestätigen – das betrifft den ersten Teil
Ihrer Frage –, dass dieses Projekt über den Verkehrsbe-
reich hinaus für viele Bereiche von Bedeutung ist, bis hin
zur Zeitsynchronisierung oder Finanzdienstleistung. Sie
alle wissen, was passieren würde, wenn GPS nicht zur
Verfügung stünde, welch hohe Risiken etwa für die Volks-
wirtschaft entstünden. Deswegen wird das Projekt auch in
der Risikoabsicherung von der Bundesregierung in Gänze
– unter Beteiligung vieler Ressorts – getragen. Ich kann
Ihnen auch auflisten, wer sich wie beteiligt.
Noch eine Frage der
Kollegin Aigner. – Bitte sehr.
Weil GPS ursprünglich ein
rein militärisches Vorhaben war und die Nutzung nur frei-
gegeben wurde, ist bei diesem Projekt schon noch einmal
die Frage zu stellen: Was spricht eigentlich dagegen, auch
„Galileo“ für die militärische Nutzung zur Verfügung zu
stellen?
Ich glaube, wir wissen aus der
Nutzung anderer Systeme, dass solche Systeme in be-
stimmten Krisensituationen eben nicht für die Zwecke,
für die sie konzipiert wurden, zur Verfügung stehen. Inso-
fern sage ich noch einmal ausdrücklich: Es ist ein ziviles
Projekt unter ziviler Kontrolle. Das ist die Intention die-
ses Projektes. Wir wollen eine große Anzahl an wichtigen
satellitengestützten Dienstleistungen hierüber laufen las-
sen. Es darf nicht sein, dass das System in Krisensituatio-
nen aufgrund militärischer Nutzung nicht mehr zur Ver-
fügung steht. Das ist auch der Hintergrund für den großen
Konsens, der sich im Verkehrsministerrat in dieser Frage
abzeichnet.
Noch eine Frage? –
Bitte sehr, Frau Kollegin Aigner. Wir sind nicht in der Fra-
gestunde; insofern können Sie so viele Fragen stellen, wie
Sie wollen.
Frau Präsidentin, das istmeine letzte Frage.Ich kann das insofern nicht ganz nachvollziehen, als esrein technisch natürlich möglich ist, dies auf einem Satel-liten zu trennen, indem sich dort unterschiedliche Trans-ponder befinden, von denen der eine militärisch und derandere zivil genutzt werden kann. Das ist auch eine Fragevon Transportkapazitäten; denn jedes Kilogramm, dasman hochschießt, kostet viel Geld. Insofern könnte mannatürlich ohne die Gefahr von NutzungseinschränkungenSynergieeffekte nutzen.Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- undWohnungswesen: Ich will es noch einmal deutlich sagen:Es geht hier um die Frage der zukünftigen Struktur dieseswichtigen Systems. Wir wollen eine zivile Nutzung.Wenn wir jetzt militärische Strukturen einbetten, hat diesAuswirkungen auf die Dienstleistungen in anderen Berei-chen. Im Verkehrsministerrat ist deutlich geworden, dasses sich hierbei um ein jederzeit zugängliches ziviles Sys-tem handelt, das dann genutzt werden kann und das genaudiese Dienstleistungen – zum Beispiel die Zeitsynchroni-sation oder die Frage des Umweltmonitoring – ermög-licht. Gleichzeitig werden aber auch verkehrslenkendeMaßnahmen bzw. alles, was im Bereich Telematik satelli-tengestützt ist, möglich. Im Rahmen des Prinzips einer öf-fentlich-privaten Partnerschaft muss für diejenigen, die indas System einsteigen, jederzeit die Nutzung möglichsein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 200221812
Nun ist das Thema
wohl erschöpfend behandelt worden. Die Anregung von
Herrn Koppelin lautete ja, dass sich die beiden noch ein-
mal treffen, um sich weiter auszutauschen,
und dass, wenn entscheidungsreife Ergebnisse erzielt
worden sind, diese dem Deutschen Bundestag mitgeteilt
werden. Ich bitte Sie allerdings, dies nur als Anregung zu
verstehen.
Gibt es noch Fragen an die Regierung zu anderen The-
men? – Das ist nicht der Fall.
Jetzt käme eigentlich die Fragestunde. Da aber noch
nicht alle Beteiligten anwesend sind, unterbreche ich die
Sitzung bis 13.30 Uhr.
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 14/8318, 14/8353 –
Es gibt mehrere dringliche Fragen; zunächst zu denen
aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur Verfü-
gung.
Ich rufe die dringliche Frage 1 des Kollegen Eckart von
Klaeden auf:
denen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter
Rister, rund 1,2 Millionen in der Arbeitslosenstatistik geführten
Arbeitslose, die „an einer Vermittlung nicht interessiert seien oder
nicht ernsthaft nach einer Stelle suchten“, künftig aus der Statistik
herausrechnen, in einer gesonderten Rubrik erfassen und diese
neue Statistik erstmals im Sommer dieses Jahres verwenden will
?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
G
Herr von Klaeden, ich
möchte Ihre erste dringliche Frage mit Nein beantworten.
Da es möglicherweise der Befriedigung des Informa-
tionsbedürfnisses dient, möchte ich als offizielle Er-
klärung hinzufügen: Die Bundesregierung hat nicht die
Absicht, die gegenwärtige Praxis der Erhebung der Ar-
beitslosenstatistik und der Arbeitslosenzahlen in dieser
Legislaturperiode zu verändern. Ich wiederhole: Die Bun-
desregierung hat nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatis-
tik in dieser Legislaturperiode zu verändern. Dafür gibt es
einen wichtigen Grund: Wir gehen davon aus, dass sich
die wirtschaftliche Lage erholen wird und dass im Früh-
jahr die Arbeitsmarktzahlen deutlich besser sein werden.
Wir wollen nicht, dass dann die verbesserten Arbeits-
marktzahlen öffentlich und im Parlament durch den Vor-
wurf diskreditiert werden, wir hätten die Statistik verän-
dert. Wir verändern die Statistik nicht.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staatssekre-
tär, da wir insgesamt über Verbesserungen auf dem
Arbeitsmarkt und insbesondere der Arbeitsvermittlung
sprechen wollen, möchte ich Sie fragen, ob die Presse-
meldungen richtig sind, wonach für den neuen Vorstands-
vorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit bzw. der Nach-
folgeeinrichtung ein Jahresgehalt von – cum grano salis –
250 000 Euro vorgesehen ist.
G
Herr von Klaeden, ich
sehe überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Ihrer
Zusatzfrage und der von Ihnen schriftlich eingereichten
dringlichen Frage.
Letztere bezieht sich auf die Arbeitslosenstatistik und auf
öffentliche Äußerungen darüber. Ich vermag nicht zu er-
kennen, was diese Frage mit dem möglichen Jahresgehalt
des künftigen Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt
für Arbeit, das selbst mir nicht bekannt ist, zu tun haben
soll. Ich bitte die Frau Präsidentin um Hilfe.
Ich stimme Ihnen zu,
Herr Staatssekretär. Ich glaube, wir sollten erst gar keine
Schärfe in die Debatte bringen: Es ist richtig, dass die von
Ihnen mündlich geäußerte Zusatzfrage in keinem Zusam-
menhang zu den von Ihnen schriftlich eingereichten
dringlichen Fragen steht.
– Ich habe das jetzt so entschieden. Sie dürfen aber eine
weitere Zusatzfrage zu Ihrer ersten dringlichen Frage stel-
len.
Bitte sehr.
Herr Staatssekre-tär, Sie haben mit Ihrer Bemerkung, Ihnen seien etwaigeGehaltsvorstellungen nicht bekannt, meine Frage – so-zusagen von hinten durch die Brust ins Auge – ja doch be-antwortet.Darf ich Sie fragen, ob entsprechende Reformen an derSpitze der Bundesanstalt für Arbeit durchgeführt werden
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und, falls ja, ob sie sich auch auf die Landesämter aus-wirken werden?
G
Herr von Klaeden, ich
weise Ihre Unterstellung, ich hätte durch die Brust ins
Auge geantwortet, ganz entschieden zurück.
Ich habe Ihnen auf Ihre schriftlich eingereichte dringliche
Frage geantwortet, die sich auf die Arbeitslosenstatistik
bezieht. Ich wiederhole es noch einmal: Die Bundesre-
gierung hat nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatistik vor
dem Wahltermin zu verändern. Über mögliche Gehalts-
vorstellungen des neuen Vorstandsvorsitzenden der Bun-
desanstalt für Arbeit ist mir nichts bekannt. Zu Pressespe-
kulationen – damit das klar ist – nehme ich keine Stellung.
Mir liegen mehrere
Wortmeldungen vor. Ich lese noch einmal die dringliche
Frage 1 des Kollegen Eckart von Klaeden vor, damit alle
wissen, worum es geht: Treffen Meldungen zu, nach de-
nen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,
Walter Riester, rund 1,2 Millionen in der Arbeitslosensta-
tistik geführte Arbeitslose, die „an einer Vermittlung nicht
interessiert seien oder nicht ernsthaft nach einer Stelle
suchten“, künftig aus der Statistik herausrechnen, in einer
gesonderten Rubrik erfassen und diese neue Statistik erst-
mals im Sommer dieses Jahres verwenden will?
Nächster Fragesteller ist der Kollege Niebel.
Herr Staatssekretär, offenkundig
handelt es sich hierbei um eine Falschmeldung der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Ich meine mich zu
erinnern, am Montag auf n-tv in der Sendung „Grüner Sa-
lon“ den Bundesarbeitsminister gesehen zu haben. Er
ging auf exakt diese Fragestellung dezidiert ein und stellte
fest, dass er, der Bundesarbeitsminister, diese Statistiken
so verändern will. Gehe ich recht in der Annahme, dass
der Bundesarbeitsminister im Kabinett überstimmt wor-
den ist, oder hat er dort keine Rückendeckung mehr?
G
Erstens. Ich habe die
Sendung, die Sie, Herr Abgeordneter Niebel, ansprechen,
nicht gesehen.
Zweitens. Nach meinem Kenntnisstand hat im Kabi-
nett keinerlei Abstimmung stattgefunden.
Drittens. Ich wiederhole noch einmal – ich bin für jede
Frage dankbar –: Die Bundesregierung hat nicht die
Absicht, in dieser Legislaturperiode die Arbeitslosenstatis-
tik zu ändern. Die Bundesregierung geht davon aus, dass
die Arbeitsmarktlage im Frühjahr wegen der wirtschaftli-
chen Erholung deutlich besser sein wird.
Wir möchten nicht, dass die Arbeitsmarktlage durch De-
batten über die Statistik – im Parlament oder außerhalb –
belastet wird. Wir werden die Arbeitslosenstatistik in die-
ser Legislaturperiode daher nicht ändern. Ist das nicht
schön, Herr Niebel?
Nun hat der Kollege
Meckelburg das Wort.
Möglicher-
weise handelt es sich hierbei wieder um einen Punkt, bei
dem alle etwas gewusst haben, nur der Minister nicht.
Herr Staatssekretär, die Zahl von 1,2 Millionen in der
Statistik Geführten, die im Raum steht, habe ja nicht ich
erfunden, sondern ist von Ihrer Seite an die Presse heran-
getragen worden. Können Sie zumindest zu der Zahl, die
von Ihrer Seite lanciert worden ist, etwas sagen?
G
Diese Zahl ist wedervon mir selbst noch von unserer Seite lanciert worden.Ich möchte Ihnen, Herr Meckelburg, aber eine Aus-kunft, die sich auf das Gesetz bezieht, geben. In§ 16 SGB III – das ist die Grundlage der Arbeitslosenver-sicherung – ist festgelegt, wer arbeitslos ist. Dort ist defi-niert, dass arbeitslos ist, wer vorübergehend nicht ineinem Beschäftigungsverhältnis steht, eine versiche-rungspflichtige Beschäftigung sucht und dabei den Ver-mittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügungsteht und sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet hat.Das ist die Rechtsgrundlage. Das ist nicht neu und hat sichgegenüber Ihrer Regierungszeit nicht verändert. Das istdie Definition.Dieser Definition liegen mehrere Kriterien zugrunde.Ein Kriterium ist, dass man den Vermittlungsbemühungendes Arbeitsamtes zur Verfügung steht. Die Bundesanstaltfür Arbeit hat Infas beauftragt, eine breit angelegte Unter-suchung im Jahre 2000 darüber durchzuführen, wie zeit-nah und wie unmittelbar arbeitslos gemeldete Personenum eine Arbeit nachsuchen.Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich Ihnen die Er-gebnisse der Untersuchung nicht im Einzelnen nennenkann; ich bin aber gerne bereit, Ihnen das zur Verfügungzu stellen. Fazit dieser Studie jedenfalls war, dass rund60 Prozent der arbeitslos gemeldeten Personen sehr nach-dringlich und nachhaltig eine Beschäftigung suchen.28 Prozent der Personen kann man unterstellen, dassderen Suche nach einer Beschäftigung nicht so nachhaltigist. Untersucht man diese Gruppe, stößt man auf ganzunterschiedliche Untergruppen.Ich möchte den Versuch unternehmen, diese Gruppendarzustellen. In dieser Gruppe findet man Personen, die
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Eckart von Klaeden21814
arbeitslos gemeldet sind, weil sie dadurch einen Kinder-geldanspruch aufrechterhalten.
Diese Personen suchen möglicherweise keine neue Ar-beit, sondern sind arbeitslos gemeldet, weil sie Kinder-geld beziehen wollen. Außerdem findet man in dieserGruppe Personen, die zwar arbeitslos gemeldet sind undals solche gezählt werden, aber möglicherweise schonlängst eine neue Arbeit haben, auf die Einberufung zumWehrdienst warten oder ein Studium aufnehmen wollen.Sie sind arbeitslos gemeldet, damit sie ihren Anspruch aufArbeitslosengeld, auf Leistungen der Arbeitslosenversi-cherung, aufrechterhalten. Man findet darunter auch Per-sonen, die sich im Vorruhestand oder in einer ähnlichenSituation befinden und davon ausgehen, dass sie der Ver-mittlung eigentlich gar nicht mehr zur Verfügung stehenmüssen. Dem Rechte nach müssen sie das aber, weil ih-nen ansonsten die Leistungen aberkannt werden. All dieseGruppen befinden sich darunter.Die Bundesanstalt für Arbeit hat damit begonnen, dieErgebnisse dieser Untersuchung zu diskutieren – mangeht Einzelfragen noch nach –, sodass man davon ausge-hen kann, dass nicht alle der gegenwärtig registriertenrund 4,3 Millionen Arbeitslosen nach der gesetzlichenDefinition Arbeitslose in dem Sinne sind, dass sie allesdaransetzen, unmittelbar und schnell vermittelt zu wer-den.
Nun hat der Kollege
Gerald Weiß das Wort zu einer Zusatzfrage.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Staats-
sekretär, ich habe noch eine Nachfrage. In dem Artikel der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit der Überschrift
„Jede geschönte Statistik ist ein Skandal“ ist eine Äuße-
rung von Ihnen wiedergegeben, nach der es Hunderttau-
sende von älteren Arbeitslosen gibt, die zu 90 Prozent gar
keine Beschäftigung mehr anstreben. Woher haben Sie
diese beiden Werte? Worauf beziehen Sie sich dabei?
G
Herr Abgeordneter
Weiß, ich muss das anders beantworten. Die Zeitung, die
Sie zitiert haben, hat mit mir gar nicht gesprochen. Die
Aussage, es gebe Hunderttausende, die zu 90 Prozent die-
ses oder jenes täten, kann nicht von mir stammen. Damit
wird es relativ einfach. Ich antworte nicht auf irgend-
welche Spekulationen, die irgendwo formuliert werden.
Die Frage nach den Quantitäten habe ich eben beantwor-
tet. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Erhebungs-
ergebnisse, die Infas bei einer Befragung von mehr als
20 000 arbeitslos gemeldeten Personen ermittelt hat, noch
im Einzelnen untersucht werden – das muss eigentlich
auch Ihr Interesse sein –; damit werden wir uns dann be-
fassen.
Herr Abgeordneter Weiß, ich sage ganz ausdrücklich
noch einmal, weil das der Gegenstand der Frage war – ich
kann das noch fünfmal wiederholen; das hilft Ihnen bei
der Entscheidungsfindung bezüglich Ihrer Aktuellen
Stunde –: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Ar-
beitslosenstatistik in dieser Legislaturperiode zu verän-
dern.
Nun hat der Kollege
Peter Dreßen eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben
gerade von verschiedenen Gruppen arbeitslos gemeldeter
Personen gesprochen, bei denen fragwürdig ist, ob die Be-
treffenden überhaupt noch Arbeit wünschen. Meinen Sie
nicht, dass eine solche Statistik in Zukunft doch transpa-
renter gestaltet werden müsste, sodass man aus ihr
tatsächlich erkennen kann, wer nun wirklich intensiv nach
Arbeit sucht, um die entscheidenden politischen Weichen-
stellungen vorzunehmen, wobei man die Gesamtzahl, wie
sie heute ausgewiesen wird, natürlich auch in Zukunft
noch haben muss?
G
Herr AbgeordneterDreßen, alle die, die in diesem Raume sitzen und sich mitder Frage befasst haben, wissen, dass wir in den letztenWochen wegen der Stichhaltigkeit der Vermittlungs-statistik der Bundesanstalt für Arbeit erhebliche Aus-einandersetzungen hatten. Ich wiederhole: Sowohl eineUntersuchung des Bundesrechnungshofs als auch eineUntersuchung der Innenrevision der Arbeitsverwaltung inzehn Arbeitsämtern in zehn unterschiedlichen Landesar-beitsamtsbereichen haben ergeben, dass rund 35 bis36 Prozent der angegebenen Vermittlungen nicht nach-vollziehbar sind. Für die Bundesregierung sage ich aus-drücklich, dass wir natürlich nur an solchen Statistiken In-teresse haben, die etwas Reales wiedergeben.
– Gerade hat ein Abgeordneter dazwischengerufen: „Daswäre das erste Mal!“ Herr Abgeordneter Heinrich, ichkann Ihnen gern aufzählen – deswegen macht es auchSinn, eine Aktuelle Stunde durchzuführen –,
wie oft in der Zeit von 1982 bis 1998, unter Ihrer Regie-rungsbeteiligung, die Statistik verändert worden ist. Aufdie Auseinandersetzung und die Argumentation dazulasse ich mich gern ein.Ich komme nun aber auf das zurück, was Herr Dreßengefragt hat. Selbstverständlich ist es jetzt notwendig, dieVermittlungsstatistik der Arbeitsverwaltung zu untersu-chen und zu Statistikergebnissen zu kommen, die die Rea-lität widerspiegeln. Deswegen ist im Zweistufenkonzept
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der Bundesregierung im Zusammenhang mit kurzfristi-gen Veränderungen festgehalten – ich will das gern zitie-ren – : Die Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Ar-beit wird neu konzipiert, um aussagekräftige und valideDaten zu liefern.Das ist aber zunächst einmal Angelegenheit der Bun-desanstalt für Arbeit. Wie bekannt, werden wir eine Kom-mission von 15 Persönlichkeiten aus unterschiedlichenBereichen einberufen, die unter dem Vorsitz von HerrnPeter Hartz Vorschläge für eine Reform der Arbeitsver-waltung entwickeln soll. Diese Kommission wird sich si-cherlich auch mit Fragen der Statistik und ihrer Verän-derung befassen. Ich sage aber noch einmal ausdrücklichdazu: Diese Veränderungen sind erst für die nächste Le-gislaturperiode vorgesehen.
Jetzt hat der Kollege
Wolfgang Gehrcke das Wort zu einer Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ich
rufe mir Ihre erste Anwort in Erinnerung. Darin haben Sie
gesagt, dass eine Veränderung der Statistik in diesem Jahr
schon aus dem Grund nicht infrage kommt, da die
Bundesregierung im Sommer mit einer Verbesserung auf
dem Arbeitsmarkt rechnet und nicht möchte, dass diese
Verbesserung ins Zwielicht der Statistik gezogen wird.
– Das heißt doch aber, dass Sie einen Zusammenhang
zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeit und den statisti-
schen Grundlagen herstellen. Heißt das im Umkehrs-
chluss auch, dass die Statistiken dann, wenn Ihre Pro-
gnose nicht eintrifft, die Arbeitslosenzahlen sich also
nicht so wie von Ihnen erwartet entwickeln, verändert
werden könnten? Sie haben eine Kopplung zwischen den
statistischen Zahlen und der Höhe der Arbeitslosigkeit
hergestellt.
G
Herr Abgeordneter,
darf ich das noch einmal wiederholen? Ich habe das näm-
lich bereits fünfmal gesagt.
Ich bin für jede Wiederholung außerordentlich dankbar.
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, in dieser
Legislaturperiode die Statistik zu verändern.
Es wird öffentlich unterstellt – vielleicht darf ich das noch
zu Ende führen –, insbesondere von dieser Seite, mög-
licherweise aber auch von anderen, wir würden die Sta-
tistik ändern, um zu geschönten Arbeitsmarktdaten zu
kommen. Da besteht auch der Zusammenhang, nach dem
Sie gefragt haben. Wir haben weder ein Interesse an ge-
schönten Arbeitsmarktdaten noch an geschönten Vermitt-
lungsstatistiken noch an sonstigen geschönten Statistiken,
die irgendetwas mit Beschäftigung zu tun haben. Da ein
solches Interesse bei uns nicht vorhanden ist, werden wir
die Statistik nicht ändern. Wir sind der Auffassung, dass
beispielsweise bei den Vermittlungsstatistiken Verände-
rungen notwendig sind. Das muss aber die Arbeits-
verwaltung selbst machen, damit reale Daten zustande
kommen. Mit möglichen Veränderungen hinsichtlich der
Aussagekraft der Arbeitslosenstatistiken wird sich die
Kommission befassen und werden wir uns in der nächs-
ten Legislaturperiode befassen.
Nun stellt der Kollege
Dr. Seifert eine Frage.
Herr Staatssekretär Andres, Sie
wiesen bereits darauf hin: Das Ganze ist dadurch ins Rol-
len gekommen, dass deutlich wurde, dass die Vermitt-
lungsstatistik nicht das aussagt, was man eigentlich von
ihr erwartet. Ich möchte in diesem Zusammenhang fra-
gen, wie es mit der Vermittlungsstatistik für schwerbehin-
derte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aussieht.
Durch die Novellierung im Zusammenhang mit dem
Schwerbehindertengesetz vom Oktober 2000 sollten ja
50 000 Menschen in Arbeit gebracht werden. Immerhin
haben Sie und auch der Minister bereits beeindruckende
Zwischenergebnisse bekannt gegeben. Sind diese Ergeb-
nisse immer noch valide oder muss man davon ausgehen,
dass auch das nicht ganz so positiv aussieht, wie es bisher
dargestellt worden ist?
G
Die Bundesregie-
rung geht davon aus, dass diese Zahlen valide sind und
dass die Erfolge, die da mitgeteilt worden sind, reale Er-
folge sind.
Herr Abgeordneter Seifert, wenn Sie sich die Aus-
einandersetzung zwischen dem Bundesrechnungshof und
der Arbeitsverwaltung über die Kriterien dafür anschauen,
was denn als Vermittlung zählt und was nicht, dann wer-
den Sie auf den großen Block der elektronischen Infor-
mationssysteme, SIS und AIS, stoßen. Da Sie Fachmann
in diesem Bereich sind, wissen Sie sicherlich, dass die
Vermittlung von Schwerbehinderten häufig sehr nachhal-
tige Vermittlungsbemühungen, persönliche Gespräche,
Akquisition beim Arbeitgeber und Gespräche mit dem
Betroffenen und Ähnliches nach sich zieht. Das funktio-
niert nicht so einfach, dass man sich nur an den SIS oder
AIS zu wenden braucht und schon ist der Vermittlungs-
vorschlag klar. Wir gehen davon aus, dass die erhobenen
Zahlen überall da, wo konkrete Leistungen der Arbeits-
verwaltung erbracht werden – beispielsweise bei ABM
oder SAM –, außerordentlich valide sind.
Nun hat der Kollege
Peter Weiß eine Frage.
HerrStaatssekretär, Sie werden mir doch sicherlich zustim-men,
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dass die Meldungen in der „Frankfurter Allgemeinen Zei-tung“ vom 26. Februar und in der „Welt“ vom 25. Februar,die Grundlage der Frage des Kollegen von Klaeden waren,überhaupt nie entstanden wären und auch nicht eine der-art breite Resonanz gefunden hätten, wenn die Erklärung,die Sie hier abgegeben haben, nämlich dass die Bundes-regierung in dieser Legislaturperiode, die bald zu Endegeht, nicht mehr beabsichtigt, die Arbeitslosenstatistik zuändern, in den vergangenen Wochen und Monaten un-strittig im Raum gestanden hätte. Wenn diese Überlegun-gen nicht stattgefunden hätten, hätte auch der KollegeDreßen Ihnen hier nicht noch einmal so freundlich dieÜberlegungen zu angeblicher Transparenz in der Arbeits-losenstatistik vorgetragen. Irgendwo müssen also dochdiese Äußerungen herkommen.Deshalb frage ich Sie: Dass es in der Bundesregierungund in den Koalitionsfraktionen Überlegungen gegebenhat, die Arbeitslosenstatistik zu ändern, können Sie dochnicht bestreiten?G
Zunächst einmal ist von
1998 bis heute keine Statistik verändert worden. Die Liste
der zwischen 1982 und 1998 vorgenommenen Änderun-
gen trage ich Ihnen gerne vor; das sollten wir aber an-
schließend in der Aktuellen Stunde machen. Wir haben
nichts geändert.
Alle Fachleute, zu denen ich Sie wie auch die anderen
Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung, die hier sitzen, rechne, wissen, dass
es gewisse Probleme gibt, wenn man sich mit der Ver-
mittlungstätigkeit beschäftigt. Ich habe Ihnen ja vorge-
lesen, wie die Rechtsgrundlage für Arbeitslosigkeit aus-
sieht: Man muss eine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung von mehr als 15 Stunden suchen, man
muss der Vermittlung zur Verfügung stehen und man muss
arbeitslos gemeldet sein. Es wäre sehr sinnvoll, da sehr
viel mehr Transparenz hineinzubringen. Das werden wir
auch tun; das wird auch die Kommission untersuchen. Bei
der Vermittlungsstatistik wird die Bundesanstalt für Ar-
beit entsprechende Veränderungen vornehmen, aber an
der statistischen Erhebung der Arbeitslosenzahlen – das
darf ich jetzt zum sechsten Male, wie ich glaube, wieder-
holen; dafür bin ich Ihnen dankbar –
werden wir in dieser Legislaturperiode nichts ändern,
auch wenn wir der Meinung sind, dass solche Änderun-
gen sinnvoll wären. Da wir aber nicht wollen, dass diese
Änderungen in einer von Ihnen oder von anderen bewusst
herbeigeführten oder geschürten öffentlichen Diskussion
völlig untergehen, in der uns unterstellt würde, wir wür-
den auf diese Weise die Arbeitsmarktdaten schönen oder
manipulieren – das haben wir gerne anderen überlassen –,
werden wir in diesem Bereich an der Statistik nichts
ändern.
Nun fragt der Kollege
Karl-Josef Laumann.
Herr Staatssekre-
tär, am Wochenende gab es ja verschiedentlich auch
Tickermeldungen, die das Begehren, die Arbeitslosensta-
tistik zu verändern, mit Ihrem Namen verbunden haben.
Was haben Sie denn unternommen, um diesen anschei-
nend falschen Tickermeldungen entgegenzutreten?
G
Ich will Sie darauf hin-weisen, dass ich für Tickermeldungen nicht verantwort-lich bin und ich sie auch nicht schreibe. Aber ich kannIhnen einen möglichen Hintergrund dafür nennen: Ichhatte am Freitag im Ministerium eine Besuchergruppe; siebestand aus einer größeren Anzahl von Redakteuren der„Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“. Mit diesen Re-dakteuren der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“wurde natürlich über die Pressekonferenz, die kurz vorhermit dem Bundeskanzler und dem Bundesarbeitsministerstattgefunden hatte, diskutiert. Ich habe dabei darauf hin-gewiesen – das habe ich ja eben hier auch schon getan –,dass in unserem Zweistufenkonzept ausdrücklich unterdem Punkt „Kurzfristige Maßnahmen“ steht, dass dieBundesanstalt für Arbeit ihre Vermittlungsstatistik ändernmuss. Das ist ja zwischen uns wahrscheinlich unstreitig.Oder muss ich feststellen, dass das zwischen uns beiden,Herr Laumann, streitig ist? Nein, dazu sind Sie zu sehrFachmann, Herr Laumann, als dass das streitig seinkönnte.Die Bundesanstalt für Arbeit muss sich also mit ihrerVermittlungsstatistik auseinander setzen; das habe ich beidiesen Gesprächen zum Ausdruck gebracht. Ich habe da-rüber hinaus erklärt, dass man sich auch mit der Frageauseinander setzen muss, was mit Gruppen geschehensoll, die der Vermittlung nicht zur Verfügung stehen. Mirliegen hier eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln vonheute vor, die hierfür gute Beispiele bringen. Beispiels-weise wird in der „Frankfurter Rundschau“ berichtet, wasder Chef des Arbeitsamtes Frankfurt tut: Er bietet Frauen,die eine Halbtagsbeschäftigung suchen, mithilfe vonfreien und privaten Vermittlern entsprechende Stellen an.Diese Aktivitäten sind vernünftig und bewegen sich völ-lig im Rahmen des Gesetzes. Natürlich müssen die Statis-tiken, insbesondere im Vermittlungsbereich, transparenterund aussagekräftiger werden.Ich füge aber noch einmal hinzu, Herr KollegeLaumann, zur wunderbaren Wiederholung: Die Bundes-regierung hat nicht die Absicht, in dieser Legislaturpe-riode die Arbeitslosenstatistik zu verändern, weil sie da-von ausgeht, dass die Arbeitsmarktdaten ab Frühjahrbesser werden. Wir wollen diese Verbesserung nicht da-durch diskreditieren, dass man uns unterstellen kann, wirwürden die Statistik manipulieren. Die Manipulation vonStatistiken überlassen wir gerne anderen.
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PeterWeiß
21817
Eigentlich ist eine
zweite Zusatzfrage nicht zulässig, aber beim Kollegen
Laumann mache ich eine Ausnahme. Sie bekommen von
mir sozusagen eine zweite Frage geschenkt.
G
Das ist ein sehr ordent-
licher Mann, Frau Präsidentin. Ihm können Sie auch drei
oder vier zusagen.
Herr Staatssekre-
tär, wenn ich richtig informiert bin, gibt es bei der Selbst-
verwaltung in Nürnberg einen Fachausschuss für Statis-
tik, dem auch ein Vertreter der Bundesregierung angehört.
Ich würde gerne von Ihnen wissen: Wann hat sich dieser
Ausschuss das letzte Mal mit der Art und Weise, wie bei
der Bundesanstalt für Arbeit Statistiken erstellt werden,
insbesondere die Vermittlungsstatistik, beschäftigt? Ist
Ihnen das bekannt?
G
Herr Abgeordneter
Laumann, das kann ich Ihnen jetzt aus dem Stand nicht sa-
gen. Sie wissen natürlich aus der Diskussion – auch aus
den Beratungen im Ausschuss –, dass sich dieser Aus-
schuss in den letzten Jahren mehrmals mit Statistikfragen
und auch mit Verordnungen dazu auseinander gesetzt hat.
Aber freuen Sie sich nicht zu früh; der Bundesrechnungs-
hof hat eine Untersuchung in Bezug auf die Arbeitsver-
mittlung bei den Arbeitsämtern, bei der man real der Frage
nachgegangen ist, was an Vermittlung unmittelbar vor Ort
auf der Grundlage welcher Verordnung konkret stattfin-
det, zum ersten Mal durchgeführt. Das ist zum ersten Mal
geschehen, das müssen Sie zugeben. Die Bundesanstalt
für Arbeit hat dann, ebenfalls zum ersten Mal, zehn Ar-
beitsämter ausgesucht, bei denen das Ergebnis überprüft
werden sollte, um es valide zu machen. Das Interessante
ist: Die Innenrevision der Bundesanstalt für Arbeit ist zu
dem gleichen Ergebnis gekommen wie der Bundesrech-
nungshof bei der Untersuchung von fünf Arbeitsämtern.
Das ist für uns Anlass, sehr nachhaltig darauf zu drin-
gen, dass die Praxis der Vermittlung bei der Bundesanstalt
für Arbeit verändert wird. Wir wollen, dass die Vermitt-
lungsoffensive, das Job-Aqtiv-Gesetz, umgesetzt wird.
Die Statistik soll auch in der Form verändert werden – das
habe ich eben zitiert und kann das gerne noch einmal tun –,
dass uns reale Vermittlungen mitgeteilt werden und keine
fiktiven Zahlen. – Ich sehe an Ihrem Nicken, dass das auf
Ihr Einverständnis trifft.
Nun hat der Kollege
Klaus Brandner eine Frage.
Herr Staatssekretär, Statis-
tiken dienen ja der Vergleichbarkeit und der Zielgenauig-
keit der Arbeit. Auf europäischer Ebene wird von Eurostat
regelmäßig eine Statistik erstellt und veröffentlicht. Kön-
nen Sie eine Aussage zu der Bewertung der Arbeitslosig-
keit auf europäischer und auf deutscher Ebene treffen? Ist
sie nach der Statistik auf europäischer Ebene höher oder
niedriger und sind die Bewertungskriterien von Eurostat
angemessen und sachgerecht?
G
Das hat etwas mit Sta-
tistiken zu tun, Herr Abgeordneter Niebel, das werden Sie
doch nicht bestreiten; es hat nichts mit Gehältern oder
Einkommen zu tun.
Es hat sicher mehr mit
der Ausgangsfrage zu tun als die Frage nach den Gehalts-
vorstellungen des neuen Vorsitzenden der Bundesanstalt.
G
Sehr richtig. – Herr Ab-
geordneter Brandner, momentan wird öffentlich darüber
diskutiert und spekuliert – auch der Erste Geschäftsführer
der Unionsfraktion hat sich dazu geäußert –, wie man zu
einer besseren europäischen Vergleichbarkeit kommen
kann. Wenn wir die Eurostat-Kriterien zugrunde legen
würden, dann wäre die Arbeitslosenquote der Bundesre-
publik Deutschland niedriger als nach unserer Zählung;
denn nach dem Verfahren unserer Datenerhebung wird so-
zusagen konkret gezählt. Jeder, der sich gemeldet hat,
wird registriert. Das heißt, nach der Statistik von Eurostat
sähen unsere Zahlen besser aus.
Ich sage gleich dazu: Wir werden das Verfahren von
Eurostat nicht übernehmen; sonst sagt die rechte Seite des
Hauses wieder, wir würden Statistiken manipulieren. Das
tun wir nicht. Im Übrigen gab es in früheren Jahren Ver-
suche, die Erhebungshäufigkeit in Deutschland zu verän-
dern und sie der von Eurostat anzupassen. Dazu darf ich
mitteilen, dass die Regierung Kohl, an der auch die FDP
beteiligt war, wie alle wissen, darauf bestanden hat, dass
die gegenwärtig praktizierte Statistikerstellung bei uns
jährlich erfolgt. Wir sind bis 2006 durch das Mikrozen-
susgesetz daran gebunden, unsere Statistik so zu erstellen,
wie es gegenwärtig der Fall ist.
Das ist also nicht von uns, sondern von der Vorgänger-
regierung beschlossen worden. Vielleicht können wir das
ja anschließend in einer Aktuellen Stunde ausführlich
erörtern, damit auch die interessierte Öffentlichkeit da-
rüber informiert wird. Wir erstellen unsere Statistik nicht
unterjährig, also nicht einmal pro Quartal, weil die Fest-
legung es anders vorsieht. Ich habe hier bereits dargestellt,
wie wir die Daten erheben. Ich denke, das beantwortet
Ihre Frage weitgehend.
Ich erlaube mir denHinweis, dass ich, da wir noch immer bei der dringlichenFrage 1 sind, nach dem Aufruf der nächsten vier Wort-meldungen zur dringlichen Frage 2 komme. Ich hoffe, da-mit sind Sie einverstanden; wir müssen ein bisschen vonder Eingangsfrage und -diskussion wegkommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 200221818
Ich gebe dem Kollegen Klaus Grehn das Wort zu einerFrage.
Herr Staatssekretär, – –
G
Das klingt aber müh-
sam, Herr Grehn.
So mühsam wie Ihre Aussa-
gen zur Statistik.
G
Meine Aussagen sind
alle glasklar.
Herr Staatssekretär,
bitte nicht zu viele Zwiegespräche.
Meine Frage lautet, Herr
Staatssekretär: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen
der Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit unter der Rubrik In-
dividualisierung, Bagatellisierung, Schuldzuweisung an die
Betroffenen – Stichwort: Faulheitsdiskussion – abgehandelt
wird, und der Diskussion um die zu verändernde Statistik?
In welche Rubrik ordnen Sie jene ein, die sich drei, fünf oder
sieben Jahre vergeblich um einen Arbeitsplatz bemüht ha-
ben? In welche Rubrik ordnen Sie jene ein, die 300, 500 oder
700 Bewerbungen geschrieben haben und physisch sowie
psychisch am Ende sind, weil sie keinen Arbeitsplatz be-
kommen haben? Sind Sie der Meinung, dass diese Men-
schen nicht an einer Arbeitsstelle interessiert sind und dass
sie der Vermittlung nicht mehr zur Verfügung stehen?
Planen Sie – natürlich erst in der nächsten Legislatur-
periode, weil Sie in dieser Legislaturperiode keine Verän-
derungen wollen, da sich die Zahlen nach Ihrer Meinung
verbessern werden –, auch diejenigen in der Statistik zu
berücksichtigen, die jetzt unter die Dunkelziffer fallen,
also die Berücksichtigung derjenigen, die noch nicht er-
fasst werden, aber arbeitslos sind?
G
Herr Abgeordneter
Grehn, ich fange mit dem letzten Teil Ihrer Frage an. Wir
erfassen keine Dunkelziffern. Ich habe die Kriterien ge-
nannt, wer unter welchen Umständen in die Arbeitslosen-
statistik aufgenommen wird.
Zum ersten Teil Ihrer Frage möchte ich Ihnen sagen,
dass das Kernproblem nicht statistischer Art ist. Das
Kernproblem ist vielmehr, dass wir in unserem Land ein
ausgeprägtes Ungleichgewicht zwischen dem Angebot an
Arbeitsplätzen und der Nachfrage an Arbeitsplätzen ha-
ben. Um es etwas deutlicher zu sagen: Das Kernproblem
ist nicht die Statistik, sondern die Tatsache, dass es in die-
sem Land zu wenig Arbeitsplätze gibt.
Diesen Tatbestand muss man zunächst einmal festhalten.
Wenn man aber auf die Feinheiten schaut, dann wird
man feststellen, dass es Regionen gibt, in denen eine sehr
starke Nachfrage nach Arbeitskräften besteht und Ar-
beitsstellen nicht besetzt werden können. Daneben gibt es
andere Regionen, in denen es genau andersherum ist. Die
Bundesregierung hat ein Interesse daran, auch in der öf-
fentlichen Diskussion klar zu machen, dass man das eine
Problem nicht sozusagen mit dem anderen Problem er-
schlagen kann.
Es gibt ohne Zweifel viele Menschen, die bis zu
100 Bewerbungen geschrieben haben und die darüber
verzweifelt sind, dass sie trotzdem keinen Arbeitsplatz
finden. Es gibt aber umgekehrt sicherlich auch Menschen,
die möglicherweise gar kein Interesse daran haben, un-
mittelbar eine Arbeit zu finden. Sie werden zugeben – das
zu leugnen wäre Unsinn –, dass beide Sachverhalte Rea-
lität sind. Man kann aber das eine Problem nicht mit dem
anderen Problem konterkarieren.
Wir müssen ein Interesse daran haben, dass es eine
bestmögliche Vermittlung gibt. Wir müssen ferner ein
Interesse daran haben, dass wir so schnell wie möglich
neue Arbeitsplätze schaffen, um arbeitslose Menschen
in Arbeit zu bringen. Mit beiden real bestehenden Pro-
blemen müssen wir uns in der Praxis auseinander set-
zen.
Nun eine Frage der
Kollegin Christine Ostrowski.
Herr Staatssekretär
Andres, Sie haben mehrmals auf charmanteste Art hier be-
gründet, dass Sie in dieser Legislaturperiode die Kriterien
für die Statistik nicht mehr ändern wollen. Ich bitte Sie
höflichst um Verzeihung, dass ich etwas verwirrt bin. Ihre
Kriterien, mit denen zukünftig festgelegt werden soll, wer
eigentlich durch die Arbeitslosenstatistik erfasst wird, be-
deuten im Umkehrschluss, dass Sie bis zum Ende der
Legislaturperiode eine Statistik weiter fortführen, die Sie
– ich sage es einmal freundlich – für unkorrekt halten.
Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen, dass Sie sie für
falsch halten.
G
Nein, das ist nicht dasProblem, Frau Kollegin. Da haben Sie meine Aussagefalsch verstanden.
Eigentlich würde ich Ihnen gerne charmant den Gesetzes-text noch einmal vorlesen. Darin ist festgelegt, wer beiuns als arbeitslos gilt. Ich nenne Ihnen noch einmal dieKriterien: Der Betroffene muss einen sozialversiche-rungspflichtigen Job mit einer Arbeitszeit von mehr als15 Stunden die Woche suchen und er muss der Vermitt-lung zur Verfügung stehen. Das ist ein ganz wichtigesMerkmal.Ich habe vielmehr über die so genannte Vermittlungs-statistik gesprochen. Die sagt nämlich etwas darüberaus, wie viele Menschen von den Arbeitsämtern bzw. der
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Vizepräsidentin Anke Fuchs21819
Bundesanstalt für Arbeit aus der Arbeitslosigkeit in dieBeschäftigung vermittelt werden. Da sind ohne ZweifelÄnderungen notwendig, weil uns fiktive Statistiken nichtsnutzen.Eine Folge ist übrigens – darauf muss ich hinweisen;auch das steht im Gesetz –: Wer der Vermittlung der Bun-desanstalt für Arbeit nicht zur Verfügung steht, der verliertauch den Anspruch auf Leistung und würde dann, wenn erweder der Vermittlung zur Verfügung steht noch eineLeistung bekommt, auch nicht mehr als Arbeitsloser ge-zählt. Auch das ist klar.Wir haben kein Interesse daran, dieses Problem aufeine solche Art und Weise zu beseitigen. Ich sage nocheinmal: Wir haben ein Interesse an mehr Arbeitsplätzenund an real stattfindenden Vermittlungen. Das ist wichtigund muss vorangetrieben werden.
Nun fragt die Kolle-
gin Fischbach.
Herr Staatssekretär,
ich komme kurz auf Ihre Antwort auf die Frage des Kol-
legen Weiß zurück. Es geht um Ihre angebliche Äußerung
in der „FAZ“. Dort werden Sie mit dem Satz zitiert:
90 Prozent der älteren Arbeitslosen sind gar nicht daran
interessiert, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. – Sie
haben geantwortet, dass die Zeitungsmacher nicht mit Ih-
nen gesprochen haben. Kann ich Ihre Antwort so verste-
hen, dass diese Äußerung nie von Ihnen gemacht wurde?
G
Ja.
– Sie alle als Beteiligte wissen doch: Nicht alles, was in
der Zeitung steht, muss auch so sein, wie es in der Zeitung
steht.
– Ja, das dürfen Sie bei Gelegenheit zitieren.
Frau Präsidentin, können wir die nächste Frage
aufrufen?
Jetzt hat die Kollegin
Claudia Nolte eine letzte Frage zu diesem Komplex. Dann
werde ich die dringliche Frage 2 aufrufen.
Herr Staatssekretär, ich
hoffe, Sie haben im Hinterkopf, dass eine Behauptung, die
man ständig wiederholt, die Ursprungsbehauptung umso
mehr stützt. Ich würde also bei Ihren vielmaligen Beteue-
rungen, die Statistik werde erst in der nächsten Legisla-
turperiode geändert, etwas aufpassen.
Vor dem Hintergrund, dass damals auch wir als
CDU/CSU-FDP-Regierung darüber nachgedacht haben,
dass wir in Europa eine vergleichbare Arbeitslosenstatis-
tik brauchen, und es auf der anderen Seite dieses Hauses
sofort einen Aufschrei dahin gehend, dass dies zu Be-
schönigungen führe, gab, frage ich Sie, ob Sie sich für den
Fall, dass wir in der nächsten Legislaturperiode wieder
eine von CDU/CSU und FDP geführte Bundesregierung
haben werden – das ist sehr wahrscheinlich –, mit der
gleichen Vehemenz, wie Sie das jetzt tun, um eine Ände-
rung der Arbeitslosenstatistik bemühen werden.
G
Frau Abgeordnete
Nolte, als ehemaligem Mitglied der Bundesregierung
muss ich Ihnen zunächst einmal unterstellen – Sie haben
das ja immerhin mit beschlossen –, dass Sie besonders
darin geübt sind, statistische Grundlagen zu verändern. Es
gab bei Ihnen neun Änderungen der Arbeitslosenstatistik.
Dabei mache ich – damit wir uns richtig verstehen –
gleich eine Einschränkung: Seit 1990 gab es fünf Ände-
rungen.
Das, was Sie unterstellt haben, ist von mehreren An-
nahmen unterlegt. Auf mehrere Annahmen möchte ich
nicht antworten. Ich gehe übrigens davon aus, dass die
Bundesregierung, die erfolgreich gearbeitet hat, diese Ar-
beit auch in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen
wird, sodass eine wichtige Grundlage Ihrer Frage völlig
entfallen ist.
Nun rufe ich die
dringliche Frage 2 des Abgeordneten von Klaeden auf:
Wird die Bundesregierung die Statistik auch dahin gehend än-
dern, alle Teilnehmer an Beschäftigungs- und Qualifizierungs-
maßnahmen künftig neu in die Statistik aufzunehmen, weil es sich
auch bei dieser Gruppe um Arbeitssuchende handelt, und wenn
nein, warum nicht?
Herr Staatssekretär.
G
Herr Abgeordneter vonKlaeden, zunächst einmal möchte ich feststellen: AlleTeilnehmer an Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaß-nahmen werden bereits heute in den Statistiken der Bun-desanstalt für Arbeit erfasst; das muss man wissen.
Wir zählen sie nicht als Arbeitslose, so wie sie in den16 Jahren Ihrer Regierung auch nicht als Arbeitslose ge-zählt wurden. Denn ihnen fehlt eine wichtige Grundlage:Wer sich in solchen Maßnahmen befindet, steht der Ver-mittlung nicht zur Verfügung.
Das habe ich im Zusammenhang mit meinen Antwortenauf die erste dringliche Frage schon mehrmals gesagt. Ichkann es gerne noch einmal tun: Da sie nicht der Vermitt-
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lung zur Verfügung stehen, werden sie auch nicht so ge-zählt, wie Sie das gerne wollen. Wir werden das auchnicht ändern.
Zusatzfrage.
Die Fragen, die
sich auf die Pressemitteilung vom Wochenende bezogen
haben, sind von Ihnen samt und sonders damit beantwor-
tet worden, dass es sich um Falschmeldungen handelt.
Können Sie mir noch einmal ausdrücklich bestätigen,
dass es an der Spitze Ihres Hauses am Ende der letzten
Woche oder am Wochenende
nicht die Absicht gab, die Arbeitslosenstatistik zu verän-
dern, und dass die diesbezüglichen Nachrichten samt und
sonders Falschmeldungen sind?
G
Man muss bei Ihnen im-
mer aufpassen, wenn Sie fragen,
weil Sie in Ihre Frage etwas hineingepackt haben, das hier
so überhaupt nicht gesagt worden ist.
Ich habe an keinem Punkt erklärt, Herr von Klaeden, dass
alle Meldungen, die es gab,
samt und sonders falsch sind. Das war Ihre Frage, Herr
von Klaeden. Vielleicht darf ich jetzt auch einmal ant-
worten.
Dass es keine Grundlage für eine solche Berichterstattung
gebe, habe ich ebenfalls nicht gesagt.
Ich habe ausdrücklich erklärt, dass ich ein Gespräch
geführt habe, und habe Ihnen auch erklärt, was in diesem
Gespräch gesagt worden ist. Ich kann Ihnen das noch ein-
mal sagen: Wenn Sie sich das Zwei-Stufen-Programm der
Bundesregierung anschauen, finden Sie unter „kurzfris-
tige Maßnahmen“ eine Veränderung der Vermittlungssta-
tistik. Das ist sogar auf der Bundespressekonferenz am
letzten Freitag vorgestellt worden. Der Text ist verteilt
worden. Dass man daraus Veränderungen in der Statistik
ableitet, mag ja alles sein.
Ich erkläre Ihnen noch einmal: Die Bundesregierung
hat nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatistik in dieser
Legislaturperiode zu ändern, Herr von Klaeden.
Sie tut das deswegen nicht, weil sie davon ausgeht, dass
sich die Arbeitsmarktlage bessert und wir diese Besserung
nicht dadurch desavouieren wollen, dass uns unterstellt
werden könnte, wir würden die Arbeitsmarktstatistik ma-
nipulieren.
Eine weitere Nach-
frage des Kollegen von Klaeden.
Herr Staatssekre-
tär, fühlt sich denn die Bundesregierung an die Aussage
des amtierenden Bundeskanzlers gebunden, dass sie es
nicht verdient, wieder gewählt zu werden, wenn 3,5 Mil-
lionen Arbeitslose – auf der Grundlage der jetzigen Sta-
tistik, nehme ich einmal an – nicht erreicht werden?
G
Das ist wieder so ein
Ding, das ich Ihnen gleich zurückgebe. Eine solche Aus-
sage hat der Bundeskanzler nie getroffen.
– Nein. Eine solche Aussage – Sie können Ihre Frage
nachlesen – hat der Bundeskanzler nie gemacht.
Deswegen antworte ich auf diese Frage auch nicht. Fik-
tive Fragen beantworte ich nicht.
Jetzt kommt eine
Frage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, ich möchtenoch einmal auf die Ausgangsfrage zurückkommen, diedringliche Frage 2. Der Arbeitsminister hat in der Sen-dung, die Sie nicht gesehen haben und die ich mir offen-kundig eingebildet habe, im „Grünen Salon“ auf n-tv,nicht nur gefordert, die Statistik sofort, das heißt wirksamab dem Sommer dieses Jahres, um die vorhin erwähntenPersonengruppen zu bereinigen, sondern er hat auch ge-sagt, dass er das aus einem bestimmten Grund tut: Ermöchte mehr Ehrlichkeit in die Statistik hineinbringen.
Wenn wir einer Meinung sind, dass es nicht unbedingtfalsch ist, diese Vorschläge in Ruhe zu durchdenken, wäre
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es dann nicht ein Gebot der Ehrlichkeit – wann auch im-mer es eine entsprechende Änderung gibt –,
dass man die Personengruppen, die einen Arbeitsplatz ha-ben möchten, die aber in dem Moment zur Überbrückungetwas anderes machen, zum Beispiel ABM, SAM, Quali-fizierungsmaßnahmen, oder auch Sozialhilfebezieher, diearbeitsfähig sind, als Arbeitssuchende bzw. Arbeitslose indiese Statistik aufnimmt? Ich frage das vor dem Hinter-grund der Tatsache, dass auch während der Teilnahme aneiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme der Arbeitsvermitt-lung und der Aufnahme einer beitragspflichtigen, unge-förderten Beschäftigung immer noch grundsätzlich derVorrang zukommt.G
Herr Abgeordneter
Niebel, Ihre Fragen beantworte ich immer gern,
insbesondere wenn sie mit einer Einleitung versehen sind.
Es stimmt, dass ich die Sendung nicht gesehen habe. Es
stimmt aber nicht, dass ich Ihnen unterstellt hätte, Sie hät-
ten sich die Sendung nur eingebildet. Selbstverständlich
muss ich davon ausgehen, dass Sie, wenn Sie aus der Sen-
dung zitieren, sie auch gesehen haben.
Die spannende Frage, die Sie jetzt gestellt haben, be-
zieht sich darauf, wie man bestimmte Leute zählt.
Darauf gebe ich Ihnen noch einmal eine Antwort: Wir
zählen sie so, wie die Regierung Kohl – an der Sie betei-
ligt waren – sie von 1982 bis 1998 ohne jede Änderung
gezählt hat. Wir zählen sie so, wie es im Gesetz steht. Den
Gesetzestext habe ich Ihnen vorgetragen. Da Sie als ehe-
maliger Arbeitsvermittler das Gesetz besonders genau
kennen müssten, wissen Sie, wie die gesetzliche Grund-
lage ist. Deswegen haben wir nicht die Absicht, hier etwas
zu verändern.
Ich verbinde das noch einmal mit der Erklärung, dass
diese Bundesregierung nicht die Absicht hat, die Arbeits-
marktstatistik in dieser Legislaturperiode zu verändern,
weil wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, wir
würden die Arbeitsmarktdaten mithilfe einer Statistikver-
änderung verfälschen oder bewusst verbessern.
Nun fragt der Kollege
Meckelburg.
Herr Staatsse-
kretär, ich möchte gerne noch einmal auf die Infas-Studie,
die Sie eben erwähnt haben, zurückkommen. Diese Stu-
die trägt den Titel: Struktur der Arbeitslosigkeit. Sie ist
seit Mai letzten Jahres, wie man in der Presse im Januar
nachlesen konnte, in internen Zirkeln diskutiert worden.
Diese Studie ist um den 20. Januar herum von Herrn
Bundesarbeitsminister Riester und dem damaligen Noch-
Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit Jagoda vorge-
stellt worden. Halten Sie es für reinen Zufall, dass die Stu-
die genau zu dem Zeitpunkt veröffentlicht wurde, als auch
Sie zugaben, dass Sie Ihr Versprechen nicht mehr einhal-
ten konnten und es im Schnitt des Jahres 4 Millionen Ar-
beitslose würden?
Der Tenor dieser Studie, der auch letztes Wochenende
wieder aufkam, war nämlich: Nicht alle Arbeitslosen kön-
nen tatsächlich als Arbeitslose gewertet werden; 1,2 Mil-
lionen davon sind gar nicht arbeitslos. Auch wenn Sie die
Statistik dieses Jahr nicht ändern wollen, sollte der Ein-
druck vermittelt werden, dass die Statistik nicht stimmt
und Sie besser sind, als die Menschen gedacht haben. Die-
ser Eindruck ist doch nicht zu vermeiden.
G
Herr AbgeordneterMeckelburg, ich bin kein Anhänger irgendwelcher Ver-schwörungstheorien. Daher kann ich aus dem Ablauf vonTerminen keinen durch eine Verschwörung zustande ge-kommenen Zusammenhang sehen.Sie wissen, dass in Mannheim die Fachhochschule derBundesanstalt für Arbeit ihren Sitz hat. Dort hat eine Ver-anstaltung stattgefunden, in der man sich mit dieser Stu-die auseinander gesetzt und befasst hat. Diese Studiewurde über einen längeren Zeitraum erhoben. An ihr ha-ben mehr als 20 000 Personen teilgenommen. Deshalb giltdie Studie als besonders repräsentativ und hat bestimmteErgebnisse hervorgebracht. Teilaspekte dieser Ergebnissemuss man weiter untersuchen. Daran ist nichts zu ändern.Sie haben Recht: Ich habe Anfang dieses Jahres erklärt,dass wir im Winter eine Arbeitslosigkeit von etwa 4,3Mil-lionen Arbeitslosen haben würden. Ich will nur die Zah-len richtig stellen, die Sie genannt haben. Die Zahl der Ar-beitslosen betrug im Januar 4,29Millionen. Wie viel es imFebruar sein wird, wird abzuwarten sein. Aber aus der Er-fahrung der Jahre kann man davon ausgehen – Januar undFebruar sind bei der Arbeitslosigkeit immer dieSpitzenmonate, was mit Saison, Schneefall, Witterungund vielen anderen Dingen zu tun hat –, dass es entspre-chende Veränderungen geben wird.Sie haben gefragt, ob dies alles ein Zufall sei. Ichglaube, dass diese terminliche Zusammenstellung Zufallwar. Sie wissen aus den Ausschussberatungen, dass derBundesarbeitsminister bei diesem Termin den Präsiden-ten der Bundesanstalt erstmalig mit den Ergebnissen desBundesrechnungshofes konfrontiert hat und dass darausdie Debatte geworden ist, die wir weder geplant noch an-gelegt haben. Sie wissen aus den Ausschussberatungen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Dirk Niebel21822
dass der Bundesrechnungshof schon im letzten Frühjahrdie Untersuchung der Vermittlungsstatistik in den fünf Ar-beitsämtern geplant hat.
Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass die aus IhrerSicht böse und aus meiner Sicht erfolgreiche Bundes-regierung das mit einer langfristigen Strategie geplant hat.Das ist nicht der Fall.
Nun fragt der Kollege
Peter Weiß.
Herr
Staatssekretär, Herr Rürup, Mitglied im Sachverstän-
digenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung, hat in einem Gespräch mit der Tageszeitung
„Die Welt“, abgedruckt am 26. Februar dieses Jahres, er-
klärt:
Wenn man schon die Statistik bereinigt, dann sollten
auch die rund 1,7 Millionen verdeckten Arbeitslosen
nachrichtlich ausgewiesen werden.
Da Sie entweder vor Ende der Legislaturperiode oder
– falls Sie dann noch regieren – in der nächsten Legis-
laturperiode eine Änderung der Arbeitslosenstatistik vor-
nehmen werden, frage ich Sie: Überlegt die Bundes-
regierung derzeit, diese Anregung von Herrn Rürup
aufzugreifen? Nach dem heutigen Stand hätten wir dann
nicht 4,3, sondern 6 Millionen Arbeitslose in der Statistik
auszuweisen.
G
Herr Abgeordneter,
ich weiß nicht, wie Sie auf die Zahl von 6 Millionen kom-
men.
Ich möchte es wiederholen: Wir haben die Zählweise, die
Sie 16 Jahre lang und mit einer Reihe von Veränderungen
der Statistik fleißig betrieben haben, nicht geändert.
Ich sage Ihnen noch einmal: Diejenigen, die an ABM-,
Strukturanpassungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen
teilnehmen, werden gesondert ausgewiesen. Die „stille
Reserve“ im weiteren Sinne wird geschätzt und kann sta-
tistisch nicht erfasst werden.
Die spannende Frage, um die es geht, ist nicht, ob sie
ausgewiesen werden. Denn das werden sie längst. Die
spannende Frage, um die es geht, ist, ob man sie als Ar-
beitslose zählt. Ich habe schon mehrfach gesagt, wie
Arbeitslose gezählt werden und welche rechtliche Grund-
lage, die wir übrigens auch nicht geändert haben, es dafür
gibt. Sie werden es nicht glauben, aber zu Ihrer Regie-
rungszeit war sie genauso. Daher haben wir nicht die Ab-
sicht, die Arbeitslosenstatistik bis zum Ende dieser Legis-
laturperiode zu ändern.
Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass wir die Einset-
zung einer Kommission unter Vorsitz von Herrn Dr. Peter
Hartz beschlossen haben, die bis zum 15. August dieses
Jahres Vorschläge vorlegen muss. Ich gehe davon aus,
dass die Kommission solche Fragen diskutieren und ent-
sprechende Vorschläge machen wird. Dann werden wir
uns damit auseinander setzen.
Nun fragt der Kollege
Klaus Grehn.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist
ja sicher bekannt, dass der Bundesarbeitsminister wieder-
holt, auch in diesem Hause, erklärt hat, dass er die Statis-
tik treffsicherer machen will. Sie können sich aus der Zeit,
als Sie beim Deutschen Gewerkschaftsbund waren, sicher
erinnern, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund die Zahl
derjenigen, die verdeckt arbeitslos sind, benannt hat.
Erst in dieser Woche haben wir über Schwarzarbeit und
illegale Beschäftigung diskutiert. Hier besteht ein ähn-
liches Verhältnis. Denn auch hier wissen wir etwas, ob-
wohl wir nichts wissen. Die Frage ist einfach: Beabsich-
tigen Sie, dies als real existierendes Problem aufzugreifen
und die Arbeitslosenstatistik treffsicherer zu machen? Tun
Sie dies, indem Sie auch die Tatsache aufgreifen, dass
zum Beispiel Kranke während ihrer Krankheit nicht mehr
arbeitslos sind und aus der Statistik herausfallen usw.?
Beabsichtigen Sie auch dies, um ganz genau deutlich zu
machen, welche Anstrengungen dieses Land auf sich neh-
men muss, um das reale Problem der Arbeitslosigkeit und
nicht ein Scheinproblem zu bekämpfen?
G
Herr Grehn, ich habeden Eindruck, dass sowohl die linke als auch die rechteSeite dieses Hauses möglicherweise ein Interesse daranhat, dass die Arbeitslosigkeit viel höher beschrieben wird,als wir es gegenwärtig tun.
Ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung hat ein In-teresse daran, dass die Arbeitslosigkeit real dargestelltwird.Jetzt nenne ich Ihnen ein Problem, zu dem auch Siesich verhalten müssen: Wenn sich jemand allein aus demGrund arbeitslos meldet, um eine Kindergeldzahlung auf-rechtzuerhalten, muss man die Frage beantworten, ob diesein Arbeitsloser ist oder ob er sich aus einem anderenGrund meldet.
Oder wenn sich jemand arbeitslos meldet, der zwar längsteinen Job in der Tasche hat, aber, was ich verstehen kann,seine Versicherungsleistung aufrechterhalten möchte,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretär Gerd Andres21823
muss man die Frage beantworten: Muss ich diese Personals Arbeitssuchenden bzw. Arbeitslosen zählen odermüsste ich mit diesem Problem nicht eigentlich andersumgehen? All diese Fragen sind zu erörtern. Dafür wirddie Kommission eingesetzt.Ich nutze diese Gelegenheit, um noch einmal darzule-gen, dass diese Bundesregierung nicht die Absicht hat, dieArbeitslosenstatistik in dieser Legislaturperiode zu än-dern.
Nun folgt die letzte
Frage des Kollegen Kolb.
Herr Staatssekretär, Sie
haben jetzt wiederholt vorgetragen, dass es keiner Än-
derung der Statistik bedarf, weil Sie in allernächster Zeit
großartige Erfolge auf dem Arbeitsmarkt erwarten.
Nun war es aber so, dass wir mit den Arbeitslosenzahlen
vom Januar dieses Jahres zum 16. Mal in Folge einen sai-
sonbereinigten Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Kenntnis
nehmen mussten. Alles spricht dafür, dass die saison-
bereinigte Arbeitslosigkeit im Februar dieses Jahres er-
neut und damit zum 17. Mal in Folge steigen wird. Nam-
hafte Forschungsinstitute gehen davon aus, dass sich
dieser Zustand, die Zunahme der saisonbereinigten Ar-
beitslosigkeit, bis zum Sommer dieses Jahres fortsetzen
wird,
und zwar auch deswegen, weil die Erwerbstätigkeit, an-
ders als dies vorher der Fall gewesen ist, zurzeit nicht
mehr zunimmt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wann genau rech-
net die Bundesregierung mit der Wende auf dem Arbeits-
markt? Es ist nicht mehr viel Zeit bis zur Ablösung dieser
Regierung. Es sind noch sieben Monate. Daher müsste es
doch möglich sein, den genauen Zeitpunkt etwas enger
einzugrenzen.
G
Herr Abgeordneter
Kolb, eigentlich ist es schade, wie sehr Sie Ihre Frage
durch Ihre Schlussbemerkung selbst desavouiert haben,
weil die Bundesregierung die Arbeitslosenstatistik nicht
im Zusammenhang mit der Ablösung der Bundesregie-
rung sieht. Wie kämen wir darauf? Der Zusammenhang,
den Sie da herstellen, ist völlig absurd.
Wenn ich korrekt sagen könnte, wann dieser Zeitpunkt
sein wird, würde ich dies tun. Ich habe keine Absicht, mich
festzulegen. Ich bin auch nicht das Orakel von Delphi.
Sie können aber davon ausgehen – auch Sie als ehe-
maliger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium,
der über viele Jahre die Verantwortung in der Vorgänger-
bundesregierung mitgetragen hat und der sich mit ökono-
mischen Daten befasst, wissen dies –, dass es eine Reihe
von Indikatoren gibt, die in der Tat eine wirtschaftliche
Belebung bestätigen. Wir gehen auch davon aus, dass sich
die Situation auf dem Arbeitsmarkt bessert.
Damit haben wir die
dringlichen Fragen 1 und 2 beantwortet. Wir danken dem
Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat im Anschluss an die
Fragestunde eine Aktuelle Stunde beantragt. Diese Aktu-
elle Stunde ist nach den Richtlinien zulässig. Sie wird im
Anschluss an die Fragestunde stattfinden; das ist ungefähr
in einer Stunde.
Wir kommen nun zu dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Verteidigung. Zur Beantwor-
tung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Schulte zur Verfügung. Die dringlichen Fragen 3 und 4
sind schriftlich zu beantworten.
Ich rufe die dringliche Frage 5 des Kollegen Wolfgang
Gehrcke auf:
Treffen Meldungen zu, wonach wesentliche Änderungen an
der zahlenmäßigen Aufgliederung für den Einsatz der deutschen
2002 zu den Aussagen des Vorsitzenden des Verteidigungsaus-
schusses, Helmut Wieczorek, in der ARD), und wenn ja, wie er-
klärt dies die Bundesregierung?
Frau Staatssekretärin, bitte sehr.
B
Herr Kollege Gehrcke, die im
Bundestagsbeschluss vom 16. November 2001 für die
einzelnen Streitkräfte im Rahmen der Operation „En-
during Freedom“ aufgeführten Personalstärken wurden
und werden nicht überschritten. Also: Zu keiner Zeit wa-
ren bis zum heutigen Tage mehr als 100 Soldaten der Spe-
zialkräfte eingesetzt.
Zusatzfrage? – Bitte
sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin,könnten Sie mir vielleicht den Widerspruch zu den Pres-seerklärungen des Vorsitzenden des Verteidigungsaus-schusses, Herrn Wieczorek, der deutlich über 200 KSK-Kräfte genannt hat, erklären? Herr Wieczorek gehört jaauch der Regierungskoalition an. Sie nennen immer eineZahl von weniger als 100, er dagegen spricht von mehr als
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretär Gerd Andres21824
200. Sie müssen daher verstehen, dass die Öffentlichkeitoder ein armer Abgeordneter, der nicht informiert wird,nachfragt, was nun stimmt.B
Selbstverständlich. Ich ver-
stehe auch, dass Sie als Oppositionspolitiker, nachdem
das Thema in die Öffentlichkeit gelangt ist, danach fra-
gen. Es handelt sich um nicht einmal 100 Kräfte. Der Kol-
lege Wieczorek hat erklärt, er habe, als eindringlich da-
nach gefragt wurde, offensichtlich diese Zahl mit anderen
Zahlen, die aufgeführt sind, verwechselt. Ich will eines
der Korrektheit halber sagen: Innerhalb der festgelegten
Obergrenze von 3 900 Soldaten hätte in Abhängigkeit von
den Erfordernissen natürlich der Bundesminister der Ver-
teidigung, weil er vom Parlament ermächtigt worden ist,
in Abstimmung mit dem Außenminister die Zahl verän-
dern können. Es ist aber eindeutig so, dass die Zahl unter
100 liegt. Herr Wieczorek hat das dann auch so dar-
gestellt. So ist das in die Öffentlichkeit gelangt. Er hat ge-
sagt, er habe es verwechselt. Ich kann das nur so zur
Kenntnis nehmen und entsprechend wiedergeben. Richtig
ist auf jeden Fall meine Zahl.
Noch eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte nachfragen:
Der Herr Bundeskanzler hat am 8. November 2001 im
Parlament erklärt:
Mir ist besonders wichtig festzuhalten: Es geht we-
der um eine deutsche Beteiligung an Luftangriffen
noch um die Bereitstellung von Kampftruppen am
Boden.
Hat sich auch der Herr Bundeskanzler in seinen Aussagen,
ebenso wie der Kollege Wieczorek bei der Nennung der
Zahlen, geirrt? Heute habe ich mir im Auswärtigen Aus-
schuss von Ihrem Kollegen Stützle erklären lassen, dass
die KSK-Kräfte weder am Boden noch in der Luft noch
im Wasser operieren. Es muss sich also um himmlische
Wesen handeln. Können Sie mir wenigstens bestätigen,
dass es Kampftruppen sind?
B
Ich kann auch bestätigen, dass
der Deutsche Bundestag mit einer großen Zahl von Stim-
men der Abgeordneten – leider nicht mit Ihrer Stimme –
in seinem Beschluss festgelegt hat:
Der Einsatz militärischer Mittel ist unverzichtbar,
um die terroristische Bedrohung zu bekämpfen und
eine Wiederholung von Angriffen wie am 11. Sep-
tember 2001 nach Möglichkeit auszuschließen. Der
Deutsche Bundestag stimmt daher der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Operation
Enduring Freedom zu ...
Damit ist ganz klar, Herr Kollege – der deutsche Bun-
deskanzler hat am 16. November mit uns gestimmt –,
dass die deutschen Streitkräfte im Rahmen der Operation
„Enduring Freedom“ die gesamte Palette der Aufgaben
wahrnehmen müssen. Eingegrenzt ist das Gebiet, auf
welchem sich die Truppen bewegen.
Ich kann das, was Sie hier gesagt haben, nicht nach-
vollziehen. Ich muss es Ihnen glauben, aber entscheidend
ist der Beschluss des Bundestages.
Nun hat der Kollege
Hübner eine Frage.
Frau Staatssekretärin, die Er-
regungen der letzten Tage sind ja vor allem durch eine aus
unserer Sicht nicht hinreichende Informationspolitik der
Bundesregierung zustande gekommen. Wie können Sie es
aus Ihrer Sicht erklären, dass bereits am 18. Januar dieses
Jahres, also vor mehr als einem Monat, der US-amerika-
nische Oberbefehlshaber in Afghanistan öffentlich darü-
ber Auskunft gegeben hat, dass deutsche, britische, türki-
sche und amerikanische Spezialeinheiten gemeinsam im
Süden Afghanistans tätig sind, während eine Aussage der
Bundesregierung gegenüber dem Parlament, aber auch
gegenüber der deutschen Öffentlichkeit erst einen Monat
später zustande gekommen ist, obwohl es in der Zwi-
schenzeit häufig Nachfragen in dieser Richtung gegeben
hat?
B
Ich kann Ihnen das damit er-
klären, dass diese Gruppe von Soldaten mit Zustimmung
des deutschen Parlaments 1995 aufgestellt wurde und
diese Truppe nun einmal Aufgaben im Rahmen des
Grundgesetzes wahrzunehmen hat, über die nicht unbe-
dingt die Diskussion in der Öffentlichkeit geführt werden
muss. Auch nur zum Schutz der Soldaten und ihrer An-
gehörigen bin ich gewillt, Ihnen diese klare Aussage hier
zu geben.
Eine weitere Nach-frage gibt es nicht.
– Sie selber haben die ursprüngliche Frage nicht gestellt;deswegen können Sie nur eine Nachfrage stellen. Wirkommen aber noch einmal zu diesem Thema. Bitte habenSie Geduld.Ich rufe die dringliche Frage 6 des Kollegen WolfgangGehrcke auf:Wenn ja, warum wurde diese wesentliche Veränderung, dielaut Ziffer 5 des Beschlusses des Deutschen Bundestages zumMandat vom 16. November 2001 zwar möglich, aber nach der zu-gehörigen Protokollerklärung vom 15. November 2001 an Kon-sultationen gebunden wird, durchgesetzt, ohne die vorgesehenenKonsultationen mit den Fachausschüssen oder Fraktionen desDeutschen Bundestages durchzuführen?In dieser Frage geht es um dasselbe Thema in Variatio-nen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Wolfgang Gehrcke21825
B
Diese Frage beantworte ich mit
einem klaren Nein.
Eine Zusatzfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich ergibt
sich daraus eine Zusatzfrage. Frau Staatssekretärin, ich
bitte, mir wirklich zu beantworten, ob Sie zumindest be-
stätigen können, dass die KSK eine Kampftruppe ist.
B
Die KSK haben wir – das
konnten Sie nachlesen und das kann man, im Gegensatz
zu anderen Bereichen, auch der Öffentlichkeit sagen –
nach den Erkenntnissen internationaler Einsätze aufge-
stellt. Sie hat in erster Linie die Aufgabe, Konflikte mög-
lichst ohne Kampfeinsatz zu lösen.
Sie soll Menschen retten. Sie ist aber in der Lage, auch mi-
litärische Kampfeinsätze wahrzunehmen; sie ist wirklich
keine Caritas-Einrichtung. Sie steht unter dem Primat der
Politik des Deutschen Bundestages und der Bundesregie-
rung und sie steht unter dem Schutz des Grundgesetzes.
Deswegen habe ich nicht das geringste Problem, zu sagen:
Ja, unsere Spezialkräfte können natürlich auch militärische
Aufgaben wahrnehmen, wie übrigens alle 300 000 Solda-
ten, sofern es sich nicht um Wehrpflichtige handelt.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist ja schon klar: Wer
sich beschwert, wird belehrt. Aber ich komme noch ein-
mal auf die Aussage des Bundeskanzlers zurück,
der gesagt hat: Es sind keine Kampfeinsätze am Boden
vorgesehen. Sie haben mir jetzt bestätigt: Es ist eine
Kampftruppe, sie operiert am Boden, in der Luft und im
Wasser.
Kann ich jetzt festhalten, dass die Aussage des Bundes-
kanzlers in seiner Regierungserklärung am 8. November,
die für viele Abgeordnete für ihre Entscheidung, ob sie
zustimmen oder nicht zustimmen, wichtig war, falsch ge-
wesen ist?
B
Das können Sie nicht fest-
stellen. Ich wiederhole noch einmal: Der deutsche Bun-
deskanzler hat das nicht nur im Kabinett – der
Kabinettsbeschluss sah nicht anders aus als das, was das
deutsche Parlament anschließend am 16. November be-
schlossen hat – erklärt. Uns allen war klar, dass dies ein
schwieriger Einsatz wird und dass die Terrorismus-
bekämpfung – wir sind schließlich schlimmsten Verbre-
chern auf der Spur – natürlich auch militärische Mittel
und deren Einsatz verlangt.
Nun kommt der Kol-
lege Hübner mit einer Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich
mag ja gerne einsehen, dass es in der Frage, wo und wann
Spezialkräfte mit welchem Auftrag eingesetzt sind,
durchaus Aspekte gibt, die der Geheimhaltung unterlie-
gen. Die Frage des Ob wird jedenfalls in allen anderen
Ländern, die an diesen Operationen beteiligt werden, an-
ders gehandhabt als in der Bundesrepublik. Das gebietet
aus meiner Sicht auch die Möglichkeit demokratischer
Kontrolle. Sind Sie deshalb der Auffassung, dass die an-
deren Staaten – die Türkei, die USA, damit der zitierte
US-Oberbefehlshaber, oder die Briten – sehr viel weniger
fürsorglich mit den von ihnen eingesetzten Soldaten um-
gehen als die Bundesregierung?
B
Herr Hübner, ich wiederhole,
was ich bereits erwähnt habe. Im Beschluss des Bundes-
tags ist dezidiert von 100 Spezialkräften die Rede gewe-
sen. Darüber hinaus hat das Parlament die Bundesregie-
rung ermächtigt, dass unterhalb der festgelegten
Obergrenze von 3 900 Soldaten in Abhängigkeit von den
Erfordernissen des Einsatzes Abweichungen von der je-
weils genannten Größenordnung möglich sind.
Das deutsche Parlament verfügt über geschlossene
Ausschüsse, in denen die Parlamentarier selbstverständ-
lich Auskunft bekommen. Bei Einhaltung der Geheimhal-
tungsstufen ist eine Unterrichtung über den Einsatz der
Streitkräfte, ihren Aufenthaltsort und die Zahl der Solda-
ten an den jeweiligen Aufenthaltsorten erfolgt.
Nun hat der Kollege
Dr. Seifert eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie spra-chen vorhin ausdrücklich davon, dass der Auftrag derdeutschen Streitkräfte und ihr Einsatzort genau umschrie-ben seien. Ich kann mich recht gut daran erinnern, dassimmer wieder von Kabul und Umgebung gesprochenwurde, wenn von Afghanistan die Rede war. Jetzt aber istin Meldungen die Rede davon, dass die KSK ganz woan-ders in Afghanistan eingesetzt ist. Können Sie das be-stätigen? Ich frage Sie auch, wann und vor allem unterwelchem Kommando diese Truppe erstmalig dortgekämpft hat. Denn bekanntlich läuft neben dem von unsbeschlossenen Einsatz gleichzeitig auch der amerikani-sche Einsatz, der nichts mit „Enduring Freedom“ zu tunhat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 200221826
B
Herr Kollege Seifert, Einsatz-
gebiet im Rahmen von „Enduring Freedom“ ist gemäß
Art. 6 Nordatlantikvertrag die arabische Halbinsel, Mit-
tel- und Zentralasien und Nordostafrika sowie die an-
grenzenden Seegebiete. Was Sie jetzt gemeint haben, ist
der Friedenseinsatz, der als Folge der Petersberger Be-
schlüsse mit ISAF verbunden ist. Das hat nichts mit „En-
during Freedom“ zu tun, sondern ist eine Folgeoperation,
an der die Bundeswehr in Kabul bzw. auf dem Weg nach
Kabul in der Tat noch an anderen Stellen operiert. Aber für
„Enduring Freedom“, worüber wir gerade reden, ist das
Einsatzgebiet in dem Beschluss umfassend definiert wor-
den.
Nun kommt die
dringliche Frage 7 des Abgeordneten Carsten Hübner:
Haben bundesdeutsche Spezialeinheiten bei ihrem Einsatz im
Rahmen von „Enduring Freedom“ Personen verhaftet bzw. gefan-
gen genommen, und wie ist mit diesen Personen, gegebenenfalls
hinsichtlich einer möglichen Überstellung in das Gefangenenlager
Guantanamo in Kuba, weiter verfahren worden?
Frau Staatssekretärin.
B
Nein, Herr Kollege Hübner,
die Bundesregierung kann diese Behauptung nicht be-
stätigen.
Eine Zusatzfrage.
Es handelt sich um eine
Frage, die formuliert worden ist, und nicht um eine Be-
hauptung, die es zu bestätigen gilt oder nicht. In diesem
Sinne bitte ich um die Beantwortung der Frage.
B
Entschuldigung. – Kann die Bun-
desregierung Informationen der Nachrichtenagentur – –
Das ist die Frage 8,
Frau Staatssekretärin. Wir sind noch bei Frage 7.
B
Nein, die habe ich schon be-
antwortet.
Es geht zwar um den-
selben Komplex, aber wir sind noch bei der dringlichen
Frage 7. Ich wiederhole sie:
Haben bundesdeutsche Spezialeinheiten bei ihrem
Einsatz im Rahmen von „Enduring Freedom“ Perso-
nen verhaftet bzw. gefangen genommen, und wie ist
mit diesen Personen, gegebenenfalls hinsichtlich ei-
ner möglichen Überstellung in das Gefangenenlager
Guantanamo in Kuba, weiter verfahren worden?
B
Meine vorangegangene
Antwort darauf war ein klares Nein.
Die Staatssekretärin
hat die Frage also verneint.
Sie haben eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Aus welchen militärischen
Aktivitäten speist sich dann, wenn es nicht zum Beispiel
um Verhaftungen oder militärische Auseinandersetzun-
gen im eigentlichen Sinne geht, das Lob verschiedener
Streitkräfte gegenüber den Einsatzaktivitäten der Bun-
deswehr, auf das der Bundesverteidigungsminister in
mehreren Pressemitteilungen hingewiesen hat?
B
Wollen Sie darauf eine ernste
Antwort haben?
Ich würde die Frage sonst
nicht stellen.
B
Die Frage nach der Über-
stellung in das Gefangenenlager Guantanamo in Kuba,
die Sie gestellt haben, enthält doch eine Unterstellung.
Erstens wird dieses Lager nicht von uns geführt. Zweitens
– das sage ich deutlich – haben unsere Soldaten entspre-
chende Personen nicht verhaftet bzw. gefangen genom-
men.
Nun rufe ich die
Frage 8 des Kollegen Carsten Hübner auf.
– Bitte sehr, noch zur Frage 7.
Sie können also hier definitv
feststellen, dass bei dem Einsatz der KSK-Einheiten der
Bundeswehr in den letzten Monaten keine Gefangenen
gemacht wurden und dass auch keine Personen, die im
Gewahrsam der Bundeswehr waren, nach Guantanamo
Bay überführt worden sind?
B
Ich habe Ihre Frage mit
einem klaren Nein beantwortet.
Nun kommen wir zurdringlichen Frage 8 des Kollegen Carsten Hübner:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002 21827
Kann die Bundesregierung Informationen der Nachrichten-agentur Reuters vom 24. Februar 2002 unter Verweis auf Angabender „Stuttgarter Zeitung“ bestätigen, nach denen deutsche Bun-deswehrsoldaten auf dem US-Stützpunkt in Kandahar gegenüberamerikanischen Soldaten einschreiten mussten, weil diese hart ge-gen Gefangene vorgingen und insgesamt unter den amerikani-schen Soldaten eine aggressive Stimmung vorherrsche?Frau Staatssekretärin.B
Aus gegebenem Anlass
trage ich zunächst den Wortlaut Ihrer Frage vor: Sie haben
gefragt, ob „die Bundesregierung Informationen der
Nachrichtenagentur Reuters vom 24. Februar 2002 unter
Verweis auf Angaben der ,Stuttgarter Zeitung‘ bestätigen“
kann, „nach denen deutsche Bundeswehrsoldaten auf dem
US-Stützpunkt in Kandahar gegenüber amerikanischen
Soldaten“ hätten einschreiten müssen, „weil diese hart
gegen Gefangene“ vorgegangen seien „und insgesamt
unter den amerikanischen Soldaten eine aggressive Stim-
mung vorherrsche“. Ich wiederhole die Antwort, die ich
schon eben gegeben habe: Nein, diese Behauptung kann
ich nicht bestätigen.
Zusatzfrage.
Können Sie sagen, unter
welchem Oberkommando sich die deutschen Einheiten
befinden, die im Zusammenhang mit US-amerikanischen,
britischen und türkischen Spezialeinheiten eingesetzt
werden?
B
Das geht bereits aus dem Be-
schluss hervor.
Eine weitere Zusatz-
frage, Herr Kollege Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin,
sind Sie bereit, mir zumindest zu bestätigen, dass der
Auswärtige Ausschuss, der in den Beschlüssen als feder-
führender Ausschuss genannt ist, zu keinem Zeitpunkt
über das Ob des Einsatzes der KSK-Kräfte und über ihren
Aufenthalt informiert worden ist, weder in den Be-
sprechungen der Obleute noch in einer normalen Sitzung
noch unter „geheim“ oder „streng vertraulich“? Der
Auswärtige Ausschuss ist heute zum ersten Mal vom Bun-
desaußenminister – unzureichend, wie ich finde; das
brauchen Sie aber nicht zu kommentieren – informiert
worden.
B
Ich kann Ihnen dies deshalb
nicht bestätigen, weil ich mich selten im Auswärtigen
Ausschuss aufhalte und nicht weiß, was Sie auf die Tages-
ordnung gesetzt haben. Als ich gefragt worden bin, bin ich
einige Male bei Ihnen gewesen. In dem Beschluss heißt es
aber klar und deutlich:
Der Bundesminister der Verteidigung wird ermäch-
tigt, im Einvernehmen mit dem Bundesminister des
Äußeren für die deutsche Beteiligung an der Opera-
tion „Enduring Freedom“ die entsprechenden Kräfte
anzuzeigen ... und im Rahmen der Operation „Endu-
ring Freedom“ einzusetzen.
Der Verteidigungsausschuss ist bei entsprechend klassifi-
zierten Geheimhaltungsgraden unterrichtet worden.
Damit sind die dring-
lichen Fragen erledigt. Ich danke der Frau Staatssekre-
tärin für die Beantwortung der Fragen aus dem Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Wir kommen nun zu den Fragen auf Drucksache
14/8318 in der üblichen Reihenfolge. Wir beginnen mit
dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz.
Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentari-
scher Staatssekretär Dr. Pick zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dr. Jürgen Gehb auf:
Welche Änderungen der Strafandrohung für die Störung des
öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten analog dem
deutschen § 126 Strafgesetzbuch, „Trittbrettfahrer“, werden nach
Kenntnis der Bundesregierung in den Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union geplant bzw. sind seit dem 11. September 2001
vollzogen worden?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
D
Herr Kollege Dr. Gehb, ich kann
mich hier kurz fassen und auf meine Antwort vom 3. Ja-
nuar dieses Jahres auf Ihre gleich lautende schriftliche
Frage vom 18. Dezember 2001 verweisen. Damals habe
ich mitgeteilt, dass dem Bundesministerium der Justiz
keine aktuellen Erkenntnisse zu der Frage vorliegen, eine
entsprechende Umfrage unter den Mitgliedstaaten der Eu-
ropäischen Union allerdings veranlasst ist. Einen anderen
Sachstand gibt es gegenwärtig noch nicht. Ich habe Ihnen
damals zugesichert, dass Sie über das Ergebnis der Um-
frage informiert werden.
Zusatzfrage, Herr
Kollege.
Herr Staatssekretär,
ist damit zu rechnen, dass diese Frage beantwortet wird,
wenn ich noch einmal vier Wochen zuwarte? Ich frage
dies vor dem Hintergrund, dass mir Erkenntnisse darüber
vorliegen, dass in Österreich und Großbritannien im-
mense Strafverschärfungen bei der Strafandrohung gegen
so genannte Trittbrettfahrer angekündigt sind. Wird also
in vier Wochen eine offizielle Antwort vorliegen, sodass
ich mich nicht mehr aus anderen Quellen bedienen muss?
D
Herr Kollege Dr. Gehb, ich habe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Vizepräsidentin Anke Fuchs21828
Verständnis für Ihre Ungeduld; auch wir sind ungeduldig.Sie wissen, wie es bei Umfragen im europäischen Raumund auch in der Europäischen Union ist: Antworten gehennicht immer so zügig ein, wie wir es uns vorstellen. In die-sem Fall ist das Auswärtige Amt eingeschaltet worden,um eine umfängliche und erschöpfende Antwort auf IhreFrage zu bekommen. Sobald wir diese Antwort haben,geht sie Ihnen automatisch zu.
Ich rufe Frage 2 des
Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb auf:
Welche Änderungen im Strafrecht plant die Bundesregierung
als Folge der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union vom 19. Oktober 2001, dass „gegen die ver-
antwortungslosen Personen, die die derzeitige Situation ausnut-
zen, um falschen Alarm auszulösen, … die Mitgliedstaaten
entschlossene Maßnahmen ergreifen , indem sie insbe-
sondere Straftaten dieser Art streng ahnden“?
Herr Staatssekretär, bitte.
D
Herr Kollege Dr. Gehb, die Perso-
nen, die nach den schrecklichen Ereignissen des 11. Sep-
tember 2001 als so genannte Trittbrettfahrer Menschen in
Angst und Schrecken versetzen, indem sie zum Beispiel
vermeintlich mit Krankheitserregern verseuchte Briefe
versenden oder mit Bomben drohen, handeln nicht nur un-
verantwortlich, sondern auch in höchstem Maße gemein-
schädlich. Ein solches Verhalten muss konsequent geahn-
det werden. Darüber besteht, denke ich, Einvernehmen
zwischen uns.
Soweit Sie die Forderung der EU-Staats- und Regie-
rungschefs nach entschlossenen Maßnahmen mit der
Frage nach Änderungen im Strafrecht verbinden, komme
ich allerdings zu einer etwas anderen Beurteilung der
Rechtslage. Nach meinem Dafürhalten reicht das gegen-
wärtige Recht durchaus aus, um eine nachdrückliche Ver-
folgung und Bestrafung der Täter zu gewährleisten. Ich
denke hier vor allen Dingen an die Strafvorschrift des
§ 126 des Strafgesetzbuches, deren Strafdrohung Gegen-
stand zweier dem Bundestag zur Beratung vorliegender
Gesetzesinitiativen, die des Bundesrates und die Ihrer
Fraktion, ist. Bereits in ihrer Stellungnahme zum Gesetz-
entwurf des Bundesrates hat die Bundesregierung Zweifel
geäußert, ob es zur konsequenten Verfolgung und Bestra-
fung solcher Straftäter tatsächlich erforderlich ist, die
Strafdrohung des § 126 StGB zu erhöhen.
Ich möchte für alle, denen die Einzelheiten momentan
nicht gegenwärtig sind, Folgendes hinzufügen: Der schon
geltende § 126 des Strafgesetzbuches ermöglicht es den
Strafgerichten, sehr hohe Geld- und Freiheitsstrafen zu
verhängen. Das Höchstmaß der Geldstrafe beträgt
1,8 Millionen Euro, das der Freiheitsstrafe drei Jahre.
Mithin bietet bereits die geltende Fassung der Straf-
vorschrift die Möglichkeit, empfindliche Geldstrafen und
Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren zu verhängen.
Letzteres schließt eine Strafaussetzung zur Bewährung
aus.
Bei den der Bundesregierung bisher bekannt geworde-
nen Verurteilungen sind keine Geldstrafen, sondern aus-
schließlich Freiheitsstrafen verhängt worden. Zu einem
großen Teil wurden die Freiheitsstrafen nicht zur Be-
währung ausgesetzt. So wurde in einem Fall eine Strafe
von sechs Monaten ohne Bewährung und in einem an-
deren Fall eine Strafe von acht Monaten ohne Bewährung
verhängt. Ich darf mit Genugtuung feststellen, dass die
Justizbehörden der Länder ausgesprochen prompt und
zügig reagiert haben. Nach Auffassung der Bundes-
regierung ist damit der richtige Weg vorgezeichnet. Es
geht darum, eine Störung des öffentlichen Friedens durch
Androhung von Straftaten so schnell wie möglich zu ahn-
den und dabei den bereits vorhandenen Strafrahmen kon-
sequent auszuschöpfen. Dafür spricht, dass die ver-
hängten Urteile offensichtlich Wirkung gehabt haben.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Dr. Gehb, bitte sehr.
Herr Staatssekretär
Pick, Sie wissen ja, dass auf der Tagung der Staats- und
Regierungschefs der EU der Bundeskanzler die Erklärung
unterschrieben hat, dass „gegen die verantwortungslosen
Personen, die die derzeitige Situation ausnutzen, um
falschen Alarm auszulösen, ... die Mitgliedstaaten ent-
schlossene Maßnahmen ergreifen werden, indem sie ins-
besondere Straftaten dieser Art streng“ – ich betone:
streng – „ahnden“. Hat der Bundeskanzler damit viel-
leicht mehr versprochen, als die Bundesregierung – die-
sen Eindruck haben die in der ersten Lesung gehaltenen
Reden erweckt – halten kann? Was gedenkt die Bundes-
regierung in Anbetracht der Tatsache, dass in Großbritan-
nien und Österreich Freiheitsstrafen von bis zu sieben
oder sogar zehn Jahren gegen Trittbrettfahrer verhängt
werden können, zu tun?
D
Herr Kollege Dr. Gehb, der Bun-
deskanzler hat die gegenwärtige Rechtslage genau im
Auge gehabt, als er die Erklärung unterschrieben hat;
denn eine strenge Bestrafung ist bei einem Strafmaß von
bis zu drei Jahren ohne Bewährung auch in Deutschland
möglich. Zum anderen haben wir mit der Androhung ei-
ner Geldstrafe bis zu 1,8 Millionen Euro einen Weg vor-
gezeichnet, der in den anderen Staaten noch nicht gang
und gäbe ist.
Zusatzfrage? – Bitte
sehr.
Die Bundesregierunghat in ihrer Stellungnahme in der Drucksache 14/8201 da-rauf verwiesen, dass in diesen Fällen ausschließlich Frei-heitsstrafen verhängt worden seien. Ist der Bundesregie-rung das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 6. Dezemberletzten Jahres bekannt, wonach zwei so genannte Milz-brand-Trittbrettfahrer – es handelte sich also um keinharmloses Vergehen, sondern um etwas Bösartiges – le-diglich zu Geldstrafen in Höhe von 1 600 DM verurteiltwurden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick21829
D
Herr Kollege Dr. Gehb, dieses Ur-
teil ist mir nicht bekannt. Ich habe in dieser Stellung-
nahme zwei Urteile, in denen Freiheitsstrafen ohne
Bewährung ausgesprochen worden sind, berücksichtigt.
Mein Eindruck ist, dass die Gerichte im Rahmen der vor-
handenen Möglichkeiten auf den individuellen Fall, den
ich nicht beurteilen kann, angemessen reagieren können.
Damit ist der Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz been-
det. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beant-
wortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Barbara
Hendricks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Norbert Röttgen auf:
Was hat die Bundesregierung zu ihren Ausführungen zur Um-
satzsteuerpflicht von Betreuungsvereinen in dem Rundschreiben
des Bundesministeriums der Finanzen vom 21. September 2000
veranlasst, wenn die Betreuungsvereine ohnehin auch zuvor mit
ihrer Umsatzsteuerpflichtigkeit rechnen mussten, dies daher auch
den örtlichen Finanzämtern bekannt sein musste und diese Aus-
führungen auch nicht durch das Berufsvormündervergütungsge-
setz, das am 1. Januar 1999 in Kraft getreten ist, motiviert waren?
Frau Staatssekretärin, bitte.
D
Herr Kollege Röttgen, An-
lass für das BMF-Schreiben vom 21. September 2000
war, eine einheitliche Rechtsauslegung durch die Finanz-
verwaltungen sicherzustellen. Im Übrigen verweise ich
auf meine Antworten zu Ihren Fragen 28 und 29 in der
Fragestunde der vergangenen Woche, die Ihnen schrift-
lich zugegangen sind, obwohl Sie unentschuldigt nicht
hier waren.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege.
Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, ich bedauere es bis auf den heutigen Tag,
dass ich eine Minute zu spät gekommen bin, weil zuvor so
viele Fragen schriftlich beantwortet worden sind. Neh-
men Sie es als Zeichen meiner Buße, dass ich heute schon
seit anderthalb Stunden hier bin. Es hat mir natürlich gut
getan, hier zu sein.
Nun möchte ich zu der Frage kommen. Die von Ihnen
angesprochene einheitliche Rechtsauffassung führt zu
massiven, rückwirkenden Steuerforderungen an im
Wesentlichen ehrenamtlich arbeitende Betreuungsver-
eine. Ihre Antwort wirft die Frage auf, ob diesen Vereinen
kein Vertrauensschutz zuzubilligen ist. Dafür gibt es fol-
gende Argumente:
Die Rechtsauffassung, die die Bundesregierung ver-
tritt, ist ernsthaft umstritten. Renommierte Steuerrechtler
halten die Auffassung der Bundesregierung für euro-
parechtswidrig. Die Bundesjustizministerin hat zumin-
dest angedeutet, dass auch sie selbst eine andere Auffas-
sung vertritt. Schließlich haben die zuständigen
Finanzämter über Jahre die überwiegend ehrenamtlich ar-
beitenden Vereine nicht zur Umsatzsteuer herangezogen.
Sind Sie wirklich der Auffassung, dass die Vereine, die
– das möchte ich betonen – Gebrechliche und Behinderte
ehrenamtlich betreuen, hätten wissen müssen, was das
Finanzamt nicht wusste, wie nämlich die Rechtslage ist?
In der Wissenschaft ist das Ganze umstritten. Die Bun-
desregierung verkündet den betroffenen Verbänden, Jahre
nachdem die Vorgänge abgeschlossen sind, ihre Erkennt-
nis. Meinen Sie nicht, dass man diesen Vereinen Ver-
trauensschutz zubilligen muss?
D
Herr Kollege Röttgen, dieGesetzeslage ist leider eindeutig und mehrfach durch Be-schlusslagen der obersten Finanzbehörden des Bundesund der Länder einhellig bestätigt worden.Es ist nicht übertrieben, von einer jahrelangen Praxiszu sprechen. Das Berufsvormündervergütungsgesetz istim Januar 1999 in Kraft getreten. Das ist die Rechtslage.Auf dieser Basis ist die Änderung entstanden. DasSchreiben des BMF erging im September 2000. Dement-sprechend hat es nicht jahrelang eine andere Besteu-erungspraxis gegeben. In dem Zeitraum vor 1999 gab eseine andere Besteuerungspraxis; für diesen Zeitraum wer-den vermutlich auch keine Rückforderungen erhoben.Aufgrund der neuen Rechtslage durch das Berufsvor-mündervergütungsgesetz sind ab Januar 1999 Steuer-forderungen für die Jahre 1999 und 2000 möglich undnötig geworden.Auch das von Ihnen angesprochene Gutachten vonProfessor Schön ist unter europarechtlichen Gesichts-punkten durch die obersten Finanzbehörden des Bundesund der Länder geprüft worden. Bei einer Prüfung aufeine Bitte der Landesjustizministerkonferenz hin ist dieFinanzministerkonferenz einstimmig zu demselben Er-gebnis gekommen, dass es dabei nicht um Billigkeits-maßnahmen gehen kann.Im Übrigen hat das BMF-Schreiben, das zur Klarheitherausgegeben werden musste, weil es zuvor in einzelnenOberfinanzdirektionen der Bundesrepublik zu einerunterschiedlichen Rechtsanwendung gekommen war,eigentlich nur deklaratorischen Charakter; es hat lediglichden Gesetzestext wiederholt. Offenbar ist die Gesetzesän-derung in einigen Oberfinanzdirektionen der Bundesre-publik Deutschland tatsächlich nicht zur Kenntnisgenommen worden. Das BMF-Schreiben – in solchenZweifelsfragen muss ein entsprechendes Schreiben im-mer ergehen – hat aber wirklich nichts anderes getan, alsden Gesetzestext zu wiederholen.Nach allen Prüfungen – auch auf Bitte der Bundesjus-tizministerin hin; Sie haben Recht: Wir haben das Ganzemehrfach geprüft – sind die obersten Behörden des Bun-des und der Länder zu dem Schluss gekommen, warumSteuerpflicht besteht. Im Berufsvormündervergütungsge-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 200221830
setz ist aber geregelt, dass ein zusätzlicher Ersatz in Höheder Umsatzsteuer erfolgt. Für die Zukunft, ab sofort sozu-sagen, gibt es also keinerlei Probleme.
Der zusätzliche Ersatz erfolgt. Es geht also um Forderun-gen für die vergangenen Jahre. Bei der Beantwortung Ih-rer zweiten Frage, in der es um Billigkeitsmaßnahmengeht, werden wir darauf vielleicht noch zurückkommen.
Zweite Zusatzfrage,
bitte sehr.
Es lohnt sich, hier
anwesend zu sein; denn Sie haben gerade offensichtlich
eine andere Rechtsauffassung als die bislang geltende
Auffassung des Hauses mitgeteilt. Sie haben ausgeführt,
dass sich die Änderung der steuerlichen Grundlagen
durch das kompliziert auszusprechende Gesetz, das Be-
rufsvormündervergütungsgesetz, ergeben hat, das am
1. Januar 1999 in Kraft getreten ist. Wenn das so ist, dann
folgt daraus zwingend, dass jedenfalls für davor liegende
Zeiträume die Vereine nicht zur Zahlung der Umsatz-
steuer herangezogen werden können; das ist die Auffas-
sung, die Sie gerade vertreten haben. Sie werden aber bis
zum Jahr 1994 zur Zahlung der Umsatzsteuer herangezo-
gen, sodass ich jetzt die erfreuliche Mitteilung mitnehme,
dass für die Zeit vor dem 1. Januar 1999 die Umsatz-
steuerpflicht nach Auffassung des Bundesfinanzministe-
riums nicht besteht.
D
Nein, Herr Kollege
Röttgen, das können Sie daraus nicht schließen.
Der Hintergrund ist folgender: Die Umsatzsteuerbe-
freiung hat immer dann gegolten, wenn Betreuungsver-
eine eine Leistung günstiger als berufsmäßige Betreuer
erbracht haben, Herr Kollege Röttgen. Voraussetzung für
die Umsatzsteuerbefreiung in der Vergangenheit war also,
dass ein Betreuungsverein eine Leistung günstiger als ein
berufsmäßiger Betreuer erbracht hat.
Nun mag es auch schon vor dem In-Kraft-Treten des
Berufsvormündervergütungsgesetzes Betreuungsvereine
gegeben haben, die Leistungen für dasselbe Entgelt wie
berufsmäßige Betreuer erbracht haben. In diesem Fall war
schon damals deren Umsatzsteuerbefreiung nicht korrekt.
Mit dem In-Kraft-Treten des Berufsvormündervergü-
tungsgesetzes ist völlig eindeutig, dass es eine Umsatz-
steuerbefreiung nicht mehr geben kann. Im Berufsvor-
mündervergütungsgesetz steht, dass die Leistungen der
Betreuungsvereine in derselben Höhe wie die der berufs-
mäßigen Betreuer vergütet werden, sodass schon von da-
her der Grund entfallen ist. Für die Zeit davor ist das
natürlich von der jeweiligen Höhe der Vergütung ab-
hängig.
Nun hat der Kollege
Peter Weiß eine Zusatzfrage.
Frau
Staatssekretärin, war es denn zwingend notwendig, die
Umsatzsteuerzahlung rückwirkend bis zum Jahr 1994 zu
fordern, wenn es in Deutschland offenbar nach wie vor
eine unterschiedliche Handhabung für die einzelnen Be-
treuungsvereine gibt, einige Finanzämter die Forderung
bis zum Jahr 1994 rückwirkend erhoben haben, einige
Finanzämter diese Forderung nicht bis zum Jahr 1994
rückwirkend erhoben haben?
D
Herr Kollege Weiß, ich
vermag nicht zu beurteilen, ob es weiterhin zu einer un-
terschiedlichen Behandlung der Betreuungsvereine in der
Bundesrepublik Deutschland kommt. Sie sehen hieran,
dass die Umsetzung der Steuergesetze den Ländern ob-
liegt – das gilt auch für die anderen steuerlichen Ge-
biete –; infolgedessen liegt dies nicht in der Verantwor-
tung des Bundes. Die Festsetzung für zurückliegende
Zeiträume liegt allein in der Verantwortung der Län-
derfinanzbehörden.
Ich rufe die Frage 4
des Kollegen Dr. Röttgen auf, auch wenn sie eigentlich
schon beantwortet ist:
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die durch
die rückwirkende Steuerveranlagung bedingten finanziellen Be-
lastungen die Betreuungsvereine teilweise in ihrer Existenz
gefährden, und hält sie dies vor dem Hintergrund der durch die
rückwirkende Veranlagung erzielten Steuermehreinnahmen für
vertretbar?
D
Herr Kollege Röttgen, es
liegt der Bundesregierung fern, Betreuungsvereine durch
die Umsatzbesteuerung in den Bankrott treiben zu wollen.
Für eine allgemeine Billigkeitsmaßnahme ist jedoch kein
Raum. Allerdings kann im Einzelfall eine Billigkeitsmaß-
nahme aus persönlichen Gründen – bezogen auf den Ver-
ein, also auf das Steuersubjekt – in Betracht kommen. Die
Entscheidung über derartige Billigkeitsmaßnahmen ob-
liegt den Ländern, solange bestimmte Betragsgrenzen
nicht überschritten sind. Das dürfte hier nicht zu erwarten
sein. Eine Unbilligkeit liegt allerdings nicht vor, soweit
eine Vergütung bei den zuständigen Gerichten noch bean-
tragt wird bzw. noch beantragt werden kann.
Zusatz-frage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks21831
Ich möchte beto-
nen, dass es mir bzw. uns nur um die Fälle geht, bei denen
die Kosten, die den Vereinen durch die jetzt angenom-
mene Steuerpflichtigkeit auferlegt werden, nicht mehr an
die Justizkassen weitergeleitet werden können. Die Pro-
blematik besteht darin, dass es für die Betreuungsvereine
abgeschlossene Sachverhalte sind, die auf der Grundlage
der Steuerpraxis des jeweiligen Finanzamtes erfolgt sind.
Sie bleiben nun auf den Kosten sitzen. Genau das ist der
Fall.
Nun sagen Sie, Ihrer Auffassung nach gebe es keinen
Grund für eine allgemeine Billigkeitsregelung, für eine
allgemeine Vertrauensschutzregelung. Die Justizminister-
konferenz hat das Bundesfinanzministerium bzw. den
Bundesfinanzminister im Dezember des letzten Jahres an-
geschrieben und angeregt, für den Fall, dass die Bundes-
regierung bzw. das Bundesfinanzministerium bei dieser
Rechtsauffassung bleibt, eine Gesetzesänderung zuguns-
ten der betroffenen Vereine vorzunehmen, und zwar min-
destens im Sinne einer Altfallregelung. Auch die Frau
Bundesjustizministerin hat eine solche Anregung ge-
macht. Welche Gründe gibt es eigentlich dafür, dass die
Bundesregierung sich dieser Anregung der Justizminis-
terkonferenz und auch der Bundesjustizministerin wider-
setzt?
D
Herr Kollege Röttgen, die
Bundesregierung ist der Auffassung, dass persönliche Bil-
ligkeitsmaßnahmen, die durch die einzelnen Vereine be-
antragt werden können, durchaus geeignet sind, die Frage
zugunsten der Vereine zu regeln. Das ist natürlich von der
wirtschaftlichen Situation der Vereine abhängig. Sie wer-
den aber im Regelfall – schon deshalb, weil ihre Aufga-
benstellung so ist, wie sie ist – nicht über Vermögenswerte
verfügen, sodass Anträge auf Billigkeitsmaßnahmen, die
jeweils beim Finanzamt zu beantragen sind, sicherlich mit
Aussicht auf Erfolg gestellt werden können, allerdings
– das betone ich nochmals – in Verantwortung der Lan-
desfinanzbehörden.
Zweite
Zusatzfrage, Kollege Röttgen.
Ist Ihnen auch nur
ein Fall bekannt, in dem es zu einer solchen individuellen
Billigkeitsregelung gekommen ist? Mir nicht. Ich frage
das, weil Sie gesagt haben, damit könne das Problem
gelöst werden. Es gab, glaube ich, nicht einen einzigen
Fall.
D
Ich darf Ihnen eigentlich
nicht mit einer Gegenfrage antworten, möchte es aber
dennoch tun: Ist Ihnen ein Fall bekannt, in dem eine sol-
che Billigkeitslösung überhaupt schon beantragt worden
wäre?
Mir sind die Fälle
bekannt, in denen die Auseinandersetzung darüber, ob
Ihre Rechtsauffassung zutreffend ist, vor den Gerichten
weitergeführt wird. Ich gehe davon aus, dass man vorher
im Gespräch mit den Finanzämtern versucht hat, zu einer
Lösung zu kommen. Wir sind durch Ihre Rechtsauffas-
sung jetzt leider veranlasst, das durch die Gerichte klären
zu lassen. Das scheint mir im Jahre 2002, ein Jahr nach
dem Jahr des Ehrenamtes, ein fatales Signal zu sein, das
hierdurch an ehrenamtliche Betreuungsvereine gesandt
wird.
D
Herr Kollege, ich kann Ihr
Unbehagen verstehen, möchte aber nochmals darauf hin-
weisen, dass dies die wirklich einvernehmliche Ausle-
gung der obersten Finanzbehörden des Bundes und der
Länder ist. Das heißt, Auslegungsfragen, die das Steuer-
recht betreffen, können wir nach der allgemeinen Staats-
praxis nicht alleine klären; vielmehr entsteht die Ausle-
gung dadurch, dass sich die obersten Finanzbehörden des
Bundes und der Länder jeweils mit den zuständigen Fach-
leuten zusammensetzen und dann eben 16 Ländervertre-
ter und ein Bundesvertreter eine Auslegung vornehmen.
Sie ist in diesem Fall einvernehmlich getroffen worden.
Die Bundesregierung könnte eine abweichende Rechts-
auffassung gegen die Länder wohl nicht durchsetzen. Es
dürften mindestens acht Länder nicht widersprechen, da-
mit die Bundesregierung eine andere Auffassung durch-
setzen könnte.
Eine wei-
tere Frage, Kollege Weiß.
Frau
Staatssekretärin, können Sie mir darin zustimmen, dass
die betroffenen Betreuungsvereine es als ein bisschen bil-
lig ansehen, dass sie auf Billigkeitsmaßnahmen verwiesen
werden? Immerhin hat der Bund mit dem Betreuungsge-
setz gewollt, dass diese ehrenamtlichen Vereine tätig wer-
den. Sie werden benötigt, um das Gesetz umzusetzen.
Wäre der Bund daher nicht in der Verpflichtung, eine ge-
nerelle Lösung für die Betreuungsvereine zu finden, die
sich Forderungen der Finanzämter gegenübersehen, die
sie ihrerseits nicht mehr geltend machen können?
D
Herr Kollege, Hintergrundder Steuerbefreiung war ja – das habe ich Ihnen gesagt –,dass die Vereine sehr häufig die Leistungen kostengünsti-ger als die Berufsbetreuer erbracht haben. Dies ist der ein-zige Grund dafür gewesen, dass eine Umsatzsteuerbefrei-ung nach EU-Recht überhaupt möglich war. Wenn jetztSteuernachforderungen erfolgen, dann kann das nur daranliegen, dass die Vereine ihre Leistungen eben nicht kos-tengünstiger als die Berufsbetreuer angeboten haben.Deswegen wäre ein allgemeiner Erlass auch nicht euro-parechtskonform; da haben Sie dann Probleme bezüglichder Wettbewerbsgleichheit. Umsatzsteuererlasse werdenregelmäßig nur dann gewährt, wenn sie den Wettbewerb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 200221832
nicht tangieren. Die Vereine haben offenbar gleich teureLeistungen wie die Berufsbetreuer erbracht; somit durftensie nicht weiter auf die Umsatzsteuerbefreiung vertrauen.
Nein, ent-
schuldigen Sie, Herr Kollege Weiß. Nur eine Frage, kein
Dialog.
D
Deswegen bitte ich, auch
wenn das Wort traditionell „Billigkeitsmaßnahme“ heißt
– so entstehen eben Worte –, zu beachten, dass dieses
Wort nichts mit dem Wort „billig“ im üblichen Sinn zu tun
hat. Vielmehr kann die Finanzverwaltung nach dem, was
recht und billig ist, entscheiden, ob ein solcher Erlass
möglich ist. „Billig“ ist hier aber nicht im Sinne von „un-
wert“ zu verstehen.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin Hendricks.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Die Fragen des Kollegen Rose, also die Fragen 5 und
6, sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminis-
ter Dr. Ludger Volmer zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 7 des Abgeordneten Peter
Weiß:
Wie beurteilt die Bundesregierung Berichte Russlands und der
USA, dass al-Qaida-Kämpfer sich im zu Georgien gehörenden
Pankisi-Tal aufhalten?
D
Herr Kollege Weiß, der Bundesregierung liegen
keine Erkenntnisse über den Aufenthalt von al-Qaida-
Kämpfern im georgischen Pankisi-Tal vor.
Zusatz-
frage, Kollege Weiß.
Herr
Staatsminister, solche Presseberichte entstehen ja nicht
ohne Anlass. Da in der „Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung“ vor allen Dingen auf Berichte Russlands und der
USAverwiesen wird, möchte ich fragen: Gehört vielleicht
diese Meldung in die Kategorie der Meldungen, die sei-
tens Russlands zu regionalen Konflikten in die Welt ge-
setzt werden, um, zum Beispiel in Georgien, den Einfluss
Russlands zu begründen und die Tschetschenien-Frage in
einem etwas anderen Licht erscheinen zu lassen?
D
Wir können nicht darüber spekulieren, auf welche
Quellen sich die Zeitungen bei ihren Berichten stützen.
Wir wissen, dass die Lage in der Kaukasus-Region kom-
pliziert ist. Deshalb wollen wir uns selber nicht an Spe-
kulationen beteiligen.
Damit
kommen wir zur Frage 8 des Kollegen Weiß:
Gibt es erste Sondierungen oder Anfragen der georgischen Re-
gierung bei der NATO, sich eventuell an einer Militäraktion gegen
die al-Qaida-Kämpfer und andere Terrorgruppen in Georgien zu
beteiligen?
D
Herr Kollege Weiß, es gibt diesbezüglich keine Son-
dierungen oder Anfragen der georgischen Regierung bei
der NATO.
Zusatz-
frage.
Herr
Staatsminister, wie stellen Sie sich denn zu dem Bericht
in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20. Fe-
bruar dieses Jahres, gemäß dem der georgische Präsident
Schewardnadse geäußert habe, dass er eine Militäraktion
zusammen mit den Amerikanern und den verbündeten
NATO-Staaten in dieser Region, nämlich dem Pankisi-
Tal, grundsätzlich nicht ausschließe?
D
Wenn Herr Schewardnadse das nicht ausschließt,
heißt das nicht, dass es eine konkrete Anfrage an die
NATO gibt. Diese gibt es nicht. Bekannt ist – das kann ich
bestätigen –, dass es Gespräche zwischen Georgien und
den Amerikanern über amerikanische Hilfen im Sinne
von Militärberatung gibt.
Weitere
Zusatzfrage, bitte.
Herr
Staatsminister, da die Bundesregierung, sowohl das Aus-
wärtige Amt als auch das Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mehrmals
in den vergangenen Monaten ihre Kaukasus-Initiativen
vorgestellt hat, möchte ich Sie fragen: Werden diese Ini-
tiativen beinhalten, dass sich die Bundesrepublik
Deutschland auch bei der Lösung der regionalen Kon-
flikte in Georgien verstärkt engagieren und einbringen
wird?
D
Es ist erklärte Politik nicht nur der Bundesregierung,sondern der gesamten Europäischen Union, bei der Lö-sung der verschiedenen Konflikte im Kaukasus behilflichzu sein. Man muss aber zwischen den Kaukasus-Konflik-ten, wie wir sie kennen, und der neuen Qualität, die sie er-halten könnten, falls sich al-Qaida-Kämpfer in bestimmte
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks21833
Regionen des Kaukasus absetzen sollten, klar unterschei-den.
Damit
kommen wir zur Frage 9 des Kollegen Georg Janovsky:
Inwieweit kann die Bundesregierung Presseberichte – Quelle:
„Der Spiegel“, 8/2002, Seite 60 f. – bestätigen, wonach sich die
deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik auch heute
noch Schikanen und Benachteiligungen ausgesetzt sieht, und in-
wieweit hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
dies im Rahmen seiner jüngsten Reise nach Prag thematisiert?
D
Herr Kollege Janovsky, in ihrem letzten Fort-
schrittsbericht vom 13. November 2001 hat die EU-Kom-
mission der Tschechischen Republik bescheinigt, Men-
schenrechte und Freiheiten zu achten. Mit In-Kraft-Treten
des tschechischen Minderheitengesetzes im August 2001
ist ein erster Schritt zur Umsetzung des Anti-Diskriminie-
rungs-Acquis erfolgt. Der Rat für Nationale Minderhei-
ten, in dem es auch zwei Vertreter der deutschen Minder-
heit gibt, soll die Beteiligung der Minderheiten am
politischen Entscheidungsprozess sicherstellen. Mitte
Dezember 2000 hat auch ein Ombudsmann für Bürger-
rechte seine Arbeit aufgenommen. Insgesamt ist die Si-
tuation der Minderheiten, abgesehen von den Roma, laut
Fortschrittsbericht der Kommission zufriedenstellend.
Bei der deutschen Minderheit in der Tschechischen Re-
publik handelt es sich um tschechische Staatsangehörige,
die der Gesetzgebung der Tschechischen Republik unter-
liegen. Die deutsche Minderheit in Tschechien wendet
sich daher mit ihren politischen Forderungen auf der
Grundlage der EU-Acquis-konformen tschechischen Ge-
setzgebung an die tschechische Regierung. Dabei geht es
vor allem um Entschädigungen für konfisziertes Eigen-
tum, Anrechnung von in Internierungslagern verbrachter
Zeit auf die Rentenversicherung und einzelne Regelungen
des Minderheitengesetzes.
Die Bundesregierung ist über die Anliegen der deut-
schen Minderheit in der Tschechischen Republik infor-
miert. Sie ist der Überzeugung, dass ein baldiger EU-Bei-
tritt der Tschechischen Republik das beste Mittel ist, um
den Minderheitenschutz noch tiefer zu verankern. Die
jüngste Reise des Bundesministers des Auswärtigen hatte
zum Ziel, diesen baldigen Beitritt zu unterstützen.
Zusatz-
frage, Herr Janovsky?
Herr Staatsminister,
hat die Bundesregierung, Bezug nehmend auf den
deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag, in dieser
Frage Aktivitäten entwickelt?
D
Die Bundesregierung spricht diese Fragen bei ihren
Treffen mit dem jeweiligen tschechischen Gegenüber re-
gelmäßig an. Allerdings weisen die Vertreter der deut-
schen Minderheit in Tschechien darauf hin, dass sie als
tschechische Staatsbürger ihre Anliegen der tschechi-
schen Regierung gegenüber selber darstellen wollen.
Damit
kommen wir zur Frage 10 des Kollegen Georg Janovsky:
Was gedenkt die Bundesregierung zur Wahrung oder Verbes-
serung der Rechte der deutschen Minderheit in der Tschechischen
Republik zu unternehmen und inwieweit hält sie vor dem Hinter-
grund von Presseberichten – „Der Spiegel“, 8/2002, Seite 60 f. –
an ihrer bisherigen Auffassung fest, die Benes-Dekrete seien in ih-
rer Wirkung erloschen?
D
Herr Kollege, die die deutsche Minderheit in der
Tschechischen Republik bewegenden Anliegen richten
sich an das dortige Parlament bzw. die dortige Regierung.
Die Bundesregierung nimmt im Übrigen die von Vertre-
tern der deutschen Minderheit in der Tschechischen Re-
publik wiederholt geäußerte Auffassung zur Kenntnis,
dass es sich bei Problemen der deutschen Minderheit in
der Tschechischen Republik um eine Angelegenheit zwi-
schen der deutschen Minderheit und dem tschechischen
Staat handele.
Im Übrigen hat die Bundesregierung, wie alle ihre Vor-
gängerinnen, die Vertreibung der Deutschen und die ent-
schädigungslose Enteignung deutschen Vermögens durch
die so genannten Benes-Dekrete immer als völkerrechtli-
ches Unrecht betrachtet. Die tschechische Regierung ver-
tritt hierzu eine andere Rechtsauffassung. In der Deutsch-
Tschechischen Erklärung von 1997, die in all ihren
Elementen die Grundlage für die deutsch-tschechischen
Beziehungen darstellt, sind beide Seiten übereingekom-
men, ihre Beziehungen zukunftsgerichtet fortzuent-
wickeln und nicht mit aus der Vergangenheit herrühren-
den politischen und rechtlichen Fragen zu belasten. Im
Zusammenhang damit erklärte die tschechische Seite im
März 1999, dass die Benes-Dekrete heute keine Wirkung
mehr entfalten würden.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Janovsky?
Wenn ich den Zei-
tungsartikel richtig sehe, dann haben diese Dekrete doch
eine Wirkung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist
Ihrer Antwort zu entnehmen, dass sich die deutsche Min-
derheit nie an die deutsche Bundesregierung gewandt hat?
D
Die deutsche Minderheit in Tschechien ist der Auf-fassung, dass die Fragen, die sie zu klären hat, keine bila-teralen Probleme zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Tschechischen Republik darstellen, sonderndass dies innenpolitische Angelegenheiten der Tschechi-schen Republik sind, die die deutsche Minderheit mit derRegierung bzw. dem Parlament selber klären möchte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Staatsminister Dr. Ludger Volmer21834
Allerdings gilt: Die Bundesregierung ist über die An-liegen der Minderheit informiert und spricht sie ihrerseitsim Rahmen der laufenden Konsultationen mit der tsche-chischen Seite immer wieder einmal an.
Damit
kommen wir zur Frage 11 des Kollegen Hartmut
Koschyk:
Aufgrund welcher gegenüber dem Bundesminister des Aus-
wärtigen, Joseph Fischer, bei dessen Besuch in Prag abgegebenen
Erklärungen des tschechischen Ministerpräsidenten, Milos
Zeman, hält der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
die Irritationen im deutsch-tschechischen Verhältnis für aus-
sidenten, Milos Zeman, in der österreichischen Zeitschrift „Pro-
fil“, in der israelischen Zeitung „Haaretz“ sowie im tschechischen
Programm der BBC entstanden sind?
D
Der tschechische Ministerpräsident Zeman hat sich,
abgesehen von den bereits vorher in der „Frankfurter All-
gemeinen Sonntagszeitung“ vom 10. Februar 2002 – „Es
gibt keine kollektive Schuld, weder für Tschechen noch
für Deutsche“ – und im „Fokus“ vom 11. Februar 2002 –
„Außerdem habe ich nie ein Wort über Kollektivschuld
der Sudetendeutschen verloren“ bzw. „Ich verurteile die
Exzesse während der Vertreibung sehr“ – gegebenen In-
terviews, auch im Gespräch mit Bundesaußenminister
Fischer am 20. Februar 2002 in Prag von Kollektiv-
schuldthesen ausdrücklich distanziert.
Zeman bekräftigte bei dem Treffen, er habe sich nie für
die Vertreibung der Sudetendeutschen und der Palästinen-
ser ausgesprochen. Darüber hinaus bestätigte Minister-
präsident Zeman, dass die tschechische Regierung die
Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 weiterhin als
entscheidende Grundlage der zukunftsgerichteten Weiter-
entwicklung der deutsch-tschechischen Beziehung sieht.
Darin bedauert die tschechische Seite, dass durch die nach
Kriegsende erfolgte Vertreibung unschuldigen Menschen
viel Leid und Unrecht zugefügt wurde – auch aufgrund
des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung.
Zusatz-
frage, Herr Koschyk.
Herr Staatssekretär,
die israelische Zeitung „Haaretz“ bleibt bei der Auffas-
sung – davon gibt es auch Tondokumente –, dass der
tschechische Ministerpräsident die auch international auf
große Kritik und Ablehnung gestoßenen Äußerungen ge-
macht habe. Das hat schon zu einer Ausladung vonseiten
Ägyptens geführt.
Zweitens gibt es neben diesen skandalösen Äußerun-
gen in der Zeitung „Haaretz“ noch ein Interview in dem
tschechischsprachigen Teil von BBC, das auch in der
tschechischen Republik öffentlich bekannt geworden ist.
Zu dieser Angelegenheit gibt es ein parlamentarisches
Nachspiel. Kann aufgrund der Tatsache, dass die Frage,
ob diese Äußerungen wirklich so gemacht worden sind,
nach wie vor ungeklärt ist, die Bundesregierung mit den
Aussagen des tschechischen Ministerpräsidenten wirklich
zufrieden sein?
D
Die Bundesregierung hat ebenso wie die Europä-
ische Union die damals zitierten Äußerungen von Herrn
Zeman sehr eindeutig kommentiert. Der Bundesaußenmi-
nister hat bei seinem jüngsten Besuch in Prag diesen
Punkt noch einmal deutlich angesprochen, weil dadurch
nämlich der Gesamtkomplex berührt wird, ob die Tsche-
chische Republik als EU-Beitrittskandidat den europä-
ischen Acquis auch in Sachen Außenpolitik mitträgt.
Der Bundesaußenminister kam zu der Überzeugung,
dass nach den Erklärungen von Herrn Zeman diese Pro-
bleme ausgeräumt seien. Die tschechische Seite steht ein-
deutig zum europäischen Acquis in Sachen Außenpolitik.
Weitere
Zusatzfrage.
Wenn nach Auffas-
sung der Bundesregierung diese Irritationen, die durch die
Äußerungen entstanden sind, ausgeräumt sind, bedeutet
dies dann, dass die geplante Reise des Bundeskanzlers
nach Prag stattfinden wird?
D
Der Bundeskanzler wird zu gegebener Zeit über den
Termin und den Inhalt einer solchen Reise entscheiden.
Wir kom-
men zur Frage 12 des Kollegen Hartmut Koschyk:
Wie bewertet die Bundesregierung die Auffassung des tsche-
chischen Außenministers Jan Kavan: „Wir können die Dekrete
[gemeint sind die Benes-Dekrete] für uns nicht als Unrecht emp-
finden“ ,
und hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
diese Auffassung der Bundesregierung der tschechischen Regie-
rung beim Besuch in Prag dargelegt?
D
Die Bundesregierung hat – wie alle ihre Vorgänge-rinnen – die Vertreibung von Deutschen und die Einzie-hung deutscher Vermögen aufgrund der Benes-Dekreteimmer für völkerrechtliches Unrecht gehalten. Bundes-außenminister Fischer hat die deutsche Position in seinenGesprächen und vor der Presse klar zum Ausdruck ge-bracht. Der tschechischen Regierung, die dazu eine an-dere Rechtsauffassung vertritt, ist die deutsche Haltungbekannt. Die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997hält die unterschiedlichen Rechtsauffassungen schriftlichfest. Dort heißt es, dass „jede Seite ihrer Rechtsordnungverpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seiteeine andere Rechtsauffassung hat“.Gleichzeitig sind in der Erklärung von 1997 beide Sei-ten übereingekommen, ihre Beziehungen zukunftsgerich-tet fortzuentwickeln und nicht mit aus der Vergangenheitherrührenden rechtlichen und politischen Fragen zu be-lasten. In diesem Zusammenhang bezeichnet auch der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Staatsminister Dr. Ludger Volmer21835
tschechische Außenminister in seinem Interview in der„Sächsischen Zeitung“ vom 18. Februar 2002 die Benes-Dekrete als „erloschen“.
Ihre Zu-
satzfrage bitte.
Herr Staatsminister,
wie bewertet die Bundesregierung dann vor diesem Hin-
tergrund die Forderung des tschechischen Parlamentsprä-
sidenten Vaclav Klaus, die fortdauernde Gültigkeit der
Benes-Dekrete durch eine Sonderklausel im tschechi-
schen EU-Beitrittsvertrag zu verankern?
D
Der Bundesaußenminister hat bei seinem jüngsten
Besuch in Prag mit aller Entschiedenheit öffentlich deut-
lich gemacht, dass er der Meinung ist, dass bilaterale Fra-
gen, die das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland
und der Tschechischen Republik berühren, bilaterale Fra-
gen bleiben sollen und nicht europäische Fragen werden
dürfen. Beitrittsverhandlungen sollen weder durch das
eine noch durch das andere strittige Einzelthema belastet
werden. Die Bundesregierung hat großes Interesse daran,
dass der Beitrittsprozess zügig vorangeht. Wir hoffen da-
rauf, dass manche Dinge, die heute streitig sind, auf der
Basis einer vollzogenen EU-Mitgliedschaft vielleicht
leichter zu lösen sein werden.
Bitte,
Herr Koschyk.
Herr Staatsminister,
wie kann die Bundesregierung eigentlich zu der Auffas-
sung gelangen, dass es sich hier um eine deutsch-tsche-
chische, also bilaterale Frage handelt, nachdem das Euro-
päische Parlament im Zusammenhang mit Berichten über
den Fortschritt des tschechischen EU-Beitritts zweimal in
einer Entschließung die Obsoleterklärung dieser Dekrete
gefordert hat und nachdem dies auch eine Forderung des
ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban gewesen
ist, der formuliert hat, dass sowohl die Tschechische Re-
publik als auch die Slowakische Republik diese Dekrete
annullieren sollten, da diese dem Geist sowie dem kon-
kreten Regelwerk der EU widersprächen?
D
Wenn sich die Europäische Union mit Einzelfragen,
die zwischen zwei Ländern von Belang sind, befasst, dann
ist das nicht nur ihr Recht, sondern auch gut. Aber daraus
darf dann kein Junktim in Bezug auf Beitrittsverhandlun-
gen gemacht werden.
Vielen
Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beant-
wortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Gerd
Andres zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Was hat der Richter im Vergabesenat des Oberlandesgerichts
Düsseldorf nach Kenntnis der Bundesregierung zur Rechtmäßig-
keit des Vertrages mit der Firma efp zur Abwicklung der EU-För-
dermittel EQUAL gesagt, und wie wird die Bundesregierung da-
rauf reagieren?
G
Herr Niebel, wenn Sie
einverstanden wären, würde ich gerne die Fragen 13 und
14 gemeinsam beantworten.
Herr Präsident, sind auch Sie einverstanden?
Ja, natür-
lich. Dann rufe ich auch die Frage 14 des Abgeordneten
Dirk Niebel auf:
Welche Verwendung hat die Bundesregierung inzwischen für
den für das Vergabeverfahren zuständigen Referatsleiter gefunden
und wie wirkt sie sich auf das Disziplinarverfahren aus?
G
Ich beantworte Ihre Fra-
gen wie folgt: Nach vorläufiger Einschätzung des Verga-
besenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf, die der
Vorsitzende der mündlichen Verhandlung vom 20. Fe-
bruar 2002 geäußert hat, sind die Verträge vom 15. Juni
2001 und vom 22. August 2002 betreffend die Umsetzung
der Technischen Hilfe für die Gemeinschaftsinitiative
EQUAL nichtig.
Das Bundesarbeitsministerium hatte die Verträge be-
reits Ende letzten Jahres im Rahmen der vertraglich ver-
einbarten Kündigungsfristen mit Wirkung zum 30. Juni
2002 vorsorglich gekündigt. Unmittelbar nach der Kündi-
gung übernahm das BMA die Durchführung hoheitlicher
Aufgaben. So hat das Referat insbesondere circa 100 Zu-
wendungsbescheide in eigener Verantwortung erlassen.
Auf Anraten der mit seiner Vertretung beauftragten
Rechtsanwaltskanzlei hat das BMA im Anschluss an die
mündliche Verhandlung die Firma efp mit sofortiger Wir-
kung von der Wahrnehmung weiterer Aufgaben im
Zusammenhang mit dem Programm EQUAL entbunden.
Die Technische Hilfe für die Gemeinschaftsinitiative
EQUAL wird nunmehr insgesamt vom BMA selbst
durchgeführt. Der zuständige Referatsleiter ist – mit sei-
nem Einverständnis – mit einem Sonderauftrag beauftragt
worden. Auf das Disziplinarverfahren hat dies keine Aus-
wirkungen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, Sie habeneben festgestellt, dass der Vergabesenat davon ausgeht,dass die Verträge nichtig sind oder nichtig sein werden. Im„Stern“ Nr. 5/2002 wurde in einem Artikel mit der Über-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Staatsminister Dr. Ludger Volmer21836
schrift „Riester-Affäre – Jetzt wird‘s teuer“ nicht nur da-rauf hingewiesen, dass der Arbeitsminister persönlich denZuschlag an die Firma efp gegeben hat, sondern dass auchin einer Protokollniederschrift einer Sitzung vom 6. Juni2001 steht, dass der mittlerweile in den einstweiligen Ru-hestand versetzte Staatssekretär Werner Tegtmeier ge-warnt haben soll und auf die politischen und juristischenRisiken hingewiesen hat. Können Sie mir sagen, weshalbdiese Warnung bei der Entscheidung des Ministers nichtberücksichtigt worden ist?G
Herr Abgeordneter
Niebel, wie Sie aus mehreren Beratungssitzungen sowohl
des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung als auch
des Haushaltsausschusses wissen, war Entscheidungs-
grundlage für die Leitung und für den Minister eine Vor-
lage, die uns das zuständige Referat und die zuständige
Abteilung zugeleitet haben. In dieser Vorlage wurde emp-
fohlen, dass man öffentlich-rechtlich beleihen und die
Firma efp beauftragen solle. Das haben wir getan. Zu al-
len weiteren Fragen gibt es umfangreiche Berichte und
Vorlagen. Ich weiß im Moment nicht, was in dem Artikel
des „Stern“ steht, den Sie zitiert haben. Ich will ihn daher
auch nicht kommentieren.
Eine
Nachfrage, Herr Abgeordneter Niebel.
Herr Staatssekretär, Sie haben
eben auf Frage 14 geantwortet, dass der zuständige Refe-
ratsleiter mit einer Sonderaufgabe betraut worden ist. Er
war es ja, der die Vorlage für den Herrn Minister erarbei-
tet hat. Können Sie diese Sonderaufgabe genauer definie-
ren?
G
Herr Abgeordneter
Niebel, das Problem besteht darin, dass Herr Brüss, der
zuständige Referatsleiter, innerhalb des Hauses umgesetzt
worden ist und mit anderen Aufgaben betraut wurde. Das
ist im Hinblick auf die Vorschriften des Beamtenrechts
eine vernünftige Vorgehensweise. Sie wissen, dass ge-
genwärtig ein Disziplinarverfahren läuft. Sie wissen
ebenfalls, dass es sowohl in Bezug auf den Unterabtei-
lungsleiter als auch den Abteilungsleiter, die dafür zu-
ständig waren, eine Veränderung gegeben hat: Der eine ist
in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden; der an-
dere ist mit einer anderen Aufgabe betraut worden. Über
die Sonderaufgabe des Herrn Brüss kann ich Ihnen ge-
genwärtig nichts sagen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage? – Bitte.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen an-
dere Fälle bekannt – vielleicht auch aus der Zeit, als wir
noch regiert haben –, dass Verträge des Bundesarbeitsmi-
nisteriums von Gerichten als nichtig bezeichnet und auf-
gehoben wurden?
G
Nein, dazu ist mir ge-
genwärtig nichts bekannt.
Eine wei-
tere Zusatzfrage.
Bisher gingen Vertreter des Bun-
desarbeitsministeriums auch in den Ausschussberatungen
davon aus, dass Schadenersatzansprüche nicht entstehen
können. Mir ist bekannt geworden, dass einer der Gründe
für die Nichtigkeit der Beleihung die fehlende Zustim-
mung der Firma BBJ sein soll; das ist die Firma, die in
dem aufgehobenen Ausschreibungsverfahren nicht zum
Zuge gekommen ist. Ist nach der mündlichen Verhand-
lung mit Schadenersatzforderungen dieses Mitbewerbers
zu rechnen und welcher Schaden ist durch die nichtige
Beauftragung der Firma efp der Bundesrepublik Deutsch-
land bisher entstanden?
G
Herr Abgeordneter
Niebel, Sie wissen, dass es sich um eine mündliche Ver-
handlung handelte. Ich bitte um Verständnis dafür, dass
wir die schriftliche Begründung des Gerichts abwarten
wollen. Dann kann man weitere Fragen beantworten.
Vielen
Dank. – Ich rufe jetzt die Frage 15 des Kollegen
Dr. Heinrich Kolb auf:
Plant die Bundesregierung eine Initiative, um nach dem Urteil
beiträgen auf nicht zugeflossene Arbeitsentgelte (so genannter
Phantomlohn) auf einen Zeitraum bis zum 31. März 2000 zu be-
grenzen?
G
Herr Abgeordneter
Kolb, ich möchte gern Ihre beiden Fragen im Zusammen-
hang beantworten, wenn Sie damit einverstanden sind.
Dann rufe
ich auch noch die Frage 16 auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung darüber hinaus im Wege
der Änderung des § 14 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch
oder einer Verordnung nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV,
bei der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge das so ge-
nannte Zuflussprinzip aus dem Steuerrecht zugrunde zu legen?
G
Die Antwort auf dieFrage 15 lautet: Nein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Dirk Niebel21837
Zur Frage 16: Der Ausgang der bereits laufenden Ge-richtsverfahren, die hinsichtlich des Vertrauensschutzeszu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind, mussabgewartet werden. Ein adäquater Schuldnerschutz ist,wie bei jeder Beitragsforderung, gesetzlich vorgesehen.Er kann bis zum Erlass der Forderungen gehen. Die Bun-desregierung verkennt nicht, dass es Gründe dafür gebenkann, die steuer- und beitragsrechtliche Behandlung vonEinkünften zu vereinheitlichen. Der bei der Einführungdes Sozialgesetzbuches zugrunde gelegte Übergang zumEntstehungsprinzip ist aber jahrzehntelang im Wesentli-chen unbeanstandet geblieben. Er hat den Versicherten inder gesetzlichen Rentenversicherung entsprechende Vor-teile gebracht. Im Übrigen hält auch das von Ihnen in derFrage 15 genannte Urteil des Sozialgerichts Gelsenkir-chen das Entstehungsprinzip für gerechtfertigt. Die Ren-tenversicherungsträger stützen sich auf eine gefestigteRechtsprechung und ziehen aus den anerkannten Rechts-folgen allgemein verbindlicher Tarifverträge die Konse-quenzen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Kolb.
Herr Staatssekretär, ich
möchte Sie fragen: Darf ich davon ausgehen, dass der Bun-
desregierung bekannt ist, dass in einer Vielzahl von Fällen
– es sind nicht nur Einzelfälle – die Praxis der Bundesver-
sicherungsanstalt für Angestellte, seit 1999 bei Prüfungen
das Entstehungsprinzip durchzusetzen, zu existenzbe-
drohenden Nachforderungen in der Größenordnung fünf-
und sechsstelliger Beträge geführt hat? Wenn Ihnen das
bekannt ist: Haben Sie genauere Zahlen über die Zahl der
hierbei aufgeworfenen Fälle?
G
Uns ist der Tatbestand
bekannt. Ich habe gegenwärtig keine Unterlagen über das
Ausmaß der Fälle. Aber ich habe in meinen Ausführungen
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man Stundungen
vornehmen kann. Zu Ihrer Frage kann ich nur sagen, dass
die Rentenversicherungsträger aufgrund bestehender Ge-
setze und aufgrund bestehender Grundlagen, die sich, wie
ich es ausgeführt habe, bewährt haben, prüfen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie
haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es bis 1977 eine
einheitliche Bemessungsgrundlage für Steuern und Sozi-
alversicherungsbeiträge gab und in der Folge diese Ein-
heitlichkeit aufgegeben wurde. Gleichwohl hatte das Ent-
stehungsprinzip bis ins Jahr 1999 keinen Einfluss auf die
tatsächliche Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen.
Welche konkreten Gründe gibt es aus Ihrer Sicht, eine sol-
che Veränderung der Veranlagungspraxis vorzunehmen?
G
Das Prinzip ist schon et-
was älter. Bei der Überprüfungspraxis ist, wie Sie wissen,
ein Wechsel von den Krankenversicherungen hin zu den
Rentenversicherungsträgern als den entsprechenden Stel-
len vollzogen worden.
Ich vermute – gefestigte Erkenntnisse habe ich darüber
nicht –, dass die Rentenversicherungsträger in einer an-
deren Art und Weise darauf achten, dass ihnen und ande-
ren zustehende Beiträge erhoben werden. Wenn der Tat-
bestand so ist, dass bei allgemein verbindlich erklärten
Tarifverträgen bestimmte Zahlungen erfolgen könnten,
aber tatsächlich nicht erfolgen, dann wird das Entste-
hungsprinzip zugrunde gelegt, um dafür die entsprechen-
den Beitragszahlungen erheben und eintreiben zu können.
Das ist zumindest für mich der wesentliche Grund.
Bei der anderen Frage habe ich bereits deutlich ge-
macht, dass in diesem Zusammenhang eine Reihe von Ge-
richtsverfahren laufen. Das Sozialgericht Gelsenkirchen
hat sich zu der Prinzipienfrage in keiner Weise negativ
geäußert. Im Gegenteil: Es hält es für richtig. Ich finde,
wir müssen uns ein Stück weit anschauen, wie sich die
Rechtsprechung in diesem Zusammenhang entwickelt.
Eine wei-
tere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wir
haben die Parallelität der Bemessungsgrundlagen bei
der steuerlichen Veranlagung und der Erhebung der Sozi-
alversicherungsbeiträge. Das eine wird nach dem Zufluss-
prinzip, das andere nach dem Entstehungsprinzip gehand-
habt. Sie haben gesagt: Eine Vereinheitlichung wäre
wünschenswert. Kann man definitiv ausschließen, dass
die Bundesregierung eine Vereinheitlichung derart plant,
dass zukünftig auch für steuerliche Zwecke das Entste-
hungsprinzip gelten soll?
G
Da Sie wissen, dass hier
ganz unterschiedliche Ressorts zu beteiligen sind, werde
ich mich hüten, hierzu eine verbindliche Aussage zu tref-
fen. Gegenwärtig kann ich das gar nicht. Ob man das ver-
einheitlicht, muss man sehen. Ich bitte um Verständnis:
Ich glaube nicht, dass dies, ähnlich wie andere Fragen,
noch in dieser Legislaturperiode entschieden wird.
Die letzte
Zusatzfrage.
Aber, Herr Staatssekre-tär, Sie würden nicht gänzlich ausschließen – das fällt inIhre unmittelbare Ressortverantwortung –, dass es bei denSozialversicherungsbeiträgen wieder eine Abkehr vomEntstehungsprinzip geben und zukünftig eine Veranla-gung zur Sozialversicherung nach dem Zuflussprinzipstattfinden wird?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretär Gerd Andres21838
G
Ich habe schon deutlich
gemacht, dass wir uns die weitere Entwicklung der Recht-
sprechung sehr genau anschauen. Gegenwärtig laufen
eine ganze Anzahl von Verfahren. Daraus muss man die
entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Ich möchte
es nicht ausschließen.
Die Zeit
für die Fragestunde ist abgelaufen. Die nicht aufgerufenen
Fragen werden wie immer schriftlich beantwortet.
Gemäß I 1 b der Richtlinien für Aussprachen zu The-
men von allgemeinem aktuellen Interesse hat die
CDU/CSU-Fraktion im Zusammenhang mit den Antwor-
ten der Bundesregierung auf die dringliche Frage 1 eine
Aktuelle Stunde beantragt. Diese ist, wie Sie wissen, un-
mittelbar nach der Fragestunde durchzuführen.
Ich rufe daher auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zum Vorschlag
des Bundesarbeitsministers, 1,2 Millionen Ar-
beitslose aus der Arbeitslosenstatistik heraus-
zurechnen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Begründung
hat der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Man kann nur sagen: Auf fri-scher Tat ertappt!
Der Arbeitsminister wirkt mit seinem peinlichen Rück-zieher – er muss seine Pläne wieder in der Schublade ver-stecken – wie ein Dieb auf leisen Sohlen.
Die ursprünglich geplante Herausnahme von 1,2 Milli-onen Arbeitslosen aus der Statistik ist ein dreister Ver-such, vom eigenen arbeitsmarktpolitischen Versagen ab-zulenken.
Die Zielmarke von 3,5 Millionen Arbeitslosen wird weitverfehlt.
Seit 15 Monaten steigt die Arbeitslosigkeit in unseremLand saisonbereinigt an. Nach der übereinstimmendenMeinung der Experten werden wir in diesem Jahr einenSchnitt von mehr als 4 Millionen Arbeitslosen haben. IhrePläne zur Änderung der Arbeitslosenstatistik machen ein-mal mehr deutlich: Tricksereien und Täuschungsmanöversind hervorstechende Merkmale der Amtszeit von WalterRiester.
Ich nenne zwei Beispiele: Erstens. Die 630-Mark-Jobswurden in der Beschäftigungsstatistik berücksichtigt. Derangebliche massive Beschäftigungszuwachs erweist sichbei Lichte betrachtet in der Substanz als statistischer Ta-schenspielertrick.Zweitens nenne ich die Rentenreform.
Durch Ihre Neudefinition des Rentenniveaus wird das imRentenbericht der Bundesregierung ausgewiesene Ren-tenniveau im Jahre 2015 trotz der von der Koalition ein-gestandenen deutlichen Leistungskürzungen nach der Re-form höher sein als vorher. Auch hier haben Siemanipuliert, dass die Heide wackelt.
Der jüngste Sündenfall ist der aktuelle Versuch zur Ma-nipulation der Arbeitslosenstatistik.
Der Unterschied zu den Erkenntnissen bei der Arbeitsver-mittlung liegt klar auf der Hand. Vor einigen Wochen hates erste Erkenntnisse über die Fehler und Mängel in derVermittlungsstatistik gegeben. Die Struktur der Arbeitslo-sigkeit und die Motivation der Arbeitslosen sind seit Jah-ren bekannt. Auch die Infas-Studie bringt keine neuen Er-kenntnisse. Wenn Sie hier etwas ändern wollten, dannhätten Sie am Beginn der Wahlperiode Änderungen erwä-gen müssen.
Es ist dreist, die Statistik ein halbes Jahr vor einer Bun-destagswahl um 1,2 Millionen Personen reduzieren zuwollen.
Worum geht es in der Substanz? Es geht darum – daszeigt auch die Infas-Studie –, dass mehr als die Hälfte die-ser 1,2 Millionen Personen wegen ihres Alters kaumChancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Eine ehrli-che Antwort der Bundesregierung wäre es, zu sagen, dasssie diesen keine realistische Chance gibt und dass sie sieaus der Statistik heraus haben will.Bringen Sie im Deutschen Bundestag einen Gesetzent-wurf für ein massives Frühverrentungsprogramm ein!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002 21839
Dann wäre klar, dass 600 000 Menschen über 58 Jahreaus der Arbeitslosenstatistik herausfielen, da sie frühver-rentet würden. Jeder würde Ihnen sagen, dass das absurdist. Das würde die Rentenkassen an die Wand fahren. Alsomachen Sie einen Trick. Sie sagen, dass Sie die Frühver-rentung faktisch durchführen. Die Leute sollen sich zwararbeitslos melden, Sie betrachten sie aber nicht als Ar-beitslose und nehmen sie aus der Statistik heraus. Das istein fatales gesellschaftspolitisches Signal,
weil die Bundesregierung damit deutlich macht, dass siekeine Chancen mehr für die älteren Arbeitnehmer sieht,wieder einen Arbeitsplatz zu finden.
Die Infas-Studie, die vom Arbeitsministerium zur Be-gründung herangezogen wurde, macht im Hinblick aufdie Gruppe von über 600 000 älteren Menschen deutlich– ich zitiere –:Nicht übersehen sollte man aber, dass es auch unterden Personen, die angeben, in Rente zu wechseln,durchaus auch Fälle gibt, die im Grunde gerne nochlänger gearbeitet hätten und dies eventuell auch ausfinanziellen Gründen nötig hätten.Die Studie kommt hier zu folgendem Ergebnis:Hier ist dann wohl eher Resignation in Bezug auf dieeigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt der eigentli-che Auslöser für den Übergang in Rente.
Es ist deutlich, dass diese Menschen einen Arbeitsplatzsuchen. Die Botschaft der Politik kann doch nicht lauten,dass sie nicht mehr glaubt, dass ein über 58-jähriger Ar-beitsloser eine Chance hat und er deswegen aus der Ar-beitslosenstatistik herausgenommen wird.Die Begründung für den beabsichtigten Manipulati-onsversuch war, man brauche eine aussagekräftigere undtransparentere Statistik. Das kann nur zwei Konsequen-zen haben: Entweder Sie gestehen ein, dass Sie den Älte-ren die Chance nicht geben, oder Sie müssten im Gegen-zug die 1,7 Millionen verdeckt Arbeitslosen statistischerfassen, so wie es Professor Rürup vorgestern in derPresse dargestellt hat. Dann wäre die Arbeitslosenzahlnicht bei 4,3 Millionen, sondern bei nahezu 6 Millionen.
Die Abschiebung älterer Arbeitsloser in das statistischeNiemandsland ist eine Bankrotterklärung der rot-grünenBundesregierung. Diese Bundesregierung – nicht die äl-teren Arbeitslosen – gehört aus der Statistik gestrichenund in den Vorruhestand geschickt.
– Der Arbeitsminister ist reif für die Riesterrente.
Für die
Bundesregierung spricht der Parlamentarische Staats-
sekretär Gerd Andres.
G
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierunghat nicht die Absicht, in dieser Legislaturperiode die Ar-beitsmarktstatistik zu ändern.
Die Bundesregierung hat deswegen nicht die Absicht, dieArbeitslosenstatisktik zu ändern, weil sie davon ausgeht,dass sich im Frühjahr die Arbeitsmarktzahlen im Zuge derwirtschaftlichen Besserung positiv verändern werden.
Sie hat nicht die Absicht, diese positive Arbeitsmarktent-wicklung durch die rechte Seite des Hauses oder durcheine öffentliche Diskussion, man habe die Statistik mani-puliert, diffamieren zu lassen.
Ich sage ganz offen: Damit ist der Anlass für diese Ak-tuelle Stunde, die jetzt abgezogen wird, entfallen.
Dass Sie, nachdem wir eine Stunde in der Fragestunde da-rüber diskutiert haben, noch nicht einmal die Größe auf-bringen, das auch zuzugeben, wirft ein bezeichnendesLicht auf Sie.
Herr Storm, ich will Ihnen etwas sagen – ich sage dasganz offen –: Dass Sie sich nicht schämen, hier in dieserArt und Weise aufzutreten! Das nenne ich „auf frischer Tatertappt“. In Ihrer Regierungszeit haben Sie die Statistikzehnmal verändert bzw. manipuliert. Damit das völligklar ist.
Das Thema der von Ihnen beantragten Aktuellen Stundelautet: Haltung der Bundesregierung zum Vorschlag desBundesarbeitsministers, 1,2 Millionen Arbeitslose aus derStatistik herauszurechnen. Damit klar ist: Einen solchenVorschlag, 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Statistik zustreichen, hat es vom Bundesarbeitsminister überhauptnicht gegeben.
Damit ist der Titel Ihrer Aktuellen Stunde schon eine Un-terstellung und Unwahrheit.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Andreas Storm21840
Damit wir wissen, worüber wir reden, Herr Storm: Invielen Zeitungen ist das geflügelte Wort „Ich glaube nurder Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, zu lesen. Fas-sen Sie sich einmal angesichts Ihrer eigenen Formulie-rung an die Nasenspitze; ich empfehle Ihnen das sehr.Schon am letzten Donnerstag ist mir bei der Debatte überden Jahreswirtschaftsbericht aufgefallen, dass der Frakti-onsvorsitzende der Union, Herr Merz, sehr feinsinnigüber die Arbeitsmarktzahlen geredet hat.
Es war interessant, über welche Arbeitsmarktzahlen er ge-sprochen hat.Sie haben das auch wieder gemacht und weil Sie jetztgrinsen, wissen Sie genau, was Sie gemacht haben. Siehaben nämlich von saisonbereinigten Arbeitsmarktzah-len gesprochen. Das drückt etwas ganz Einfaches aus: Je-der benutzt in der politischen Auseinandersetzung das,was er jeweils gebrauchen kann. Das, was dabei unterden Schlitten gerät, widert mich an. Wenn man mit denFachleuten untereinander redet, sind sich viele darübereinig, dass man bestimmte Veränderungen wahrnehmenmüsste, die rechtlichen Grundlagen dem aber entgegen-stehen. Ein ehrlicher Umgang mit den Tatbeständen wirddann dem jeweiligen taktischen und tagespolitischenKalkül geopfert. Da Sie das wissen und sich so verhalten,haben Sie überhaupt keine Berechtigung, hier „Haltetden Dieb!“ oder „Auf frischer Tat ertappt!“ zu rufen. Fas-sen Sie sich an die eigene Nase; damit haben Sie genugzu tun.
Ich habe kein Problem, Herr Storm, mit Ihnen über Ar-beitsmarktzahlen zu reden. Herzlichen Glückwunschkann ich da nur sagen. Wir hatten in diesem Januar – daskann man öffentlich nur wiederholen – 4,29 Millionen re-gistrierte arbeitslose Menschen. Sie hatten im Januar Ih-res letzten Regierungsjahres – nicht saisonbereinigt, son-dern real gezählt und bei den Arbeitsämtern gemeldet –4,82 Millionen arbeitslose Menschen.
– Quaken Sie doch nicht dazwischen! – Im Februar sindIhre Zahlen gesunken. Herr Storm, damit wir hier Tache-les reden: Wissen Sie, warum die Zahlen gesunken sind?Das können Sie nachrechnen. Dazu lege ich Ihnen jedeStatistik auf den Tisch. Weil Sie die Leute ein ganzes Jahrlang in ABM, SAM und in Qualifizierung geschoben ha-ben.
Dass Sie sich nicht schämen, hier so aufzutreten und einesolche Debatte zu führen, halte ich für unglaublich.
Das werden wir auch öffentlich darstellen.
Es ist widerlich, wie hier immer die gleichen Debattenwiederholt werden und wie versucht wird, mit getürktenTatbeständen Politik zu machen.Damit wir über noch etwas ganz klare Kante haben– ich will überhaupt nicht daran vorbeireden; denn ichkann es nicht mehr hören –: In dem Zweistufenkonzeptder Bundesregierung steht – Herr Storm, damit wir uns danicht falsch verstehen –, dass die Vermittlungsstatistikkorrigiert und verändert werden muss. Auch dazu mussman sagen: Die Fachleute, die ernsthaft miteinander dis-kutieren – und nicht so, wie Sie es eben hier windig vor-getragen haben –, wissen ganz genau, dass dies die ersteUntersuchung des Bundesrechnungshofes war. In derZwischenzeit hat die Arbeitsverwaltung 15 Arbeitsämterentsprechend kontrolliert. Wir haben kein Interesse daran,mit irgendwelchen getürkten Statistiken zu arbeiten undmit irgendwelchen falschen Tatsachen umzugehen, son-dern wir brauchen Zahlen über die real durchgeführtenVermittlungen in diesem Land.
Deswegen wird etwas ganz Einfaches passieren – wirsind sehr gelassen und sprechen uns nach dem 22. Sep-tember wieder; ich gratuliere Ihnen schon jetzt herzlich;das Ergebnis kann ich Ihnen heute schon vorhersagen –:
Wir werden das Problem zielstrebig und vernünftig lösen,aber nicht mit dem Unsinn, den Sie hier abziehen, Herrvon Klaeden. In der Fragestunde hatte ich Ihnen als Ant-wort auf Ihre erste Frage schon gesagt: Schenken Sie sichIhre Aktuelle Stunde, das ist nur Wind vor der Hoftür. DieBundesanstalt wird die Vermittlungsstatistik ändern. Wirwerden uns mit der Infas-Untersuchung befassen. Wirwerden die angekündigte Kommission installieren. Daskönnen nicht Sie machen, wir machen das. Die Kommis-sion wird darüber diskutieren und dann werden die not-wendigen Schlussfolgerungen gezogen. Wir haben keinInteresse an Luftbuchungen. Wir haben ein Interesse da-ran, mit den realen Tatbeständen in diesem Lande umzu-gehen.
– Hören Sie auf mit „Flucht nach vorn“.Eines kann ich überhaupt nicht mehr ertragen: Sie ha-ben in Ihrer Regierungszeit den Höchststand an Arbeits-losigkeit erreicht. Die Regierung Kohl war, was dieArbeitsmarktzahlen anging, am Ende. Sie sind binnenkürzester Zeit um 1,5 Millionen gestiegen. Sie haben eineVerfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit zugelassen. Ichkann Ihnen alle Daten links und rechts immer wieder umdie Ohren hauen, und zwar die realen Daten, nicht diegetürkten und die zusammengeklaubten, auch nicht diesaisonbereinigten, Herr Storm. Mit diesen Zahlen werden
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Parl. Staatssekretär Gerd Andres21841
wir uns auseinander setzen und ich sage Ihnen schon jetzt:Zum Schluss wird abgerechnet.
Ich kann nicht mehr ertragen, dass wir uns von denen,die die Karre in den Dreck gefahren haben, öffentlichnoch mit Dreck beschmeißen lassen müssen, während wiruns redlich bemühen, vernünftig und ohne Türkerei, wieSie es gemacht haben, diesen Karren aus dem Dreck wie-der herauszuholen
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich sageIhnen: Wir räumen auch mit den Statistiken auf. Wir ha-ben Interesse an realen Daten und realen Grundlagen undauf diesen Grundlagen machen wir Arbeitsmarktpolitik.Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben.Schönen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres,Sie haben bei Ihrem Zahlenvergleich zwischen den Ja-nuar-Werten 1998 und den Januar-Werten 2002 eine Peti-tesse vergessen: Sie regieren jetzt seit dreieinhalb Jahren.Pro Jahr verlassen aus demographischen Gründen unge-fähr 200 000 Menschen mehr den Arbeitsmarkt, als neuhinzukommen. Sie haben noch nicht einmal die demogra-phische Entwicklung aufgefangen. Die Arbeitslosenzah-len sind gestiegen.
Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass dieseAktuelle Stunde zwingend notwendig ist, obwohl derKanzler den Arbeitsminister zurückgepfiffen hat. Denn esmuss deutlich gesagt werden: Armer ArbeitsministerRiester! Ich meine das ganz ernst, Herr Riester. Sie müs-sen ein außerordentlich einsamer Mensch sein: keineRückendeckung mehr im Kabinett und in der Fraktion.Sie haben noch am Montag im „Grünen Salon“ geses-sen – ich habe es mir kurz angesehen – und mit großememotionalen Engagement die Änderung der Statistik ver-treten, weil Sie, wie ich glaube, auch fest davon überzeugtsind. Der Kanzler hat die Problematik erkannt, die in derzeitlichen Nähe zur Bundestagswahl liegt, und hat Siezurückgepfiffen. Der Kanzler hat auch bei der Bundes-anstalt die Problematik erkannt und Ihnen Aussagen auf-geschrieben, die Sie in der Pressekonferenz verkündethaben.
Es waren gute Sachen, viele davon von uns übernommen.Lernen durch Leiden, kann ich dazu nur sagen. Es ist einParadebeispiel für pathologisches Lernen.Mittlerweile merken wir schon, dass einiges von dem,was Sie dort verkünden durften, von der Fraktion wiederzurückgenommen wird. Sie rudert schon ganz kräftigzurück, was die Fragen der Zulassung privater Vermittlerund der erfolgsabhängigen Entlohnung in der staatlichenArbeitsvermittlung anbetrifft. Sie haben von daher keinenRückhalt in der Regierung und in der Fraktion. ArmerArbeitsminister!
Ungefähr in einer Woche liegen die nächsten Arbeits-marktzahlen vor. Aber schon jetzt steht fest, dass wir beider Chefsache Ost den Höchststand der Arbeitslosigkeitin Ostdeutschland erreicht haben. Als Sie die Regierungübernommen haben, befanden sich 30 Prozent der Ar-beitslosen in Ostdeutschland. Jetzt sind es 35 Prozent.Chefsache Ost! 1,3 Millionen Menschen in Ostdeutsch-land sind arbeitslos,
aber Sie machen den Vorschlag, die Statistik zu ändern– über den durchaus diskutiert werden kann –, unmittel-bar vor dem Erscheinen der nächsten Arbeitsmarktzahlen.Herr Riester, das ist ein reines Ablenkungsmanöver. Siewollen damit von diesen Zahlen ablenken.Wenn Sie der Ansicht sind, dass die Menschen, dienicht mehr vermittelt werden wollen oder können, aus derStatistik herausgenommen werden müssen, dann müssenSie andere Wege gehen. Nehmen wir das Beispiel Kin-dergeld und Arbeitslose. Das Bundeskindergeldgesetzsieht vor, dass Eltern weiterhin Kindergeld beziehen,wenn ihr Kind über 18 Jahre alt ist und sich arbeitslos ge-meldet hat. Wenn Sie der Ansicht sind, dass diese Perso-nen aus der Statistik herausfallen sollten, dann müssenSie das Bundeskindergeldgesetz ändern und festlegen,dass unabhängig davon, ob sich jemand in Ausbildung,Arbeitslosigkeit oder im Wehrdienst befindet, bis zum27. Lebensjahr Kindergeld gewährt wird. Dann fallendiese Personen aus der Statistik heraus.Die gleiche Frage stellt sich bei den Älteren. Sie habenes im Mai vergangenen Jahres – also vor acht Monaten –schon einmal versucht. Damals stiegen die Arbeitslosen-zahlen gerade im vierten Monat saisonbereinigt und dieErwerbslosenquote stagnierte. Damals stand zur Diskus-sion, bei den 58-Jährigen und Älteren Änderungen vorzu-nehmen. Bisher ist es so, dass ältere Menschen unter er-leichterten Bedingungen Leistungen in Anspruch nehmenkönnen, wenn sie aktiv erklären, dass sie nicht mehr ar-beiten und zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Rente ge-hen möchten. Diese Personen werden derzeit nicht in dieStatistik einbezogen. Damals wurde von der Regierunggeplant, das zu ändern, sodass alle 58-Jährigen und Älte-ren unter diese Sonderregelung fallen, es sei denn, sie er-
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Parl. Staatssekretär Gerd Andres21842
klärten aktiv, dass sie noch arbeiten möchten. Der Menschist in aller Regel ein träges Wesen. Von daher würden weitweniger eine aktive Erklärung zur Arbeitswilligkeit ab-geben und die Statistik würde deutlich nach unten gehen.
Sie haben vorgeschlagen, mehr Ehrlichkeit in die Sta-tistik zu bringen.
Ich meine, das ist gut und richtig. Zur Ehrlichkeit gehört,dass man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ABMund in SAM einbezieht, die sich ganz bewusst nur in ei-ner Zwischenbeschäftigung befinden, um die Chance zumWiedereintritt in den ersten Arbeitsmarkt zu gewinnen,und jederzeit – auch während der Maßnahme – zur Auf-nahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gung angehalten sind,
und dass es ganz bewusst auch weiterhin Vermittlungs-beratung – auch während der Maßnahmedauer – gebensoll. Von daher gehört zur Ehrlichkeit natürlich auch, dassSie all diejenigen einbeziehen, die wirklich nach Arbeitsuchen.
Dann kann man über Änderungen der Statistik reden. Obvor oder nach der Wahl, ist nicht das Entscheidende.Aber wenn es um Ehrlichkeit geht, dann auf beidenSeiten des Arbeitsmarktes. Machen Sie es nicht so wie inder Vergangenheit, als Sie sich bemüht haben, die Zahlder Erwerbstätigen in der Statistik zu erhöhen. Damalssind die geringfügig Beschäftigten einbezogen worden– 0,4 Prozentpunkte der Arbeitslosenquote –, die Schein-selbstständigen und 400 000 plötzlich sozialversiche-rungspflichtige Prostituierte. So werden Sie die Problemeam Arbeitsmarkt nicht lösen.
Sie müssen Ihre Gesetzgebung ändern, die von Anfangan in die falsche Richtung lief. Wir brauchen mehr Frei-raum am Arbeitsmarkt, weniger Reglementierung undmehr liberale Politik. Übernehmen Sie noch mehr von unsund warten Sie nicht, bis der Kanzler es Ihnen aufschreibt.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LieberKollege Storm, Ihre Rede war wirklich ein echtes Storm-tief.
Diese Aktuelle Stunde ist schlichtweg Schnee von ges-tern. Ich habe richtiggehend Mitleid mit der Opposition,dass ihr heute erneut ein vermeintliches Wahlkampfthemawie eine Seifenblase zerplatzt ist. Nichts ist so alt wie dieMeldung von gestern.Sie haben heute Morgen und eben schon wieder zurKenntnis nehmen müssen, dass der Staatssekretär mehr-fach – ich glaube, zehnmal –
ganz deutlich gesagt hat, dass es in dieser Legislatur-periode keine Änderung der Statistik geben werde.
Das hätten Sie durchaus schon einmal wahrnehmenkönnen.Sie wissen auch, warum es eine solche Änderung nichtgeben wird. Eines ist doch völlig klar: Wir lassen uns voneiner Opposition, die im Wahljahr 1998 durch das Herauf-fahren von „Wahlkampf-ABM“ unter Einsatz von 5 Mil-liarden DM die Statistik gefälscht hat, in diesem Wahljahrnicht in die Situation bringen, über Schönfärberei disku-tieren zu müssen.
Wir müssen natürlich über eine Veränderung der Sta-tistik reden, weil Statistiken transparent sein und eineAussagekraft haben müssen. Das gilt gerade für die Ar-beitsmarktpolitik. Ich bekomme aber schon Tränen in dieAugen, wenn ich Herrn Niebel über Ehrlichkeit redenhöre und er gleichzeitig verlangt, wir sollten ABM-Kräfteals Arbeitslose mitzählen, obwohl er sehr genau weiß,dass ABM-Kräfte dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügungstehen.
Ich bekomme deshalb Tränen in die Augen, Herr Niebel,weil Ihre Partei das Herauffahren von ABM in der Ver-gangenheit dazu benutzt hat, die Arbeitslosenzahlen zuschönen.
Wir sollten in Ruhe darüber reden, wie die Statistikentransparent und einleuchtend gemacht werden können. ImMoment gibt es einen Basar der Möglichkeiten. Sie habendie Aufnahme von ABM-Kräften vorgeschlagen und den
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Dirk Niebel21843
Vorschlag von Herrn Rürup zitiert, der die stille Reservein die Arbeitslosenstatistik aufgenommen sehen möchte.Ich frage mich, wie das funktionieren soll. Ich habe vorHerrn Rürup große Hochachtung, aber an dieser Stellefrage ich mich, wie etwas, was nicht offen bekannt ist, ineiner Statistik mitgezählt werden kann. Darüber kann mansicherlich noch einmal reden. Ich halte aber einen solchenBasar der Möglichkeiten für absolut ungeeignet, um einevernünftige Debatte über Statistik zu führen.Wenn wir über Veränderungen reden, müssen wir unsan der internationalen Vergleichbarkeit der Daten orien-tieren. Mein Beitrag zu dieser Debatte ist die Aufforde-rung, dass wir in der nächsten Legislaturperiode eine Sta-tistik erarbeiten, die mit denen unserer europäischenNachbarländer vergleichbar ist, sodass wir in Konkurrenzzu unseren Nachbarn offen und ehrlich über Erfolge vonBeschäftigungspolitik diskutieren können. Wir brauchenklare Kriterien; eines davon ist die internationale Ver-gleichbarkeit.Natürlich müssen sich die Bundesanstalt für Arbeit unddie Kommission, die jetzt eingesetzt worden ist, darüberGedanken machen, welche Differenzierungen vorgenom-men werden müssen, was also ausgewiesen werden mussund was nicht, damit die Vermittlungstätigkeit bei derBundesanstalt für Arbeit an die vorderste Stelle rückenkann.Für mich ist auch klar, dass wir uns als Koalition wei-ter darum bemühen werden, mit der unsinnigen Frühver-rentungspraxis Schluss zu machen, die Sie in den 90er-Jahren auf den Weg gebracht haben. Wir haben bereits mitdem Job-Aqtiv-Gesetz einen Paradigmenwechsel vorbe-reitet, der dazu führt, dass ältere Arbeitslose über Qualifi-zierung wieder in den Arbeitsmarkt hineinkommen kön-nen.
Wir tun uns mit der Praxis der Frühverrentung schwer,weil Sie in den 90er-Jahren das verschlafen haben, wasunsere Nachbarländer, beispielsweise Dänemark, schongemacht haben. Dort hat man nämlich begriffen, dass eseiner Volkswirtschaft nicht abträglich ist, wenn man Äl-tere, aber auch Frauen in den Arbeitsmarkt integriert – daskann die Erwerbsquote sogar noch erhöhen – und daherauf Frühverrentung verzichtet. Diesen Weg werden wirgehen. Es wird sicherlich noch einige Debatten geben.Diese sollten wir offen und ehrlich führen. Nur, das, wo-rüber Sie in der Aktuellen Stunde reden wollten, ist keinaktuelles Thema.
Das Wort
hat der Kollege Dr. Klaus Grehn von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es geht eigentlich nicht, dass dieRegierung den Spieß umdreht. Ich möchte festhalten: DieUrsache für die heutige Aktuelle Stunde liegt nun wahr-lich nicht bei der Opposition.
Das Thema ist von Ihnen, meine Damen und Herren vonder Regierungsseite, aufgebracht worden. Dazu solltenSie auch stehen.Herr Minister, es ist nicht sehr lange her – es tut mirLeid, dass ich Sie daran erinnern muss –, dass Sie von demRednerpult aus, an dem ich jetzt stehe, im Zusammenhangmit den Wahlkampf-ABM von „täuschen“ und „tricksen“gesprochen haben. Ich hatte dagegen nichts; denn auchich habe diese Wörter benutzt. Aber damals war eines an-ders als heute: Die Menschen sind durch die Wahlkampf-ABM – keine Frage, dass es um Täuschen und Tricksenging – zeitweise in Arbeit gekommen. Auch Ihre heutigeAussage, dass Sie die Arbeitslosenstatistik aussagekräfti-ger machen wollen, indem Sie 1,2 Millionen Arbeitsloseanderweitig erfassen lassen wollen, erinnert sehr an Täu-schen und Tricksen.
Damit werden diese 1,2 Millionen Arbeitslosen nicht inArbeit kommen.
Ich muss Ihnen sagen: Die Grundprobleme in diesemLand werden so nicht angegangen.
– Sie können mir nicht weismachen, dass sich alle, die daskritisieren, etwas aus den Fingern gesaugt haben. Dazu istschon manche Äußerung gefallen.
– Ja, sicherlich falle ich darauf herein.Sie müssen mir erst einmal erklären, was Sie damit er-reichen wollen, dass diejenigen, die angeblich nicht ernst-haft nach Arbeit suchen oder die nicht arbeiten wollen, an-ders erfasst werden sollen. Wer bestimmt eigentlich, wernicht mehr ernsthaft nach Arbeit sucht oder nicht mehr ar-beiten will? Der Staatssekretär hat als Beispiel für dieje-nigen, die nicht mehr arbeiten wollen, Frauen angeführt,die sich nur wegen des Kindergeldes arbeitslos meldeten.Dazu kann ich nur sagen: Wegen Kindergeld muss mansich nicht beim Arbeitsamt arbeitslos melden. Das be-kommt man auch so.
Ich halte es für sehr problematisch, dass unter den20 Prozent derjenigen, die nach Ihrer Definition aus derArbeitslosenstatistik herausfallen sollen – das belegen dieZahlen von Infas, die Sie angeführt haben –, 15 Prozent
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Dr. Thea Dückert21844
Ältere sind. Nach der Wende sind bereits 900 000 Arbeit-nehmer und Arbeitnehmerinnen in den vorzeitigen Ruhe-stand gejagt worden. Sie wissen, was mit den 57-Jährigenpasssiert, die erklären, dass sie zum frühstmöglichenZeitpunkt in Rente gehen, und damit aus der Statistik he-rausfallen. Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für diesesLand, wenn Menschen dieses Alters sagen müssen: Ichnehme dies an, weil ich weiß, dass ich keine Arbeit mehrbekomme, damit ich nicht in ein finanzielles Loch falle.Genau das ist das Problem. Aber Sie behaupten, dass dieseMenschen eigentlich gar nicht mehr arbeiten wollten. Siewissen es doch besser: Diese Menschen haben auf demArbeitsmarkt gar keine Chance mehr.Ich möchte auch auf das eingehen, was Sie in der Fra-gestunde gesagt haben. Ist es wirklich so, dass diejenigen,die sich nach fünf oder sieben Jahren Arbeitslosigkeit,nachdem sie also gemerkt haben, dass die Gesellschaft sienicht mehr will, dass sie nicht mehr auf dem Arbeitsmarktunterkommen, die eine Nische zum Überleben suchenund die physisch und psychisch kaputt sind, nicht mehrarbeiten wollen? Schaffen Sie die Voraussetzungen– darin unterstützen wir Sie – für neue Arbeitsplätze! Siemüssen Arbeitsplätze in der Realität schaffen. Das errei-chen Sie nicht durch statistische Veränderungen.
Wenn Sie das tun, dann haben Sie uns immer an IhrerSeite.
– Kollege Gilges, ich merke, Sie sind wieder wach ge-worden.
Sie können nicht einfach Vorschläge aus irgendwel-chen Gründen ablehnen, ohne sie vorher ernsthaft geprüftzu haben. Ich darf darauf hinweisen, dass Sie mit den vonIhnen jetzt verkündeten Vorstellungen den Eindruck er-wecken – ob Sie das wollen oder nicht –, dass ein be-deutender Teil des Umfangs der Arbeitslosigkeit im sub-jektiven Verhalten begründet ist.
– Diesen Eindruck erwecken Sie, wenn Sie sagen, dass1,2 Millionen Menschen an neuer Arbeit nicht interessiertsind. Was sagen die Bürgerinnen und Bürger dazu?
– Sie sollten sich das ruhig anhören. Sie können etwas ler-nen. Sie sollten in die Praxis gehen und sich anschauen,was dort los ist.Wir brauchen keine Statistiken, sondern wir müssenArbeitsplätze schaffen. Machen Sie dazu Vorschläge undgehen Sie damit an die Öffentlichkeit. Wenn Sie das tun,dann haben Sie uns und die Bürger auf Ihrer Seite. Fan-gen Sie nicht an, an der Statistik „herumzudoktern“! An-sonsten stehen Sie vor dem Problem, das Sie bereits beider Vermittlung haben, dass nämlich niemand mehr weiß,wie die Realität aussieht.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Doris Barnett das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde bewegt viel-leicht viel Luft, hilft den Arbeitslosen aber nicht. Ihre Re-demanuskripte sind etwas veraltet; denn Sie befassen sichnicht mit der Realität.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass es bei Ihneneine klammheimliche Freude gab, als der Bundesrech-nungshof seine Zahlen zur Arbeitsvermittlungsstatistikveröffentlicht hat. Sie meinten, dem Bundesarbeitsminis-ter etwas „unter die Weste jubeln“ und ihn angreifen zukönnen.Wir gehen daran – allerdings erst nach der Bundes-tagswahl –, sämtliche Statistiken im Sinne des Bundes-rechnungshofes zu bereinigen, sie aussagekräftig zu ma-chen und sie so zu gestalten, dass man darausHandlungsanweisungen ableiten kann. Auch dagegen ha-ben Sie nun etwas. Sie wehren sich und sprechen von Ma-nipulation. Soll ich Ihnen einmal die Liste Ihrer „Statis-tikanpassungen“ von 1986 bis 1998 zeigen? MeineRedezeit reicht nicht aus, um alle vorzulesen.Herr Grehn, Sie sprachen die Definition an, nach derdie Anzahl der Arbeitslosen nicht genauer eingeschränktwerden kann. Angesichts dessen muss ich mich an denKopf fassen und fragen: Was veranlasst die anderen Län-der, andere Definitionen, insbesondere international ver-gleichbare, aufzustellen? Ich frage mich: Ist eine Statistik,die die tatsächlichen Gegebenheiten abbildet, eine Mani-pulation oder ist nicht vielmehr eine Statistik, die ungenauist, die viele Fälle erfasst, die eigentlich gar nicht hinein-gehören, ein falsches Abbild, das zu falschen Schlussfol-gerungen führt?Herr Storm, Sie haben über die verdeckte Arbeitslosig-keit gesprochen. Woher kommen 1,2 Millionen Arbeits-lose plötzlich? Sie wollen sie ebenfalls dem MinisterRiester „unter die Weste jubeln“. Sie tun so, als hätten Sievorher nie regiert, als hätte es in den 16 Jahren Ihrer Re-gierungszeit keine, wie Sie sagen, „verdeckten Arbeitslo-sen“ gegeben. Hören Sie damit doch auf! Was Sie hier ma-chen, ist doch alles nur Wahlkampfgeplänkel!
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Dr. Klaus Grehn21845
Wir haben jetzt die einmalige Chance, die vorhandenenStatistiken zu entrümpeln, sie aussagekräftig und interna-tional vergleichbar zu machen. Wenn wir von nun an eineeffizientere Vermittlung anstreben, mehr Qualität undKundenorientierung bei der Arbeitsverwaltung an denTag legen wollen und müssen, dann müssen wir auch dienotwendigen Grundlagen schaffen. Diese Grundlagenbieten die bisherigen Statistiken, wie das Ergebnis desBundesrechnungshofes zeigt, leider nicht.Herr Niebel, deshalb lohnt sich vielleicht ein Blick aufdas Institut der deutschen Wirtschaft; denn auch dortbemängelt man, dass es auf der einen Seite eine großeZahl von offenen Stellen gibt, dass es auf der anderenSeite aber trotz vieler Arbeitsloser zu keiner Vermittlungkommt. Als Grund ortet das IW einen Anteil von Arbeits-losen, die aus unterschiedlichen Gründen für eine Ar-beitsvermittlung faktisch nicht zur Verfügung stehen.Deshalb fordert das IW auch eine andere Zählweise, eineandere Statistik. Also: Warum verschließen Sie sich jetztund reden von Manipulation? Ausgerechnet Sie!
Wenn die Arbeitsämter offene Stellen besetzen sollen,dann brauchen sie auch Arbeitshilfen, die ihnen das er-möglichen. Was nützen ihnen Listen und Statistiken, dienur scheinbar verfügbare Arbeitskräfte aufzeigen?Die international standardisierte Arbeitslosenstatistikdefiniert Verfügbarkeit so: Ein Arbeitsloser ist verfügbar,wenn er innerhalb von zwei Wochen eine Arbeit aufneh-men kann. Nach dieser Lesart hätte es – das müsste ei-gentlich die CDU freuen – laut Mikrozensus 1997 inDeutschland 585 000 Arbeitslose, also 13 Prozent der Er-werbslosen, gegeben, die nicht in der Lage waren, diesesVerfügbarkeitskriterium einzuhalten. Damit hätten SieIhre Zahlen verbessern können. Hätten Sie das damals nurgewusst!Sie können doch niemanden glauben machen, dass Ih-nen an nationalen Statistiken liegt, die im internationalenVergleich keinen oder nur geringen Aussagewert haben.Ihnen geht es um Krawall, um Aufsehen und Spiegel-gefechte.
Seien Sie doch ehrlich: Bei Ihnen ist jetzt Wahlkampf an-gesagt, nicht Sachpolitik, und schon gar nicht sind die Ar-beitslosen angesagt; sonst hätten Sie in den letzten drei-einhalb Jahren den Standort Deutschland nicht ständigheruntergeredet.
Jetzt haben wir die einmalige Gelegenheit aufzuräu-men – in den letzten dreieinhalb Jahren haben wir nichtsanderes getan, als das aufzuräumen und das wieder zurichten, was Sie an die Wand gefahren und vernachlässigthaben –,
jetzt haben wir die Gelegenheit, die Bundesanstalt fürArbeit neu auszurichten und auch mit dem gesamtenZahlenwerk klar Schiff zu machen, so wie es der Bundes-rechnungshof fordert. Eigentlich müssten alle Arbeits-marktpolitiker darüber froh sein und mitmachen; stattdes-sen gehen Sie nur auf Wahlkampf und auf Stimmenfangaus. Aber es wird Ihnen nicht gelingen, weil wir die drin-gende Reform der Arbeitsmarktstatistik erst nach derBundestagswahl in Angriff nehmen.
Walter Riester hat Ihnen also schon wieder ein Spiel-zeug aus der Hand geschlagen. Ich glaube schon, dass Siedas ärgert, aber damit müssen Sie leben. Uns geht es da-rum, den arbeitslosen Menschen zu helfen; Ihnen geht esnur um Wahlkampf. Aber Sie werden sehen: Es nützt Ih-nen nichts. Auch nach dem 22. September werden Sie aufder Oppositionsbank sitzen. Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat der Kollege Hans-Peter Friedrich vonder CDU/CSU-Fraktion das Wort.Dr. Hans-Peter Friedrich [CDU/CSU]: HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! HerrAndres, nachdem Sie sich an diesem Rednerpult so auf-geführt haben, muss ich sagen: Bravo, Kollege Storm!Die Rede hat gesessen!
Sie haben hier wirklich als ein ertappter Sünder gestan-den.
Sie haben uns vorgeworfen, wir würden falsche Zahlenverwenden. Ich möchte Sie gern einmal darauf hinweisen,lieber Herr Staatssekretär, dass es im Januar 1999, im Ja-nuar nach dem letzten Jahr der Regierung Kohl, 4,45 Mil-lionen Arbeitslose in Deutschland gegeben hat. Wenn mandavon die 650 000 abzieht,
die in den letzten drei Jahren aus demographischen Grün-den aus der Statistik verschwunden sind, dann kommtman auf 3,8 Millionen. In Wirklichkeit sind es jetzt aber4,3 Millionen. Das zeigt das Versagen Ihrer Regierung inder Arbeitsmarktpolitik!
Ich darf Sie an der Stelle daran erinnern, dass die SPD imWahlkampf 1998 noch wahnsinnig Angst gekriegt hat, weilplötzlich die Konjunktur und vor allem die Arbeitsmarkt-politik hervorragend gelaufen sind. Dann hat Herr Schröderplakatieren lassen: Das ist mein Aufschwung.– KönnenSie sich noch daran erinnern? Wir können uns noch daranerinnern. Jetzt wollen Sie diesen Aufschwung leugnen.
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Doris Barnett21846
Jetzt komme ich zu dem, was Sie, Herr Andres, heutein der Fragestunde und in Ihrer Rede vorhin 13-mal – wirhaben mitgezählt – gesagt haben:
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, in dieser Le-gislaturperiode die Statistik zu verändern. – Korrekt wäreg
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung hat nicht mehr die Absicht, dieStatistik zu verändern.
Sie sind nämlich als ertappter Sünder von der deutschenÖffentlichkeit, von der Presse und von der Opposition inIhre Schranken gewiesen worden. Das ist die Wahrheit!
Herr Staatssekretär, ich zitiere jetzt Agenturmeldungenvom 23. Februar: „Wir werden die Statistik ergänzen umdiejenigen, die nachweisbar keine Vermittlung wollen“,sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Arbeits-ministerium Andres. Die Regierung wolle die Statistikaussagekräftiger machen und dieses Projekt noch inner-halb der nächsten drei Monate anpacken. – Erwischt! DerVersuch, die Statistik zu fälschen und zu manipulieren, istgescheitert.
– Das Thema, liebe Frau Dückert, ist und bleibt trotzdemaktuell, weil nicht nur im Strafrecht, sondern auch in derPolitik schon der Versuch strafbar ist.Meine Damen und Herren, wenn Sie sich den Sinn ei-ner Arbeitsmarkt- oder Arbeitslosenstatistik anschauen,dann können Sie durchaus verschiedene Erklärungsversu-che finden. Die eine Möglichkeit ist, dass man mit einersolchen Statistik die Quantität eines Problems erfassenwill. Wenn das der Sinn ist, dann ist das richtig, was dieKollegen schon gesagt haben: Dann müssen auch die1,7 Millionen verdeckt Arbeitslosen, die ebenfalls einenArbeitsplatz suchen, mit in die Statistik aufgenommenwerden.
Sie haben gesagt, dass Sie das nicht wollen. Also sehenSie den Sinn einer solchen Statistik darin wohl nicht.
Die andere Möglichkeit ist, dass man mit einer solchenStatistik Trends und Tendenzen feststellen will. Durch dieFälschung der Statistik, die Sie vorhatten,
haben Sie versucht, genau das unmöglich zu machen; dieVergleichbarkeit der Statistiken über die Jahre wäre nichtmehr gegeben gewesen.In diesem Zusammenhang, lieber Herr Minister, habenSie das dümmste Argument angeführt, das es gibt, indemSie gesagt haben, die Vermittler in den Arbeitsämternmüssten aus der Statistik ja wissen, wie viele Leute über-haupt nicht arbeitswillig sind. Lieber Herr Minister, wenndie Arbeitsvermittler vor Ort, die jeden Tag mit den Leu-ten zu tun haben, nicht wissen, wer arbeitswillig ist undwer nicht, woher sollen es dann die Beamten des Statisti-schen Bundesamtes wissen? Das ist eine merkwürdigeArgumentation.
Damit komme ich zum Kern der eigentlichen Proble-matik. Das eigentliche Problem besteht darin, dass ausdieser Statistik die politische Dimension des Problems Ar-beitslosigkeit hervorgeht. Bereits Ihre Absicht, Ihr ge-scheiterter Versuch, die Statistik zu fälschen, um das Pro-blem der Arbeitslosigkeit klein zu reden und zuverharmlosen, ist ein Schlag in das Gesicht der Menschenin diesem Lande;
denn die Botschaft, die bei ihnen ankommt, ist folgende:Wir können euer Problem leider nicht lösen, deswegen re-den wir das Problem klein und verschleiern unsere Un-fähigkeit.
Das ist ein politischer Offenbarungseid nicht nur des Ar-beitsministers, sondern – mit Verlaub – auch des Bundes-kanzlers. Der Herr Bundeskanzler hat wohl erst gestern sorichtig begriffen, dass dieser Fälschungsversuch, diesesBetrugsmanöver auf ihn zurückfällt. Deswegen hat er ges-tern den Befehl zum Rückzug gegeben.
Das Schlimmste an der ganzen Geschichte aber ist Ihremangelnde Selbstkritik. Sie versuchen, die Themen zuverdrängen. Deswegen sage ich Ihnen: Sie müssen, wennSie das Problem der Arbeitslosigkeit lösen wollen, end-lich die rot-grünen Arbeitsplatzbremsen in Deutschlandbeseitigen. Ich fordere Sie auf: Packen Sie es endlich an,sonst können Sie nämlich bald einpacken.Vielen Dank.
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Bei einigen Re-debeiträgen kam mir das Sprichwort in den Sinn, das wirim Ruhrgebiet verwenden: Haltet den Dieb, er hat meinMesser im Rücken! – Die Verursacher bestimmter Vor-gänge reklamieren hier und heute auf einmal Dinge, diesie selbst hätten regeln können; denn was in der Bundes-anstalt für Arbeit gelaufen ist, ist ja nicht erst seit den letz-ten Wochen oder Monaten so gelaufen. Das ist währendIhrer Regierungszeit so gelaufen und Sie haben es nichtgemerkt, halten uns diese Vorgänge aber heute vor.Der Kollege Niebel von der FDP hat hier in Bezug aufdie Zahlen mehr Ehrlichkeit angemahnt, obwohl er selbstüber die Presse transportiert hat, dass er die Methoden derBundesanstalt für Arbeit in Bezug auf die Arbeitslosen-statistik selbst mit beeinflusst hat, und zwar so, dass sieheute kritikwürdig sind.
Angesichts dessen muss ich sagen: Da wird der Täter aufeinmal zum Richter. Herr Niebel, statt hier von Arbeitslo-senstatistikfälschern zu sprechen und Ehrlichkeit zu re-klamieren, sollten Sie sich einmal darauf besinnen, wieSie damals gehandelt haben, als Sie damals dort waren.Sie hätten eigentlich verantwortungsbewusst handelnkönnen, indem Sie Ihre Vorgesetzten darüber informierthätten, wie es um diese Statistiken tatsächlich bestellt ist.Stattdessen stellen Sie sich hierhin, klagen das an und ma-chen uns noch Vorwürfe, wenn wir erklären, dass wir Sta-tistiken transparenter machen und differenzierter ausge-stalten wollen!
Worum geht es hier eigentlich? Die Prüfung des Bun-desrechnungshofes zur Ermittlung der tatsächlichen Ver-mittlung von Arbeitslosen durch die Arbeitsämter, HerrNiebel, hat gezeigt, wie notwendig es ist, sich Gedankenüber die tatsächliche – ich betone: tatsächliche – Zahl derArbeitssuchenden zu machen. Es geht nicht darum, Men-schen aus der Statistik herausfallen zu lassen; das wissenSie.
Vielmehr geht es darum, aussagekräftige und verwertbareDaten zu bekommen, um nachvollziehen zu können, werarbeitssuchend ist und dem Arbeitsmarkt zur Verfügungsteht und wer arbeitslos gemeldet ist, dem Arbeitsmarktaber nicht oder nicht mehr zur Verfügung steht.
– Nein. Ergebnis muss also das sein, was wir im Job-Aqtiv-Gesetz festgeschrieben haben, nämlich eine effizi-entere Vermittlung zu bekommen und damit die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeitoder der Arbeitsämter stärker auf die Menschen zu kon-zentrieren, die dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfü-gung stehen.Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Ich kommenun aus – –
– Herr Grehn, dort, wo Sie vor ungefähr 15 Jahren Statis-tiken aufgestellt hatten, waren die Jungen und Mädel nichtin Arbeit, sondern in staatlich finanzierten Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen. Die Statistiken, die Sie noch inErinnerung haben, sollten Sie vielleicht auch noch ein we-nig durchforsten.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Im Ruhrgebietschließt in einer Stadt eine Zeche, 4 000 Menschen wer-den arbeitslos. Im Allgemeinen sind davon 25 Prozentälter als 50 Jahre. Diese 25 Prozent, also rund 1 000 Men-schen, haben gemäß Montananpassung das Recht, in denVorruhestand zu gehen. Sie stehen damit dem Arbeits-markt nicht mehr zur Verfügung. Sie können dem Arbeits-amt signalisieren: Nein, wir wollen nicht vermittelt wer-den. Sie bekommen aber Leistungen vom Arbeitsamt.Jetzt frage ich: Sollen sich die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter des Arbeitsamtes auch um diese 1 000 kümmern?Ist es nicht zweckmäßig, sich um die anderen zu küm-mern, die tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügungstehen?
– Nein, denen will gar keiner das Geld streichen. Eskommt darauf an, die Statistik transparenter zu machen.
– Ich muss Ihnen nur ins Gesicht schauen, Herr Niebel,dann weiß ich, wie ich Ihre Frage zu bewerten habe. Sienehmen Ihre Fragen selbst nicht ernst. Von daher ist eseigentlich auch dumm, überhaupt auf Ihre Fragen einzu-gehen.
Es wird also, um dies festzuhalten, keine Veränderungin der Summe der Arbeitslosenzahlen geben, vielmehrwerden die Arbeitslosen genauer unter den Gesichtspunk-ten, weshalb sie arbeitslos sind und ob sie noch vermittel-bar sind, erfasst. Dies wissen Sie. Sie wissen auch, dassdies im Rahmen der Neustrukturierung der Bundesanstaltfür Arbeit notwendig ist.Mit dieser Aktuellen Stunde hier und heute – das hatdie Kollegin gerade schon gesagt – wollen Sie Wahlkampfmachen. Das ist Ihr gutes Recht, aber wir werden Ihnen
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das nicht durchgehen lassen; das werden Sie feststellen.Was wir wollen, werden besonders die Menschen erken-nen, denen Sie hier suggerieren wollen, dass sie von un-serer Maßnahme betroffen seien, und zwar dann, wennzum ersten Mal die unterschiedlichen Zahlenstrukturenauf dem Tisch liegen. Spätestens dann werden die Mit-bürgerinnen und Mitbürger erkennen:
Auch hier – das habe ich Ihnen schon mehrere Male ge-sagt – hat die Opposition nach dem Motto gehandelt: ver-unglimpfen, verunsichern, Panik verbreiten und darausdann noch politisches Kapital schlagen. Die Menschen inunserer Republik sind nicht so dumm, dass sie das nichterkennen. Von daher werden Sie am 22. September dieQuittung bekommen.
Das Wort
hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Nachdem ich die Vertei-
digungsreden der rot-grünen Redner und vor allen Dingen
di
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Getroffene Hunde bellen.
Der Herr Staatssekretär bemüht die Ausrede, auchfrüher habe es Statistikanpassungen gegeben. Das istwahr. Aber noch nie hat es kurz vor einer Bundestagswahleinen so dreisten Versuch gegeben, 1,2 Millionen Ar-beitslose schlichtweg aus der Statistik herauszurechnen.Das ist einmalig.
Wenn Sie sich, Herr Staatssekretär, schon rühmen, dieArbeitslosigkeit habe heute zahlenmäßig noch nicht denHöchststand erreicht, den es unter der Kohl-Regierunggegeben hat, dann hätten Sie ehrlicherweise, wenn Sieschon unbedingt mehr Transparenz herstellen wollen, dieRechnung aufmachen müssen,
die hier schon einmal aufgemacht worden ist, dass näm-lich Sie, die rot-grüne Koalition, auf dem Arbeitsmarktausschließlich von der Tatsache profitieren, dass Monatfür Monat mehr ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer aus Altersgründen in den Ruhestand treten, als dassjunge Leute neu in den Arbeitsmarkt eintreten.
Wenn Herr Andres im Sinne seiner neuen Transparenz dasdazugerechnet hätte, hätte er sagen müssen, dass die Ar-beitslosigkeit heute höher liegt, als sie je unter Kohl ge-wesen ist. Das sind die Fakten!
Nein, meine Damen und Herren, es zeigt sich immerdeutlicher: Das war eine raffiniert eingefädelte Sache. Sievon Rot-Grün haben bewusst an dem Tag, an dem dieneuen Arbeitslosenzahlen verkündet wurden, die Ge-schichte mit der Vermittlungsstatistik der Bundesanstaltfür Arbeit in die Welt gesetzt.
Das war eine von Ihnen gezielt geplante Aktion, ein Ab-lenkungsmanöver;
denn seit diesem Tag wird in Deutschland über Statis-tikfragen diskutiert. Aber der eigentliche Skandal inDeutschland sind nicht die Statistiken, sondern ist dieMassenarbeitslosigkeit.
Der Skandal sind 4,3 Millionen Arbeitslose im Januardieses Jahres und voraussichtlich 4,32 Millionen imFebruar dieses Jahres. Im jährlichen Durchschnitt liegtdie monatliche Arbeitslosigkeit bei 4 Millionen. DasKatastrophalste – darüber reden Sie schon gar nicht mehr –ist, dass die Arbeitslosenzahl in den neuen Bundesländernmit 1,3 Millionen den höchsten Stand seit der Wiederver-einigung erreicht hat.
Das nennt man Aufbau à la Schröder.
Die Bevölkerung weiß es: Das eigentliche Problem derArbeitslosigkeit ist kein Statistikproblem, sondern das Er-gebnis einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspo-litik dieser rot-grünen Bundesregierung. Nicht die Statis-tik, sondern die Politik muss geändert werden!
Aber wenn man schon beim Fälschen von Statistikenist, dann macht es nichts, wenn man noch eins draufsetzt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Wolfgang Grotthaus21849
Deshalb denkt zumindest Walter Riester frei nachWilhelm Busch: Ist der Ruf erst ruiniert, lügt es sich ganzungeniert.
Die Meldung, dass dieser Bundesarbeitsminister 1,2 Mil-lionen Arbeitslose aus der Statistik streichen will, ist dochnicht von der Opposition in die Welt gesetzt worden. Siestammt aus dem Haus, für das dieser Minister Verantwor-tung trägt.
Ich zitiere Reuters vom 23. Februar:Die Regierung wolle die Statistik aussagekräftigermachen und deshalb Arbeitslose, die nicht ernsthaftnach einer neuen Stelle suchten, aus den Erhebungenherausrechnen, sagte ein Sprecher von Bundes-arbeitsminister Walter Riester am Samstag inBerlin.Das ist eine Nachricht, die Sie in die Welt gesetzt habenund für die Sie geradestehen müssen.
Das zeigt die Notwendigkeit dieser Aktuellen Stunde.Nur durch diese Aktuelle Stunde und die öffentlicheDebatte werden Sie gezwungen, sich dazu zu bekennen,dass Sie eine solche Manipulation geplant haben, und siezu unterlassen.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün,
Sie können meinetwegen alle möglichen Statistiken fäl-schen und verändern;
aber eine Zahl können Sie nicht manipulieren:
Heute in exakt 208 Tagen ist Bundestagswahl. Dann kön-nen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land endlichmit diesem rot-grünen Spuk und Hokuspokus Schluss ma-chen.Danke schön.
Das Wort
hat die Kollegin Renate Rennebach von der SPD-Frak-
tion.
Verehrte Kolleginnenund Kollegen! „Was ich selber lass und tu, trau ich auchallen anderen zu.“ Das ist der Eindruck, den Ihre Rednerheute hier hinterlassen haben.
Um Wahrheit und Klarheit in die Statistik zu bekom-men, werden wir in den nächsten Wochen und Monateneine Reihe von Diskussionen haben. Aber es gilt das, wasStaatssekretär Andres im Namen der Bundesregierunghier gesagt hat und wofür auch wir von der SPD-Fraktionund von Bündnis 90/Die Grünen stehen: In dieser Legis-laturperiode wird an der Art der Statistik nichts geändert.
Hier ist heute mehrfach über die Sinnhaftigkeit dieserAktuellen Stunde diskutiert worden. Ich muss Ihnen ganzehrlich sagen: Ich habe etwas anderes im Sinn. Wir habenseit 1. Januar das Job-Aqtiv-Gesetz, ein Gesetz, das dieBundesanstalt für Arbeit, die Vermittler, die Politiker, dieArbeitslosen und die Arbeitgeber dazu aufruft, gemein-sam verstärkt dafür zu sorgen, Menschen wieder in Arbeitzu bringen.Was tun Sie? Erstens demotivieren Sie durch Ihre Ak-tuellen Stunden die Menschen draußen im Lande. Sieglauben nicht mehr an eine Besserung.Zweitens demotivieren Sie die Arbeitsvermittler, dievermitteln wollen.
Drittens demotivieren Sie die Arbeitslosen, die endlichdie Hoffnung haben, dass es nicht mehr ein halbes Jahrdauert, bis ihr Fall vom Arbeitsamt bearbeitet wird. Siewollen in der Tat vermittelt oder qualifiziert werden,damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eingesetzt werdenkönnen.
Sie machen mit Ihrem Gerede die Menschen mutlos.Sie versündigen sich an den Arbeitslosen.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das geht mir alles zu weit.Wir brauchen alle Kräfte – wenn es geht, auch die derOpposition –, um den Menschen Mut zu machen, die Ver-mittlung des Arbeitsamtes in Anspruch zu nehmen, sichberaten und qualifizieren zu lassen, damit sie einen Ar-beitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden können. Sieaber versündigen sich an diesen Menschen.
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PeterWeiß
21850
Auch Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU und der FDP, sind der Wahrheit verpflich-tet. Herr Niebel hatte eine Sternstunde, als er zugab, erhabe sich nie an Erlasse des Arbeitsministers Blüm unddes Präsidenten Jagoda gehalten.
Damit hat er dazu beigetragen, dass in der Bundesanstaltjeder machen konnte, was er wollte. Damit muss Schlusssein!
Wir müssen gemeinsam handeln. Sie dürfen uns mitIhren Vorwürfen nicht in den Rücken fallen.Danke.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Meckelburg von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten um dieStatistik der Bundesanstalt für Arbeit und um dieVorgänge bei der Bundesanstalt für Arbeit sind so, wie sievon Ihrer Seite – also von Rot-Grün und von Regierungs-seite – geführt werden, unerträglich.
Das geht sogar so weit, Herr Staatssekretär Andres,
dass Sie vorhin in der Fragestunde geradewegs behauptethaben, Schröder habe nie versprochen, dass eine Zahl von3,5 Millionen Arbeitslosen erreicht werden sollte. Ich zi-tiere zur Erinnerung:Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquotesignifikant zu senken, dann haben wir es weder ver-dient, wiedergewählt zu werden, noch werden wirwiedergewählt.So wird es sein.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Regie-rungskoalition, noch eine Aussage zu der Zahl von3,5 Millionen Arbeitslosen haben wollen, dann darf ichSie an das Blackout-Interview von Schröder im letztenJahr erinnern, in dem er sogar ein Absinken auf 3 Milli-onen versprochen hatte. Der Regierungssprecher mussteanschließend erklären, dass nur eine Zahl von 3,5 Milli-onen gemeint sei.
Regierungsamtlich haben Sie für dieses Haushaltsjahr in-zwischen festgestellt, dass es fast 4 Millionen Arbeitslosesein werden.Das waren meine Bemerkungen zu der Arbeitslosen-zahl und zu den Erwartungen, die Sie geweckt haben. Siewerden Ihr Ziel nicht erreichen.Eigentlich hatte ich nach den Vorgängen dieser Wocheerwartet, dass Sie, Herr Arbeitsminister, nun behaupten,es gebe keine Arbeitslosen mehr. Sie standen kurz vor ei-ner solchen Aussage; die Statistik sollte in der Tat ge-fälscht werden.
Herr Arbeitsminister, ich spreche Sie jetzt konkret an.Einer Reuters-Meldung vom 23. Februar kann man Fol-gendes entnehmen:Die Regierung wolle die Statistik aussagekräftigermachen und deshalb Arbeitslose, die nicht ernsthaftnach einer neuen Stelle suchten, aus den Erhebungenherausrechnen, sagte ein Sprecher von Bundes-arbeitsminister Walter Riester am Samstag inBerlin.Die nachfolgenden Sätze spare ich mir.Es gab von Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, offen-sichtlich die Absicht, die Arbeitslosenstatistik noch in die-sem Jahr zu schönen.
– Hören Sie bitte einmal zu! – Im Internet-Magazin „Spie-gel Online“ von heute ist unter der Überschrift „Riester-Rüffel – Schröder will Arbeitslosenstatistik erst nach derWahl schönen“ zu lesen:
Arbeitsminister Walter Riester wollte die umstritteneReform der Arbeitslosenstatistik so schnell wie mög-lich durchziehen. Nun hat ihn Bundeskanzler GerhardSchröder zurückgepfiffen. Die Korrektur der Statistiksoll erst nach der Bundestagswahl erfolgen.Dann wird Frau Dückert zitiert – jetzt sollten Sie vonder SPD überlegen, ob Ihnen die Nähe zu den Grünennoch gefällt –: „Eine schnelle Korrektur, wie Riester siewollte, wird es nicht geben.“Verehrter Herr Arbeitsminister, ich fordere Sie auf – Siekönnten hier noch sprechen; ich würde gerne endlich vonIhnen etwas hören –, klipp und klar zu sagen, ob Sie wirk-lich vorhatten, die Arbeitslosenstatistik vor der Wahl zuschönen oder nicht. Ein klares Ja oder Nein würde genügen.Es reicht mir nämlich langsam: Wir haben erlebt, dassSie während der gesamten Affäre um die Bundesanstaltfür Arbeit zwei, drei Wochen lang Jagoda als Schutzschildvor sich hergetragen haben. Dann haben Sie ihn fallen las-sen und plötzlich stehen Sie als Retter und Reformator inBezug auf die Bundesanstalt für Arbeit da. Sie haben erstjetzt festgestellt, dass bei der Arbeitslosenvermittlungs-statistik die Zahlen nicht stimmen – und das in einem Jahr,
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Renate Rennebach21851
in dem im Rahmen des Job-Aqtiv-Gesetzes die Vermitt-lung im Zentrum gestanden hat. Ich verstehe das allesnicht!
Alle haben etwas gewusst, nur der Minister nicht. DasErgebnis ist: Riester hat sich – auch heute ist das so – totgestellt, Tegtmeier und Jagoda wurden kaltgestellt, dieStatistik würde, wenn es nach Ihnen ginge, umgestellt undim Handeln wird wie immer alles zurückgestellt. Das istdie Politik der Regierungskoalition, die wir in diesem Jahrerleben. So kann das nicht weitergehen!
Ein letztes Beispiel, um einmal zu zeigen, wie hand-lungsfähig Sie wirklich sind – denn das geht einem, wieman im Ruhrgebiet sagt, wirklich auf den Keks –: Amletzten Freitag tritt Bundeskanzler Schröder vor diePresse und sagt: Hier ist der große Retter. Wir macheneine Reform bei der Bundesanstalt und tauschen die Per-sonen aus. – Man muss sich das einmal vorstellen: AmFreitag hieß es: „Wir handeln; wir tun etwas“ und heutewird uns im Ausschuss erklärt,
dass die Regelung bezüglich der Zusammensetzung desneuen Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit und dieRegelungen in Bezug auf die private Vermittlung, die Sieplötzlich entdeckt haben,
an ein Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitneh-mervertreter in den Aufsichtsrat angehängt werden sollen.Das hat doch gar nichts miteinander zu tun. Das ist über-triebene Schnelligkeit.Wir haben Ihnen gesagt: Wenn ihr dazu eine Anhörungmachen wollt, dann legt die Gesetzestexte doch heute vor.Wirkliches Handeln hätte heute im Ausschuss passierenkönnen. Sie haben geantwortet: Die Texte sind noch nichtda. Dann haben wir Ihnen gesagt: Bringt den Gesetz-entwurf morgen früh ganz normal ein; dann kommt er aufdie Tagesordnung. Dazu sind Sie nicht in der Lage. Ichhabe angeboten, dass wir am Freitag eine zusätzliche Sit-zung durchführen. Dazu sind Sie nicht in der Lage.Was passiert jetzt? Sie tun genau das, was Sie im Jahr1999 in chaotischer Art und Weise gemacht haben: MitHektik wird etwas zusammengestoppelt. Am Freitagnächster Woche müssen wir eine Sondersitzung abhaltenund drei Tage später soll eine Anhörung stattfinden. Dasist Handeln à la SPD, wie es schon 1999 der Fall war. Siewerden im Wahljahr 2002 Ihr Desaster erleben.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Franz Thönnes von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Ihnen ist hier mehrfach er-klärt worden, dass die Bundesregierung – die Koalitions-fraktionen unterstützen das – nicht die Absicht hat, in die-ser Legislaturperiode die Statistik zu verändern.
Ich habe Verständnis dafür, dass das bei den Menschen,die das draußen hören, dadurch, dass wir Ihnen das hiersehr oft sagen, in das rechte Ohr hinein- und aus dem lin-ken Ohr wieder hinausgeht und dass nichts dazwischenist, was diese Aussage aufhalten könnte.
Wie Sie sich hier aufführen, wenn Sie versuchen, denEindruck zu erwecken, Sie hätten uns getroffen! Das verhältsich ungefähr so, als wenn ein Jäger, der an einem Haseneinmal knapp links und einmal knapp rechts vorbeischießt,glaubt, er habe den Hasen im Durchschnitt getroffen.
Sie treffen uns damit überhaupt nicht.Wir nehmen die diesbezügliche Untersuchung des IABzum Anlass, zu sagen: Wir brauchen in der Arbeitslosen-statistik mehr Transparenz.
Das gilt für die 5 Prozent, die trotz einer Arbeitslosen-meldung bereits sicher eine neue Stelle haben. Das gilt fürdie 15 Prozent, die auf den Renteneintritt warten, die sicharbeitslos melden, um Ausfallzeiten bei der Rente geltendmachen zu können. Das gilt für Unterhaltsempfänger undSozialhilfebezieher, die Kindergeld beziehen; das sindrund 7 Prozent. Diese Transparenz wird notwendig sein.Wenn man einfach zur Kenntnis nimmt – das haben Sieja noch nicht getan –, welche Aufgabe das Job-Aqtiv-Ge-setz hat, dass nämlich jemand, der sich arbeitslos meldet,ein Profiling bekommt, dass man schaut, was er kann undwas seine Interessen sind und wo man ihn eingliedernkann, dann wird man einsehen, dass es notwendig ist, indiesem Prozess auch die Merkmale festzuhalten, die nichtzu einer Eingliederung führen oder bewirken, dass derje-nige möglicherweise nicht mehr dem Arbeitsmarkt zurVerfügung stehen kann.Wir haben bereits im Januar darauf hingewiesen, dassdie Statistik in der nächsten Legislaturperiode geändertwerden soll. Das scheint bei Ihnen überhaupt nicht ange-kommen zu sein.Ich sage Ihnen eines: Die Betroffenen, von denen Sieimmer reden, die Arbeitslosen, haben ein Recht darauf,
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Wolfgang Meckelburg21852
dass die entsprechenden Zahlen und ihre Situation ernst-haft betrachtet und erläutert werden,
und dass nach individuell vernünftigen Auswegen ge-sucht wird. Auch die Beitragszahlerinnen und Beitrags-zahler, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, haben ein Rechtdarauf, dass ihre Beiträge wirksam und wirtschaftlich ein-gesetzt werden. Man braucht eine transparente Struktur,wenn man diese Mittel optimal einsetzen will.Elfmal – so ist es zwischenzeitlich gesagt worden – istbei Ihnen getrickst und getäuscht worden; elfmal habenSie in Ihrer Regierungszeit an der Arbeitslosenstatistik imKern etwas geändert. Das war der Fall bei den Empfän-gern von Leistungen unter erleichterten Voraussetzungen1986; das war der Fall, als diejenigen Bezieher von Ar-beitslosenhilfe, die Kinder betreuen, herausgenommenwurden; das war der Fall, als diejenigen Bezieher von Ar-beitslosenhilfe herausgenommen wurden, die mit Zustim-mung des Arbeitsamtes gemeinnützige, zusätzliche Arbeitverrichteten. Sie wissen überhaupt nicht, was sie wollen.Herr Laumann erklärt, man sei vehement gegen eine Än-derung der Statistik. Herr Wissmann erklärt, man braucheeine neue Definition von Arbeitslosigkeit.
Er fordert mehr Transparenz in der Statistik und in derstatistischen Erfassung und einfachere Regelungen.Schließlich sagt Herr Repnik: „Es gibt keinen Nachbes-serungsbedarf“, fordert aber gleichzeitig, ABM und Weiter-bildung in die Statistik hineinzunehmen. Wie gesagt: Siewissen überhaupt nicht, was los ist; Sie reden durcheinanderwie ein Hühnerhaufen. Wenn Sie sich einmal anschauen,wie die Arbeitslosenstatistik aufgebaut ist, dann sehen Sie,dass ABM und SAM dort bereits ausgewiesen werden.
Wer getrickst hat, das waren Sie im Wahljahr 1998. ImJanuar 1998 hatten wir 131 000 ABM-Fälle, im Oktober281 000; das sind 150 000 mehr. Sie können daran sehr gutsehen, wie die Kurve nach oben getrieben worden ist, wiedie Zahlen nach oben gegangen sind. Bei SAM war es so-gar ein Plus von 117 000, um das Sie die SAM auf 221 000nach oben geschraubt haben. Das heißt, die von Ihnen zuverantwortende Arbeitslosigkeit hätte unter Zugrundele-gung Ihrer eigenen Berechnung bei 4,8 Millionen gelegen,als Sie abgewählt worden sind. Das ist die Wahrheit.
Damit wird deutlich: Täuschen, tricksen, ignorieren –das ist Ihr Metier. Ich denke dabei insbesondere an denKollegen Niebel, der sagt: Nach den Erlassen habe ichmich nie gerichtet.
Er stellt sich heute hin und will über uns zu Gericht sitzen.Ich sage Ihnen: Für Sie hat die Statistik die gleiche Be-deutung wie die Laterne für einen Betrunkenen: Sie dientihm mehr zum Festhalten als zur Erleuchtung. Wie vielBereitschaft bei Ihnen vorhanden ist, Erleuchtung in Ihreeigenen dunklen Machenschaften zu bringen, das habenwir ja in der Vergangenheit gesehen, als es um dieSchwarzgelder ging. Da ist ja noch nicht alles aufgeklärt.Das fiel in Ihre Regierungszeit.
Am Ende bleibt: Wir haben heute 1,1 Millionen Er-werbstätige mehr als zu Ihrer Regierungszeit; wir haben500 000 Arbeitslose weniger. Das Job-Aqtiv-Gesetz wirdgreifen und Ihre Kassandrarufe werden am Ende verhallen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dorothea Störr-Ritter von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! „Wirsind auf dem richtigen Weg“ – so eine Anzeige der SPDin der „Bild“-Zeitung vom 23. Februar 2002. Meine sehrverehrten Damen und Herren von der SPD, den Inhalt die-ser Anzeige glauben Sie doch selbst nicht mehr.
Wie können Sie auf dem richtigen Weg sein,
wenn eine immer größere Mehrheit der Bevölkerung mitIhrer Regierungspolitik unzufrieden ist? Wie können Sieauf dem richtigen Weg sein, wenn die Arbeitslosigkeit imletzten Jahr der Kohl-Regierung um einen Großteil zu-rückgegangen ist, in den Jahren Ihrer Regierung aber stän-dig ansteigt?
Wie können Sie auf dem richtigen Weg sein, wenndie neuesten Umfragen ergeben, dass 30 Prozent der Be-fragten Edmund Stoiber zutrauen, die Arbeitslosigkeit zusenken, und nur 10 Prozent dem Bundeskanzler, Arbeits-plätze zu schaffen?
Wie können Sie auf dem richtigen Weg sein, wenn Sie nunvon all diesen Problemen ablenken wollen, indem Sie zu-mindest den Versuch unternehmen, die Arbeitslosensta-tistik zu manipulieren?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 220. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Februar 2002
Franz Thönnes21853
Diese wundersame Wertberichtigung außerhalb ver-lässlicher Rechtsgrundlagen will die Regierung nun zumAnlass nehmen, über die Situation auf dem Arbeitsmarktzu täuschen. Aber mit dieser Regierung steht nichts zumBesten. Nun muss auch noch das Thema Arbeitslosen-statistik dafür herhalten, die wirtschaftspolitische Unfä-higkeit der Regierung zu kaschieren.
Auch wenn Sie das nicht gerne hören: Ein Kaschmir-mantel allein macht keinen guten Regierungschef. Die-sem Trugschluss ist der Bundeskanzler sehr bald erlegen.
Die Wirklichkeit hat Sie nun eingeholt. Ein solcher Trug-schluss gibt auch nicht das Recht, die Bevölkerung zu be-trügen und zu täuschen. Ob die Haare – gefärbt oder nichtgefärbt – frisiert werden müssen, ist die eine Sache. Abereine Arbeitslosenstatistik auf diese Art und Weise zu fri-sieren, ist eine ganz andere Sache.
Angeblich Arbeitsunwillige – so war es zu lesen –gehören nicht in diese Statistik, sie passen dort nicht hi-nein. Wie wollen Sie – das frage ich auch den Arbeits-minister – die Arbeitsunwilligkeit herausfinden? GlaubenSie denn allen Ernstes, dass die Menschen, die sich ar-beitslos melden müssen, freiwillig über ihre innersten Ge-fühle sprechen, wenn sie gar nicht wissen, was mit ihnenpassieren soll? Wo sollen diese Arbeitslosen eigentlichhin? Sollen sie sich in Luft auflösen? Wie wollen Sie sieüberhaupt noch erfassen? Woher nehmen Sie eigentlichdie Gewissheit, dass diejenigen, die Sie aus der Statistikherausnehmen wollen, gar nicht arbeiten wollen und keineArbeit suchen? Für diese dreiste Wahlkampftrickserei und-taktik ist der Regierung kein Mittel zu schade, nicht ein-mal dann, wenn es um ein Heer von Menschen geht, derenSchicksal uns eigentlich betroffen machen sollte.
Sie sagen: „Wir sind auf dem richtigen Weg.“ Aberglauben Sie nur nicht, dass die Wählerinnen und Wählernicht erkennen, dass Sie eben nicht auf dem richtigen Wegsind. Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie jetztzurückrudern. In Ihrem blinden Aktionismus zeigt sichIhre Unfähigkeit.
Die Arbeitnehmer wollen nicht zum Spielball Ihrer Will-kür werden.Auch die Arbeitgeber haben das Vertrauen in rot-grüneRegierungspolitik verloren.
Der Mittelstand sorgt sich um seine Zukunft. Die klei-nen und mittelständischen Unternehmen mit maximal500 Mitarbeitern sind durch eine Vielzahl von Faktorenbedroht, auch wenn Sie dies nicht wahrhaben wollen.
Dies ist durch Ihre Steuer- und Regulierungspolitik bzw.Regulierungswut verursacht worden.
Deshalb ist es nur einem Teil der mittelständischen Un-ternehmen gelungen, sich auf die neuen Bedingungenund Herausforderungen des Arbeitsmarktes, die für alleSchwierigkeiten mit sich bringen und nur unter schwerenBedingungen bewältigt werden können, einzustellen. Nurnoch die Hälfte der Unternehmen schreibt schwarze Zah-len. Das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben!
Die Zahl der Insolvenzen ist überproportional hoch.Die Betriebe plagen Geld- und Personalsorgen. Viele Be-triebe wären bereit, Arbeitslose einzustellen, ihnen einenArbeitsplatz zu bieten.
Viele Betriebe wären in der Lage, die Arbeitslosenzahltatsächlich zu reduzieren. Aber um das zu ermöglichen,fällt der rot-grünen Bundesregierung nichts ein.Nicht nur Sparminister Eichel hat seine Glaubwürdig-keit eingebüßt. Auch der Arbeitsminister hat, wenn er je-mals eine gehabt hat, seine Glaubwürdigkeit verloren. Erbestätigt nur den Eindruck des größten Teils der Bevölke-rung: Nicht einmal dann, wenn es schwierig wird, könnenIdeologen umkehren.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Die Menschen
in unserem Lande haben nur einen einzigen Eindruck: Für
echte Arbeit im Lande tun Sie nix, nur im Tricksen und
Täuschen sind Sie fix.
Danke schön.
Die Aktu-
elle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unse-
rer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 28. Februar 2002,
10 Uhr, ein und erinnere an die Sonderveranstaltung mit
der Ansprache des UN-Generalsekretärs Kofi Annan,
morgen, 9 Uhr, im Plenarsaal.
Die Sitzung ist geschlossen.